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German Pages 282 [283] Year 2009
Kohlhammer
Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Zehnte Folge Herausgegeben von Walter Dietrich Christian Frevel Reinhard von Bendemann Madis Gie1en Heft 6 . Der ganzen Sammlung Heft 186
Marlis Gielen
Paulus im Gespräch Themen paulinischer Theologie
Verlag W. Kohlhammer
Alle Rechte vorbehalten © 2009 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Reproduktionsvorlage: Andrea Siebert, Neuendettelsau Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-020966-4
In dankbarer Erinnerung an Helmut Merklein (1940–1999)
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Inhalt Einführung ....................................................................................................
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Biographischer Auftakt Paulus – Gefangener in Ephesus? ....................................................................
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I. Anthropologie – Eschatologie – Spiritualität 1. Grundzüge paulinischer Anthropologie im Licht des eschatologischen Heilsgeschehens in Jesus Christus ..............................................................
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2. Von Herrlichkeit zu Herrlichkeit Doxa bei Paulus zwischen den Polen protologischer und eschatologischer Gottebenbildlichkeit am Beispiel der Korintherkorrespondenz .................
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3. Universale Totenauferweckung und universales Heil? 1Kor 15,20–28 im Kontext paulinischer Theologie ...................................
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4. „Löscht den Geist nicht aus, verachtet prophetische Reden nicht!“ (1Thess 5,19f) Zur Grundlegung einer christlichen Spiritualität bei Paulus ......................
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden 1. Beten und Prophezeien mit unverhülltem Kopf? Die Kontroverse zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde um die Wahrung der Geschlechtsrollensymbolik in 1Kor 11,2–16 ..................
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2. Stellung und Funktion von Frauen in paulinischen Gemeinden .................
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Inhalt
III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext 1. Mut zur Herrenmahlgemeinschaft Ökumenische Impulse aus paulinischer Perspektive ..................................
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2. „Der Leib aber ist nicht für die Unzucht …“ (1Kor 6,13) Möglichkeiten und Grenzen heutiger Rezeption sexualethischer Aussagen des Paulus aus exegetischer Perspektive ....................................................
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3. Zur not-wendigen Wiederentdeckung der Charismen in ihrer ekklesiologischen Funktion und pastoralen Bedeutung am Beginn des 21. Jahrhunderts Ein exegetisches Plädoyer aus paulinischer Perspektive ............................
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Einführung
Die Erstpublikation meiner hier in Auswahl zusammengestellten Paulusbeiträge erfolgte ausnahmslos seit 1999. Damit aber repräsentieren sie einen Schwerpunkt meines exegetischen Arbeitens während der letzten zehn Jahre, die zugleich die ersten zehn Jahre meiner Tätigkeit als Hochschullehrerin bilden, zunächst 1999/2000 als Lehrstuhlvertretung in Bonn nach dem unerwartet frühen Tod meines exegetischen Lehrers Helmut Merklein und seit 2000 dann als Universitätsprofessorin für Neutestamentliche Bibelwissenschaft in Salzburg. Meine Begeisterung für die neutestamentliche Exegese und die Faszination, die zumal Person und Werk des Apostels Paulus auf mich ausüben, reichen zurück bis zu meiner ersten Exegesevorlesung, die ich während meines Studiums bei Helmut Merklein zum 1. Korintherbrief hörte. Doch mein Einstieg in die neutestamentliche Forschung erfolgte nicht über ein paulinisches Thema. Meine Dissertation1 bewegte sich vielmehr im Bereich der Deuteropaulinen und der katholischen Briefe, meine Habilitationsschrift2 war dem Matthäusevangelium gewidmet. Vielleicht war es das intuitive Bestreben der jungen Nachwuchswissenschaftlerin, sich vom akademischen Lehrer ein wenig zu emanzipieren, dessen immenses Wissen, intellektuelle Brillianz, exegetische Präzision und hohe theologische Kompetenz sich gerade auch in seinen zahlreichen Beiträgen zur Paulusforschung dokumentierten. Doch noch während meiner Bonner Assistenzzeit wandte ich mich als frischgebackene Privatdozentin (wieder3) der Paulusexegese zu. So verdankt sich der älteste der in diesem Sammelband abgedruckten Beiträge4 einer spannenden, gleichermaßen kontrovers wie freundschaftlich geführten Diskussion zwischen Helmut Merklein und mir5 über den Anlass des Streites, der Paulus zur Abfassung des argumentativ gewundenen Textes 1Kor 11,2–16 veranlasste. Einig waren wir darin, dass Paulus einen Verstoß der korinthischen Christinnen gegen die gesellschaftlich 1
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Tradition und Theologie neutestamentlicher Haustafelethik. Ein Beitrag zur Frage einer christlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen (BBB 75), Frankfurt a.M. 1990. Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte (BBB 115), Bodenheim 1998. Einen ersten kleinen, eigenständigen Gehversuch auf dem Feld der Paulusexegese hatte ich bereits durch einen Mitte der achtziger Jahre publizierten Aufsatz zum Bereich der paulinischen Gemeindeorganisation unternommen: Zur Interpretation der paulinischen Formel h` katV oi=kon auvtw/n evkklhsi,a: ZNW 77 (1986), 109–125. Beten (s. II.1.), erstmals publiziert 1999. Erwachsen aus dem letzten gemeinsamen Hauptseminar im Sommersemester 1998 in Bonn zum Thema „Prophetie unterm Schleier (1Kor 11,2–16): Die Geschlechtsrollensymbolik, eine Einengung oder Befreiung der Frauen?“
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Einführung
akzeptierte Geschlechtsrollensymbolik kritisierte, uneinig dagegen darin, um welches Geschlechtsrollensymbol es dabei konkret ging. Wurde eine für Frauen obligatorische Kopfbedeckung abgelehnt (so die Position Helmut Merkleins)6 oder legten sich die Frauen einen Männern vorbehaltenen Kurzhaarschnitt zu (so meine Position)? Was ansonsten kaum einmal geschah, wir diskutierten sogar in der Mittagspause weiter. Gut erinnere ich mich noch daran, dass ich irgendwann einmal seufzte, Paulus hätte sich aber auch genauer ausdrücken können, und falls wir uns dereinst im endzeitlichen Gottesreich einmal persönlich begegnen sollten, würde ich ihn gleich fragen, was denn der Streitpunkt genau gewesen sei. Daraufhin lächelte Helmut Merklein nur verschmitzt und kommentierte: „Wenn Du meinst, dass Dich das dann noch interessiert.“ Kurz nach seinem Tod bekam ich dann eine Anfrage aus dem Herausgeberkreis des Jahrbuchs für Biblische Theologie, ob ich einen von Helmut Merklein bereits zugesagten Beitrag zur paulinischen Anthropologie für den geplanten Band 15 (Die Würde des Menschen) übernehmen wolle. Die Arbeit an dem aus dieser Anfrage erwachsenen Aufsatz7 verstärkte mein ohnehin schon vorhandenes Interesse nur noch, mich mit der Person des Paulus und vor allem mit seiner spezifischen Art, Theologie zu treiben, intensiver zu beschäftigen. Denn als ich daran ging, den Beitrag zur paulinischen Anthropologie zu konzipieren, wurde mir erstmals richtig bewusst, was paulinische Theologie in charakteristischer Weise auszeichnet: Sie begegnet durchweg in pragmatischer Zuspitzung, denn Paulus präsentiert sie im Gespräch mit seinen Gemeinden. Entsprechend dieser Einsicht leitete ich meinen Beitrag dann auch so ein: Die Aussagen des Paulus zum Bereich der Anthropologie sind äußerst facettenreich. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass er diesen wie auch alle übrigen Themenbereiche seines theologischen Nachdenkens nicht traktathaft-systematisch entfaltet, sondern in Gelegenheitsschreiben an konkrete Gemeinden je nach spezifischer Problemlage aktuell focussiert.8 Paulus im Gespräch – das ist der rote Faden, der sich durch alle meine in diesem Band vereinigten Paulusbeiträge der letzten zehn Jahre hindurch zieht. Auf je eigene Weise und anhand sehr verschiedener Themen fand ich diese pragmatische Ausrichtung, die die theologische Argumentation des Paulus in seinen Briefen auszeichnet, immer wieder. Sie ist keineswegs mit Beliebigkeit zu verwechseln. Denn 6
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Nachzulesen in: Helmut Merklein/Marlis Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (ÖTK 7/3), Gütersloh 2005, 33–41. Grundzüge (s. I.1.). Grundzüge (s. I.1.), 49.
Einführung
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es gibt eine Grundkonstante, die das gesamte theologische Denken und Argumentieren des Paulus ebenso wie sein missionarisches Handeln seit seinem Offenbarungserlebnis (Gal 1,15f) bestimmt: das eschatologische Heilswirken Gottes an den ausnahmslos sündigen Menschen durch den Kreuzestod Christi.9 Die Einsicht in dieses göttliche Heilswirken zwingt Paulus zu einer Neuordnung seines bis dahin pharisäisch geprägten religiösen Koordinatensystems (vgl. Gal 1,13f; Phil 3,5), ohne dass er dabei jedoch seine angestammte jüdische Identität preisgibt. So hält er an der prinzipiellen Heilsfunktion der Tora fest (Röm 7,12). Doch kommt diese Heilsfunktion faktisch nicht zum Zuge. Sie verwandelt sich vielmehr in eine Fluchfunktion, weil alle Menschen sich als Nichttäter der Tora erweisen (Gal 3,10–12). Daher trifft den sündenlosen Gottessohn am Kreuz stellvertretend der Fluch der Tora (Gal 3,13; Dtn 21,22f; vgl. 2Kor 5,21), der sich damit eschatologisch-endgültig ausgewirkt hat, so dass nun im Kreuz Christi das Ziel der Tora – das Heil der Menschen – erreicht ist, die Tora selbst damit aber an ihr Ende gekommen ist (Röm 10,4). Die praktische Konsequenz dieser christologisch-soteriologischen Grundkonstante, die sich für Paulus aus seinem Offenbarungserlebnis ergibt, besteht in der beschneidungs- und gesetzesfreien Evangeliumsverkündigung unter den Heiden, die er konsequent und kompromisslos betreibt. Die theoretische Reflexion dieser Praxis bzw. ihre theologische Begründung präsentiert Paulus argumentativ entfaltet nur im Galater- und im Römerbrief, also gerade im Gespräch mit den Gemeinden, wo das Thema der auflagenfreien Heidenmission durch das Wirken konservativjudenchristlicher Gegenspieler des Paulus virulent war (Galatien) bzw. virulent zu werden drohte (Rom). So bestätigt also auch die ausführliche Darstellung der Rechtfertigungslehre in diesen beiden Briefen die pragmatische Ausrichtung der paulinischen Theologie. Wiewohl nämlich die Rechtfertigungslehre von Beginn an als notwendige theologische Basis der paulinischen Missionsverkündigung zu gelten hat, thematisiert Paulus sie nur da ausdrücklich, wo es die gemeindliche Situation erfordert. Gewiss ist diese pragmatische Zuspitzung paulinischer Theologie teilweise gattungsbedingt. Denn Paulus verfasst eben keine theologischen Handbücher oder dogmatischen Traktate, sondern er schreibt situationsbedingte Briefe im Dienst der Kommunikationspflege mit seinen Gemeinden. Doch schützt auch briefliche Kommunikation keineswegs automatisch davor, auf konkrete Fragen, Probleme oder gar Fehlentwicklungen mit katechismusartigen Lehrsätzen oder Grundsatzerklärungen zu reagieren, die den Glaubensstandpunkt situationsübergreifend fest9
Vgl. zum Folgenden auch H. Merklein/M. Gielen, 1Kor III (s. Anm. 6) 386–391.
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Einführung
schreiben. Die in diesem Band gesammelten Beiträge zeigen an sehr unterschiedlichen Themen auf, dass Paulus dieser Gefahr nicht erlegen ist. Vielmehr sieht er sich durch neu entstehende Fragen und Probleme zu je neuer theologischer Reflexion herausgefordert, die punktgenau auf die aktuelle Situation zugeschnitten ist. Wenn es gilt, die Adressaten und Adressatinnen seiner Briefe bei den ihnen eigenen Verstehensvoraussetzungen abzuholen, erweist sich als ausgesprochen kreativ. So kommt er etwa den korinthischen Bestreitern einer Totenauferweckung, die sich erlöste Existenz nur als pneumatische Existenz vorstellen können oder wollen, entgegen, indem er zwar unverrückbar an der (für frühjüdisch-eschatologisches Denken konstitutiven) leiblichen Dimension der Auferweckungsexistenz festhält, diesen Leib aber ausdrücklich als pneumatischen Leib qualifiziert (1Kor 15,44), von dem er den irdischen Leib in seiner Vergänglichkeit, Jämmerlichkeit und Schwäche nachdrücklich absetzt (1Kor 15,42–43).10 Als weiteres Beispiel sei genannt, wie Paulus den Streit zwischen den konkurrierenden korinthischen Gemeindegruppierungen um die für christliche Identität entscheidende Geistesgabe (Weisheitsrede oder Zungenrede) aufbricht (1Kor 12). Ausgehend von der ihm und der korinthischen Gemeinde gemeinsamen Grundüberzeugung vom Geistbesitz aller Getauften korrigiert er Fehlentwicklungen, indem er die Gemeindemitglieder nachdrücklich auf den Geschenkcharakter der Geistesgaben (statt von Geistesgaben/pneumatika, spricht er daher ab V. 4 von Gnadengaben/cari,smata) verweist. Gegen die korinthische Tendenz einer individualistischen Verengung hält er den Gemeindebezug der Gnadengaben fest (V.7) und stellt mithilfe des Gleichnisses vom Leib anschaulich und einprägsam die für eine lebensfähige Gemeinde unverzichtbare Pluralität der Charismen heraus.11 Diese situationsbezogene Kreativität theologischer Argumentation bei Paulus verdankt sich wohl nicht zuletzt seinem Vertrauen auf das Wirken des Geistes Gottes in ihm und in den jungen Gemeinden. Dieses Vertrauen aber verleiht ihm die Freiheit zu einer pastoral konzipierten Theologie, wie er umgekehrt die Sorge um seine Gemeinden sowie die an ihn herangetragenen Fragen und Probleme theologisch reflektiert. Wenngleich sich die Fragen, Sorgen und Probleme christlicher Gemeinden im 21. Jahrhundert aufgrund geänderter kultureller, geschichtlicher und damit auch kirchlicher Rahmenbedingungen nicht einfach kurz schließen lassen mit denen der paulinischen Gemeinden vor rund 2000 Jahren, haben sich doch die Briefe des Paulus vielleicht gerade wegen ihrer pragmatisch-pastoral zugespitzten Theologie eine 10 11
Vgl. Doxa (s. I.2.), 89f. Vgl. Wiederentdeckung (s. III.3.), 254–257.
Einführung
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erstaunliche Aktualität bewahrt. Auch heute noch vermag Paulus christlichen Kirchen und Gemeinden ebenso wie den ökumenischen Bemühungen zwischen den Konfessionen wertvolle Denkanstöße und Impulse zu geben, und seine Briefe laden dazu ein, sie hermeneutisch reflektiert für aktuelle Fragestellungen fruchtbar zu machen.12 Es lohnt sich also, mit Paulus im Gespräch zu bleiben. Die hier zusammen gestellten Beiträge zu Themen paulinischer Theologie sind nicht allein das Ergebnis einsamen Studiums, sondern sie verdanken viel auch den Gesprächen und Diskussionen mit zahlreichen Menschen auf den Ebenen von Universität, Bildungswerken und Gemeinden. Nur einer dieser Menschen sei namentlich hervorgehoben: Helmut Merklein, mein exegetischer Lehrer, Doktorvater, Habilitationsbetreuer und langjähriger Bonner Chef. Wie bereits eingangs bemerkt, hat er die Liebe zur neutestamentlichen Exegese bei mir geweckt und mir den Zugang zu Person und Werk des Paulus geöffnet. Viele Jahre durfte ich dann mit ihm zusammenarbeiten, zunächst während meiner Dissertationsphase (1984–1988) als wissenschaftliche Hilfskraft und dann während meiner Habilitationsphase als Assistentin (1993–1999). In dieser Zeit gewährte er mir großzügig Einblick in seine Forschungstätigkeit, in welcher der Paulusforschung ein hoher Stellenwert zukam. Unverkennbar bilden seine Arbeiten zu paulinischen Themen eine wichtige Grundlage für meine eigene Paulusforschung. Dass diese sich nun aber auch zu einem Schwerpunkt meiner Publikationen entwickelte, verdankt sich wenigstens teilweise dem traurigen Umstand des allzu frühen Todes von Helmut Merklein. Denn nach seinem Tod übernahm ich nicht nur, wie schon erwähnt, die von ihm noch zugesagte Abfassung eines Beitrags zur paulinischen Anthropologie, sondern auch die Fertigstellung des dritten Teilbandes seiner Kommentierung des 1. Korintherbriefes.13 Damit aber waren die Weichen für eine schwerpunktmäßige Beschäftigung mit paulinischen Themen gestellt. Angesichts dieser Vorgeschichte des vorliegenden Buches sei es Helmut Merklein in dankbarer Erinnerung anlässlich seines 10. Todestages in diesem Jahr gewidmet. Danken möchte ich aber auch den drei Mitherausgebern von BWANT, den Kollegen Walter Dietrich, Christian Frevel und Reinhard von Bendemann, sowie Herrn Jürgen Schneider und Herrn Florian Specker vom Kohlhammer-Verlag, die alle spontan der Idee zustimmten, eine Auswahl meiner Paulus-Beiträge in der Reihe
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Vgl. dazu vor allem die drei letzten Beiträge dieses Sammelbandes, die unter der Überschrift Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext zusammengestellt sind. S. o. Anm. 6.
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Einführung
BWANT zu publizieren. Gedankt sei Jürgen Schneider und Florian Specker darüber hinaus für ihre unkomplizierte und gleichwohl sorgfältige verlegerische Betreuung. Nicht zuletzt gilt auch ein Wort des Dankes Herrn Mag. phil. Andreas Haider, meinem Salzburger Studienassistenten, für die Mühe, die er beim Korrekturlesen auf sich genommen hat. Abschließend seien mir noch einige wenige technische Hinweise gestattet. Der Wiederabdruck der Beiträge dieses Bandes erfolgte im Wesentlichen unverändert gegenüber der Erstpublikation. Dies gilt auch für die Rechtschreibung, deren Umstellung von alt auf neu sich während der vergangenen zehn Jahre, in denen die Beiträge entstanden, erst allmählich vollzog. Allerdings wurden alle Texte noch einmal auf formale Corrigenda hin durchgesehen und, sofern erforderlich, ausgebessert. Zudem wurden alle Querverweise zwischen den verschiedenen Beiträgen der Seitenzählung des vorliegenden Sammelbandes angepasst. Die Abfolge des Wiederabdrucks orientiert sich – wie dem Inhaltsverzeichnis zu entnehmen ist – am Kriterium der Thematik der einzelnen Publikationen, nicht an der Chronologie ihrer Entstehung. Freilassing, am Osterfest 2009
Marlis Gielen
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Paulus – Gefangener in Ephesus?*
1. Der Hintergrund der Fragestellung Ephesus – Hauptstadt der römischen Provinz Achaia und seit dem 1. Jh. n.Chr. eine „der führenden Metropolen der antiken Welt“1: Auf seiner dritten Missionsreise verweilte Paulus hier länger als an irgendeinem anderen Ort, den er auf seinen Missionsreisen besuchte. Er selbst bietet in seinen Briefen zwar keine genauen Informationen über die Dauer seines Aufenthaltes in Ephesus. Doch deuten verschiedene Äußerungen in 1Kor 15,32; 16,8 sowie 2Kor 1,8–10 darauf hin, dass es sich um einen längeren Zeitraum gehandelt haben dürfte. Konkretere Angaben liefert die Apg. So lässt ihr Verfasser in 20,31 Paulus auf einen dreijährigen Aufenthalt in Ephesus zurückblicken. Kurz zuvor hatte er in Apg 19,8.10 mit zwei Jahren und drei Monaten allerdings eine etwas kürzere Verweildauer des Apostels in der Stadt angegeben. Wenngleich eine gewisse Unschärfe bleibt, führt ein Abgleich zwischen den Anhaltspunkten, die die Paulusbriefe selbst liefern,2 und den Angaben der Apg zu der begründeten Vermutung, dass Paulus etwas weniger als drei Jahre in Ephesus verbrachte. Dort traf er wohl gegen Ende der Reisesaison im Herbst des Jahres 52 ein, nachdem er zuvor die zum Reisen geeigneten Frühlings- und Sommermonate zu Aufenthalten in Galatien und Phrygien genutzt haben dürfte (vgl. Apg 18,23; 19,1).3 Den ersten Korintherbrief verfasst Paulus in der letzten Phase seines Aufenthaltes in Ephesus. Nach 1Kor 16,8 will er noch bis Pfingsten in der Stadt bleiben. Unter der Voraussetzung, dass die Zeitangaben der Apg zum Korinthaufenthalt des Paulus als so zuverlässig gelten, dass man von ihnen die gesamte relative Chronologie des paulinischen Wirkens ableitet, sollte ein vergleichbares Vertrauen auch den lk Angaben zur Dauer des Aufenthaltes Pauli in Ephesus zugestanden werden. Das heißt, es ist auf jeden Fall mit einem über zweijährigen bis maximal dreijährigen Aufenthalt zu rechnen. Trifft Paulus im Herbst des Jahres 52 in Ephesus ein, kann das Pfingstfest, von dem er 1Kor 16,8 spricht, also nicht schon das des Jahres 54 sein, sondern ist in das Jahr 55 zu datieren. Wie noch darzulegen sein wird,4 verzögerte sich der endgültige Auf-
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Abgedruckt in: BN.NF 131 (2006), 79–103; BN.NF 133 (2007), 63–77. Elliger, Winfried, Ephesos. Geschichte einer antiken Weltstadt (UB 375), Stuttgart u.a. 1985, 61; vgl. Gnilka, Joachim, Paulus von Tarsus. Apostel und Zeuge, Freiburg 1996, 109f. Ausführlich dazu unten Ziffer 3.2. Als Beginn der dritten Missionsreise kann recht zuverlässig das Frühjahr 52 bestimmt werden. Diese Bestimmung ergibt sich bekanntlich aus der Relation zum vorausgehenden, anderthalbjährigen Gemeindegründungsaufenthalt in Korinth, der sich durch die zeitlichen Bezüge, die die Apg zum Judenedikt des Kaisers Claudius aus dem Jahr 49 (Apg 18,1f) und zur Amtszeit des römischen Prokonsuls Gallio in Achaia zwischen Sommer 51 und Sommer 52 (Apg 18,12) herstellt, nach weitgehendem Forschungskonsens relativ sicher auf die Zeit zwischen Frühjahr 50 und Spätsommer bzw. Herbst 51 datieren lässt. Das Ende der zweiten und der Beginn der dritten Missionsreise aber sind nach Apg 18,22f nur durch eine „Stippvisite“ in Cäsarea und Jerusalem sowie durch einen „einige Zeit“ dauernden Aufenthalt in Antiochia getrennt, der dann wohl die Wintermonate 51/52 umfasste. Vgl. unten Ziffer 3.2.
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Biographischer Auftakt
bruch des Paulus aus Ephesus, bedingt durch unvorhersehbare Entwicklungen in der korinthischen Gemeinde, um einige Wochen, so dass er die Stadt im Sommer 55 verlassen haben dürfte.5
Paulus verbrachte also zwischen Herbst 52 und Sommer 55 entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten eine erstaunlich lange Zeit in der Provinzhauptstadt der Asia.6 Dies dürfte sich nicht zuletzt dadurch erklären, dass Paulus in Ephesus gute Voraussetzungen für ein erfolgreiches missionarisches Wirken vorfand. Damit begründet er jedenfalls in 1Kor 16,9, dass er noch eine Weile in Ephesus bleiben will. Allerdings fügt er sofort hinzu: „Und es gibt viele Gegner“ (kai. avntikei,menoi polloi,). Auf Schwierigkeiten, Widerstände und Gefahren, mit denen Paulus in Ephesus zu kämpfen hatte, deuten auch seine Äußerungen in 1Kor 15,32 und 2Kor 1,8–10. Die Erinnerung an eine konkrete Gefährdung schimmert schließlich durch die Grußworte, die Paulus in Röm 16,3f im Blick auf Priska und Aquila formuliert, wenn er in V. 4a schreibt: „die für mein Leben ihren eigenen Kopf riskiert haben“ (oi[tinej u`pe.r th/j yuch/j mou to.n e`autw/n tra,chlon u`pe,qhkan)7. Priska und Aquila gehörten zum engsten Mitarbeiterkreis des Paulus. Das judenchristliche Handwerkerehepaar musste im Jahr 49 aufgrund des Ausweisungsedikts des Kaisers Claudius Rom verlassen und ließ sich in Korinth nieder. Dort lernte Paulus die beiden bald nach seiner Ankunft in der Stadt im Frühjahr 50 kennen und fand bei ihnen Unterkunft und Arbeit (Apg 18,1–3). Schon in Korinth unterstützten sie Paulus beim Aufbau der korinthischen Gemeinde, nicht zuletzt wohl auch durch die Infrastruktur, die ihr Hauswesen für die Gemeindebelange bot.8 Zusammen mit Paulus reisten sie im Spätsommer bzw. Herbst 51 aus Korinth ab und ließen sich in Ephesus nieder, während Paulus über Cäsarea und Jerusalem nach Antiochia weiterreiste, um dort den Winter 51/52 zu verbringen. Mit seiner Ankunft in Ephesus im Frühherbst 52 traf Paulus gewiss auch Priska und Aquila wieder. Bei Abfassung des 1Kor wohl im Frühling 55 befinden sich die beiden immer noch in Ephesus und lassen Grüße nach Korinth ausrichten (1Kor
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Vgl. Schnelle, Udo, Paulus. Leben und Denken, Berlin u.a. 2003, 37, der eine vergleichbare Zeitspanne von knapp drei Jahren für den paulinischen Ephesusaufenthalt ansetzt, jedoch mit einer leichten Zeitverschiebung. So rechnet er mit einer Ankunft des Paulus in der Stadt bereits im Sommer des Jahres 52 und geht zugleich davon aus, dass Paulus Ephesus schon im Frühjahr 55 verlassen hat. Von einer „Zeitspanne von rund drei Jahren“ geht auch Becker, Jürgen, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen, 2. durchges. Aufl. 1992, 160 aus. Der verglichen mit dem Ephesusaufenthalt zweitlängste Besuch des Paulus in einer Stadt ist der anderthalbjährige Gemeindegründungsaufenthalt in Korinth (s. Anm. 3). Damit aber blieb Paulus in Korinth nur die Hälfte der Zeit, die er in Ephesus verbrachte. Ansonsten kennzeichnet es die auf die Städte konzentrierte paulinische Mission, immer nur kurz an einem Ort zu bleiben und durch die Verkündigung des Evangeliums das Fundament neuer Gemeinden zu legen (vgl. 1Kor 3,10), zu denen er dann durch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Briefe und gelegentliche Besuche weiteren Kontakt hielt, um die Entwicklung des Glaubenslebens zu begleiten und zu fördern. Nur auf diese Weise konnte er das gewaltige Missionspensum bewältigen, auf das er in Röm 15,19 zurückblickt, vgl. Gielen, Marlis, Tradition und Theologie neutestamentlicher Haustafelethik. Ein Beitrag zur Frage einer christlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen (BBB 75), Frankfurt a.M. 1990, 74–75. Wörtlich also: „die für mein Leben ihren eigenen Hals hingelegt haben“. Vgl. Merklein, Helmut/Gielen, Marlis, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (ÖTK 7/3), Gütersloh 2005, 458.
Paulus – Gefangener in Ephesus?
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16,19). Die Grußliste des Röm, der im Winter 55/56 in Korinth verfasst sein dürfte,9 belegt dann freilich, dass Priska und Aquila inzwischen nach Rom zurückgekehrt sind (Röm 16,3f).10 Voraussetzung für ihre Rückkehr war die Aufhebung des Claudius-Edikts, die mit dem Tod des Kaisers am 13. Oktober 54 automatisch gegeben war. Priska und Aquila dürften also ziemlich zeitgleich mit Paulus Ephesus im Sommer 55 verlassen haben. Während Paulus sich Richtung Norden nach Troas aufmachte in der Hoffnung, dort mit Titus zusammenzutreffen (2Kor 2,12), brachen Priska und Aquila wohl in Richtung Rom auf. Insgesamt lebte Paulus also mit einer einjährigen Unterbrechung (zwischen Herbst 51 und Herbst 52) rund viereinhalb Jahre mit Priska und Aquila in derselben Stadt, zunächst (50–51) in Korinth, später (52–55) in Ephesus. Während dieser Zeit konnte er sich zweifellos stets uneingeschränkt auf die Unterstützung des Paares verlassen, das er kaum zufällig in Röm 16,3 ausdrücklich als „meine Mitarbeiter in Christus Jesus“ (tou.j sunergou,j mou evn Cristw/| VIhsou/) qualifiziert.
In Röm 16,4 schweigt sich Paulus nun darüber aus, wann und wo Priska und Aquila ungeachtet eigener Gefährdung für ihn in die Bresche gesprungen sind. Grundsätzlich bietet sich damit für dieses Ereignis ihre gemeinsame Zeit in Korinth und Ephesus gleichermaßen an. Doch ist die Erinnerung daran bei Paulus und seinen Adressaten bei der Abfassung des Röm offenbar noch so frisch, dass sich die Erwähnung von Zeit und Ort des Geschehens erübrigt. Dies aber verweist am ehesten auf die Endphase seines Ephesusaufenthaltes. Kurzum: Paulus selbst gibt in 1.2 Kor sowie in Röm verschiedentlich zu erkennen, dass er sich in Ephesus mit Gegnern und Gefahren konfrontiert sah. In 2Kor 1,8–10 spricht er gar von Todesurteil (to. avpo,krima tou/ qana,tou) (V. 9) und von göttlicher Errettung „aus so großer Todesnot“ (evk thlikou,tou qana,tou) (V. 10). Schließlich impliziert auch die in 1Kor 15,32 und Röm 16,4 bemühte Metaphorik eine mögliche Lebensgefahr. Diese paulinischen Bemerkungen in Verbindung mit dem für Paulus ungewöhnlich langen Aufenthalt an einem einzigen Ort führten an der Wende vom 19. zum 20. Jh., angestoßen von Adolf Deissmann,11 zur These eines längeren Gefängnisaufenthaltes des Paulus in Ephesus. Verbunden mit dieser These war von Beginn an die Datierung der paulinischen Gefangenschaftsbriefe in diese ephesinische Inhaftierungsphase. Trotz vereinzelter Gegenstimmen12 setzte sich die These einer paulinischen Gefangenschaft in Ephesus im 20. Jh. weithin 9
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Vgl. dazu Theobald, Michael, Römerbrief. Kapitel 1–11 (SKK.NT 6/1), Stuttgart 1992, 11.17; Zeller, Dieter, Der Brief an die Römer (RNT), Regensburg 1985, 14f (alternativ: Winter 56/57); Schnelle, Udo, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 4. neubearb. Aufl. 2002, 130 (Frühjahr 56); Broer, Ingo, Einleitung in das Neue Testament Band II: Die Briefliteratur, die Offenbarung des Johannes und die Bildung des Kanons (NEB Ergänzungsband 2/II zum Neuen Testament), Würzburg 2001, 467; vgl. zur näheren Begründung auch unten Ziffer 3.2. Zu Röm 16 als genuinem Bestandteil des Röm vgl. etwa Wilckens, Ulrich, Der Brief an die Römer (Röm 1–5) (EKK VI/1), Zürich u.a. 2. verbess. Aufl. 1987, 24–27; Theobald, Michael, Römerbrief. Kapitel 12–16 (SKK.NT 6/2), Stuttgart 1993, 217–220; vgl. zudem Klauck, Hans-Josef, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103), Stuttgart 1981, 24–26. Vgl. Deissmann, Adolf, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 1923, 201–202 sowie 201, Anm. 4. Vgl. etwa Schmid, Zeit passim.
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Biographischer Auftakt
durch.13 Sie bestach und besticht bis heute ihre Verfechter vor allem dadurch, dass sie – primär organisatorische und reisetechnische – Probleme, die die traditionelle Verortung der authentischen Gefangenschaftsbriefe des Paulus (Phil und Phlm) in die Zeit seiner römischen Gefangenschaft aufzuwerfen scheint, elegant zu lösen verspricht. Dennoch verstummten die Stimmen jener nicht, die weiterhin an der Abfassung des Phil und Phlm in Rom festhielten. In den letzten Jahren wurden sie sogar deutlich zahlreicher,14 so dass gegenwärtig die Diskussion um Ephesus oder Rom als Abfassungsort der Gefangenschaftsbriefe15 wieder lebhafter geworden ist.16 Allerdings tritt die Argumentation weitgehend auf der Stelle, da sie sich nahezu ausschließlich auf die Abwägung von Plausibilitätskriterien für die Lokalisierung und damit zugleich Datierung von Phil und Phlm in der einen oder der anderen Stadt konzentriert. Dabei wird freilich durchweg vorausgesetzt, was erst einmal gründlicher Überprüfung bedürfte: Stellt eine längere Haftzeit des Paulus17 wäh-
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Vgl. u.a. Bornkamm, Günther, Paulus (UB 119), 4. durchges. Aufl. Stuttgart u.a. 1979, 96–101; Vielhauer, Philipp, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin u.a. 1975, 166–170; Becker, Paulus (s. Anm. 5) 169; Gnilka, Paulus (s. Anm. 1) 119–122; ders., Der Philipperbrief (HThK X/3), Freiburg u.a. 1980, 18–24; Lohse, Eduard, Paulus. Eine Biographie, München 1996, 179–181; Müller, Ulrich B., Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11/I), Leipzig 1993, 15–21; ders., Der Brief aus Ephesus. Zeitliche Plazierung und theologische Einordnung des Philipperbriefes im Rahmen der Paulusbriefe, in: U. Mell/U.B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS Jürgen Becker zum 65. Geburtstag) (BZNW 100), Berlin u.a. 1999, 155–171; Thiessen, Werner, Christen in Ephesus. Die historische und theologische Situation in vorpaulinischer und paulinischer Zeit und zur Zeit der Apostelgeschichte und der Pastoralbriefe (TANZ 12), Tübingen u.a. 1995, 111–138; Stuhlmacher, Peter, Der Brief an Philemon (EKK XVIII). Zürich u.a. 31989, 21; Egger, Wilhelm, Galaterbrief. Philipperbrief. Philemonbrief (NEB.NT 9.11.15), Würzburg 1985, Phil 47f.77; Wolter, Michael, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh u.a. 1993, 237f. Vgl. u.a. Roloff, Jürgen, Die Apostelgeschichte (NTD 5), Göttingen 1981, 372; Schnelle, Paulus (s. Anm. 5) 408–411; Wick, Peter, Der Philipperbrief. Der formale Aufbau des Briefes als Schlüssel zum Verständnis seines Inhalts (BWANT 135), Stuttgart u.a. 1994, 182–187; Günther, Matthias, Die Frühgeschichte des Christentums in Ephesus (Arbeiten zur Religion und Geschichte des Urchristentums 1), Frankfurt a.M. 1995, 38–47; Fee, Gordon D., Paul’s Letter to the Philippians (NIC), Grand Rapids/ Michigan 1995, 34–37; O’Brien, Peter T., The Epistle to the Philippians (NIGTC), Grand Rapids/ Michigan 1991, 19–26. Cäsarea, wo Paulus Apg 23,23–26,32 zufolge vor seiner Überstellung nach Rom längere Zeit inhaftiert war, kann hier ausgeklammert bleiben, da die Stadt als Abfassungsort der Gefangenschaftsbriefe in der gegenwärtigen Forschung keine Rolle mehr spielt, vgl. Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 390. Vgl. etwa nur die gegensätzliche Beurteilung in zwei deutschsprachigen Einleitungswerken aus den letzten Jahren: Schnelle, Einleitung (s. Anm. 9) 153–156.166f spricht sich für die Entstehung der Gefangenschaftsbriefe in Rom aus, während Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 386–391.400–404 die Ephesus-Hypothese favorisiert. Bornkamm, Paulus (s. Anm. 13) 100 rechnet mit einer „über einige Wochen und Monate sich erstreckende(n) Dauer seiner Haft“, ebenso Thiessen, Christen (s. Anm. 13) 121. Diese Zeitdauer ist auf jeden Fall vorauszusetzen angesichts des lebhaften Kommunikationsaustausches, den sowohl Phil als auch Phlm zwischen dem gefangenen Paulus und den Briefadressaten voraussetzen (vgl. unten Ziffer 2.3.1. und 2.3.2.).
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rend seines dreijährigen Ephesusaufenthaltes18 auf der Grundlage seiner eigenen Briefe überhaupt eine ernstzunehmende Option dar?19 Dieser Frage will der vorliegende Beitrag nachgehen. Dabei soll der Blick bewusst über die Bemerkungen des Paulus, die immer wieder als „Kronzeugen“ für seine Gefangenschaft in Ephesus bemüht werden (1Kor 15,32; 16,9; 2Kor 1,8–10; Röm 16,3f), hinaus gelenkt werden und sich primär auf seine expliziten Hinweise auf Gefängnisaufenthalte20 und auf seine Reisenotizen21 richten. Zuvor jedoch gilt es, die Hauptargumente für eine Abfassung der Gefangenschaftsbriefe in Ephesus (und damit gegen ihre Abfassung in Rom) noch einmal kritisch zu sichten.
2. Die wichtigsten Argumente für eine Abfassung der Gefangenschaftsbriefe (Phil; Phlm) während einer Gefangenschaft des Paulus in Ephesus 2.1 Die Besuche des Paulus in der Gemeinde von Philippi Verschiedentlich wird der Besuch der philippensischen Gemeinde, den Paulus Phil 1,26 für den Fall eines positiven Prozessverlaufs in Aussicht stellt (dia. th/j evmh/j parousi,aj pa,lin pro.j u`ma/j), unmittelbar auf den Gründungsbesuch zurückbezogen: „Hätte er (Paulus, M.G.) die Gemeinde seitdem wieder besucht, würde er den ersten Aufenthalt von einem späteren irgendwie unterscheiden, wie er es in 2. Kor. 12,14; 13,1 auch tut. Die Erwähnung des erneuten Besuchs in 1,26 orientiert sich deshalb am Gründungsbesuch.“22 Sofern aber zwischen dem Gründungsbesuch und dem in Phil 1,26 (vgl. 2,24) angekündigten Besuch kein weiterer läge, könnte der Philipperbrief tatsächlich nicht erst in Rom entstanden sein, da ja Paulus selbst in 2Kor 7,5 einen Besuch in Mazedonien bald nach seiner Abreise aus Ephesus bezeugt. Doch kann Phil 1,26 keinesfalls die Beweislast dafür tragen, dass Paulus zur Zeit der Abfassung des Phil erst einmal anlässlich der Gemeindegründung in Philippi war. Denn wenn er den philippensischen Gemeindemitgliedern schreibt, er käme pa,lin zu ihnen, so wählt er ein neutrales Wort, das jeden weiteren Besuch 18
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Dabei wird die Haftzeit des Paulus in Ephesus relativ einmütig mit der Endphase seiner ephesinischen Wirksamkeit verbunden, nicht zuletzt unter Berufung auf 2Kor 1,8–10 (1Kor 15,32; 16,8f), vgl. etwa Vielhauer, Geschichte (s. Anm. 13) 170; Thiessen, Christen (s. Anm. 13) 141; Lohse, Paulus (s. Anm. 13) 180f; Gnilka, Paulus (s. Anm. 1) 119; Müller, Phil (s. Anm. 13) 22. Selbst diejenigen, die eine Abfassung der Gefangenschaftsbriefe in Rom befürworten, problematisieren im Allgemeinen nicht, ob sich aus den Paulusbriefe überhaupt plausibel die Möglichkeit einer längeren Gefangenschaft des Apostels in Ephesus, in der er zumindest zeitweise um sein Leben fürchten musste, begründen lässt. Vgl. unten Ziffer 3.1. Vgl. unten Ziffer 3.2. Müller, Phil (s. Anm. 13) 16; vgl. Gnilka, Phil (s. Anm. 13) 20.
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nach dem ersten bezeichnen kann. Der Hinweis aber auf 2Kor 12,14 und 13,1 unterstellt Paulus eine Logik, der er übrigens auch im Versöhnungsbrief 2Kor 1–9 und im Vierkapitelbrief 2Kor 10–1323 nicht folgt.24 Ein Rückbezug von Phil 1,26 23
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In der neueren Paulusforschung setzt sich zunehmend die These durch, dass 2Kor 1–9 als kohärente briefliche Einheit mit dem Ziel der Aussöhnung zwischen Apostel und Gemeinde zu würdigen ist, von der sich 2Kor 10–13 aufgrund des deutlich verschärften Tones und der Polemik abhebt und so auf eine andere situative Verortung hinweist, vgl. dazu etwa Klauck, Hans-Josef, 2. Korintherbrief (NEB.NT 8), Würzburg 1986, 9; Schnelle, Paulus (s. Anm. 5) 260–262; Wolff, Christian, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 8), Leipzig 1989, 2; Furnish, Victor Paul, II Corinthians (The Anchor Bible 32A), New York 1984, 35.41–48; Gnilka, Paulus (s. Anm. 1) 117f; Wünsch, Hans-Michael, Der paulinische Brief 2Kor 1–9 als kommunikative Handlung. Eine rhetorisch-literaturwissenschaftliche Untersuchung (Theologie 4), Münster 1996, passim; Kleine, Werner, Zwischen Furcht und Hoffnung. Eine textlinguistische Untersuchung des Briefes 2Kor 1–9 zur wechselseitigen Bedeutung der Beziehung von Apostel und Gemeinde (BBB 141), Berlin 2002, passim. Unterschiedlich beurteilt wird 2Kor 10–13. So betrachten ihn etwa Wolff, 2Kor 2–5 oder Schnelle, Paulus (s. Anm. 5) 261f als genuinen Bestandteil des kanonischen 2Kor, den Paulus nach dem Erhalt neuer Nachrichten aus der korinthischen Gemeinde noch vor Absendung des Schreibens 2Kor 1–9 anfügte. Mit dem Tränenbrief (vgl. 2Kor 2,4) und damit als ursprünglich eigenständigen und vor 2Kor 1–9 verfassten Brief identifiziert 2Kor 10–13 z.B. Klauck, 2Kor 9. Für eine ursprüngliche Eigenständigkeit von 2Kor 10–13, allerdings gegen eine Identifizierung mit dem Tränenbrief und stattdessen für eine zeitlich dem Versöhnungsbrief nachgeordnete Entstehung der vier Kapitel sprechen sich Furnish, II Cor 35–38; Gnilka, Paulus (s. Anm. 1) 117f; Kleine, Furcht 48f; und Wünsch, Brief 113–119 aus. Diese Hypothese erscheint mir angesichts der paulinischen Besuchspläne am plausibelsten. So steht nach 2Kor 10,2; 12,14.20; 13,1f ein dritter Besuch des Paulus in Korinth (nach dem Gründungs- und dem Zwischenbesuch) kurz bevor. Den Tränenbrief, der bald nach dem beim Zwischenbesuch erfolgten Eklat entsteht, verfasst Paulus aber nach eigener Aussage gerade anstelle eines zunächst geplanten weiteren (= dritten) Besuchs (vgl. 2Kor 1,15f [zur Frage der „zweiten Gnade“ vgl. unten Anm. 101].23; 2,1–3). Wenn also Paulus bei der Abfassung des Tränenbriefs seine Besuchsplanung in Korinth gerade eben „auf Eis gelegt“ hatte, kann 2Kor 10–13 nicht mit dem Tränenbrief identisch sein, vgl. auch Wünsch, Brief 120. Zudem dringen in Gestalt der „Superapostel“ (2Kor 11,5) offenbar von außen Gegner des Paulus in die korinthische Gemeinde ein und versuchen diese zu beeinflussen (2Kor 11,4.12–15.20). Auch diese Situation lässt sich nicht mit den Umständen, die nach Paulus zur Abfassung des Tränenbriefes führen (Beleidigung des Apostels durch ein Gemeindemitglied, vgl. 2Kor 2,1–4.5–11), harmonisieren. 2Kor 10–13 aber als genuinen, allerdings später nach Erhalt neuer Nachrichten aus der korinthischen Gemeinde angefügten Bestandteil des kanonischen 2Kor zu betrachten, ist kaum überzeugend. Denn in diesem Fall wäre doch wohl zu erwarten, dass Paulus nach der Erleichterung, der er angesichts der Konsolidierung der Lage in der korinthischen Gemeinde Ausdruck verleiht, eine überleitende Bemerkung zu den neuen, beunruhigenden Nachrichten gemacht hätte. Der gerade auch atmosphärisch so harte Schnitt zwischen 9,15 und 10,1 erklärt sich meines Erachtens am besten durch die Annahme, dass hier zwei verschiedene Briefe, deren Abfassungszeit zeitnah nacheinander erfolgt sein dürfte, nachträglich redaktionell durch Wegbrechen des Postskripts beim Versöhnungsbrief und des Präskripts beim Vierkapitelbrief aneinandergefügt wurden. So zählt Paulus im Versöhnungs- und im Vierkapitelbrief seine Besuche in Korinth keineswegs konsequent durch. Die zweifache Erwähnung seines bei der Abfassung des Vierkapitelbriefes kurz bevorstehenden dritten Besuches in Korinth, die sich im Übrigen wohl der Bezugnahme auf Dtn 19,15 in 2Kor 13,1b verdankt, zählt den Zwischenbesuch, bei dem es im Frühsommer 55 zum Eklat kam, offenkundig als zweiten nach dem Gründungsbesuch. In 2Kor 1,15–2,3 rekurriert Paulus aber auf die Änderung seiner unter dem unmittelbaren Eindruck des Zwischenbesuchs gefassten Reisepläne (dazu ausführlich unten Ziffer 3.2.). Dabei firmiert der dritte Besuch, den Paulus dann gleichsam zugunsten des Tränenbriefs storniert (2,3) und zu dem es erst einige Monate später kommen sollte (2Kor 12,14; 13,1), als „zweite Gnade“ (deute,ran ca,ran) (1,15; aufgenommen in 2,1 durch to. mh. pa,lin). Paulus rechnet hier also ein-
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auf den Gründungsbesuch lässt sich also keinesfalls textlich absichern. Im Unterschied zu Phil 1,26 ist allerdings in Phil 1,30 eine Anspielung auf den Gründungsbesuch wahrscheinlich (vgl. 1Thess 2,2). Doch trägt dies nichts zur Absicherung der Vermutung bei, Paulus sei zwischen der Gründung der Gemeinde von Phlippi und der Abfassung des Phil nicht mehr in der Stadt gewesen. Zutreffend weist Broer darauf hin: „Paulus kann in 1,30 auf bestimmte Erfahrungen während seines Gründungsbesuches in Philippi anspielen, ohne einen inzwischen evtl. erfolgten Besuch, bei dem solche Erfahrungen keine Rolle spielten, zu erwähnen.“25
2.2 Der gleiche Kampf – damals und jetzt (Phil 1,30) Diese Erfahrungen sind offenkundig solche des leidvollen Kampfes für das Evangelium. Für U.B. Müller ergibt sich daher aus Phil 1,30 ein anderes Argument gegen Rom als Abfassungsort des Phil: „Die Annahme einer römischen Haft wird nahezu unwahrscheinlich gemacht durch die meist nicht beachtete Betonung des Paulus, wonach die Philipper gegenwärtig den gleichen Kampf zu bestehen haben, den sie einst bei der Missionierung der Gemeinde an Paulus gesehen haben und von dem sie jetzt bei ihm hören (Phil 1,30). (…) Denn der Gegensatz des Aorists ei;dete und des noch durch nu/n verstärkten Präsens verlangt die Deutung auf ein noch nicht lange währendes schweres Ereignis, von dem die Philipper jetzt hören. Bei Annahme einer römischen Haft hätte Paulus schon zwei Jahre lang in Cäsarea in Gefangenschaft gelegen und wäre schon einige Zeit in Rom inhaftiert.“26 Dann aber,
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deutig vom Zwischenbesuch her (so auch Gnilka, Paulus (s. Anm. 1) 118 mit Anm. 32), wobei er diesen Zwischenbesuch offenbar in so enger situativer Verflechtung mit dem geplanten weiteren Abstecher zur korinthischen Gemeinde versteht, dass er ihn implizit mit dem Etikett „erste Gnade“ versieht, ohne dass damit der Zwischenbesuch zum Gründungsbesuch mutierte. Ein anderes Beispiel: In 1Kor 16,5–7 kündigt Paulus einen mehrmonatigen Besuch in Korinth für den Winter (wohl des Jahres 55/56) an. Dieser Besuch, der nach 2Kor 12,14; 13,1 unmittelbar bevorsteht, war aber zum Zeitpunkt der Abfassung des 1Kor, als Paulus die Notwendigkeit des Zwischenbesuches noch nicht bewusst war, als erster Besuch nach dem Gemeindegründungsaufenthalt geplant. Unter Vernachlässigung der situativen Verankerung des 1Kor könnte 1Kor 16,7 nun durchaus so verstanden werden, dass Paulus bisher nur zu einer oder mehreren „Stippvisiten“ in Korinth weilte, obwohl doch sein Gründungsaufenthalt anderthalb Jahre umfasste. Bezieht man dagegen die Situation in der korinthischen Gemeinde, wie sie sich aus dem 1Kor als ganzem ergibt, mit ein, so erscheint die Aussage in 16,7 plötzlich in einem anderen Licht. Denn diese Situation der Gruppenbildungen und Streitigkeiten erfordert einen längeren Aufenthalt des Paulus, daher: „Ich will euch nämlich jetzt (a;rti), das heißt angesichts der augenblicklichen Gemeindesituation, nicht auf der Durchreise sehen.“ Vgl. dazu Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 8) 422f. Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 390; ähnlich relativierend Vielhauer, Geschichte (s. Anm. 13) 167. Ebenso wenig einschlägig beweiskräftig ist Phil 4,15f. Denn im Blickpunkt steht hier ausschließlich die materielle Unterstützung des Paulus durch die Gemeinde in Philippi, die unabhängig ist von seiner Anwesenheit oder Abwesenheit in der Stadt. Ein Bezug auf stattgefundene oder nicht stattgefundene Besuche ist weder explizit noch implizit gegeben. Müller, Brief (s. Anm. 13) 158.
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so die Schlussfolgerung, müssten die Philipper seit geraumer Zeit und nicht erst jetzt von diesem Kampf gehört haben. Doch was bezeichnet Paulus in Phil 1,30 als Kampf (avgw,n), die Haftzeit oder nicht vielmehr seine bzw. des Evangeliums Verteidigung im Rahmen einer Gerichtsverhandlung – damals und jetzt – unabhängig von der Dauer einer vorausgehenden Inhaftierung? Für die zweite Deutung spricht nicht zuletzt der sachliche Bezug zu 1,12f:27 Der Kampf, von dem die Philipper jetzt – nämlich beim Verlesen des Briefes – hören (1,30), ist nichts anderes als das, wovon die Information handelt, die Paulus ihnen zukommen lassen wollte (ginw,skein de. u`ma/j bou,lomai) (1,12a), nämlich „dass das, was mich betrifft, mehr zum Fortschritt des Evangeliums gedient hat, so dass meine Fesseln als solche in Christus offenbar wurden im ganzen Prätorium und bei allen Übrigen“ (1,12b–13). Zutreffend vermerkt Müller selbst dazu: „Man spricht plötzlich von ihm (Paulus, M.G.), aber mit Bezug auf das Evangelium. Vermutlich spielt Paulus auf (öffentliche) Gerichtsverhandlungen an, die die Chance geboten haben, für die Sache des Evangeliums einzutreten.“28 Diese Chance bekam Paulus freilich erst mit der Eröffnung seines Prozesses in Rom, nicht aber während der vorausgehenden längeren Inhaftierungsphase.
2.3 Realistische Kommunikationsmöglichkeiten zwischen dem Haftort des Paulus und den Adressaten der Gefangenschaftsbriefe 2.3.1 Philipperbrief Der Phil29 lässt einen regen Austausch von Informationen und Gaben zwischen Paulus an seinem Haftort und der Gemeinde in Philippi erkennen. Drei Mal gelan27
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Sofern man etwa mit Schnelle, Einleitung (s. Anm. 9) 157 Phil 1,12–30 als zusammenhängenden Abschnitt („Briefliche Selbstempfehlung“) würdigen will, bilden die V. 12f und 30 auch eine formale Inclusio. Müller, Phil (s. Anm. 13) 50. Der vorliegende Beitrag geht von der Einheitlichkeit des Phil aus (vgl. u.a. Müller, Phil [s. Anm. 13] 4– 14; Ernst, Josef, Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolosser, an die Epheser (RNT), Regensburg 1974, 26–31; Egger, Phil [s. Anm. 13] 49; Schnelle, Einleitung [s. Anm. 9] 158–160; Roloff, Jürgen, Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995, 141) entsprechend der begründeten Skepsis, die in jüngerer Zeit komplexen literarkritischen Thesen in der Briefliteratur entgegengebracht wird, vgl. Wolff, 2Kor (s. Anm. 23) 2 mit Anm. 12; Klauck, Hans-Josef, Compilation of Letters in Cicero’s Correspondence, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum (WUNT 152), Tübingen 2003, 317–337, bes. 336–337; Schmeller, Thomas, Die Cicerobriefe und die Frage nach der Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs: ZNW 95 (2004), 181–208, bes. 202–208. Zur Notwendigkeit einer sehr zurückhaltenden und vorsichtigen Anwendung der Literarkritik gerade bei brieflichen Texten vgl. schon Merklein, Helmut, Die Einheitlichkeit des ersten Korintherbriefes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 345–375, hier: 348–351.
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gen Nachrichten vom Haftort nach Philippi (über die Bedrängnis des Paulus [4,14], über die Erkrankung des Epaphroditus [2,26]; durch den von Epaphroditus überbrachten Philipperbrief [2,28–30]), zwei Mal verläuft der Kontakt umgekehrt von Philippi zum Haftort (Epaphroditus überbringt Paulus die materielle Unterstützung der Gemeinde [2,25; 4,18], die Besorgnis der Philipper über die Erkrankung des Epaphroditus wird am Haftort bekannt [2,26]).30 Die Distanz zwischen dem Haftort und Philippi musste also insgesamt fünf Mal bewältigt werden. Dies aber sei – so die meisten Vertreter der Ephesus-Hypothese – unrealistisch, sofern man Rom als paulinischen Inhaftierungsort annehme. Denn für die Reise zwischen Rom und Philippi müssten mehrere Wochen veranschlagt werden, während die Strecke zwischen Ephesus und Philippi nur rund eine Woche beanspruchte.31 Doch selbst wenn man 2 Wochen für die Reise zwischen Rom und Philippi auf dem Seeweg oder 4 Wochen auf Landweg32 für zu optimistisch hält, ist M. Günther zuzustimmen: „Legt man eine zweijährige Gefangenschaft (sc. in Rom, M.G.) zugrunde (vgl. Apg 28,30), sollte dem Argument einer relativ kurzen Wegstrecke zwischen Ephesus und Philippi nicht allzu große Bedeutung zukommen.“33 Keinesfalls also spricht die lebhafte Kommunikation zwischen der philippensischen Gemeinde und dem inhaftierten Paulus zwingend gegen Rom als Haftort und damit als Abfassungsort des Phil.34
2.3.2 Philemonbrief Mit guten Gründen lässt sich der Phlm derselben paulinischen Gefangenschaft zuordnen wie der Phil. Beide Briefe lassen eine verhältnismäßig erträgliche Haftsituation erkennen, die es ermöglicht, dass Paulus Besucher und Mitarbeiter empfangen kann (Phil 2,19.25; 4,21b; Phlm 10.12.24). In beiden Briefen ist Paulus optimistisch gestimmt, was das baldige Ende seiner Gefangenschaft betrifft (Phil
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Vgl. etwa Thiessen, Christen (s. Anm. 13) 116f; Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 389. Vgl. u.a. Thiessen, Christen (s. Anm. 13) 116f m. Anm. 164; Müller, Phil (s. Anm. 13) 16f m. Anm. 54; Gnilka, Phil (s. Anm. 22) 20f; Vielhauer, Geschichte (s. Anm. 13) 169. Vgl. die Angaben bei Schnelle, Einleitung (s. Anm. 9) 155; Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 389; zur Reisegeschwindigkeit auf den Straßen des Imperium Romanum vgl. Radke, Gerhard, Viae publicae Romanae, in: PRE.S 13, 1973, 1417–1686, hier: 1475–1477; Weeber, Karl-Wilhelm, Reisen, in: DNP 10, 2001, 856–866, 858; Heinz, Werner, Reisewege der Antike. Unterwegs im Römischen Reich, Darmstadt 2003, 82. zu den Reisegeschwindigkeiten per Schiff vgl. Alonso-Núnẽz, José Miguel, Schiffahrt, in: DNP 11, 2001, 160–165, hier: 165. Günther, Frühgeschichte (s. Anm. 14) 45; vgl. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 9) 155f. So im Übrigen auch Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 389 als ein Vertreter der Ephesus-Hypothese.
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1,24–26; Phlm 22b)35 und plant Besuche bei den Briefempfängern (Phil 1,26; 2,24; Phlm 22a). Hauptempfänger und zugleich „Namensgeber“ des Phlm ist ein christlicher Hausherr namens Philemon, den Paulus als „geliebten Mitarbeiter“ qualifiziert (V. 1). Als Nebenadressaten fungieren eine als (Glaubens-)Schwester bezeichnete Frau namens Aphia,36 ein Mann namens Archippus, den das Epitheton „Mitstreiter“ als aktiv in die paulinische Missionsarbeit eingebunden ausweist,37 und schließlich die christlichen Mitglieder von Philemons Hausgemeinschaft, die Paulus mit der formelhaften Wendung „die Gemeinde in deinem Haus“ (vgl. 1Kor 16,19; Röm 16,5; Kol 4,15)38 anspricht. Inhaltlich kreist dieser kürzeste und persönlichste Paulusbrief um ein einziges Thema, genauer um das Schicksal einer Person: die des Sklaven Onesimus. Onesimus, der noch als Heide im Haus seines Herrn gelebt hatte, stand mit Philemon offenbar nicht im besten Einvernehmen. Möglicherweise war er schon mehrfach negativ aufgefallen, so dass er seinem Herrn als „Nichtsnutz“ galt (V. 11).39 Nun hatte er das Haus seines Herrn verlassen (vgl. V. 15 evcwri,sqh40),41 sei es als fugitivus, der nicht zurückzukehren gedachte, oder sei es – wahrscheinlicher –42 als Herumtreiber, der gleichsam nur eine „Auszeit“ nehmen wollte. Auf jeden Fall trifft er bei diesem „Ausflug“ Paulus an dessen Haftort.43 Dieser gewinnt ihn für den christlichen Glauben (V. 10) und schickt ihn mit dem Brief an seinen Herrn Philemon zurück (V. 12). In diesem Brief macht Paulus Philemon auf die Statusänderung des Onesimus in seiner Beziehung zu ihm – nicht mehr Sklave, sondern geliebter Bruder (V. 16) – aufmerksam und verleiht seiner Erwartung Aus-
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Wenngleich er in Phil auch die Möglichkeit seines Todes ins Auge fasst (1,20–23). Ob es sich bei Aphia um die Frau des Philemons handelt (so etwa Stuhlmacher, Phlm [s. Anm. 13] 30; als Möglichkeit: Wolter, Phlm (s. Anm. 13) 245; Ernst, Phlm [wie Anm. 29] 125), ist fraglich (Egger, Phlm [s. Anm. 13] 81: „Das [Verwandtschafts-]Verhältnis zwischen Philemon, Aphia und Archippus ist nicht bekannt.“), da Paulus – anders als im Fall von Priska und Aquila (1Kor 16,19; Röm 16,3.5) – in Phlm 2 nicht von der Gemeinde in eurem Haus spricht, sondern die Beziehung auf Philemon beschränkt (die Gemeinde in deinem Haus), vgl. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 9) 168. Vgl. Wolter, Phlm (s. Anm. 13) 245. Zum Verständnis dieser Wendung vgl. Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 8) 460–464. Vgl. Arzt-Grabner, Peter, Onesimus erro. Zur Vorgeschichte des Philemonbriefes: ZNW 95 (2004), 131–143, hier: 142f. Zur Interpretation dieser Formulierung anhand von Vergleichsmaterial in literarischen und dokumentarischen Quellen vgl. Arzt-Grabner, Onesimus (s. Anm. 39) 136–139. Eine knappe und informative Übersicht über die verschiedenen Interpretationsansätze zur Erklärung dieses Handelns von Onesimus bietet Wolter, Phlm (s. Anm. 13) 228f. Dafür spricht der Zusatz pro.j w[ran in V. 15, vgl. Arzt-Grabner, Onesimus (s. Anm. 39) 139. Vgl. dazu Arzt-Grabner, Onesimus (s. Anm. 39) 141: „Ob Onesimus wirklich aktiv und von vornherein bestrebt war, Paulus zu treffen, um bei ihm Zuflucht, Rat oder Unterstützung zu finden, bleibt mangels deutlicher Hinweise unsicher. Möglich wäre auch, dass er von einem Mitglied der örtlichen christlichen Gemeinde mitgenommen wurde, um Paulus im Gefängnis zu besuchen, und sich alles Weitere erst daraus ergeben hat.“
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druck, dass Philemon ihm Onesimus als Helfer für die Zeit seines Gefängnisaufenthaltes zurücksendet (V. 13f). Den Verfechtern der These einer Abfassung der paulinischen Gefangenschaftsbriefe während einer längeren Inhaftierung des Apostels in Ephesus kommen nun Hinweise zu Hilfe, die auf die Lokalisierung der Empfänger des Phlm in der Stadt Kolossä zu deuten scheinen. So lassen in Phlm 23f mit Epaphras, Markus, Aristarch, Demas und Lukas eben dieselben Personen vom Haftort des Paulus die Briefempfänger grüßen wie in Kol 4,10–14. Mehr noch: Kol 4,9 wird die Ankunft eines Onesimus in Kolossä angekündigt, der wohl mit dem Onesimus des Phlm identisch sein dürfte und von dem es eigens heißt, dass er „einer von euch“ sei, will heißen: Onesimus stammt aus Kolossä. Und schließlich wird in Kol 4,17 mit Archippus einer der Nebenadressaten des Phlm zur Erfüllung seines Dienstes gemahnt und damit indirekt auch in Kolossä angesiedelt. Weisen nun die frappierenden Übereinstimmungen im Personentableau zwischen Phlm und Kol scheinbar unausweichlich auf eine Beheimatung Philemons und seines Hauses einschließlich des Sklaven Onesimus in Kolossä hin, so lässt sich erneut für eine paulinische Gefangenschaft in Ephesus das Argument der von Onesimus drei Mal zu bewältigenden Reisestrecke zwischen seinem Heimatort und dem Haftort des Paulus44 anführen.45 Nun ist zwar gegen dieses Argument im Fall des Phlm grundsätzlich dasselbe einzuwenden wie schon im Fall des Phil: Angesichts einer vorauszusetzenden zweijährigen Gefangenschaft des Paulus in Rom (vgl. Apg 28,30) ist eine dreimalige Bewältigung der Distanz zwischen Kolossä und Rom wohl kaum als gravierendes Hindernis für die Rom-Hypothese zu betrachten. Gleichwohl stellt sich die Situation im Phlm anders dar. Denn es ist aus guten Gründen anzunehmen, dass es sich bei Onesimus nicht um einen geflüchteten Sklaven, sondern nur um einen Herumtreiber handelt, der das Haus seines Herrn für eine vergleichsweise kurze Zeit verlässt, um dann wieder heimzukehren.46 Angesichts dessen darf es bereits als bemerkenswert bezeichnet werden, sofern Onesimus sich von Kolossä ins immerhin ca. 170 km entfernte Ephesus begeben hat. Ob er sich allerdings noch auf seinen Status als Herumtreiber hätte berufen können, sofern er sich auf die lange Reise in das um ein Vielfaches der Strecke zwischen Kolossä und Ephesus entfernte Rom begeben hätte, erscheint doch zweifelhaft. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Paulus bittet Philemon, er möge für ihn ein Quartier vorbereiten (e`toi,maze, moi xeni,an) für die Zeit nach seiner Haftentlassung (Phlm 22). Dieser doch sehr konkrete Wunsch nach 44
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1. Onesimus sucht Paulus an seinem Haftort auf; 2. Paulus sendet Onesimus zu seinem Herrn Philemon zurück; 3. Paulus erwartet die Rückkehr des Onesimus an seinen Haftort. Vgl. Stuhlmacher, Phlm (s. Anm. 13) 21; Vielhauer, Geschichte (s. Anm. 13) 173; Thiessen, Christen (s. Anm. 13) 129. Vgl. Arzt-Grabner, Onesimus (s. Anm. 39) passim.
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Herrichtung eines Gastzimmers wirkt eher befremdlich, geht man davon aus, dass Paulus die lange Reise zwischen Rom und Kolossä vor Augen gestanden haben sollte. Michael Wolter interpretiert den Wunsch des Paulus in Phlm 22 unter dem Vorzeichen brieflicher Freundschaftstopik: „Mit dem Aussprechen der Hoffnung auf einen baldigen Besuch beim Adressaten, d.h. der sog. ‚Parusie-Formel‘ (…) enthält dieser Vers (…) einen wichtigen briefstilistischen Topos, der auch an zahlreichen anderen Stellen innerhalb und außerhalb des Corpus Paulinum begegnet (vgl. z.B. Röm 1,10ff.; 15,22ff.; 1Kor 16,5ff.; Phil 1,8; 4,1; 1Thess 3,6; 2Joh 12; 3Joh 14). Der Parusie-Topos steht häufig in der Nähe des Briefendes und hat Brückenfunktion für die Fortsetzung der Kommunikation: Da Briefe immer nur als unvollkommener Ersatz für die unmittelbare Anwesenheit beim Briefpartner angesehen wurden (…), gehört der ParusieTopos wegen der in ihm formulierten Hoffnung auf Überwindung der Trennung zu den Elementen der brieflichen Freundschaftstopik.“ 47 Gewiss beschreibt Wolter damit eine wichtige pragmatische Funktion der Bitte des Paulus in Phlm 22. Doch fällt dieser Vers zum einen durch seine Konkretheit (Vorbereitung einer Unterkunft) und zum anderen durch seine imperativische Formulierung aus dem Rahmen, der durch die anderen Besuchsankündigungen in den paulinischen Briefen48 vorgegeben ist. Denn darin äußert er nur seine Hoffnung, die jeweiligen Briefadressaten zu sehen, zu ihnen zu kommen oder eine Weile bei ihnen zu bleiben. Selbst in Phil 2,24, wo Paulus ein baldiges Kommen erwartet, verbindet er diese Aussicht nicht mit einem konkreten Wunsch. Dies deutet doch wohl darauf hin, dass Paulus in Phlm 22 mit der Möglichkeit rechnet, die Gastfreundschaft des Philemon gleichsam von einem auf den anderen Tag in Anspruch nehmen zu müssen.
Dürfte also als gesichert gelten, dass die Adressatenschaft des Phlm tatsächlich in Kolossä beheimatet ist, gewänne die Ephesushypothese als Haftort des Paulus und als Abfassungsort seiner Gefangenschaftsbriefe deutlich an Plausibilität. Doch ist genau diese notwendige Voraussetzung zu hinterfragen. Denn das Argument, dass die auffälligen Übereinstimmungen im Personentableau zwischen Phlm und Kol eine Beheimatung von Philemon, seinem Sklaven Onesimus samt seiner übrigen Hausgemeinschaft sowie den beiden Nebenadressaten Aphia und Archippus in Kolossä anzeigen, steht auf tönernen Füßen. Es berücksichtigt nämlich nicht die deuteropaulinische Herkunft des Kol. Einem Verfasser jedoch, der den geradezu genialen Schachzug macht, einen fingierten Paulusbrief an eine Gemeinde in einer Stadt zu richten, die zum Zeitpunkt der Briefabfassung bereits durch ein Erdbeben zerstört war,49 ist es gewiss auch zuzutrauen, das Personentableau aus dem authentischen Phlm zu übernehmen, um auf diese Weise seiner literarischen Fiktion noch mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen.50 Das heißt nicht, dass jeder Bezug des Phile47 48 49
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Wolter, Kol/Phlm (s. Anm. 13) 280. Vgl. außer den bei Wolter genannten Stellen noch 2Kor 12,14; 13,1; Phil 1,26; 2,24. Die Städte Hierapolis, Laodizea und Kolossä wurden im Jahr 61 durch ein Erdbeben im Lykostal erschüttert. Im Unterschied zu den beiden anderen Städten findet Kolossä nach 61 keine literarische Erwähnung mehr, vgl. Schweizer, Eduard, Der Brief an die Kolosser (EKK XII), Zürich u.a. 2. durchges. Aufl. 1980, 19; Gnilka, Joachim, Der Kolosserbrief (HThK X.1), Freiburg u.a. 1980, 2. Vgl. dazu etwa auch Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 403; Vielhauer, Geschichte (s. Anm. 13) 200.
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mon und der übrigen Personen zu Kolossä bestritten werden sollte. Möglicherweise kannte der Verfasser des Kol eine Überlieferung, die um eine ursprüngliche oder zeitweise Beheimatung des Philemon und seines Hauses in Kolossä wusste.51 Angesichts der erstaunlichen Mobilität unter den nicht selten ein Handwerk und/oder Handel betreibenden Hausbesitzern, die uns die Paulusbriefe und die Apg geradezu exemplarisch an Priska und Aquila vor Augen führen,52 ist es aber keineswegs abwegig zu vermuten, dass auch Philemon samt seiner Hausgemeinschaft zur Zeit der Abfassung des Phlm seinen Wohnsitz nicht mehr in Kolossä hatte. Gesetzt den Fall, er hätte sich zwischenzeitlich in oder nahe bei Rom niedergelassen, Paulus aber verfasste seine Gefangenschaftsbriefe in römischer Haft, erhielten zwei Beobachtungen eine zwanglose Erklärung, die sich in eine Konstellation Rom – Kolossä nicht und in eine Konstellation Ephesus – Kolossä zumindest nicht fraglos integrieren lassen: 1. Sofern sich das Haus des Philemon in oder nahe Rom befand, konnte Onesimus als Herumtreiber seine „Auszeit“ problemlos in der weitläufigen Hauptstadt verbringen, ohne sich zu weit von seinem Besitzer entfernen zu müssen und Gefahr zu laufen, doch als Flüchtling eingestuft zu werden. Bei seinem Streifzug durch Rom mag er dann absichtlich oder zufällig mit Paulus in Kontakt gekommen sein. 2. Die ungewöhnliche Besuchsankündigung in Gestalt einer sehr konkreten Bitte um eine Quartiervorbereitung, die Paulus an Philemon richtet (Phlm 22), gewinnt unerwartete Plausibilität, wenn Paulus dieses Quartier unmittelbar nach einer in Kürze erwarteten Haftentlassung beziehen konnte und wollte. Eben diese Möglichkeit eröffnet sich aber unter der Vorstellung, dass Gast und Gastgeber sich gleichermaßen in Rom oder im Umfeld der Hauptstadt befinden. Selbstverständlich wird man sich des hypothetischen Charakters dieses Lösungsvorschlags bewusst bleiben müssen. Dies gilt freilich auch für die Lokalisierung des philemonischen Hauswesens in Kolossä zur Zeit der Abfassung des Phlm. Eine solche erreicht nämlich durch die meist unreflektierte Berufung auf den deuteropaulinischen Kol keineswegs einen Gewissheitsgrad, der es erlaubte, die Abfassung der Gefangenschaftsbriefe in Rom für unmöglich zu erklären und die Annahme einer Inhaftierung des Paulus in Ephesus als unausweichlich zu bestimmen.
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Zutreffend weist Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 403 auf die notwendige Voraussetzung hin, dass die von den pseudepigraphischen Autoren „ zur Absicherung der Authentizität eingesetzten Mittel dem damaligen Konsens entsprachen – alles andere wäre kontraproduktiv gewesen und hätte die Akzeptanz des pseudepigraphischen Schreibens gefährdet.“ Dieser Konsens impliziert aber im Fall des Kol, dass seine Rezipienten die im Brief aufgebotenen Personen aufgrund der Überlieferungslage zumindest teilweise mit der Stadt Kolossä in Verbindung bringen konnten. Vgl. oben Ziffer 1.
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2.4 Die Reisepläne des Paulus Die Hauptargumente, die die Vertreter der Ephesus-Hypothese aus der Auswertung der paulinischen Reisepläne gewinnen, fasst W. Thiessen wie folgt prägnant zusammen: „Die Reisepläne des Paulus im Philipperbrief passen ebenso zum Gefangenschaftsort Ephesus: Paulus hofft, nach seiner baldigen Freilassung die Philipper besuchen zu können (Phil 2,24). Dies entspricht dem tatsächlichen Weg seiner ‚Kollektenreise‘ nach der Abreise aus Ephesus: über Troas und Mazedonien nach Korinth (vgl. Apg 20,1; 1Kor 16,5; rückblickend: 2Kor 2,13; 7,5; Röm 15,26; Apg 20,1). Daß Paulus die Kollekte im Philipperbrief nicht erwähnt, läßt darauf schließen, daß es in dieser Angelegenheit keine Probleme mit der Gemeinde gab. Eine (weitere) Aufforderung zum Spenden ist nicht nötig (2Kor 8,1–5). Die wiederholten finanziellen Unterstützungen der paulinischen Mission zeigen die Bereitschaft der Philipper zum ‚Geben‘. Womöglich hat Paulus hin und wieder seine Reisepläne geändert; daß er jedoch an seinen Hauptzielen nicht festgehalten haben soll, ist kaum anzunehmen und auch nicht zu belegen. Und diese Hauptziele hießen: 1. Die Kollektenreise zum Abschluß bringen, 2. die Gemeinde in Rom besuchen, 3. die Spanien-Mission (Röm 15,24.28). Eine Aufgabe dieser Pläne ist unwahrscheinlich. Paulus hatte keinen Grund dazu.“53 Die Erörterung, ob es grundsätzlich möglich ist, unter der Voraussetzung eines längeren – nach Wochen oder sogar eher nach Monaten zählenden54 – Gefängnisaufenthaltes in Ephesus die von Paulus in Phil 2,24 geäußerten Besuchspläne mit seinen eigenen Angaben zur Reiseroute vom Abschied aus Ephesus bis zur Ankunft in Korinth (vgl. 1Kor 16,5–7; 2Kor 2,13; 7,5; 12,14; 13,1) in Einklang zu bringen, soll noch zurückgestellt werden (s. Ziffer 3.2.). Hier gilt es zunächst aufzuzeigen, dass die Hypothese einer Abfassung der Gefangenschaftsbriefe während der Inhaftierung des Paulus in Rom keineswegs impliziert, dass Paulus die in Röm 15,24.28 genannten Hauptziele seiner weiteren Tätigkeit aufgegeben habe. Das erste Ziel, nämlich der Abschluss der Kollektenaktion durch persönliche Übergabe des Geldbetrags in der Jerusalemer Urgemeinde, ist unter Voraussetzung der Rom-Hypothese ja schon erreicht. Dies kann mindestens eben so gut das Schweigen des Paulus über Kollektenfragen in einem „römischen“ Phil erklären wie die von Thiessen 53
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Thiessen, Christen (s. Anm. 13) 118. Vgl. ferner etwa Gnilka, Phil (s. Anm. 13) 21; Müller, Phil (s. Anm. 13) 17; Vielhauer, Geschichte (s. Anm. 13) 167; Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 389f; Friedrich, Gerhard, Der Brief an die Philipper, in: J. Becker/H. Conzelmann/G. Friedrich, Die Briefe an die Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thessalonicher und Philemon (NTD 8), Göttingen 1976, 125–175, 130; Barth, Gerhard, Der Brief an die Philipper (ZBK.NT 9), Zürich 1979, 9. Vgl. oben Anm. 17.
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angebotene Lösung, die philippensische Gemeinde sei in Sachen Kollekte so kooperativ gewesen, dass sich in einem „ephesinischen“ Phil jede Thematisierung der Aktion erübrigt habe. Das Argument, dass Paulus im Phil kein Wort über die Kollekte verliert, ist ambivalent und kann sowohl für die Ephesus- wie für die RomHypothese eingesetzt werden. Auch sein zweites Ziel – einen Besuch der römischen Gemeinde – kann Paulus unter der Voraussetzung einer Inhaftierung in Rom durchaus als erreicht betrachten. Zwar ist er in diesem Fall – entgegen seinen Plänen – nicht als freier Mann, sondern als Gefangener nach Rom gekommen. Aber offenkundig erlauben die Haftbedingungen auch Kontakte zu römischen Gemeindemitgliedern, von denen Paulus Röm 16 zufolge nicht wenige persönlich gut kennt. Angesichts dessen darf davon ausgegangen werden, dass Paulus mit der römischen Gemeinde während seiner Haft in Austausch stand. Allein die Spanienmission steht noch aus. Dass Paulus sich darüber in den Gefangenschaftsbriefen und zumal im Phil ausschweigt, hat sicher primär damit zu tun, dass er, wie er selbst schreibt (Phil 2,23), bei der Abfassung des Briefes seine Lage nicht recht überschauen kann. Todesurteil wie Freilassung erscheinen ihm gleichermaßen möglich (Phil 1,20–24), wenngleich er mit einem gewissen Optimismus von einem Freispruch ausgeht (Phil 1,25f; vgl. Phlm 22). In diesem Zusammenhang ist m.E. auch die zweifache Ankündigung eines (baldigen) Besuchs in Philippi (Phil 1,26; 2,24) einzuordnen, die nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass Paulus seine Spanienpläne aufgegeben hat. Vor dem Hintergrund seines sehr emotional geprägten Verhältnisses zur philippensischen Gemeinde könnte seine Besuchsankündigung angesichts seiner ungewissen Situation psychologisch durchaus primär zur Selbstauferbauung wie zum Trost der besorgten Gemeinde dienen.55 Andererseits ist auch nicht außer Acht zu lassen, dass zwischen der Ankündigung der Spanienmission in Röm 15 und dem Phil – sofern er der paulinischen Gefangenschaft in Rom zugeordnet werden darf – schon eine geraume Zeit vergangen ist. So muss auch in Erwägung gezogen werden, dass die Spuren einer längeren Haft und des Transportes nach Rom als Gefangener an Paulus nicht spurlos vorübergegangen sind. Die Situation könnte sich also durchaus so verändert haben, dass ihm eine Spanienmission nicht mehr möglich erscheint. Zudem gibt Paulus in Röm 15,24 zu erkennen, dass er auf materielle Unterstützung der römischen Gemeinde für seine Spanienmission hofft. Ob die Gemeinde jedoch bereit war, ihm diese zu geben, ist keineswegs sicher. Sofern nämlich Paulus den Phil in Rom verfasst hat, weisen seine Enttäuschung verratenden Bemerkungen in 1,14–18 zumindest darauf hin, dass die römische Gemeinde nicht geschlossen hin55
In diesem Zusammenhang ist noch einmal an den topischen Charakter solcher Besuchsankündigungen und an ihre pragmatischen Funktion angesichts der faktischen Trennung zwischen Briefsender und -empfängern zu erinnern, vgl. o. Ziffer 2.3.2. die Ausführungen von Wolter, Phlm (s. Anm. 13) 280 zu Phlm 22.
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ter ihm und seiner Evangeliumsverkündigung stand.56 Auch im Fall eines positiven Prozessverlaufs und unter der Voraussetzung eines Festhaltens an seinen Spanienplänen konnte Paulus also möglicherweise bei der Abfassung des Phil noch gar nicht sicher sein, ob ihm dafür die notwendigen Mittel zur Verfügung standen. Auch daraus könnte sich sein Schweigen über die Spanienmission in einem in Rom verfassten Phil erklären.
2.5 Die paulinische Haltung zum jüdischen Gesetz im Phil 3 – Rückfall hinter die Position des Römerbriefs? Die bisher erörterten Argumente für eine Abfassung der Gefangenschaftsbriefe Phil und Phlm während eines Gefängnisaufenthaltes des Paulus in Ephesus leiteten sich durchweg von den äußeren Faktoren des paulinischen Wirkens ab. U.B. Müller hat die Debatte um ein dezidiert inhaltliches Argument bereichert,57 das es im Folgenden vorzustellen und auf seine Stichhaltigkeit zu befragen gilt. Im Zentrum der Überlegungen Müllers steht das 3. Kapitel des Phil, in dem Paulus gegen konservativ-judenchristliche Verkündiger polemisiert, die für eine Beschneidung der Heidenchristen und eine damit implizierte Toraobservanz eintreten. Zu Recht sieht Müller Phil 3 vor allem in sachlicher und situativer Nähe zum Gal.58 Zugleich aber hebt er diese beiden Briefe dezidiert von den paulinischen Darlegun56
57 58
Die Zuordnung der Bemerkungen in Phil 1,14–18 zu Schwierigkeiten mit Teilen der römischen Christengemeinde ist jedenfalls wesentlich plausibler als eine Zuordnung zu solchen Schwierigkeiten in Ephesus (gegen Thiessen, Christen [s. Anm. 13] 121–128). Unterstützung findet diese Zuordnung auch aus anderen Quellen. M.E. stellt Roloff, Apg (s. Anm. 14) 372 zutreffend eine Verbindung her zwischen den paulinischen Bemerkungen in Phil 1, dem Befund der Apg, deren Verfasser sich über die römische Gemeinde ausschweigt, sowie 1Klem 5,2–5. So geht Roloff davon aus, „daß Lukas über die (römische, M.G.) Gemeinde schweigt, weil er weiß, daß ihr Verhältnis zu Paulus nicht eindeutig war. Sie wird nämlich durch eine Reihe von weiteren Anhaltspunkten gestützt. So wird man die Bemerkung in 1. Kl. 5,2ff., wonach Petrus und Paulus in Rom ‚wegen Eifersucht und Neid‘ zu Tode gekommen sind, dahingehend verstehen müssen, daß innergemeindliche Kontroversen und Parteiungen zumindest zu den indirekten Ursachen für den Lebensausgang der beiden Apostel gezählt haben. Das entspricht den bitteren Bemerkungen, die Paulus in dem vermutlich während seiner römischen Gefangenschaft verfassten Philipperbrief über die zwiespältige Haltung der lokalen Christengemeinde ihm gegenüber macht (Phil 1,15ff.). Offenbar hat sich die römische Gemeinde nicht geschlossen hinter Paulus gestellt. Es ist nicht undenkbar, daß aus Gruppenrivalitäten gespeiste Intrigen mit Schuld daran getragen haben an der schlimmen Wendung, die sein Prozeß schließlich genommen hat.“ Vgl. besonders Müller, Brief (s. Anm. 13) 155–157.162–171. Vgl. Müller, Brief (s. Anm. 13) 156. Allerdings lässt Müller unbeachtet, dass der Gal als ganzer von der Warnung der galatischen Gemeinden vor der Aneignung dieser konservativ-judenchristlichen Position bestimmt ist. Dabei ahnt Paulus offenbar bereits bei der Abfassung des Briefes, dass er auf verlorenem Posten kämpft (vgl. Gal 4,11.20). Anders dagegen der Phil, der insgesamt ein herzlich-unkompliziertes Verhältnis zwischen Paulus und der philippensischen Gemeinde widerspiegelt. Phil 3 ist daher wohl eher die Bestärkung eines Adressatenkreises, der zur Zeit der Briefabfassung – im Unterschied zu den galatischen Gemeinden – nicht akut gefährdet ist, sondern sich im Sinne des Paulus verhält.
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gen zu Tora und Israel im Röm ab. In diesen Darlegungen des Röm erkennt Müller im Anschluss an U. Wilckens59 ein Abrücken von der in Gal und Phil eingenommenen kämpferischen Haltung60 und das Ergebnis „eine(s) wichtigen Lernproze(sses)“, und zwar „im Blick auf das Thema ‚Kirche und Israel‘“.61 Den Hintergrund dieses Lernprozesses skizziert er so: „Der Apostel musste darunter leiden, daß das auserwählte ‚Israel‘ in seiner Mehrheit das Evangelium ablehnte und der primäre Adressat der christlichen Botschaft ausfiel. Theologisch bedeutet dies grundsätzlich: Wenn Gott sein Volk aufgrund seines Unglaubens verstoßen hätte, müsste er sein gegebenes Wort zurückgenommen haben. Aber wenn Gott der Gott Israels ist, ist es unmöglich, daß sein Wort hinfällig wird (9,6). Die paradoxe Lösung der Problematik wird in Sachen ‚Israel‘ in Röm 9–11 entfaltet. In diesem inneren Kontext findet die Gesetzesfrage auch ihre paradoxe Lösung. Das Gesetz ist von seinem göttlichen Ursprung her heilig. Obwohl ursprünglich zum Leben gegeben, muß es aufgrund der Sünde des Menschen den Sünder verurteilen. Aufgrund der Heilstat in Jesus Christus erweist sich definitiv sein Ende als Heilsweg. Dennoch bleibt es aufgrund der Treue Gottes zu seinem Wort – in der Perspektive Gottes also – Zeichen der Erwählung seines Volkes. Wenn der Röm diese Position im Zusammenhang eines intensiven Ringens um das eschatologische Geschick Israels (Bitte bzw. Fürbitte vor Gott: Röm 9,3; 10,1 – Antwort in Gestalt des Mysteriums: Röm 11,25f.) formuliert, wird es sehr schwierig, die Aussagen von Phil 3 über das Gesetz als Äußerungen zu verstehen, die nach diesem Lernprozeß gemacht sind.“62 Für Müller folgt daraus: „Der Phil ist in seinem dritten Kapitel nur plausibel zu machen, wenn er wie der Gal vor den grundlegenden Klarstellungen des Röm zu verorten ist.“63 Anderenfalls scheinen ihm „die psychologische, aber auch theologische Plausibilität und Konsistenz paulinischen Denkens (…) auf dem Spiel zu stehen.“64 Einmal mehr dokumentiert sich in diesem Votum Müllers die Tendenz der exegetischen Forschung, die theologische Argumentation des Paulus zu systematisieren, statt sie in der brieflichen Gebrochenheit konkreter Abfassungssituationen und unterschiedlich akzentuierter Gemeindeprobleme wahrzunehmen und zu würdigen.65 Eine systematisierende Lektüre der Paulusbriefe aber, der sich der Röm dann 59
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Vgl. Wilckens, Ulrich, Zur Entwicklung des paulinischen Gesetzesverständnisses: NTS 28 (1982), 154– 190, hier: 180. Vgl. Müller, Brief (s. Anm. 13) 156. Müller, Brief (s. Anm. 13) 169. Müller, Brief (s. Anm. 13) 169f. Müller, Brief (s. Anm. 13) 170. Müller, Brief (s. Anm. 13) 157. Vgl. mein wiederholtes Votum für eine Würdigung dieser Eigenart paulinischer Theologie: Gielen, Totenauferweckung (s. I.3.), 128 ; Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 8) 387f.
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freilich als abgeklärte Summe paulinischen Nachsinnens über das Verhältnis von Gesetz und Glaube (1,16–8,39) sowie über Israel (9,1–11,36) aufdrängt, zwingt Paulus eine fremde Logik auf. Zudem verliert sie allzu leicht mit der Vernachlässigung der konkreten Abfassungssituationen die zeitliche Nähe etwa zwischen der Abfassung des Gal und des Röm aus den Augen. Wie wahrscheinlich nämlich ist es, dass Paulus „gerade im Blick auf das Thema ‚Kirche und Israel‘ (…) einen wichtigen Lernprozeß mitgemacht“66 hat, wenn der Gal (ebenso wie wohl auch der Versöhnungsbrief 2Kor 1–9 und der Vierkapitelbrief 2Kor 10–13) etwa im Spätsommer oder Frühherbst 55 in Mazedonien, der Röm aber nur kurze Zeit später im Winter 55/56 in Korinth verfasst wurde?67 Eine situations- und problemspezifisch orientierte Lektüre der Paulusbriefe bedeutet andererseits keineswegs, Paulus Beliebigkeit oder Sprunghaftigkeit in seiner theologischen Argumentation zu unterstellen. Gerade im Blick auf das zentrale Thema „Gesetz und Glaube“ lässt sich eine erstaunliche Stimmigkeit paulinischen Denkens aufzeigen.68 Sie dürfte bereits im Offenbarungserlebnis des Paulus wurzeln (Gal 1,15f), das ihn zwang, sein bis dahin pharisäisch bestimmtes theologisches Koordinatensystem (Gal 1,13f; vgl. Phil 3,5f) neu zu ordnen und das ihn zum Protagonisten der beschneidungs- und damit gesetzesfreien Heidenmission werden ließ.69 Mit seiner pharisäischen Phase verbindet den Apostel Christi Jesu das bleibende Bewusstsein einer doppelten Funktion der Tora, nämlich denen, die ihre Bestimmungen erfüllen, Heil zu schenken, die aber, die diese Bestimmungen nicht erfüllen, zu verfluchen bzw. zu richten. Dies dokumentiert Paulus gleichermaßen im Gal (3,10.12) wie im Röm (2,12b– 13; vgl. 7,12; 10,5) und bezeugt damit seinen bleibenden Respekt vor der Tora. Auch nach seinem Offenbarungserlebnis hält er also an der Heilsfunktion der Tora fest, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Als Pharisäer war Paulus
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So Müller, Brief (s. Anm. 13) 169 (kursiv: M.G.). Vgl. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 9) 94f.112–114.130; Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 424.442f.467. Vgl. dazu Merklein, Helmut, Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi für die paulinische Gerechtigkeits- und Gesetzesthematik, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 1–106, passim. Vgl. dazu meine ausführlichere Darlegung: Gielen, Grundzüge (s. I.1.), 50–56; Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 8) 388–391. Paulus konzipierte also seine spezifische Rechtfertigungslehre keineswegs erst im Zusammenhang mit der Abfassung des Gal und Röm (vgl. z.B. auch 1Kor 15,56). Doch sieht er sich angesichts einer von konservativ-judenchristlichen Gegenspielern betriebenen Kampagne gegen seine beschneidungs- und gesetzesfreie Evangeliumsverkündigung nun gezwungen, diese theologischsoteriologische Grundlage seiner Verkündigung argumentativ abzusichern. Anders gesagt: Die Rechtfertigungslehre bildete von Beginn an das Fundament seiner beschneidungs- und gesetzesfreien Heidenmission, für die er auf dem Apostelkonvent in Jerusalem eintritt, derentwegen er den (zumindest zeitweisen) Bruch mit Antiochia wagt (vgl. die Retrospektive in Gal 2, dazu: Gielen, Marlis, „Ihre Kinder seid ihr“. Die Erzmutter Sara in der neutestamentlichen Rezeption, in: R. Kampling [Hg.], Sara lacht … Eine Erzmutter und ihre Geschichte. Zur Interpretation und Rezeption der Sara-Erzählung, Paderborn u.a. 2004, 131–156, hier: 134–137) und der sich all seine Gemeindegründungen verdanken.
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fest davon überzeugt, es gebe in Hinblick auf die Toraerfüllung untadelige Menschen, so dass die Heilsfunktion der Tora auch tatsächlich zum Zuge komme. Zweifellos zählte er sich selbst zum Kreis solch gesetzestreuer Menschen (Gal 1,13f; Phil 3,6). Als Verkündiger des gekreuzigten Christus dagegen konnte er die Heilsfunktion der Tora nur noch als eine prinzipielle definieren, die faktisch keinerlei Relevanz besitzt. Denn im Licht des Kreuzes Christi erkennt Paulus, dass die Tora ausnahmslos auf Menschen, die gegen ihre Bestimmungen verstoßen, und damit auf Sünder trifft. Dies aber bedeutet im Umkehrschluss, dass die Tora de facto immer nur die ihrer Heilsfunktion komplementär zugeordnete Fluchfunktion ausüben kann. Auch diese grundlegenden Aspekte der paulinischen Rechtfertigungslehre – die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen und das darin implizierte faktische Scheitern der Tora als Heilsprinzip – begegnen gleichermaßen im Gal (2,16; 3,10) wie im Röm (3,9–20.22b–23; 5,8.12fin). Die Überwindung dieser ausweglosen Situation sieht Paulus wiederum in beiden Briefen allein ermöglicht durch den Glauben an Jesus Christus (vgl. etwa Gal 3, 6–9 [Glaube Abrahams] 11.14 mit Röm 3,21–22a.24–31; 4,1–25 [Glaube Abrahams]), an welchem sich am Kreuz stellvertretend für die sündigen Menschen die Fluchfunktion der Tora ausgewirkt (Gal 3,13; vgl. Dtn 21,22f) bzw. den Gott als Sühneort aufgestellt hat (Röm 3,25). Im Unterschied zu den übrigen Paulusbriefen bestimmt die explizite Thematisierung des Verhältnisses zwischen Gesetz und Glauben den gesamten Gal und beherrscht weite Teile des Röm (vgl. 1,16–8, 39). Gezwungen sah Paulus sich zu dieser ausdrücklichen Thematisierung aufgrund einer Entwicklung, von der er wahrscheinlich im Spätsommer/Frühherbst 55 in Mazedonien erfuhr.70 In den von Paulus gegründeten heidenchristlichen Gemeinden Galatiens gewannen zunehmend konservativ-judenchristliche Missionare an Einfluss, die seine beschneidungs- und gesetzesfreie Mission diffamierten und entsprechend die Beschneidung und die zumindest partielle Einhaltung der Tora in Ergänzung zum Glauben an Jesus Christus als heilsnotwendig proklamierten. Paulus entnahm den Informationen, die er erhielt, offenbar, dass die Lage kritisch war und die galatischen Gemeindemitglieder unmittelbar davor standen, auf die Linie seiner konservativ-judenchristlichen Gegenspieler einzuschwenken (vgl. Gal 3,1–5; 4,9–11; 5,1–4). Angesichts dieser Situation versucht Paulus mit Hilfe des Gal, der das Ringen des emotional aufgewühlten Gemeindegründers um die galatischen Christen widerspiegelt, zu retten, was noch zu retten ist. Die ausführliche Rückblende auf das Jerusalemer Apostelkonzil und den antiochenischen Zwischenfall in Gal 2 mit ihren deutlich aktualisierenden Bezügen71 dürfte dabei wohl als Indiz für die paulinische Wider70 71
Vgl. zur Abfassungszeit von 2Kor 1–9.10–13 und Gal Anm. 67. Vgl. dazu Gielen, Kinder (s. Anm. 69) 134–137.
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standsbereitschaft zu werten sein: Wie damals, als die Weichen für die Gründung der heidenchristlichen und damit auch galatischen Gemeinden gestellt wurden, ist Paulus auch jetzt bereit, der Forderung nach Beschneidung und nach Beachtung der Ritualgesetze energisch entgegenzutreten. Dahinter steht seine Überzeugung, dass die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel steht (Gal 1,6–9). Das bedeutet aber: Wer sich zu Christus bekennt, der kann und darf der Beschneidung und damit den Torageboten keinerlei (Heils-)Bedeutung mehr zumessen. Damit ist der Gal das Zeugnis eines innerchristlichen, genauer judenchristlichen Ringens um die heidenchristlichen Gemeinden Galatiens, und zwar zwischen konservativ-judenchristlichen Missionaren, die der Beschneidung und der Tora eine Heilsfunktion in Verbindung mit dem Glauben an Jesus Christus zuerkennen, und dem judenchristlichen Missionar Paulus, der aus dem Kreuzestod Christi das faktische Scheitern der Heilsfunktion der Tora am sündigen Menschen ableitet und diese Heilsfunktion nun exklusiv dem Glauben an Jesus Christus zuweist.72 Der Vierkapitelbrief (2Kor 10–13), der in einem engen zeitlichen Verhältnis zum Gal steht,73 dokumentiert ebenfalls ein Eindringen judenchristlicher (2Kor 11,22) Gegenspieler des Paulus in eine von ihm gegründete Gemeinde. Allerdings scheinen sie in Korinth eine etwas andere Strategie zu verfolgen, indem sie nicht unmittelbar die paulinische Evangeliumsverkündigung angreifen,74 sondern primär Paulus als Person diffamieren und seine Leistung im Vergleich zu ihren eigenen Leistungen herabwürdigen (vgl. 2Kor 10,12–12,13; vgl. auch den zweifachen ironischen Seitenhieb auf die „Superapostel“: 11,5; 12,11). Auf diese Strategie reagiert Paulus im Vierkapitelbrief entsprechend (vgl. besonders die sog. Narrenrede 2Kor 11,16–12,11), so dass die inhaltliche Auseinandersetzung um die Rechtfertigungsthematik in diesem Schreiben zurücktritt.75 Pragmatisch hat der Vierkapitelbrief sein Ziel offenbar erreicht, denn der Röm dokumentiert nicht nur, dass sich Paulus bei der Abfassung dieses Schreibens in Korinth aufhält, sondern auch, dass die inhaltliche korinthische Gemeinde letztlich doch – im Unterschied zu den galatischen Gemeinden – das Projekt der Jerusalemkollekte mitgetragen hat (Röm 15,26f).
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Antinomistische oder gar antijudaistische Töne aus dem Gal heraushören zu wollen (so andeutungsweise Müller, Brief [s. Anm. 13] 156 mit Verweis auf Gal 4,1–11.21–31), erscheint mir angesichts der judenchristlichen Prägung sowohl des Paulus als auch seiner Gegenspieler fast töricht (zu 4,21–31 vgl. Gielen, Kinder [s. Anm. 69] 137–145). Die paulinischen Aussagen und ihre Intention sind sorgsam zu unterscheiden von ihrer späteren antinomistischen und antijudaistischen Rezeption durch die bald schon ausschließlich heidenchristlich geprägte Kirche. Ob er kurz vor oder kurz nach dem Gal entstanden ist, lässt sich m.E. nicht mehr sicher entscheiden. 2Kor 11,4 drückt vor dem Hintergrund der galatischen Situation wohl eher die Sorge des Paulus aus, dass die Dinge sich in Korinth ähnlich entwickeln könnten. Vgl. dazu Kleinknecht, Karl Theodor, Der leidende Gerechtfertigte. Die alttestamentlich-frühjüdische Tradition vom ‚leidenden‘ Gerechten und ihre Rezeption bei Paulus (WUNT II/13), Tübingen 1984, 296: „Denn wie Paulus den Vierkapitelkomplex schon mit einem betonten Auvto.j de. evgw. Pau/loj eröffnet, so betont er immer wieder – nicht zuletzt durch den im Vergleich mit allen anderen paulinischen Texten auffällig häufigen Gebrauch der 1.sg. –, daß es ganz allein um ihn, um seine persönliche Legitimität geht. Er als Person ist gefordert, seine evxousi,a auszuweisen. (…) Entsprechend verzichtet er in 2Kor 10–13 so gut wie ganz auf theologisch-theoretische Ausführungen und ist geradezu demonstrativ darauf bedacht, den Blick der Gemeinde auf das ta. kata. pro,swpon (10,7) zu richten und so an dem, „was man an mir sieht oder von mir hört“ (12,6) seine Legitimität zu erweisen.“
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Im Unterschied zum Gal wie zum Vierkapitelbrief richtet sich der Röm nicht an eine von Paulus gegründete Gemeinde und wird auch nicht angesichts einer aktuellen Krisensituation verfasst. Das Schreiben dient vielmehr der Vorbereitung eines geplanten Besuches, den Paulus der römischen Gemeinde abstatten will, sobald er die Kollekte nach Jerusalem überbracht hat (15,22–29; vgl. 1,9–13). Da ihm die römischen Gemeindemitglieder in ihrer Mehrzahl – ungeachtet zahlreicher persönlicher Kontakte zur Gemeinde (vgl. Röm 16)76 – unbekannt sind, will er ihnen sich und sein Wirken durch den Brief vorstellen.77 Ein erster Schwerpunkt liegt dabei auf der ausführlichen Begründung seiner beschneidungs- und gesetzesfreien Evangeliumsverkündigung mit Hilfe der Rechtfertigungslehre (1,16–8,39). Gerade angesichts der Turbulenzen, die kurz zuvor die Agitation konservativ-judenchristlicher Missionare gegen ihn und seine Verkündigung in Galatien und Korinth verursacht hatten, dürfte Paulus darin eine vorbeugende Maßnahme gesehen haben. Denn er musste damit rechnen, dass seine Gegenspieler versuchen würden, auch die große römische Gemeinde gegen ihn zu vereinnahmen, auf deren Unterstützung er in Hinblick auf seine Spanienmission hoffte (15,24).78 So musste ihm alles daran gelegen sein, die Gemeinde argumentativ von seinem Standpunkt zu überzeugen. Dieses Ziel verfolgt er ruhig und konsequent, unbelastet von einem aktuellen Konflikt, dem sich der emotionsgeladene und zum Teil polemische Stil des Gal verdankt. Versucht Paulus nämlich mit diesem Stil in Galatien zu retten, was noch zu retten ist, so wäre eben derselbe Stil angesichts der Tatsache, dass Paulus und die Mehrheit der römischen Gemeindemitglieder einander persönlich nicht kannten, völlig unangemessen und für die paulinische Zielsetzung kontraproduktiv gewesen. Der diametral unterschiedliche Ton, den Paulus im Gal und Röm jeweils anschlägt, erwächst also aus einer gänzlich unterschiedlichen Kommunikationssituation. Dies sollte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Paulus im Röm der Sache nach seine Einstellung zum Verhältnis von Gesetz und Glauben im Vergleich zum Gal keineswegs abschwächt. Ein zweiter Schwerpunkt des Röm findet sich in 9,1–11,36. Dieser zweite Schwerpunkt widmet sich der Frage nach dem eschatologischen Schicksal der nichtchristusgläubigen Juden (Röm 11) angesichts der an sie von Gott her ergangenen heilsgeschichtlichen Verheißungen (Röm 9) und angesichts ihrer gegenwärtigen Ablehnung des göttlichen Heilshandeln in Jesus Christus (Röm 10). Dieser 76 77 78
Vgl. Anm. 10. Vgl. Schnelle, Paulus (s. Anm. 5) 334; Theobald, Röm I (s. Anm. 9) 21. Vgl. Vielhauer, Geschichte (s. Anm. 13) 183; Schnelle, Paulus (s. Anm. 5) 335; Wilckens, Röm I (s. Anm. 10) 44. Zugleich erarbeitete sich Paulus mit dem Röm auch die Argumentationsgrundlage für die befürchteten Auseinandersetzungen in der Jerusalemer Urgemeinde anlässlich der bevorstehenden Überbringung der Kollekte. Denn er musste damit rechnen, dass auch dort seine konservativ-judenchristlichen Gegenspieler nicht untätig blieben (Röm 15,30f), vgl. Wilckens, Röm I (s. Anm. 10) 44–46.
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zweite Schwerpunkt steht natürlich nicht unverbunden neben dem ersten. Nicht zufällig greift Paulus etwa in 10,1–13 zentrale Aspekte seiner Rechtfertigungslehre auf (Gesetzesgerechtigkeit vs Glaubensgerechtigkeit; Christus als Ende des Gesetzes). Dennoch will die unterschiedliche Akzentuierung beachtet sein: 1,16–8,39 fasst die an Christus Glaubenden heidnischer wie jüdischer Provenienz in den Blick. Angesichts möglicherweise von außen drohender Agitation toraobservanter judenchristlicher Kreise will Paulus den Heidenchristen die für sie heilsrelevante Freiheit von Beschneidung und Gesetz argumentativ sichern.79 9,1–11,36 widmet sich dagegen im Dreischritt Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft Israels den nichtchristusgläubigen Juden, wobei die Darlegung gipfelt in der prophetischen Offenbarung ihrer endzeitlichen Rettung (11,25–27).80 Müller zufolge verdanken sich diese Reflexionen dem Leiden des Apostels daran, „daß das auserwählte ‚Israel‘ in seiner Mehrheit das Evangelium ablehnte und der primäre Adressat der christlichen Botschaft ausfiel.“81 Nun soll nicht bezweifelt werden, dass Paulus in der Tat unter der Ablehnung der Christusbotschaft litt, die sie mehrheitlich von den Juden erfuhr. Dies gibt er im Röm unmissverständlich zu erkennen (9,1–5; 10,1; 11,1). Doch dürfte dieses Leiden angesichts seiner langjährigen Missionserfahrungen nicht neu gewesen sein. Warum thematisiert Paulus dann aber gerade im Röm ausführlich die heilsgeschichtliche Erwählung (Kap. 9), die gegenwärtige Verstockung (Kap. 10) und schließlich die endzeitliche Errettung (Kap. 11) des nichtchristusgläubigen Israels? Angesichts der Situationsgebundenheit seiner Briefe, die auch dem Röm – wie gesehen – nicht einfach abgesprochen werden kann,82 liegt es nahe, dass Paulus bei der Abfassung des Briefes einen aktuellen Impuls erhielt, die Israelfrage so extensiv zu thematisieren. Dieser könnte von Nachrichten aus der römischen Gemeinde83 ausgegangen sein, die eine heidenchristliche Heilsarroganz
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Dies ist umso wahrscheinlicher, sofern man mit Wilckens, Röm I (s. Anm. 10) 36–41 davon ausgehen darf, dass innerhalb der heidenchristlichen Fraktion selbst in Rom verschiedene Auffassungen zur Frage der Toraobservanz vertreten wurden: „Einig war man sich nur darüber, daß die Beschneidung für Heidenchristen nicht notwendig war. Aber wie stand es mit den Geboten und Lebensgewohnheiten, die man als Gottesfürchtige schon im Umkreis der Synagoge eingehalten hatte? Daß die einen diese bewahren wollten, während andere dies als Rückständigkeit beurteilten, und daß es so – unter römischen Heidenchristen – zu jenen Konflikten zwischen ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘ gekommen ist, auf die Paulus in Röm 14,1–15,13 eingeht, ist von daher gut verständlich“ (39). Eine solche Situation erhöhte aber zweifellos die Chancen einer möglicherweise bevorstehenden Intervention konservativ-judenchristlicher Kreise in der römischen Gemeinde. Vgl. Theobald, Röm I (s. Anm. 9) 259. Müller, Brief (s. Anm. 13) 169. Freilich ist die situative Einbettung der Ausführungen im Röm nicht so ausgeprägt wie in den anderen Paulusbriefen, die sich an einen Paulus persönlich vertrauten Empfängerkreis mit seinen spezifischen Fragen und Problemen richten. Zu den persönlichen Kontakten dorthin vgl. Röm 16.
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gegenüber den nichtchristusgläubigen Juden beklagten.84 Um dieser zu wehren, fügt Paulus an die Darlegung seiner Rechtfertigungslehre, die die Position der Heidenchristen gegenüber möglichen Forderungen von Judenchristen nach Beschneidung und Toraobservanz stärkt, die Israelkapitel an, die nun ihrerseits die Heidenchristen vor einer unangemessenen Einstellung gegenüber dem nichtchristusgläubigen Israel warnen (vgl. besonders 11,11–32).85 Nicht zufällig spricht Paulus in 11,13 die Heiden(-christen) betont als eigene Gruppe an, nicht zufällig geht der prophetischen Offenbarung von der endzeitlichen Rettung ganz Israels (11,25–27) das Ölbaumgleichnis voraus (11,17–24).86 Die vorausgehenden Überlegungen dürften deutlich gemacht haben, dass die Präsentation der Rechtfertigungslehre im Röm sich von der im Gal zwar situationsbedingt in Stil und Ausführlichkeit, nicht aber in der Sache selbst unterscheidet. Die im Röm singuläre Erörterung der Israelthematik dürfte sich ebenfalls primär situationsbedingten Impulsen verdanken. Angesichts dieser Situationsgebundenheit der Hauptthemen im Röm und der sachlichen Kohärenz der Rechtfertigungsaussagen in Gal und Röm spricht nichts gegen die Annahme, dass Paulus, sofern es die Situation erfordert haben sollte, Phil 3 auch zeitlich nach dem Röm formuliert haben könnte. Zu beachten ist dabei, dass man Phil 3 nicht gegen Röm 9–11 ausspielt, wo die Frontstellung Heidenchristen vs nichtchristusgläubige Juden bestimmend ist. Würdigt man stattdessen, dass sich Phil 3 ebenso wie Gal und Röm 1–8 einer innerchristlichen Auseinandersetzung verdanken, erscheint Phil 3 wie eine Abbreviatur der Darlegung der Rechtfertigungslehre im Gal und im Röm. So bleibt etwa die komplementäre Heils- und Fluchfunktion der Tora ebenso unerwähnt wie die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen, an der die Tora als Heilsprinzip scheitert. Dies lässt darauf schließen, dass in der philippensischen Gemeinde diese Grunddaten der paulinischen Rechtfertigungslehre bekannt sind, aber nicht zur Diskussion stehen. Vielmehr erscheinen die Ausführungen des Paulus in Phil 3 wie eine Bestärkung der Gemeinde, indem er rhetorisch wirkungsvoll seine konservativjudenchristlichen Gegenspieler als „Hunde“, „böse Arbeiter“ und „Verschnittene“ 84
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Eine solch heidenchristliche Arroganz gegenüber den nichtchristusgläubigen Juden könnte gerade in Rom durch Spannungen zwischen der primär heidenchristlichen geprägten römischen Gemeinde und der jüdischen Synagoge begünstigt worden sein, die zurückreichten in die Anfänge der römischen Gemeinde und die nach Aufhebung des Claudiusediktes wieder aufgeflackert sein dürften, vgl. Wilckens, Röm I (s. Anm. 10) 35f. Vgl. Theobald, Röm I (s. Anm. 9) 299f. M.E. wird diese pragmatische Intention der Israelkapitel in Röm 9–11 – nämlich die nachdrückliche Warnung vor jeder Form eines heidenchristlichen Dünkels gegenüber den nichtchristusgläubigen Juden – in der Gesamtbewertung des Abschnitts durchweg unterschätzt. Doch sollte zu denken geben, dass die paulinische Argumentation in Röm 9–11 nicht nur im Gedanken der endzeitlichen Rettung auch und gerade des nichtchristusgläubigen Israels gipfelt, sondern dass Paulus diesen Gedanken engstens verknüpft mit einer Warnung an die heidenchristliche Adresse (vgl. die Rahmung durch 11,13.25).
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diffamiert (3,2), von denen er die Gemeinde und sich selbst dezidiert absetzt (3,3– 21). Im Unterschied zum Gal lässt der Phil keine akute Gefährdung der Gemeinde erkennen. Im Unterschied zum Röm, der sich an einen ihm weitgehend unbekannten Adressatenkreis richtet, kann Paulus „Klartext“ reden, um der Gemeinde, mit der ihn das wohl herzlichste Verhältnis verband, den Rücken in einer eventuell bevorstehenden Auseinandersetzung mit toraobservanten judenchristlichen Missionaren zu stärken. Gal, Röm und Phil 3 verfolgen also eine je eigene Intention in je unterschiedlichen Situationen. Dies sollte davor warnen, sich aus abstrakt-systematisierenden Erwägungen heraus darauf festzulegen, dass Phil 3 zeitlich vor dem Röm zu verorten sei. Als Zwischenergebnis darf damit festgehalten werden: Eine Überprüfung der in der Forschung vorgetragenen Hauptargumente für eine Abfassung der paulinischen Gefangenschaftsbriefe in Ephesus hat ergeben, dass keines dieser Argumente – weder allein noch im Zusammenspiel – diese These überzeugend oder gar zwingend abzusichern vermag. Damit gilt es nun, in einem dritten und letzten Punkt die grundlegende Voraussetzung dieser These – nämlich das Postulat einer längeren Gefangenschaft des Paulus in Ephesus – mit den paulinischen Selbstaussagen zu konfrontieren und ihren Plausibilitätsanspruch zu untersuchen.
3. Die Frage nach einer ephesinischen Gefangenschaft im Licht der paulinischen Selbstaussagen 3.1 Explizite Selbstaussagen des Paulus über seine Gefängnisaufenthalte Die Apg überliefert namentlich vier Gefangenschaftsorte des Paulus: Philippi (16,23–40), Jerusalem (23,10–30), Cäsarea (23,31–26,31) und Rom (28,16–31). Von einer Gefangenschaft des Paulus in Ephesus dagegen erzählt Lukas nichts, obwohl er in Apg 19 ausführlich auf dessen dortiges Wirken eingeht. Dennoch stellt das lk Schweigen keinen hinreichenden Grund dar, die Historizität einer solchen Inhaftierung zu bestreiten,87 sofern sie sich aus den Paulusbriefen selbst als plausibel erweisen lässt. Genau dies ist im Folgenden zu überprüfen. Beginnen wir mit einem Negativbefund: Nirgendwo in seinen Briefen nennt Paulus den Namen eines Haftorts. Doch ungeachtet dessen bezeugt er eindrücklich seine wiederholten Gefängnisaufenthalte. So verwendet er das Wortfeld „Gefan87
So vermutet etwa Müller, Brief (s. Anm. 13) 159–162 apologetische Gründe für das Schweigen des Lukas über eine paulinische Gefangenschaft in Ephesus.
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genschaft“ zwölf Mal, und zwar stets bezogen auf sein eigenes Schicksal. Die überwiegende Mehrzahl der Belege (9) findet sich naturgemäß in den beiden authentischen Gefangenschaftsbriefen (Phil; Phlm). Wiederholt spricht Paulus in beiden Briefen von seinen Fesseln (desmoi,) (Phil 1,7.13.14.17; Phlm 10.13). In Phlm 1.9 bezeichnet er sich zudem unter Verwendung eines stammverwandten Wortes als Gefangener Christi Jesu (de,smioj Cristou/ VIhsou/). Schließlich qualifiziert er in Phlm 23 Epaphras als seinen Mitgefangenen in Christus Jesus (o` sunaicma,lwto,j mou evn Cristw/| VIhsou/). Die große Übereinstimmung zwischen Phil und Phlm in der Wahl der bereitstehenden Begriffe des semantischen Feldes „Gefangenschaft“ mit der einzigen Ausnahme in Phlm 23 darf wohl als ein weiteres Indiz für die zeitnahe Abfassung beider Briefe im Rahmen derselben Gefangenschaft gewertet werden.88 Verbunden durch Wortwahl und Grußkontext mit Phlm 23 ist Röm 16,7, wo Paulus den Briefempfängern Grüße an das judenchristliche Apostelpaar Andronikos und Junia aufträgt, die er u.a. als seine (ehemaligen) Mitgefangenen (avspa,sasqe VAndro,nikon kai. VIouni,an tou.j […] sunaicmalw,touj mou) bezeichnet. Schließlich spielt Paulus noch zweimal in der Korintherkorrespondenz – einmal im Versöhnungsbrief 2Kor 6,5 und einmal im Vierkapitelbrief 2Kor 11,23b – auf seine wiederholten Erfahrungen mit Gefängnisaufenthalten an. Die Stellen, an denen Paulus jeweils den Begriff „Gefängnis“ im Plural wählt (fulakai,), sind beide Teil eines Peristasenkataloges (6,4b–5; 11,23b–29), mit dessen Hilfe Paulus seine Leiden skizziert, die er als Diener Gottes (6,4) bzw. Christi (11,23) zu erdulden hat. Auch wenn die Traditionsgebundenheit solch katalogischer Aufzählungen berücksichtigt werden will,89 sind diese beiden Stellen von besonderem Interesse für die hier anstehende Frage: Versöhnungs- wie Vierkapitelbrief, die in kurzer Abfolge entstanden sein dürften, datieren beide in die Zeit nach der Abreise des Paulus aus Ephesus und damit gegebenenfalls auch in die Zeit nach einer
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Vgl. o. 2.3.2. Diese betrifft im Fall der Peristasenkataloge aber mehr die sprachlich-stilistische (zu den formalen Merkmalen vgl. Zmijewski, Josef, Der Stil der paulinischen „Narrenrede“. Analyse der Sprachgestaltung in 2Kor 11,1–12,10 als Beitrag zur Methodik von Stiluntersuchungen neutestamentlicher Texte [BBB 52], Köln-Bonn 1978, 319–323) als die inhaltliche Gestaltung. So möchte Berger, Klaus, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 225f „von einem Peristasenkatalog im eigentlichen und engeren Sinn nur dann sprechen, wenn es um die Leiden und Nöte einer Einzelfigur geht, d.h. im biographischen oder autobiographischen Kontext.“ Ebner, Martin, Leidenslisten und Apostelbrief. Untersuchungen zu Form, Motivik und Funktion der Peristasenkataloge bei Paulus (fzb 66), Würzburg 1991, 115 unterscheidet zwischen „Beispielkatalogen“ und „persönliche(n) Peristasenkataloge(n)“. Letztere unterscheiden sich von ersteren vor allem dadurch, dass sie „formal länger und inhaltlich detaillierter ausfallen“. Zur biographisch-individuellen Prägung des Peristasenkatalogs 2Kor 11,23b–29 vgl. Kleinknecht, Der leidende Gerechtfertigte (s. Anm. 75) 294f.297f. Das heißt, es handelt sich entsprechend der Unterscheidung Ebners um einen persönlichen Peristasenkatalog (vgl. Ebner, Leidenslisten 117).
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etwaigen Gefangenschaft des Paulus in dieser Stadt.90 Darüber hinaus formuliert Paulus pluralisch, d.h. er blickt auf mehr als einen Gefängnisaufenthalt zurück. Dabei ist zwischen 6,5 und 11,23b eine Steigerung zu beobachten, denn in 11,23b ist evn fulakai/j um das Adverbiale perissote,rwj erweitert: „in Gefängnissen [war ich] im Übermaß“.91 Eine steigernde bzw. überbietende Tendenz ist allerdings nicht nur bei dem Element „Gefangenschaften“ zu beobachten. Vielmehr ist diese Tendenz im Zusammenspiel mit einer Ausweitung der Aufzählung um weitere Elemente, die die Fülle persönlicher Leidenserfahrungen des Paulus widerspiegeln, insgesamt kennzeichnend für den Peristasenkatalog 2Kor 11,23b–29 im Verhältnis zur Leidensliste in 2Kor 6,4b–5.92 Dies hängt zusammen mit der pragmatischen Intention des Peristasenkatalogs 2Kor 11,23b–29, der zur sog. Narrenrede (11,16– 12,12) gehört, mit der sich Paulus der selbstgefälligen Arroganz seiner Gegenspieler und der Infragestellung seines Apostolats durch sie erwehrt. In diesem Kontext dient ihm der ausführliche Peristasenkatalog dazu, gerade seine schwache, durch Gefahren und Sorgen gekennzeichnete Existenz als Zeichen seiner Indienststellung durch Christus aufzuweisen und sich dadurch vom „gloriosen Apostelverständnis seiner Gegenspieler“93 wirkungsvoll abzugrenzen. Allein um seiner Glaubwürdigkeit willen kann Paulus es sich dabei nicht leisten, bloße rhetorische Effekthascherei ohne nachprüfbaren Bezug zu seiner Biographie zu betreiben. Das aber heißt auch, dass er selbst in 2Kor 11,23b bezeugt, häufig inhaftiert gewesen zu sein. Unter Berücksichtung des enormen Arbeits- und Reisepensums, das Paulus im Dienst der Evangeliumsverkündigung absolviert hat, kann es sich dabei jedoch nur jeweils um kurze Gefängnisaufenthalte gehandelt haben. Angesichts ihrer Häufigkeit liegt es aber durchaus nahe zu vermuten, dass Paulus auch während seines knapp dreijährigen Aufenthaltes in Ephesus ein oder gar mehrere Male kurzfristig inhaftiert wurde.94 Dies fügte sich zudem gut zu den paulinischen Bemerkungen in 1Kor, die Gegnerschaft (16,9) und Gefährdung (15,32) erkennen lassen.95 Allerdings hebt Paulus weder im Versöhnungsbrief noch im Vierkapitelbrief oder im Röm96 – allesamt Briefe, die wenige Wochen oder Monate nach Beendigung seines Ephesusaufenthaltes entstanden sein dürften – einen zurückliegenden Gefängnisaufenthalt
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Vgl. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 9) 94f; Broer, Einleitung II (s. Anm. 9) 424. Zur Begründung der elativischen Übersetzung vgl. Wolff, 2Kor (s. Anm. 23) 232; Gräßer, Erich, Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 8,1–13,13 (ÖTK 8/2), Gütersloh 2005, 165. Vgl. Kleinknecht, Der leidende Gerechtfertigte (s. Anm. 75) 297. Wolff, 2Kor (s. Anm. 23) 232. Vgl. Schmid, Zeit (s. Anm. 12) 39. Die beiden Stellen spielen zwar nicht unmittelbar auf eine Gefangenschaft an, leuchten aber den situativen Hintergrund aus, angesichts dessen es leicht zu einer Inhaftierung kommen konnte. Nur in diesen drei Briefen bemüht Paulus, wie gesehen, außerhalb der Gefangenschaftsbriefe das Wortfeld „Gefangenschaft“ (2Kor 6,5; 11,23b; Röm 16,7).
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hervor, etwa aufgrund seiner ungewöhnlichen Dauer und/oder aufgrund einer damit besonders verbundenen Gefahr für Leib und Leben. Wäre ein solch fehlender Hinweis – insbesondere im Vierkapitelbrief – aber nicht befremdlich, sofern Paulus erst kurz zuvor aus einer längeren Haft freigekommen wäre, während der er zeitweilig sogar mit dem Tod rechnen musste (Phil 1,20–24)? Hätte es sich nicht gerade in der Auseinandersetzung mit den „Superaposteln“ angeboten, eine solche erst jüngst vergangene Leidenszeit als beeindruckendes Beispiel für die den paulinischen Apostolat auszeichnende Schwachheit (vgl. 2Kor 11,30; 12,10) anzuführen – etwa anstelle der lange zurückliegenden Aretas-Episode (vgl. 2Kor 11,32f)? Gewiss kann der Befund zu den paulinischen Selbstaussagen über seinen (wiederholten) Status als Häftling anhand des semantischen Feldes „Gefangenschaft“ nicht allein die Beweislast gegen eine längere Haftzeit des Apostels in Ephesus gegen Ende seines mehrjährigen Aufenthaltes dort tragen. Doch sollte er als ein Indiz gewertet werden, dass eine Skepsis gegenüber der Ephesus-Hypothese rechtfertigt.
3.2 Die paulinischen Reisenotizen im 1. Korintherbrief und im Versöhnungsbrief (2Kor 1–9) In 1Kor 16,5–9 unterbreitet Paulus der korinthischen Gemeinde seine Reiseplanung für die bevorstehenden Monate bis zum Anbruch des nächsten Winters. Aus V. 8 geht hervor, dass 1Kor einige Zeit97 vor dem Pfingstfest (55) in Ephesus entstanden ist. Bis zum Pfingstfest will Paulus in der Stadt bleiben, um sich dann nordwärts zu wenden und Mazedonien zu durchwandern. Diese Information in V. 5 impliziert selbstverständlich den Plan, die mazedonischen Gemeinden zu besuchen.98 Ausdrücklich betont Paulus aber, dass er dort keinen längeren Aufenthalt vorsieht. Vielmehr will er von Mazedonien aus nach Korinth weiterreisen, um in der dortigen Gemeinde eine längere Zeit, möglicherweise sogar den Winter zu verbringen (V. 6f). Damit umfasst diese mittelfristige Planung etwa den Zeitraum zwischen einem halben und einem dreiviertel Jahr. Aus 2Kor 1,15–2,4 geht freilich hervor, dass Paulus sich schon bald gezwungen sah, diese Planung mehrfach zu modifizieren. Aus der Zusammenschau von 1,15f.23 und 2,1 ergibt sich folgendes Bild: Anders als noch in 1Kor 16,5f ange97
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Man wird am ehesten von einigen Wochen auszugehen haben. Denn zum einen muss das Pfingstfest immerhin schon in absehbare Nähe gerückt sein, zum anderen aber geht aus V. 9 hervor, dass Paulus die verbleibende Zeit in Ephesus zu missionarischen Zwecken nutzen will und daher kaum in Tagen rechnen dürfte. Aufgrund von 1Kor 5,6–8 bietet es sich an, eine Abfassung des Briefes im Umfeld des Paschafestes zu vermuten, vgl. Wolff, Christian, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 1996, 107; Klauck, Hans-Josef, 1. Korintherbrief (NEB.NT 7), Würzburg 1984, 43. Vgl. Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 8) 421.
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kündigt, reiste Paulus vor seinem Aufbruch Richtung Mazedonien zunächst – wohl auf dem kurzen Seeweg99 – nach Korinth. Beunruhigende Nachrichten aus der Gemeinde, die ihn erreichten, dürften ihn dazu veranlasst haben. Diese Visite ist in der Paulusforschung allgemein als sog. Zwischenbesuch akzeptiert. Paulus spricht diesen Zwischenbesuch im Versöhnungsbrief nicht unmittelbar an, vielleicht weil für ihn und die Gemeinde gleichermaßen schmerzliche Erinnerungen damit verbunden waren. Er setzt ihn aber unmissverständlich in 1,23 und 2,1 voraus. 2,1 ist nämlich zu entnehmen, dass der Besuch, auf den er hier zurückblickt, durch Traurigkeit gekennzeichnet war, also nicht mit dem Gründungsbesuch identisch sein kann. Paulus betont, dass er unter solch traurigen Umständen100 nicht noch einmal die Gemeinde besuchen wollte (:Ekrina […] to. mh. pa,lin evn lu,ph| pro.j u`ma/j evlqei/n). Ähnlich argumentierte er aber schon unmittelbar zuvor in 1,23: „Ich aber rufe Gott als Zeugen an bei meinem Leben, dass ich, um euch zu schonen, nicht mehr nach Korinth gekommen bin.“ Beide Aussagen sind aufeinander bezogen und stützen sich wechselweise. Sie begründen eine weitere Modifikation des Reiseplans, den Paulus angesichts der Erfahrungen des Zwischenbesuchs gefasst hatte und der zusammen mit 1,15f vorsichtig so rekonstruiert werden kann: Die unerquicklichen Begleitumstände des Zwischenbesuchs veranlassten Paulus, alsbald aus Korinth wieder abzureisen. Doch hoffte er offenbar auf eine rasche Konsolidierung der Lage und stellte daher der Gemeinde zunächst einen nochmaligen Besuch binnen kurzer Zeit in Aussicht (kai. tau,th| th/| pepoiqh,sei evboulo,mhn pro,teron pro.j u`ma/j evlqei/n) (1,15a),101 bevor er dann nach Mazedonien weiterreisen und von dort 99
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Nach Wolff, 2Kor (s. Anm. 23) 9 „wurden für die Überfahrt von Ephesus nach Korinth bei gutem Wetter jeweils etwa 5 Tage benötigt.“ Bedingt waren diese traurigen Umstände wohl durch Vorwürfe, die ein Gemeindemitglied gegen Paulus im Zusammenhang mit der Kollektenaktion erhob und von denen sich die Gemeinde nicht sofort distanzierte, vgl. Kleine, Furcht (s. Anm. 23) 54–56; Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 8) 409f. So auch Gnilka, Paulus (s. Anm. 1) 118 mit Anm. 32; Wünsch, Brief (s. Anm. 23) 122; Kremer, Jacob, 2. Korintherbrief (SKK. NT 8), Stuttgart 1990, 27. Dieser Rückblick auf einen nicht verwirklichten Reiseplan, den Paulus in 2Kor 1,15f bietet, verursacht bis heute ein m.E. nicht recht nachvollziehbares Kopfzerbrechen. Berücksichtigt man, dass das Imperfekt evboulo,mhn (V. 15a) die gesamte Aussage der V. 15f als irreal ausweist (vgl. Wolff, 2Kor [s. Anm. 23] 33), lässt sich V. 15a („Und in diesem Vertrauen wollte ich zunächst zu euch kommen“) nicht auf den Zwischenbesuch selbst beziehen (gegen Lietzmann, 1.2Kor 102f; Kleine, Furcht [s. Anm. 23] 52f, die jeweils eine Teilverwirklichung der paulinischen Planung annehmen). Der ebenfalls irreal zu verstehende Finalsatz („damit ihr einen zweiten Gnadenerweis erhalten hättet“) steht dagegen in indirekter Relation zum Zwischenbesuch, insofern er diesen der korinthischen Gemeinde implizit als „ersten Gnadenerweis“ in Erinnerung ruft. Doch eben diese Verbindung von Zwischenbesuch und „erstem Gnadenerweis“, der der beabsichtigten deute,ra ca,rij zeitlich auf jeden Fall vorausliegen muss, herzustellen, wagen die Interpretationsangebote zu dieser Stelle zumeist nicht, war dieser Zwischenbesuch doch durch Trauer bestimmt (2Kor 2,1). Stattdessen wird für den „ersten Gnadenerweis“ auf den Gründungsbesuch verwiesen (so etwa Hahn, Ferdinand, Das Ja des Paulus und das Ja Gottes. Bemerkungen zu 2Kor 1,12–2,1, in: H.-D.Betz/L. Schottroff [Hg.], Neues Testament und christliche Existenz [Festschrift für H. Braun zum 70. Geburtstag], Tübingen 1973, 229–239, hier: 232 mit Anm. 10, der 2Kor 10–13 mit dem Tränenbrief identifiziert und entspre-
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vor dem Winter nach Korinth zurückkehren wollte (1,16; vgl. 1Kor 16,5). Dieser Plan legt nahe, dass Paulus auf dem Seeweg nach Ephesus zurückkehrte, um von dort auf demselben Weg Korinth wieder rasch erreichen zu können. In Ephesus aber überfielen ihn offenbar Zweifel, ob ein weiterer Besuch angesichts der angespannten Situation sinnvoll sei. Er entschied sich daher gegen diesen Besuch (1,23; 2,1) und beschloss, stattdessen einen Brief – den sog. Tränenbrief – zu schreiben (2,3–4). Aus 2,12f und 7,5–7 geht dann die tatsächliche Reiseroute ziemlich klar hervor. Wie in 1Kor 16,4 geplant, reiste Paulus nordwärts zunächst nach Troas (2,12). Dort hatte er sich wohl mit Titus verabredet (2,13), der den Tränenbrief nach Korinth überbracht hatte (vgl. 7,7–16). Voller Unruhe, weil er Titus dort nicht vorfand (2,13a) – und damit ohne Nachrichten aus der korinthischen Gemeinde chend 2Kor 1,23 als Korrektur des in 12,14 und 13,1f angekündigten dritten Besuches wertet; vgl. auch Kremer, 2Kor 27, der die Ankündigung des nach V. 15 nicht zustande gekommenen Besuchs zutreffend mit dem Zwischenbesuch in Verbindung bringt, den implizierten „ersten Gnadenerweis“ aber auf den Gründungsbesuch bezieht) oder es werden die beiden Gnadenerweise auf den Doppelbesuch in Korinth vor (V. 15a) und nach (V. 16b) der Mazedonienreise bezogen (vgl. etwa Windisch, Hans, Der Zweite Korintherbrief [KEK], Göttingen 1924, 62f; Bultmann, Rudolf, Der zweite Brief an die Korinther [KEK Sonderband], Göttingen 1976, 42; Gräßer, 2Kor I 74; als Möglichkeit, die er jedoch nicht favorisiert, auch Kremer, 2Kor 27). Der erste Lösungsvorschlag vermeidet den scheinbaren Widerspruch zwischen Gnadenerweis und Trauer. Er spricht damit dem Zwischenbesuch aber zugleich jeglichen Gnadencharakter ab und löst, indem er einen impliziten Rückbezug auf den bereits vier Jahre zurückliegenden Gründungsbesuch postuliert, die Aussage aus dem Kontext der unmittelbaren Ereignisse heraus. Der zweite Lösungsvorschlag ist unvereinbar mit der vorgegebenen Textabfolge (diese Schwierigkeit räumen Windisch und Bultmann auch ein, ohne sie befriedigend beseitigen zu können). Denn die korinthischen Gemeindemitglieder dürften doch beim Hören von V. 15 ganz selbstverständlich den in V. 15a zunächst in Aussicht gestellten, jedoch nicht verwirklichten Besuch mit dem „zweiten Gnadenerweis“ in V. 15b verbunden haben. Nach der vorgeschlagenen Interpretation aber wäre der in V. 15a thematisierte Besuch im Gegenteil der erste Gnadenerweis, der erneute Aufenthalt des Paulus in Korinth nach seiner Rückkehr aus Mazedonien, der erst in V. 16 Erwähnung findet, aber der bereits in V. 15b genannte zweite Gnadenerweis. Ein solches Textverständnis eröffnet sich erst nach langem Nachsinnen am Schreibtisch über eine Aussage, deren aktueller Hintergrund heutigen Interpreten nicht mehr unmittelbar zugänglich ist und daher erst mühsam rekonstruiert werden muss. Gerade angesichts der immer noch fragilen Beziehung zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde bei Abfassung des Versöhnungsbriefs darf aber davon ausgegangen werden, dass Paulus sich um eine für die Gemeindemitglieder verständliche und unmittelbar nachvollziehbare Darlegung bemüht hat. Unter dieser Voraussetzung muss der in V. 15a ursprünglich in Aussicht gestellte Besuch mit der „zweiten Gnade“ identifiziert werden. Der erste Gnadenerweis aber muss dazu im unmittelbar situativen Kontext stehen (ohne damit dem Gründungsbesuch den Gnadencharakter absprechen zu wollen, doch steht dieser Besuch hier angesichts des aktuellen Konfliktes nicht im Blick) und ist daher auf den Zwischenbesuch zu beziehen. Objektiv war der Zwischenbesuch ein Gnadenerweis, weil Paulus die Gemeinde keineswegs privat besuchte, sondern als durch Gottes Willen berufener Apostel Christi Jesu, das heißt als von Gott Beauftragter und in Dienst Genommener. Subjektiv freilich geriet dieser Besuch – vor allem für Paulus, durchaus aber wohl auch für Teile der korinthischen Gemeinde – unter das Vorzeichen der Trauer, und zwar aufgrund des Eklats, den ein Gemeindemitglied auslöste und damit den Gnadenerweis des Besuches gleichsam missachtete. Offenbar wollte Paulus der Gemeinde zunächst schon bald die Chance eines weiteren Gnadenerweises in Form eines erneuten Besuches geben, der in enger zeitlicher und sachlicher Beziehung zum Zwischenbesuch stehen sollte. Die Furcht, ein weiteres Mal einen Besuch unter traurigen Umständen erleben zu müssen, ließ Paulus seine Planung wiederum modifizieren und auf das Medium des Briefes zurückgreifen, das auch sonst ihm und seinen Gemeinden als Ersatz für seine Anwesenheit diente.
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blieb, um die er sich sorgte – brach Paulus nach Mazedonien auf (2,13b). Dort traf er dann tatsächlich mit Titus wieder zusammen (7,5f), der vom Einlenken der Gemeinde im schwelenden Konflikt zu berichten wusste (7,7). In 2Kor 9,4 blickt Paulus dann im Zusammenhang mit seiner Kollektenwerbung erneut voraus auf einen weiteren Besuch der korinthischen Gemeinde, der dem ursprünglich in 1Kor 16,5 geplanten Winteraufenthalt entsprechen dürfte. Die paulinischen Reisepläne samt Modifikationen und die tatsächlichen Reisestationen, wie sie sich aus 1Kor und 2Kor 1–9 zu erkennen geben, dokumentieren eine rasche Abfolge der Ereignisse: Ob noch vor oder im unmittelbaren Anschluss an das Pfingstfest, nach welchem Paulus seine Abreise aus Ephesus geplant hatte (1Kor 16,8), bricht er zunächst zum Zwischenbesuch nach Korinth auf. Dieser Zwischenbesuch dürfte angesichts der Eskalation des Konflikts zwischen Paulus und der Gemeinde kaum mehr als einige Tage gedauert haben. Legt man für die Hinund Rückreise per Schiff rund 10 Tage zugrunde,102 ist Paulus wohl schon ca. zwei Wochen nach seiner Abreise aus Ephesus wieder in die Stadt zurückgekehrt. Hier musste er gewiss erst einmal die unerquicklichen Ereignisse in Korinth, die ihn – wie der Versöhnungsbrief durchgehend erkennen lässt – persönlich schwer belastet haben, verarbeiten. Schließlich verfasst er, statt die korinthische Gemeinde noch einmal vor seiner Reise nach Mazedonien aufzusuchen (2Kor 1,15f), den Tränenbrief (2Kor 1,23–2,4), der von Titus der korinthischen Gemeinde überbracht wird. Insgesamt wird man realistischerweise für die Zeit zwischen der Rückkehr des Paulus nach Ephesus und der Entsendung des Titus mit dem Tränenbrief nach Korinth ebenfalls nicht mehr als zwei bis drei Wochen veranschlagen. Wichtig im Blick auf die Frage nach einer ephesinischen Gefangenschaft in dieser Phase ist dies: Paulus wird nicht durch äußere Umstände (Inhaftierung) gezwungen, anstelle einer erneuten Visite in Korinth den Tränenbrief zu schreiben. Vielmehr gibt er unmissverständlich zu erkennen, dass er diesen Entschluss aus freien Stücken fasste.103 Aus 2Kor 2,13 geht hervor, dass Paulus mit Titus in Troas wieder zusammentreffen wollte. Dabei war offenkundig vereinbart worden, dass Titus von Korinth aus durch Griechenland über Mazedonien nach Troas wanderte. Denn nur so lässt es sich erklären, dass Paulus, nachdem er in Troas vergeblich auf Titus gewartet hat, ihm nach Mazedonien entgegenreist und dort dann tatsächlich seinen Mitarbeiter wieder trifft (2Kor 7,5f). Wenn man nun für die Strecke Ephesus – Philippi rund
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Vgl. oben Anm. 99. Vgl. 2,1 :Ekrina ga.r evmautw/| tou/to to. mh. pa,lin evn lu,ph| pro.j u`ma/j evlqei/n (vgl. auch 1,17 tou/to ou=n boulo,menoj [bezogen auf 1,15f] und die Angabe des Zwecks in 1,23 feido,menoj u`mw/n ouvke,ti h=lqon eivj Ko,rinqon).
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eine Woche Reisezeit veranschlagen darf,104 wird die Bewältigung der Route Korinth – Philippi kaum wesentlich länger gedauert haben. Hinzu kam die Überfahrt nach Troas per Schiff, deren Länge in etwa der Strecke Ephesus – Korinth entspricht. Paulus dürfte also bis zum Wiedertreffen mit Titus in Troas mit maximal vier Wochen gerechnet haben.105 Dies vorausgesetzt, wird er vielleicht noch zwei Wochen nach Abreise des Titus nach Korinth in Ephesus verbracht haben und dann nach Troas aufgebrochen sein. Den hypothetischen Gefängnisaufenthalt des Paulus in Ephesus in die Zeit nach der Entsendung des Titus mit dem Tränenbrief anzusetzen,106 lässt sich schwerlich plausibel machen. Denn vorausgesetzt, Paulus wäre in dieser Zeit mehrere Wochen oder eher Monate inhaftiert gewesen,107 lässt sich nicht erklären, wieso dann Paulus nach seiner Haftentlassung Titus entgegenreiste und nicht umgekehrt Titus zum gefangenen Paulus nach Ephesus zurückkehrte. Denn dass Titus keine Informationen über einen längeren Gefängnisaufenthalt des Paulus erreicht haben sollten, ist angesichts der gut funktionierenden Kommunikation zwischen den urchristlichen Gemeinden und Missionaren, die sich in den Paulusbriefen zu erkennen gibt, kaum vorstellbar. Und selbst wenn man diesen unwahrscheinlichen Fall zugrunde legen wollte, bliebe zu erklären, wo Titus sich in der Zwischenzeit aufgehalten haben sollte, statt sich auf die Suche nach Paulus zu machen. 2Kor 2,12f; 7,5f setzen dagegen zwingend voraus, dass Paulus von Titus seit dessen Aufbruch nach Korinth keine Nachrichten erhalten hat. Titus sah also offenbar keinen Grund, nach Kontaktmöglichkeiten Ausschau zu halten, da sich sein Wiedersehen mit Paulus gemessen an ihrer Planung nur unwesentlich verzögert haben dürfte. Dass bereits eine solch geringe Verzögerung dem um die korinthische Gemeinde tief besorgten Paulus wie eine Ewigkeit vorgekommen sein dürfte, ist leicht nachvollziehbar.
Insgesamt hat Paulus zwischen seiner Rückkehr nach Ephesus im Anschluss an den Zwischenbesuch in Korinth und seinem Aufbruch nach Troas also noch einmal ca. vier bis fünf Wochen in der Stadt verbracht. Schon diese Zeitspanne ist zu knapp für einen Gefängnisaufenthalt, in der Phil und Phlm entstanden sein sollten, berücksichtigt man die rege Kommunikation zwischen Briefsender und –empfängern, die diese Briefe voraussetzen.108 Allerdings scheiden die ca. zwei bis drei Wochen von der Ankunft in Ephesus bis zur Entsendung des Titus mit dem Tränenbrief nach Korinth ohnehin aus der Berechnung aus, weil Paulus sich zweifellos als freier Mann gegen einen erneuten Besuch in Korinth und für die Abfassung eines Briefes entscheidet. Die Erkenntnisse, die aus den paulinischen Reisenotizen gewonnen werden können, führen zugleich auch die Berufung auf 2Kor 1,8–10 als „Basis der (Ephesus-, 104 105
106 107 108
Vgl. o. Ziffer 2.3.1. 1. Schiffspassage Ephesus – Korinth: ca. 5 Tage; 2. Aufenthalt in Korinth: ca. 5 Tage; 3. Reise durch Griechenland bis Philippi: ca. 8 Tage; 4. Schiffspassage Philippi – Troas: ca. 5 Tage. Dies ergibt ca. 23 Tage. Als erfahrener Reisender hat Paulus gewiss auch einige zusätzliche Tage aufgrund möglicher Widrigkeiten eingerechnet. Wolff, 2Kor (s. Anm. 23) 9 geht von mindestens sechs Wochen aus. Vgl. u.a. Vielhauer, Geschichte (s. Anm. 13) 170; Thiessen, Christen (s. Anm. 13) 141. Vgl. o. Ziffer 1. Vgl. o. Ziffer 2.3.1. und 2.3.2.
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M.G.) Hypothese“109 ad absurdum. Denn insofern dieser Passus auf eine Situation anspielt, von der die Korinther noch nichts gehört haben können (1,8: Ouv ga.r qe,lomen u`ma/j avgnoei/n), muss sie nach Abfassung des Tränenbriefes und nach Abreise des Titus mit diesem Brief nach Korinth eingetreten sein.110 Angesichts des realistischen Zeitrahmens von ca. zwei Wochen, der für Rest des paulinischen Aufenthaltes in Ephesus dann noch verbleibt, verbietet es sich, 2Kor 1,8–10 mit dem hypothetischen Gefängnisaufenthalt zu korrelieren.111 Eine sehr viel näher liegende Erklärung dieses Passus scheint mir folgende zu sein: Schwer getroffen von den korinthischen Ereignissen hat Paulus im Tränenbrief offenbar sehr deutliche Worte gefunden. Kaum, dass Titus mit diesem Brief nach Korinth abgereist war und Paulus nur noch die Reaktion der Gemeinde abwarten konnte, dürften ihm Bedenken und Zweifel gekommen sein, ob der Brief in seiner Deutlichkeit und Wucht wirklich sein Ziel erreichen oder nicht vielmehr den endgültigen Bruch mit der Gemeinde herbeiführen würde. Kaum zufällig schreibt Paulus rückblickend in 2Kor 7,8f nach Erhalt der erlösenden Nachrichten durch Titus: „Denn auch wenn ich euch in dem Brief traurig gemacht habe, bereue ich es nicht. Wenn ich es auch bereute (eiv kai. metemelo,mhn) – ich sehe (ja), dass euch jener Brief, wenn auch nur vorübergehend, traurig gemacht hat, jetzt aber freue ich mich (nu/n cai,rw), nicht weil ihr traurig gemacht wurdet, sondern weil ihr zur Umkehr hin traurig gemacht wurdet.“ Der Freude in der Gegenwart (bei Abfassung des Versöhnungsbriefes) korrespondiert also antithetisch die Reue in der Vergangenheit (nach Abreise des Titus mit dem Brief gen Korinth). Die Sorge um den Verlust der Gemeinde dürfte Paulus also in eine tiefe seelische Krise gestürzt haben, die sich in 2Kor 1,8–10 widerspiegelt. Die Bedrängnis (qli,yij) (V. 8a), von der Paulus hier spricht, muss also durchaus nicht auf äußere Umstände bezogen werden, sondern kann sehr wohl auch seine innere Verfassung beschreiben. Dazu passt, dass er schreibt, er habe sich im Übermaß (kaqV u`perbolh.n), über seine Kraft hinaus belastet gefühlt (u`pe.r du,namin evbarh,qhmen), so dass er sogar am Leben verzweifelte (w[ste evxaporhqh/nai h`ma/j kai. tou/ zh/n) (V. 8b). Dies alles deutet auf eine im höchsten Maße depressive Stimmung hin. So kann auch das Todesurteil, von dem in V. 9 die Rede ist, durchaus metaphorisch gemeint sein.112 Dafür spricht im Übrigen, dass Paulus den Empfang dieses Todesurteils offenbar als einen inneren Vorgang versteht (auvtoi. evn e`autoi/j 109
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Vielhauer, Geschichte (s. Anm. 13) 169. Vgl. ferner Thiessen, Christen (s. Anm. 13) 133–138; Gnilka, Paulus (s. Anm. 1) 119. So richtig etwa Thiessen, Christen (s. Anm. 13) 134 m. Anm. 253; Müller, Phil (s. Anm. 13) 18. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Vermutung, hinter 2Kor 1,8–10 stehe eine lebensbedrohliche Erkrankung des Paulus (vgl. etwa Klauck, 2Kor [s. Anm. 23] 20f). Sollte er etwa von einer solch schweren Erkrankung so schnell genesen sein, dass er nach so kurzer Zeit bereits nach Troas und weiter nach Mazedonien reisen konnte? Vgl. 1Kor 15,32 die Metapher vom Kampf gegen wilde Tiere.
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to. avpo,krima tou/ qana,tou evsch,kamen) (V. 9a). Die erlösenden Nachrichten aus Korinth konnte Paulus angesichts seiner vorausgehenden Niedergeschlagenheit dann aber geradezu als auferweckendes Handeln Gottes an sich erfahren (V. 9b–10). Interessant ist ferner, dass Paulus die Situation, die er in 2Kor 1,8–9 schildert, nicht in Ephesus, sondern in der Asia (evn th/| VAsi,a|) (V. 8a) verortet. Nun könnte er mit dem Provinznamen durchaus auch metonymisch die Provinzhauptstadt Ephesus bezeichnen.113 Plausibler erscheint mir indes, dass er den Bereich bewusst ausweiten will. Nicht nur in der verbleibenden Zeit in Ephesus, sondern auch auf seiner Reise nach Troas und in Troas selbst fühlte er sich so bedrückt, wie er es in 2Kor 1,8f beschreibt. Dem entspricht, dass er in 2Kor 2,13 noch einmal die Ruhelosigkeit erwähnt, die er in Troas empfand. Diese Interpretation von 2Kor 1,8–10 hat den Vorteil, dass sie sich ausschließlich auf Aussagen der Korintherkorrespondenz stützen kann und nicht auf zusätzliche Hypothesen zurückgreifen muss. Setzt 2Kor 7,5f voraus, dass Paulus kurz vor Titus in Mazedonien eingetroffen ist und dort den Versöhnungsbrief verfasst, blickt er in 2Kor 9,5 bereits voraus auf seinen seit 1Kor 16,5 geplanten „regulären“ Korinthbesuch, der nach Auskunft des wenig später entstandenen Vierkapitelbriefs (2Kor 12,14; 13,1) kurz bevorsteht. Paulus startete also – bedingt durch die Entwicklung in der korinthischen Gemeinde – mit etwa vier bis fünf Wochen Zeitverzögerung gemessen an seiner Planung in 1Kor 16,8 – von Ephesus aus Richtung Mazedonien. Dann aber führte er seine Reise im vorgesehenen zeitlichen Rahmen durch und verbrachte den Winter 55/56 in Korinth. Abschließend seien noch kurz einige Bemerkungen zu 1Kor 15,32; 16,9 sowie Röm 16,3f.7 angefügt, weil diese Stellen gleichsam ergänzend neben 2Kor 1,8–10 immer wieder herangezogen werden, um die Hypothese einer längeren Gefangenschaft des Paulus in Ephesus zu stützen.114 In 1Kor 16,9 verweist Paulus auf zahlreiche Gegner seiner Missionsarbeit in Ephesus. Eine solche Gegnerschaft könnte eine (wiederholte) kurzfristige Inhaftierung des Paulus in der Stadt gewiss begünstigt haben.115 Allerdings verzichtet Paulus in 1Kor 16,9 auf jede weitere Präzisierung. Dass er aber diese Opposition nicht nur latent gespürt hat, sondern dass sie ihm auch sehr massiv und handgreiflich entgegen getreten ist, dafür spricht 1Kor 15,32.116 Die Wahl der Metapher (Kampf mit wilden Tieren) deutet aber weniger auf eine Gefangenschaft als vielmehr auf eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben. Insofern illustriert sie primär die Erwähnung von Schlägen (2Kor 6,4; 11,23b) und häufigen Todesgefahren (2Kor 11,23b) in den Peristasenkatalogen, 113 114 115 116
So Müller, Phil (s. Anm. 13) 18. Vgl. etwa Gnilka, Paulus (s. Anm. 1) 119; Vielhauer, Geschichte (s. Anm. 13) 169. Vgl. Ziffer 3.1. Vgl. dazu Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 8) 336–338.
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nicht aber die dort ebenfalls erwähnten Gefängnisaufenthalte. Dies bestätigt auch ein Blick auf den Argumentationszusammenhang, in dem 1Kor 15,32 steht. Denn in 1Kor 15 geht es ja um die christliche Hoffnung auf Totenauferweckung. In einer solch prekären und lebensgefährlichen Situation, wie sie 1Kor 15,32 andeutet,117 könnten dann auch Priska und Aquila für Paulus in die Bresche gesprungen sein (vgl. Röm 16,3f). 1Kor 15,32; 16,9 sowie Röm 16,3f ergänzen und erklären sich also im Blick auf potentielle Gefahrensituation wechselseitig, ohne sie auf eine bestimmte, historisch noch verifizierbare Begebenheit festlegen zu können. So könnte Paulus in 1Kor 15,32 und Röm 16,3f durchaus auf zwei verschiedene, aber in ihrem Gefahrenpotential vergleichbare Situationen anspielen. Einen aber auch nur impliziten Hinweis auf eine Inhaftierung oder gar längere Gefangenschaft enthalten sie dagegen nicht.118 Schließlich noch ein Wort zu Andronikos und Junia in Röm 16,7: Wenn Paulus sie hier u.a. auch als seine Mitgefangenen bezeichnet, so lässt sich daraus nicht mehr und nicht weniger ableiten, als dass die beiden bei einem der zahlreichen, jedoch kurzfristigen Gefängnisaufenthalte zusammen mit Paulus inhaftiert waren.119 Eine zuverlässige Zuordnung ist aber unmöglich – und dies gilt erst recht für einen hypothetischen Gefängnisaufenthalt, für den sich kein tragfähiges Argument beibringen lässt, gegen den aber die paulinischen Selbstaussagen sprechen. Es ist also an der Zeit, sich von der Hypothese einer längeren Gefangenschaft des Paulus in Ephesus, in welcher Phil und Phlm verfasst worden sein sollen, endgültig zu verabschieden.
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Als „Milieuschilderung“ kann auch auf die lk Erzählung vom Aufstand der Silberschmiede in Ephesus (Apg 19,23–40) verwiesen werden, wenngleich eine historisch zuverlässige Zuordnung dieser Episode zu einer der paulinischen Notizen nicht mehr möglich sein dürfte. Vgl. dazu schon Schmid, Zeit (s. Anm. 12) 61f. Vgl. o. Ziffer 3.1.
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Grundzüge paulinischer Anthropologie im Licht des eschatologischen Heilsgeschehens in Jesus Christus* In dankbarem Gedenken an Helmut Merklein (1940–1999) der am 17. September 2000 sechzig Jahre geworden wäre
1. Die christologisch-soteriologische Fundierung der paulinischen Anthropologie Die Aussagen des Paulus zum Bereich der Anthropologie sind äußerst facettenreich.1 Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß er diesen wie auch alle übrigen Themenbereiche seines theologischen Nachdenkens nicht traktathaft-systematisch entfaltet, sondern in Gelegenheitsschreiben an konkrete Gemeinden je nach spezifischer Problemlage aktuell focussiert.2 Allerdings sucht man, ungeachtet des Facettenreichtums der Aussagen, vergeblich nach einer expliziten Äußerung zur Würde des Menschen. Dies sollte freilich nicht zu dem voreiligen Schluß verleiten, daß das Motiv auch der Sache nach fehlt. Doch erschließt sich dies nicht einer vordergründigen Bestandsaufnahme einzelner anthropologisch relevanter Begriffe und Aussagen. Daher sieht der vorliegende Beitrag seine Aufgabe auch nicht darin, das ganze Spektrum dieser Begriffe und Aussagen in den paulinischen Briefen auszuleuchten. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, ins Zentrum der paulinischen Anthropologie vorzudringen, um ihre Grundzüge herauszuarbeiten. Erst von hier aus kann dann abschließend versucht werden zu bestimmen, worin im Kontext paulinischen Denkens die Würde des Menschen gründet. Der Weg in dieses Zentrum der Anthopologie führt nun über die bei Paulus dezidiert theologisch wie soteriologisch(-staurologisch) konzipierte Christologie, denn „Grund und Voraussetzung aller paulinischen Aussagen über den Menschen ist Gottes Heilshandeln in Jesus Christus für den Menschen“.3 Das Verhältnis zwi*
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Abgedruckt in: Hamm, Berndt, Welker, Michael (Hg.), Die Würde des Menschen (JBTh 15 [2000]), Neukirchen-Vluyn 2001, 117–147. Vgl. etwa den Versuch einer Gesamtdarstellung von U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes (BThS 18), Neukirchen-Vluyn 1991, 44–133. Entsprechend vielfältig sind in der Forschung auch die Versuche, Zugang zur paulinischen Anthropologie zu gewinnen, vgl. U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie. Ein Forschungsbericht, in: W. Haase (Hg.), Religion. Vorkonstantinisches Christentum: Leben und Umwelt Jesu; Neues Testament (ANRW II, 26.3), Berlin/New York 1996, 2658–2714, hier besonders: 2684–2690.2690–2700. Schnelle, Anthropologie 48 (Hervorhebung M.G.); vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (UTB 630), 9. Auflage, durchgesehen und ergänzt von O. Merk, Tübingen 1984, 192. Bultmann ver-
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schen Christologie und Anthropologie wird dabei im paulinischen Denken durch die Rechtfertigungslehre konstituiert. Bildet die Christologie das Fundament der Rechtfertigung,4 so wendet die Anthropologie den Blick auf den Adressaten, der ihrer bedarf. Nun gilt für den Bereich der Christologie und der aus ihr erwachsenden Rechtfertigungslehre prinzipiell dasselbe, was gerade schon für den Bereich der Anthropologie festgestellt worden war: Paulus hat uns kein Oeuvre von akademischer Art hinterlassen, sondern die Frucht seiner theologischen Reflexion begegnet in der Brechung aktueller Probleme in und mit seinen Gemeinden. Hinzukommt, daß die uns überlieferten Briefe des Paulus ausnahmslos aus dem letzten Jahrzehnt seines Schaffens stammen. Anders formuliert: Aus dem Zeitraum zwischen seiner Bekehrung (um 33/34 n.Chr.) und dem 1. Thessalonicherbrief als dem anerkannt ältesten Paulusbrief (ca. 50 n.Chr.) liegen uns keine authentischen Äußerungen vor, ebensowenig aus der Zeit vor seiner Bekehrung. Allenfalls bietet Paulus in seinen Briefen sporadisch, sofern er dies für seine Argumentation als wichtig erachtet, einen Rückblick auf seine vorchristliche Zeit (1Kor 15,8f; 2Kor 11,22; Gal 1,13f; Röm 11,1b; Phil 3,4–7) und auf seine christliche Schaffensperiode vor der 2. Missionsreise (Gal 1,15–24; 2,1–10.11–14). Gleichwohl lassen sich mit der gebotenen methodischen Vorsicht die traditionsgeschichtliche Verankerung und die Genese der paulinischen Christologie und Anthropologie mit ihrer spezifischen Akzentuierung, die eng verbunden ist mit den vorchristlichen Wurzeln des Paulus, noch skizzieren. An zwei Stellen seiner Briefe, die im Kontext der Auseinandersetzung um die gesetzesfreie Evangeliumsverkündigung mit judaisierenden Wandermissionaren stehen,5 präzisiert Paulus seine Identität als Mitglied des Volkes Israel, indem er zusätzlich sich selbst (2Kor 11,22: ῾Εβραῖοί εἰσιν; κἀγώ.) und seine Eltern bzw. Vorfahren (Phil 3,5: ῾Εβραῖος ἐξ ῾Εβραίων) als „Hebräer“ bezeichnet. Dies kann nur bedeuten, daß er sich als aramäisch sprechender Palästinajude zu erkennen geben will.6 Andererseits gibt er selbst implizit durch seine nur muttersprachlich erklärbare griechische Sprachkompetenz einen deutlichen Hinweis auf seine Verbindung zum Diasporajudentum. Auf diese Verbindung verweisen auch seine Vertrautheit mit der
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weist darauf, daß die paulinische Christologie von Christus „als dem redet, durch den Gott zum Heil von Welt und Mensch wirkt. So ist auch jeder Satz über Christus ein Satz über den Menschen und umgekehrt; und die paulinische Christologie ist zugleich Soteriologie.“ So zu Recht U. Wilckens, Christologie und Anthropologie im Zusammenhang der paulinischen Rechtfertigungslehre in: ZNW 67 (1976), 64–82, der gegen H. Braun prägnant die These formuliert: „Die Christologie ist als das Fundament der Rechtfertigung ihre eigentliche ‚Sache‘; denn der Glaube, aufgrund dessen der Mensch gerechtfertigt wird, ist auch als solcher durch seinen Gegenstand – als πίστις Χριστοῦ – bestimmt“ (ebd. 67). Dieser Kontext einer aktuellen Auseinandersetzung kennzeichnet mit Ausnahme von 1Kor 15,8f und Röm 11,1 alle biographischen Selbstzeugnisse des Paulus über seine vorchristliche Lebensphase: 2Kor 11,22; Gal 1,13f.21–23; Phil 3,3–5. Röm 11,1 ist zwar nicht durch eine aktuell bedingte Verteidigungsstrategie geprägt, steht aber auch im Zusammenhang der Israelthematik. Vgl. M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: M. Hengel/U. Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum (WUNT 58), Tübingen 1991, 177–293, hier: 220.
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Septuaginta als Bibel der griechisch-sprechenden Diasporajuden und nicht zuletzt auch das Faktum, daß er seine Briefe ausnahmslos unter seinem griechisch-römischen Namen Παῦλος schreibt.7 All dies deutet darauf hin, daß Paulus in der Diaspora aufgewachsen und dort auch seine Elementarschulbildung erhalten hat. Dabei wird man davon ausgehen dürfen, daß Paulus als Sohn jüdischer Eltern keinen heidnisch geprägten Unterricht genoß, sondern „durch ein jüdisches Bildungswesen der hellenistischen Diaspora gegangen ist.“8 Wie aber läßt sich nun diese offenkundige Verwurzelung des Paulus im Diasporajudentum mit seiner Auskunft, er sei „Hebräer von Hebräern“ (Phil 3,5), also Palästinajude, verbinden? Eine Erklärungsmöglichkeit bietet die politische Situation in Palästina seit 63 v.Chr. Denn nachdem die Römer in der Person des Pompeius aktiv in das Geschehen in der zwischen Seleukiden und Ptolemäern umkämpften Region eingegriffen hatten, gerieten immer wieder dort lebende Juden in römische Kriegsgefangenschaft. Als Sklaven römischer Herren gelangten sie nach Rom oder in andere Gebiete der jüdischen Diaspora. Oftmals wurden diese kriegsbedingten Sklaven später von ihren Besitzern wieder freigelassen und erhielten durch den Akt der Freilassung zugleich auch das römische Bürgerrecht (vgl. Philo, Leg. ad. Gai. 155.157). M. Hengel vermutet nun, daß ein solches Schicksal auch den Eltern oder früheren Vorfahren des Paulus widerfuhr.9 Inzwischen aber hatte die Familie wohl Freiheit und römische Civität10 erreicht und es auch zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Darauf deutet jedenfalls die Bildung hin, die die Eltern des Paulus ihrem Sohn ermöglichten und die sich in seinen Briefen widerspiegelt. Nach Abschluß seiner Elementarschulbildung könnte Paulus dann als junger Mann in die Heimat seiner Vorfahren zurückgekehrt sein und sich dort im Rahmen seiner weiteren Ausbildung in der Tora den Pharisäern angeschlossen haben.11 Jedenfalls differenziert Paulus in Phil 3,5 deutlich zwischen seiner Identität als Palästinajude, die er von seinen Vorfahren ererbt hat (῾Εβραῖος ἐξ ῾Εβραίων) und seiner pharisäischen Ausrichtung in Hinblick auf sein Toraverständnis (κατὰ νόμον Φαρισαῖος, nicht: Φαρισαῖος ἐκ Φαρισαίων!).12 Gerade die pharisäische Orientierung weist für die Phase der Ausbildung nach der Elementarschule deutlich ins jüdische Mutterland, „weil das Hauptziel der Pharisäer die kultische Gestaltung des Gemeinschaftslebens war, wie sie in vieler Hinsicht nur im Heiligen Land als einem von Juden bewohnten Wirtschaftsraum möglich 7
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Vgl. Hengel, Paulus (1991) 233f. Anders als Paulus selbst gibt die Apg verschiedentlich explizite Hinweise auf seine Existenz als Diasporajude, die jedoch jeweils einzeln auf ihre historische Plausibilität bzw. Zuverlässigkeit zu überprüfen sind (vgl. 13,9; 16,37f; 21,39; 22,3.25–28; 23,27). J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, 2. durchges. Aufl. Tübingen 1992, 54. Dagegen vermutet K. Haacker, Paulus. Der Werdegang eines Apostels (SBS 171), Stuttgart 1997, 53 in Anlehnung an Apg 22.26, daß Paulus diese hellenistisch-jüdische Ausbildung bereits in Jerusalem erhalten habe. „Paulus könnte als Kind in einem hellenistisch-jüdisch geprägten Haus in Jerusalem aufgewachsen sein, sei es, daß seine Eltern selbst wie viele andere Diasporajuden ins Mutterland zurückgekehrt waren, oder sei es aufgrund anderer familiärer Konstellationen.“ M.E. scheitert diese Erklärung aber daran, daß die Eltern des Paulus nach Auskunft von Phil 3,5 keine Diasporajuden im üblichen Sinn, sondern von ihrer Herkunft her Palästinajuden waren. Die Strukturierung der Jerusalemer Urgemeinde in eine aramäisch- und eine griechischsprachige Gruppe belegt nun hinreichend, daß Palästina- und Diasporajuden separat lebten. Warum also hätten Palästinajuden, zurückgekehrt ins jüdische Mutterland, ihrem Sohn seine Bildung in einem hellenistisch-jüdischen Haus angedeihen lassen sollen? Vgl. Hengel, Paulus (1991) 203–207. Wiederholt erwähnt die Apg, daß Paulus von Geburt an das römische Bürgerrecht besaß (vgl. 16,37f; 22,25–28; 23,27). Der historische Wert dieser Information ist in jüngerer Zeit vor allem von W. Stegemann, War der Apostel Paulus römischer Bürger?, in: ZNW 78 (1987), 200–229 in Frage gestellt worden. Vgl. dagegen Haacker, Paulus 27–44 und Hengel, Paulus (1991) 193–208, die sich mit Stegemanns Argumenten kritisch auseinandersetzen und m.E. überzeugend nachweisen, daß diese die Vertrauenswürdigkeit der lk Information nicht stichhaltig in Zweifel ziehen können. Vgl. Hengel, Paulus (1991) 238. Dies im Unterschied zu Apg 23,6, wo Paulus die Aussage in den Mund gelegt wird: Ich bin ein Pharisäer, Sohn von Pharisäern.“
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war.“13 Diese Ausbildung dürfte dann aber mit hoher Wahrscheinlichkeit im geistigen Zentrum Jerusalem stattgefunden haben. Noch unter einer anderen Rücksicht ist die Information des Paulus in Phil 3,5, er sei κατὰ νόμον Φαρισαῖος gewesen, aufschlußreich. Denn er erweitert diesen Hinweis auf seine religiöse Orientierung zu einer dreigliedrigen Aussage: κατὰ ζῆλος διώκων τὴν ἐκκλησίαν, κατὰ δικαιοσύνην τὴν ἐν νόμῳ γενόμενος ἄμεμπτος (Phil 3,6). Das dritte Glied greift das erste präzisierend auf. Paulus stellt fest, daß er, gemessen am spezifisch pharisäischen Gesetzesverständnis und der daraus resultierenden Gerechtigkeit, untadelig war. Das Mittelglied lenkt dagegen den Blick auf das Verhalten des Paulus gegenüber der jungen Kirche. Die kontextuelle Rahmung macht dabei deutlich: Die Kirche bekommt die durch Eifer motivierte Agressivität des Paulus zu spüren, weil ihre Botschaft seinem Gesetzesverständnis zuwiderläuft. Daß dieser Eifer keine bloß emotionale Regung ist, sondern seinen objektiven Grund in der Verpflichtung des Pharisäers Paulus gegenüber dem Gesetz hat, geht auch aus Gal 1,14b hervor. Hier beschreibt Paulus sich als ein „Eiferer über die Maßen für die väterlichen Überlieferungen“. Πατρικαὶ παραδόσεις bezeichnet dabei präzise die Tora im pharisäischen Verständnis, d.h. einschließlich der mündlichen Überlieferung. Der Eifer zielt also auf die Bewahrung und Befolgung der so verstandenen Tora. Es ist „ein ‚Eifer für Gott und sein Gesetz‘, der seit der Makkabäerzeit zum Ideal radikaler religiöser Gruppierungen gehörte; ein ‚Eiferer‘ war bereit, gegen den Gesetzesbrecher Gewalt anzuwenden, um Gottes Zorn von Israel abzuwenden.“14 Vor diesem Hintergrund ist es nur sachgerecht, wenn Paulus in Gal 1,13b wiederum seine kompromißlose Verfolgung der Kirche Gottes erwähnt. Gal 1,13b und 1,14b gehören engstens zusammen, insofern der Eifer des Paulus für die väterlichen Überlieferungen das Motiv für seine Verfolgung der Kirche ist.15 Nennt Paulus nun das Motiv, das ihn zum Verfolger der Kirche werden ließ, so schweigt er darüber, wo dies geschah. Die Apg dagegen lokalisiert den Beginn der paulinischen Verfolgertätigkeit explizit in Jerusalem (7,58; 9,1f; 22,4f; 26,9–11a). Dies ist durchaus glaubwürdig,16 sofern auch das pharisäische Torastudium des Paulus nach Jerusalem weist. Vieles spricht nun dafür, daß der Adressatenkreis der paulinischen Agitation die sog. Hellenisten in der Jerusalemer Urgemeinde waren, also die Gruppe der griechisch-sprachigen Judenchristen um Stephanus. Nicht zufällig erwähnt die Apg Paulus zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Martyrium des Stephanus (7,58; 8,1a). Nicht zufällig lautet auch die Anklage, die gegen Stephanus von den Mitgliedern hellenistischer Synagogen in Jerusalem (Apg 6,9) erhoben wurde: „Dieser Mensch hört nicht auf, gegen diesen heiligen Ort und das Gesetz zu reden. Wir haben ihn nämlich sagen hören: Dieser Jesus, der Nazoräer, wird diesen Ort zerstören und die Bräuche ändern, die uns Mose überliefert hat“ (Apg 6,13f). Dabei dürfte sich nicht der Inhalt der Anklage als lk Redaktion erweisen, sondern seine Etikettierung als Falschzeugnis.17 13
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Haacker, Paulus 49 in Abgrenzung von Becker, Paulus 41, der eine pharisäische Erziehung auch in der Diaspora nicht ausschließt; ähnlich wie Haacker auch Hengel, Paulus (1991) 225–232. M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, ThBeitr 21 (1990), 191. Diese enge Verbindung greift im übrigen auch Apg 22,3.4f auf, wenn hier im unmittelbaren Anschluß an die Notiz des Eifers für Gott die Schilderung der Verfolgertätigkeit des Paulus anschließt. Dagegen kann auch nicht mit Becker, Paulus 40 (Paulus „war den Gemeinden in Jerusalem bis weit in die Jahre nach seiner Berufung von Angesicht her unbekannt [1,22–24].“) Gal 1,22–24 als Argument herangezogen werden. Denn im Unterschied zu Becker spricht Paulus von den Gemeinden Judäas. So richtig es ist, daß Judäa nicht erwähnt werden kann, ohne Jerusalem mit einzubeziehen, so umfaßt die paulinische Aussage doch einen größeren Kreis von Gemeinden als nur die Jerusalems. Zudem hat Paulus selbst keine Schwierigkeiten, zunächst in Gal 1,18f von seinem zweiwöchigen Aufenthalt in Jerusalem zu berichten und danach, im Anschluß an die Notiz seines Aufenthaltes in Syrien und Zilizien (1,21) festzuhalten: „Den Gemeinden Christi in Judäa aber blieb ich persönlich unbekannt“ (1,22). Der Aufenthalt in Jerusalem impliziert für Paulus also eindeutig nicht, daß er den Gemeinden Judäas auch persönlich bekannt war. Vgl. auch Hengel, Paulus (1991) 276–283. Vgl. R. Pesch, Die Apostelgeschichte, Bd. I: Apg 1–12 (EKK V/1), Solothurn, Düsseldorf, NeukirchenVluyn 2., durchges. Auflage 1995, 238–239.
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Paulus nahm also offensichtlich Anstoß an der tempel- und torakritischen Einstellung der hellenistischen Judenchristen in Jerusalem. Wie wurde er aber auf die für sein Gesetzesverständnis inakzeptablen Anschauungen aufmerksam? Apg 6,9f deutet darauf hin, daß die Auseinandersetzung im Rahmen der hellenistischen Synagogengemeinden anzusiedeln ist. Viele fromme und besonders gesetzestreue Diasporajuden kamen aus ihrer Heimat in das jüdische Zentrum Jerusalem, um sich dort niederzulassen und dort auch nach ihrem Tod bestattet zu werden. Da sie im Unterschied zu den Palästinajuden griechischsprachig waren, organisierten sie sich in eigenen Synagogengemeinden. Aus ihren Reihen kamen auch Mitglieder zum Glauben an Jesus Christus. Diese hellenistischen Judenchristen sahen sich nun angesichts ihres Bekenntnisses zur Heilsbedeutsamkeit seines Todes gezwungen, sich mit der weisheitlichen Interpretation von Tempel und Tora auseinanderzusetzen. Denn gerade in den Kreisen der Diasporajuden, die bewußt nach Jerusalem als der Tempelstadt übergesiedelt waren, wurde eine solch heilsmittlerische Funktion Tempel und Tora zugeschrieben. Sie wurde abgeleitet aus einer Identifizierung der Tora mit der präexistenten, ewigen Weisheit, die in Gemeinschaft mit Gott lebt und als deren Wohnsitz der Tempel galt. So mußte es zwischen den christusgläubigen und den nichtchristusgläubigen Juden Jerusalems zu Auseinandersetzungen kommen. Sie führten dazu, daß die Judenchristen die Heilsmittlerfunktion der weisheitlich verstandenen Tora auf Jesus übertrugen, den sie jetzt selbst als Offenbarung der göttlichen Weisheit bekannten. Die Konsequenz hieraus war zum einen die Ausbildung der Präexistenzchristologie, zum anderen eine deutliche Reserve gegenüber Tempel und Tora, die sich nicht zuletzt in der betonten Rezeption tempel- und gesetzeskritischer Jesustradition niederschlug.18 So war es durchaus folgerichtig, daß eine Gruppe aus dem Kreis um Stephanus, die nach der Vertreibung aus Jerusalem die Gemeinde in Antiochia gründete (vgl. Apg 11,19–26), Heidenmission zu betreiben begann.19 Obwohl nun Paulus in Jerusalem sich dem pharisäisch orientierten Torastudium widmete und damit in palästinajüdischen Kreisen verkehrte, dürfte er als gebürtiger Diasporajude auch den Kontakt zu den hellenistischen Synagogen gesucht haben. Möglicherweise sah er gerade „seine Aufgabe darin, als Lehrer das pharisäische Gesetzesverständnis den in großer Zahl nach Jerusalem strömenden Diasporajuden zu vermitteln.“20 Trifft dies zu, so wähnte er wohl diese Aufgabe durch die christusgläubigen Hellenisten in den Diasporasynagogen in Gefahr. Nicht zuletzt die Tatsache, daß sie Jesus eine soteriologische Funktion zuschrieben, obwohl er nach Dtn 21,23 am Kreuz den Tod eines Gottverfluchten gestorben war, mußte Paulus als Verhöhnung der Tora und damit als Verhöhnung Gottes erscheinen.21 Der Eifer für das Gesetz und für Gott ließ ihn somit zum Verfolger dieser neuen Gruppierung werden. Dabei muß letztlich offenbleiben, ob er selbst die Initiative ergriff oder aber schon eingeleitete Bemühungen fortführte, wie es Apg 6f nahelegt. Paulus selbst jedenfalls versucht sich nicht mit dem Vorbild anderer zu entschuldigen. Vielmehr konzentriert er seine Aussagen darauf, daß er aus seinem Gesetzesverständnis heraus die Kirche Gottes verfolgt habe.
Dann aber tritt das Ereignis ein, das sein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellt und ihn sein festgefügtes Wertesystem als „Dreck“ erkennen läßt (Phil 3,8): Der Gekreuzigte und damit der von der Tora Verfluchte – daran hält Paulus auch 18
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Vgl. dazu H. Merklein, Zur Entstehung der Aussage vom präexistenten Sohn Gottes in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 247–276; C. Dietzfelbinger, Die Berufung des Paulus als Ursprung seiner Theologie (WMANT 58), Neukirchen-Vluyn 21989, 16–20. Vgl. dazu B. Kollmann, Joseph Barnabas. Leben und Wirkungsgeschichte (SBS 175), Stuttgart 1998, 30–32. Hengel, Paulus (1990), 188. Vgl. H. Merklein, Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi für die paulinische Gerechtigkeits- und Gesetzesthematik in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 1–106, hier: 7; Dietzfelbinger, Berufung 96.
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unter christlichem Vorzeichen fest (vgl. Gal 3,13)! – wird ihm als Sohn Gottes geoffenbart (Gal 1,15f). Ist aber der Sohn Gottes mit dem gekreuzigten Jesus von Nazaret identisch und begegnet dieser Paulus von Gott her als Auferweckter, sieht Paulus sich gegen sein bisheriges theologisches Koordinatensystem gezwungen, das Geschehen des Kreuzestodes Jesu positiv zu deuten. Der Tod, der von der Tora als Fluchtod deklariert ist, erschließt sich ihm nun durch göttliche Initiative als Heilstod. Im Umkehrschluß stellt diese Erkenntnis für Paulus aber zugleich auch die Heilsfunktion der Tora einschließlich des Tempels als Ort des in der Tora konstituierten Sühnekults faktisch in Frage (vgl. Röm 10,4). Denn wenn der Sohn Gottes am Kreuz stirbt, kann dies nur bedeuten, daß die soteriologische Kraft des Gesetzes sich am Menschen als kraft-los erwiesen hat. Da Paulus aber auch nach seinem Offenbarungswiderfahrnis an der Heiligkeit und lebensspendenden Funktion der Tora unverbrüchlich festhält (vgl. etwa Gal 3,12; Röm 7,12; 10,5), korrespondiert seiner Einsicht in das soteriologische Monopol des Kreuzes Christi die anthropologische Einsicht, daß die Ursache für das Scheitern der Heilsfunktion der Tora beim Menschen liegt. Der Mensch, wenn er auch wie Paulus selbst von sich zu sagen können glaubt, er sei „gemäß der Gerechtigkeit im Gesetz untadelig“ (Phil 3,6; vgl. Gal 1,13f), wird im Licht des Kreuzes Christi als Nichttäter des Gesetzes und damit als Sünder entlarvt (Gal 3,10.13; Röm 3,22b–23; 5,8.12fin.). Die christologisch-soteriologischen und anthropologischen Implikationen seines Offenbarungserlebnisses lassen Paulus nun die tora- und tempelkritischen Tendenzen der zuvor von ihm bekämpften hellenistischen Judenchristen aufgreifen und konsequent weiterentwickeln.22 Wenngleich er diese Gedanken pointiert erst in seinen Spätbriefen (Gal, Röm, Phil) formuliert,23 gibt es doch Hinweise, daß sie der Sache nach sein missionarisches Handeln von Anfang an bestimmen.24 So ist es
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Vgl. Merklein, Entstehung 266. Paulus sieht sich dazu durch eine aktuelle Frontstellung seitens streng judenchristlicher Kreise gegen die von ihm betriebene, von Beschneidung und (kultisch-ritueller) Toraobservanz absehende Heidenmission gezwungen. Diese Heidenmission freilich verdankte sich seiner Reflexion der christologisch-soteriologischen und anthropologischen Implikationen seines Offenbarungserlebnisses. Das heißt aber: Die Agitation gegen die gesetzesfreie Evangeliumsverkündigung ist Folge der paulinischen Rechtfertigungslehre, die wiederum die Grundlage seines missionarischen Wirkens bildet. Nicht aber ist etwa umgekehrt die paulinische Rechtfertigungslehre Reaktion auf die Agitation streng judaisierender Gegner. Allerdings soll damit nicht in Frage gestellt werden, daß Paulus aufgrund dieses Konfliktes seine Position gedanklich und terminologisch präzisiert. So auch z.B. Dietzfelbinger, Berufung, bes. 114–116; Hengel, Paulus (1991) 284; P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments I. Grundlegung: Von Jesus bis Paulus, Göttingen 1992, 227. Anders dagegen J. Becker, Paulus, 4; Wilckens, Christologie 67f. W. Kraus, Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die „Hellenisten“, Paulus und die Aufnahme der Heiden in das endzeitliche Gottesvolk (SBS 179), Stuttgart 1999, 104f sieht das Damaskuserlebnis primär als Legitimation des paulinischen Heidenapostolats. Doch was ist diese Legitimation anderes als die ekklesiologische Reflexion des Christusgeschehens, das unter soteriologisch-anthropologischer Perspektive die Rechtfertigungsthematik aus
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alles andere als Zufall, daß sein Offenbarungserlebnis für ihn untrennbar mit seiner göttlichen Beauftragung zur Heidenmission verbunden ist, ja die Beauftragung eigentliches Ziel dieses Offenbarungserlebnisses ist (Gal 1,16b). Nachdem Paulus zunächst einige Jahre auf sich gestellt blieb, holte ihn Barnabas nach Antiochia (vgl. Apg 11,25f), um in seiner Person tatkräftige Unterstützung für das von der dortigen Gemeinde getragene Projekt einer programmatischen Heidenmission zu erhalten.25 Nach erfolgreicher gemeinsamer Missionstätigkeit (vgl. Apg 13f) im Auftrag der antiochenischen Gemeinde kommt es dann im Umfeld des sog. antiochenischen Zwischenfalls (vgl. Gal 2,11ff) ca. ein Jahrzehnt später zum Bruch zwischen Paulus und Barnabas.26 Gegen die bisher praktizierte liberale (Herren-)Mahlgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen setzt sich in Antiochia durch den Einfluß des Herrenbruders Jakobus aus Jerusalem ein Kompromiß durch, der den Heidenchristen die Einhaltung bestimmter Mindeststandards kultischer Reinheit abverlangt (die sog. Jakobusklauseln, vgl. Apg 15,19f.29; 21,25).27 Während sich Petrus und Barnabas auf diesen Kompromiß einließen, der im übrigen in keiner Weise die beschneidungsfreie Heidenmission selbst tangierte, blieb Paulus unnachgiebig. Offenbar war er also überzeugt, daß die Verpflichtung der Heidenchristen auf die Jakobusklauseln keine bloß periphere Angelegenheit war, sondern die nach seinem Verständnis konstitutive Grundlage der Heidenmission zur Disposition stellte. Dies bestätigt Gal 2,14–21: Paulus sah die soteriologische Ausschließlichkeit des Kreuzes Christi in Gefahr und fürchtete, daß der Tora erneut eine Heilsfunktion zugesprochen würde, die beim Menschen als Sünder ins Leere laufen müsse. Wenngleich Paulus Gal 2 erst aus einem mehrjährigen Abstand heraus und in den aktuellen Konflikt mit den galatischen Gemeinden um Beschneidung und Gesetzesobservanz hinein formuliert, dürfte seine Argumentation sachlich bereits beim antiochenischen Zwischenfall ausgeprägt gewesen sein: Das soteriologische Monopol des Gekreuzigten (solus Christus) darf um des Menschen willen nicht zugunsten von Torageboten (und sei es nur ein rudimentärer Grundbestand) relativiert werden. Denn sie können gegenüber dem sündigen Menschen keine soteriologische Kraft entfalten. Diese wird ihm vielmehr allein im Glauben
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sich entläßt. Und so muß Kraus, ebd. auch einräumen, daß die Gesetzesfrage (und d.h. die Rechtfertigungsthematik) aus dem Damaskusgeschehen nicht „ausgeblendet werden“ kann. Vgl. J. Becker, Paulus und seine Gemeinden in: ders. u.a., Die Anfänge des Christentums. Alte Welt und neue Hoffnung, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1987, 102–159, hier: 113; Kollmann, Joseph Barnabas 34–38. Vgl. Kollmann, Joseph Barnabas 51f. Inzwischen hat sich weithin die Auffassung durchgesetzt, daß die Jakobusklauseln entgegen der Darstellung in der Apg nicht in das Umfeld des Jerusalemer Apostelkonvents gehören, sondern in das des darauffolgenden antiochenischen Zwischenfalls, vgl. u.a. Kollmann, Joseph Barnabas 50f; W. Kraus, Jerusalem 162f.
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an den Gekreuzigten (sola fide) zuteil (vgl. Gal 2,16). Im Kern repräsentiert diese Argumentation das Ergebnis, zu dem Paulus bei der notwendigen theoretischen Durchdringung einer auf die Heiden ausgerichteten Missionspraxis gelangt. Letztlich wurzelt sie im paulinischen Berufungserlebnis. Nur auf ihrer Basis läßt sich m.E. plausibel erklären, daß Paulus konsequent den Bruch mit Antiochia in Kauf nimmt. Kaum zufällig dürfte er auch bei der sich unmittelbar anschließenden selbständigen Missionsphase seine Verkündigung ganz auf den Gekreuzigten zugespitzt haben (vgl. 1Kor 2,2; Gal 3,1). Es dürfte deutlich geworden sein: Paulus definiert die Soteriologie dezidiert christologisch und konzipiert umgekehrt die Christologie explizit soteriologisch. Der ausschließlichen Heilsfunktion des Gekreuzigten korrespondiert antithetisch eine kategorische Negierung der (faktischen, nicht prinzipiellen) Heilsfunktion der Tora. Untrennbar damit verbunden ist die spezifisch paulinische Anthropologie, die im Licht des Christusgeschehens den Menschen zunächst grundlegend als Übertreter bzw. Nichttäter des Gesetzes und damit als Sünder ausweist. Welche heilvolle Möglichkeit der Kreuzestod Jesu nun aus paulinischer Perspektive für den sündigen Menschen bereithält, soll im Folgenden aufgezeigt werden.
2. Der Existenzwechsel des Menschen vom Sünder zum Gerechten Infolge seines Offenbarungserlebnisses, das sein gesamtes bisheriges theologisches Denk- und Wertesystem geradezu auf den Kopf stellte, teilt Paulus nun mit den von ihm zuvor verfolgten hellenistischen Judenchristen nicht nur eine tora- und tempelkritische Haltung. Diese ist vielmehr nur die Konsequenz aus dem ihnen gemeinsamen Bekenntnis zur soteriologischen, weil sühneschaffenden Qualität des Todes Jesu Christi.28 In den paulinischen Briefen hat dieses Bekenntnis auf verschiedene 28
Zur zentralen Rolle des Sühnegedankens für die neutestamentliche wie speziell für die paulinische Christologie und Soteriologie vgl. M. Hengel, The Atonement. The Origins of the Doctrine in the New Testament, London 1981; O. Hofius, Sühne und Versöhnung. Zum paulinischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu in: ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 1989, 33–49; H. Merklein, Bedeutung 23– 34; ders., Der Tod Jesu als stellvertretender Sühnetod. Entwicklung und Gehalt einer zentralen neutestamentlichen Aussage, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 181–191; ders., Der Sühnetod Jesu nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT 105), Tübingen 1998, 31–59; ders., Der Sühnegedanke in der Jesustradition und bei Paulus in: A. Gerhards/K. Richter (Hg.), Das Opfer – Biblischer Anspruch und liturgische Feier (QD 186), Freiburg/Basel/Wien 2000, 59–91; P. Stuhlmacher, Zur neueren Exegese von Röm 3,24–26 in: E. Ellis/E. Gräßer (Hg.), Jesus und Paulus. (FS W. G. Kümmel), Göttingen 1975, 313–333; ders., Theologie 221–392; U. Wilckens, Der Brief an die Römer, Bd. I: Röm 1–5 (EKK VI/1), Zürich/Einsiedeln/ Köln/Neukirchen-Vluyn 2. verb. Aufl. 1987, 233–243. Kritisch äußern sich dagegen zum Stellenwert des Sühnegedankens: G. Barth, Der Tod Jesu im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 1992; J. Becker, Die neutestamentliche Rede vom
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Weise Eingang gefunden. Breit bezeugt finden sich die sog. Sterbens- und Dahingabeformeln mit ihrer charakteristischen ὑπέρ-Wendung, die das Sterben (Röm 5,6.8; 14,15; 1Kor 8,11; 15,3b; 2Kor 5,15; 1Thess 5,10) bzw. das Dahingeben Jesu (Röm 4,25; 8,32; Gal 1,4; 2,20) als für uns (bzw. mich, ihn, alle) (Kurzform) oder für unsere Sünden (Langform) geschehen deutet.29 Über die Abendmahlsüberlieferung (1Kor 11,24b par Lk 22,19b [Brotwort]; Mk 14,24 par Mt 26,28 [Kelchwort])30 dürften die traditionsgeschichtlichen Wurzeln dieser Aussage über die sühnende Kraft des Todes Jesu in den Sterbens- und Dahingabeformeln bis zu Jesus selbst zurückreichen. Angesichts seines drohenden Todes mußte er sich nämlich dem Problem stellen, ob dieser Tod zugleich ein Scheitern seines Wirkens bedeutete und seine Botschaft Lügen strafte. Die Jesusüberlieferung bietet nun mit dem sog. eschatologischen Ausblick in Mk 14,25 einen Anhaltspunkt dafür, daß Jesus diesen pessimistischen Schluß nicht gezogen hat. Dann aber liegt die Vermutung nahe, daß das für Viele (ὑπὲρ πολλῶν), das sich im mk-mt Überlieferungsstrang des Abendmahls im Kontext des Kelchwortes findet,31 die positive Funktion beschreibt, die Jesus selbst seinem Tod zugewiesen hat.32 Wie die Wendung für
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Sühnetod Jesu, in: ZThK.B 8 (1990), 29–49; G. Friedrich, Die Verkündigung des Todes Jesu im neuen Testament (BThSt 6), Neukirchen-Vluyn 21985; W. Zager, Wie kam es im Urchristentum zur Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen? Eine Auseinandersetzung mit Peter Stuhlmachers Entwurf einer „Biblischen Theologie des Neuen Testaments“, in: ZNW 87 (1996), 165–186. Eine eher vermittelnde Position nimmt C. Breytenbach, Versöhnung. Eine Studie zur paulinischen Soteriologie (WMANT 60), Neukirchen-Vluyn 1989 ein, der noch einmal semantisch und traditionsgeschichtlich zwischen Versöhnung und Sühne differenziert, vor allem aber jeglichen kultischen Bezug des Motivs vom stellvertretenden Sühnetod Jesu bei Paulus ablehnt. Vgl. dazu R. Bieringer, Traditionsgeschichtlicher Ursprung und theologische Bedeutung der ὑπέρAussagen im Neuen Testament, in: F. v. Segbroek u.a. (Hg.), The Four Gospels 1992. (FS F. Neirynck) Bd. 1, Leuven 1992, 219–248; M. Gaukesbrink, Die Sühnetradition bei Paulus. Rezeption und theologischer Stellenwert (FzB 82), Würzburg 1999, 85–254; M.-L. Gubler, Die frühesten Deutungen des Todes Jesu. Eine motivgeschichtliche Darstellung aufgrund der neueren exegetischen Forschung (OBO 15), Fribourg/Göttingen 1977, 212–229; Hengel, Atonement 34–39; W. Kramer, Christos Kyrios Gottessohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden (AThANT 44), Zürich/Stuttgart 1963, 15–40.112–120; K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums (StNT 7), Gütersloh 1972, 55–104. Zwar ist die Sühneaussage der Abendmahlsüberlieferung nicht verbunden mit einer expliziten Sterbebzw. Dahingabeaussage. Doch stellt der Kontext sicher, daß sie eingebettet ist in die Situation des kurz bevorstehenden Todes Jesu: 1Kor 11,23b: Nacht der Auslieferung bzw. des Dahingegebenwerdens (vgl. Mk 14,18–21 parr. Mt 26,21–25; Lk 22,21–23); 1Kor 11,24: das zerbrochene Brot als Symbol des Leibes, d.h. der Person Jesu (vgl. Mk 14,22 parr. Mt 26,26; Lk 22,19); 1Kor 11,25: die Erwähnung des Blutes beim Kelchwort (vgl. Mk14,24 parr. Mt 26,28; Lk 22,20), vgl. auch Gaukesbrink, Sühnetradition 111f. Die Variante für euch (ὑπὲρ ὑμῶν), die der pln-lk Überlieferungsstrang im Zusammenhang des Brotwortes bietet, dürfte dagegen schon eine Anpassung an liturgische Bedürfnisse (Rezitation der Abendmahlsüberlieferung bei der Feier des Herrenmahls) darstellen, vgl. C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHNT 7), Berlin 1996, 266. Zur Frage einer Todeserwartung und -deutung Jesu vgl. H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze (SBS 111), Stuttgart 31989, 139–146; ders., Wie hat Jesus seinen Tod verstanden?, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT 105), Tübingen 1998, 174–189; L. Oberlinner, Todes-
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Viele anzeigt, deutet er diesen Tod im Horizont von Jes 52,13–53,12 und identifiziert sich mit dem deuterojesajanischen Gottesknecht, der als Gerechter stellvertretend für die Vielen, d.h. für ganz Israel stirbt und so ihre Schuld tilgt und ihnen das Heil eröffnet.33 „Theologisch ließ sich mit einer derartigen Interpretation sicherstellen, daß selbst die öffentliche Ablehnung Jesu die Wirksamkeit des von ihm proklamierten Heilshandelns Gottes nicht in Frage stellte. Sogar in der Ablehnung blieb Gottes Handeln wirkmächtig, indem es den Tod des eschatologischen Boten zum Akt der Sühne werden ließ. Unter dieser Voraussetzung stellt der Sühnetod keine zusätzliche Heilsbedingung dar. Er erscheint vielmehr als Konsequenz jenes eschatologischen Heilshandelns an Israel, das Jesus mit der Verkündigung der Gottesherrschaft proklamiert hat.“34 Nach Ostern erfährt freilich die in der deuterojesajanischen und jesuanischen Tradition auf Israel zentrierte Sühneaussage eine universale Ausweitung. Dies dürfte auf die hellenistischen Judenchristen zurückzuführen sein, die nach ihrer Vertreibung aus Jerusalem schon bald in Antiochia Heidenmission zu betreiben begannen und die mitgebrachten Traditionen entsprechend universal interpretieren mußten. Dazu gehören auch die Sterbens- und Dahingabeformeln, die Paulus wohl in der antiochenischen Gemeinde kennengelernt hat (vgl. 1Kor 15,3!). Der langjährigen Anbindung an diese Gemeinde verdankt Paulus offenbar auch die Kenntnis der Tradition, die er Röm 3,25f* zitiert:35 „Den (= Christus Jesus) Gott eingesetzt hat als Sühneort (ἱλαστήριον) durch Glauben36 in seinem Blut zum
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erwartung und Todesgewißheit Jesu. Zum Problem einer historischen Begründung (SBB 10), Stuttgart 1980; H. Patsch, Abendmahl und historischer Jesus (CThM Reihe A, Bd. 1), Stuttgart 1972. Zum Verständnis der Sühnekonzeption in Jes 53 vgl. B. Janowski, Er trug unsere Sünden. Jes 53 und die Dramatik der Stellvertretung in: ders., P. Stuhlmacher (Hg.), Der leidende Gottesknecht. Jes 53 und seine Wirkungsgeschichte (FAT 14), Tübingen 1996, 27–48; ders., Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff (SBS 165), Stuttgart 1997, 67–96. Merklein, Sühnegedanke 64. Vgl. Merklein, Tod Jesu 185. „Durch Glauben“ ist ebenso paulinisches Interpretament der vorgegebenen Tradition wie V. 26b: „zum Erweis seiner Gerechtigkeit im jetzigen Kairos, auf daß er gerecht ist und gerecht macht den aus Glauben an Jesus (= den, der an Jesus glaubt).“ Vgl. dazu U. Wilckens, Römerbrief I, 183f.193f; Stuhlmacher, Exegese 319; ders., Der Brief an die Römer (NTD 6), Göttingen 1989, 55; Merklein Sühnegedanke 65.68; B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und zur Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 1982, 350; W. Kraus, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe. Eine Untersuchung zum Umfeld der Sühnevorstellung in Römer 3,25–26a (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991, 10–20; Gaukesbrink, Sühnetradition 230. Der Skopus der paulinischen Bearbeitung läßt sich mit Merklein, Sühnegedanke 68 wie folgt skizzieren: „Zumindest sprachlich war die traditionelle Formel retrospektiv orientiert. Es ging ihr um ‚die Vergebung der zuvor geschehenen Sünden‘. Soll damit zum Ausdruck gebracht sein, daß die am Kreuz erwiesene Gerechtigkeit Gottes nur ein einmaliger, die Vergangenheit in Ordnung bringender Akt gewesen ist? Dem sola gratia entspräche dann – wie in Qumran – ein erneutes sola lege. Dieses mögliche (Miß-)Verständnis wird von Paulus durch den Kontext, insbesondere durch den Zusatz in V. 26 ausgeschlossen. Die am Kreuz ein für allemal statuierte Gerechtigkeit Gottes qualifiziert alle noch ausstehende Zeit als eschatologische ‚Jetzt-Zeit‘. Der Gerechtigkeit Gottes entspricht daher nicht nur jetzt,
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Erweis seiner Gerechtigkeit um der Vergebung der zuvor geschehenen Sünden willen in der Zeit der Geduld Gottes.“ Der traditionsgeschichtliche Bezug der Sühneaussage ist hier nun nicht das stellvertretende Leiden des Gottesknechtes (Jes 53), sondern der alttestamentliche Sühnekult, konkret das in Lev 16, 11–16 geschilderte Sündopferritual am Jom Kippur. Dieses Ritual, näherhin der Blutapplikationsritus am Ort der Gegenwart Gottes (MT: תרפּ ;כּLXX: ἱλαστήριον)37 mit dem Blut des Sündopfers,38 fungiert nun in Röm 3,25f* als Typos, der durch den am Kreuz sterbenden Christus als seinem Antitypos eschatologisch überboten und aufgehoben ist.39 In dieser kulttypologischen Deutung des Todes Christi spiegelt sich also deutlich die tempelkritische Haltung der hellenistischen Judenchristen wider, eine Folge des im Licht des Ostergeschehens erwachsenen Bewußtseins, daß allein dem Kreuzestod Jesu Christi soteriologische Relevanz zukommt. Aus anthropologischer Perspektive lautet die implizite Konsequenz aus Röm 3,25f*, die Paulus in V. 26b dann auch ausdrücklich ausspricht, daß Gott den durch das Kreuz als Sünder erwiesenen Menschen gerecht macht, sofern dieser sich im Glauben an Jesus der rettenden Kraft des Kreuzes öffnet. Paulus greift nun die kulttypologische Deutung des Todes Jesu nicht nur in Röm 3,25f* auf, sondern entwickelt sie an anderer Stelle eigenständig weiter bzw. akzentuiert sie neu, und zwar in einer Weise, die gerade auch für seine Anthropologie aufschlußreich ist. Schlüsselaussagen stellen hier 2Kor 5,14f und vor allem 2Kor 5,21dar.40 Sie gehören zu dem Abschnitt des Briefes, in dem das Werben des Paulus um eine Versöhnung mit der Gemeinde seinen Höhepunkt erreicht (5,11–21),41
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sondern schon immer und für alle Zukunft der Glaube. Nur durch Glauben (und nicht aus Werken des Gesetzes) läßt sich der im gekreuzigten Christus aufgerichtete eschatologische Sühneort erreichen.“ Vgl. Janowski, Sühne, 347: „Die תרפּ כּist eben kein ‚Deckel‘ für die Lade, sondern – jenseits vordergründiger Dinglichkeit – der in die Form einer ‚reinen Ebene‘ gefaßte Ort der Gegenwart Gottes in Israel.“ Vgl. auch H. Gese, Die Sühne, in: ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, München 1977, 85–106, hier 103. Vgl. Janowski, Sühne 360f unter Bezugnahme auf Lev 17,11: „Mit der göttlichen Gabe des für die Entsühnung Israels, seiner/s kultischen Repräsentanten und des einzelnen bestimmten Blutes wird das im Blut enthaltene Leben die Basis des kultischen Sühnegeschehens. Erst diese Gabe des im Blut enthaltenen Lebens ermöglicht die im stellvertretenden Tod des Opfertieres zeichenhaft-real sich vollziehende Auslösung des verwirkten menschlichen Lebens, und d.h.: die Entsühnung. […] Der Mensch (Laie/Priester) kann den Sühneritus vollziehen, weil Gott ihm dafür das tierische Opferblut als Sühnemittel gegeben hat. So ist der Mensch noch – und gerade – im Akt des Gebens (d.h. im Vollzug der Schlachtung und Blutritus) ein Beschenkter, weil der Empfänger der göttlichen Vor-Gabe des Sühnemittels Blut.“ Vgl. Gese, Sühne 98f; 102–104. Vgl. Merklein, Sühnegedanke 66: „Im Antitypos ist das, worauf der Typos verwies, vollendet. Der Tod Christi ist das endgültige Sühnegeschehen und insofern die objektive Voraussetzung zur Vergebung aller zuvor geschehenen Sünden.“ Vgl. dazu besonders Hofius Sühne 45–48; Merklein, Sühnegedanke 70–78. Nur in diesem Abschnitt bringt Paulus explizit, aber auch konzentriert das Thema „Versöhnung“ zur Sprache (V. 18–20).
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und stehen damit im Zentrum der paulinischen Argumentation und bilden deren christologisch-soteriologische und anthropologische Grundlage. Ich gehe dabei davon aus, daß 2Kor 1–9 als ursprüngliche Briefeinheit zu bewerten ist, von dem sich 2Kor 10–13 als zeitlich etwas späteres und zugleich situativ verschiedenes Schreiben abgrenzt.42 Hintergrund des in 2Kor 1–9 thematisierten Konflikts zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde ist damit (noch) nicht die Infragestellung seines Apostelanspruchs, mit der die Gemeinde durch judaisierende Wandermissionare konfrontiert wurde (2Kor 10–13). Vielmehr dürfte er innergemeindlich bedingt sein, sich jedoch nicht an Glaubensfragen (vgl. 1,24b), sondern an der Kollektenaktion für Jerusalem entzündet haben. So mündet der Brief nicht nur in den Kapiteln 8f in eine intensive Werbung für diese Kollekte. Zudem ziehen sich auch die Beteuerungen des Paulus hinsichtlich seiner Integrität und Vertrauenswürdigkeit wie ein roter Faden durch das Schreiben hindurch (1,12; 2,17; 4,2; 6,8; 7,2). So ging der Streit offenbar recht profan um den Verdacht der Veruntreuung materieller Güter, der wohl von einem Gemeindemitglied geäußert worden war (2,5). Jedenfalls trifft Paulus Vorsorge, daß bei der Überstellung des Kollektenertrags nach Jerusalem keine Situation entstehen kann, in der er (erneut) verdächtigt wird (8,18–21). Inzwischen hat sich die Situation in Korinth entschärft. Titus hat positive Signale aus der Gemeinde mitgebracht (7,6–13; vgl. 2,6). So verfaßt Paulus 2Kor 1–9, um seinerseits zu erkennen zu geben, daß er zur Versöhnung mit der Gemeinde bereit ist und sich nichts sehnlicher wünscht als die Wiederherstellung ungetrübter Gemeinschaft (6,11–13; 7,2–4).
Explizit spricht Paulus nun das Thema Versöhnung in 5,11–21 an. Die sich an die Überleitung (V. 11) anschließende Argumentation weist eine Zweiteilung auf. In den V. 12–17 legt Paulus zunächst als Maßstab seines Handelns die sich im Sühnetod erweisende Liebe Christi offen. In den V. 18–21 verweist er auf das versöhnende Handeln Gottes als Grundlage seines eigenen Versöhnungsdienstes und des Appells an die Versöhnungsbereitschaft der Korinther. Im Mittelpunkt des ersten Abschnitts steht V. 14: „Einer ist für alle gestorben, folglich sind alle gestorben.“ Mit der Aussage „einer ist für alle gestorben“ (V. 14a) bleibt Paulus zunächst noch ganz der traditionellen Sprache der Sterbensformeln verhaftet, die den Tod Jesu als stellvertretenden Tod des leidenden Gottesknechtes im Licht von Jes 53 deuten (s.o.). Doch seine Folgerung (V. 14b) ist mit diesem Deutemuster nicht zu erklären. Denn der stellvertretende Tod des Gottesknechtes bewahrt ja gerade die vor dem Tod, die ihn eigentlich verdient hätten. Wieso schließt Paulus also aus dem Tod Jesu auf den Tod aller? Eine Erklärung 42
Mit H.-M. Wünsch, Der paulinische Brief 2Kor 1–9 als kommunikative Handlung. Eine rhetorischliteraturwissenschaftliche Untersuchung, Münster 1996, bes. 53–127; F.F. Bruce, 1 and 2 Corinthians (New Century Bible Commentary), Grand Rapids, London 1980 (Softback edition), 164–172. Im Unterschied dazu gehen C. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 8), Berlin 1989, 2 sowie U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 3. neubearb. Aufl. 1999, 92–100 davon aus, daß 2Kor 1–9 und 2Kor 10–13 nie als eigenständige Schreiben existiert haben, daß aber 2Kor 10–13 mit einem gewissen zeitlichen Abstand und aufgrund einer inzwischen veränderten Situation von Paulus diktiert und dann noch vor Absendung von 2Kor 1–9 diesem Brief angefügt wurde. H.-J. Klauck, 2. Korintherbrief (NEB 8), Würzburg 1986, 9 sieht ebenfalls zwischen Kapitel 9 und 10 eine Zäsur gegeben, identifiziert aber 2Kor 10–13 mit dem Tränenbrief (vgl. 2Kor 2,14) und ordnet ihn so zeitlich dem Versöhnungsbrief 2Kor 1–9 vor.
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bietet sich an, sofern man beachtet, daß Paulus die traditionelle Sterbensformel in 2Kor 5,14 einbindet in die ihm bekannte kulttypologische Deutung des Todes Jesu. Doch verschiebt er die Akzente gegenüber der traditionellen Vorgabe etwas. Fungiert Christus nach Röm 3,25f* als Antitypos zur תרפּ( כּLev 16,11–16), ist er also der eschatologische Ort der Gegenwart Gottes, an dem dem sündigen Menschen Sühne gewährt wird, so nimmt er hier Stelle und Funktion des Sündopfertieres ein. Beim Sündopferritual vollzieht sich nämlich kultisch im Tod des Opfertieres der Tod des Sünders selbst, der sich zuvor durch Handaufstemmung mit dem Opfertier identifiziert hat (vgl. Lev 4,4.15.24.29).43 Dabei gilt es freilich wieder, die typologische Denkfigur und damit den unaufhebbaren Unterschied zwischen Sündopferritual (Typos) und Kreuzesgeschehen (Antitypos) zu beachten. „Während ersteres ein restitutiver Ritus ist, begründet letzteres eschatologische Neuschöpfung. Der Grund dafür ist, daß nicht ein austauschbares Tier, sondern Christus der Träger der symbolisch hergestellten Wirklichkeit ist.“44 Das Verhältnis zwischen Sündopferritual und Kreuzesgeschehen lässt sich somit erneut45 zutreffend als eschatologische Überbietung bestimmen. Vor dem Hintergrund einer kulttypologischen Deutung des Todes Jesu in Analogie zum Sündopferritual wird die Aussage 2Kor 5,14 in sich stimmig. Denn stirbt Jesus als Sündopfer für die Menschen, so sterben diese damit selbst und zwar qua Sünder. So wird ihnen im Tod Christi der Zugang zu neuem, eschatologisch gültigem Leben eröffnet. Den von der Analogie zum Sündopfer her notwendigen Akt der Identifizierung der Sünder mit Christus läßt Paulus hier unerwähnt, setzt ihn aber wohl implizit als in der Taufe geschehen voraus.46 Denn in V. 17 bildet das „In-Christus-Sein“ die Bedingung für die Existenz des Menschen als „neue Schöpfung“ (καινὴ κτίσις). Damit wird die prinzipiell universal ausgerichtete
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Gese, Sühne 95–97; Janowski, Sühne 199–221, bes. 219–221; 359. Merklein, Sühnegedanke 78. Vgl. o. zum Verhältnis zwischen dem Blutapplikationsritus an der תרפּ( כּLev 16) und dem Kreuzesgeschehen (Röm 3,25f*). Es trifft m.E. den Sachverhalt nicht ganz, wenn Hofius, Sühne 48 als eine Differenz zwischen alttestamentlichem Sühnekult und paulinischer Sühnevorstellung hervorhebt: „Der alttestamentliche Sühnekult kennt (…) eine Mitbeteiligung des Menschen an der von Gott eingesetzten und ermöglichten Sühnehandlung. Der Sühne suchende Mensch bringt sein Opfertier dar und identifiziert sich mit ihm durch den Gestus der Handaufstemmung; und der Priester vollzieht dann als Gottes Beauftragter den sühnenden Blutritus. – Im Sühnegeschehen des Kreuzestodes Jesu ist Gott allein der Handelnde. Er selbst gibt seinen eigenen Sohn in den Tod dahin und identifiziert den sündigen Menschen mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus. Der der Sühne und Versöhnung bedürftige Mensch ist in diesem Geschehen gänzlich passiv“ (vgl. ebd. 46). Alttestamentlich wie paulinisch wird die Möglichkeit der Sühne von Gott dem Menschen eröffnet und geschenkt, schafft Gott gleichsam die objektive Grundlage, die außerhalb der menschlichen Möglichkeiten liegt. Alttestamentlich wie paulinisch korrespondiert dem aber auch die Notwendigkeit der subjektiven Aneignung des Sühnegeschehens seitens des Menschen (durch den Ritus der Handaufstemmung bzw. durch den Ritus der Taufe), nicht im Sinne einer Leistung, sondern im Sinne einer Einwilligung und eines Sich-Öffnens für die göttliche Gabe der Sühne.
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Bestimmung des Todes Christi „für alle“ in ihrer Wirkung faktisch auf die Gemeinde derer „in Christus“ eingegrenzt.47
In V. 21 greift Paulus die kulttypologische Deutung des Todes Jesu in Analogie zum Sündopferritual (Lev 4) aus V. 14 auf und spitzt sie unter dem Aspekt eines Identitätswechsels zu. Subjekt der Handlung in V. 21a ist Gott, Objekt ist Jesus. Von ihm wird gesagt, daß Gott ihn, obwohl er keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht hat. „Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß Gott den Sündlosen für uns sowohl zum Sündopfer als auch zum Sünder (abstractum pro concreto) gemacht hat, d.h. ihm die Identität des homo peccator zugewiesen hat. Beides ist für den Vorstellungsbereich des Sündopfers ein und dasselbe. Indem Christus die Identität des Sünders (= unsere Identität) übernimmt und (unseren) Tod stirbt, wird er zum Sündopfer für uns bzw. zu dessen antitypischer, eschatologischer Überbietung.“48 Nun ist Kennzeichen jeder Typologie bzw. Analogie die Ähnlichkeit bei gleichzeitiger Unähnlichkeit. Auf eine grundlegende Unähnlichkeit zwischen Sündopferritual und Kreuzesgeschehen wurde bereits im Zusammenhang mit 2Kor 5,14 verwiesen: Als Sündopfer fungiert nicht mehr ein austauschbares Tier, sondern Christus selbst, so daß sein Tod sich in seiner sühnewirkenden Kraft nicht einreiht in die Vielzahl je neu zu vollziehender Opfer. Vielmehr besitzt sein Sühnetod eschatologische Gültigkeit. Eine weitere Unähnlichkeit legt 2Kor 5,21 offen. Sie besteht darin, daß das Opfertier, das anstelle des Sünders stirbt, nachdem dieser sich zuvor durch den Gestus der Handaufstemmung mit ihm identifiziert hat, nach seiner Tötung keine Bedeutung mehr besitzt. Christus dagegen nimmt nicht nur in seinem Tod die Identität des sündigen Menschen an. Zugleich zeigt Gott in ihm, der die Sünde nicht kannte, dem Sünder den Weg, eine neue Identität zu gewinnen, nämlich die Identität des Gerechten, also seine Identität. „Weil es Christus ist, der ‚für uns‘ WIR (homo peccator) geworden ist, eröffnet dieses ‚für uns‘ auch die Möglichkeit, daß wir ER (iustus Dei) werden.“49 Gerade die kulttypologische Deutung des Kreuzestodes Christi in spezifisch paulinischer Zuspitzung, wie sie 2Kor 5,14.21 begegnet, hebt also auf den grundlegenden Identitäts- bzw. Existenzwechsel des Menschen ab, der „in Christus“, d.h. in47
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Besonders deutlich wird m.E. in Röm 6,3–11, daß zwischen dem Identifikationsakt des Sünders mit dem in den Tod gehenden Opfertier beim Sündopferritual und dem Identifikationsakt des Täuflings mit dem in den Tod gehenden Christus bei der Taufe eine Strukturanalogie besteht. So heißt auf Christus getauft zu werden, auf seinen Tod getauft zu werden (V. 3). Die Getauften sind verbunden mit der Gleichgestalt von Christi Tod (V. 5a); ihr alter Mensch ist mitgekreuzigt (V. 6), kurzum: die Getauften sind mit Christus gestorben (V. 8a). Insofern aber der sündige Mensch sich in der Taufe mit Christus identifiziert und so mit ihm stirbt, erwächst ihm von Gott her die Zusage eines neuen, eschatologisch gültigen Lebens in Entsprechung zur Auferweckung Jesu Christi (V. 4b.5b.8b). Zugleich muß das Mit-ChristusGestorbensein sich im Handeln bewähren als ein Tot-Sein für die Sünde (V. 11; vgl. V. 6b.7). Merklein, Sühnegedanke 75. Ebd. 78.
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dem er sich mit dem in den Tod gehenden Christus glaubend identifiziert, vom Sünder zum Gerechten wird oder, wie Paulus auch sagen kann, der „in Christus“ neue Schöpfung ist (2Kor 5,17). Der Existenzwechsel ist damit eschatologisch qualifiziert und endgültig, will freilich aber, wie der Argumentationskontext zeigt, im Handeln eingeholt werden. Wie in 2Kor 5,14.21 bemüht Paulus auch in Gal 3,13f die kulttypologische Deutung des Todes Jesu, und zwar in der Zuspitzung auf den Identitätsgedanken.50 Wie er diese Deutung in 2Kor situationsbedingt unter das Leitmotiv der Versöhnung stellt, so paßt er sie auch in Gal der speziellen Problemlage an. Die Galater halten die Annahme der Glaubensbotschaft vom gekreuzigten Christus soteriologisch nicht mehr für hinreichend und wollen sie deshalb durch Beschneidung und Toraobservanz ergänzen. In dieser Situation arbeitet Paulus nun den unvereinbaren Gegensatz zwischen Gesetz und Glauben in aller Schärfe heraus (2,14–21; 3,1–12), der sich gerade aus der Reflexion des Kreuzestodes Jesu im Licht der Tora ergibt. Weil die Tora den Gekreuzigten als Verfluchten ausweist (V. 13b), erschließt sich für Paulus in kulttypologischer Zuspitzung: Christus hat für uns die Identität des Verfluchten angenommen, die die Tora den Nichttätern des Gesetzes zuweist (V. 10), um uns eine Existenz unter dem Segen Abrahams und gemäß der Verheißung des Geistes (V. 14), d.h. frei vom Fluch des Gesetzes, zu ermöglichen.51 Die beabsichtigte Unterstellung der Galater unter die Tora gibt sich daher aus paulinischer Perspektive als Annullierung des ihnen durch den Kreuzestod Christi eröffneten Existenzwechsels zu erkennen, den sie mit der Annahme des Evangeliums vom Gekreuzigten vollzogen haben (3,1–5).
Die paulinische Reflexion des Kreuzesgeschehens impliziert also im Blick auf die Anthropologie eine gewisse Ambivalenz. Zum einen erweist sich für Paulus im Kreuz Christi der Mensch faktisch immer schon als Sünder (bzw. als Nichttäter des Gesetzes). Zum anderen legt gerade und ausschließlich das Kreuz die Grundlage für einen eschatologisch-endgültigen Identitäts- bzw. Existenzwechsel des Menschen vom Sünder zum Gerechten.
3. Die eschatologische Neukonstituierung der Gottebenbildlichkeit des Menschen als Christusebenbildlichkeit Die soteriologisch-christologische Fundierung der Anthropologie bei Paulus impliziert, daß er sie nicht von der Protologie her entwickelt, sondern von der Eschato50 51
Vgl. Merklein, Bedeutung 28–31 und ders., Sühnegedanke 70–78. Vgl. die Struktur- und Sachparallele zwischen 2Kor 5,21a und Gal 3,13a (christologische Aussage: Übernahme der Identität des Sünders/Sündopfers bzw. des Verfluchten) sowie zwischen 2Kor 5,21b und Gal 3,14 (anthropologische Zielsetzung): 2Kor 5,21a: τὸν μὴ γνόντα ἁμαρτίαν ὑπέρ ἡμῶν ἁμαρτίαν ἐποίησεν Gal 3,13a:Χριστὸς ἡμᾶς ἐξηγόρασεν ἐκ τῆς κατάρας τοῦ νόμου γενόμενος ὑρὲρ ἡμῶν κατάρα 2Kor 5,21b: ἵνα ἡμεῖς γενώμεα δικαιοσύνη Θεοῦ ἐν αὐτῷ Gal 3,14: ἵνα εἰς τὰ ἔνη ἡ εὐλογία τοῦ ᾿Αβραὰμ γένηται ἐν Χριστῷ ᾿Ιησοῦ, ἵνα τὴν ἐπαγγελίαν τοῦ πνεύματος λάβωμεν διὰ τῆς πίστεως.
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logie. Entsprechend spielt die Frage der Gottebenbildlichkeit des Menschen unter schöpfungstheologischer Perspektive eine allenfalls marginale Rolle.52 So findet sich in den paulinischen Briefen kaum ein Reflex auf die Schöpfungserzählungen Gen 1f bzw. auf das Motiv der Gottebenbildlichkeit Gen 1,26f. Eine Ausnahme bildet nur 1Kor 11,7– 12 im Kontext von 1Kor 11,2–16. In V. 7 thematisiert Paulus die Gottebenbildlichkeit des Menschen und differenziert dabei zwischen der unmittelbaren Gottebenbildlichkeit des Mannes und der mittelbaren Gottebenbildlichkeit der Frau. In den V. 8–12 begründet er die Nachordnung der Frau hinter den Mann mit der Zweiterschaffung der Frau. Damit zeigt sich Paulus hier ganz abhängig von der zeitgenössischen frühjüdischen Exegese, die Gen 1,26f von Gen 2,4ff her liest und dezidiert patriarchalisch interpretiert. Allerdings will beachtet sein, daß die paulinische Argumentation in 1Kor 11,7–12 nicht im Kontext einer anthropologischen Grundsatzerklärung angesiedelt ist.53 Auch leitet Paulus aus der schöpfungsbedingten Nachordnung der Frau hinter den Mann keine funktionale Differenzierung zwischen den Geschlechtern im Raum der Gemeinde ab. Die Argumentation mit Gen 1f in V. 7–12 ist vielmehr ganz pragmatisch orientiert, denn es geht Paulus konkret um die Wahrung der Geschlechtsrollensymbolik in der korinthischen Gemeinde, vor allem bei der Feier ihrer Gottesdienste. Die Geschlechtsrollensymbolik nämlich soll die Hinordnung der Geschlechter aufeinander in ihrer schöpfungsmäßigen Differenzierung sinnenfällig dokumentieren, insofern diese Verwiesenheit in Unterschiedenheit für Paulus auch im Herrn (V. 11) gilt, solange die Schöpfungswirklichkeit noch nicht im Eschaton aufgehoben ist.54
Das Motiv der in der Schöpfung grundgelegten Gottebenbildlichkeit des Menschen erlangt also in der paulinischen Anthropologie keine nennenswerte Bedeutung. Dies dürfte nicht zuletzt darin begründet sein, daß Paulus das Sünder-Sein des Menschen, welches sich ihm vom eschatologischen Christusgeschehen her erschließt, gleichsam auf den Anfang der Schöpfung zurückführt. So sieht er bereits in Adam den Einbruch der Sünde und damit des Todes in die Welt gegeben (Röm 5,12; vgl. 1Kor 15,21f). Der dadurch konstituierte Unheilszusammenhang umschließt alle Menschen. Unter protologischem Vorzeichen dominiert für Paulus also die Sünde, die durch das Sündigen jedes einzelnen Menschen (Röm 3,10– 12.23; 5,12fin) eine geradezu übersummative Kraft erhält, der sich niemand entziehen kann (Röm 3,9; 7,14–25). Die Durchbrechung dieses Unheilszusammenhangs erfolgt erst eschatologisch durch Christus. Durch seinen Tod wird dem Menschen die Möglichkeit des Identitätswechsels vom Sünder zum Gerechten eröffnet. Damit 52
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Dies gilt im übrigen für den neutestamentlichen Befund insgesamt, vgl. J. Eckert, Christus als „Bild Gottes“ und die Gottebenbildlichkeit des Menschen in der paulinischen Theologie, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. von H. Frankemölle, K. Kertelge, Freiburg 1989, 337–357, hier: 337f. 343. Zu den Differenzen zwischen Altem und Neuem Testament in der Konzeption der Gottebenbildlichkeit vgl. S. Vollenweider, Der Menschgewordene als Ebenbild Gottes. Zum frühchristlichen Verständnis der Imago Dei, in: H.-P. Mathys (Hg.), Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen (BThSt 33), Neukirchen-Vluyn 1998, 123–146, hier: 125f. Zu Recht weisen U. Luz, Das Gottesbild in Christus und im Menschen im Neuen Testament, Conc (D) 5 (1969), 763–768, hier: 763 und Vollenweider, Der Menschgewordene 128 darauf hin, daß die Passage aus 1Kor 11 innerhalb der paulinischen Anthropologie isoliert dasteht. Vgl. dazu M. Gielen, Beten (s. II.1.).
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stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wie für Paulus unter eschatologischem Vorzeichen der Gedanke der Gottebenbildlichkeit wieder erschwinglich wird. Innerhalb der christologisch-soteriologischen Zentralpassage des Römerbriefs (3,21–26) findet sich in V. 23 die Aussage: „Alle nämlich haben gesündigt und sind der Herrlichkeit Gottes verlustig gegangen“ (πάντες γὰρ ἥμαρτον καὶ ὑστεροῦνται τῆς δόξης τοῦ Θεοῦ). Paulus verbindet also hier die Ratifizierung des durch Adam konstituierten Unheilszusammenhangs (Röm 5,12) durch das sündige Tun aller Menschen mit dem Verlust der ihnen ursprünglich zukommenden δόξα Gottes. In Ps 8,6f (LXX) nun wird umgekehrt die Verleihung von δόξα (i.S. des Widerscheins der göttlichen Herrlichkeit) und τιμή (i.S. der daraus erwachsenden Würde) an den Menschen thematisiert, und zwar zusammen mit der Übertragung der Aufgabe, als Sachwalter Gottes gegenüber der Schöpfung zu fungieren. Die Verbindung zu Gen 1,26f ist offensichtlich, nur tritt dort an die Stelle von δόξα die Kennzeichnung des Menschen als Bild (εἰκών) Gottes. In der Diktion der LXX, mit der Paulus eng vertraut ist, kann also δόξα ebenso wie εἰκών die Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Ausdruck bringen.55 Damit dürfte aber auch die Aussage in Röm 3,23 auf den Verlust der Gottebenbildlichkeit infolge des Sündigens zielen. Interessant ist nun, daß Paulus mit dem Motiv des Verlustes der Herrlichkeit Gottes infolge des Sündenfalls in einem breiteren frühjüdischen Traditionsstrom steht.56 In ApkMos XX,1f klagt Eva:57 „(1) Und in derselben Stunde wurden meine Augen aufgetan, und ich erkannte, daß ich entblößt war von der Gerechtigkeit, mit der ich bekleidet war. (2) Und ich weinte und sprach: Warum habe ich dies getan, daß ich von meiner Herrlichkeit entfremdet wurde?“ Die dem Menschen ursprünglich eignende, aber durch den Sündenfall verlorene Herrlichkeit (= Gottebenbildlichkeit) wird hier also inhaltlich bestimmt als Gerechtigkeit. Ebendies entspricht der semantischen Struktur von Röm 3,21–26.58 So tritt der Aussage vom Verlust der Herrlichkeit Gottes V. 23b in den V. 22.24 (vgl. 55
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Bezeichnenderweise greift Paulus in 1Kor 11,7 auch beide Begriffe im protologischen Kontext auf, vgl. Gielen, Beten (s. II.1.), 177. Zur semantischen Nähe von δόξα und εἰκών im Frühjudentum und bei Paulus vgl. auch J. Jervell, Imago Dei. Gen 1,26f. im Spätjudentum, in der Gnosis und in den paulinischen Briefen, Göttingen 1960, 180.280; Vollenweider, Der Menschgewordene 130f. Vgl. U. Wilckens, Römerbrief I, 188 und Anm. 509; Stuhlmacher, Römerbrief 55. Übersetzung vgl. O. Merk/M. Meiser, Das Leben Adams und Evas (JSHRZ II,5), Gütersloh 1998, 830f. Zur Verbindung von δόξα und δικαιοσύνη vgl. auch Jervell, Imago 180–183. Verwiesen sei auch darauf, daß Merk/Meiser, Leben 768f ApkMos „als eindeutig jüdisch-hellenistisches Zeugnis“ bewerten und ihre Entstehung „etwa z.Zt. der Abfassung der paulinischen Briefe oder relativ kurz davor“ ansetzen. Damit wäre also in etwa zeitgleich und dennoch unabhängig voneinander in ApkMos 20 und Röm 3 eine Interpretation der ursprünglichen δόξα des Menschen als δικαιοσύνη belegt.
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V. 21.25.26) als Opposition das Geschenk (V. 24: δωρεὰν τῇ αὐτοῦ χάριτι) der Gerechtigkeit Gottes gegenüber, das den Menschen zuteil wird, die sich glaubend Jesus Christus (V. 22.25.26), genauer: seinem sühneschaffenden Tod (V. 24.25) öffnen. Wenngleich Paulus das Motiv der Gottebenbildlichkeit im Kontext von Röm 3,21–26 nicht explizit in positiver Formulierung semantisch realisiert, so dürfte doch vom Textduktus her deutlich sein, daß mit der Gerechtmachung durch den Glauben an Jesus Christus für den Menschen die Wiedererlangung der verlorengegangenen Herrlichkeit Gottes und damit der Gottebenbildlichkeit verbunden ist. Blickt V. 23 auf die Situation des Menschen ante Christum zurück, so fassen die V. 21f.24–26 die durch das Christusgeschehen eschatologisch qualifizierte Jetzt-Zeit (V. 21: νυνί; V. 26: ἐν τῷ νῦν καιρῷ) ins Auge. Dies hat auch Konsequenzen für die Qualität der wiedergewonnenen Gottebenbildlichkeit der Glaubenden. Es geht nicht um eine bloße Restituierung des protologischen Ausgangspunktes, sondern um eine eschatologische Neukonstituierung der Gottebenbildlichkeit.59 Wie bereits angemerkt, befinden wir uns mit Röm 3,21–26 im christologischsoteriologischen Zentrum des Briefes. Um so mehr Aufmerksamkeit verdient es, daß Paulus hier, wenngleich verhalten und nur in einer semantisch negativ realisierten Aussage (Verlust der ursprünglichen δόξα τοῦ Θεοῦ V. 23), das Motiv der Gottebenbildlichkeit des Menschen einbringt. Insofern die dazu konstituierte Opposition der eschatologischen Gerechtmachung des Menschen durch den Glauben, die im Kontext eine eschatologische Neukonstituierung der Gottebenbildlichkeit impliziert, christologisch fundiert ist, stellt sich die Frage, ob Paulus an anderer Stelle das Motiv der Imago Dei unter christologischem Vorzeichen bemüht. Als aufschlußreich erweist sich unter dieser Fragestellung 2Kor 3,18 in Verbindung mit 2Kor 4,4.6. 2Kor 3,18 schließt einen Midrasch zu Ex 34,29–35 ab, der in 3,7 beginnt und dessen Zentralbegriff δόξα (V. 7 [2x].8.9 [2x].10 [1x substantivisch, 2x verbal].11 [2x].18 [3x]) ist.60 Zudem findet sich in unmittelbarer Nähe zu δόξα in 3,18 wie in 4,4 εἰκών. 2Kor 3,18 lautet: Wir alle aber schauen wie in einem Spiegel bzw. spiegeln wider (κατοπτριζόμενοι)61 mit unverhülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn (δόξα κυρίου) und werden [so] in dasselbe Bild (τὴν αὐτὴν εἰκόνα) verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, gleichwie vom Geist des Herrn.
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Vgl. o. die Ausführungen zu 2Kor 5,14f.21. Auch hier geht es um einen eschatologisch qualifizierten Identitäts- bzw. Existenzwechsel vom Sünder zum Gerechten. Vgl. Klauck, 2. Korintherbrief 37. Zur Unverzichtbarkeit des Spiegelmotivs vgl. Wolff, 2. Korintherbrief 77.
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Damit wendet sich Paulus in diesem Schlußvers des Midrasch dezidiert der Gemeinde zu, wobei er sich selbst in die Aussage einbezieht (ἡμεῖς δὲ πάντες).62 Für die Wiedergabe des medialen Partizips κατοπτριζόμενοι finden sich die beiden Übersetzungsvarianten widerspiegeln und wie in einem Spiegel schauen. Obwohl die Bedeutung widerspiegeln ansonsten nur für das Aktiv κατοπτρίζω belegt ist, findet sich diese Interpretation zu 2Kor 3,18 schon in der alten Kirche, etwa bei Johannes Chrysostomus und Theodoret.63 D.h. diese Autoren mit muttersprachlichen Griechischkenntnissen haben offenbar keine Schwierigkeiten gehabt, eine eigentlich für die aktivische Verbform reservierte Bedeutung mit der medialen Verbform zu verbinden. Übersetzt man also κατοπτρίζομαι mit widerspiegeln, so ergibt sich ein deutlicher Rückbezug auf die V. 7.13: So, wie sich auf dem Angesicht des Mose nach seiner Begegnung mit Gott dessen δόξα widerspiegelte (vgl. Ex 34,29b), so spiegelt sich die Herrlichkeit des Herrn auf dem Angesicht der Glaubenden wider, deren Angesicht freilich im Unterschied zu dem des Mose unverhüllt bleibt.64 Allerdings impliziert diese Übersetzung eine gewisse Tautologie zum Hauptsatz, der dann als bloße semantische Variante zur Partizipialkonstruktion erscheint: Spiegeln die Glaubenden selbst die Herrlichkeit des Herrn, d.h. die Herrlichkeit Christi, wider,65 so besagt das nichts anderes, als daß sie Ebenbilder Christi sind. Ebenso besagt aber auch der Hauptsatz, daß sie in dasselbe Bild, nämlich in das Bild der δόξα κυρίου,66 verwandelt werden. Insofern aber das Verwandeltwerden noch durch den Zusatz von Herrlichkeit zu Herrlichkeit ergänzt wird,
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Die Auslassung von πάντες ist textkritisch quantitativ wie qualitativ (außer dem wichtigen Papyrus 46 nur eine Einzelhandschrift der Vulgata und Ps.Augustinus) schwach bezeugt. Daher ist am Gemeindebezug der Aussage von 2Kor 3,18 (nicht Paulus und andere Verkündiger, so richtig Wolff, 2. Korintherbrief 77 und Anm. 138) festzuhalten, vgl. F. Lang, Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen 1986, 275. J. Schröter, Der versöhnte Versöhner. Paulus als unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde nach 2Kor 2,14–7,4 (TANZ 10), Tübingen/Basel 1993 dagegen schränkt ebd. 118 und Anm. 1 unter Berufung auf Papyrus 46 die Aussage auf die Person des Paulus ein (im Widerspruch zu ebd. 122–123!). Wolff, 2. Korintherbrief 77, Klauck, 2. Korintherbrief 41 und Bruce, Corinthians 193 verstehen ἡμεῖς πάντες umfassend im Sinn von „alle Christen“. Dies ist gewiß grundsätzlich richtig, übersieht aber die pragmatische Zuspitzung der Aussage auf die konkrete Gemeinde von Korinth. Vgl. Wolff, 2. Korintherbrief 77 und Anm. 140; J. Kremer, Art. κατοπτρίζομαι, EWNT II (1981), 677f. Vgl. Kremer, ebd. Die Wendung δόξα κυρίου ist christologisch, nicht theologisch zu interpretieren (vgl. Wolff, 2. Korintherbrief 78; anders Lang, Korintherbriefe 276 und Klauck, 2. Korintherbrief 42). Dafür spricht die christologische Füllung des Wortes in den V. 16f (vgl. Klauck, ebd. 40f) ebenso wie die (semantische) Verbindung zu 4,4, wo ausdrücklich von der δόξα τοῦ Χριστοῦ gesprochen wird. Wird Christus dort aber in unmittelbarem Anschluß als εἰκὼν τοῦ Θεοῦ prädiziert, so wird noch einmal deutlich: Die Herrlichkeit Gottes ist eschatologisch nur über die Herrlichkeit Christi zugänglich. Vgl. Wolff, 2. Korintherbrief 78.
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kommt der Aspekt des Prozeßhaften, des noch Unabgeschlossenen hinzu.67 Angesichts dessen ergibt sich sogar eine gewisse Spannung zwischen der Partizipialkonstruktion, die die Christusebenbildlichkeit der Glaubenden in der Widerspiegelung der δόξα κυρίου bereits in vollem Umfang gegeben zu sehen scheint,68 und dem Hauptsatz, der gleichsam ein Hineinwachsen in die Christusebenbildlichkeit impliziert. Übersetzt man stattdessen κατοπτρίζομαι mit wie in einem Spiegel schauen, so tritt die Partizipialkonstruktion in einen engen Bezug zu V. 16. Wie Mose, wenn er dem Herrn im Bundeszelt begegnete, die Hülle von seinem Angesicht wegnahm (vgl. Ex 34,34f), so schauen auch die Glaubenden die δόξα κυρίου mit unverhülltem Angesicht, freilich nicht direkt, sondern wie in einem Spiegel. Wodurch aber wird die Funktion des Spiegels ausgeübt? Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, auf welche Weise Paulus in V. 16 das Zitat Ex 34,34 LXX abwandelt.69 Zunächst verzichtet er auf die Nennung des Mose als handelndes Subjekt und formuliert statt im Imperfekt präsentisch. Sodann tauscht er das lokal konnotierte Verb εἰσπορεύομαι gegen ἐπιστρέ:ω aus, ein Verb, das hier eine geistig-geistliche Bewegung bezeichnet und als Terminus technicus für die Bekehrung steht.70 Aufgrund dieser Eingriffe in den Wortlaut von Ex 34,34 LXX wird Mose also zum Typos, der vorausweist auf jeden, der sich in der eschatologisch qualifizierten Gegenwart zum Kyrios Christus hinwendet71 und die Begegnung mit ihm sucht. Diese Hinwendung erfolgt aber durch die Annahme des Evangeliums, das Paulus im Auftrag und als Diener Gottes verkündet (3,6; 4,1–3; vgl. etwa 1Kor 1,17; Gal 1,5f). Wie Mose Gott im Bundeszelt begegnete, so wird nun das Evangelium zum „Ort“ der Gottesbegegnung im Kyrios Christus, der das Bild Gottes ist (4,4). Als εἰκὼν τοῦ Θεοῦ ist Christus aber die göttliche δόξα zu eigen (4,6), die dem Evangelium sein strahlendes Licht verleiht (4,4). Das Evangelium wird also als lichtstrahlend charakterisiert, weil es die δόξα Christi zum Inhalt hat. Übertragen auf
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Vgl. Klauck, 2. Korintherbrief 42: „In der Gegenwart ist der Verwandlungsprozeß schon im Gange, aber im Ganzen noch unabgeschlossen. Er vollzieht sich stufenweise, von einem Grad der Herrlichkeit zum nächst höheren.“ Anders Wolff, 2. Korintherbrief 79, der ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν interpretiert als „das ständige Übergehen der Doxa des Kyrios auf die Glaubenden“. Diese Deutung erfaßt m.E. den Skopus der Textstelle nicht ganz zutreffend, insofern der Akzent primär auf der Verwandlung der Glaubenden, weniger auf der Relation zwischen Doxa des Herrn und Doxa der Glaubenden liegt. Dies widerspricht freilich der sonstigen Sicht des Paulus (vgl. Röm 8,18.29f; 1Kor 15,49; Phil 3,21). Ex 34,34 LXX lautet: ἡνίκα δ᾿ ἂν εἰσεπορεύετο Μωυσῆς ἔναντι κυρίου λαλεῖν αὐτῷ, περιῃρεῖτο τὸ κάλυμμα ἕως τοῦ ἐκπορεύεσ=αι. Vgl. dazu G. Bertram, Art. ἐπιστρέ?ω, ἐπιστρο?ή, ThWNT VII, 722–729, hier: 728. Ähnlich Klauck, 2. Korintherbrief 40, der freilich die prototypische Funktion des Mose auf „jeden in Israel“ eingrenzt. Dies scheint mir angesichts des Selbstverständnis des Paulus, zur Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden berufen zu sein (Gal 1,15f), zu eng gefaßt.
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die Metaphorik von 3,18 bedeutet dies: Im Evangelium72 sehen die Glaubenden die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel. Legt man diese Interpretation der Partizipialkonstruktion zugrunde, läßt sich ihr Verhältnis zum Hauptsatz als ein modales bestimmen: Indem bzw. dadurch, daß die Glaubenden im Evangelium die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel schauen, setzt ein geistgewirkter73 Transformationsprozeß ein, der sie von einer Herrlichkeitsstufe zur nächsten verwandelt in das Bild eben dieser Herrlichkeit des Herrn. Damit dürfte deutlich geworden sein: Paulus konzipiert in 2Kor 3f als eschatologisches Pendant zur Gottebenbildlichkeit der Menschen, die sie nach Röm 3,23 infolge ihres Sündigens verloren haben, die Christusebenbildlichkeit derer, die sich dem Herrn durch die Annahme des Evangeliums zugewendet haben (2Kor 3,16). In diesem Evangelium sehen sie die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel (2Kor 3,18). Zugespitzt auf den Zentralinhalt des paulinischen Evangeliums (1Kor 2,2; Gal 3,1) bedeutet dies, daß die δόξα κυρίου ihnen paradoxerweise im Gekreuzigten aufleuchtet.74 Es ist also gerade der Gekreuzigte, der ihnen nicht nur, wie gesehen (s.o. Punkt 2), den eschatologischen Existenzwechsel vom Sünder zum Gerechten eröffnet, sondern damit zugleich (und in eins fallend) auch die eschatologische Neukonstituierung der Gottebenbildlichkeit.75 Ebenso wie aber die Gerechtmachung des Menschen christologisch fundiert ist, ist auch die Wiedergewinnung der Gottebenbildlichkeit christologisch konzipiert. Denn insofern sich Gott im Heilshandeln in und an Jesus Christus in unüberbietbarer Weise geoffenbart hat, ist Jesus Christus das Bild Gottes schlechthin (2Kor 4,4.6). Zu Gottes Ebenbild werden daher die Glaubenden, indem sie alter Christus werden oder, anders ausgedrückt, indem WIR ER werden, weil und insofern ER für uns WIR geworden ist.76 In 2Kor 3,18 gibt Paulus zu erkennen, daß die Verwandlung der Glaubenden in die Christusebenbildlichkeit mit der Annahme des Evangeliums bereits begonnen hat. Allerdings deutet er zugleich an, daß der Prozeß dieser Verwandlung noch 72
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Den Bezug auf das Evangelium stellen auch her O. Hofius, Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, in: ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 1989, 75–120, hier: 115–117; H. Merklein, Christus als Bild Gottes im Neuen Testament, in: I. Baldermann u.a. (Hg.), Die Macht der Bilder (JBTh 13), Neukirchen-Vluyn 1998, 53–75, hier: 70. Zutreffend paraphrasiert Wolff, 2. Korintherbrief 78 3,18fin „so wie es sich ergibt, wenn der Herr durch den Geist an uns wirkt“. Vgl. 1Kor 2,8, wo vom κύριος τῆς δόξης gerade im Blick auf seinen Kreuzestod gesprochen wird. In diesem Zusammenhang dürfte kaum zufällig sein, daß Paulus in 2Kor 4,6 sein eigenes Berufungserlebnis – als Paradigma für die Bekehrung überhaupt – in Analogie zum Schöpfungshandeln Gottes darstellt! Vgl. dazu Dietzfelbinger, Berufung 62–64; Klauck, 2. Korintherbrief 44; Lang, Briefe 278f. Vgl. H. Merklein, „Nicht aus Werken des Gesetzes …“ Eine Auslegung von Gal 2,15–21, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT 105), Tübingen 1998, 303–315, hier: 311; ders., Sühnegedanke 78. Merklein kommt zu diesen prägnanten Formulierungen im Horizont von 2Kor 5,21.
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nicht abgeschlossen ist. Hier zeigt sich also – für Paulus typisch – eine Spannung zwischen dem eschatologischen Schon und Noch-Nicht.77 In 1Kor 15,49 legt er den Akzent nun genau auf die noch ausstehende, vollendete Christusebenbildlichkeit der Glaubenden (V. 49b: Futur!78). Innerhalb von 1Kor 15 schließt der Vers einen Gedankengang ab, der mit V. 35 beginnt und sich der Frage nach der Art des Auferstehungsleibes widmet. In den V. 36–41 führt Paulus zunächst Beispiele aus der Erfahrungswelt seiner Adressaten und damit aus der Schöpfungswirklichkeit an, um die daraus ersichtlich werdende Gesetzmäßigkeit ab V. 42 für die Beantwortung der Ausgangsfrage nach der Art des Auferstehungsleibes (V. 35) fruchtbar zu machen. Kennzeichen der V. 42–49 ist eine ausgeprägte Antithetik, wobei sich die Oppositionsbegriffe ausnahmslos unter die semantisch nicht explizit realisierte Hauptopposition Schöpfung vs eschatologische Neuschöpfung zusammenfassen lassen. Das Zentrum dieses kurzen Abschnitts bildet die Adam-Christus-Typologie (V. 45.47), deren konkrete Ausgestaltung hier in traditionsgeschichtlichem Bezug zur Anthropologie Philos von Alexandrien steht (vgl. vor allem Op. 134f; All. I, 31–42.53–55).79 Allerdings setzt Paulus sich von der philonischen Konzeption deutlich ab, indem er die Dimension des Pneumatischen nicht mit dem ersten Adam verbindet, sondern mit dem letzten Adam als dem ihn überbietenden Antitypos (V. 45).80 Hier zeigt sich erneut, daß er seine Christologie und Anthropologie konsequent von der Eschatologie her entwickelt: Der pneumatische, himmlische Mensch ist für Paulus also nicht der Mensch aus Gen 1,26f, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist und bei Philo dem aus Erde gebildeten Menschen aus Gen 2,7 gegenübergestellt ist.81 Paulus überschreitet vielmehr den protologischen Kontext, indem er den πρῶτος ἄν=ρωπος ᾿Αδάμ (Gen 2,7) als Repräsentanten der Schöpfung und den ἔσχατος ᾿Αδάμ Christus als Repräsentanten der eschatologischen Neuschöpfung einander gegenüberstellt. Damit tritt Christus zum einen in seiner Auferstehungsherrlichkeit und -leiblichkeit in den 77 78
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Vgl. Merklein, Bedeutung 54–60; ders., Sühnegedanke 79. Zur textkritischen Problematik der futurischen Verbform vgl. ausführlich W. Verburg, Endzeit und Entschlafene. Syntaktisch-sigmatische, semantische und pragmatische Analyse von 1Kor 15 (FzB 78), Würzburg 1996, 216–218. Vgl. G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und exegetische Untersuchung von 1Korinther 15 (FRLANT 138), Göttingen 1986, 79–189; Verburg, Endzeit 207–214. Mit der philonischen Anthropologie und einer daraus entwickelten spezifischen Weisheitschristologie waren die Mitglieder der korinthischen Gemeinde wohl über den Alexandriner Apollos in Kontakt gekommen. Hier dürfte die Keimzelle für die Parteistreitigkeiten ebenso zu suchen sein wie für den Enthusiasmus eines Teils der Gemeindemitglieder, der u.a. eine Leugnung der Totenauferweckung implizierte, vgl. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1–4 (ÖTK 7/1), Gütersloh, Würzburg 1992, 119–139. Zu dieser auffälligen Vertauschung der Reihenfolge vgl. etwa H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 121981, 351–353; Verburg, Endzeit 209f. 214. Vgl. Merklein, Christus 62.
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Blick (V. 42bß.43aß.bß.44b), die in diametralem Gegensatz steht zu der der Vergänglichkeit unterworfenen Existenz Adams (vgl. V. 42bα.43aα.bα.44a). Zum anderen wird die Aufmerksamkeit auf einen weiteren fundamentalen Gegensatz zwischen Adam und Christus gelenkt: Während Adam als ψυχὴ ζῶσα auf seine Geschöpflichkeit festgelegt ist, tritt Christus als lebendig machender Geist (πνεῦμα ζῳοποιοῦν) in die eschatologische Schöpfungsmittlerschaft ein.82 In den V. 48f stellt Paulus schließlich eine Analogie her zwischen Adam und Christus als den jeweiligen Repräsentanten von Schöpfung und Neuschöpfung und den zu ihnen Gehörigen. Formuliert V. 48 noch ganz allgemein, so spitzt V. 49 die Aussage existentiell zu auf Adressaten und Absender des Briefes: „Und wie wir getragen haben das Bild des Irdischen, so werden wir auch tragen das Bild des Himmlischen.“ Paulus kontrastiert also zwei verschiedene Existenzweisen der Glaubenden, die sich ihrer Zugehörigkeit zum irdischen Menschen (Adam) und zum himmlischen Menschen (Christus) verdanken. Die εἰκὼν τοῦ χοϊκοῦ bezeichnet die Adamebenbildlichkeit, insofern die Glaubenden wesenhaft Anteil haben an der Existenzweise Adams als Existenz in Vergänglichkeit, Jämmerlichkeit sowie Schwachheit (V. 42bα.43aα.bα) und mit bzw. in einem Leib, der den Bedingungen eben dieser irdisch-adamitischen Existenz unterworfen ist (V. 44a: σῶμα ψυχικόν83). Die Adamebenbildlichkeit ist also gekennzeichnet durch Todverfallenheit (vgl.15,21a.22a), die nach weisheitlichem Verständnis84 untrennbar verbunden ist mit dem Verlust der Gottebenbildlichkeit und der Nähe Gottes (vgl. Weish 2,23f; 6,19). Die εἰκὼν τοῦ ἐπουρανίου bezeichnet dagegen die Christusebenbildlichkeit, insofern die Glaubenden wesenhaft Anteil gewinnen an der Existenzweise des eschatologischen Adam, Christus, als Existenz in Unvergänglichkeit, Herrlichkeit sowie Kraft (V. 42bß.43aß.bß) und mit bzw. in einem Leib, der vom Geist geprägt und durchdrungen ist (V. 44b: σῶμα πνευματικόν) und daher nicht mehr den Konditionen des Irdischen unterworfen ist. Die Christusebenbildlichkeit besteht also in der Teilhabe an der Auferstehungsleiblichkeit und -herrlichkeit Christi (vgl.15,21b.22b), die die eschatologische Wiedergewinnung der Gottebenbildlichkeit (insofern Christus das Bild Gottes ist [2Kor 4,4]) und Nähe Gottes impliziert. Diese vollendete Christusebenbildlichkeit der Glaubenden, die auch Röm 8,29 und 82
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Vgl. C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHk 7), Berlin 1996, 410. Zur protologischen Schöpfungsmittlerschaft Christi vgl. 1Kor 8,6. Vgl. W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. v. K. Aland/B. Aland, Berlin/New York 61988, 1783 s. v. ψυχικός: „… in uns[erer] Lit[eratur] (…) stets als Bez[eichnung] für d[as] Diesseitige und das, was ihm angehört, verwendet; G[e]g[en]s[atz] ist jene Welt, d[ie] durch das πνεῦμα gekennzeichnet ist.“ Daß die Ausführungen in 1Kor 15,42–49 nicht unberührt sind von weisheitlichem Denken, zeigen schon die traditionsgeschichtlichen Berührungen mit der ebenfalls weisheitlich konzipierten Anthropologie Philos, vgl. auch Merklein, 1. Korintherbrief 121–127.
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Phil 3,21 im Blick steht,85 ist damit als zukünftige Wirklichkeit ausgewiesen. Wie in Phil 3,21 formuliert Paulus auch in V. 49b futurisch und stellt einen engen Zusammenhang her zur Parusie Christi (V. 50–53; vgl. Phil 3,20).86 Auf dieser eschatologischen Zukunft liegt der Akzent der V. 42–49 insgesamt und von V. 49 im besonderen, nicht zuletzt, jedoch auch nicht ausschließlich (wie Röm 8 und Phil 3 belegen) aufgrund der anti-enthusiastischen Stoßrichtung von 1Kor 15. Zu Recht wird daher V. 49a („wie wir getragen haben [Aorist: ἐ:ορέσαμεν] das Bild des Irdischen …“) mehrheitlich vom Vollendungszustand V. 49b her interpretiert („wie wir bis dahin getragen haben …, so werden wir dann tragen …“).87 Andererseits sollte aber auch nicht übersehen werden, daß Christus in V. 45 als „lebendig machender Geist“ (πνεῦμα ζῳοποιοῦν [Part. Präsens!]) bezeichnet wird, dieser Geist des Erhöhten also schon als gegenwärtig wirksam gedacht ist.88 Daher dürfte es auch kein Zufall sein, daß Paulus in den Verbformen V. 49 nicht Präsens und Futur, sondern Aorist und Futur miteinander kontrastiert: Obwohl die Christen erfahrungsweltlich noch ganz der todverfallenen Existenz Adams verhaftet sind, blicken sie, für die sich mit der Annahme des Evangeliums ein Existenzwechsel von Sündern zu Gerechten vollzogen hat (vgl. unter 2.), im Glauben auf diese Existenz als vergangene zurück. Denn durch ihre Bindung an den „letzten Adam“, der „lebendig machender Geist“ ist, sind sie dank ihrer darin begründeten anfanghaften Anteilhabe am Pneuma89 schon gegenwärtig auf die Zukunft ausgerichtet, in der sie das „Bild des Himmlischen“ tragen werden. Für die paulinische Anthropologie gewinnt also, wie jetzt als Ergebnis festgehalten werden darf, das Motiv der Gottebenbildlichkeit, dem Paulus unter protologischer Perspektive keine Beachtung schenkt, unter christologisch-eschatologischem Vorzeichen Bedeutung. Das Sündigen aller, das in der Sünde Adams grundgelegt 85
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Röm 8,29 heißt es, daß die von Gott Erwählten dazu bestimmt sind, „Gleichgestaltete des Bildes seines Sohnes (συμμόρ?ους τῆς εἰκόνος τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ) zu werden, damit dieser sei der Erstgeborene unter vielen Brüdern“. Dabei ist der Erstgeborene (πρωτότοκος) hier sachlich gleichbedeutend mit dem Erstling der Entschlafenen (ἀπαρχὴ τῶν κεκοιμημένων) in 1Kor 15,21. Der Bezugspunkt der „Gleichgestaltung des Bildes seines Sohnes“ ist also Christus als der Auferweckte. Phil 3,21 thematisiert ebendenselben Sachverhalt, wobei hier Christus selbst ausdrücklich Handlungssubjekt ist. Von ihm heißt es, daß er „unseren Leib der Niedrigkeit (τὸ σῶμα τῆς ταπεινώσεως ἡμῶν) verwandeln wird gleichgestaltet (σύμμορ?ον) dem Leib seiner Herrlichkeit (τὸ σῶμα τῆς δόξης αὐτοῦ)“. Der Leib der Niedrigkeit ist dabei nichts anderes als das σῶμα ψυχικόν, entsprechend der Leib seiner Herrlichkeit nichts anderes als das σῶμα πνευματικόν (vgl. 1Kor 15,44). In Röm 8,29 kommt der futurische Bezug allenfalls durch die semantische Valenz des Verbs προορίζω (vorherbestimmen) zum Tragen, ist aber klar gewahrt durch den Kontext (V. 18.24f), der im übrigen über 1Kor und Phil hinausgehend die gesamte Schöpfung in die Hoffnung auf die δόξα der eschatologischen Neuschöpfung miteinbezieht (V. 19–22). Vgl. Wolff, Brief 411 und Anm. 377. Vgl. ebd. 407. 2Kor 5,4 spricht in diesem Zusammenhang vom ἀρραβῶν τοῦ πνεύματος und Röm 8,23 von der ἀπαρχὴ τοῦ πνεύματος.
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ist (Röm 5,12), bedingt den Verlust der δόξα Gottes (Röm 3,23), das heißt, den Verlust der Teilhabe an der wesensmäßigen Herrlichkeit Gottes und damit den Verlust der Gottebenbildlichkeit. So ist der Mensch auf die adamitische Existenz der Todverfallenheit festgelegt (1Kor 15,21a.22a.42bα.43aα.bα.44a). Eschatologisch aber eröffnet sich ihm in Christus, der das Bild Gottes par excellence ist (2Kor 4,4), die Möglichkeit, die Gottebenbildlichkeit neu zu gewinnen. Dies geschieht, wenn der Mensch sich dem Evangelium zuwendet, in dem er die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel schaut (2Kor 3,16.18). Mit dieser Hinwendung zum Evangelium, in dessen Mittelpunkt der Herr der Herrlichkeit gerade als der Gekreuzigte steht (1Kor 2,8; vgl. 1Kor 1,17; 2,2; Gal 3,1), verbindet sich für Paulus der Beginn eines Prozesses, der den Menschen in das Bild Christi verwandelt. Ihre eschatologische Vollendung findet diese Verwandlung bei der Parusie Christi. Dann werden die Glaubenden der todverfallenen Existenzweise Adams endgültig entrissen, indem sie Anteil erhalten an der Auferstehungsleiblichkeit und -herrlichkeit Christi (1Kor 15,42bß.43aß.bß.44b.49.50–53; vgl. Phil 3,20f; Röm 8,29). Die eschatologische Neukonstituierung der protologisch grundgelegten, jedoch infolge der Sünde verlorenen Gottebenbildlichkeit des Menschen erfolgt also als Christusebenbildlichkeit. So wird der Mensch zum Bild des Bildes Gottes.90
4. Fazit Es hat sich gezeigt: Die paulinische Sicht des Menschen erschließt sich grundlegend vom eschatologischen Heilsgeschehen in Jesus Christus her. Aus der ihm zuteilgewordenen Offenbarung des Gekreuzigten als Sohn Gottes erkennt Paulus den Menschen einerseits als Sünder, an dem sich die soteriologische Kraft der Tora als faktisch wirkungslos erweist und der dem Tod anheimgegeben ist. Andererseits eröffnet das Christusgeschehen dem Menschen von Gott her die Möglichkeit, dem Unheilszusammenhang von Sünde und Tod zu entkommen. Diese grundlegenden Einsichten reflektiert Paulus nun gleichermaßen mit Hilfe der kultisch konnotierten Vorstellung eines Identitäts- bzw. Existenzwechsels des Menschen vom Sünder zum Gerechten wie mit Hilfe des schöpfungstheologisch verankerten Motivs der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die er in Christus eschatologisch neu konstituiert sieht. Grundlage beider Interpretationsmodelle ist also das eschatologisch qualifizierte Handeln Gottes in und an Jesus Christus um des Menschen willen. Dieser objektiv gegebenen Grundlage korrespondiert nun 90
Vgl. Luz, Gottesbild 767: „Gäbe es eine Gottebenbildlichkeit außerhalb des ‚Bildes‘ Christus, so würde das heißen, daß Paulus mit einer Gerechtigkeit Gottes außerhalb Christi rechnete.“
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aber nach paulinischer Überzeugung eine subjektive Aneignung durch den Menschen. Diese geschieht durch die Hinwendung zum Evangelium, dessen Zentrum – der Gekreuzigte – den Menschen als Sünder ausweist. Mit dieser Hinwendung, die in der Taufe manifest wird, vollzieht sich der entscheidende Existenzwechsel vom Sünder zum Gerechten.91 Denn vor dem Hintergrund des Sündopferrituals von Lev 4.16 gilt für Paulus: In der Taufe findet die Identifikation mit dem den Tod des Sünders sterbenden Christus statt (vgl. Röm 6,3–11). Damit stirbt der Mensch selbst qua Sünder und tritt in die Existenzweise Christi ein, der die Sünde nicht kannte (2Kor 5,21). Daß diese neugewonnene Identität des Gerechten dann auch im Handeln eingeholt werden will, wurde hier nicht eigens thematisiert, ist aber für Paulus eine Selbstverständlichkeit.92 Aus der Perspektive der Neukonstituierung der Gottebenbildlichkeit des Menschen stellt sich eben dieser Sachverhalt so dar: Mit der Hinwendung zum Evangelium beginnt für den Menschen der Prozeß der Verwandlung in das Bild Christi (2Kor 3,16.18), der das Bild Gottes ist (2Kor 4,4). Seinen Abschluß findet dieser Prozeß bei der Parusie Christi, die für den Menschen die endgültige und volle Teilhabe an der Auferstehungsleiblichkeit und -herrlichkeit Christi bedeutet. Wenngleich sowohl die kultisch geprägte Vorstellung als auch die Motivik der Ebenbildlichkeit die Grundzüge paulinischer Anthropologie widerspiegeln, ist doch ein Unterschied in der Akzentuierung feststellbar. Unter dem Vorzeichen des Identitäts- bzw. Existenzwechsels betont Paulus stärker das „Schon“, das freilich unter eschatologischem Vorbehalt steht und im Handeln einzuholen ist. Dagegen rückt er unter dem Vorzeichen der Neukonstituierung der Gottebenbildlichkeit als Christusebenbildlichkeit das „Noch-Nicht“ in den Vordergrund, obwohl der Prozeß der Verwandlung der Glaubenden in die εἰκών Christi schon begonnen hat. Das Heilshandeln Gottes in und an Jesus Christus hat für Paulus zwar universale Bedeutung, d.h. es steht prinzipiell allen Menschen offen.93 Doch impliziert diese 91
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„In dieser Hinsicht gilt: Wie Christus sich (am Kreuz) mit uns identifiziert hat, so müssen wir uns mit ihm identifizieren, wenn wir des Heils teilhaftig werden wollen. (…) Glaube ist für Paulus nichts anderes als ein Akt der Identifikation mit dem gekreuzigten Christus“ (Merklein, Sühnegedanke 79). Vgl. Röm 6,1f.12–23; 13,8–10.11–14; Gal 5,13–6,5; 2Kor 5,9f; Phil 2,1–5.12–15 u.ö. Diese Mahnungen zu einem adäquaten Verhalten der Glaubenden stehen wiederholt in engem kontextuellen Zusammenhang mit einer Thematisierung des Heilstodes Jesu (vgl. 2Kor 5,14f.21; Phil 2,6–8) bzw. mit seiner subjektiven Aneignung in der Taufe (Röm 6,3–11). Dies unterstreichen etwa nachdrücklich die πάντες-Aussagen 1Kor 15,22, Röm 5,12–19 (hier im Wechsel mit inklusiv zu verstehenden πολλοί-Formulierungen) oder 2Kor 5,14f, vgl. auch Vollenweider, Der Menschgewordene 141, Anm. 37, der in diesen Aussagen ebenfalls ein „universalistische[s] Gefälle“ gegeben sieht. Dem widerspricht auch nicht Röm 8,29f, wo die Wahl prädestinatianisch konnotierter Verben (im voraus erkennen [προγιγνώσκω] und vorherbestimmen [προορίζω]) sich aus der pragmatischen Intention erklärt, die Briefadressaten ihrer Heilszuversicht zu vergewissern, vgl. G. Röhser, Prädestination und Verstockung. Untersuchungen zur frühjüdischen, paulinischen und johanneischen Theologie (TANZ 14), Tübingen/Basel 1994, 97. In Röm 8,29 selbst beugt Paulus im übrigen dem Miß-
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universale Ausrichtung für Paulus keinen „Heilsautomatismus“. Vielmehr ist die subjektive Aneignung dieses soteriologischen Handelns Gottes durch den Menschen gefordert, das Ja, das vom einzelnen mit seiner Hinwendung zum Evangelium zu sprechen ist. Von der Würde des Menschen zu sprechen, ist Paulus fremd. Dennoch ist sie der Sache nach, wie deutlich geworden sein dürfte, in seiner Anthropologie fest verankert. Diese Würde erschließt sich im Duktus paulinischen Denkens freilich nicht vom Menschen selbst, sondern vom eschatologischen Handeln Gottes am Menschen durch das Christusgeschehen. Dieses Handeln zeigt, daß der Mensch ungeachtet seiner Sünden- und Todverfallenheit von Gott her zur Gerechtigkeit und zum Leben berufen ist. Unabhängig davon, ob der einzelne Mensch sich dieser Berufung öffnet oder verschließt, wurzelt in ihr seine unverlierbare personale Würde.
verständnis eines kleinen, elitären Kreises von zum Heil Erwählten dadurch vor, daß er als Zielbestimmung des Gleichgestaltetwerdens der Glaubenden mit dem Bild Christi angibt, „damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern“. Vor dem Hintergrund von Röm 5,12–19 dürfte aber auch an dieser Stelle dem Adjektiv πολλοί eine inklusive und damit universale Note anhaften.
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Von Herrlichkeit zu Herrlichkeit Do,xa bei Paulus zwischen den Polen protologischer und eschatologischer Gottebenbildlichkeit am Beispiel der Korintherkorrespondenz*
Herrlichkeit – welche Deutung dieser theologischen Kategorie bietet Paulus in seinen Briefen an? Dieser Frage im Rahmen eines Beitrags zum vorliegenden Sammelband nachzugehen, schien mir eine gleichermaßen reizvolle wie auch im vorgegebenen Umfang lösbare Aufgabe zu sein. Schon bald aber wurde meine Erwartungshaltung sowohl positiv als auch negativ durchkreuzt: Positiv, weil sich die Aufgabe nicht nur als reizvoll, sondern als ausgesprochen spannend entpuppte, negativ, weil die Fülle des Materials und die Komplexität des Befundes eher eine monographische Bearbeitung empfahl. Schon eine erste Auswertung der Konkordanz ergibt nämlich, dass das Wortfeld do,xa1 unter konsequenter Eingrenzung auf eine theologische Konnotation2 in den 7 authentischen Paulusbriefen (Röm, 1.2Kor, Gal, Phil 1Thess und Phlm) mit 64 Belegen breiten Raum einnimmt. Dabei verteilen sich die Belege sehr unterschiedlich. Seine größte Konzentration findet das Wortfeld in der Korintherkorrespondenz mit 33 Belegen (1Kor: 123; 2Kor: 21) und im Röm mit 224 Belegen. Im Phil bemüht Paulus das Wortfeld 6 Mal, im Gal 2 Mal und im 1Thess nur einmal. Im Phlm schließlich ist es nicht repräsentiert. Angesichts dieser doch insgesamt intensiven Nutzung des Herrlichkeitsmotivs bei Paulus erstaunt es freilich, dass sie in der jüngeren, aber auch älteren5 Forschung *
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Abgedruckt in: Kampling, Rainer (Hg.), Herrlichkeit. Zur Wiedergewinnung einer theologischen Kategorie, Paderborn u.a. 2008, 79–122. Einschließlich der Derivate doxa,zein, sundoxa,zein, e;ndoxoj, keno,doxoj und kenodoxi,a. Selbstverständlich gehören dazu neben der theologischen Verwendung des Wortfeldes im engeren Sinn auch Verwendungsmöglichkeiten mit christologischer, soteriologischer, eschatologischer und ethischer Nuancierung. Den zu dieser Bedeutungsgruppe gehörigen Belegen des Wortfeldes do,xa gemeinsam ist, dass sie sich im Deutschen durchweg durch den Begriff „Herrlichkeit“ bzw. damit verwandten Begriffsbildungen (etwa Verherrlichung, verherrlichen) wiedergegeben lassen. Ausgeblendet bleiben dagegen Belege des Wortfeldes, die dem Bereich gesellschaftlicher Wertung zugehören. Sie lassen sich in der Regel durch Begriffe wie „Ruhm, Ansehen, Ehre“ (bzw. durch die entsprechenden Derivate) übersetzen und überschneiden sich nicht selten mit dem Wortfeld timh, (vgl. S. Aalen/H. Kvalbein, Ehre: TBLNT 1, Wuppertal 21997, 304–313, 304. Einschließlich der 4 Belege in 1Kor 15,40.41, die eine gewisse Sonderstellung einnehmen, vgl. dazu Ziffer 1.4. Einschließlich des Beleges in 16,27, der zum sekundären Briefschluss des Röm gehört, vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer (Röm 1–5) (EKK VI/1), Neukirchen-Vluyn 21987, 22–24. Signifikant erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass die 1953 in 1. Auflage erschienene und stark begriffsgeschichtlich orientierte Theologie des Neuen Testaments von R. Bultmann, die sich als Standardwerk etabliert hat, dem Wortfeld do,xa nur im Kontext joh Theologie Beachtung schenkt, vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (UTB 630), 7., durchgesehene, um Vorwort und Nachträge
Von Herrlichkeit zu Herrlichkeit
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bisher auf nur geringes Interesse gestoßen ist. Für den vorliegenden Beitrag bedeutet dies, dass es auf exegetisch weithin unbestelltem Feld eine gewisse Pionierarbeit zu leisten gilt. Diese kann freilich im Rahmen eines Sammelbandes notwendigerweise nur skizzenhaft durchgeführt werden. Dabei verzichte ich bewusst auf eine Vollständigkeit anzielende und systematisierende Präsentation der Belege. Denn eine vollständige Präsentation würde im vorgegebenen Rahmen zwangsläufig zu einer m.E. unbefriedigenden lexikonhaften Darstellungsweise führen, eine systematisierende Präsentation aber würde dem Proprium paulinischer Theologie als einer Theologie in pastoral-situativer Zuspitzung6 nicht gerecht. So bleibt als Alternative, sich dem Herrlichkeitsmotiv bei Paulus in exemplarischer Auswahl und zugleich im vorgegebenen brieflichen Argumentationskontext zu nähern. Dies soll hier anhand der Korintherkorrespondenz geschehen. Denn dadurch wird einerseits ein repräsentativer Charakter der Untersuchung garantiert, insofern in diesen beiden Briefen mehr als die Hälfte aller Belege des Wortfeldes do,xa vereinigt sind. Andererseits sind diese Belege aber auch – mit Ausnahme von 1Thess 2,12 – die ältesten innerhalb der Paulusbriefe insgesamt. Es darf daher also mit einer gewissen Berechtigung vermutet werden, dass Paulus in den Korintherbriefen unbeschadet
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erweiterte Auflage, herausgegeben von O. Merk, Tübingen 1977, 383; 400–412. Dieser Befund unterstreicht freilich nur ein besonders stark ausgeprägtes Desinteresse an der paulinischen Rezeption des Herrlichkeitsmotivs, das auch in anderen Traditionskontexten die Aufmerksamkeit der neutestamentlichen Forschung nur selten auf sich lenken konnte. So bemerkt H. Schlier zu Beginn der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts zutreffend: „Der Begriff do,xa gehört ohne Zweifel zu den bedeutsamsten Grundbegriffen des NT. Doch hat er innerhalb der ntl Theologie im allgemeinen nicht die Beachtung gefunden, die ihm gebührt“, vgl. H. Schlier, Doxa bei Paulus als heilsgeschichtlicher Begriff, in: Ders., Besinnung auf das Neue Testament. Exegetische Aufsätze und Vorträge II, Freiburg 1964, 307–318, 307. Die Literaturliste, die Schlier ebd. 307f. anfügt und die zwischen 1900–1960 erschienene Titel zur Herrlichkeitsthematik umfasst, bestätigt im Übrigen nur die besonders ausgeprägte Vernachlässigung dieser Thematik im Blick auf die Paulusbriefe. Eine monographische Bearbeitung verzeichnet Schlier für den angegebenen Zeitraum nicht. Ergänzend wäre hier allenfalls hinzuweisen auf M. Berquist, Meaning of DOXA in the epistles of Paul, unveröffentlichte Dissertation, Southern Baptist Seminary, Louisville/Kentucky 1941. Die m.W. bislang „jüngste“ Monographie zum Herrlichkeitsmotiv bei Paulus stammt von M. Carrez, De la souffrance à la gloire. De la doxa dans la pensée paulienne, Neuchâtel 1964. Im Unterschied zur älteren Forschung, die, sofern sie sich der Doxa-Thematik näherte, dies primär in begriffgeschichtlich orientierten Untersuchungen tat (vgl. auch H. Schlier, Doxa, 307f.), kennzeichnet die jüngere Forschung, dass sie sich – gerade im Kontext der Paulusbriefe – dem Thema Herrlichkeit eher indirekt über die Exegese bestimmter Textpassagen widmet, die im eigentlichen Zentrum des Interesses stehen, vgl. etwa: L. L. Belleville, Reflections of Glory. Paul’s Polemical Use of the MosesDoxa-Tradition in 2 Corinthians 3.1–18 (JSNT. SS 52), Sheffield 1991; M. M. Gruber, Herrlichkeit in Schwachheit. Eine Auslegung der Apologie des Zweiten Korintherbriefes 2Kor 2,14–6,13 (fzb 89), Würzburg1998; J. Meißner, Das Kommen der Herrlichkeit. Eine Neuinterpretation von Röm 8,14–30 (fzb 100), Würzburg 2003; J. Schröter, Der versöhnte Versöhner. Paulus als unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde nach 2Kor 2,14–7,4 (TANZ 10), Tübingen 1993, 86– 127; C. K. Stockhausen, Moses’ Veil and the Glory of the New Covenant. The Exegetical Substructure of II Cor. 3,1–4,6 (AnBib 116), Rom 1989. Vgl. dazu M. Gielen, Totenauferweckung (s. I.3.), 127f.
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der konkret situativen Einbettung der Belege bereits konstitutive Merkmale seines Verständnisses von Herrlichkeit als einer theologischen Kategorie zu erkennen gibt, die er in seinen späteren Briefen allenfalls situations- und argumentationsgerecht adaptiert.
1. Der erste Korintherbrief Der erste Korintherbrief ist ein Schreiben, das sich durch eine Fülle von scheinbar unverbundenen Themen, Fragen und Problemstellungen auszeichnet, die jedoch bei genauerem Zusehen aus einem gemeinsamen Grundkonflikt7 erwachsen. Als Initialzündung dieses Grundkonflikts darf das Wirken des Apollos, eines aus Alexandria stammenden Judenchristen (vgl. Apg 18,24–28), in der korinthischen Gemeinde gelten. Apollos, der nach Paulus in Korinth als Verkündiger tätig wurde (vgl. 1Kor 3,6; Apg 19,1), hatte nämlich wohl mit einer Interpretation von Christologie und Soteriologie, die offenbar durch das religionsphilosophische und theologische Werk seines Mitbürgers Philo von Alexandrien beeinflusst war, die Sympathien einer Gruppe korinthischer Christen und Christinnen gewonnen. In dieser Gruppe dürften sich vor allem die wenigen gebildeten, einflussreichen und vornehmen Mitgliedern der Gemeinde (vgl. 1Kor 1,26) zusammengefunden haben. Kennzeichen für die Verkündigung des Apollos war offenbar, den religiös skandalösen und gesellschaftlich geächteten Kreuzestod Jesu (vgl. 1Kor 1,23), der im Zentrum der paulinischen Verkündigung stand (vgl. 1Kor 2,2), weitgehend in den Hintergrund zu drängen und zur soteriologisch marginalen Durchgangsstation auf dem Weg der Rückkehr in die urbildlich-pneumatische Existenzweise zu degradieren. Wichtig ist hierbei vor allem das philonische Verständnis der zwei verschiedenen Erzählungen von der Erschaffung des Menschen in Gen 1 und Gen 2 (vgl. All I, 31–32; Op 134–135). Philo interpretiert nämlich die beiden Versionen gleichsam harmonisierend, indem er zwei Arten von Menschen unterscheidet: Der allein durch das Wort Gottes erschaffene Menschen (Gen 1,26f) gehört zum himmlischen Bereich und ist ein rein pneumatisches Wesen. Unter Rückgriff auf die platonische Philosophie stellt er für Philo das Urbild des irdischen Menschen dar. Die Erschaffung dieses irdischen Menschen wird nun nach philonischer Interpretation in Gen 2,7 erzählt. Im Unterschied zum pneumatischen Menschen wird dieser Mensch von Gott aus vergänglicher Materie („Erdenstaub“ Op 135) gebildet und gehört entsprechend dem irdischen Bereich an. Weil Gott aber dem irdisch-vergänglichen Menschen seinen Geist als Lebensatem einhaucht, besitzt auch er eine Verbindung zum himmlisch-pneumatischen Bereich. Er verfügt also (von Gott her) über die Befähigung zum wahren, d.h. pneumatischen Leben entsprechend dem himmlischen Urbild, eine Befähigung, die die Möglichkeit zur Erkenntnis Gottes und zur Aneignung der göttlichen Weisheit einschließt. Diese Befähigung kann er brachliegen lassen und damit endgültig der Vergänglichkeit anheim fallen. Oder er kann sie nutzen und damit der Erlösung durch Anteilhabe an der pneumatisch-unvergänglichen Existenzweise teilhaftig werden. 7
Zum Verständnis dieses Grundkonflikts lege ich die Hypothese zugrunde, die H. Merklein 1992 im ersten Band seines Kommentars zum 1. Korintherbrief entwickelt hat, vgl. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1–4 (ÖTBK 7/1), Gütersloh 1992, 114–152. Sie hat sich durch die gesamte Kommentierung hindurch als heuristisch wertvoll und tragfähig erwiesen, wie ich auch selbst während der Fertigstellung des dritten Bandes dieses Kommentarprojekts (H. Merklein/M. Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (ÖTBK 7/3), Gütersloh 2005) bei der Auslegung von 1Kor 15,12–16,24 erfahren konnte.
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Wird nun durch die Verkündigung des Apollos in Korinth das pneumatische Urbild des Menschen in Anlehnung an eine aus den Schriften Philos bekannte, jetzt freilich christologisch adaptierte Anthropologie mit dem erhöhten Christus identifiziert, so besteht Erlösung in der (von Gott geschenkten) Erkenntnis dieser Identität und in der Ausrichtung der Glaubenden auf die pneumatische Existenz Christi. Dieser pneumatischen Existenz wähnten sich die Apollosanhänger wohl bereits durch die Taufe teilhaftig geworden (vgl. 4,8) und hofften auf deren postmortale Vollendung, nachdem der Tod sie vom Leib befreit haben würde. Die solchermaßen noetisch akzentuierte Christologie und Soteriologie dürfte zudem in der Verkündigung des Apollos unter das Vorzeichen der Weisheit gestellt worden sein. Dafür spricht zum einen der auffällig gehäufte Gebrauch des Wortfeldes Weisheit/weise (sofi,a/sofo,j) in 1Kor 1–3 (insgesamt 26 Belege), das ansonsten in den pln Briefen kaum bemüht wird. Zum anderen spricht dafür die Bedeutung, die in der frühjüdischen Theologie der Weisheit als einem personifizierten himmlischen Wesen, das an der Seite Gottes lebt, zukam (vgl. Weish 6–9), eine Bedeutung, die sich nicht zuletzt in der soteriologischen Funktion dieser Weisheit „als Mittel und Inhalt heilsamer Erkenntnis“8 konkretisierte. Apollos und seine korinthischen Anhänger partizipierten somit wohl an einem urchristlichen Traditionsstrang, der den Glauben an die Heil bringende Funktion Christi weisheitlich interpretierte, d.h. Christus mit der präexistenten Weisheit identifizierte. Dies schlug sich im Wirken des Apollos offenkundig auch dadurch nieder, dass er die Art seiner Verkündigung (nach Apg 18,24 war er ein rhetorisch geschulter Mann) ihrem weisheitlich akzentuierten Inhalt anglich. Damit dürfte er auf Zustimmung der gebildeten Mitglieder der Gemeinde gestoßen sein, jedoch auf Unverständnis und Ablehnung der großen Mehrheit der einfachen Gemeindemitglieder, die mit einer „Verkündigung in Weisheit des Wortes“ (vgl. 1,17) wohl überfordert waren.
Damit ist die aktuelle korinthische Gemeindesituation umrissen, in die hinein die paulinische Argumentation in 1Kor zielt. Im Rahmen dieser Argumentation bemüht Paulus immer wieder das Motiv der Herrlichkeit (do,xa). Orientiert am Briefaufbau gilt es nun, der Verwendung dieses Motivs nachzuspüren und dabei besonders auf die jeweilige argumentative Einbindung und Akzentuierung zu achten.
1.1 Die gegenwärtige Anteilhabe an der göttlichen Herrlichkeitsexistenz unter dem Vorzeichen des Kreuzes (1Kor 2,7f.) Innerhalb des 1Kor bedient sich Paulus erstmals des Wortfeldes do,xa in 2,7.8. Kontextuell sind die beiden do,xa-Belege damit der Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Gruppenbildungen in der korinthischen Gemeinde zugeordnet, der sich Paulus schwerpunktmäßig im ersten Briefteil (1,10–4,21) widmet.9 Damit verbunden ist sein Bemühen um Korrektur einer spezifischen Variante von Weisheitschristologie, die die korinthische Gemeinde durch Apollos kennen gelernt und die unter seinen Anhängern Anklang gefunden haben dürfte. Für Paulus stellt diese Variante eine inakzeptable Verkürzung dar, insofern sie die Identifizierung Christi mit der Weisheit Gottes, die er als solche nicht ablehnt, auf den präexistenten und erhöhten Christus reduziert und das Kreuzesgeschehen als soteriologisches Zentrum weitgehend ausblendet. Dies aber ist für Paulus nichts anderes als der Versuch, sich der nur im Glauben an 8 9
H. Merklein, 1Kor I, 127. H. Merklein, Korintherbriefe: Lexikon für Theologie und Kirche VI, Freiburg 31997, 379–382, 380.
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den Gekreuzigten zugänglichen paradoxen Weisheit Gottes nach menschlichen bzw. weltlichen Kriterien zu bemächtigen. Unausweichliche Folge eines solchen Versuches ist es, sich um die Heil schaffende Kraft der göttlichen Weisheit zu bringen. Grundlegend entfaltet Paulus diese Gedanken bereits in 1,18–25, um sie dann anhand des Beispiels der wenig beeindruckenden soziologischen Zusammensetzung der Gemeinde (1,26–31) wie anhand des Beispiels seiner durch Furcht und Zittern gekennzeichneten und gleichwohl erfolgreichen Erstverkündigung in Korinth (2,1–5) zu untermauern. Beide Beispiele sollen die Korinther die Paradoxie göttlicher Weisheit erkennen lassen, die nach menschlichen Maßstäben geurteilt nur als Torheit qualifiziert werden kann. In 2,6–16 greift Paulus vertiefend die grundlegenden Ausführungen aus 1,18–25 auf. Nachdem er zuvor die Paradoxie der Weisheit Gottes, die sich gerade im Kreuz Christi manifestiert, sicher gestellt hat, kann er sich jetzt rhetorisch auf die Ebene der Apollosanhänger einlassen. So profiliert er jetzt noch einmal seine Position in einer von ihnen favorisierten Weisheitsrede, die er ohne seine kreuzestheologische Klarstellung ablehnen musste (vgl. 1,17). Die Wahl der Weisheitsrede bringt es mit sich, dass Paulus sich gerade in 2,6–16 intensiver als zuvor auf die Diktion der weisheitlich orientierten Apollosgruppe einlässt, sie damit zugleich aber auch gemäß seinem Verständnis korrigiert.
In unserem thematischen Zusammenhang interessieren hierbei vor allem V. 6–8. V. 6 dient einmal mehr der Klarstellung und Abgrenzung: Wenngleich Paulus nun also eine bei den Apollosanhängern beliebte Weisheitsrede hält, ist die Weisheit inhaltlich nicht definiert nach dem Maßstab dieser Weltzeit bzw. ihrer der Vernichtung preisgegebenen Repräsentanten (vgl. 1,18f). Zugleich benennt V. 6 mit den „Vollkommenen“ (te,leioi) auch die Adressaten der paulinischen Weisheitsrede. Mit diesem Begriff greift Paulus wohl eine Selbstbezeichnung der Apollosanhänger auf. Darin dokumentierte sich ihre Überzeugung, eine besondere göttlich bzw. pneumatisch vermittelte Erkenntnis Christi zu besitzen. Durch diese Erkenntnis wähnten sie sich von den übrigen Gemeindemitgliedern abgehoben, die ihnen als „Unmündige“ (nh,pioi) (vgl. 3,1) galten. Im Unterschied dazu verwendet Paulus in 2,6 den Begriff „Vollkommene“ nicht exklusiv für eine bestimmte Gruppe in der Gemeinde. Vielmehr dient er ihm als Bezeichnung für alle, die sich auf die paradoxe Weisheit Gottes einlassen. Insofern ersetzt der Begriff Formulierungen wie „die Gerettetwerdenden“ (1,18), „die Glaubenden“ (1,21) und „die Berufenen“ (1,24). Innerhalb der christologisch-soteriologischen Grundlegung von 1,18–25 zielten diese Formulierungen aber textpragmatisch auf die Gesamtgemeinde, deren Mitglieder sich ausnahmslos auf die paulinische Kreuzespredigt eingelassen haben (vgl. 2,1–5). V. 6 stellt also sicher, dass Paulus auch weiterhin von der Weisheit Gottes redet, wie er sie in 1,18–25 von der Weisheit dieser Welt abgegrenzt und inhaltlich als Christus, den Gekreuzigten, bestimmt hat (vgl. V. 23f). Auf dieser Basis kann sich Paulus dann in V. 7 der soteriologischen Zielsetzung dieser Weisheit Gottes zuwenden. Dieses Heilsziel Gottes für die Glaubenden10 beschreibt Paulus mit Hilfe des Herrlichkeitsmotivs. Konkret bezeichnet er mit do,xa 10
Hier textpragmatisch durch das Personalpronomen der 1. Pers. Pl. focussiert auf Briefadressaten und Briefschreiber.
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den personalen Status des Heils als eine Herrlichkeitsexistenz. Eine solche Herrlichkeitsexistenz aber ist nichts anderes als ein Sein, das an der göttlichen Lebenswirklichkeit partizipiert.11 Auf diese Teilhabe zielte die Weisheit Gottes als sein präexistenter Heilsplan bereits vor aller Zeit. Doch noch ist sie eine verborgene Weisheit, eine Weisheit im Geheimnis, die allgemeiner Erkenntnis verschlossen ist. Gleichwohl ist sie in der Gegenwart den Glaubenden bereits in der Verkündigung des gekreuzigten Christus offenbar (vgl. 2,6a.7a mit 1,23f.). Mit dieser Verkündigung bzw. mit ihrer Annahme beginnt also der Heilsplan Gottes bereits in der Gegenwart für die Glaubenden Früchte zu tragen. Aber er ist noch nicht vollendet. Insofern eignet dem do,xa-Begriff in V. 7 eine prozesshafte Nuance, die durch die Übersetzung „Verherrlichung“ treffend zum Ausdruck gebracht werden kann. Diese eschatologische Spannung zwischen dem „Schon“ und „Noch-Nicht“ richtet sich gerade in der Auseinandersetzung des Paulus mit den Apollosanhängern in Korinth gegen deren präsentisches Erlösungsverständnis (vgl. besonders 4,8–10). Insofern aber die Mitglieder der Apollosgruppe zu einer enthusiastischen Interpretation von Erlösung unter weitgehender Verdrängung des Kreuzesgeschehens neigten, hält Paulus im Kontext seiner Argumentation mit der Verwendung des Begriffs do,xa in 2,7 fest: Der gegenwärtig für die Glaubenden beginnende Prozess der Verherrlichung ist geprägt durch die Paradoxie göttlicher Weisheit, das heißt, durch das Kreuz Christi. Oder noch einmal zugespitzt formuliert: Die Herrlichkeitsexistenz der Christen als beginnende Anteilhabe an der göttlichen Lebenswirklichkeit ist in der Gegenwart paradoxerweise nicht anders denn als Kreuzesexistenz erfahrbar. 11
Ähnlich für das ntl. Verständnis von „Herrlichkeit“ insgesamt: S. Aalen/H. Kvalbein, Ehre, 308. Im paulinischen Kontext scheint mir der Blick auf 1Thess 2,12 aufschlussreich, also auf den einzigen theologisch konnotierten Beleg für das Herrlichkeitsmotiv vor der Abfassung von 1Kor. Hier ergeht die Ermahnung an die Briefadressaten zu einem „Lebenswandel, Gottes würdig, der euch in seinen Herrschaftsbereich (basilei,a) und in seine Herrlichkeit (do,xa) beruft.“ Durch basilei,a ist die Berufung als eine eschatologische qualifiziert, insofern basilei,a ntl. die endzeitliche Königsherrschaft bzw. den endzeitlichen Herrschaftsbereich Gottes bezeichnet (vgl. A. Lindemann, Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV: TRE XV, Berlin 1986, 196–218, 200.). Diese basilei,a ist aber zugleich der Raum bzw. die Sphäre, die ganz von der göttlichen Lebenswirklichkeit der do,xa (Herrlichkeit) erfüllt und durchdrungen ist. Die Berufung zur do,xa stellt in 1Thess 2,12 nämlich keine zweite Zielangabe neben der Berufung in die basilei,a dar. Vielmehr sind basilei,a und do,xa komplementär zu verstehen und erklären sich wechselseitig. Traditionsgeschichtlich grundgelegt ist dieses komplementäre Verständnis von basilei,a und do,xa bereits alttestamentlich, wie die die Syntagmen do,xa th/j basilei,aj sou (!) Ps 144,11.12 (LXX) sowie basileu.j th/j do,xhj Ps 23,7–10 und Ps 28,3.10 (LXX) belegen, vgl. G. Kittel/G. von Rad, doke,w ktl.., in: ThWNT II 235–258, 245,10–27 und 248,4. Das betont vorangestellte Possessivpronomen e`autou/ (seine basilei,a, seine do,xa) hebt dabei in 1Thess 2,12 hervor, dass do,xa ebenso die ureigene Lebenswirklichkeit Gottes ist, also das, was göttliches Sein qualifiziert, wie basilei,a den allein Gottes Herrschaft vorbehaltenen Bereich bildet, der im eschatologischen Vollendungszustand allumfassend sein wird (vgl. 1Kor 15,28). Unter dem Aspekt der do,xa bedeutet also die Berufung, die an die Glaubenden von Gott aus ergeht, die Berufung zur endzeitlichen Anteilhabe an der göttlichen Lebenswirklichkeit der Herrlichkeit.
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Diesen für ihn zentralen Gedanken unterstreicht Paulus dann auch noch einmal in V. 8, der zunächst erneut bestätigt, dass die Weisheit Gottes als sein präexistenter Heilsplan noch nicht der Erkenntnis aller Menschen offen steht. Beweis hierfür ist die Kreuzigung Christi durch die Machthaber der gegenwärtigen Weltzeit.12 Bezeichnenderweise formuliert Paulus nun aber nicht „Wenn sie (die Machthaber dieser Weltzeit) sie (die Weisheit Gottes) nämlich erkannt hätten, hätten sie Christus nicht gekreuzigt“, sondern er sagt stattdessen: „… hätten sie den Herrn der Herrlichkeit (to.n ku,rion th/j do,xhj) nicht gekreuzigt.“ Die Formulierung „Herr der Herrlichkeit“ ist bei Paulus singulär. Zudem verwendet er im Zusammenhang mit Aussagen über das Kreuz bzw. die Kreuzigung durchweg den Christus-, nicht den Kyriostitel.13 Dies legt die Vermutung nahe, dass er in 1Kor 2,8 eine Formulierung aus der korinthischen Gemeinde aufgreift und sie zugleich korrigiert bzw. präzisiert. Als „Herr der Herrlichkeit“ erweist sich Christus eben nicht nur als Präexistenter und Erhöhter. Vielmehr wird er als „Herr der Herrlichkeit“ gerade am Kreuz offenbar. Zu dieser Einsicht gelangen allerdings nur die Glaubenden (vgl. zu V. 6: die Vollkommenen), die die paradoxe Weisheit Gottes zu ihrem Beurteilungsmaßstab gemacht haben.
1.2 Die göttliche Herrlichkeit im angemessenen Verhalten für die Welt erkennbar machen (1Kor 6,20; 10,31) In 6,20 begegnet das Herrlichkeitsmotiv in verbaler, näherhin imperativischer Verwendung. Mit dem Aufruf „Verherrlicht also Gott durch euren Leib!“ beschließt Paulus die mit 6,12 beginnende Argumentation, die der Zurückweisung der libertinistischen These „Alles ist mir erlaubt“ (V. 12), genauer der Zurückweisung ihrer Begründungsfunktion für den Umgang mit Prostituierten dient. Diese libertinistische These wurde in der korinthischen Gemeinde mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Gruppe der Apollosanhänger vertreten. Denn die spezifische Heilsvorstellung dieser Gruppe von einer rein pneumatischen Existenz nach dem Modell des himmlischen Urmenschen Christus implizierte eine Abwertung des Leibes, die ihren Ausdruck in einer libertinistischen Grundhaltung finden konnte. Wer sich nämlich der pneumatisch-himmlischen Existenz bereits teilhaftig wähnt und vom Tod nur noch die Befreiung vom Leib erhofft, der sieht sich entbunden von jeder Verantwortung für das, was er mit seinem Leib tut (vgl. auch 6,1314). 12
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Zu Recht bemerkt im Übrigen H. Merklein, 1Kor I, 230 in diesem Zusammenhang: „Paulus argumentiert dabei vom Faktischen her, so daß die Überlegung, daß im Falle des Erkennens ja auch der Gekreuzigte als Inbegriff der Weisheit Gottes dahinfiele, in eine gedankliche Sackgasse führt.“ Vgl. H. Merklein, 1Kor I, 230. Hier korrigiert Paulus wahrscheinlich im zweiten Versteil einen in Korinth vertretenen Analogieschluss
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Zugleich bildet der Aufruf in 6,20 auch den Schluss- und Zielpunkt des zweiten Hauptteils des Briefes (5,1–6,20), in welchem Paulus die korinthischen Christen und Christinnen in ihrer Gesamtheit mit ihrer Verantwortung für die Reinheit und Heiligkeit der Gemeinde konfrontiert.15 Diese Reinheit und Heiligkeit ist aber durch ethisches Fehlverhalten Einzelner, das im Kontext spezifischer Überzeugungen einer gemeindlichen Gruppierung steht, gefährdet. Der Aufruf an die Gemeindemitglieder, Gott mit und in ihrem Leib zu verherrlichen, steht also an einer argumentationsstrategisch prominenten Stelle des Briefes, eine Beobachtung, die auf seine Bedeutung hinweist. Wichtig für ein sachgerechtes Verständnis von 6,20 ist nun die dem Aufruf unmittelbar vorausgehende Begründung: „Um einen Preis (bzw. gegen Bezahlung) seid ihr erkauft“. Wie schon 5,7 und 6,11 spielt Paulus damit an auf die Heil schaffende Kraft des Kreuzestodes Christi, aus der den korinthischen Gemeindemitgliedern die Verpflichtung zu einem entsprechend angemessenen Verhalten erwächst. Dieses Verhalten aber bestimmt er semantisch unter Rückgriff auf das Wortfeld do,xa. Im Unterschied zu der von Gott den Menschen bestimmten und schon gegenwärtig beginnenden Verherrlichung als geschenkweiser Partizipation an göttlicher Herrlichkeit (vgl. 2,7) impliziert umgekehrt die Verherrlichung Gottes durch die Menschen nun selbstverständlich nicht den Aspekt der Anteilgabe. Der Handlungsaufruf in 6,20 „Verherrlicht also Gott durch euren Leib!“ zielt vielmehr darauf, dass die Mitglieder der korinthischen Gemeinde mit und in ihrer gesamten Existenz16 die göttliche do,xa in der Welt und für die Welt erkennbar und anerkennbar werden lassen. Findet sich in 1Kor 2,7f. das Herrlichkeitsmotiv im Kontext soteriologischer Aussagen, die durch V. 8 eine christologische bzw. kreuzestheologische Präzisierung erhalten, so begegnet es in 1Kor 6,20b in ethischer Verwendung, konkret als angemessene Antwort auf das Erlösungshandeln Christi (V. 20a).17 Auch der nächste Beleg des Wortfeldes do,xa in 10,31 ist ethisch konnotiert. Er findet sich im dritten Hauptteil des Briefes (7,1–14,40) gegen Ende einer von 8,1– 11,1 reichenden thematischen Einheit, die sich unter verschiedenen Aspekten18 der
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von Speisen/Bauch auf Unzucht/Leib, vgl. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1Kor 6,12– 11,16) (EKK VII/2), Neukirchen-Vluyn 1995, 20f. Zur semantischen und thematischen Kohärenz der beiden Kapitel vgl. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 5,1–11,1 (ÖTBK 7/2), Gütersloh 2000, 24–26. Diese Existenz ist nach paulinischem Verständnis unaufhebbar somatisch bestimmt, vgl. das berühmte Diktum von R. Bultmann, Theologie, 195, wonach für Paulus gilt: „der Mensch hat nicht ein sw/ma, sondern er ist sw/ma.“ Vgl. H. Schlier, Doxa, 314f. Essen von Götzenopferfleisch (8,1–13) Teilnahme an heidnischen Kultmählern (10,14–22), Verhalten angesichts der Angebote des Fleischmarktes und der Gastfreundschaft eines Heiden (10,23–11,1).
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Frage nach der gemeindlichen Haltung gegenüber dem heidnischen Kult stellt. Auch dieser Themenkomplex dürfte sich im Wesentlichen erneut bestimmten Verhaltensweisen der Apollosanhänger verdanken. Offenbar suchten sie unter Berufung auf ihre Erkenntnis19 der Nicht-Existenz von Götzen in libertinistischer Manier20 geradezu provokanten Kontakt mit dem Bereich heidnischen Kultes und verursachten dadurch bei anderen Gemeindemitgliedern Anstoß und Gewissenskonflikte. Der differenzierten paulinischen Erörterung dieser Thematik kann hier nicht nachgespürt werden. Wichtig für die in diesem Beitrag erörterte Frage nach der paulinischen Verwendung des Herrlichkeitsmotivs ist aber, dass Paulus in 10,31 den Aufruf über den unmittelbaren Zusammenhang („Ob ihr nun esst oder trinkt“) ins Grundsätzliche („oder sonst etwas tut“) ausweitet:21 Als Maßstab für ihr Handeln soll den Mitgliedern der korinthischen Gemeinde stets gelten, dass es geeignet ist, Gottes Herrlichkeit in der Welt und für die Welt transparent zu machen.
1.3 Die in der Schöpfung grundgelegte Gottebenbildlichkeit des Menschen als Widerschein göttlicher Herrlichkeit (1Kor 11,7) Auch im unmittelbar folgenden neuen Abschnitt 11,2–16 benutzt Paulus in V. 7 zwei Mal den Begriff der Herrlichkeit. Thematisch setzt er sich hier auseinander mit einer aus seiner Sicht provokanten Aufhebung der geltenden Geschlechtsrollensymbolik durch Frauen in der korinthischen Gemeinde.22 Ausgangspunkt war wohl die in paulinischen Gemeinden selbstverständlich geübte und auch von Paulus nicht in Frage gestellte (vgl. V. 4f.) funktionale Gleichstellung von Männern und Frauen, die mit der urchristlichen Tauftradition von Gal 3,28 begründet worden sein dürfte. Wie 1Kor 7,17–24 und 12,13 belegen, war diese Tradition auch in der Gemeinde von Korinth bekannt. Sie betont die neue Identität, die die Glaubenden durch ihre Taufe in Christus Jesus gewonnen haben, so dass nun für sie alle religiösen („nicht mehr Jude noch Grieche“), sozialen („nicht mehr Sklave noch Freier“) und geschlechtlichen („nicht mehr männlich und weiblich“) Unterschiede zwischen Menschen bedeutungslos geworden sind. In Korinth beließen es Christen und Christinnen aber offenkundig nicht bei den aus Gal 3,28 abgeleiteten praktischen Konsequenzen einer funktionalen Gleichstellung von Männern und Frauen auf Gemeindeebene. Dafür spricht gerade auch 11,2–16. Denn wie auch immer man das Geschlechtsrollensymbol, dessen Negierung Paulus in den V. 4–6.13–15 skizziert, inhaltlich genauer bestimmen mag – ob als spezifisch weibliche Kopfbedeckung oder (m.E. wahrscheinlicher) als spezifisch weibliche Frisur23 – entscheidend ist: Die Ablehnung der Geschlechtsrollensymbolik, die entsprechend gesellschaftlichen
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Vgl. die wiederholte Verwendung des Begriffs gnw/sij, vgl. 8,1–3.7.10f. Darauf deutet die in 10,23 nach 6,12 ein weiteres Mal zitierte korinthische Parole: „Alles ist erlaubt“ hin, vgl. C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 1996, 236. Vgl. C. Wolff, 1Kor, 240; H.-J. Klauck, 1. Korintherbrief (NEB.NT 7), Würzburg 1984, 77. Vgl. dazu M. Gielen, Beten (s. II.1.). Zu den verschiedenen Interpretationsvorschlägen vgl. M. Gielen, Beten (s. II.1.), 162–173.
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Konventionen festlegt, was als typisch männlich bzw. typisch weiblich zu gelten hat, und die damit die geschlechtliche Differenzierung zwischen Mann und Frau sinnenfällig dokumentiert, zielt ins Grundsätzliche. Die korinthischen Christinnen, die diese Ablehnung praktizierten und sich damit erkennbar der gesellschaftlich akzeptierten Vorstellung vom Mannsein anglichen, dürften das „nicht mehr männlich und weiblich“ aus Gal 3,28 prinzipiell als Aufhebung der Schöpfungsordnung und der darin verankerten Differenzierung zwischen den Geschlechtern verstanden haben.
Gegen eine solche Interpretation argumentiert Paulus in V. 3.7–12. Zentral ist für ihn dabei der Gedanke, dass auch im eschatologischen Herrschaftsbereich des Herrn bis zur Vollendung der Neuschöpfung die Schöpfungsordnung in Geltung steht und damit Mann und Frau gerade in ihrer schöpfungsbedingten Verschiedenheit aufeinander hingeordnet und verwiesen bleiben (V. 11f.). Diese wechselseitige Hinordnung der Geschlechter in und aufgrund ihrer Verschiedenheit leitet Paulus nun aus seiner Interpretation der beiden Schöpfungserzählungen von Gen 1 (11,7) und Gen 2 (11,8f) ab, die er aufeinander bezieht und die er gemäß der zeitgenössisch-frühjüdischen Auslegungstradition patriarchal liest. So spielt er in V. 8 auf die Ersterschaffung des Mannes bzw. auf die Erschaffung der Frau aus dem Mann an (vgl. Gen 2,21f)24 und unterstreicht in V. 9, dass die Erschaffung der Frau um des Mannes willen geschah (vgl. Gen 2,18). Die beiden Verse halten also unter Berufung auf die jahwistische Schöpfungserzählung fest, dass im Blick auf den Anfang der Schöpfung die Frau dem Mann ihre Existenz verdankt, insofern sie aus ihm und für ihn erschaffen wurde. Im Aufbau der Argumentation dienen V. 8f. nun der Begründung von V. 7, der auf die Aussage der Gottebenbildlichkeit des Menschen aus Gen 1,26f zurückgreift. Bemerkenswert ist dabei, wie und mit welch eigenen Akzenten Paulus diese Aussage für seine Argumentation einsetzt. In der ihm vertrauten LXX-Fassung lauten die entscheidenden Passagen so: (26) „Und Gott sprach: Lasst uns einen Menschen (a;nqrwpon) machen nach unserem Bild (katV eivko,na h`mete,ran) und [uns] ähnlich gemacht (kaqV o`moi,wsin),25 und er soll herrschen über … (27) Und Gott machte den Menschen (to.n a;nqrwpon), nach dem Bilde Gottes (katV eivko,na qeou/) machte er ihn, männlich und weiblich (a;rsen kai. qh/lu) machte er sie.“
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Vgl. dazu schon V. 3, wo Paulus den Begriff „Haupt“ (kefalh,) im Verständnis von „Ursprung“ verwendet, vgl. M. Gielen, Beten (s. II.1.), 176f.178–180. Da o`moi,wsij ein Nomen actionis ist, das im Deutschen am besten verbal übersetzt wird (ähnlich machen) (vgl. W. Groß, Gen 1,26.27; 9,6: Statue oder Ebenbild Gottes? Aufgabe und Würde des Menschen nach dem hebräischen und dem griechischen Wortlaut, in: B. Hamm u.a. (Hg.), Menschenwürde [JBTh 15/2000], Neukirchen 2001, 11–38, 35), lässt sich die im griechischen Text vorhandene syntaktische Parallelität der beiden Präpositionalausdrücke (katV eivko,na, kaqV o`moi,wsin) in der Übersetzung leider nicht nachahmen.
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Vergleicht man Gen 1,26f LXX nun mit 1Kor 11,7b, so entsteht zunächst der Eindruck, Paulus wolle sein Insistieren auf Beachtung der Geschlechtsrollensymbolik (V. 7a) damit begründen, dass er der Frau – gegen Gen 1,27 – die Gottebenbildlichkeit abspricht.26 Denn während er dem Mann attestiert, dass er Bild (eivkw,n) und [Widerschein der] Herrlichkeit (do,xa) Gottes ist, will er der Frau scheinbar nur zugestehen, dass sie [Widerschein der] Herrlichkeit (do,xa) des Mannes ist. Bei genauerem Hinsehen allerdings legt sich ein differenzierteres Urteil über die paulinische Argumentation nahe. Dazu gilt es zunächst noch einmal den Blick zurückzulenken auf Gen 1,26 LXX: Hauptbegriff dort ist Bild (eivkw,n), der durch o`moi,wsij (ähnlich machen) semantisch nur bekräftigt wird.27 Gen 1,26f stellt zudem durch die präpositionale Formulierung mit kata, (nach/gemäß/entsprechend unserem Bild) sicher, dass sich die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit noch auf der Ebene analogen Denkens bewegt: Der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen, doch ist er nicht Bild Gottes. Diese Gleichsetzung, die zugleich die Frage impliziert, worin sich das Sein des Menschen als Bild Gottes inhaltlich dokumentiert, findet sich erst Weish 2,23. Zugleich bietet diese Stelle auch eine Antwort auf die genannte Frage: „Denn Gott schuf den Menschen zur Unvergänglichkeit und machte ihn zum Bild seiner eigenen Ewigkeit (eivko,na th/j ivdi,aj avi?dio,thtoj).“28 Die Parallelen zu 1Kor 11,7 sind deutlich erkennbar: Wie Weish 2,23 versteht auch Paulus die Gottebenbildlichkeit als seinshafte Aussage und qualifiziert sie inhaltlich. Im Unterschied zu Weish 2,23 ist sie aber paulinisch nicht durch das Kriterium der Unvergänglichkeit definiert, sondern (umfassender) durch das Kriterium der Herrlichkeit: Bild Gottes zu sein bedeutet demnach, Anteil zu haben an der göttlichen Lebenswirklichkeit als einer solchen in Herrlichkeit. Insofern also in 1Kor 11,7 Bild (eivkw,n) zunächst ein Leerbegriff ist, der erst durch Herrlichkeit (do,xa) inhaltlich qualifiziert wird,29 erweist sich – im Unterschied zu Gen 1,26f – do,xa hier als Leitbegriff.30 Dokumen26 27
28 29
30
Vgl. W. Groß, Statue, 38. Vgl. W. Groß, Statue, 35. Neben der syntaktischen Angleichung von kaq v o`moi,wsin an kat v eivko,na in Gen 1,26 LXX ist auch zu beachten, dass Gen 1,27 LXX nur den Begriff eivkw,n, nicht aber o`moi,wsij aufgreift. Vgl. dazu W. Groß, Statue, 36f. Insofern lässt sich die Konjunktion kai, (und) im Syntagma eivkw.n kai. do,xa qeou/ (Bild und [Widerschein der] Herrlichkeit Gottes) zutreffend als kai, explikativum (und zwar [das heißt]) verstehen. Ganz ähnlich kann etwa Ps 8, der sachlich und in seiner historischen Verankerung in großer Nähe zu Gen 1 steht (vgl. U. Neumann-Gorsolke, „Mit Ehre und Hoheit hast du ihn gekrönt“ [Ps 8,6b]. Alttestamentliche Aspekte zum Thema Menschenwürde, in: B. Hamm u.a. (Hg.), Menschenwürde [JBTh 15/2000], Neukirchen 2001, 39–65, 43), die Gottebenbildlichkeit des Menschen unter Verzicht auf den eivkw,n-Begriff thematisieren. In V. 6b bedient sich der Psalmist dabei mit der hebräischen Wortverbindung kabod wehadar (Herrlichkeit und Ehre) einer für Gott typischen Prädikation (vgl. Ps 29,1.4; 96,1; 104,1) (vgl. F.-L. Hossfeld/E. Zenger, Die Psalmen. Psalm 1–50 [NEB AT 29], Würzburg 1993, 80), die hier jedoch die herausragende, gottverdankte Stellung des Menschen in der Schöpfung bezeichnet und in der LXX durch do,xa kai. timh, (do,xa wiederum als Leitbegriff) übersetzt wird.
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tiert sich also gerade in der do,xa als Widerschein der göttlichen Herrlichkeit die Gottebenbildlichkeit, so ist festzuhalten: Paulus spricht der Frau mit 1Kor 11,7 diese Gottebenbildlichkeit gerade nicht ab, auch wenn er den Begriff Bild (eivkw,n) im konkreten Kontext nur auf den Mann bezieht und die der Frau eignende do,xa über den Mann vermittelt sein lässt. Dies jedoch als Gottebenbildlichkeit „zweiter Klasse“ und damit als Herabsetzung der Würde der Frau zu verstehen, hieße Paulus misszuverstehen. Denn in den unmittelbar anschließenden Versen 8 und 9 argumentiert er ja auf der Grundlage von Gen 2,21–23. Demnach aber ist die Frau im Unterschied zu allen anderen Lebewesen dem Mann ebenbürtig und nur deshalb ist sie ihm die adäquate Hilfe, deren er bedarf. Gerade daran hält Paulus fest. Pragmatisch geht es ihm bei seiner Argumentation um eine differenzierende Zuordnung der Geschlechter, die er aus der zeitlichen Abfolge (Ersterschaffung des Mannes) erschließt und aus welcher er die Unverzichtbarkeit einer Geschlechtsrollensymbolik ableitet. Eben dies dürfte der Grund sein, warum er die auch der Frau eignende Gottebenbildlichkeit, die er inhaltlich als do,xa entfaltet, mittelbar über den Mann verlaufen lässt. Dass er es jedoch vermeidet, die Frau ausdrücklich auch als Bild (eivkw,n), nicht nur als do,xa des Mannes zu bezeichnen, dürfte sich unschwer mit dem konkreten Anlass seiner Stellungnahme erklären. Denn angesichts der wahrscheinlichen Bestrebungen der korinthischen Christinnen, die gesellschaftlich akzeptierte Geschlechtsrollensymbolik außer Acht zu lassen und sich in ihrem Erscheinungsbild den Männern anzugleichen, hätte eine Formulierung „Bild des Mannes“ doch allzu sehr die Gefahr des Missverständnisses geborgen. Diese Gefahr ließ sich jedoch umso leichter vermeiden, insofern Paulus im Argumentationszusammenhang do,xa und nicht eivkw,n als Leitbegriff wählte.31 Das Herrlichkeitsmotiv begegnet damit innerhalb des 1Kor in 11,7 erstmals in einem protologisch konnotierten Aussagekontext. Der Begriff qualifiziert dabei die in Gen 1,26f. grundgelegte Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen inhaltlich dadurch, dass der Mensch gemäß Gottes Schöpferwillen die göttliche Herrlichkeit widerspiegelt und somit das, was Gottes Gottsein ausmacht.
31
Vgl. M. Gielen, Beten (s. II.1.), 178.
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1.4 Der künftige Auferweckungsleib – eschatologisch vollendete Anteilhabe an der göttlichen Herrlichkeitsexistenz unter dem Vorzeichen der Christusebenbildlichkeit (1Kor 15, 43 im Kontext von 15,42–49) Ein letztes Mal begegnet das Herrlichkeitsmotiv innerhalb des 1Kor in 15,43. Das gesamte 15. Kapitel des Briefes ist der Widerlegung der These gewidmet „Eine Auferstehung von Toten gibt es nicht“ (V. 12b). Diese These dürfte in Korinth wiederum von den Mitgliedern der Apollosgruppe (vgl. 1,12) vertreten worden sein. Denn ihre Heilshoffnung richtete sich auf den Erhalt einer rein pneumatischen Existenzweise nach dem Modell des erhöhten Christus, in dem sie – angeregt wohl durch Philos platonisierende Auslegung der Schöpfungserzählungen in Gen 1.2 – das Urbild des himmlisch-pneumatischen Menschen erkannten (s. Ziffer 1.). Damit war ihr Verständnis von Heil und Erlösung also grundlegend schöpfungstheologisch angelegt. Entsprechend mussten sie die erhoffte postmortale Existenz auch leiblos denken. Denn Leiblichkeit ist unter den Bedingungen dieser Schöpfung stets eine irdisch-materielle und damit vergängliche. Die Auferstehung Christi, die sie kaum geleugnet haben dürften, verstanden die Verfechter der korinthischen These in den Bahnen ihres schöpfungsimmanent fixierten Denkens wohl als Rückkehr in die urbildlich-pneumatische und damit leiblose Existenzweise. Auferstehung der Toten dagegen hat eine leibliche Dimension, die die korinthischen Apollosanhänger von ihren Verstehensvoraussetzungen aus nur als Rückkehr in dieses Leben verstehen konnten und daher ablehnen mussten.
Ziel der paulinischen Argumentation in 1Kor 15 ist es nun, auf der ihm und der korinthischen Gemeinde gemeinsamen Grundlage des urchristlichen Kerygmas (V. 3b–5) die schöpfungsimmanent konzipierte Soteriologie der korinthischen Bestreiter einer Totenauferweckung auf eine eschatologische Betrachtungsweise hin aufzubrechen. Denn im Einklang mit der urchristlichen Tradition und vor dem Hintergrund frühjüdischen Denkens stehen für Paulus Auferweckung Christi und Auferweckung der Toten in einem unauflöslichen, und zwar eschatologisch qualifizierten Zusammenhang. Totenauferweckung ist demnach ein Akt eschatologischer Neuschöpfung am Ende der Tage, die mit der Auferweckung Christi bereits begonnen hat (V. 20) und durch sie garantiert ist (V. 21f.). Die eschatologische Qualität der Auferstehungsexistenz impliziert dabei für Paulus selbstverständlich, dass die Leiblichkeit dieser Auferstehungsexistenz ebenfalls eschatologisch qualifiziert ist und somit nicht mehr den Bedingungen dieser Schöpfung unterliegt.32 Versucht Paulus in einem ersten Argumentationsgang (V. 12–34) in einer grundsätzlichen Beweisführung den Mitgliedern der korinthischen Gemeinde zu vermitteln, dass die Toten auferweckt werden (vgl. V. 12), widmet er sich in V. 35–49 der speziellen Beweisführung, wie die Toten auferweckt werden bzw. präziser: wie die eschatologische Auferstehungsexistenz zu denken ist (vgl. V. 35). Steht dabei der unverzichtbare Aspekt der Leiblichkeit im Mittelpunkt, so ist es aber zugleich pau32
Vgl. hierzu H. Merklein/M. Gielen, 1Kor III, 304–306.
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linische Intention, die Diskontinuität zwischen der irdischen Leiblichkeit und der eschatologischen Auferstehungsleiblichkeit herauszuarbeiten. Dazu bedient er sich in V. 36–38 sowie 39–41 schöpfungsimmanenter Beispiele. Er holt also seine Adressaten bei ihren eigenen Verstehensvoraussetzungen ab, um ihnen die Akzeptanz eines Analogieschlusses auf die eschatologische Neuschöpfung hin zu erleichtern bzw. zu ermöglichen. Bereits in V. 39–41 bedient sich Paulus übrigens in auffälliger Konzentration des Begriffs do,xa, nämlich ein Mal in V. 40 und vier Mal in V. 41. Wie wohl im schöpfungstheologischen Kontext – der kurze Abschnitt weist unübersehbare Reminiszenzen an die priesterschriftliche Schöpfungserzählung in Gen 1 auf33 –, steht die Verwendung des Begriffs hier im Unterschied zu 1Kor 11,7 in keinerlei Bezug zum Motiv der Gottebenbildlichkeit noch ist sie primär theologisch konnotiert.34 Vielmehr erklärt sie sich durch das Bemühen des Paulus um den Nachweis, dass Leiblichkeit für alle Geschöpfe dieser Welt – sei es auf der Erde, sei es am Himmel – konstitutiv ist (V. 40a), dass sich aber die Geschöpfe untereinander – sowohl auf der Erde wie auch am Himmel – in ihrer konkreten Leiblichkeit unterscheiden.35 Kann Paulus nun die differente Leiblichkeit in der Gruppe der Erdengeschöpfe mit der Bezeichnung Fleisch (sa,rx) umreißen (V. 39), so ist dieser Begriff für die Himmelsgeschöpfe unangemessen. Zudem eignet er sich auch nicht für die direkte Gegenüberstellung von Himmels- und Erdengeschöpfen (V. 40b). Stattdessen bedient sich Paulus nun des Begriffs do,xa in der Bedeutung „Erscheinung(sweise), Gestalt“, wobei bezogen auf die Gestirne durchaus die Nuance „Glanz“ mit hineinspielt.36 Allenfalls verhalten klingt in 15,40f bei do,xa der Aspekt der göttlichen Herrlichkeit an, wie sie an den Schöpfungswerken erkannt werden kann (vgl. Ps 8).37
Den durch V. 36–38.39–41 vorbereiteten Analogieschluss vollzieht Paulus dann in V. 42–44 und begründet ihn in V. 45–49 unter Rückgriff auf die Schrift. Gerade als analoges ist aber das Verhältnis zwischen Schöpfung und Neuschöpfung ungeachtet der Ähnlichkeit, die den Vergleich zwischen ihnen ermöglicht, zugleich gekennzeichnet von einem scharfen Kontrast zwischen beiden Größen. Entsprechend gestaltet Paulus V. 42–44 dezidiert antithetisch, wobei die konkreten Oppositionen den Gegensatz zwischen der Leiblichkeit unter den Bedingungen dieser Schöpfung (irdischer Leib [sw/ma yuciko,n]) und der Leiblichkeit unter den Bedingungen der Neuschöpfung (geistlicher Leib [sw/ma pneumatiko,n]) entfalten (V. 44). Ist der irdische Leib charakterisiert als eine Existenzweise in Vergänglichkeit (evn fqora/|) (V. 42), in Jämmerlichkeit (evn avtimi,a|) (V. 43a) und in Schwäche (evn avsqenei,a|) 33 34
35 36
37
Vgl. H. Merklein/M. Gielen, 1Kor III, 355–357. Allerdings lässt sich der Begriff do,xa in 1Kor 15.40.41 auch nicht der Bedeutungsgruppe „gesellschaftliche Wertung“ zuordnen (vgl. o. Anm. 2). Da die Belege aber innerhalb eines dezidiert theologischen bzw. eschatologisch-soteriologischen Argumentationszusammenhangs Verwendung finden, sollen sie aufgrund ihrer Argumentationsfunktion berücksichtigt werden. Vgl. H. Merklein/M. Gielen, 1Kor III, 354–357. Vgl. K. Müller, Die Leiblichkeit des Heils. 1Kor 15,35–58, in: L. de Lorenzi (Hg.), Résurrection du Christ et des Chrétiens (1Co 15) (Série monographique de „Benedictina“. Section Biblico-Oecuménique 8), Rom 1985, 171–281, 202–204. Zur Entfaltung kommt dieser Aspekt bei Paulus erst in Röm 1,19–23.
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(V. 43b), so zeichnet sich der geistliche Leib der Neuschöpfung aus als Existenzweise in Unvergänglichkeit (evn avfqarsi,a|) (V. 42), in Herrlichkeit (evn do,xh|) (V. 43a) und in Kraft (evn duna,mei) (V. 43b). Beachtung verdient hier, wie weit Paulus den korinthischen Bestreitern einer Totenauferweckung entgegenkommt. Zwar hält er unverrückbar an der erlösten Existenz als einer leiblichen Existenz fest, doch qualifiziert er diesen Leib ausdrücklich als einen pneumatischen Leib (V. 44). Den irdischen Leib aber versieht er durchweg mit negativ besetzten Attributen (Vergänglichkeit, Jämmerlichkeit, Schwäche), was den Mitgliedern der Apollosgruppe in ihrer Geringschätzung des Leibes entgegengekommen sein dürfte. Entsprechend weist Paulus in V. 43a dann auch den Begriff der do,xa, mit dem er in 11,7 noch die protologisch verankerte Gottebenbildlichkeit des Menschen als Widerspiegelung der Herrlichkeit des Schöpfergottes in dieser Welt inhaltlich qualifiziert hatte, nun konsequent dem Bereich der eschatologischen Neuschöpfung bzw. der Auferweckungsleiblichkeit zu. Erst der auferweckte pneumatische Leib hat wirklich und endgültig Anteil an der göttlichen Lebensdimension der Herrlichkeit, die sich zugleich durch Unvergänglichkeit und Kraft auszeichnet. Mit dieser eschatologisch-soteriologischen Akzentuierung von Herrlichkeit (do,xa) knüpft Paulus allerdings an die Verwendung des Begriffs in 2,7 an, wenngleich er in 15,43 stärker die Perspektive der Vollendung in den Blick nimmt. Im Vorgriff auf die Entfaltung, die das Herrlichkeitsmotiv in Verbindung mit dem Ebenbildlichkeitsmotiv in 2Kor erfahren wird, verdienen jetzt noch V. 45–49 Beachtung, auch wenn sich hier der Begriff do,xa ebenso wenig wie einer seiner Derivate findet. Kennzeichen von V. 45–49, die zu V. 42–44 in einem begründenden Verhältnis stehen, ist wiederum eine ausgeprägte Antithetik. Erneut treten Schöpfung und Neuschöpfung einander gegenüber, jetzt freilich unter dem neuen Aspekt ihrer jeweiligen Repräsentanten: Auf der Seite der Schöpfung Adam als der erste und zugleich irdische Mensch (V. 45a.47a), auf der Seite der Neuschöpfung Christus als der eschatologische Adam, als der zweite, himmlische und damit pneumatische Mensch (V. 45b.47b).38 V. 48f. erweitern dann die Gegenüberstellung von Adam und Christus um die Gegenüberstellung der zu ihnen Gehörenden. V. 48 betont die strenge Entsprechung zwischen dem von der Erde stammenden Adam und der protologisch-vergänglichen Existenz der Menschen einerseits sowie zwischen dem vom Himmel stammenden Christus und der eschatologisch-pneuma38
Im Unterschied zu V. 42–44, wo Paulus den korinthischen Bestreitern einer Totenauferweckung entgegenkommt, grenzt er sich hier deutlich von ihnen ab: Christus ist gerade nicht der urbildliche, sondern der eschatologische Mensch, dem als solchem eine pneumatische Existenz eignet. Dabei kann nach den vorausgehenden Ausführungen freilich kein Zweifel daran herrschen, dass diese pneumatische Existenz Christi aus seiner Auferweckung von den Toten resultiert und somit zugleich somatische Qualität besitzt.
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tischen Auferweckungsexistenz der Menschen andererseits. In V. 49 schließlich spitzt Paulus diesen Entsprechungsgedanken nicht nur existentiell auf den korinthischen Adressatenkreis und sich selbst zu, sondern bringt ihn auch unter der Perspektive der Ebenbildlichkeit präzise auf den Punkt: „Und wie wir das Bild des Irdischen getragen haben, so werden wir auch das Bild des Himmlischen tragen.“ Das „Bild des Irdischen“ (eivkw.n tou/ coi?kou/) bezeichnet die Adamebenbildlichkeit. Sie ist im Argumentationskontext definiert als Existenzweise in Vergänglichkeit, Jämmerlichkeit und Schwachheit (V. 42b.43a.b), kurz als eine dem Tod verfallene Existenz (vgl. 1Kor 15,21a.22a).39 Das „Bild des Himmlischen“ (eivkw.n tou/ evpourani,ou) bezeichnet dagegen die Christusebenbildlichkeit, die in antithetischer Entsprechung charakterisiert ist als Existenzweise in Unvergänglichkeit, Herrlichkeit und Kraft (V. 42b.43a.b). Die Christusebenbildlichkeit besteht damit in der (künftigen) Teilhabe an der pneumatischen Auferweckungsexistenz Christi (vgl. 1Kor 15,21b.22b). Bewusst kontrastiert Paulus im Übrigen hier wohl die Vergangenheit und nicht die Gegenwart mit der Zukunft.40 Denn im Glauben blicken sein Adressatenkreis und er bereits auf ihre todverfallene, adamitische Existenz zurück, die sie erfahrungsweltlich noch bestimmt.41 Zugleich sind sie durch ihre Bindung an Christus als den eschatologischen Adam, der lebendig machender Geist ist (V. 45b), schon in der Gegenwart auf die endzeitliche Zukunft hin ausgerichtet, in der sie als Christusebenbildliche – und das heißt in der vollendeten Herrlichkeit der Auferweckungsexistenz – leben werden.
1.5 Zwischenergebnis Damit spannt sich ein Bogen von der ersten (2,7f. im Kontext von 2,6–16) zur letzten (15,43a im Kontext von 15,42–44.45–49) Verwendung des Begriffes do,xa in 1Kor. Hier wie dort ist das Motiv der Herrlichkeit eschatologisch-soteriologisch konnotiert. Hier wie dort steht es in der Spannung zwischen dem Schon der im Glauben gegenwärtig beginnenden und dem Noch-Nicht der eschatologisch vollendeten Anteilhabe an der göttlichen Lebenswirklichkeit als einer Herrlichkeitsexistenz. Zugleich akzentuiert Paulus unterschiedlich. In 2,7f. betont er stärker den 39
40
41
Mit dem Motiv der Adamebenbildlichkeit eröffnet Paulus in 1Kor 15,49 (vgl. V. 42–48) also eine diametral entgegen gesetzte Perspektive auf den Menschen in seiner Geschöpflichkeit im Vergleich zum Motiv der Gottebenbildlichkeit in 1Kor 11,7! Zur Zeitenfolge in V. 49 (V. 49a: Vergangenheitstempus [augmentierter Aorist], V. 49b: Futur) vgl. H. Merklein/M. Gielen, 1Kor III , 369f; M. Gielen, Grundzüge (s. I.1.), 72. Dem entspricht, dass die gegenwärtig bereits beginnende Anteilhabe an der Herrlichkeit gerade durch das Kreuz geprägt ist (vgl. o. Ziffer 1.1 zu 1Kor 2,7 sowie u. Ziffer 2.2 zu 2Kor 3,18 und 2.4 zu 2Kor 4,17).
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Gegenwartsaspekt der bereits im präexistenten göttlichen Heilsplan verankerten und jetzt beginnenden Anteilhabe. Dabei schiebt er freilich der Gefahr eines enthusiastischen Missverständnisses einen Riegel vor, indem er ganz gemäß der Paradoxie göttlicher Weisheit, die er von 1,18 an dargelegt hat, deutlich macht, dass diese beginnende Herrlichkeitsexistenz nur und gerade als Kreuzesexistenz erfahrbar ist. Dagegen stellt er bei der knappen Herrlichkeitsaussage in 15,43a, die sich in ihrer vollen Bedeutung erst im Kontext von V. 42–49 erschließt, stärker den Zukunftsaspekt der eschatologisch vollendeten Herrlichkeitsexistenz heraus. Zugleich präzisiert er diese Herrlichkeitsexistenz als pneumatischen Auferweckungsleib nach dem Vorbild Christi als des Erstlings der Entschlafenen (15,20) und damit als Christusebenbildlichkeit (15,49). Im Unterschied zu dieser eschatologischen Qualifizierung des Herrlichkeitsmotivs bedient sich Paulus in 11,7 des Begriffs do,xa in einem schöpfungstheologischen Zusammenhang und verwendet ihn zur inhaltlichen Qualifizierung der protologisch fundierten Gottebenbildlichkeit. Die beiden Belege des Wortfeldes do,xa in 6,20 und 10,31 sind ethisch konnotiert und zielen darauf, dass durch das Handeln der korinthischen Gemeindemitglieder die Herrlichkeit Gottes in der Welt erkennbar wird. In 6,20 hebt Paulus dabei noch besonders nachdrücklich den responsorischen Charakter der Verherrlichung Gottes hervor, insofern dieses Verherrlichungsgeschehen vom Menschen her als adäquate Antwort auf das Heilshandeln Gottes im Kreuzesgeschehen erscheint.
2. Der zweite Korintherbrief Innerhalb des 2Kor findet sich das Herrlichkeitsmotiv ausschließlich in den Kapiteln 1–9, ist also auf den sog. Versöhnungsbrief beschränkt.42
42
Unabhängig davon, wie die Kapitel 10–13 beurteilt werden (ob als genuiner Bestandteil des kanonischen 2Kor, den Paulus nach dem Erhalt neuer Nachrichten aus der korinthischen Gemeinde noch vor Absendung des Schreibens 2Kor 1–9 anfügte oder als ursprünglich eigenständiger Brief, der a) kurze Zeit nach 2Kor 1–9 entstand bzw. b) mit dem sog. Tränenbrief [vgl. 2Kor 2,4] identisch ist), setzt sich in der Paulusforschung zunehmend die These durch, dass 2Kor 1–9 als kohärente briefliche Einheit mit dem Ziel der Aussöhnung zwischen Apostel und Gemeinde zu würdigen ist, von der sich die letzten vier Kapitel aufgrund des deutlich verschärften Tones und der Polemik abheben und so auf eine andere situative Verortung hinweisen, vgl. dazu etwa H.-J. Klauck, 2. Korintherbrief (NEB.NT 8), Würzburg 1986, 9; C. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (ThHK VIII), Leipzig 1989, 2; V. P. Furnish, II Corinthians (The Anchor Bible 32A), New York 1984, 35.41–48; H.-M. Wünsch, Der paulinische Brief 2Kor 1–9 als kommunikative Handlung. Eine rhetorisch-literaturwissenschaftliche Untersuchung (Theologie 4), Münster 1996; W. Kleine, Zwischen Furcht und Hoffnung. Eine textlinguistische Untersuchung des Briefes 2Kor 1–9 zur wechselseitigen Bedeutung der Beziehung von Apostel und Gemeinde (BBB 141), Berlin 2002.
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Dieser Versöhnungsbrief markiert den glücklichen Abschluss einer schwierigen Phase im Verhältnis zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde.43 Denn nicht lange nach der Abfassung des 1Kor war Paulus bei einem Kurzbesuch in der korinthischen Gemeinde von einem Gemeindemitglied persönlich schwer beleidigt worden. Mit einiger Wahrscheinlichkeit stand diese Beleidigung im Zusammenhang mit der Kollekte für Jerusalem und bestand im Vorwurf beabsichtigter Veruntreuung von Spendengeldern.44 Der Versöhnungsbrief 2Kor 1–9 entsteht, nachdem die korinthische Gemeinde sich – freilich erst nach überstürzter Abreise des Paulus und anschließend einsetzender „Krisendiplomatie“ (sog. Tränenbrief, vgl. 2,3f; Sendung des Titus nach Korinth, vgl. 7,6f.13–15) – von diesem Verhalten ihres Mitglieds distanziert und es sanktioniert hat (vgl. 2,5–7). So reicht auch Paulus in diesem Schreiben der Gemeinde die Hand zur Versöhnung (vgl. besonders 5,11–21!). Nachdem er das Briefcorpus mit einem Rückblick auf den Konflikt eröffnet hat (1,15–2,13), widmet er sich unter dem Vorzeichen der Versöhnung ausführlich dem Thema der wechselseitigen Verwiesenheit von Apostel und Gemeinde (2,14– 7,3). In Entsprechung zur retrospektiven Betrachtung des Konflikts blickt Paulus dann zunächst noch zurück auf dessen beginnende Beilegung (7,4–15), bevor er sich abschließend bemüht, die Gemeinde für die Teilnahme an der Kollektenaktion erneut zu gewinnen (8,1–9,15).45
Nicht weniger als 21 Mal bemüht Paulus nun im Versöhnungsbrief das Motiv der Herrlichkeit in theologischer Konnotation. Auffallend ist vor allem die Konzentration in den Kapitel 3f. (mit insgesamt 17 Belegen).
2.1 Die Zuverlässigkeit der Verkündiger in ihrem Handeln an der Gemeinde als Sichtbarmachen der Herrlichkeit Gottes (2Kor 1,20) Ein erstes Mal bedient sich Paulus des Begriffs do,xa innerhalb des Versöhnungsbriefs in 1,20. Eingebettet ist dieser Vers in den weiteren Zusammenhang von V. 15–24. Im Rahmen des Rückblicks auf den Konflikt zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde (1,15–2,13) verfolgen diese Verse das pragmatische Ziel, die Änderung der paulinischen Reiseplanung zu rechtfertigen (V. 23f). Offenbar hatte Paulus bei seinem sog. Zwischenbesuch in Korinth zunächst der Gemeinde für die nahe Zukunft einen weiteren Besuch in Aussicht gestellt (V. 15). Angesichts des Eklats, der den Zwischenbesuch dann abrupt beendete, verzichtete Paulus aber auf diese Visite und schrieb stattdessen den sog. Tränenbrief (vgl. 2,1–5), der von Titus der korinthischen Gemeinde überbracht worden sein dürfte (vgl. 7,6–16). Sei es, dass die Planungsänderung Paulus in Korinth als Wankelmut ausgelegt wurde, 43 44
45
Vgl. dazu W. Kleine, Furcht, 48–57. Darauf deutet jedenfalls die Beobachtung hin, dass sich das Motiv der moralischen Integrität des Paulus wie ein roter Faden durch das Schreiben zieht (1,12; 2,17; 4,2; 6,6). Kaum zufällig dürfte Paulus in 7,2 auch betonen: „Niemand haben wir ungerecht beurteilt, niemand finanziell ruiniert (evfqei,ramen), niemand übervorteilt (evpleonekth,samen). Vgl. ferner die gezielte Absicherung gegen Verdächtigungen im Zusammenhang der Kollektenaktion in 8,20f., dazu: W. Kleine, Furcht, 55. Nicht zufällig mündet der Versöhnungsbrief in die beiden Kollektenkapitel 8 und 9! Zur rhetorischen und pragmatischen Abstimmung der Kapitel 8f aufeinander und zu ihrer Beurteilung als pragmatischer Zielpunkt des Versöhnungsbriefes vgl. W. Kleine, Furcht, 46–48, 437–440.
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sei es, dass er diese Interpretation nur erwartete (vgl. 1,17), in 1,15–24 jedenfalls weist er entschieden einen solchen – tatsächlichen oder möglichen – Vorwurf als ungerechtfertigt zurück, und zwar untermauert durch eine dezidiert theologische Argumentation (V. 18–20.21f.). Die erste Argumentationseinheit (V. 18–20) mündet dabei in V. 20 in das Herrlichkeitsmotiv. Inhaltliches Zentrum dieser ersten Einheit ist die Treue Gottes, die sich in Jesus Christus als dem göttlichen Ja zu allen Verheißungen erweist (V. 19b.20a). Diese Treue Gottes garantiert damit für Paulus zugleich die Zuverlässigkeit des Wortes der Verkündiger (V. 18.19a).46 Daher ist jede Verdächtigung des Apostels, im Zusammenhang mit der Nichtrealisierung des angekündigten Gemeindebesuchs wankelmütig zu sein, von Gott her obsolet. Gerade die in Jesus Christus verbürgte Treue Gottes ist nämlich der Ermöglichungsgrund für die Verkündiger47, sich auf die ihnen aus dem göttlichen Heilshandeln erwachsende Aufgabe einzulassen, ihr Amen/Ja dazu durch Jesus Christus zu sprechen. Diese Aufgabe beinhaltet dabei nicht nur im engeren Sinn die Verkündigung des Evangeliums, sondern eine umfassende Sorge um das Wohl der Gemeinden, die Paulus im konkreten Fall auf den angekündigten Besuch in Korinth verzichten lässt (vgl. 1,23–2,1). Mit einer solch verantwortungsvollen Wahrnehmung ihrer Aufgabe aber machen die Verkündiger die Herrlichkeit Gottes für die Welt und in der Welt erkennbar. Wie schon in 1Kor 6,20; 10,31 bemüht Paulus also auch in 2Kor 1,20 das Herrlichkeitsmotiv (akzentuiert als prozesshaftes Geschehen der Verherrlichung) unter dem Vorzeichen einer angemessenen Antwort der Menschen auf Gottes Heilshandeln in Jesus Christus, und zwar in den konkreten Handlungsbezügen, in denen sie stehen.
2.2 Die Überbietung der heilsgeschichtlichen Offenbarung der Herrlichkeit Gottes im Sinaigeschehen durch ihre eschatologische Offenbarung im Christusgeschehen (2Kor 3,7–18) Mit 13 Belegen (V. 7[2x].8.9[2x].10 [3x].11[2x].18[3x] weist das Wortfeld do,xa in 2Kor 3,7–18 innerhalb der paulinischen Briefe seine größte Konzentration auf. Die Argumentation des Paulus in diesen Versen, die im übergreifenden Zusammenhang 46
47
Die Formulierung „unser an euch gerichtetes Wort“ (o` lo,goj h`mw/n o` pro.j u`ma/j) (V. 18) ist bewusst offen gewählt und vermeidet eine semantische Engführung auf die Evangeliumsverkündigung, die erst in V. 19a durch das Partizip khrucqei,j (von khru,ssomai = verkündigen) erfolgt. Damit lässt sich das Wort in V. 18 auch auf das Versprechen des Paulus beziehen, die korinthische Gemeinde bald wieder zu besuchen. Zur Einschränkung des Personalpronomens der 1. Pers. Pl. auf die Gruppe der Verkündiger vgl. C. Wolff, 2Kor, 36.
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der Thematik von der wechselseitigen Verwiesenheit von Apostel und Gemeinde stehen (2,14–7,3),48 wird damit in für ihn singulärer Weise vom Motiv der Herrlichkeit dominiert. Umgekehrt steht das Herrlichkeitsmotiv angesichts seiner konkreten brieflichen Einbettung dann aber im Dienst dieser übergeordneten Thematik. Zu Beginn von Kapitel 3 fasst Paulus in V. 1–3 zunächst seine eigene Verwiesenheit auf die Gemeinde in den Blick. Anknüpfend an den antiken Brauch von Empfehlungsschreiben (V. 1b) qualifiziert er die korinthische Gemeinde selbst metaphorisch als sein lebendiges und allen Menschen uneingeschränkt zugängliches Empfehlungsschreiben (V. 2). „Autor“ dieses Empfehlungsbriefes ist unzweifelhaft Christus, der freilich für dessen „Abfassung“ – also für die Gründung der Gemeinde – den Apostel in Dienst stellt (V. 3).49 Das aber bedeutet, dass die apostolische Autorität untrennbar mit der Existenz der Gemeinde verbunden ist, weil die Gemeinde die göttliche Legitimation des paulinischen Wirkens öffentlich bestätigt. Eine Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Apostel und Gemeinde kann damit nicht folgenlos bleiben. Mit V. 4 wird der Wechsel zur komplementären Perspektive der Verwiesenheit der Gemeinde auf den Apostel eingeleitet. Zunächst verweist Paulus gleichsam thetisch auf die Zuversicht, die er vor Gott hat50 und die ihm durch Christus erwächst (V. 4). Die Präpositionalwendung durch Christus (dia. tou/ Cristou/) dürfte dabei auf die Offenbarung Christi zielen, die Paulus von Gott aus zuteil wurde und durch die er als Apostel der Heiden in Dienst gestellt wurde (vgl. Gal 1,15; 2Kor 4,6).51 In Gott selbst also, der Paulus zum authentischen Urteil (und zwar konkret über sein Heilshandeln in Christus) (V. 5) und damit als Diener des neuen Bundes (V. 6a) befähigt hat, wurzelt die Zuversicht, die den Apostel vor Gott trägt. Die göttliche Authentizität seines Urteils und seines Dienstes aber kommt der Gemeinde zugute, die somit – soll das Heilshandeln Gottes für sie Früchte tragen – auf das Wirken des Apostels angewiesen bleibt.
Gleichsam eine „Kostprobe“ seiner apostolischen Urteilsfähigkeit liefert Paulus der korinthischen Gemeinde dann in V. 7–18. Die Hintergrundfolie dieser Verse bildet die Erzählung über die Rückkehr des Moses vom Sinai im Kontext der Bundeserneuerung (Ex 34,29–35). Diese Erzählung legt Paulus midraschartig aus52 und macht sie speziell in V. 7–11 einem typologischen Überbietungsschema nutzbar. Als Anknüpfungspunkt dieser typologischen Interpretation der Exoduserzählung dient Paulus seine Qualifizierung als „Diener des neuen Bundes“ (V. 6), also seine Indienststellung für die Verkündigung des göttlichen Heilshandelns in Christus. Dabei präzisiert er diese Qualifizierung semantisch noch durch eine scharfe Antithetik: Diener des neuen Bundes zu sein heißt Diener des lebendig machenden Geistes, nicht aber Diener des tötenden Buchstabens zu sein. In V. 7–11 setzt sich diese Antithetik fort, allerdings mit bezeichnenden Modifikationen. Zunächst ein48 49
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Vgl. W. Kleine, Furcht, 161–164. Vgl. H. Windisch, Der Zweite Korintherbrief (KEK 6), Göttingen 1970 (= Neudruck der Auflage von 1924 [herausgegeben von G. Strecker]), 105. Zum Verständnis der ntl. singulären Verbindung pepoi,qhsij pro,j (Zuversicht vor, nicht Vertrauen auf) vgl. C. Wolff, 2Kor, 60; E. Gräßer, Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 1,1–7,16 (ÖTBK 8/1) Gütersloh 2002, 123; W. Kleine, Furcht, 193. Ähnlich J. Schröter, Versöhner, 78 mit Anm. 1. Vgl. H.-J. Klauck, 2Kor,37; O. Hofius, Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, in: Ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 1989, 75–120, 86–107; anders M. M. Gruber, Herrlichkeit, 207.
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mal fällt auf, dass Paulus im Folgenden nicht mehr persönlich von „Diener“ (dia,konoj), sondern unpersönlich von „Dienst“ (diakoni,a) spricht (V. 7–9)53 und damit die eigene Person vorübergehend in den Hintergrund treten lässt. Sodann nimmt er in V. 7 eine entscheidende inhaltliche Zuordnung vor, indem er den „Dienst des Todes“ in Beziehung setzt zum Sinaigeschehen,54 näherhin zur Bundeserneuerung (Ex 34), als dessen Repräsentant explizit Moses genannt wird. Vor allem aber ersetzt Paulus die V. 6 kennzeichnende absolute Antithetik durch eine relative, deren Vergleichspunkt in V. 7–11 durch das Wortfeld do,xa bezeichnet wird. Obwohl nun das Sinaigeschehen durchweg negativ konnotiert wird (Dienst des Todes V. 7; Dienst der Verurteilung V. 9; das Vergehende V. 11),55 ist es gleichwohl – wie Paulus wiederholt betont (V. 7a.9a.10.11a) – ein Herrlichkeitsgeschehen,56 also ein Geschehen, in dem sich heilsgeschichtlich Gottes Gottsein als ein Sein in Herrlichkeit offenbart. Dies leitet Paulus mit V. 7b offenbar aus Ex 34,29b–30 ab. Denn dort heißt es, dass das Angesicht des Moses nach seiner Gottesbegegnung do,xa ausstrahlte, dass sich also die Herrlichkeit Gottes im Angesicht des Moses widerspiegelte. Die angemessene Reaktion der Israeliten auf diese – wenngleich nur mittelbare – Begegnung mit der Herrlichkeit als dem Spezifikum göttlichen Seins ist Furcht (Ex 34,30b). An eben dieses Motiv der Furcht knüpft Paulus in V. 7b an, wobei er freilich etwas anders akzentuiert: Allein schon der Widerschein der göttlichen Herrlichkeit auf dem Angesicht des Moses überfordert die Israeliten, Moses unverwandt anzuschauen und dies – wie Paulus gegen den Exodustext hinzufügt57 – obwohl die an Moses wahrnehmbare do,xa doch vergeht. Mit der Einfügung des Motivs der Vergänglichkeit nimmt Paulus nun die entscheidende Weichenstellung vor, um im Folgenden gleich dreifach dem Sinaigeschehen als heilsgeschichtlicher Offenbarung der Herrlichkeit Gottes das Christusgeschehen 53
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Dies wird im Übrigen in V. 10f. noch fortgesetzt, wo neutrische Formulierungen (das Verherrlichte [V. 10], das Vergehende, das Bleibende [V. 11]) den Begriff des Dienstes, der zuvor jeweils durch ein Genitivattribut positiv oder negativ konnotiert wurde, substituieren. Vgl. die auf diakoni,a bezogene Partizipialkonstruktion „mit steinernen Buchstaben eingemeißelt“ (evn gra,mmasin evntetupwme,nh li,qoij). Der „Dienst, der zum Tod führt“ ist damit identifiziert als die auf Steintafeln eingemeißelte Sinaitora (vgl. Ex 34, 4.27–29). Diese negative Konnotation ist allerdings gemäß der theologischen bzw. christologischen Hermeneutik des Paulus dem Sinaigeschehen bzw. der Sinaitora nicht inhärent, sondern erwächst aus der Erkenntnis, dass die Menschen ausnahmslos Nichttäter dieser Tora sind, deren von Gott her Leben spendende Funktion sich damit in ihr Gegenteil verkehrt, vgl. H. Merklein, Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi für die paulinische Gerechtigkeits- und Gesetzesthematik, in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 1–106, 76–78; Ders., Der (neue) Bund als Thema der paulinischen Theologie, in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT105), Tübingen 1998, 357–376, 361–363. Vgl. auch J. Schröter, Versöhner, 91. Darauf verweisen etwa auch D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus (BHTh 69), Tübingen 1986, 333 u. Anm. 13; J. Schröter, Versöhner, 91, M. Hasitschka, „Diener eines neuen Bundes“. Skizze zum Selbstverständnis des Paulus in 2Kor 3,4–4,6, in: ZKTh 121 (1999), 291–299, 294.
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als die sie überbietende, gleichsam in den Schatten stellende58 eschatologisch-endgültige (vgl. V. 11: das Bleibende [to. me,non]) Offenbarung der göttlichen do,xa gegenüberzustellen. Eine geradezu paradoxe Zuspitzung erfährt diese überbietende Gegenüberstellung von Sinaigeschehen und Christusgeschehen in V. 10: Aus der Perspektive ante Christum erweist sich das Sinaigeschehen als ein Geschehen, in dem sich heilsgeschichtlich die Herrlichkeit Gottes offenbart. Aus der Perspektive der alles überragenden eschatologischen Offenbarung der Herrlichkeit Gottes im Christusgeschehen (vgl. „in diesem Fall“ [evn tou,tw| tw|/ me,rei]) dagegen gibt sich die Herrlichkeit des Sinaigeschehens geradezu als Nicht-Herrlichkeit zu erkennen. Eine vergleichbar differierende Beurteilung von do,xa-Präsenz je nach Perspektive – wenngleich in einem anderen Argumentationszusammenhang – begegnete bei Paulus bereits in 1Kor: Unter ausschließlich schöpfungstheologischem Vorzeichen setzt er in 1Kor 11,7 für seine Argumentation selbstverständlich voraus, dass die korinthischen Gemeindemitglieder als konkret in dieser (vergänglichen) Welt lebende Menschen Gottes Ebenbilder sind und ihnen damit do,xa im Verständnis des Widerscheins göttlicher Herrlichkeit gegeben ist. In der Gegenüberstellung freilich von irdischer Existenz unter den Bedingungen dieser vergänglichen Schöpfung und der Auferweckungsexistenz unter den Bedingungen der eschatologischen Neuschöpfung in 1Kor 15,42– 44 spricht Paulus angesichts der Herrlichkeit der Auferweckungsexistenz der irdischen Existenz keinerlei do,xa mehr zu, sondern qualifiziert die irdische Existenz einseitig negativ als Existenz in Jämmerlichkeit (V. 43a; vgl. V. 42 in Vergänglichkeit; V. 43b: in Schwachheit).
Mit der kontrastierend-überbietenden Gegenüberstellung von Sinaigeschehen und Christusgeschehen anhand des am Maßstab der do,xa durchgeführten Vergleichs in 2Kor 3,7–11 wird die Verwendung des Herrlichkeitsmotivs, das bereits unter protologischer wie eschatologischer Perspektive bemüht wurde, nun durch die heilsgeschichtliche Perspektive ergänzt. Pragmatisch geht es Paulus in diesen Versen um den Nachweis seiner von Gott stammenden Befähigung, den unüberbietbaren soteriologischen Stellenwert des Christusgeschehens als eschatologisch-endgültiger Offenbarung der Herrlichkeit Gottes zutreffend zu beurteilen (V. 5), und um den Nachweis seiner von Gott stammenden Befähigung, dieses Christusgeschehens als Diener des neuen Bundes zu verkündigen (V. 6). Beide Facetten seiner göttlichen Befähigung aber kommen der Gemeinde zugute. Damit steht auch im Hintergrund von V. 7–11 der Gedanke der Verwiesenheit der Gemeinde auf ihren Apostel, der in den folgenden Versen noch vertieft wird. Dazu setzt sich Paulus in V. 12f. zunächst von Moses als dem Repräsentanten bzw. Diener des Sinaigeschehens ab. Kennzeichen seines apostolischen Wirkens ist die Offenheit. Diese Offenheit (parrhsi,a) erwächst aus der Hoffnung, die sich auf die zuvor entfaltete (vgl. V. 7–11) gottgeschenkte Erkenntnis der alles heilsge-
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Vgl. das dreimalige „um wie viel mehr“ (pollw|/ ma/llon) V. 8.9b.11b. In dieselbe Kerbe schlägt die Attributierung der auf das Christusgeschehen bezogenen do,xa als „überragend“ (u`perballou,sa).
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schichtliche Wirken überragenden, eschatologischen Offenbarung der Herrlichkeit Gottes im Christusgeschehen gründet (V. 12). Entsprechend wird das Verhalten des Moses gleichsam als dunkle Hintergrundfolie stilisiert, vor der sich die Haltung des Paulus umso strahlender abhebt. Dabei greift Paulus in V. 13 modifizierend V. 7b auf. In V. 7b nämlich rezipierte er Ex 34, 29b–30, ergänzt um den Aspekt der Vergänglichkeit des Widerscheins göttlicher do,xa auf dem Angesicht des Moses. In V. 13 bezieht er jetzt unter Rückgriff auf Ex 34,35 das Motiv der Decke (ka,lumma) ein, mit der Moses sein Gesicht bedeckte. Während sich aber dieses Motiv in Ex 34,35 im Zusammenhang mit Ex 34,30 als Maßnahme des Moses erklärt, den Israeliten die Furcht angesichts der (wenngleich nur mittelbaren) Konfrontation mit der göttlichen Herrlichkeit zu nehmen, unterstellt Paulus Moses einen negativ anmutenden Beweggrund. Er geht dabei aus von der Vergänglichkeit des Sinaigeschehens wie der dabei erfolgten heilsgeschichtlichen Offenbarung der Herrlichkeit Gottes. Diese Vergänglichkeit leitet er aus dem eschatologischen Christusgeschehen ab und stellt sie retrospektiv in eine Beziehung zu der von Moses vorgenommenen Verhüllung des Angesichtes. Damit erscheint nun die Verhüllung als Bemühen, die Vergänglichkeit zu verschleiern. Diese „Verschleierungstaktik“ aber steht in Gegensatz zur Offenheit, mit der Paulus auftritt. Pragmatisch will er mit der Betonung seiner parrhsi,a wohl seinen gemeindlichen Kritikern signalisieren, dass er nichts zu verbergen hat.59 Seine Verkündigung verfolgt dem göttlichen Auftrag gemäß ausschließlich das Heil der Gemeinde und keine persönlichen Ziele wie etwa die eigene Bereicherung (vgl. 2Kor 2,17). Setzt Paulus sich in V. 12f von Moses ab, so kontrastiert er in V. 14–17 die Mitglieder des Volkes Israel und die Mitglieder der Gemeinde. Chiastisch an das „Negativbeispiel“ des Moses anknüpfend greift er das Motiv der verhüllenden Decke auf (V. 14f.), um jetzt die gegenwärtige Haltung Israels so zu zeichnen, dass sich die Haltung der Gemeinde davon positiv abhebt (V. 16). Das Motiv der verhüllenden Decke wird dabei einmal mehr variiert. Denn nun liegt eben diese Decke, die Moses zur Verschleierung der Vergänglichkeit des Sinaigeschehens verwendete (V. 13), nicht mehr auf seinem Angesicht, sondern auf den Herzen der Israeliten. Und zwar verhüllt sie ihre Herzen immer dann, wenn die auf dem Sinai erlassene Tora, die jetzt in Entsprechung zur Rede vom neuen Bund (V. 6) explizit als „alter
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Vgl. H.-M. Wünsch, Brief, 249. Gerade wenn O. Hofius, Gesetz, 87 zutreffend feststellt, dass 2Kor 3,7– 18 integraler Bestandteil des Argumenationskontextes 2Kor 2,14–4,6 ist und für diesen Kontext ad hoc formuliert wurde, ist m.E. nicht nachvollziehbar, dass er für den Gegensatz von paulinischer Offenheit und mosaischer Verhüllungsmaßnahme (3,12f) einen pragmatischen „Seitenhieb“ auf die konkrete Kommunikationssituation zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde ausschließen will, die er für 4,2 selbstverständlich annimmt (vgl. O. Hofius, Gesetz, 105 mit Anm. 190).
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Bund“ bezeichnet wird (V. 14)60, verlesen wird. Die verhüllende Decke dient Paulus damit als Metapher für die Verstockung der Israeliten, die sie die Heilsbedeutung des Christusgeschehens nicht erkennen lässt. Eine solche – wirkungsgeschichtlich verheerende – Aussage erwächst bei Paulus sicherlich aus seiner Enttäuschung und Trauer über die mehrheitlich ablehnende Haltung Israels gegenüber der Evangeliumsverkündigung (vgl. Röm 9,1–3). Im Argumentationsgang von 2Kor 3 dient sie pragmatisch als Kontrastfolie zur Konstituierung der Gemeinde der an Christus Glaubenden (V. 16). V. 16 nun ist in deutlicher Anspielung auf Ex 34,34a (LXX) formuliert, allerdings wiederum mit bezeichnenden Modulationen. Abweichend von Ex 34,34a wird nicht Moses als handelndes Subjekt genannt, vielmehr wird elliptisch formuliert, wobei ein unbestimmtes ti,j (jemand) als Subjekt zu ergänzen ist. Statt wie in Ex 34,34a mit dem Imperfekt den Blick auf ein vergangenes Geschehen zu richten, zielt die Aussage auf ein Geschehen der Gegenwart. Und schließlich wird das lokal konnotierte Verb „hineingehen“ (eivsporeu,esqai) gegen das Verb „sich hinwenden“ (evpistre,fesqai) ausgetauscht, das hier metaphorisch eine Bewegung im geistig-geistlichen Sinn bezeichnet und als Fachbegriff für die Bekehrung gilt.61 Aufgrund dieser Eingriffe, die Paulus in den Wortlaut von Ex 34.34a (LXX) vornimmt, wird Moses jetzt in V. 16 zum (durchaus positiv verstandenen!) Typos, der voraus weist auf jeden – Juden wie Heiden – der sich in der eschatologisch qualifizierten Gegenwart zum allein dem Menschen Freiheit62 garantierenden (V. 17) Kyrios Christos hinwendet.63 Diese Hinwendung erfolgt durch die Annahme des Evangeliums, das Paulus im Auftrag und als Diener Gottes (V. 6; vgl. 4,1; 1Kor 1,17; Gal 1,15f) verkündet. Wie Moses Gott im Bundeszelt begegnete, so wird nun das Evangelium zum „Ort“ der Gottesbegegnung im Kyrios Christus.64 Erneut wird damit die Verwiesenheit der Gemeinde auf den Apostel als dem Boten dieses Evangeliums greifbar. 60
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In V. 15 wird die Bezeichnung der Sinaitora als „alter Bund“ semantisch substituiert durch die Identifizierung der Sinaitora mit der Person des Moses, der nach Ex 34 die von Gott erlassene Sinaitora für Israel aufgeschrieben hat. Vgl. G. Bertram, evpistre,fw/evpistrofh, :ThWNT VII, Stuttgart 1964, 722–729, 728. Im Kontext der Argumentation ist „Freiheit“ in V. 17 als semantische Opposition zu der Decke zu verstehen, die nach V. 14f beim Verlesen der Sinaitora auf den Herzen der Söhne Israels liegt. Sobald die Decke durch die Hinwendung zum Kyrios entfernt ist, ist dem Menschen Freiheit gegeben. Inhaltlich besteht diese Freiheit dann aber im Freisein von der verurteilenden (V. 9 „Dienst der Verurteilung“) und todbringenden (V. 7 „Dienst des Todes“) Funktion, die die Tora gegenüber den Nichttätern des Gesetzes entfalten muss, vgl. dazu etwa E. Gräßer, 2Kor I, 141. Ähnlich verbindet auch H.-J. Klauck, 2 Kor, 40 mit V. 16 eine prototypische Funktion des Moses, die er allerdings auf „jeden in Israel“ einschränkt. Dies dürfte angesichts des paulinischen Selbstverständnisses als Heidenapostel (vgl. Gal 1,15f) doch eine unzutreffende Einschränkung der Aussage sein, die m.E. gerade deshalb so vage formuliert ist, um entgegen der Erfahrungswirklichkeit die Möglichkeit der Hinwendung zum Kyrios auch für jeden in Israel offen zu halten. Vgl. M. Gielen, Grundzüge (s. I.1.), 68.
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In V. 18 führt Paulus den mit 3,1 beginnenden Gedankenbogen zu Ende, indem er die aus dem zuvor Gesagten ersichtlichen soteriologischen Konsequenzen für sich und seine korinthischen Briefadressaten (wir alle65 aber)66 zusammenfasst. V. 18a knüpft dabei an V. 16 an: Insofern nämlich die Hinwendung zum Kyrios durch die Akzeptanz der Evangeliumsverkündigung erfolgt und einhergeht mit der Entfernung der verhüllenden Decke, schauen die Glaubenden eben mit unverhülltem Angesicht im Evangelium67, das somit die Funktion des Spiegels erfüllt,68 die Herrlichkeit (do,xa) des Kyrios. Ist das Herrlichkeitsmotiv in V. 7–11 auf das Sinaigeschehen und das Christusgeschehen als Manifestationen des heilsgeschichtlichen und eschatologischen Handelns Gottes bezogen, so wird es in V. 18 christologisch auf die Person des Kyrios zugespitzt. Indem aber die Glaubenden im Evangelium die Herrlichkeit des Herrn als Spiegelbild erkennen, beginnt ihre vom Geist gewirkte69 Verwandlung, deren Zielpunkt die vollkommene Christusebenbildlichkeit70 ist. Diese Verwandlung als Verherrlichungsgeschehen vollzieht sich gleichsam in zwei Stufen „von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (avpo. do,xhj eivj do,xan) und steht damit in der eschatologischen Spannung zwischen dem Schon und Noch-Nicht. Gemäß paulinischem Denken gibt sich die mit der Annahme des Evangeliums erreichte gegenwärtige Herrlichkeitsstufe unter Rückgriff auf 1Kor 2,7f paradoxerweise nur als Kreuzesexistenz zu erkennen, das heißt freilich zugleich als Existenz, die geprägt ist durch die Heil bringende Kraft des Kreuzes Christi als der Manifestation der paradoxen Weisheit Gottes (s. Ziffer 1.1). Nicht zuletzt aufgrund dieser soteriologischen Bestimmung dürfte Paulus sich berechtigt sehen, bereits die gegenwärtige Existenz der Glaubenden als Herrlichkeitsexistenz zu qualifizieren. Ebenfalls in 1Kor gibt Paulus schon einmal den Blick frei auf die künftige Stufe vollkommener Herrlichkeit, die die Glaubenden erwartet. Er tut dies in 1Kor 15,49 in Entsprechung zu 2Kor 3,18 unter Zuhilfenahme des Ebenbildlichkeitsmotivs. Dabei stellt die Einbindung in den Gesamtkontext von 1Kor 15 sicher, dass die Aussage „wir 65
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„Alle“ (pa,ntej) hat angesichts der soliden handschriftlichen Bezeugung (es fehlt nur in P46 sowie in einem Vulgata-Manuskript) als ursprünglich zu gelten, vgl. C. Wolff, 2Kor, 77 m. Anm. 138; E. Gräßer, 2Kor I, 142. Grundsätzlich gilt die Aussage natürlich uneingeschränkt für alle, die sich dem Christusgeschehen öffnen (= alle Christen), vgl. H.-J. Klauck, 2Kor, 41; C. Wolff, 2Kor, 77; E. Gräßer, 2Kor I, 142. Aufgrund der konkreten kommunikativen Verankerung der Aussage zielt sie jedoch unmittelbar und primär auf Paulus und die Mitglieder der korinthischen Gemeinde. Zum Bezug auf das Evangelium vgl. u.a. O. Hofius, Gesetz, 115–117; H. Merklein, Christus als Bild Gottes im Neuen Testament, in: I. Baldermann u.a. (Hg.), Die Macht der Bilder (JBTh 13), NeukirchenVluyn 1998, 53–75, 70; C. Wolff, 2Kor, 78; E. Gräßer, 2Kor I, 143. Zur Bevorzugung der Übersetzung von katoptri,zomai mit „wie in einem Spiegel schauen“ statt „widerspiegeln“ vgl. M. Gielen, Grundzüge (s. I.1.), 67–69. Vgl. die zutreffende Paraphrase bei C. Wolff, 2Kor, 78 „so wie es sich ergibt, wenn der Herr durch den Geist an uns wirkt“. „Wir werden verwandelt in eben dasselbe Bild (nämlich das der do,xa des Herrn)“.
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werden tragen das Bild des Himmlischen“ sich auf die Teilhabe an der Auferweckungsexistenz Christi bezieht, die nach 15,43 eine Existenz „in Herrlichkeit“ (evn do,xh/|) ist, also eine Existenz der Teilhabe an der göttlichen Lebenswirklichkeit (s. Ziffer 1.4.). Unter Würdigung der sachlichen Berührungen mit zentralen Herrlichkeitsaussagen in 1Kor lässt sich 2Kor 3,18 damit folgendermaßen paraphrasierend zusammenfassen: Im Evangelium tritt den Glaubenden gleichsam wie in einem Spiegelbild die Herrlichkeit des Herrn als eine Herrlichkeit in der Spannung zwischen Kreuz und Auferweckung entgegen. Diese spannungsvolle Herrlichkeitsexistenz ist gleichsam Vor-Bild für die Glaubenden, deren Existenz mit der Hinwendung zum Kyrios (vgl. V. 16) eine Christus ebenbildliche und damit durch do,xa gekennzeichnete geworden ist. Auf der gegenwärtigen Herrlichkeitsstufe erweist sich die Christusebenbildlichkeit als geprägt durch das Kreuz; auf der künftigen Herrlichkeitsstufe der eschatologischen Vollendung aber besteht die Christusebenbildlichkeit in der Teilhabe an der Auferweckungsexistenz Christi. Insgesamt steht in 2Kor 3,18 die Verwendung des Wortfeldes do,xa unter eschatologisch-soteriologischem Vorzeichen, erhält aber durch die Verknüpfung mit dem Motiv der Christusebenbildlichkeit gleichzeitig einen deutlich christologischen Akzent. Diese Verknüpfung von Herrlichkeits- und Ebenbildlichkeitsmotiv kennzeichnet nun auch die beiden nächsten Belege des Wortfeldes in 2Kor 4,4.6.
2.3 Die Gottebenbildlichkeit Christi als eschatologische Erkenntnismöglichkeit göttlichen Seins als Herrlichkeitsexistenz (2Kor 4,4.6) Unmittelbar an 3,18 anschließend tritt mit 4,1f der situative Hintergrund des Versöhnungsbriefes 2Kor 1–9 wieder schärfer hervor. Einleitend erinnert Paulus die korinthische Gemeinde noch einmal an seine Indienstnahme durch Gott (V. 1). Inhaltlich ist diese Indienstnahme bezogen auf den neuen Bund und wird konkret in der Evangeliumsverkündigung (vgl. 3,6). Die Übertragung der Verkündigungsaufgabe verbindet sich für Paulus mit seinem Berufungserlebnis, das er als einen Akt des gänzlich unverdienten erbarmenden Handelns Gottes an sich erfährt (vgl. Gal 1,15f; 1Kor 15,8–10). Und diese Erfahrung setzt bei ihm ungeahnte Kräfte frei (vgl. 1Kor 15,10). Sie verhindert, dass er müde wird bzw. den Mut verliert71 (V. 1). Diese Bemerkung ist im Rahmen des Versöhnungsbriefes wohl kaum eine allge71
Das Verb evgkake,w weist diese beide Bedeutungsnuancen auf (vgl. K. Aland/B. Aland [Hg.], Griechischdeutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur von W. Bauer, 6., völlig neu bearbeitete Auflage Berlin 1988, 434.), die in 2Kor 4,1 auch beide mit hineinspielen dürften.
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meine Feststellung. Vielmehr dürfte Paulus sie konkret auf den Konflikt mit der korinthischen Gemeinde beziehen. Trotz der Schwierigkeiten und Enttäuschungen, die die Gemeinde ihm bereitet hat, sieht er keinen Anlass zur Resignation. Deutlicher noch tritt die situative Verortung des Schreibens dann in V. 2 zutage. Dem in Korinth gegen ihn erhobenen Vorwurf der Unredlichkeit hält Paulus die Redlichkeit und Wahrhaftigkeit seines Handelns im Dienst des Evangeliums entgegen. Basis dafür ist einmal mehr sein Berufungserlebnis, das einherging mit einer Absage72 an schändliche Verhaltensweisen, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen müssen. Paulus daher eine beabsichtigte Veruntreuung von Spendengeldern unterstellen zu wollen, ist absurd. Er hat es nicht nötig, mit Tricks zu arbeiten und das Wort Gottes zu seinem Vorteil zu verfälschen.73 Sein Verhalten, das gekennzeichnet ist durch eine offene Verkündigung der Wahrheit, hat vor Gott Bestand. Es erweist sich aber auch den Menschen gegenüber als untadelig, sofern sie als Beurteilungsinstanz ihr Gewissen bemühen. Mit V. 3f. greift Paulus wieder das Motiv der Verhüllung auf, das bereits den Argumentationskontext in 3,12–18 dominiert hatte. Obwohl die paulinische Verkündigung sich durch Offenheit auszeichnet (V. 2; vgl. 3,12), bleibt das Evangelium doch für eine bestimmte Gruppe von Menschen verhüllt. Damit fasst Paulus hier in Abgrenzung vom positiven Beispiel der korinthischen Gemeinde (vgl. 3,16.18) alle diejenigen in den Blick, die sich seiner Evangeliumsverkündigung verschließen. Diese negativen Missionserfahrungen schreibt er in typisch dualistischer Weltsicht dem Wirken einer widergöttlichen Macht zu.74 Die Charakterisierung dieser widergöttlichen Macht als „Gott dieser Weltzeit“ zeigt im Übrigen an, dass sie zur vergänglichen Schöpfung gehört. Diese Schöpfung aber ist mit der Auferweckung Christi bereits prinzipiell an ihr Ende gekommen. Bis zum endgültigen Durchbruch der neuen Schöpfung ist freilich dem Gott dieser Weltzeit noch ein Spielraum gegeben (vgl. 1Kor 15,24–28).75 Diesen Spielraum nutzt er, um die Gedanken der Ungläubigen zu verblenden. In V. 4b beschreibt Paulus dann das, was durch das verblendende Wirken der widergöttlichen Macht der Erkenntnis der Ungläubigen verschlossen bleibt, als „Leuchten des Evangeliums der Herrlichkeit Christi (to.n fwtismo.n tou/ euvaggeli,ou th/j do,xhj tou/ Cristou/) (…), welcher das Bild Gottes ist (o[j evstin eivkw.n tou/ qeou/)“. Die Rückbindung dieser Formulierung 72 73
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Vgl. die punktuell-ingressive Aktionsart der Aoristform avpeipa,meqa („wir haben uns losgesagt“). V. 2 greift damit ziemlich genau die Aussage von 2,17 auf, wo Paulus bereits versichert hatte: „Wir sind ja nicht wie die Vielen, die das Wort Gottes verhökern, sondern wie man aus Lauterkeit und aus Gott reden muss, so reden wir vor Gott in Christus.“ Die beiden inhaltlich nahezu identischen Bemerkungen (zum Rückbezug von 4,2 auf 2,17 vgl. W. Kleine, Furcht, 226f.) zeigen deutlich, wie sehr Paulus der ungerechtfertigte Vorwurf der Unredlichkeit und Selbstbereicherung menschlich getroffen haben muss. Vgl. J. Schröter, Versöhner, 134. Vgl. dazu M. Gielen, Totenauferweckung (s. I.3.), 121–125.
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an 3,18 ist offenkundig: Die Herrlichkeit Christi (bzw. des Kyrios, 3,18), das heißt, seine Existenz als solche der göttlichen Lebenswirklichkeit, ist mit Hilfe des Evangeliums erkennbar. Bedient sich Paulus jedoch in 3,18 der Spiegelmetaphorik, so ersetzt er sie in 4,4b – wohl bereits in Vorbereitung auf V. 6 – durch die Lichtmetaphorik.76 Zudem erfährt das Motiv der Ebenbildlichkeit, das ebenfalls 3,18 mit 4,4 verbindet und erneut in Beziehung zum Wortfeld do,xa steht, eine Akzentverschiebung. Stand in 3,18 der Verwandlungsprozess der Glaubenden in die Christusebenbildlichkeit als Herrlichkeitsexistenz im Blick (christologisch-anthropologische Relation), so wird Christus in 4,4b als Bild Gottes (eivkw.n qeou/) definiert (theologisch-christologische Relation). Aufgrund der Gottebenbildlichkeit Christi gibt also die im Evangelium erkennbare Herrlichkeit Christi den Blick frei auf die Herrlichkeit Gottes.77 Dies bedeutet aber zugleich in Verbindung mit der Aussage von 3,18, dass der eschatologische Verwandlungsprozess der Glaubenden in die Christusebenbildlichkeit eine letztlich theologische Zielsetzung hat, nämlich ihre Gottebenbildlichkeit. Eine Verhältnisbestimmung zwischen der protologischen Gottebenbildlichkeit, die in 1Kor 11,7 selbstverständliche Grundlage der paulinischen Argumentation ist, und der eschatologischen Gottebenbildlichkeit, wie sie sich aus den aufeinander bezogenen Aussagen in 2Kor 3,18 und 4,4 ergibt, nimmt Paulus entsprechend der situationsbezogenen Akzentuierung seiner Aussagen nicht vor. Allerdings legt sich vor dem Hintergrund seiner Ausführungen in 1Kor 15,42–44.49 die Vermutung nahe, dass er die eschatologische Gottebenbildlichkeit mit der Herrlichkeitsexistenz des Auferweckungsleibes verbindet, während für ihn die protologische Gottebenbildlichkeit als vorläufige und gebrochene unter dem Vorzeichen der Sterblichkeit steht. Entsprechend ordnet Paulus in 1Kor 15,48 der vergänglichen irdischen Existenz dann auch das Motiv der Adamebenbildlichkeit zu.78
In V. 5 lenkt Paulus die Aufmerksamkeit wieder zurück auf sein apostolisches Wirken. Einmal mehr unterstreicht er die Lauterkeit seines Handelns und seine enge Bindung an die Gemeinde. So betont er, dass im Mittelpunkt seiner Verkündigung eben nicht seine Person, sondern Jesus Christus steht (vgl. 1Kor 2,2). Jesus Christus aber nimmt als Herr (ku,rioj) die Menschen in Dienst und hat auch Paulus in die Funktion eines Sklaven für die korinthische Gemeinde eingewiesen. Paulus also 76
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Dabei bestätigt V. 4b im Übrigen den sachlichen Bezug des Spiegelvergleichs in 3,18 auf das (dort nicht explizit genannte) Evangelium, indem Paulus nun den Begriff „Leuchten“ (fwtismo,j) ausdrücklich semantisch verbindet mit dem Begriff „Evangelium“. Vgl. C. Wolff, 2Kor, 86. Den mit der Adamebenbildlichkeit verbundenen Aspekt der Sünde entfaltet Paulus explizit und ausführlich erst im Römerbrief (vgl. Röm 5,12–21), wo er auch – über die Korintherbriefe hinausgehend – vom Verlust der göttlichen do,xa, und das heißt der protologisch verankerten Gottebenbildlichkeit des Menschen (vgl. 1Kor 11,7) sprechen kann (vgl. Röm 3,23). In den Korintherbriefen dagegen beschränkt sich Paulus auf den Aspekt der Vergänglichkeit und Sterblichkeit, der aus der Adamebenbildlichkeit erwächst (1Kor 15,21a.22a). Implizit freilich spielt das Motiv der Sünde jedoch auch hier schon eine Rolle, insofern für Paulus der Tod selbstverständlich aus der Sünde resultiert (1Kor 15,56), vgl. H. Merklein/M. Gielen, 1Kor III, 316f.391.
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I. Anthropologie – Eschatologie – Spiritualität
weiß sich vom Herrn selbst in die Pflicht genommen, der Gemeinde zu dienen, und das heißt zugleich im Blick auf den konkret beizulegenden Konflikt, sie selbstverständlich nicht zu übervorteilen. V. 6 ist in deutlichem Gegensatz zu V. 4 gestaltet: Handelt in V. 4 der „Gott dieser Weltzeit“ verblendend an den Ungläubigen, so schaut V. 6 zurück auf das erleuchtende Handeln Gottes an Paulus im Akt seiner Berufung.79 Beachtung verdient nun, dass dieses erleuchtende Handeln Gottes sich auf denselben „Sachverhalt“ bezieht wie das verblendende Handeln der widergöttlichen Macht.80 Erneut steht die theologisch-christologische Relation im Blick, und zwar bezogen auf die Erkenntnis von Herrlichkeit (do,xa). Nur wird die Perspektive leicht variiert. Richtet sich nämlich in V. 4b der Blick von der Herrlichkeit Christi auf Gott, so wird er in V. 6b von der Herrlichkeit Gottes auf Christus gelenkt. Herrlichkeit Gottes und Herrlichkeit Christi erhellen also wechselseitig einander. Weil Christus Bild Gottes ist (V. 4b), gibt sich auf seinem Angesicht die Herrlichkeit Gottes zu erkennen (V. 6b), die damit zugleich die Herrlichkeit Christi ist. Oder anders formuliert: An Christus wird Gottes Gottsein als Herrlichkeitsexistenz transparent. Diese Erkenntnis – und dies steht im Mittelpunkt von V. 6 – hat Gott selbst bei Paulus bewirkt. Mit dem Gotteswort „Aus Finsternis soll Licht aufleuchten“ spielt Paulus unverkennbar auf die Schöpfungserzählung in Gen 1 (vgl. V. 14f.) an. Indem er also seine von Gott initiierte Berufung in einen Bezug zum Schöpfungshandeln Gottes bringt, qualifiziert er sie zugleich als einen Akt eschatologischer Neuschöpfung.81
2.4 Das Wirken des Apostels im Spannungsfeld zwischen der do,xa gegenwärtiger Kreuzesexistenz und künftiger Auferweckungsexistenz im Dienst der Offenlegung göttlicher Herrlichkeit (2Kor 4,15.17) Ist die Existenz des Apostels vom Moment seiner Berufung an als neue Schöpfung qualifiziert, so bleibt sie als solche doch erfahrungsweltlich verborgen. Dies entfaltet Paulus in den nachfolgenden V. 7–14 unter Hinweis auf seine physische 79 80
81
Vgl. J. Schröter, Versöhner, 135f. Unterstrichen wird dies durch zum einen durch die weitgehend parallele syntaktische Konstruktion und zum anderen durch die starken semantischen Übereinstimmungen: V. 4b: damit sie nicht sehen das Leuchten des Evangeliums der Herrlichkeit Christi, eivj to. mh. auvga,sai to.n fwtismo.n tou/ euvaggeli,ou th/j do,xhj tou/ Cristou/ V. 6b zum Leuchten der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes pro.j fwtismo.n th/j gnw,sewj th/j do,xhj tou/ qeou/ V. 4b: welcher Bild Gottes ist. o[j evstin eivkw.n tou/ qeou/ V. 6b: auf dem Angesicht Jesu Christi. evn prosw,pw| vIhsou/ Cristou/. Vgl. auch 2Kor 5,17 im Kontext von 5,18–21!
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Schwäche, seine Anfechtungen und Bedrängnisse. Es bestätigt sich somit die anhand von 3,18 gewonnene Einsicht: Die Existenz als neue Schöpfung ist als Herrlichkeitsexistenz angesichts des sich vollziehenden Verwandlungsprozesses von (gegenwärtiger) Herrlichkeit zu (künftiger) Herrlichkeit paradoxerweise Kreuzesexistenz (2Kor 4,10a). Dabei trägt Paulus die Glaubensgewissheit, dass seine gegenwärtig vom Kreuz geprägte Herrlichkeitsexistenz im eschatologischen Vollendungszustand eine dem auferweckten Christus ebenbildliche (vgl. 1Kor 15,49) Herrlichkeitsexistenz sein wird (2Kor 4,10b.11b.14). Eben derselben Hoffnung verleiht er dann noch einmal in 4,17 Ausdruck. Die eschatologisch vollendete Auferweckungsexistenz bezeichnet er hier als ein jedes Maß sprengendes „ewiges Gewicht an Herrlichkeit (aivw,nion ba,roj do,xhj). Die Formulierung bildet damit das semantische Widerlager zur gegenwärtig leidvollen Situation (als Ausdruck der jetzt noch vom Kreuz geprägten Herrlichkeitsexistenz), die als „leichte Last der Bedrängnis“ (evlafro.n th/j qli,yewj) charakterisiert wird und die nach paulinischer Überzeugung geradezu Voraussetzung für den künftigen Vollendungszustand ist.82 Entsprechend dieser positiven Bewertung der Negativerfahrungen stellt sich Paulus gemäß Gottes Auftrag Gottes (4,1; vgl. 3,6) um der Gemeinde willen in den Dienst der Verkündigung (4,15). Als Zielsetzung formuliert er dabei die wachsende Zahl von Gemeindemitgliedern, die eine Steigerung des Gott abgestatteten Dankes impliziert und auf diese Weise zur Verherrlichung Gottes (eivj do,xan tou/ qeou/), das heißt zur Bekanntmachung der Herrlichkeit Gottes in der Welt beiträgt.
2.5 Die Jerusalemkollekte als Möglichkeit der Begegnung mit Christi und Gottes Herrlichkeit (2Kor 8,19.23; 9,13) Drei Mal noch begegnet das Herrlichkeitsmotiv in den so genannten Kollektenkapiteln des Versöhnungsbriefs (2Kor 8,1–9,15), die nach Beilegung des Konflikts zwischen Apostel und Gemeinde um den Wiedereinstieg der korinthischen Gemeinde in die Geldsammlung für die Jerusalemer Urgemeinde werben.83 Zwei der Belege finden sich davon im Schlussabschnitt des 8. Kapitels (V. 16– 24). Dessen pragmatisches Ziel ist es, eine aus Titus und zwei weiteren Glaubensbrüdern bestehende Delegation, die in Korinth diesen von Paulus angestrebten Wiedereinstieg unterstützen soll, den Gemeindemitgliedern vorzustellen und zu empfehlen. Mit dieser Delegation verbindet Paulus angesichts seiner erst kürzlich
82
83
Entsprechend seiner Vorstellung von zwei aufeinander folgenden Herrlichkeitsstufen (3,18), vgl. o. Ziffer 2.2. Vgl. o. Ziffer 2.
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I. Anthropologie – Eschatologie – Spiritualität
in Korinth gesammelten Negativerfahrungen offenkundig die Hoffnung, jedem gegen ihn erwachsenden Verdacht des Eigennutzes oder gar der persönlichen Bereicherung vorzubeugen.84 Denn unter den drei Delegationsmitgliedern besitzt nur Titus den Status eines Paulusvertrauten (vgl. V. 23a: koinwno.j evmo.j …), die beiden anderen dagegen entstammen den Gemeinden, von denen sie – wohl zur zeitweisen Unterstützung und Mitarbeit in der Mission (vgl. auch 8,18)85 – zu Paulus entsandt worden waren.86 Aus V. 19 geht nun hervor, dass der zuerst genannte Bruder von den Gemeinden zudem mit einer besonderen Aufgabe im Zusammenhang der Jerusalemkollekte betraut worden war. Demnach sollte er auf der Reise zur Überstellung der Kollekte die Funktion eines Begleiters des Paulus übernehmen. Diese von den Gemeinden organisierte Reisebegleitung dürfte dabei kaum dem Bedürfnis entsprungen sein, Paulus zu kontrollieren. Sie diente wohl eher dem ehrenvollen Geleit des Initiators der Aktion wie auch der repräsentativen Präsenz der Spender. Paulus dürfte jedoch angesichts der konkreten Vorgeschichte des Versöhnungsbriefes gerne auf die Entsendung eines Reisebegleiters durch die an der Kollekte beteiligten Gemeinden hingewiesen haben, implizierte sie doch seine Entlastung von den Vorwürfen durch einen unabhängigen Zeugen.87 Gleichfalls im Kontext des situativen Hintergrundes erschließt sich die Beschreibung des Zwecks der Kollekte, die Paulus in V. 19b konkret wählt und dabei auch wieder das Herrlichkeitsmotiv bemüht. Ihre erste und eigentliche Zielsetzung ist eine christologische, nämlich die Verherrlichung des Kyrios selbst (pro.j th.n auvtou/ kuri,ou do,xan). Seine Herrlichkeit, die ihn der göttlichen Lebenssphäre zuweist und die für die Glaubenden im Evangelium sichtbar wird, durch das sie schon jetzt anfanghaft Anteil an dieser do,xa erhalten,88 gilt es, für die Welt transparent zu machen. Diese Verherrlichung des Kyrios ist aber responsorisch qualifiziert, insofern sie für Paulus die allein angemessene Antwort auf seine Berufungserfahrung darstellt, bei der ihm „die Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi“ (2Kor 4,6) aufschien. Die pointierte Hervorhebung der christologischen Zielsetzung der Kollektenaktion impliziert nun zugleich die Zurückweisung jeden Verdachts, Pau84
85
86
87 88
Den Konflikt, der zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde um seine Zuverlässigkeit in Sachen Kollektenaktion entbrannte, spiegeln innerhalb von V. 6–24 ganz unmittelbar vor allem noch V. 20f. wider: (20) Denn angesichts der großen Spende, die von uns überbracht werden soll, möchten wir vermeiden, dass man uns verdächtigt. (21) Es liegt uns nämlich daran, dass alles einwandfrei zugeht, nicht nur vor dem Herrn, sondern auch vor den Menschen. (Einheitsübersetzung); vgl. W. Kleine, Furcht, 411f. Vgl. dazu W.-H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission (WMANT 50), Neukirchen-Vluyn 1979, 119–125. Vgl. die ausdrückliche Bezeichnung als „Gesandte der Gemeinden“ (avpostoloi. evkklhsiw/n) in V. 23b; zur spezifischen Verwendung des Apostelbegriffs an dieser Stelle vgl. W.-H. Ollrogg, Paulus, 79–84. Vgl. W. Kleine, Furcht, 411. Vgl. o. zu 2Kor 3,18 (Ziffer 2.2.).
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lus betreibe die Kollekte um des eigenen Ansehens willen. Was seine Person betrifft, so ist sie nichts anderes – wie er fast beiläufig in V. 19 hinzufügt – als Ausdruck seines guten Willens. Dieser gute Wille aber dürfte der Sache nach verbunden sein mit dem auf dem Apostelkonvent in Jerusalem gegebenen Versprechen, „der Armen zu gedenken“ (vgl. Gal 2,10). Es ist also der gute Wille des Paulus, dieses Versprechen auch einzulösen.89 In V. 22 hat Paulus die Vorstellung der Delegation und ihres Auftrags zu Ende gebracht und leitet nun mit V. 23 abschließend ihre Empfehlung ein. Dabei differenziert er noch einmal betont zwischen Titus als seinem Vertrauten (koinwno.j evmo,j) und den beiden anderen Männern als Gesandten der Gemeinden (avpo,stoloi evkklhsiw/n). Sind diese beiden den jeweiligen Status beschreibenden Appositionen antithetisch angelegt, so die ergänzenden Charakterisierungen (Titus: Mitarbeiter im Blick auf euch; unsere Brüder: [Widerschein der] Herrlichkeit Christi) parallel. Die Qualifikation des Titus als Mitarbeiter des Paulus, hier pragmatisch eng geführt auf die Mitarbeit zugunsten der korinthischen Gemeinde (sunergo.j eivj u`ma/j), steht gemäß paulinischem Sprachgebrauch in Zusammenhang mit dem Dienst an der Evangeliumsverkündigung.90 In V. 18 erwähnt Paulus ausdrücklich zumindest für einen der beiden anderen Männer ebenfalls dessen Tätigkeit für das Evangelium. Dies legt m.E. die berechtigte Vermutung nahe, dass auch die auffällige Kennzeichnung der beiden Glaubensbrüder in V. 23 als do,xa Cristou/ in eben diesem Zusammenhang mit ihrem Einsatz für das Evangelium zu sehen ist, wozu für Paulus selbstverständlich auch die Jerusalemkollekte zählt: Weil und insofern die beiden sich im Dienst des Evangeliums engagieren, durch das die Herrlichkeit Christi wie in einem Spiegel erkennbar wird (vgl. 3,18; 4,4), werden sie in herausragender Weise zum Widerschein dieser Herrlichkeit, die allen Glaubenden bereits anfanghaft eignet und ihrer eschatologischen Vollendung harrt (vgl. 3,18). Denn sie stehen gegenüber den Gemeinden und gegenüber der Welt91 mit ihrer Person für das Evangelium der Herrlichkeit Christi ein. Ein letztes Mal innerhalb der Korintherkorrespondenz begegnet das Herrlichkeitsmotiv ganz am Ende des Versöhnungsbriefes, also nochmals im thematischen Kontext der Jerusalemkollekte. Subjekt des verbal ausgedrückten Verherrlichungsgeschehens sind die „Heiligen“ (vgl. V. 12), womit Paulus hier speziell die Mitglieder der Jerusalemer Urgemeinde als Empfänger des Kollektengeldes bezeichnet. Wie schon zu 1Kor 6,20; 10,31 festgestellt,92 zielt das verherrlichende Tun 89 90 91
92
So auch H-J. Klauck, 2Kor, 71. Vgl. W.-H. Ollrog, Paulus, 63–79 Evangeliumsverkündigung hat stets eine zweifache Ausrichtung: innergemeindlich (katechetisch) wie außergemeindlich (missionarisch). Vgl. o. Ziffer 1.2.
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I. Anthropologie – Eschatologie – Spiritualität
aufseiten der Menschen nicht darauf, Gott Herrlichkeit zukommen zu lassen, sondern vielmehr darauf, Gottes do,xa als Proprium seiner göttlichen Existenz innerweltlich erkennbar zu machen. Im konkreten Kontext von 2Kor 9,13 geht es Paulus nun darum, am Ende der Kollektenkapitel und damit am Ende des Versöhnungsbriefes die korinthische Gemeinde noch einmal nachdrücklich zu einem Wiedereinstieg in das Kollektenprojekt zu motivieren. Dazu eröffnet er ihr die Perspektive, dass dieses von ihm erwünschte Verhalten, das er sowohl theologisch als „Bekenntnisgehorsam“93 als auch ethisch als „aufrichtigen Gemeinschaftssinn“ positiv würdigt, den Jerusalemer Heiligen zum Anlass der Verherrlichung Gottes werden wird, „weil seine Gnade die Freigebigkeit allererst ermöglicht (V. 8)“.94
3. Zusammenfassung Die paulinische Verwendung des Herrlichkeitsmotivs in 2Kor weist im Vergleich zu 1Kor keine signifikanten Änderungen oder gar Brüche auf. Allerdings lassen sich angesichts eines veränderten situativen Hintergrundes und einer daraus resultierenden veränderten Briefthematik und –pragmatik einige Akzentverschiebungen und Präzisierungen erkennen. Zunächst einmal wird mit der Bestätigung der Spannung zwischen der durch die Hinwendung zum Evangelium gegenwärtig beginnenden und der künftig vollendeten Anteilhabe an der göttlichen Lebenswirklichkeit als do,xa-Existenz ein wichtiger Aspekt des Herrlichkeitsmotivs aus 1Kor aufgegriffen (vgl. 1Kor 2,7f; 15,43 [im Kontext von V. 42–49] mit 2Kor 3,18). Zudem findet sich die paradoxe Qualifizierung der schon gegenwärtig erreichten Herrlichkeitsstufe als eine vom Kreuz gekennzeichnete Existenz (vgl. 1Kor 2,7f.) wieder (vgl. 2Kor 4,17 im Kontext von V. 4,7–18 und in Rückbezug auf 2Kor 3,18). Entfaltet und vertieft wird diese Paradoxie dabei am Beispiel der persönlichen Leidenserfahrungen des Paulus selbst, zu denen auch die korinthische Gemeinde angesichts der Vorgeschichte des Versöhnungsbriefes nicht unerheblich beigetragen hat.95
93
94 95
Zu diesem Bezug von Kollektenprojekt und bekenntnishaftem Gehorsam gegenüber den Forderungen des Evangeliums vgl. auch E. Gräßer, 2Korinther II, 65. E. Gräßer, 2Kor II, 64. Möglicherweise verzichtet Paulus angesichts seiner diskreten Anspielung auf diesen konkreten Hintergrund bewusst auf die Verwendung des Wortfeldes do,xa in Bezug auf seine durch leidvolle Erfahrungen geprägte gegenwärtige Existenz, die – wie gerade 4,7–18 noch einmal betont – ganz im Dienst der Verkündigung steht. Dies ist umso bemerkenswerter, als Paulus in 3,8 diesen Dienst noch durch do,xa konnotiert hatte. In 4,8–17 dagegen kann er sich zur Skizzierung seiner gegenwärtigen Existenz keine positivere Umschreibung abringen als „die augenblicklich leichte Last unserer Bedrängnis“ (4,17a).
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Kontinuität von 1Kor zu 2Kor besteht ferner in der engen Verbindung zwischen dem Herrlichkeits- und dem Ebenbildlichkeitsmotiv. In 1Kor findet sich diese Verbindung zum einen im schöpfungstheologischen Kontext von 11,7, wo Paulus die im Schöpfungshandeln Gottes fundierte Gottebenbildlichkeit des Menschen der Sache nach als Widerschein der göttlichen Herrlichkeit bestimmt. Zum anderen begegnet die Motivverbindung in 1Kor im eschatologisch-soteriologischen Kontext von 15,42–49, wo Paulus die künftige Auferweckungsleiblichkeit der Menschen gleichermaßen als Herrlichkeitsexistenz (V. 43) wie als Christusebenbildlichkeit qualifizieren kann (V. 49). In 2Kor wird die Beziehung zwischen Herrlichkeits- und Ebenbildlichkeitsmotiv im schöpfungstheologischen Kontext nicht aufgegriffen, stattdessen aber im eschatologischen Kontext vertieft und präzisiert. In den beiden aufeinander bezogenen Versen 4,4 und 4,6 erklären sich Herrlichkeit Gottes und Herrlichkeit Christi gegenseitig. Aufseiten Christi wird dies in 4,4 durch seine Kennzeichnung als „Bild Gottes“ noch unterstrichen. Weil also Christus Bild Gottes ist, gibt sich in seiner Herrlichkeit Gottes Gottsein als Herrlichkeitsexistenz zu erkennen. In Rückbindung an 3,18 (vgl. 1Kor 15,49) wird damit die bereits begonnene und der künftigen Vollendung harrende Verwandlung der Menschen zu Christus Ebenbildlichen durch 4,4.6 als Verwandlung in die eschatologisch vollendete und endgültige Gottebenbildlichkeit präzisiert.96 Neu hinzu kommt in 2Kor im Vergleich zu 1Kor die heilsgeschichtliche Konnotation des Herrlichkeitsmotivs (3,7–11). Doch begegnet in dieser Passage, die innerhalb der Korintherbriefkorrespondenz wie der Paulusbriefe insgesamt mit 10 Belegen die größte Dichte des Wortfeldes do,xa aufweist, diese heilsgeschichtliche Konnotation ausschließlich in Relation zur eschatologischen Konnotation des Herrlichkeitsmotivs. Dass sich im Sinaigeschehen Gottes Herrlichkeit heilsgeschichtlich offenbart, wird dabei von Paulus nicht zur Diskussion gestellt, sondern bildet geradezu die Grundlage seiner Argumentation.97 Diese Argumentation zielt freilich auf die Überbietung durch die eschatologische Offenbarung der Herrlichkeit Gottes im Christusgeschehen. Schließlich wird in 2Kor die ethisch-responsorische Konnotation des Herrlichkeitsmotivs in seiner Anwendung auf menschliche Akteure aufgegriffen, die bereits 96
97
Zur dezidiert theozentrischen Ausrichtung pln Denkens unbeschadet der zentralen Bedeutung der Christologie vgl. W. Schrage, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes. Zum „Monotheismus“ des Paulus und seiner alttestamentlich-frühjüdischen Tradition (BThSt 48), Neukirchen-Vluyn 2002, 150–184. Angesichts dessen ist es konsequent, dass Paulus zwar wechselweise von Herrlichkeit Gottes und Herrlichkeit Christi spricht, jedoch nicht in Entsprechung zu Christus als Bild Gottes Gott als Bild Christi bezeichnet. Denn die Herrlichkeit Christi ist zwar eine uneingeschränkt göttliche, steht also auf einer Ebene mit der Herrlichkeit Gottes, doch kommt diese Herrlichkeit Christus von Gott her zu, nicht umgekehrt! So auch J. Schröter, Versöhner, 96.
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I. Anthropologie – Eschatologie – Spiritualität
in 1Kor 6,20 und 10,31 begegnete. Erneut gibt sich die den Menschen obliegende Verherrlichung Gottes als Offenlegung göttlicher Herrlichkeit in und für die Welt zu erkennen, die durch ein verantwortungsvolles Handeln erfolgt, das dem erfahrenen Heilshandeln Gottes angemessen ist. Allerdings wird in 2Kor die Perspektive erweitert. In den Blick genommen wird nicht mehr nur das auf die Verherrlichung Gottes zielende Handeln der Gemeindemitglieder (2Kor 4,15; 9,13). Vielmehr wird auch das entsprechende Handeln der Verkündiger ins Auge gefasst (2Kor 1,20), und zwar in 2Kor 8,19.23 zudem in christologischer Ausrichtung, also im Dienst der Verherrlichung Christi.98 Kennzeichnend für das Herrlichkeitsmotiv innerhalb der Korintherbriefkorrespondenz ist seine eschatologisch-soteriologische Ausrichtung und Zielsetzung sowie seine Verknüpfung mit dem Ebenbildlichkeitsmotiv. Der Heilswille Gottes für die Menschen besteht in der Teilhabe an seiner Herrlichkeit als der Existenzweise, die sein Gottsein qualifiziert. Dieser Heilswille dokumentiert sich bereits am Beginn der Schöpfung durch die Erschaffung des Menschen als Gott ebenbildliches Wesen, in dem Gottes do,xa ihren Widerschein findet. Die protologisch fundierte Gottebenbildlichkeit hat freilich die Adamebenbildlichkeit zur Kehrseite und steht daher unter den Vorzeichen der Gebrochenheit, Vorläufigkeit und Vergänglichkeit. Erst eschatologisch kommt der göttliche Heilswille für die Menschen durch das Christusgeschehen zur Erfüllung. Im Christusgeschehen nämlich offenbart sich die Herrlichkeit Gottes end-gültig, während im Vergleich hierzu die heilsgeschichtliche Offenbarung der göttlichen do,xa im Sinaigeschehen sich ebenso als vor-läufig zu erkennen gibt wie die in der Schöpfung grundgelegte Gottebenbildlichkeit des Menschen. Begegnet nun in Christus als dem Bild Gottes die göttliche Herrlichkeit (2Kor 4,4.6), so zielt die Verwandlung des Menschen zur Christusebenbildlichkeit (2Kor 3,18; 1Kor 15,49) auf die eschatologische Vollendung der protologisch fundierten Gottebenbildlichkeit des Menschen. Diese Verwandlung erfolgt freilich stufenweise. Sie beginnt bereits gegenwärtig in der glaubenden Hinwendung zum Evangelium, in dem die Herrlichkeit Christi wie in einem Spiegel erkennbar wird (2Kor 3,16.18; 4,4). Diese schon gegenwärtig erreichte Stufe der Herrlichkeitsexistenz ist aber paradoxerweise Kreuzesexistenz in Entsprechung zum Schicksal Christi, des gekreuzigten Herrn der Herrlichkeit (1Kor 2,7f; 2Kor 4,7–18). Erst künftig bei der Vollendung der Neuschöpfung und im Zuge der allgemeinen Totenauferweckung wird den Menschen die Herrlichkeitsexistenz in vollem Umfang für immer geschenkt. Konkret besteht sie in der Teilhabe an der pneumatischen Auf-
98
Insofern sich freilich für Paulus Herrlichkeit Gottes und Herrlichkeit Christi gegenseitig erhellen (vgl. 2Kor 4,4.6), besteht kein sachlicher Unterschied zwischen der Verherrlichung Gottes und der Verherrlichung Christi im Sinne der Offenlegung der ihnen eignenden Herrlichkeitsexistenz.
Von Herrlichkeit zu Herrlichkeit
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erweckungsleiblichkeit Christi (1Kor 15,42–49; vgl. 1Kor 15,20–28). Diese Teilhabe aber ist gleichbedeutend mit der Christusebenbildlichkeit (1Kor 15,49; 2Kor 3,18) und – sofern Christus das Bild Gottes ist (2Kor 4,4) – mit der christologisch vermittelten Gottebenbildlichkeit. So erstreckt sich also das do,xa-Motiv in der Korintherkorrespondenz des Paulus zwischen den Polen protologischer und eschatologischer Gottebenbildlichkeit – von Herrlichkeit zu Herrlichkeit.
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Universale Totenauferweckung und universales Heil? 1Kor 15,20–28 im Kontext paulinischer Theologie*
Das 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes ist dem Thema Auferstehung gewidmet. Es verdankt sich offenkundig der Tatsache, daß von einem Teil der korinthischen Gemeinde die Auffassung vertreten wurde: „Eine Auferstehung von Toten gibt es nicht“ (V. 12b).1 Diese Behauptung kann vom paulinischen Standpunkt nicht unwidersprochen bleiben, denn für Paulus stehen und fallen christliche Verkündigung und christlicher Glaube mit dem Bekenntnis zur Totenauferstehung Jesu Christi (V. 14). Deshalb steuert er der korinthischen Entwicklung energisch entgegen, indem er die Gemeinde in 15,1–5 zunächst an das grundlegende urchristliche Bekenntnis erinnert, in dessen Zentrum eben Tod und Auferweckung Jesu Christi stehen. V. 12 greift zu Beginn des argumentativen Teils des Kapitels (V. 12–49) dieses überlieferte Bekenntnis noch einmal auf und konfrontiert es mit der These einiger Gemeindemitglieder: „Wenn aber verkündet wird, daß Christus von den Toten auferweckt wurde, wie können dann einige unter euch sagen: Eine Auferstehung von Toten gibt es nicht?“ Paulus stellt also zunächst einmal seine eigene Argumentationsbasis klar und legt zugleich den Widerspruch offen, in den sich die Verfechter der korinthischen Parole (V. 12b) verstricken. In den V. 13–19 entfaltet er anschließend die negativen Implikationen der korinthischen Auferstehungsleugnung: Wenn es keine Auferstehung von Toten gibt, dann ist auch Christus nicht auferweckt worden (V. 13.15b.16), es fehlt dem Kerygma somit jede Heilsbedeutung (V. 14.17–19). In einem nächsten Argumentationsschritt (V. 20–28) lenkt Paulus dann die Aufmerksamkeit auf die positiven Implikationen des Osterbekenntnisses, konkret auf die in der Totenauferweckung Christi gründende künftige Totenauferweckung aller (V. 22b) und auf die eschatologisch endgültige und allumfassende Herrschaftsübernahme Gottes (V. 28c). Das zentrale Sachproblem des Abschnitts liegt nun in V. 22. Umstritten ist nämlich, wie wörtlich hier Paulus genommen werden will. Verleiht er an dieser Stelle wirklich seiner Überzeugung *
1
Leicht überarbeitete und mit Anmerkungen versehene Fassung meiner Antrittsvorlesung vom 10. Oktober 2001 anläßlich meiner Berufung auf den Lehrstuhl für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Abgedruckt in: BZ 47 (2003), 86–104. Zur neueren Diskussion um das hinter dieser These stehende Sachproblem vgl. etwa G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und exegetische Untersuchung von 1Korinther 15 (FRLANT 138), Göttingen 1986; G. Barth, Zur Frage nach der in 1Korinther 15 bekämpften Auferstehungsleugnung, in: ZNW 83 (1992) 187–201; D. Zeller, Die Rede von Tod und Auferstehung Jesu im hellenistischen Kontext, in: BiKi 52 (1997) 19–24; ders., Die angebliche enthusiastische oder spiritualistische Front in 1Kor 15, in: The Studia Philonica Annual 13 (2001) 176–189.
Universale Totenauferweckung und universales Heil?
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einer universalen Totenauferweckung Ausdruck? Ist überhaupt im Rahmen der paulinischen Theologie eine Auferweckung von Menschen denkbar, die sich nicht zu Christus bekennen? Und wenn ja, muß eine solche Auferweckung dann nicht notwendig eine Auferweckung zum Gericht sein? Wie aber ist dies vereinbar mit dem ausnahmslos und eindeutig positiven Verständnis von Auferstehung als Heilsereignis in 1Kor 15? Aber vielleicht nimmt Paulus ja doch schon in V. 23 seine kühne, durch die Adam-Christus-Typologie bedingte Aussage von V. 22 zurück, indem er die πάντες auf die οἱ τοῦ Χριστοῦ eingrenzt? Übersieht er möglicherweise auch nur die Spannung, die V. 22 in den Kontext einträgt? Oder läßt er etwa diese Spannung bewußt stehen?2 Alternativ: Sollte es eventuell doch möglich sein aufzuzeigen, daß Paulus in 1Kor 15,20–28 einen sachlich kohärenten Text kreiert, in dem er Auferstehung zum Heil universal denkt, und sollte sich dies letztendlich als kompatibel mit paulinischer Theologie erweisen? Diesen Fragen ist im folgenden nachzugehen.
1. Der Aufbau von 1Kor 15,20–28 Unter semantisch-thematischem Gesichtspunkt gliedert sich 1Kor 15,20–28 in zwei Teile. Die V. 20–24a konzentrieren sich auf das Verhältnis zwischen Christus und den Menschen, genauer: sie thematisieren die Bedeutung des auferweckten Christus für das künftige Schicksal der Verstorbenen. Gott tritt in diesen Versen nur indirekt in den Blick. Er ist impliziter Handlungsträger des passivisch formulierten Auferweckungsgeschehens an Christus und den Entschlafenen. In den V. 24b–28 steht demgegenüber das Verhältnis zwischen Christus und Gott im Zentrum, und zwar unter dem Aspekt endzeitlicher Herrschaft. Steht Christus zuvor ganz auf der Seite der Menschen (bes. V. 20.21b), so ist er jetzt ganz auf die Seite Gottes gerückt, ihm jedoch zugleich untergeordnet. Zudem vollzieht sich im Unterschied zum ersten Teil in den V. 24b–28 kein Handeln an Jesus. Er ist vielmehr selbst aktiver Handlungsträger, wenngleich ihm sein Handlungsspielraum von Gott erst eröffnet wird (V. 27c.28a.b). Dieser Spielraum ist freilich universal, von ihm ist nur Gott selbst ausgenommen. Die sachliche Verbindung zwischen beiden Texthälften ist über V. 26 gegeben („Als letzter Feind wird der Tod entmachtet.“). Die Herrschaft Christi gipfelt in der Entmachtung des Todes, deren Kehrseite die Auferweckung der Toten ist.3 2
3
Vgl. dazu W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 4. Teilband 1Kor 15,1–16,24 (EKK VII/4), Zürich, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 2001, 162–165. G. Sellin, Streit (s. Anm. 1) 273 sieht in V. 26 geradezu die „Spitze der Argumentation“; zur zentralen Bedeutung von V. 26 vgl. auch U. Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus (BEvTh 49), München
114
I. Anthropologie – Eschatologie – Spiritualität
2. Christus als Garant künftiger und universaler Totenauferweckung (V. 20–24a) „Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden.“ Mit dieser energischen Rückkehr zur Realität, die das Bekenntnis bezeugt, wendet sich Paulus von den hypothetischen Folgen der korinthischen Parole ab, die er in den V. 12–19 entfaltet hat. Hypothetisch sind diese Folgen deshalb, weil die Auferweckung Christi von den Toten die korinthische Parole als haltlos erweist. Die angefügte Qualifizierung Christi als des Erstlings der Entschlafenen intoniert bereits die universale Bedeutung des Ostergeschehens für die Verstorbenen.4 Denn der Begriff „Erstling“ hat nicht nur eine zeitliche, sondern vor allem eine kausale Note: Wie auf das Erstlingsopfer sicher die Ernte folgt, so gründet in der Auferweckung Christi ursächlich die Auferweckung aller anderen Toten.5 V. 21f vertiefen den somit in V. 20 grundgelegten Aspekt der Schicksalsgemeinschaft und entfalten ihn negativ in Hinblick auf den Tod wie positiv in Hinblick auf die Auferstehung. Dies geschieht mit Hilfe der bei Paulus erstmals hier begegnenden Adam-Christus-Typologie.6 Damit tritt in den V. 21.22 die Neuschöpfung der Schöpfung antithetisch und zugleich überbietend gegenüber: Ist Adam der Repräsentant und Stammvater der todverfallenen Menschheit der ersten Schöpfung, so Christus der Repräsentant und Stammvater
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1968, 348; F. Froitzheim, Christologie und Eschatologie bei Paulus (FzB 35), Würzburg 21982, 147; J. Baumgarten, Paulus und die Apokalyptik. Die Auslegung apokalyptischer Überlieferungen in den echten Paulusbriefen (WMANT 44), Neukirchen-Vluyn 1975, 104; W. Verburg, Endzeit und Entschlafene. Syntaktisch-sigmatische, semantische und pragmatische Analyse von 1Kor 15 (FzB 78), Würzburg 1996, 148. Entschlafene sind hier nicht eingeschränkt zu verstehen als Gruppe der verstorbenen Christen (gegen H.-A. Wilcke, Das Problem eines messianischen Zwischenreichs bei Paulus [AThANT 51], Zürich/Stuttgart 1967, 65; C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther [ThHK 7], Leipzig 1996, 381), sondern ist ein semantisch-stilistisch bedingter Wechsel des unmittelbar zuvor verwendeten Begriffs Tote, bezeichnet also unterschiedslos alle Verstorbenen, unabhängig von ihrem Bekenntnis zu Christus, vgl. auch A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/1), Tübingen 2000, 343. J. Weiß, Der Erste Korintherbrief (KEK 5), Göttingen 1910, 356: „Wenn von der Ernte eine ἀπαρχή dargebracht wird (Lev 23,10 ἀπ. τ. =ερισμοῦ, Röm 11,16), so zweifelt niemand, daß nun die Ernte selber folgen wird und muß; es liegt im Begriff der ἀπαρχή, daß der Rest nachfolgen muß.“ Vgl. auch G. Barth, Erwägungen zu 1. Korinther 15,20–28 in: EvTh 30 (1970) 515–527, 519f.; G.D. Fee, The First Epistle to the Corinthians (NIC), Grand Rapids, Michigan 1987, 749; C. K. Barrett, The First Epistle to the Corinthians (Harper’s New Testament Commentaries), New York u. a. 1968, 351; A. Strobel, Der erste Brief an die Korinther (ZBK.NT 6.1), Zürich 1989, 246; W. Verburg, Endzeit (s. Anm. 3) 139–141; W. Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 2) 159f.161. Dagegen schließt B. Spörlein, Die Leugnung der Auferstehung. Eine historisch-kritische Untersuchung zu 1Kor 15, Regensburg 1971, 71 eine kausale Note von ἀπαρχή ausdrücklich aus. Vgl. 1Kor 15,44–49; Röm 5,12–21. Zu den komplexen traditionsgeschichtlichen Fragen der AdamChristus-Typologie vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer (Röm 1–5) (EKK VI/1), Zürich/Einsiedeln/Köln/Neukirchen-Vluyn 2. verb. Aufl. 1987, 308–314.
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der eschatologischen Neuschöpfung.7 Es entspricht dabei freilich der Theozentrik der V. 20–28, daß die Auferstehung der Toten (V. 21b) als ein Lebendiggemachtwerden (V. 22b) präzisiert wird, dessen Urheber nicht Christus,8 sondern Gott ist (Passivum divinum).9 Wie und weil er auferweckend am toten Christus gehandelt hat (V. 20: ἐγήγερται [ebenfalls Passivum divinum]), wird er auch die anderen Toten lebendigmachen. Solches Lebendigmachen (ζῳοποιεῖν) definiert seit Ostern geradezu unwiderruflich und umfassend Gottes neuschaffendes Handeln (vgl. Röm 4,17). Der enge sachliche Bezug zwischen V. 21 und V. 22 spiegelt sich auch in der sprachlichen Gestaltung wider. Zwischen den beiden Versen herrscht weitgehende syntaktisch-semantische Parallelität.10 Beide Verse sind zweigeteilt, wobei die Vershälften jeweils streng parallel gebaut sind. Dieser Befund verbietet es nun, den Präpositionalausdruck in V. 22a auf das Prädikat zu beziehen (in Adam sterben alle), in V. 22b aber auf das Subjekt (alle in Christus werden lebendig gemacht werden).11 Wie in V. 22a bezeichnet auch in V. 22b das Subjekt „alle“ uneingeschränkt alle Menschen, nicht nur die Christen.12 Den Menschen, die ausnahmslos in Adam vom Tod betroffen sind, wird also ebenso ausnahmslos in Christus die künftige Auferweckung von den Toten zugesagt. Dies ist nicht nur durch die Erst-
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Die Plausibilität der Adam-Christus-Typologie gründet in der frühjüdischen Überzeugung einer Entsprechung von Urzeit und Endzeit, von Schöpfung und Neuschöpfung, vgl. A. Lindemann, Die Auferstehung der Toten. Adam und Christus nach 1. Kor 15 in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Gräßer) (BZNW 89), Berlin/New York 1997, 155–167, 155. Allerdings werden bei Paulus Urzeit und Endzeit antithetisch aufeinander bezogen. ᾿Εν Χριστῷ V. 22b substituiert δι᾿ ἀν=ρώπου und ist wie dieses instrumental, nicht auktorial zu verstehen. Vgl. A. Lindemann, Auferstehung (s. Anm. 7) 159. Allerdings weicht der nominale Stil in V. 21 (Tod/Auferstehung der Toten) in V. 22 einem verbalen Stil (alle sterben/alle werden lebendig gemacht werden). Zudem wird das Adverbiale δι᾿ ἀν=ρώπου (V. 21a.b) in V. 22 semantisch präzisiert: ἐν ᾿Αδάμ (V. 22a) bzw. ἐν Χριστῷ (V. 22b). Vgl. auch W. Verburg, Endzeit (s. Anm. 3) 142. In diesem Fall wäre im Griechischen in V. 22b eine abweichende Wortstellung zu erwarten: πάντες ἐν Χριστῷ ἀπο=νῄσκουσιν. Zudem weist etwa W. Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 2) 164 zu Recht darauf hin, daß es auch aufgrund der engen Verbindung zwischen V. 21 und 22 nicht zulässig sei, ἐν τῷ Χριστῷ als ein ekklesiologisches „In-Christus-Sein“ zu verstehen, weil es dem instrumentalen δι᾿ ἀν=ρώπου V. 21b exakt entspricht. So etwa auch W. Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 2) 163f.; A. Lindemann, 1Kor (s. Anm. 4) 344 („allgemeine systematische Erwägungen, wonach Paulus eine Auferstehung aller nicht kenne, können der klaren Textaussage in V. 22b schwerlich widersprechen.“ [kursiv im Original]); vgl. ders., Paulus und die korinthische Eschatologie. Zur These von einer ‚Entwicklung‘ im paulinischen Denken in: NTS 37 (1991) 373–399, 383; ders., Auferstehung (s. Anm. 7) 159–162; W. Verburg, Endzeit (s. Anm. 3) 142; M.C. de Boer, The Defeat of Death. Apocalyptic Eschatology in 1 Corinthians and Romans 5 (JSNT. S 22), Sheffield 1988, 111f.; A. Strobel, 1Kor (s. Anm. 5) 247–249; J. Weiß, 1Kor (s. Anm. 5) 356f.358. Anders: C. Wolff, 1Kor (s. Anm. 4) 385; F. Froitzheim, Christologie (s. Anm. 3) 151; G. Sellin, Streit (s. Anm. 1) 270; G.D. Fee, 1Kor (s. Anm. 5) 749f.; C. K. Barrett, 1Kor (s. Anm. 5) 352; H.-A. Wilcke, Problem (s. Anm. 4) 72f.; vgl. ebd. 69–72 zur wechselvollen Auslegungsgeschichte zwischen exklusiver und inklusiver Deutung von V. 22b.
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lingsfunktion Christi in V. 20 schon angedeutet. Es liegt auch in der Logik von V. 26. Demnach nämlich wird als letzter Feind der Tod entmachtet und damit die Voraussetzung für die Auferweckung aller Menschen, nicht nur der Christen geschaffen.13 Die universale Dimension des Auferweckungsgeschehens in V. 22b greift V. 23a gleich eingangs auf, indem er „alle“ durch „jeder“ ersetzt und im Sinne einer Differenzierung der Gesamtheit neu akzentuiert: „Ein jeder aber wird in dem ihm eigenen τάγμα lebendig gemacht werden.“ Das fehlende Verb ist sachgemäß aus V. 22b zu ergänzen. In den V. 23b–24a setzt sich der elliptische Stil fort.14 Im Blick steht also weiterhin das Auferweckungsgeschehen, das jetzt entsprechend der in V. 23a angekündigten Differenzierung dreifach entfaltet wird: „Als Erstling Christus, dann die zu Christus gehören bei seiner Parusie, dann – das τέλος. Allerdings bezieht die mit überwältigender Mehrheit in der Exegese vertretene Interpretation V. 24a nicht mehr auf das Auferweckungsgeschehen, sondern auf das (Welt-)Ende.15 Doch birgt diese Interpretation m.E. erhebliche Schwierigkeiten. Zunächst unterstellt sie einen durch nichts angekündigten Verbwechsel zwischen V. 23c und 24a. Wie gesehen, weisen die V. 23a–24a als gemeinsames Merkmal eine Ellipse des Verbs auf, das sich aber leicht aus V. 22b ergänzen läßt: lebendig gemacht werden. Versteht man jedoch τέλος als Ende, ist dieses Verb in V. 24a sachlich unpassend. Unter dieser Voraussetzung muß also ein plötzlicher Verb13
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Der universale Zug, der damit die Adam-Christus-Typologie in 1Kor 15,21f. auszeichnet, findet seine Bestätigung im übrigen in der Wiederaufnahme der Adam-Christus-Typologie in Röm 5,12–21. Hier reflektiert Paulus freilich ausdrücklich die Sünde als Ursache des Todes und die Gnade als Ursache neuen, eschatologischen Lebens. Der betont universalen Note des Kontextes widerspricht in Röm 5 auch nicht, daß in V. 17 die, die die Gnade und Gerechtigkeit empfangen, die Christen sind. Damit „soll die Universalität der Aussagen in VV 15f nicht eingeschränkt werden, als ob unter den πάντες nur die gemeint seien, die das Geschenk der Gnade ‚ergreifen‘, die anderen nicht. Das ergibt sich zwingend aus V. 18, wo πάντες und πολλοί betont wiederkehren. Die Christen als ‚Empfangende‘ repräsentieren hier vielmehr die Gesamtheit der durch Christus von Sünde und Tod befreiten Menschen, denen ‚durch Jesus Christus‘ die Zukunft des endzeitlichen Lebens offensteht, ja, die anstelle des jetzt erledigten Herrschers Tod selbst die Herrschaft im Leben antreten werden. Der Kontext legt es nahe, daß es der Tod ist, über den die endzeitlich Auferweckten herrschen werden – in Umkehrung ihrer nunmehr vergangenen Situation, wo der Tod über sie herrschte (V 14)“ (U. Wilckens, Röm I [s. Anm. 6] 325). Eine uneingeschränkt universale Heilsaussage begegnet bei Paulus ferner in Röm 11,32, eine Aussage, die U. Wilckens zufolge „überhaupt eine im Blick auf das Verhältnis zwischen Israel und Heiden konkretisierte Wiederholung des Abschnitts 5,12–21“ ist (Der Brief an die Römer [Röm 6–11] [EKK VI/2], 3. erg. Aufl. Zürich/Neukirchen-Vluyn 1993, 262; zum Zusammenhang vgl. ebd. 262f.). Vgl. H. Lietzmann, An die Korinther I/II (HNT 9), 4., von W.-G. Kümmel ergänzte Auflage Tübingen 1949, 80: „Der Wortlaut legt es nahe, in V. 23 ζωοποιη=ήσεται durchweg zu ergänzen, also ἀπαρχὴ Χριστὸς ἐζωοποιή=η, ἔπειτα οἱ τοῦ Χριστοῦ. ζωοποιη=ήσονται, εἴτα τὸ τέλος ζωοπιη=ήσεται als drei gleichwertige Glieder zu fassen.“ Vgl. W. Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 2) 167; G. Sellin, Streit (s. Anm. 1) 272 u. Anm. 157; C. Wolff, 1Kor (s. Anm. 4) 386; A. Lindemann, Paulus (s. Anm. 12) 383; ders., 1Kor (s. Anm. 4) 346; W. Verburg, Endzeit (s. Anm. 3) 146; H.-A. Wilcke, Problem (s. Anm. 4) 92; F. Froitzheim, Christologie (s. Anm. 3) 147, Anm. 306; B. Spörlein, Leugnung (s. Anm. 5) 75f. u.v.a.m.
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wechsel angenommen werden. Zu ergänzen wäre eine Form von „sein“ (ἔσται): „Dann wird das Ende sein.“ Wäre dies Aussageabsicht des Paulus, hätte er allerdings sehr mißverständlich formuliert. Zu erwarten wäre vielmehr, daß er bei einem Verbwechsel die elliptische Ausdrucksweise aufgegeben und das neue Verb explizit gesetzt hätte. Erschwerend kommt hinzu, daß die nachfolgenden V. 24b–28 nicht – unter negativem Vorzeichen – das (Welt-)Ende thematisieren, sondern – unter positivem Vorzeichen – die endgültige Durchsetzung der Gottesherrschaft. Die eschatologischen Aussagen sind funktional auf einen Herrschaftswechsel bzw. eine Herrschaftsübergabe ausgerichtet. Obwohl sie der Sache nach in apokalyptischer Tradition stehen, sind sie nicht an einer dramatischen Ausmalung des Endes in apokalyptischem Erzählstil interessiert.16 Das gewichtigste Argument gegen eine Deutung von τέλος als Ende ist jedoch dieses: Sie steht in Spannung zu der dezidiert universalen Note von V. 22b, die zu Beginn der Aufzählung in V. 23a durch das betont einleitende „jeder“ noch bestätigt wird. Denn diese Deutung impliziert eine Einschränkung des Auferweckungsgeschehens auf Christus und die Christen (V. 23b.c).17 Die nichtchristliche Menschheit bleibt dagegen unberücksichtigt.18 Von der mehrheitlich vorausgesetzten Bedeutung von τέλος = (Welt-)Ende distanzieren sich vor allem zwei Vertreter der älteren Exegese, nämlich H. Lietzmann und J. Weiß.19 Sie verstehen τέλος als „Rest“. Damit also findet in ihrer Interpretation die nichtchristliche Menschheit Berücksichtigung und der durch V. 22b vorgegebene universale Aspekt bleibt gewahrt. Allerdings hat auch diese Lösung Schönheitsfehler. Zum einen läßt sich aus den antiken Quellen kein überzeugender Nachweis erbringen, daß τέλος die Bedeutung „Rest“ haben kann.20 Zum anderen dürfte auch Paulus ungeachtet seines christlichen Selbstbewußtseins um das Verhältnis von (verschwindend geringer) christlicher Minderheit und (demgegenüber erdrückender) heidnischer Mehrheit gewußt haben. Angesichts der bald erwarteten Parusie Christi dürfte er bei allem Missionseifer nicht davon ausgegangen sein, daß sich an dieser Relation noch gravierend etwas ändern würde. Daher wäre die Be16
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Vgl W. Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 2) 153: „Die Funktion dieser Verse ist (…) nicht, (…) ein apokalyptisches Drama zu skizzieren (…), aus dem hervorgeht, was alles noch passieren muß, bevor das Ende eintritt.“ Vgl. auch C. Wolff, 1Kor (s. Anm. 4) 382 unter Berufung auf G. Barth, Erwägungen (s. Anm. 5) 522. Daß nämlich Paulus nach V. 22.23a (πάντες/ἕκαστος) in einer dreigliedrigen Aufzählungsreihe von der zuvor so betonten Gesamtheit nur Christus und die Christen explizit berücksichtigen sollte, ist doch eher unwahrscheinlich. Diese Spannung würdigen diejenigen nicht hinreichend, die zwar V. 22b (bzw. den Gesamtkontext der V. 20–28) universal interpretieren, gleichzeitig aber τέλος V. 24a als Weltende verstehen, vgl. etwa W. Verburg, Endzeit (s. Anm. 3) 142.146; A. Lindemann, Paulus (s. Anm. 12) 383; ders., 1Kor (s. Anm. 4) 344.346; W. Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 2) 163f.167; A. Strobel, 1Kor (s. Anm. 5) 247–249.251; M.C. de Boer, Defeat (s. Anm. 12) 111f.114f. Vgl. H. Lietzmann, 1.2Kor (s. Anm. 14) 80; J. Weiß, 1Kor (s. Anm. 5) 357f. Vgl. dazu ausführlich H.-A. Wilcke, Problem (s. Anm. 4) 87–91.
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zeichnung „Rest“ für die nichtchristliche Mehrheit zumindest unpassend, wenn nicht gar realitätsfremd, es sei denn, man versteht sie als bewußt abwertend, etwa als „verdammungswürdiger Rest“.21 Dafür freilich bietet der Kontext keinen Anhaltspunkt, der ja gerade auf das heilvolle „Gott alles in allem“ (V. 28c) zielt. Andererseits haben Lietzmann und Weiß mit ihrer Interpretation richtig erkannt, daß in V. 24a diese nichtchristliche Mehrheit Berücksichtigung finden muß, um einen sachlich kohärenten Text zu erhalten.22 Welcher quellenmäßig gesicherte Begriffsinhalt kann nun für τέλος geltend gemacht werden, durch den sich zugleich V. 24a in das von V. 22 eröffnete universale Gefälle integrieren läßt? Zur Lösung dieses Problems ist selbstverständlich das semantische Geflecht der eng zusammengehörigen V. 23–24a zu beachten. Zunächst: Durch die Aufzählung Erstling (ἀπαρχή) – sodann (ἔπειτα) – dann (εἶτα) ist eine zeitliche Abfolge zwischen den Aussagen der V. 23b–24a vorgegeben. Sie erhält durch die Erstlingsfunktion Christi zugleich eine qualitative Note: Erstling der Entschlafenen (vgl. V. 20) ist Christus nicht nur dem Zeitpunkt seiner Auferweckung nach. Vielmehr gründet in seiner Auferweckung die Auferweckung aller (V. 22b).23 Als Erstling genießt er damit einen Vorrang gegenüber allen anderen Entschlafenen. Ein solches Verhältnis des Vorrangs dürfte dann aber auch zwischen den Entschlafenen, die zu Christus gehören (V. 23c), und den übrigen Entschlafenen bestehen, die in V. 24a durch τέλος bezeichnet werden. Die zeitliche Reihenfolge, die in V. 23b–24a thematisiert wird, ist damit zugleich eine qualitative Rangordnung. Inwieweit aber finden möglicherweise diese beiden unterschiedlichen Aspekte (der chronologische wie der qualitative) schon Ausdruck im einleitenden V. 23a, näherhin in dem dort zentralen Begriff τάγμα?24 Zunächst einmal ist τάγμα die Grundbedeutung des Strukturierten, Geordneten zu eigen (von τάσσω = ordnen). Profangriechische Belege in der Bedeutung einer chronologischen Strukturierung (also Reihenfolge, Abfolge) finden sich aber nicht. In 1Kor 15,23a erhält τάγμα diese Konnotation erst sekundär durch die unmittelbar nachfolgende Auf21
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So dezidiert J. Weiß, 1Kor (s. Anm. 5) 358, der hier ein Lebendigwerden zum Gericht unterstellt. H. Lietzmann, 1.2Kor (s. Anm. 14) 80 dagegen bevorzugt den Gedanken einer noch der Auferstehung vorausgehenden Bekehrung der ungläubig Verstorbenen im Jenseits, schließt aber auch den Gerichtsgedanken nicht aus. Vgl. auch A. Schlatter, Paulus, der Bote Jesu. Eine Deutung seiner Briefe an die Korinther, Stuttgart 3 1962, 412, der τέλος zwar als „Ende“ versteht, zugleich aber hinzufügt: „und damit ist nicht nur der Zeitpunkt, sondern das Ereignis genannt, durch das eine neue Abteilung von Menschen zum Leben gelangen wird. Paulus erwartete zuerst die Auferstehung der Christenheit, dann die der Menschheit.“ Ähnlich auch W. Bousset, Der erste Brief an die Korinther in: O. Baumgarten/W. Bousset u. a., Die Schriften des Neuen Testaments Band 2: Die paulinischen Briefe und die Pastoralbriefe, 3. verb. u. verm. Aufl. Göttingen 1917, 156. Vgl. H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK V), 2. überarb. u. erg. Aufl. Göttingen 1981, 330. Neutestamentlich gibt es hier keine Anhaltspunkte, denn τάγμα ist Hapaxlegomenon.
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zählung in den V. 23b–24a. Dagegen ist der Begriff im Verständnis einer qualitativen Strukturierung profangriechisch hinreichend belegt und findet so vor allem im sozialen Kontext Verwendung. τάγμα bedeutet dann soviel wie Stellung, Rang oder Status eines Menschen bzw. bezeichnet die Klasse oder Ordnung, die Menschen gleichen Standes bilden.25 In diesem Verständnis war den Adressaten des 1. Korintherbriefes das Wort somit geläufig. Im Zusammenhang ergeben die V. 23– 24a also folgenden Sinn: In der chronologischen Abfolge des Auferweckungsgeschehens kommt die unterschiedliche Stellung bzw. der unterschiedliche Rang der Auferweckten zum Ausdruck. Von einzigartigem, unvergleichlichem Rang ist dabei Christus. Als Erstling stellt er gleichsam eine Ordnung, eine Klasse für sich dar. Ihm folgt rangmäßig an zweiter Position die Klasse der Christen und schließlich an rangmäßig letzter Stelle die Klasse der Nichtchristen. Beachtung verdient aber nicht zuletzt, daß in der bei weitem überwiegenden Anzahl der Belege aus dem 1. Jh. n. Chr. τάγμα als militärischer Begriff verwendet wird. Er bezeichnet eine militärische Abteilung unterschiedlicher Größe bis hin zur Legion.26 Dabei schwingt von der Grundbedeutung her wiederum der Ordnungsaspekt mit: eine Heereseinheit als in sich und in bezug auf andere Einheiten strukturierte Größe. Angesichts der weiten Verbreitung dieser militärischen Bedeutung von τάγμα dürften die Empfänger in Korinth diese selbstverständlich assoziiert haben.27 Umgekehrt gilt dann für Paulus: Er bedient sich gleich zu Beginn der Aussageeinheit der V. 23– 24a, die das Auferweckungsgeschehen thematisiert, bewußt einer militärischen
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Belege aus dem 1./2. Jh. n. Chr. finden sich vor allem inschriftlich, vgl. RECAM II, 195,8f.: καὶ αὐτὸς τοῦ βουλευτικοῦ τάγματος ὁ ἀνήρ; POxy XVII, 2130,2f.: τῷ τάγματι τῶν γυμνασιάρχων τῆς ᾿Οχυρυγχειτῶν πόλεως; IEph 27A (PH) Add. p. 2 115,28: καὶ τοῦ ῾Ρωμαίων ἱππικοῦ τάγματος καὶ δήμου; IG IV(2), 1,81,7–9: ἐπειδὴ Τίτος Στατείλιος Τιμοκράτης ἀνὴρ ἀξιόλογος καὶ τοῦ πρώτου τάγματος ἅπαντι τῶι προβεβιωμένῳ σεμνῶς καὶ =αυμαστῶς βίωι κάλλιστον πολείτευμα ἐποιήσατο …; TAM II,3,1202,18–20: ἐκ τοῦ πρώτου τάγματος τῆς πόλεως; vgl. auch IEph 34, 829,18–20; POxy XXXXVI, 3282,7 u.ö. τάγμα kann auch eine Gruppe gleichgesinnter Menschen bezeichnen, die entsprechend gleiche Ziele verfolgen oder die gleiche Lebensweise pflegen, so vor allem Josephus im Blick auf die Essener und Sadduzäer (vgl. Jos., Bell 2,122.125.143.160.161.164). Vgl. etwa aus dem 1./2. Jh. n. Chr. Plut., Pomp 13,1: ᾿Επανελ=όντι δ᾿ εἰς ᾿Ιτύκην αὐτῷ γράμματα κομίζεται Σύλλα, προστάττοντος ἀ?ιέναι μὲν τὴν ἄλλην στρατίαν, αὐτὸν δὲ με=᾿ ἑνὸς τάγματος περιμένειν αὐτό=ι τὸν διαδεξόμενον στρατηγόν; vgl. Plut., Sull 16,14; 17,6 u.ö.; Jos., Bell 6,92: ἠγωνίσαντο δὲ ἐξ αὐτῶν ἐπισήμως κατὰ ταύτην τὴν μάχην ᾿Αλεξᾶς μέν τις καὶ Γυ?=έος τοῦ ᾿Ιοάννου τάγματος; vgl. Jos., Bell 1,162; 1,329; 2,66; 3,120; 4,87; 5,48f.; 6,137; Jos., Ant 14,169.452.453.; 15,72; 17,251.286.292 u.ö. Höchst aufschlußreich ist unter dieser Rücksicht im übrigen 1 Clem 37,1–3. Clemens Romanus greift hier explizit die Wendung ἐν τῷ ἰδίῳ τάγματι aus 1Kor 15,23a auf (vgl. auch 1 Clem 41,1) und stellt sie in einen eindeutig militärischen Kontext. Dabei verwendet er τάγμα zur Bezeichnung eines militärischen Ranges. Damit bestätigt dieses frühe auslegungsgeschichtliche Zeugnis nur die selbstverständlich militärische Assoziation, die der Begriff τάγμα wachrief. Z. St. vgl. H. E. Lona, Der erste Clemensbrief (Kommentar zu den Apostolischen Vätern 2), Göttingen 1998, 410f.
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Metaphorik (vgl. 2Kor 10,3–6; 1 Thess 5,8).28 Diese Militärmetaphorik greift er am Ende des Kapitels in V. 52 sogar noch einmal auf. Dort nämlich bemüht er die aus dem antiken Heerwesen bekannte Signaltrompete, die hier freilich das entscheidende Zeichen für den Beginn der eschatologischen Totenauferweckung (vgl. 1 Thess 4,16) und die Verwandlung der Lebenden in das unvergängliche σῶμα πνευματικόν (vgl. V. 44–49) gibt. Dies rechtfertigt die Vermutung, daß Paulus die Reihen- und Rangfolge, die er in den V. 23b–24a aufzählt, unter das Vorzeichen eines militärischen Aufmarsches stellen will.29 Für unsere Fragestellung wichtig ist nun, daß auch τέλος ein im militärischen Bereich häufig verwendeter Begriff ist. Wie τάγμα bezeichnet τέλος eine militärische Abteilung oder Formation30 bis hin zur Größe einer Legion.31 Von der Grundbedeutung schwingt allerdings bei τέλος der Aspekt mit, daß diese Abteilung eine
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Es dürfte eben diese Absicht sein, Assoziationen an einen militärischen Zusammenhang wachzurufen, die Paulus – obwohl er primär von Reihen- und Rangfolge spricht – den Begriff τάγμα statt τάξις wählen und ihn statt κατὰ τάγμα ἐν τῷ ἰδίῳ τάγματι sagen läßt: gegen die Bedenken von H.-A. Wilcke, Problem (s. Anm. 4) 83, die er gegen die Bedeutung von τάγμα als „Rangordnung“ vorträgt. Wilcke selbst (ebd. 83–85) interpretiert τάγμα als „Gruppe“, wobei er V. 23a auf V. 22 zurückbezieht und als Verb εἶναι zu ergänzen vorschlägt, weil dies der griechischen Sprache gemäßer sei. Den Sinn von V. 23a bestimmt Wilcke dann so: „jeder Mensch überhaupt gehört zu der ihm eigenen Gruppe, sei es zu der in Adam, sei es zu der in Christus“ (ebd. 84). Wie ist aber dann die Zuordnung der V. 23b.c zu bestimmen? Soll hier etwa jeweils auch eine Form von εἶναι ergänzt werden? Dies scheitert aber spätestens in V. 23c. Es dürfte daher kaum Zufall sein, daß Wilcke denn auch auf eine exakte Analyse dieser Versteile verzichtet. Unter diesem Vorzeichen könnte sogar die Bezeichnung Christi als ἀπαρχή in V. 23b, die ihren semantischen Gehalt primär aus V. 20 gewinnt (Christus als der Erstling, dessen Auferweckung die Auferweckung aller Toten schon in sich birgt), als Anfangsglied einer Aufzählungskette aber höchst ungewöhnlich ist, bedingt sein durch eine gewollte Assoziation an den klanglich ähnlichen militärischen Titel eines ἔπαρχος (Anführer bzw. Praefectus) (vgl. Polyb. 5,46,7; 11,27,2; Plut., Galba 2; POxy 1, 3, 477rp,3 u.ö.). Zur Bezeichnung eines Trupps von 2048 Fußsoldaten (Ael., Tact 9,7: αἱ δὲ δύο πεντακοσιαρχίαι καλεῖται χιλιαρχία, ἄνδρων χιλίων εἴκοσιν τεσσάρων [1024], λόχων ἑξήκοντα τεσσάρων [64], καὶ ὁ τούτων ἀ?ηγούμενος χιλιάρχης. αἱ δὲ δύο χιλιαρχίαι μεραρχία καλεῖται, ἄνδρων δισχιλίων τεσσαράκοντα ὀκτώ [2048], καὶ ὁ τοῦ μέρους τούτου ἡγούμενος καλεῖται μεράρχης, λόχων ἑκατὸν εἴκοσιν ὀκτώ [128] τοῦτο δὲ τὸ μέρος ὑπ᾿ ἐνίων τέλος καλεῖται, καὶ ὁ ἀ?ηγούμενος αὐτοῦ τελάρχης; vgl. Asclepiodot., Tact. 2,10; Arr., Tact 10,5–7) oder Reitern (Ael., Tact 20,2: καὶ ἡ μὲν εἴλη ἱππέων ἔστω ἑξήκοντα τεσσάρων [64] ἔσονται δὲ αἱ πᾶσαι εἶλαι ἑξήκοντα τεσσάρων, ἱππεῖς δὲ τετρακισχιλίων ἐνενήκοντα ἕξ [4056]. καλοῦνται δὲ αἱ δύο εἶλαι ἐπειλαρχία, ἱππέων ἑκατὸν εἴκοσιν ὀκτώ [128] αἱ δὲ δύο ἐπειλαρχίαι Ταραντιναρχία, ἱππέων διακοσίων πεντήκοντα ἕξ [256] αἱ δὲ δύο Ταραντιναρχίαι ἱππαρχία, ἱππέων πεντακοσίων δώδεκα [512] αἱ δὲ δύο ἱππαρχίαι ἐ?ιππαρχία, ἱππέων χιλίων εἴκοσιν τεσσάρων [1024] αἱ δὲ δύο ἐ?ιππαρχίαι τέλος, ἱππέων δισχιλίων τεσσαράκοντα ὀκτώ [2048] τὰ δὲ δύο τέλη ἐπίταγμα, ἱππέων τετρακισχιλίων ἐνενήκοντα ἕξ [4096]; vgl. Asclepiodot., Tact 7,11; Arr., Tact 18,4). Vgl. Appian, Bell Civ 5,87: τὸ τρισκαιδέκατον τέλος ἐπλησίαζε διὰ τῶν ὀρῶν; Plut., Anton 18,8: εἰς τὴν ᾿Ιταλίαν ἄγων ἑπτακαίδεκα τέλη πεζῶν καὶ μυρίους ἱππεῖς. Interessant ist, daß Plutarch gleich im folgenden Satz τέλος durch τάγμα substituiert: χωρὶς δὲ ?ρουρὰν Γαλατίας ἕξ τάγματα λελοίπει μετὰ Οὐαρίου; weitere Belege zur Bedeutung Legion vgl. Jos., Ant 14,469; Jos., Bell 1,346.
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abgeschlossene Einheit innerhalb einer größeren Gesamtheit bildet.32 Dies fügt sich nun ausgezeichnet in den Kontext von 1Kor 15,22–24a: τέλος dürfte demnach in V. 24a innerhalb des universalen Auferweckungsgeschehens, das Paulus ab V. 23a mit Anklängen an einen Heeresaufmarsch versieht, die große Abteilung bzw. Legion der nichtchristlichen Entschlafenen bezeichnen. Es entspricht dabei der extrem knappen Ausdrucksweise der Verse, daß Paulus auf eine eigene Kennzeichnung der Nichtchristen – etwa durch Hinzufügung „der übrigen“ – verzichtet. Denn sie allein können die zuletzt genannte Einheit bilden. Dies geht aus der zuvor erfolgten Nennung der zu Christus Gehörenden und aus der universalen Konnotierung des Gesamtzusammenhangs eindeutig hervor. Jedenfalls folgt die nichtchristliche der christlichen Gruppe bei der Auferweckung zeitlich und rangmäßig nach. Was diese Nachordnung bedeutet, ist weiter unten noch eigens zu erwägen.
3. Die vollendete Gottesherrschaft als Ziel der messianischen Herrschaft Christi (V. 24b–28) Syntaktisch rückgebunden an V. 24a gibt V. 24b zunächst den Zeitpunkt an, an dem das Lebendigmachen aller nicht zu Christus gehörigen Menschen erfolgt. Inhaltlich eröffnet er einen neuen Aspekt: die Herrschaft Christi. Sie tritt sofort unter das Vorzeichen ihres Endes, konkret der Übergabe an Gott, den Vater. In den nachfolgenden V. 24c–28a wird die Aufgabe geschildert, die mit dieser Herrschaft Christi verbunden ist. In V. 28b.c wird ihr Ziel angegeben. Ihr Beginn bleibt dagegen offen. Zwei Möglichkeiten werden daher in der exegetischen Diskussion erwogen: 1. Paulus setzt in Entsprechung zu Offb 20 ein sog. messianisches Zwischenreich voraus. Die ab V. 24c geschilderten Ereignisse sind entsprechend zeitlich anzusiedeln zwischen der Parusie Christi (V. 23c) und der endgültigen Herrschaftsübergabe an Gott (V. 24b).33 2. Die Herrschaft Christi ist bereits mit seiner Auferweckung in Kraft gesetzt. Sie bestimmt mit der Erfüllung der ab V. 24c genannten Aufgabe unsichtbar die Gegenwart und erstreckt sich bis zur Parusie.34 Diese Deu32
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Auf dieses übergreifende semantische Merkmal der militärisch konnotierten Belege von τέλος machte mich Herr cand. phil. Günther Schwab, Salzburg aufmerksam, der überhaupt in bewunderns- und dankenswerter Weise bei den lexikalischen Recherchen mitgearbeitet hat. Zu Dank verpflichtet bin ich auch dem Wiener Althistoriker und Papyrologen Dr. Bernhard Palme, der mich im Anfangsstadium meiner Überlegungen ermutigte, die Idee einer militärischen Konnotation von τέλος wie der V. 23–24a insgesamt weiter zu verfolgen. So H. Lietzmann, 1.2Kor (s. Anm. 14) 81; A. Schlatter, Paulus (s. Anm. 22) 412.414–416; W. Bousset, 1Kor (s. Anm. 22) 156f.; A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus (Mit einer Einführung von W.G. Kümmel) (UTB 1091), Tübingen 1981 (= Neudruck der 1. Aufl. von 1930), 67–69. So die überwältigende Mehrheit der Exegeten, vgl. u. a. H.-A. Wilcke, Problem (s. Anm. 4) 94f.98f.; F. Froitzheim, Christologie (s. Anm. 3) 146f.; B. Spörlein, Leugnung (s. Anm. 5) 77; G. Sellin, Streit (s.
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tung kann für sich geltend machen, daß die Motivverbindung von Auferweckung Jesu und Einsetzung in das messianische Herrscheramt traditionsgeschichtlich in den neutestamentlichen Schriften fest verankert ist.35 Welche Deutung dem Gedankengang von 1Kor 15,20–28 eher gerecht wird, muß noch offenbleiben. V. 24c geht zeitlich und sachlich der Herrschaftsübergabe voraus und umreißt inhaltlich die Herrschaftsaufgabe Christi: die Entmachtung36 aller37 Größen mit einem absoluten Machtanspruch über Mensch und Schöpfung, wodurch sie sich dem ausschließlichen Herrsein Gottes widersetzen. V. 25b qualifiziert sie daher auch ausdrücklich als Feinde. V. 25a.b faßt die zeitliche Ausdehnung und zugleich Begrenzung der christologischen Herrschaft entsprechend dem göttlichen Heilsplan (δεῖ) in den Blick.38 V. 25b stellt kein exaktes Zitat, wohl aber eine deutliche Anspielung auf den (schon vorchristlich) messianisch verstandenen Königspsalm Ps 110,1 dar.39 Neutestamentlich wird die Stelle wiederholt zitiert als Schriftbeleg für die Einsetzung des auferweckten Christus in sein messianisches Herrscheramt (vgl.
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Anm. 1) 272; H. Conzelmann, 1Kor (s. Anm. 23) 330; W. Schrage, Das messianische Zwischenreich bei Paulus in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Gräßer) (BZNW 89), Berlin/New York 1997, 343– 354 passim; ders., 1Kor IV (s. Anm. 2) 171f.; C. K. Barrett, 1Kor (s. Anm. 5) 356f.; W. Verburg, Endzeit (s. Anm. 3) 147; C. Wolff, 1Kor (s. Anm. 4) 386f. Eine besondere Rolle spielt dabei die christologische Rezeption von Ps 110,1 (vgl. Apg 2,34f.; Röm 8,34; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13 u. ö); zur herrscherlichen Stellung Christi seit Ostern vgl. auch Röm 1,3f.; 14,9; Phil 2,9–11. Bei καταργεῖν wird gleichermaßen eine „weiche“ (entmachten) wie eine „harte“ (vernichten) Deutung (zu dieser Qualifizierung vgl. W. Verburg, Endzeit [s. Anm. 3] 147f.) vertreten, vgl. dazu die ausführlichen Belege bei W. Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 2) 174, Anm. 779. Im Blick auf V. 25b.27a ist die weiche Deutung zu bevorzugen: Unter die Füße geworfen werden nicht Tote, sondern bezwungene Feinde, vgl. P. Bachmann, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (KNT 7), Leipzig 41936 (mit Nachträgen von E. Stauffer) 445. Gleichwohl hat auch die harte Deutung eine gewisse Berechtigung, denn in Hinblick auf ihre Funktion werden die Gewalten, Mächte und Kräfte in der Tat vernichtet. Vgl. das betonte zweimalige πάντα. Subjekt des Handelns in V. 25b ist Christus, denn es ist herrscherliche Aufgabe, die Feinde unter die Füße zu zwingen. Eben hierzu ist Christus von Gott bestimmt und ermächtigt (V. 27c.28a.b, wohl auch 27a). αὐτοῦ ist entsprechend reflexiv zu verstehen. Offensichtlich liegt hier ein laxer hellenistischer Sprachgebrauch vor, vgl. J. Lambrecht, Paul’s Christological Use of Scripture in 1 Cor. 15,20–28 in: ders., Pauline Studies. Collected Essays (BEThL 115), Leuven 1994, 125–149, 137. U. Heil, Theo-logische Interpretation von 1Kor 15,23–28 in: ZNW 84 (1993) 27–35 sei hier stellvertretend für alle diejenigen zitiert, die für die V. 23–28 durchgehend Gott als das Handlungssubjekt – insbesondere aller Unterwerfungs- und Entmachtungsaussagen – voraussetzen (vgl. ebd. 27 mit Anm. 1–5). Ich möchte mich an dieser Stelle auf zwei kritische Einwände beschränken: 1. U. Heil rollt ihre Deutung sozusagen von hinten – nämlich von V. 28 her – auf. Dies aber widerspricht dem natürlichen Rezeptionsprozeß bei den Hörenden bzw. Lesenden. 2. Wenn ausschließlich Gott Handlungssubjekt des Unterwerfens und Entmachtens der gottfeindlichen Mächte ist, worin besteht dann der Sache nach die christologische Herrschaftsfunktion? Vgl. J. Lambrecht, Use (s. Anm. 38) 137: „Is Paul, in V. 25 and already in V. 24c, not rather using this scripture verse – its vocabulary and concepts – to express his own ideas? Free use, and deliberate, subtle allusion are here better terms than strict quotation.“
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Röm 8,34; Apg 2,34f; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13).40 Wenn Paulus hier auch auf Ps 110,1 zurückgreift, ist dies ein erstes deutliches Indiz dafür, daß der Beginn der christologischen Herrschaft nach 1Kor 15,20–28 nicht erst mit der Parusie, sondern mit der Auferweckung Christi beginnt. Beachtung verdient dabei, daß Paulus hier 110,1b, der ursprünglich Gott als handelndes Subjekt hat, christologisch rezipiert:41 Christi Herrschaft beschränkt sich für ihn also nicht auf ein majestätisches Thronen zur Rechten Gottes, sondern ist voller Aktivität im Dienst der Vollendung der Gottesherrschaft.42 V. 26 greift eine der feindlichen Größen, die Christus in ihrer Funktion unschädlich machen muß, namentlich heraus: Als letzter – und damit im Sinne einer Steigerung zugleich als mächtigster – Feind43 wird der Tod entmachtet.44 Damit wird durch V. 26 die semantisch-sachliche Verbindung der V. 24b–28 zur Thematik der V. 20–24a wie des gesamten Kapitels hergestellt. Insofern die Entmachtung des Todes die logische Voraussetzung für die Auferweckung der Toten ist, läßt sich dieser Vers zutreffend als Schlüssel zum Verständnis von 1Kor 15,20–28 wie des gesamten Kapitels verstehen.45 Zugleich empfiehlt die Aussage von V. 26 nachdrücklich, Paulus hier nicht die Vorstellung eines messianischen Zwischenreichs zwischen Parusie und Ende zu unterstellen. Vielmehr gilt: Die Bezwingung des Todes als letzter Akt Christi vor der Herrschaftsübergabe an Gott steht im unmittelbar zeitlichen und sachlichen Bezug zur Parusie und dem damit verbundenen Anfang der Totenauferweckung. Damit aber beginnt die Zeit der Herrschaft Christi nicht erst mit seiner Parusie, sondern bereits mit seiner Auferweckung, und sie endet mit der auf die Parusie folgenden Herrschaftsübergabe. V. 27a steht in enger Verbindung zu V. 25b. Doch bemüht Paulus für diese erneute Unterordnungsaussage diesmal nicht den Königspsalm 110,1b, sondern er formuliert in deutlicher Anlehnung an den Schöpfungspsalm 8,7b. Im ursprünglichen Kontext meditiert die Aussage den Herrschaftsauftrag, den der Mensch über 40
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Vgl. dazu G. Dautzenberg, Psalm 110 im Neuen Testament in: H. Becker/R. Kaczynski (Hrsg.), Liturgie und Dichtung, St. Ottilien 1983, 141–171; M.C. de Boer, Paul’s Use of Resurrection Tradition in 1 Cor 15,20–28 in: R. Bieringer (Hrsg.), The Corinthian Correspondence (BEThL 125), Leuven 1996, 639–651, bes. 640–648. Unter den insgesamt 16 Zitaten von Ps 110,1 im Neuen Testament ist 1Kor 15,25b der einzige Beleg für ein isoliertes Zitat von V. 1b und zugleich für eine christologische Rezeption dieser Aussage. Vgl. W. Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 2) 176. So auch U. Luz, Geschichtsverständnis (s. Anm. 3) 348. Gegen W. Schrage, Zwischenreich (s. Anm. 35) 351; vgl. ders, 1Kor IV (s. Anm. 2) 178–180 ist daran festzuhalten, daß es sich beim Passiv nicht um ein Passivum divinum, sondern um ein Passivum christologicum handelt. Die Wahl des Passivs ist zwar auffällig, aber doch wohl eher als stilistische Variation zu werten. Für die christologische Deutung spricht, daß Gott nach wiederholt betonter Auskunft des Kontextes Christus ausnahmslos alles (eben außer sich selbst V. 28b) unterworfen hat (V. 27a.27c.28a. 28bß), d.h. aber, auch der Tod fällt in Christi Machtbereich und ist von ihm unschädlich zu machen. Vgl. etwa U. Luz, Geschichtsverständnis (s. Anm. 3) 348; F. Froitzheim, Christologie (s. Anm. 3) 147; G. Sellin, Streit (s. Anm. 1) 273; W. Verburg, Endzeit (s. Anm. 3) 148.
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Gottes Schöpfung von Gott selbst erhalten hat. Angesichts des deutlichen Bezugs von V. 27a zu V. 25b liegt es nun durchaus nahe, erneut eine christologische Rezeption der Psalmstelle zu vermuten, Christus also als handelndes Subjekt des Unterordnens vorauszusetzen.46 Nun steht allerdings V. 27a in einem begründenden Verhältnis (γάρ) zu den V. 25f, die futurisch konnotiert sind. V. 27a spricht dagegen in Übereinstimmung mit der zugrundeliegenden Psalmstelle, die Paulus hier gerade nicht ändert, in der Vergangenheit (Ind. Aorist). Also: Weil alles schon Christi Füßen unterworfen wurde (V. 27a), herrscht er, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt und als letzten Feind den Tod entmachtet haben wird (V. 25f). V. 25b und V. 27a können somit ungeachtet ihrer engen semantisch-thematischen Berührungen nicht von demselben Geschehen sprechen. V. 27a nämlich formuliert die zeitlich vorausgehende Begründung für V. 25b. Angesichts dieser Differenzen erscheint zweifelhaft, ob Christus das Handlungssubjekt auch von V. 27a ist. Er selbst würde dann nämlich die Voraussetzungen für den Vollzug seines Herrscherauftrags schaffen. Diese Annahme aber steht in Widerspruch zu V. 27c.28a.b, wonach Gott diese Voraussetzungen schafft. Daher erscheint es nahezu zwingend, daß V. 27a Gott zum Handlungssubjekt hat.47 Dies vorausgesetzt, fügt sich der Schöpfungskontext, dem sich die Formulierung in V. 27a verdankt, gut in den Gesamtzusammenhang von 1Kor 15,20–28 ein. Denn dieser ist ganz bestimmt vom Gedanken der eschatologischen Neuschöpfung. Diese wird in der Adam-Christus-Typologie V. 21f der Schöpfung kontrastiert und erweist sich im gottgewirkten eschatologischen Lebendigmachen der Toten (V. 22b–24a). Auch V. 27a ist in das Licht der eschatologischen Neuschöpfung getaucht. Wie nämlich am Beginn Gott dem Menschen seine Schöpfung unterstellt hat (Ps 8,7), so hat er sie nun Christus, dem Erstling der Entschlafenen und Repräsentanten der eschatologisch auferweckten Menschheit, unterstellt. Er soll alles Gottfeindliche in ihr tilgen und so der eschatologischen Neuschöpfung und der vollendeten Gottesherrschaft zum Durchbruch verhelfen.48 46
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So H.-A. Wilcke, Problem (s. Anm. 4) 104f.; C. Wolff, 1Kor (s. Anm. 4) 389; H. Conzelmann, 1Kor (s. Anm. 23) 336; H. Lietzmann, 1.2Kor (s. Anm. 14) 81; J. Lambrecht, Use (s. Anm. 39) 137–140; ders., Structure and Line of Thought in I Cor. 15,23–28 in: ders., Pauline Studies. Collected Essays (BEThL 115), Leuven 1994, 151–159, 157f. So etwa auch J. Weiß, 1Kor (s. Anm. 5) 360; W. Schrage, Zwischenreich (s. Anm. 35), 352. Zwar kommt der mit einer theologischen Deutung von V. 27a gegebene Subjektswechsel überraschend. Doch es ist offenbar ein bewußt gestaltetes Textmerkmal, daß Paulus in den V. 24b–28a auf die namentliche Nennung der handelnden Personen (Christus bzw. Gott) verzichtet und so die Aussagen bezüglich ihres Handlungsträgers in einem gewissen Schwebezustand beläßt. Dies dürfte darin begründet sein, daß es letztlich immer Gott selbst ist, der auch das herrscherliche Handeln Christi ermöglicht und trägt. Ähnlich M.C. de Boer, Use (s. Anm. 41) 649–651, der die Aoristform in V. 27a auf die bereits erfolgte Auferweckung Jesu Christi bezieht, die christologisch die damit ebenfalls bereits erfolgte Unterwerfung der Feinde unter seine Füße impliziert. Dagegen kennzeichnen de Boer zufolge die futurischen Aussagen
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V. 27b variiert die Aussage von V. 24c. Beide Verse blicken voraus auf den erfolgreichen Abschluß des Herrscherauftrags Christi. Während V. 24c diesen Zustand gleichsam referierend vorwegnimmt, ist V. 27b als künftig durch Christus selbst gesprochene Vollzugsmeldung gestaltet,49 die wohl dem Akt der Herrschaftsübergabe zuzuordnen ist (vgl. V. 24a). Die Feststellung, alles sei nun unterworfen, wird dann durch V. 27c vor einem Mißverständnis geschützt: Vom umfassenden Herrschaftsvollzug Christi ist selbstverständlich der ausgenommen, der Christus alle Vollmacht übertragen hat, Gott selbst. Dieser Aspekt der von Gott selbst ermöglichten Herrschaft Christi wird noch einmal in V. 28bfin aufgegriffen, so daß er zusammen mit V. 27a.c in den letzten beiden Versen kurz aufeinanderfolgend gleich drei Mal begegnet. Er bereitet den theozentrischen Zielpunkt des gesamten Abschnitts vor und bildet den sachlichen Grund für die Selbstunterwerfung des Sohnes unter Gott, den Vater (V. 28b). Diese Selbstunterwerfung ist sachlich identisch mit der Herrschaftsübergabe an Gott (V. 24b). Sie wird dann erfolgen, wenn dem Sohn alles unterworfen sein wird (V. 28a),50 d.h. wenn der Zweck seiner Herrschaft erfüllt ist, nämlich die Unterwerfung aller widergöttlichen Größen einschließlich des Todes (vgl. V. 24c.25b.26). Die abschließende Selbstunterwerfung Christi erfolgt als freiwilliger Akt. Sie ist notwendig, damit das Ziel der vollendeten Gottesherrschaft – Gott alles in allem51 – (V. 28c) erreicht werden kann. Dieses „Gott alles in allem“ ist eine soteriologische, nicht metaphysische Aussage.52 In der vollendeten Gottesherrschaft über die neue Schöpfung gilt Gottes Heilswille unangefochten. Niemand und nichts kann mehr aus ihm heraus- und dem Tod anheimfallen.
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der V. 24–26.28 die soteriologischen Konsequenzen des christologisch bereits erreichten Ziels als in ihrer konkreten Auswirkung noch ausstehend (künftige Totenauferweckung). Vgl. C. Wolff, 1Kor (s. Anm. 4) 389; W. Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 2) 183. V. 28a greift sachlich auf V. 27b zurück. Zum neutrischen Verständnis von πᾶσιν vgl. C. Wolff, 1Kor (s. Anm. 4) 390: „ἐν πᾶσιν bezeichnet den vollendeten Herrschaftsbereich Gottes und ist wegen des wiederholten πάντα in V. 27 am ehesten neutrisch zu verstehen: ‚in allem‘.“ Gottes eschatologische Herrschaft erstreckt sich eben nicht nur auf die Menschen (alles in allen), sondern auf die gesamte Schöpfung, vgl. auch W. Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 2) 187 u. a. Anders etwa M.C. de Boer, Defeat (s. Anm. 12) 125f. Vgl. C.K. Barrett, 1Kor (s. Anm. 5) 361; im Anschluß an ihn auch J. Lambrecht, Use (s. Anm. 38) 133 und G.D. Fee, 1Kor (s. Anm. 5) 760. Wenn Fee allerdings diese Herrschaft Gottes differenziert in „banishing those who have rejected his offer of life and lovingly governing all those who by grace have entered into God’s ‚rest‘“, so ist dies von 1Kor 15,20–28 nicht gedeckt, sondern eine seinem Vorverständnis von Heil entspringende Eintragung in den Text.
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4. Der Vorrang der Christen vor den Nichtchristen bei der Totenauferweckung Es zeigte sich bereits: Die dreifache Staffelung des Auferweckungsgeschehens in den V. 23b–24a birgt in sich den zeitlichen wie qualitativen Vorrang des Erstlings Christus vor den zu ihm Gehörenden. Ebenso genießen dann diese ihrerseits einen zeitlichen wie qualitativen Vorrang vor den Nichtchristen. Diesen Vorrang der Christen vor den Nichtchristen bei der Totenauferweckung gilt es jetzt noch sachlich zu präzisieren. Nach V. 23c erfolgt die Auferweckung der Christen bei der Parusie Christi, die Auferweckung der Nichtchristen nach V. 24a.b dann bei der unmittelbar darauf folgenden Herrschaftsübergabe an Gott. Die zeitliche Differenz ist zwar vorhanden, aber eher gering. Die ausdrückliche Zeitangabe „bei seiner Parusie“ in V. 23c dürfte aber zugleich den entscheidenden Hinweis enthalten, worin Paulus den qualitativen Vorrang sieht, den die Christen vor den Nichtchristen bei der Auferweckung genießen. Die Leseanweisung liefert 1 Thess 4,13–18. Denn diese kurze Passage aus dem ältesten Paulusbrief belegt eindrucksvoll, daß für Paulus und seine Gemeinden die Erwartung, die Wiederkunft Christi erleben zu dürfen, einen kaum zu überschätzenden Stellenwert besaß. Darum sind die Christen in Thessalonich entsetzt, als noch vor der unmittelbar erwarteten Parusie erste Todesfälle in der Gemeinde auftreten. Denn sie fürchten offenbar, daß ihre Verstorbenen im Nachteil sind, weil die Parusieereignisse ohne sie stattfinden. Dieser Befürchtung tritt Paulus mit einem prophetischen Wort und seiner Deutung entgegen, die besagen: Die Lebenden werden den Toten nichts voraus haben, denn zunächst werden die Toten auferweckt und dann werden sie zusammen mit den Lebenden dem wiederkehrenden Christus entgegenziehen. In einer prophetischen Präzisierung der christlichen Botschaft werden hier also Totenauferweckung und Parusie zu einer engen Einheit verbunden. So können die Thessalonicher einander damit trösten, daß auch ihre inzwischen Verstorbenen bei der Parusie zugegen sind.53 Das Problem der Thessalonicher ist nun nicht das Problem der Korinther. Die Akzente haben sich verschoben. In Korinth können sich zumindest Teile der Gemeinde nicht mit dem Gedanken einer leiblichen Auferstehung anfreunden. Deshalb entwickelt Paulus im weiteren Verlauf von 1Kor 15 die Vorstellung des Geistleibes (σῶμα πνευματικόν) (V. 44–49). Trotz dieser neuen Akzentuierung hält er gleichwohl am Ende des Kapitels in Übereinstimmung mit 1 Thess 4,13–18
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Vgl. hierzu H. Merklein, Der Theologe als Prophet. Zur Funktion prophetischen Redens im theologischen Diskurs des Paulus in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT 105), Tübingen 1998, 377– 404, bes. 378–384.385–388.
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daran fest, daß die Parusieereignisse Lebende und Tote gleichermaßen betreffen.54 Dabei spricht Paulus in diesen Versen im Unterschied zu den V. 20–24a ausdrücklich gemeindeintern:55 Beim Schall der Trompete, d.h. beim Signal des wiederkommenden Christus werden die lebenden Gemeindemitglieder in den Auferstehungsleib verwandelt, die toten werden mit diesem unvergänglichen Geistleib auferweckt (V. 51f). Wenn er daher in V. 23c betont, daß die zu Christus Gehörenden bei seiner Parusie lebendig gemacht werden, so korrespondiert dies der Aussage über die Toten in den V. 51f. Der Vorrang der Christen vor den Nichtchristen dürfte also nach Überzeugung des Paulus darin bestehen, daß die verstorbenen Christen die Parusie bereits als Auferweckte miterleben dürfen. Daß danach auch die Nichtchristen auferweckt werden (V. 22.24a) und schließlich am Heil der vollendeten Gottesherrschaft Anteil erhalten (V. 28),56 steht in 1Kor 15,20–28 für Paulus in keiner Weise zur Diskussion, sondern wird selbstverständlich vorausgesetzt.
5. Heil für alle und exklusive Rettung der Glaubenden – Paulus im Widerspruch? Die hier dargebotene Deutung von 1Kor 15,20–28 konnte Argumente aufzeigen, die bei einer systematisch-theologisch unvorbelasteten Textlektüre für eine universal-soteriologische Aussageabsicht sprechen. Demnach liegt nach Auskunft dieser Verse im göttlichen Auferweckungshandeln an Jesus die Auferweckungszukunft aller Menschen (nicht nur der Christen) und ihre Teilhabe an der vollendeten Gottesherrschaft begründet. Eine solch universale Heilszukunft, die gleichermaßen in Röm 5,18f und Röm 11,32–35 anklingt, scheint aber in unversöhnlichem Widerspruch zu stehen zu Aussagen in den Paulusbriefen, die das Heil an das Bekenntnis 54
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Dies ist insofern bemerkenswert, weil das Schicksal der Lebenden ja nicht Thema von Kapitel 15 ist, sondern das Schicksal der Toten. Hier dürfte ein Sinnüberschuß vorliegen, der aus der Nähe zu 1 Thess 4,13–18 resultiert (vgl. dazu die Synopse der beiden Texte bei H. Merklein, Theologe [s. Anm. 54] 389f.), wenngleich der Aspekt der Verwandlung aus der korinthischen Problemstellung erwächst. Vgl. V. 51a: Personalpronomen 2. Pers. Pl.; 51b: Verben in der 1. Pers. Pl.; V. 52fin: Personalpronomen 1. Pers. Pl. Daß die Nichtchristen zum Gericht auferweckt werden und vom Heil der vollendeten Gottesherrschaft ausgeschlossen sind (so etwa J. Weiß, 1Kor [s. Anm. 5] 358; A. Strobel, 1Kor [s. Anm. 5] 252; G.D. Fee [s. Anm. 5] 760), ist durch nichts im Text angedeutet. Eine forensische Konnotation ist allenfalls in der zweiten Texthäfte im Zusammenhang der christologischen Herrschaftsausübung gegeben, nämlich bei der Entmachtung aller gottfeindlichen Größen. Wenngleich hierbei die kosmischen Mächte im Vordergrund stehen dürften, sind gleichwohl die innerweltlichen Machthaber in den verschiedenen zwischenmenschlichen und gesellschaftlich-politischen Verhältnissen ebensowenig ausgeschlossen wie in 2,8, vgl. W. Schrage, Zwischenreich (s. Anm. 35) 349f. Allerdings ist der forensische Aspekt nicht der Fluchtpunkt der Verse 24b–28, sondern die alle und alles umfassende Gottesherrschaft in ihrem heilvollen Charakter.
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zu Christus binden. So schreibt Paulus etwa zu Beginn des 1. Korintherbriefes in 1,18: „Das Wort vom Kreuz aber ist denen, die verlorengehen, Torheit, denen aber, die gerettet werden, uns, ist es Kraft Gottes.“ Ähnliche Aussagen finden sich u. a. in 2Kor 2,15f; 4,3; Röm 9,22f oder Phil 1,28. Bleibt daher etwa nur die Alternative, daß entweder die universale Deutung von 1Kor 15,20–28 die paulinische Intention verkennt oder aber daß der Apostel sich in Widersprüche verwickelt? Ich meine: nein! Vielmehr bietet sich noch eine dritte Erklärungsmöglichkeit an. Sie fordert allerdings, ein Merkmal paulinischer Theologie zu beachten, das einer rein akademischen Beschäftigung mit den Paulusbriefen allzu leicht entgeht, dessen Beachtung mir aber für ihr angemessenes Verständnis unverzichtbar zu sein scheint. Es ist das Merkmal der situativen Verankerung und damit auch der situativen Gebrochenheit paulinischer Theologie. Paulus schreibt keine dogmatischen Traktate, er verfaßt kein theologisches Handbuch, sondern er schreibt Briefe. Er konkretisiert und akzentuiert seine Theologie, die alles andere als beliebig oder konzeptionslos ist, für konkrete Gemeinden mit ganz unterschiedlichen Fragen, Problemen und (Fehl-)Entwicklungen. Paulinische Theologie ist eine Theologie im pastoralen Vollzug, die gerade nicht vorgefertigte Antworten bereithält und sie den Menschen überstülpt. Dies hat Konsequenzen für die Paulusexegese: Wir müssen diese Besonderheit paulinischer Theologie respektieren, und das heißt, wir müssen uns vor dem Zwang hüten, die manchmal widersprüchlich erscheinenden Aussagen um jeden Preis harmonisieren zu wollen, aus den situationsgebundenen Briefen also ein theologisches Handbuch zu schneidern. Kurzum: Wir müssen die Pragmatik der Aussagen angemessen berücksichtigen. Es ist zu fragen, welche Funktion sie besitzen für das, was Paulus seinen Adressaten in einer bestimmten Situation und unter einer bestimmten Fragestellung vermitteln, was er bei ihnen erreichen möchte.57 Blicken wir unter diesem Vorzeichen noch einmal abschließend auf unseren Text 1Kor 15,20–28: Er ist Teil der Auseinandersetzung des Paulus mit den korinthischen Bestreitern einer Totenauferweckung. Unmittelbar zuvor hat Paulus die Unvereinbarkeit ihrer Behauptung mit dem Bekenntnis zur Auferweckung Christi dargelegt: Wenn Tote nicht auferweckt werden, dann ist auch Jesus Christus nicht auferweckt worden (V. 13). Die korinthische These stellt also das gemeinsame Bekenntnis zur Auferweckung Christi zur Disposition. Aber nicht nur das, wie 1Kor 15,20–28 dann weiter ausführt. Denn in diesem Abschnitt dominiert nun der Gedanke der eschatologischen Neuschöpfung.58 Dies legt sich nahe, weil nach frühjüdischer Überzeugung, der Paulus hier verpflichtet ist, Totenauferweckung und 57
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Vgl. dazu auch W. Schrage, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes. Zum „Monotheismus“ des Paulus und seiner alttestamentlich-frühjüdischen Traditionen (BThSt 48), Neukirchen-Vluyn 2002, 183. Vgl. die Adam-Christus-Typologie (V. 21f.); die im Passivum divinum gehaltene Rede vom Lebendiggemachtwerden (der Toten) (V. 22b [23a–24a]); die Rezeption von Ps 8,7 (V. 27a).
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eschatologische Neuschöpfung eng miteinander verbunden sind (vgl. LibAnt 3,10; syrBar 50,1–51,3; 4 Esr 7,75 u.ö.; vgl. auch Röm 4,17).59 Die Auferweckung Jesu Christi wird entsprechend als Beginn der Neuschöpfung gewertet, der die Auferweckung der Toten sicher folgen wird. Nicht zufällig wird Christus zu Beginn des Abschnittes als „Erstling der Entschlafenen“ qualifiziert. Totenauferweckung aufgrund der Erfahrungswirklichkeit und/oder aufgrund philosophischer Spekulationen in Abrede zu stellen, bedeutet daher, Gottes Gottsein in Zweifel zu ziehen.60 Genau dies tun aber die Korinther. Und hier steuert Paulus energisch gegen. Um der uneingeschränkten eschatologischen Schöpfermacht Gottes willen muß er gegen das korinthische Votum Totenauferweckung nicht nur als christliche Zukunft verteidigen, sondern darüber hinaus universal denken. Und um der souveränen Herrschaft Gottes willen muß er Raum lassen für die Rettung aller.61 Beides – eschatologische Schöpfermacht wie souveränes Herrsein Gottes – darf nicht zur Disposition gestellt werden. Denn es ist konstitutiv für Gottes Gottsein, das sich einst darin erweisen wird, daß er „alles in allem“ ist.62 59 60
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Vgl. auch M.C. de Boer, Defeat (s. Anm. 12) 39–91. Auch U. Luz, Geschichtsverständnis (s. Anm. 3) 351 (vgl. im Anschluß an ihn auch G. Barth, Erwägungen [s. Anm. 5] 525 und G. Sellin, Streit [s. Anm. 1] 276) bestimmt als pragmatischen Skopus der V. 24–28 das Eintreten des Paulus für die Wahrung von Gottes Gottsein: „Wir sagten vorhin: Von der zukünftigen Überwindung des Todes war um der Auferstehung Jesu willen die Rede. Nehmen wir V. 27b–28 hinzu, so müßten wir sagen: Von der Auferstehung Jesu war letztlich um der Gottheit Gottes willen die Rede.“ (kursiv im Original). M.E. sind die Akzente allerdings ein wenig anders zu setzen, würdigt man die Pragmatik des ganzen Abschnitts V. 20–28 im Kontext von 1Kor 15 (Auseinandersetzung um die Leugnung der Totenauferweckung): Von der Auferstehung Jesu ist um der künftigen, universalen Überwindung des Todes willen die Rede. Und von dieser universalen Todesüberwindung ist letztlich um der Gottheit Gottes willen die Rede. In der Universalität, mit der Paulus Rettung denken kann, liegt eine deutliche Differenz zur frühjüdischen Apokalyptik. Dort begegnet zwar durchaus das Motiv einer universalen Auferweckung, nicht aber der Gedanke einer universalen Rettung, die nur den Gerechten vorbehalten bleibt (vgl. M.C. de Boer, Defeat [s. Anm. 12] 83–90). Für Paulus dagegen gibt es aufgrund seiner spezifischen, kreuzestheologisch fundierten Anthropologie keine Gerechten, sondern nur von Gott selbst durch die sühnewirkende Kraft des Kreuzes Christi Gerechtfertigte. Die eschatologische Rettung ist daher nicht Lohn für ein gottbzw. torakonformes Leben (unter dieser Prämisse würde niemand gerettet), sondern unverdientes Gnadengeschenk Gottes für die Sünder (das aber sind ausnahmslos alle). So manifestiert sich Gottes souveräne Herrschaft gerade durch seine Gnade, die alle umfängt. Dies wird sehr deutlich in der Wiederaufnahme der Adam-Christus-Typologie in Röm 5,12–21, vgl. U. Wilckens, Röm I (s. Anm. 6) 327f.: „Christus als Ursprung der Gerechtigkeit aller Menschen ist also gerade nicht Repräsentant der Menschen vor Gott, wie es Adam ist – in dem Sinne, daß er repräsentiert, was sie tun und sind –, sondern Repräsentant Gottes vor den Menschen. Die Gerechten repräsentiert er als die Gerechtfertigten also nur so, daß er die Gnade repräsentiert, durch die sie, die Sünder, zu Gerechten geworden sind. […] Während Adam die Sünde repräsentiert, repräsentiert Christus nicht deren Gegenteil, die Gerechtigkeit, sondern die Gnade als die Kraft der Aufhebung der Sünde. Die Gerechtigkeit ist darum Widerfahrnis durch die Gnade, ihr Geschenk. In diesem Sinn ist Christi Gehorsam nicht sozusagen das Gegenbeispiel zum Ungehorsam Adams, wenn auch das einzige gegenüber dem Ungehorsam aller, sondern Übereinstimmung mit der Gnade Gottes und darum Tat für ‚die Vielen‘“ (kursiv im Original). Auf die Pragmatik der Aussage von der universalen Totenauferweckung hebt auch A. Lindemann, Auferstehung (s. Anm. 7) 160f. ab: „Diese im ‚universalen‘ Sinn zu verstehende Rede von der Auferstehung
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I. Anthropologie – Eschatologie – Spiritualität
So dokumentiert 1Kor 15,20–28 zugleich eindrucksvoll die grundlegend theozentrische Orientierung paulinischen Denkens, der die Christologie funktional zuund untergeordnet ist.63 Dies zu entfalten wäre freilich Thema eines eigenen Beitrags.
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der Toten entspricht unmittelbar dem Argumentationsziel des Paulus in 1.Kor 15 im ganzen. Denn der Apostel will den korinthischen Christen ja nicht die Erwartung vermitteln, daß alle Christen auferweckt werden; es geht Paulus vielmehr um die Plausibilität seiner Aussage, daß es entgegen der in V. 12 zitierten korinthischen These sehr wohl ἀνάστασις νεκρῶν geben wird, wobei hinsichtlich der Zahl der davon betroffenen Toten eine Näherbestimmung, gar eine Einschränkung, überhaupt nicht im Blick ist.“ Und weiter: „… die von Paulus in den Gedankengang eingeführte Entsprechung von Adam und Christus ist nur dann inhaltlich sinnvoll, wenn Paulus hier wirklich eine ‚universale‘ Aussage machen wollte“ (kursiv im Original). Allerdings bleibt die konkrete Erklärung doch ein wenig zu vordergründig. Offen bleibt bei Lindemann nämlich der pragmatische Grund, warum Paulus hier überhaupt schon die Adam-Christus-Typologie einführt. Und schließlich beschränkt sich m.E. das paulinische Anliegen auch nicht auf den Plausibilitätsnachweis des Faktums der Totenauferweckung, sondern es zielt viel tiefgehender auf die Frage, warum es universale Totenauferweckung geben muß. Vgl. W. Schrage, Einheit (s. Anm. 58) 176–184.
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„Löscht den Geist nicht aus, verachtet prophetische Reden nicht!“ (1Thess 5,19f) Zur Grundlegung einer christlichen Spiritualität bei Paulus*
Die Lektüre der beiden jüngst erschienenen Lexikonartikel zum Stichwort „Spiritualität“ in der 3. Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche1 und in der Theologischen Realenzyklopädie2 könnte verunsichern: Ist es überhaupt berechtigt, geschweige denn Erfolg versprechend, nach der Grundlegung einer christlichen Spiritualität bei Paulus und damit nach einer biblisch fundierten Spiritualität zu fragen? Während nämlich der Artikel im (katholischen) Lexikon für Theologie und Kirche den biblischen Bereich ganz ausklammert, wird er in der (evangelischen) Theologischen Realenzyklopädie denkbar knapp abgehandelt. Ist also in den biblischen Schriften Spiritualität kein Thema oder allenfalls ein Randthema? Träfe dies zu, so wäre es in der Tat müßig, nach der Grundlegung einer christlichen Spiritualität bei Paulus zu fragen. Doch ist, wie ich hoffe nachweisen zu können, Pessimismus fehl am Platze. Zwar ist „Spiritualität“ ein neuzeitlich geprägter Begriff,3 doch reichen seine Wurzeln unmittelbar in das Neue Testament, genauer in den paulinischen Traditionskreis zurück. Denn die Wortbildung leitet sich vom lat. Adjektiv spiritualis ab. Damit aber wird das neutestamentlich nur in diesem Traditionskreis belegte griechische πνευματικός (geisterfüllt, geistlich) übersetzt.4 Substantiviert (οἱ πνευματικοί = die Geisterfüllten, die Pneumatiker) kann es in urchristlicher Zeit dann geradezu als (Selbst-)Bezeichnung der Glaubenden dienen (Gal 6,1; vgl. 1Kor 3,1). In dieser Bezeichnung artikuliert sich also ihre Gewissheit, dass in ihnen der Geist Gottes wirkt und ihr persönliches wie gemeindliches Handeln bestimmt. Nichts anderes als eine solche Gewissheit aber meint christliche Spiritualität der Sache nach. Denn sie lässt sich zutreffend definieren als eine Existenzform, in der menschliches Leben
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Abgedruckt in: Schmidinger, Heinrich (Hg.), Geist – Erfahrung – Leben. Berichtsband der 70. Salzburger Hochschulwochen, Innsbruck 2001, 26–58. Vgl. J. Sudbrack u.a., Art. Spiritualität in: LThK3 9, 852–860. Vgl. K.-F. Wiggermann, Art. Spiritualität in: TRE 31, 708–717. Zur Begriffsgeschichte vgl. B. Fraling, Überlegungen zum Begriff der Spiritualität in: Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität AGTS (Hg.), „Lasst euch vom Geist erfüllen!“ (Eph 5,18) – Beiträge zur Theologie der Spiritualität (Theologie der Spiritualität 4), Münster, Hamburg, London 2001, 6–30, hier: 10–13. Vgl. J. Sudbrack, Art. Spiritualität I. Begriff: LThK3 9, 852; K.-F. Wiggermann, Spiritualität (s. Anm. 2) 708.
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I. Anthropologie – Eschatologie – Spiritualität
aus der Überzeugung vom Wirken des Geistes Gottes im Glaubenden wie in der Gemeinschaft der Glaubenden bewusst gestaltet wird.5 In einem ersten Schritt möchte ich zunächst der grundlegenden Frage nachgehen, wie die Christen und Christinnen der ersten Generationen überhaupt zu der Überzeugung gelangen konnten, von Gottes Geist erfüllt zu sein. Dabei sind die traditionsgeschichtlichen wie theologischen Verbindungen zu bedenken zwischen der Auferweckung Jesu von den Toten, dem Handeln des göttlichen Geistes, dem Anbruch der Endzeit sowie der prophetischen Verheißung endzeitlicher Geistausgießung über alle (Joel 3). Im Zentrum meiner Ausführungen wird dann die Frage stehen, welche Auswirkungen das Bewusstsein vom Wirken des göttlichen Geistes in jedem und jeder Glaubenden für christliches Handeln und für die gemeindliche Existenz aus paulinischer Perspektive haben sollte. Dabei gilt es zu beachten: Paulus entwirft keine systematische Theologie. Er schreibt keine theologischen Lehrbücher, sondern situativ bedingte und somit situationsabhängige Briefe, ohne dass er freilich in die theologische Beliebigkeit abgleitet. Paulus betreibt eine auf die Menschen bezogene, pastorale Theologie fernab jeder Anbiederung. Entsprechend entwickelt er auch seine Vorstellung von einer konkreten Ausgestaltung christlicher Spiritualität im Diskurs mit den verschiedenen Gemeinden, die zum Teil durchaus andere Auffassungen vertreten. Sein Konzept, das uns also in der Gebrochenheit situativer Verankerung begegnet, möchte ich anhand repräsentativer Texte versuchen nachzuzeichnen. Schließen möchte ich mit der Frage nach Impulsen, die christliche Spiritualität heute aus den Briefen des Paulus gewinnen kann.
1. Die Auferweckung Jesu Christi und der Anbruch der Endzeit als Deutehorizont für das Wirken des Geistes Wer nach dem Ausgangspunkt paulinischer Spiritualität sucht, sieht sich verwiesen auf die allgemein urchristliche Überzeugung von der Geistbegabung aller Glaubenden, die Paulus selbstverständlich teilt. Die Paulusbriefe bieten die ältesten schriftlichen Belege für diese Überzeugung. Doch gehört es zu den unumstrittenen Erkenntnissen neutestamentlicher Forschung, dass Paulus auch auf mündliche Überlieferungen zurückgreift und sie für seine Theologie fruchtbar macht. Ihre Kenntnis 5
In Anlehnung an B. Fraling, Überlegungen (s. Anm. 3) 7. Vgl. auch ebd. 17 die weniger biblisch als vielmehr systematisch-theologisch formulierte Definition: „Die christliche Spiritualität ist die geistgewirkte Weise ganzheitlich gläubiger Existenz, in der sich das Leben des Geistes Christi in uns in geschichtlich bedingter Konkretion ausprägt.“
„Löscht den Geist nicht aus, verachtet prophetische Reden nicht!“
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verdankt Paulus wohl vor allem seiner Anbindung an die antiochenische Gemeinde bis zum Beginn seiner zweiten Missionsreise. In 1Kor 11,23a und 1Kor 15,3a leitet Paulus die nachfolgend zitierte Überlieferung sogar mit einem ausdrücklichen Hinweis auf die Traditionskette ein, in der nicht nur seine Gemeinden, sondern auch er selbst stehen. Doch ist dies die Ausnahme. Üblicherweise fügt er die meist kurzen, formelhaft geprägten Aussagen der vorpaulinischen Tradition ohne eigene Kennzeichnung in seine Argumentation ein. Diese Aussagen können etwa das Sterben Jesu (für uns), seine Dahingabe durch Gott bzw. seine Selbsthingabe oder auch Gottes auferweckendes Handeln an ihm zum Inhalt haben. Zu dieser sogenannten Formeltradition6 gehören darüber hinaus auch Aussagen, die den Geistempfang bzw. Geistbesitz der Glaubenden thematisieren: „Gott hat uns den Geist gegeben“ (1Thess 4,8; 2Kor 1,22; 5,5; Röm 5,5; vgl. auch 2Tim 1,7; Apg 5,32; 15,8; 1Joh 3,24; 4,13)7 bzw. „Ihr habt den Geist empfangen“ (vgl. 1Kor 2,12; Gal 3,2.14; Röm 8,15; vgl. Joh 7,39; 14,17; 20,22; 1Joh 2,27; Apg 1,8; 2,33.38; 8,15.17.19; 10,47; 19,2).8 Im Johannesevangelium wie im lukanischen Doppelwerk wird der Geistempfang im Jüngerkreis auf Jesus selbst zurückgeführt (Joh 20,22; Apg 2,33; vgl. Lk 24,49). Zugleich wird diese erste, auf einen exakt umrissenen Personenkreis9 beschränkte Geistübermittlung als ein historisch datierbares Ereignis dargestellt (Joh: am Abend des Ostertages; Apg: am Pfingsttag). Dagegen kennen Paulus und die ihm vorgegebene Tradition ausschließlich Gott als Geber des Geistes. Adressaten sind unterschiedslos alle Glaubenden. Von einem historisch fixierbaren Ereignis der Geistsendung an eine zunächst begrenzte Personengruppe von Erstadressaten wissen sie nichts.10 Schon dieser Befund bei den ältesten Zeugen lässt Skepsis gegenüber der historischen Faktizität der wesentlich jüngeren lukanischen bzw. 6
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Vgl. W. Kramer, Christos Kyrios Gottessohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden (AThANT), Zürich 1963; K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums (StNT 7), Gütersloh 1972. Vgl. F.W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie (FRLANT 154), Göttingen 1992, 62. Vgl. F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 64. Vgl. Joh 20,19; Apg 1,13f.15. Auch Matthäus erzählt im Kontext der Osterüberlieferungen nichts von einer Übertragung des Geistes, die den Jüngern vom Auferstandenen zuteil wird. Markus bietet überhaupt keine Erscheinungserzählungen, so dass schon aus diesem Grund eine Lukas oder Johannes vergleichbare Konzeption ausscheidet. Mit F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 77–79 aber Mk 6,6b–13 als eine vorösterliche Geistvermittlung an den Zwölferkreis durch den irdischen Jesus zu beurteilen, ist m.E. problematisch. Denn hier geht es um Teilhabe am vollmächtigen Wirken des Irdischen in Wort und Tat. Die Vollmacht über die unreinen Geister, die die Zwölf nach Mk 6,7 erhalten, ist nichts anderes als die Vollmacht, Dämonen auszutreiben (6,13). Im Unterschied zur Gabe des Geistes ist diese Vollmacht funktional gebunden und steht zudem in engstem Zusammenhang mit der Botschaft Jesu vom Anbruch der Gottesherrschaft, insofern die Dämonenbannungen „Geschehensereignisse“ dieser von ihm verkündigten Gottesherrschaft sind, vgl. H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze (SBS 111), Stuttgart, 3. überarb, Aufl. 1989, 62–73.
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I. Anthropologie – Eschatologie – Spiritualität
johanneischen Darstellung aufkommen.11 Darüber hinaus sprechen auch die nicht harmonisierbaren Differenzen zwischen Johannes und dem lukanischen Doppelwerk (österliche Geistübermittlung durch den Auferstandenen hier, nachösterliche Geistübermittlung durch den Erhöhten vom Himmel her dort) gegen eine historische Grundlage der Erzählungen. Um so dringlicher stellt sich dann freilich die Frage: Worin gründet also das schon in der ältest greifbaren Überlieferung bezeugte urchristliche Bewusstsein, den Glaubenden sei (von Gott) der Geist geschenkt, sie selbst seien damit Geistbegabte bzw. Geistträger (πνευματικοί) (vgl. Gal 6,1; 1Kor 2,13; 3,1)? Die Entstehung der urchristlichen Überzeugung der Geistbegabung der Glaubenden verdankt sich einem komplexen Geflecht von Voraussetzungen. Ihnen wollen wir jetzt mit Hilfe speziell der paulinischen Texte und ihrer alttestamentlich-frühjüdischen Wurzeln wenigstens in Grundzügen nachspüren. Als Initialzündung ist hier einmal mehr die Erfahrung der Osterzeugen zu nennen, die das Fundament der gesamten christlichen Verkündigung bildet. Diese Erfahrung wird in ihren ältesten literarischen Belegen in formelhaft-knappem Bekenntnisstil zur Sprache gebracht: „Gott hat ihn/Jesus von den Toten auferweckt.“12 Dieses Bekenntnis will nun im Horizont endzeitlicher Neuschöpfung verstanden werden,13 was bedeutet: Jesus von Nazaret ist nicht in sein bisheriges, weiter vom Tod bedrohtes Leben zurückgekehrt. Gott hat ihm vielmehr eine Existenz in neuer, eschatologisch-endgültiger Qualität geschenkt. Damit bezeugt die urchristliche Verkündigung das bereits als an Jesus geschehen, was weite Teile des Frühjudentums als Gottes Handeln für die Endzeit erwarteten: die Auferweckung der Toten.14 So impliziert das Osterbekenntnis zugleich die Überzeugung: Mit der Auferweckung Jesu Christi hat die Endzeit begonnen. Angesichts dessen kann es kaum erstaunen, dass die Glaubenden dieses Geschehen dann auch in seinen Konsequenzen für die eigene Existenz bedachten. Eine erste Konsequenz war die Erwartung, ja Gewissheit, Gott werde künftig an 11
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Den Grund für die lukanische bzw. johanneische Darstellung skizziert F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 77 so: „Die Überlieferungen sind von dem Interesse geleitet, die Gabe des Geistes an Christus zu binden und auf seine Wirksamkeit zurückzuführen.“ Dahinter steht aber eine deutliche Verschiebung des Akzents von der Theozentrik, die noch die Paulusbriefe beherrscht, hin zur Christozentrik der jüngeren Traditionen, die sich vor allem in der Evangelienüberlieferung niederschlägt. Schließlich sollte m.E. auch der gattungsbedingte Aspekt nicht außer Acht gelassen werden. So verlangen die erzählenden Schriften, sofern der Geistempfang thematisiert wird, geradezu nach einer szenischen Ausgestaltung des Geschehens, das dann auch situativ (Zeit und Ort) verankert werden muss. Je nach Bedarf wird diese Aussage als Satz mit finitem Verb (Röm 10,9; 1Kor 6,14; 15,15; 1Thess 1,10; vgl. Apg 2,32; 3,15; 4,10; 13,34.37) oder als Partizipialkonstruktion (Röm 4,24; 8,11; 2Kor 4,14; Gal 1,1; vgl. Apg 13,33; 17,31; Kol 2,12; Hebr 13,20) in den Aussagekontext eingefügt, vgl. K. Wengst, Formeln (s. Anm. 6) 27–48; 92–104. Vgl. Röm 4,17: Totenauferweckung als endzeitliche Creatio ex nihilo. Tote lebendig zu machen, ist ein frühjüdisch geläufiges Gottesprädikat, vgl. C. Burchhard, Joseph und Aseneth (JSHRZ II/4) Gütersloh 1983, 694 A7b
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den Glaubenden ebenso handeln, wie er bereits an Jesus gehandelt habe. Dieser Gewissheit verleiht Paulus etwa Ausdruck, wenn er an die Gemeinde in Korinth schreibt: „Denn wir wissen, dass der, welcher Jesus, den Herrn, auferweckt hat, auch uns mit Jesus auferwecken und uns zusammen mit euch (vor sein Angesicht) stellen wird“ (2Kor 4,14).15 In diesen Zusammenhang gehört dann auch die Prädikation Christi als des Erstlings der Entschlafenen (1Kor 15,20). Der auferweckte Jesus Christus wird also zum Garanten für die Auferweckung der Glaubenden. Interessant ist nun, dass die Auferweckungsaussagen verschiedentlich um Geistaussagen erweitert werden.16 So stellt sich etwa nach Röm 8,11 Gottes Geist als Wirkursache der Auferweckung Jesu wie der (künftigen) Auferweckung der Glaubenden dar. Und nach Röm 1,3f17 ist der Geist gleichermaßen die Macht, die die Auferweckung Jesu bewirkt, wie die Sphäre, in welcher der zum Sohn Gottes Inthronisierte seine Herrscherfunktion ausübt.18 Alttestamentlich-frühjüdische Anknüpfungspunkte für diese Verbindung von Totenauferweckung und Wirken des Gottesgeistes bietet zum einen Ez 37: „So spricht Gott, der Herr, zu diesen Gebeinen: Ich selbst bringe Geist in euch, dann werdet ihr lebendig“ (V. 5; vgl. V. 6b.9b–10.14). Allerdings repräsentiert Ezechiel im Exil noch keine Vorstellung einer individuellen Totenerweckung am Ende der Tage. Vielmehr zielt die Vision von der Erweckung der Totengebeine auf eine Restitution Israels als Volk und auf eine Rückkehr in sein ihm von Gott gegebenes Land (V. 11–14). Anders dagegen die zweite Bitte des sogenannten Achtzehngebetes, die Gott lobpreist als den, „der die Toten auferweckt und den Geist wiederkehren und den Tau herunterkommen lässt“.19 Hier ist kein Bezug zum Kollektiv Israel gegeben. Vielmehr ist der Lobpreis zu verstehen im Kontext der frühjüdisch verbreiteten Erwartung einer individuell-endzeitlichen Totenauferweckung. Diese wird aber hier verbunden mit der Wiederkehr des göttlichen Geistes. Bedeutsam ist dabei, dass die drei ersten und drei letzten Bitten des Achtzehngebets noch in die Zeit vor der Tempelzerstörung des Jahres 70 n.Chr. zurückreichen. Sie dürften „bereits in den Kontroversen der Schulen Schammais u. 15 16 17
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Vgl. auch Röm 8,11; 1Kor 6,14; 15,47–49; 2Kor 13,4. Vgl. dazu F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 90f.96–106. Zur traditionsgeschichtlichen Genese und zur paulinischen Rezeption des Bekenntnisses Röm 1,3f vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer (Röm 1–5) (EKK VI/1), Zürich, Einsiedeln, Köln, NeukirchenVluyn 2. verb. Auf. 1987, 56–61.64f. Vgl. ferner 1Kor 6,14; Röm 6,4; Kol 2,12; Eph 1,19f; 1Tim 3,16; 1Petr 3,18. Zwar variiert bei diesen Belegen die Begrifflichkeit. So kann an Stelle von Geist (πνεῦμα) auch Kraft (δύναμις), Wirksamkeit/ Wirkkraft (ἐνέγεια) oder Herrlichkeit (δόξα) stehen. Jedoch sind dies „allesamt verwandte Begriffe für Gottes Geist. Die sprachliche Variabilität kann sogar als Indiz für das Alter der Vorstellung herangezogen werden“ (F.W. Horn, Angeld [s. Anm. 7] 91). Zur Übersetzungsproblematik und zur Begründung der Bevorzugung dieser Übersetzung gegenüber der Variante „der die Toten auferstehen lässt, der den Wind wehen lässt und den Tau herniederfallen“ vgl. F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 92–94.
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Hillels eine gewisse Rolle“ gespielt haben.20 Die tägliche Rezitation dieser Bitten reicht ebenfalls in diese frühe Zeit zurück.21 Das heißt: Judenchristen wurden bei der Verrichtung ihrer Gebete täglich mit dem Gedanken konfrontiert, dass mit der endzeitlichen Totenauferweckung die Wiederkehr des Gottesgeistes verbunden sei. Vor diesem Hintergrund dürften die Glaubenden schon bald als eine zweite, existentiell bedeutsame Konsequenz aus dem Ostergeschehen das Wirken des Gottesgeistes in der Gegenwart bedacht haben. Denn die Auferweckung Jesu von den Toten qualifizierte die Gegenwart als Endzeit, wenngleich entgegen den frühjüdischen Erwartungen die allgemeine Totenauferweckung und die Vollendung der im Auferweckten begonnenen Neuschöpfung noch auf sich warten ließen. Für diese Endzeit aber war durch den Propheten Joel die „Geistausgießung über alles Fleisch“ angesagt worden: (1) Danach aber wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen. (2) Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen. (3) Ich werde wunderbare Zeichen wirken am Himmel und auf der Erde: Blut und Feuer und Rauchsäulen. (4) Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und schreckliche Tag. (5) Und es wird geschehen: Wer den Namen des Herrn anruft, wird gerettet. (Joel 3,1–5)
Diese Prophetenstelle ist zwar im Vergleich zu anderen in den neutestamentlichen Schriften nicht gerade intensiv rezipiert worden.22 Doch ist der Befund der wenigen Stellen sehr aufschlussreich. Lukas zitiert die Textstelle in voller Länge bezeichnenderweise in der Pfingstpredigt des Petrus Apg 2,17–21. Zumindest in diesem traditionsgeschichtlich jungen, lukanisch gestalteten Kontext wird also eine ausdrückliche Verbindung hergestellt zwischen der Joelprophetie und der urchristlichen Erfahrung des Geistbesitzes. Doch dürfte diese Verbindung sehr weit zurückreichen. So hält Paulus in Röm 10,12f die Gleichstellung von Juden und Griechen im Glauben fest und bekräftigt dies mit einem Zitat von Joel 3: (12) Darin gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen. Alle haben denselben Herrn; aus seinem Reichtum beschenkt er alle, die ihn anrufen. (13) Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden. (Röm 10,12f)
Diese im Kontext des Joelzitats nur als endzeitlich zu qualifizierende religiöse Gleichstellung von Juden und Griechen verweist aber auf Gal 3,28. Hier nämlich 20
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H.L. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch Band 1, München 51969, 405. Vgl. L.A. Hoffmann, Art. Gebet III (Judentum) in: TRE 12, 42–47, hier: 43. Unberücksichtigt bleiben können hier die Anspielungen auf die Schilderung der Endzeitereignisse Joel 3,3f in den synoptischen Endzeitreden und in der Offenbarung der Johannes, vgl. Mk 13,24; Mt 24,29; Lk 21,25; Offb 6,12.18; 8,7.
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zitiert Paulus eine Tauftradition, die die Aufhebung fundamentaler Unterschiede zwischen Menschen durch die Taufe proklamiert: keine religiösen Unterschiede (nicht Jude noch Grieche), keine sozialen Unterschiede (nicht Sklave noch Freier), keine geschlechtlichen Unterschiede (nicht männlich und weiblich). An die Stelle dieser die Menschen trennenden Unterschiede tritt die gemeinsame, neue Identität der Glaubenden in Christus: Denn ihr alle seid einer in Christus Jesus (Gal 3,28b). Die beiden letzten Gegensätze begegnen nun auch in Joel 3: Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein (V. 1b); auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen (V. 2). Ihre Aufhebung steht hier im Zusammenhang mit dem unterschiedslos zugeteilten endzeitlichen Gottesgeist. Man dürfte also kaum fehlgehen in der Annahme, dass hinter Gal 3,28 eine Reflexion von Joel 3 steht.23 Den Namen des Herrn (Joel 3,5) – in urchristlicher Rezeption christologisch verstanden (vgl. 1Kor 1,2; Röm 10,12f u.ö.) – rufen die an, die auf Christus, d.h. auf den Namen Christi getauft worden sind (Gal 3,27). Sie sind zugleich diejenigen, denen in der Taufe die endzeitliche Geistausgießung zuteil wurde, die alle Gruppenbildungen zwischen Menschen aufhebt (Gal 3,28).24 Das urchristliche Bewusstsein, im Geistbesitz zu sein, erwächst also aus der Reflexion der Bedeutung des Ostergeschehens für die Gegenwart, und zwar im Horizont frühjüdischer Vorstellungen von endzeitlicher Totenauferweckung und Wiederkehr des Gottesgeistes. Katalytische Funktion kommt dabei der Prophetie Joel 3 zu. Sie dürfte vor allem bei der Ausbildung der hinter Gal 3,27f stehenden Tauftheologie eine wesentliche Rolle gespielt haben.
2. Der geistgemäße Lebenswandel der Glaubenden Wie konkretisiert sich nun in der paulinischen Theologie die allgemein christliche Überzeugung vom Geistbesitz der Getauften? Genauer: Wie muss sich für Paulus im Verhalten zeigen, wes Geistes Kind die Christen und Christinnen sind?25 23
24
25
So etwa u.a. auch F. Crüsemann, „… er aber soll dein Herr sein“ Genesis 3,16. Die Frau in der patriarchalischen Welt des Alten Testaments in: ders., H. Thyen, Als Mann und Frau geschaffen. Exegetische Studien zur Rolle der Frau, Gelnhausen, Berlin 1978, 17–106, hier 92–94; G. Dautzenberg, „Da ist nicht männlich und weiblich“. Zur Interpretation von Gal 3,28 in: Kairos 24 (1982), 181–206, hier: 197; H. Merklein, Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie. Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteiligung von Frauen in den paulinischen Gemeinden in: M. Evang/H. Merklein/M. Wolter (Hg.), Eschatologie und Schöpfung. Festschrift für E. Gräßer zum 70. Geburtstag (BZNW 89), Berlin, New York 1997, 231–259, hier 233. Unter dieser Prämisse sind die Geisterfüllten (Gal 6,1; 1Kor 2,13; 3,1) und die, die den Namen des Herrn anrufen (1Kor 1,2; Röm 10,12fin; Apg 2,21; 9,14,21; 22,16; 2Tim 2,22), als christliche Selbstbezeichnung der Sache nach austauschbar. Die traditionsgeschichtlichen Anknüpfungspunkte für die Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Ethik, die Paulus im Alten Testament und in den frühjüdischen Schriften vorfand, werden hier nicht
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Beginnen möchte ich mit 1Kor 3,1–4.16f. Hintergrund der Aussagen sind Streitigkeiten in der korinthischen Gemeinde um die Verkündiger des Evangeliums und die Art ihrer Verkündigung.26 Dies führte zu Gruppenbildungen in der Gemeinde, wobei sich vor allem die Apollos- und die Paulusgruppe gegenüberstanden. Paulus, der über diese Parteiungen informiert worden war (1,11f), nimmt in 1,10–4,21 in deutlicher Weise dagegen Stellung. In diesen Kontext gehört also auch Kapitel 3, dessen Rahmenverse vor allem für unsere Fragestellung interessant sind. Die V. 1– 4 sind bestimmt von der antithetischen Qualifizierung der Adressaten als Geistliche/Geisterfüllte einerseits und Fleischliche bzw. Unmündige andererseits (V. 1). V. 3f greifen den negativen Aspekt gleich mehrfach auf. Die Bezeichnung Fleischliche wird zwei Mal wiederholt. Ihr zugeordnet sind die Verhaltensweisen von Eifersucht und Streit. Zum Wortfeld der negativen Qualifizierung gehört zudem „nach Menschenart sich verhalten“ und „Menschen sein“. Zudem sind die vier Verse bestimmt durch die Gegenüberstellung von Vergangenheit, d.h. Anfangsverkündigung des Paulus in Korinth (V. 1–2a.b), und Gegenwart, d.h. Parteienstreit um die Verkündiger (V. 2c–4). Die Betonung liegt dabei eindeutig auf der negativen Qualifizierung der korinthischen Gemeindemitglieder in der Gegenwart. Dabei könnte es zunächst so scheinen, als ob Paulus den Korinthern das christliche Kriterium des Geisterfülltseins rundweg absprechen wolle. Doch geht es ihm pragmatisch wohl vielmehr darum, die Kluft zwischen dem Selbstanspruch der Gemeindemitglieder und ihrem faktischen Verhalten offen zu legen.27 Wenn sie um die Personen der Verkündiger streiten, wenn sie um den adäquaten Ausdruck des Geistes (Weisheits- oder Zungenrede) streiten, dann stimmt ihr Handeln nicht mit ihrem (zutreffenden) Anspruch, Pneumatiker zu sein, überein. Geistgemäß handeln heißt gerade menschliche Maßstäbe beiseite lassen und sich am Gottesgeist als Orientierungsmacht ausrichten.28 Es bedeutet sich abgrenzen von dem, was den Menschen als Fleisch, d.h. in seiner Existenz unter der Unheilsmacht der Sünde kennzeichnet (vgl. Röm 7),29 was ihm wichtig ist, womit er sich wichtig macht. Genau diesen Aspekt der Abgrenzung greift Paulus dann in den V. 16f durch das Tempelmotiv auf. Er spricht die Korinther auf ihr Wissen an, dass sie als Gemeinde Wohnstätte des Gottesgeistes sind. Daher kommt ihnen die Würdebezeichnung
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eigens thematisiert, vgl. dazu F.W. Horn, Wandel im Geist. Zur pneumatologischen Begründung der Ethik bei Paulus in: KuD 38 (1992), 149–170, hier: 154–162. Zum Parteienstreit in Korinth und seinem Hintergrund vgl. vor allem H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1–4 (ÖTK 7/1), Gütersloh, Würzburg 1992, 114–152. Vgl. H. Merklein 1Kor I (s. Anm. 26) 248f. Vgl. G. Haufe, Das Geistmotiv in der paulinischen Ethik in: ZNW 85 (1994), 183–191, hier: 186f. Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (UTB 630), 7. durchges. um Vorwort und Nachträge erweiterte Aufl., hrg. von O. Merk, Tübingen 1977, 239–246.
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„Gottes Tempel“ zu.30 Nach antikem Verständnis im allgemeinen und jüdischem Verständnis im besonderen31 aber ist ein Tempel ein Heiligkeitsbezirk, der vom Pro-Fanum, also von dem Bereich vor dem Heiligtum abgegrenzt ist. Anders ausgedrückt: Als Tempel Gottes haben die Korinther ihr Verhalten an den Kriterien der Heiligkeit und Reinheit auszurichten. Diese Kriterien versteht Paulus aber nicht mehr kultisch, sondern ethisch. Das heißt: Ihr Verhalten darf nicht mehr profan sein.32 Es muss sich signifikant unterscheiden von einem Verhalten „nach Menschenart“ (V. 3). Ein solches Verhalten wie von Menschen ohne die Gabe des Geistes legen aber die Korinther an den Tag, indem sie um Personen und um die Kennzeichen von Pneumatikern streiten. Wer immer dadurch die Gemeinde gefährdet, sieht sich von Paulus mit der Drohung des Gerichts konfrontiert (V. 17a). In 1Kor 6,19 greift Paulus das Tempelmotiv noch einmal auf, bezieht es jetzt aber auf die leibliche Existenz des einzelnen Gemeindemitglieds. Wird der Mensch auch und gerade in seiner Leiblichkeit gewürdigt, den Heiligen Geist gleichsam zu beherbergen, dann hat dies auch Konsequenzen für den Leib: „Der Geist verändert das Haus, in dem er einwohnt. Um im Bild zu bleiben: das Haus wird zum Tempel, also selbst zu einer geistlichen Größe. […] Von daher ist klar, daß die Glaubenden dem Profanum entzogen sind. Als vom Geist durchwalteter Tempel gehört die Gemeinde (3,16f) und gehört jeder einzelne Gott, von dem der Geist stammt. Gott allein ist verfügungsberechtigt. Der Christ gehört nicht mehr sich selbst, und das heißt, auch sein Leib gehört nicht mehr ihm selbst. Denn der Leib ist der Aspekt des Menschen, über den die Person in Kommunikation tritt und – sich abgrenzend und sich unterwerfend – ihre Identität findet.“33 Im Kontext von 1Kor 6,12–20 bedeutet dies in Konsequenz: Der Umgang mit Dirnen, den einige in Korinth wohl gerade unter Berufung auf ihr Pneumatikertum ungeniert pflegten, ist nach paulinischem Urteil unvereinbar mit der Existenz der Christen als Tempel des Heiligen Geistes. Unbelastet von einer konkreten Kontroverse mit der Gemeinde ergehen in 1 Thess 4,1–10 Weisungen für einen geistgemäßen Lebenswandel. Schon kurz nach ihrer Gründung hatte Paulus die Gemeinde wieder verlassen müssen. In Sorge um den Bestand und die Entwicklung des Glaubenslebens schickte er – selbst an einem 30
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Zu den traditionsgeschichtlichen Wurzeln der Vorstellung von der Gemeinde als Tempel Gottes und zur Erklärung der analogen Tempelmetaphorik in Qumran vgl. H. Merklein, 1Kor I (s. Anm. 26) 270–272. Zu beachten ist: Die Paulusbriefe, und also auch der 1. Korintherbrief, sind verfasst in der Zeit vor der Zerstörung des jüdischen Tempels im Jahre 70 n.Chr.! Die Qualifizierung der Gemeinde als Tempel (V. 16f) greift also das Merkmal der Geisterfüllung der Gemeindemitglieder auf (V. 1). Wenngleich nicht ausdrücklich semantisch realisiert, ist dann das Profane, das also, wovon die Korinther als Heiligkeitsbereich gerade abgegrenzt sind, die Sphäre des Fleisches. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 5,1–11,1 (ÖTK 7/2), Gütersloh, Würzburg 2000, 80.
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Besuch gehindert (2,18) – wenig später seinen Mitarbeiter Timotheus nach Thessalonich. Dieser sollte in der Gemeinde nach dem Rechten sehen (3,1–3). Die Nachrichten, die er zurückbringt, sind außerordentlich positiv (3,6). Entsprechend sind die Mahnungen in 4,1–10 nicht als Reaktion auf ein Fehlverhalten zu verstehen. Zwei Mal bestätigt Paulus ausdrücklich, dass die Gemeindemitglieder sich glaubensgemäß verhalten (V. 1b.10a). Zweck der Mahnung ist vielmehr die Bestärkung und Motivation, auf dem bereits eingeschlagenen Weg Fortschritte zu machen (V. 1c.10b). Der Abschnitt 4,1–10 weist eine wohlstrukturierte Gliederung auf. Als äußerer Rahmen dient die zweifache Mahnung, sich immer mehr in einem gottgefälligen Lebenswandel (V. 1) bzw. in der geschwisterlichen Liebe zu den Glaubensbrüdern und -schwestern (V. 10) hervorzutun.34 V. 2 bietet eine kurze Rückblende auf die Weisungen, die die Gemeinde bereits von Paulus, jedoch kraft der Autorität des Herrn Jesus erhalten hat. Mit V. 3a fällt das zentrale Stichwort Heiligung: Der Wille Gottes (also ein gottgefälliges Leben V. 1) für die Adressaten besteht in ihrer Heiligung. Der Begriff bezeichnet den „Prozeßcharakter christlichen Seins“,35 das sich noch nicht im Status vollendeter Heiligkeit, sondern auf dem Weg dorthin befindet.36 Zugleich ist erneut, wie schon in 1Kor 3,16f; 6,19, ein kultischer Vorstellungshorizont – wiederum in ethischer Ausrichtung – aufgerufen.37 Die fortschreitende Heiligung bedeutet entsprechend für die Gemeindemitglieder in Thessalonich, dass sie sich immer mehr dem Bereich des Profanen entziehen sollen. Was dies bedeutet, wird exemplarisch zunächst in den V. 3b–6 entfaltet. Dazu bemüht Paulus die traditionell-jüdische Heidenpolemik mit den Vorwürfen der Un34
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Die Wiederaufnahme des Sich-noch-mehr-Hervortuns (περισσεύειν μᾶλλον) aus V. 1 in V. 10 widerrät, einen Einschnitt bereits hinter V. 8 (so etwa T. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher [EKK XIII], Zürich, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 31998, 150. 173; R. Börschel, Die Konstruktion einer christlichen Identität. Paulus und die Gemeinde von Thessalonich in ihrer hellenistisch-römischen Umwelt [BBB 128], Berlin, Wien 2001, 255 u.a.) oder V. 9 (so F.W. Horn, Wandel [s. Anm. 25] 164f, der allerdings zu Recht einen engen Zusammenhang zwischen der Geistesgabe und der Bruderliebe postuliert) anzunehmen. Syntaktisch gehören auch die V. 11f noch zu dem mit 4,1 beginnenden Abschnitt, semantisch und pragmatisch erscheinen sie mir aber eher eine appendixartige Stellung zu haben. Denn der dominierende Aspekt der V. 1–10 (Heiligung, und zwar unter innergemeindlicher Perspektive) tritt zurück. Stattdessen dürfte die Mahnung der V. 11f durch eine akute Naherwartung begründet sein, die in den Versen zuvor keine Rolle spielt. Zudem bringt V. 12 ausdrücklich eine außergemeindliche Perspektive ein. Als Gesamtabschnitt behandeln 4,1–12 etwa F. Laub, 1. und 2. Thessalonicherbrief (NEB 13), Würzburg 1985, 25–27; O. Knoch, 1. und 2. Thessalonicherbrief (SKK 12), Stuttgart 1987, 47–50. R. Börschel, Konstruktion (s. Anm. 34) 244, die in diesem Zusammenhang auf die differenzierte Begriffsverwendung von ἁγιασμός und ἁγιωσύνη verweist: „Durch ὁ ἁγιασμός wird […] das Gewicht auf den Prozeßcharakter christlichen Seins und weniger auf einen Status des bereits Heiligseins (ἁγιωσύνη – vgl. 3,13, wo es um den Zustand der Christen zum Zeitpunkt der Parusie geht) gelegt.“ Nur unter dieser Voraussetzung ist auch die zweifache Mahnung, sich immer mehr hervorzutun in einem gottgefälligen Leben (V. 1) bzw. in der Liebe zu den Glaubensbrüdern und -schwestern sinnvoll. Im Unterschied zum 1. Korintherbrief wird dabei im 1. Thessalonicherbrief das Tempelmotiv nicht explizit bemüht.
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zucht und der Habgier.38 V. 3b–5 rufen dazu auf, die Unzucht zu meiden und stattdessen seinen Leib „in Heiligung und Wertschätzung/Selbstachtung zu besitzen“. „Unzucht“ (πορνεία) bezeichnet hier jede Form illegitimen Sexuallebens.39 Was Paulus darunter von seiner jüdischen Herkunft her versteht, entfaltet er in aller Deutlichkeit in Röm 1,24–32. Unzucht, so will Paulus in 1Thess 4,4f betonen, kommt einer Entwürdigung des eigenen Leibes gleich.40 Sie ist unvereinbar mit dem von Gott geschenkten Status der Glaubenden als Geistbegabten (V. 8), der zu ständiger Heiligung verpflichtet. Die sachlichen Berührungen zu 1Kor 6,19 sind evident. Ebenso unvereinbar mit diesem Status ist die Habgier. V. 6 entfaltet diesen Aspekt unter dem Vorzeichen von Übervorteilung und Betrug in Geschäftsangelegenheiten. Solch profane Verhaltensweisen wie Unzucht und Habgier unterstehen auch und gerade in der Gemeinde der Richterfunktion Gottes. V. 7 greift V. 3a auf und bildet damit einen inneren Rahmen um die zentralen Warnungen vor falschem Verhalten. Erneut dominiert kultische Terminologie, gegenüber V. 3a verstärkt durch die Gegenüberstellung von „Unreinheit“ und „Heiligung“. V. 8 stößt dann zur Grundlage vor, auf der die paulinische Argumentation beruht: Es ist Gott, der 38
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Vgl. T. Holtz, 1Thess (s. Anm. 34) 168f; F. Laub, 1Thess (s. Anm. 34) 26; R. Börschel, Konstruktion (s. Anm. 34) 247 mit Anm. 266; E. Reinmuth, Geist und Gesetz. Studien zu Voraussetzungen und Inhalt der paulinischen Paränese (ThA 44), Berlin 1985, 12–47. Vgl. W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur. 6., völlig neu bearbeitete Auflage, herausgegeben von Kurt und Barbara Aland, Berlin, New York 1988, 1389. Statt von σῶμα (Leib) spricht Paulus in 1Thess 4,4 von σκεῦος (Gefäß). Er wählt also einen metaphorischen Begriff. Dies hat zu manchem Rätselraten über die sachgerechte Interpretation dieser Stelle geführt (vgl. die Überblicke bei R. Börschel, Konstruktion [s. Anm. 34] 244–246 und T. Holtz, 1Thess [s. Anm. 34] 156–158). Sehr oft wird σκεῦος als Metapher für „Ehefrau“ verstanden, so dass V. 4 also die christlichen Adressaten zu einem Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau mahne, der in achtungsvoller, nicht in für die Frau entwürdigender Weise vollzogen werde und auf diese Weise dem Gebot der Heiligung entspreche (So etwa F. Laub, 1Thess [s. Anm. 34] 26; T. Holtz, 1Thess [s. Anm. 34] 157f; R. Börschel, Konstruktion [s. Anm. 34] 245f). Problematisch bei dieser Interpretation ist aber zunächst, dass unter dieser Voraussetzung nur die Männer Adressaten der Mahnung sein könnten (so auch T. Holtz, 1Thess [s. Anm. 34]170f). Dies aber widerspricht dem Duktus des Abschnitts, der sich wie der Brief als ganzer an die Gesamtgemeinde wendet (vgl. 1,1 mit 4,1: ἀδελ?οί verwendet Paulus hier wie durchweg in seinen Briefen inklusiv für Brüder und Schwestern). Ferner wird – interpretiert man V. 4 auf die eheliche Beziehung – die enge syntaktisch-semantische Beziehung zwischen V. 3b und 4 missachtet. Die allgemein gehaltene Warnung vor Unzucht soll doch wohl in V. 4 inhaltlich entfaltet werden. Fällt aber die konkrete Gestaltung der sexuellen Beziehung zwischen Eheleuten, mag sie auch noch so tadelnswert sein, unter das Verdikt der Unzucht, d.h. des illegitimen Sexualverkehrs? Schließlich sollte 1Thess 4,3f auch nicht durch die „Brille“ von 1Kor 7,2–5 und 1Petr 3,7 interpretiert (so etwa C. Maurer, Art. σκεῦος in: ThWNT VII, 359–368, hier: 365–368), sondern im vorgegebenen Zusammenhang erklärt werden. Dann aber legt sich m.E. die Interpretation von σκεῦος als Leib näher, zumal Paulus den Begriff auch an anderen Stellen in diesem Verständnis verwendet (Röm 9,22f; 2Kor 4,7) (vgl. W. Marxsen, Der erste Brief an die Thessalonicher [ZBK 11,1], Zürich 1979, 60; C. vom Brocke, Thessaloniki – Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus. Eine frühe christliche Gemeinde in ihrer heidnischen Umwelt [WUNT II/125], Tübingen 2001, 130f; offen lässt die Entscheidung O. Knoch, Thess [s. Anm. 34] 48).
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geradezu dadurch „definiert“ ist, dass er den Gemeindemitgliedern seinen Heiligen Geist schenkt. Dadurch konstituiert er die christliche Gemeinde als Gemeinde von Geistbegabten und ermöglicht ihr ein Leben der Berufung entsprechend in Heiligung.41 V. 9 schließlich bildet das positive Pendant zu den in den V. 3b–6 ausgesprochenen Warnungen vor Unzucht und Habgier: Es ist die Bruderliebe, d.h. die Liebe der Gemeindemitglieder untereinander. In ihr spiegelt sich positiv der Prozess der Heiligung wider. Ziel dieser Heiligung ist freilich nicht eine Ghettoisierung der Gemeinde; Ziel ist vielmehr, dass der Bereich der Reinheit und Heiligkeit sich immer weiter in die Welt hinein ausbreitet.42 Die Bereiche, anhand derer der Prozess der Heiligung in den V. 3b–6 entfaltet wird, sind dabei zwar exemplarisch, aber nicht zufällig ausgewählt. „In ihnen stellt sich beispielhaft das ganze Feld menschlichen Handelns dar, in ihnen fällt die Entscheidung für oder gegen Gottes Willen. Und in der Tat entscheidet sich das menschliche Miteinander in elementarer Weise in diesen beiden Bereichen, dem der Sexualität und dem des Besitzes.“43 Der letzte Text, den wir unter dem Aspekt eines geistgemäßen Lebenswandels der Glaubenden wenigstens kursorisch in den Blick nehmen wollen, ist Gal 5,13– 6,10. Veranlasst ist der Brief durch die Agitation streng judenchristlicher Wandermissionare in den galatischen Gemeinden. Sie drängten die dort lebenden Heidenchristen dazu, sich beschneiden zu lassen und sich den Torageboten, konkret den kultisch-rituellen Bestimmungen wie Speise-, Heirats- und Reinheitsgeboten zu unterstellen. Für Paulus wird dadurch das Evangelium selbst in Frage gestellt. Denn ein Vertrauen auf die Heilswirksamkeit der Tora ist für ihn gleichbedeutend mit einer Ablehnung der Heilswirksamkeit des Kreuzes Christi (Gal 2,21). Entsprechend scharf reagiert er auf die Entwicklung, die sich in den galatischen Gemeinden abzeichnet. In 3,1–5 argumentiert er dabei mit den Erfahrungen der Galater: Sie haben den Geist erhalten, weil sie das Evangelium vom Gekreuzigten glaubend angenommen haben, nicht weil sie die Tora befolgt haben (V. 1f). Entsprechend gibt Gott auch den Geist in der Gegenwart und bewirkt Machttaten unter den Glaubenden nicht aufgrund von Gesetzesbefolgung, sondern aufgrund des Glaubens (V. 5). Jetzt der Agitation der Judaisten nachzugeben bedeutet, das anfängliche 41 42
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Vgl. T. Holtz, 1Thess (s. Anm. 34) 167; R. Börschel, Konstruktion (s. Anm. 34) 255. Dies dürfte letztlich der Grund sein, warum Paulus so rastlos Mission betreibt (vgl. Röm 15,19b–24) und diese Missionsaufgabe auch auf die Gemeinden überträgt (vgl. etwa 1Thess 1,8). In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass Paulus zwar von den Gemeinden und ihren Mitgliedern ein ihrem Status als Berufenen (von 1Kor 3,16f; 6,19 her könnte man auch sagen: ihrem Status als Tempel und als Wohnstätte des Gottesgeistes) angemessenes Verhalten erwartet, nicht jedoch, dass sie jeden Kontakt mit Außenstehenden meiden (1Kor 5,9–12). Gerade diese Kontakte aber können und sollen missionarische Kraft entfalten. So dienen sie dazu, den Heiligkeitsbereich, den die Gemeinde bildet, auszudehnen. Explizit geht es in 1Kor 5,9–12 darum, die Heiligkeit der Gemeinde zu bewahren (vgl. H. Merklein, 1Kor II [s. Anm. 33] 46f), implizit aber schwingt mit, den Heiligkeitsbezirk der Gemeinde auszudehnen. Vgl. T. Holtz, 1Thess (s. Anm. 34)169.
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Vertrauen auf den Geist aufzugeben und vom Fleisch die Vollendung des Heils zu erwarten (V. 3). In Gal 5,13–6,10 thematisiert Paulus dann die ethische Gestaltung des Lebens ohne Toraobservanz. Möglicherweise hatte das Wirken der paulinischen Gegenspieler zu Zweifeln unter den galatischen Christen geführt, ob eine ethisch verantwortbare Lebensführung ohne Verpflichtung auf die Tora überhaupt möglich sei.44 Die paulinische Argumentation gegen diese Befürchtung ist geprägt durch den Gegensatz Geist – Fleisch (5,15f.19–23.24f; 6,8; vgl. 3,3), der uns auch schon in 1Kor 3,1–3 begegnete.45 Dagegen fehlt hier – im Vergleich zu 1Kor 3,16f; 6,19 und 1Thess 4,1–10 – das kultisch geprägte Wortfeld von Heiligung/Heiligkeit und Reinheit und die damit eng verbundene Tempelmetaphorik (1Kor 3.6), die dem Bereich des Geistes zugeordnet sind. Dieses Wortfeld dient in den zuvor betrachteten Texten dazu, deutlich zu machen, dass die Gemeinde als Gemeinschaft von Geistbegabten sich in ihrem Handeln vom Profanen, Unheiligen und Unreinen abzugrenzen hat. Eben dieses Profane wird in Gal 5f unter dem Vorzeichen des Fleisches erfasst und beschrieben. Grundlage der paulinischen Argumentation ist auch hier einmal mehr die Überzeugung, ja Gewissheit: Leben aus dem Glauben an Jesus Christus (5,24a) ist Leben aus dem Geist, das dann auch einen entsprechend geistgemäßen Lebenswandel fordert (5,25). Ein Leben ohne Toraobservanz ist daher zwar ein Leben gemäß der Berufung zur Freiheit (5,13), es ist jedoch kein Leben in ethischer Beliebigkeit. Ein solches Leben wäre für Paulus ein Leben nach Maßgabe des Fleisches, wie er es exemplarisch im Lasterkatalog 5,19–21a entfaltet.46 Leben gemäß der Berufung zur Freiheit ist vielmehr ein Leben in Bindung an den Geist. Dieser entlässt dann aus sich als Frucht die Liebe und ihre Konkretionen, die Paulus exemplarisch im Tugendkatalog 5,22–23a aufzählt (vgl. 6,1f.6.9f). Obwohl die Führung menschlichen Seins und Handelns durch den Geist also Freiheit vom Gesetz bedeutet (5,18), eröffnet gerade diese geistgewirkte Freiheit ein toragemäßes und das heißt dem Willen Gottes entsprechendes Leben (5,23b). Es ist ein Leben, das sich am Liebes44
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Vgl. F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 358f: „Im Hintergrund der Ausführungen steht […] einerseits die Frage, woran sich das Verhalten orientiert, wenn das ὑπὸ νόμον =έλοντες εἶναι (4,21) keine christliche Möglichkeit mehr darstellt, sowie andererseits der judenchristliche Vorwurf, die Berufung auf die Freiheit stelle eine ‚Operationsbasis‘ für die σάρξ dar (5,13).“ Es trifft also nicht zu, dass diese Antithese erst im Galaterbrief unvermittelt auftritt, während sie in den vorausgehenden Briefen fehle (so G. Haufe, Geistmotiv [s. Anm. 28] 187). Allerdings könnte es durchaus sein, dass Paulus durch die Auseinandersetzung mit den Judaisten veranlasst wurde, mit dieser Antithese intensiver zu argumentieren. Vgl. hierzu M. Gielen, Art. Lasterkataloge in: LThK3 6, 658f. Bei den in den Katalogen aufgezählten Lastern handelt es sich um typische Verhaltensweisen, die aus jüdisch-christlicher Perspektive vor allem den Heiden vorgeworfen werden. Aus einer solch stereotypen Aufzählung kann also nicht unmittelbar auf konkret auftretende Fehlhaltungen geschlossen werden.
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gebot orientiert, in dem das ganze Gesetz erfüllt ist (5,14). Diese Gesetzeserfüllung durch konkrete Taten, die aus der Liebe zum Nächsten erwachsen, ist aber Paulus zufolge keine Leistung des Menschen, sondern Frucht des Geistes (5,22). Anders ausgedrückt: Sie ist ermöglicht durch Gottes Geist selbst, fordert freilich auch den menschlichen Einsatz als Antwort auf die Gabe des Geistes (5,25). Beachtung verdient schließlich, dass Paulus ein solches Verhalten der Nächstenliebe zwar zunächst im Raum der Gemeinde verwirklicht wissen will. Doch er schränkt es nicht auf diesen Raum ein (6,10). Über die christliche Gemeinde soll die Gabe des endzeitlichen Gottesgeistes also auch in den Bereich des Fleisches hineinwirken und ihn erfassen. Fazit: Die Forderung nach einem geistgemäßen Lebenswandel der Glaubenden, den Paulus wiederholt in seinen Briefen erhebt, geht nicht einher mit einer kasuistischen Regelung, was im Einzelfall als geistgemäß zu gelten hat. Ein geistgemäßer Lebenswandel im paulinischem Verständnis meint vielmehr eine grundsätzliche Orientierung des Handelns, die je nach Situation nach entsprechender Konkretion verlangt.47 Diese grundsätzliche Ausrichtung des Handelns gründet in dem Bewusstsein, durch die gläubige Annahme des Evangeliums in die Gemeinschaft der mit dem Geist Gottes Beschenkten aufgenommen worden zu sein. Diese Gemeinschaft beherbergt also den Heiligen Geist, sie ist sein Tempel. Als Tempel des Gottesgeistes gehört sie zur Sphäre des Geistes; sie ist ein heiliger Bezirk, der sich vom Profanen, Unheiligen abgrenzt. Ziel ist ihre fortschreitende Heiligung, durch die auch das Profane bzw. die Sphäre des Fleisches immer mehr erfaßt und verwandelt werden soll. Grundlegender Maßstab geistgemäßen Handelns ist nach Paulus die Liebe zum Nächsten innerhalb, aber auch außerhalb der Gemeinde. Gleichwohl beschränkt sich bei Paulus die Verbindung von Geist und Ethik nicht auf das Liebesgebot.48 Vielmehr konkretisiert er geistgemäßes Handeln an Beispielen aus ganz unterschiedlichen Bereichen wie der Sexualethik (1Kor 6; 1Thess 4), der Handhabung von Geschäften (1Thess 4), des Streits um die Verkündiger in Korinth (1Kor 3) oder aber er entfaltet das Liebesgebot mit Hilfe eines Tugendkatalogs (Gal 5). Doch darin erschöpft sich geistgemäßes Handeln nicht, sondern Paulus zeigt daran exemplarisch auf, was es heißt, sich vom Geist leiten zu lassen (Gal 5,25). So kreiert er eine Spiritualität der Kreativität, die in den vielfältigen Handlungsbezügen des Alltags auf die Führung des einzelnen und der Gemeinde durch den Geist vertraut.
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Vgl. G. Haufe, Geistmotiv (s. Anm. 28) 189. Gegen F.W. Horn, Wandel (s. Anm. 25) 166.
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3. Das Wirken des Geistes im Leben der Gemeinde Stand bisher das geistgemäße Handeln im alltäglichen Zusammenleben im Zentrum, soll jetzt die Aufmerksamkeit auf das Geistwirken in den gemeindlichen Lebensvollzügen gerichtet werden. Die ergiebigsten Informationen dazu finden sich in 1Kor 12–14.49 Wir verdanken sie der ausführlichen Stellungnahme des Paulus zu den in der korinthischen Gemeinde ausgebrochenen Streitigkeiten. Konkret handelt es sich bei diesen drei Kapiteln wohl um die Antwort des Paulus auf eine korinthische Anfrage über die Geistesäußerungen (περὶ δὲ τῶν πνευματικῶν 12,1).50 Im Kontext von 1Kor 3 sind wir bereits kurz auf die korinthischen Streitigkeiten gestoßen. Dort begegnen sie in Gestalt konkurrierender Gruppen, die sich auf bestimmte Verkündiger berufen. Nach 1Kor 3,4–6 stehen dabei die Apollos- und die Paulusgruppe im Zentrum der Auseinandersetzungen. Doch steht letztlich hinter diesem um Personen ausgetragenen Konflikt ein Sachkonflikt, und zwar um die Frage, wie sich der Geistbesitz adäquat äußert: in der intellektuell orientierten Weisheitsrede oder in der emotional-psychodynamisch ausgerichteten Zungenrede (Glossolalie)? Die Weisheitsrede dürfte einseitig von den Anhängern des Apollos favorisiert worden sein. Apollos, der aus Alexandria stammte (vgl. Apg 18,24), hatte die Korinther wohl mit einer eigenen Weisheitschristologie vertraut gemacht. Sie beruhte auf einer frühjüdischen Weisheitsspekulation alexandrinisch-philonischer Prägung und verlangte nach entsprechendem Ausdruck in wohlgesetzter Weisheitsrede. Mit diesem Konzept stieß Apollos auf das Gefallen vor allem der gebildeteren Gemeindemitglieder, die gerade in der Weisheitsrede nun die Äußerung die Geistes sahen. Die weniger gebildeten Glaubensbrüder und -schwestern, die intellektuell mit der Weisheitsrede überfordert waren und die Zungenrede als die entscheidende Äußerung des Geistes favorisierten, beriefen sich dafür auf Paulus. Dieser sagt von sich selbst in 14,18: „Ich danke Gott, dass ich mehr als ihr alle 49
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Die nachfolgenden Ausführungen zur paulinischen Argumentation in diesen Kapiteln verdanken viele Anregungen dem noch unveröffentlichten Teilmanuskript von Helmut Merklein zum 3. Band des Kommentars „Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (ÖTK 7/3). [Dieser dritte und letzte Teilband des Kommentars zum 1. Korintherbrief ist inzwischen veröffentlicht: H. Merklein, M. Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (ÖTK 7/3), Würzburg 2005. Die noch zur Gänze von H. Merklein besorgte Kommentierung der Kapitel 12–14 findet sich auf den Seiten 106–236.] Der Gen. Pl. τῶν πνευματικῶν kann gleichermaßen ein Gen. Pl. mask. sein (was aber die Geistbegabten/Pneumatiker betrifft) oder ein Gen. Pl. neutr. (was aber die Geistesäußerungen betrifft). Da im Folgenden aber das Problem sach- und nicht personenbezogen behandelt wird, ist der neutrischen Interpretation der Vorzug einzuräumen, vgl. A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/1), Tübingen 2000, 263; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther 3. Teilband 1Kor 11,17–14,40 (EKK VII/3), Zürich, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 1999, 117f. Den Gen. Pl. mask. bevorzugen etwa F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 183–185; C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 1996, 281f.
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in Zungen rede.“ Vermutlich hatte er also diese Gabe, die ihm überreich zur Verfügung stand, auch schon während seines Gründungsaufenthaltes in Korinth immer wieder ausgeübt. So konnte er den Anhängern der Glossolalie Vorbild und Maßstab werden.51 Die nach seiner Überzeugung falsche Verabsolutierung der Weisheitsrede weist Paulus gleich zu Beginn des Briefes zurück, und zwar im Zusammenhang mit seiner Intervention gegen die gemeindlichen Gruppenbildungen (1Kor 1–4). Dem fehlgeleiteten Weisheitsstreben von Gemeindemitgliedern hält er die paradoxe göttliche Weisheit entgegen, die sich gerade in der Torheit des Kreuzes zu erkennen gibt (vgl. besonders 1,18–25). Doch ungeachtet dessen, dass er selbst ein gottbegnadeter Glossolale ist, stellt Paulus sich nun nicht auf die Seite derer, die sich in ihrer einseitigen Hochschätzung der Zungenrede auf ihn berufen. In 1Kor 12–14 setzt er sich vor allem mit ihrer Position auseinander und legt seine Sicht vom Wirken des Gottesgeistes im Leben und für das Leben der Gemeinde dar. Bemerkenswert ist zunächst, dass Paulus den in der korinthischen Anfrage vorgegebenen Begriff der Geistesäußerungen (πνευματικά) (12,1) in 12,4 durch den Begriff der Gnadengaben (χαρίσματα) erklärt. Mit dem allen Glaubenden gemeinsamen Geistbesitz – darauf spielt Paulus in 12,3 (vgl. 12,13b) an – ist also nicht eine einzige, gleichsam einforderbare Geistesäußerung verbunden. Vielmehr zeigt die exemplarische Aufzählung in 12,8–10 (vgl. Röm 12,6–8), dass es eine Pluralität von Geistesäußerungen gibt. Nicht zufällig dürfte die Charismenliste in 12,8–10 durch die Weisheitsrede (V. 8) und die verschiedenen Arten der Zungenrede (V. 10) gerahmt sein. In der zweiten Charismenliste 12,28f fehlt die Weisheitsrede, die Zungenrede wird jeweils wieder am Ende der beiden Aufzählungsreihen genannt. Durch die Rahmung in V. 8–10 deutet Paulus an, dass die Kontroverse in der Konkurrenz zwischen Weisheits- und Zungenrede gründet. In der Zusammenschau der beiden Charismenliste V. 8–10.28f wird jedoch deutlich, dass die Pragmatik in Kapitel 12 auf der Zurückweisung einer einseitigen Bevorzugung der Glossolalie liegt. Mit der zweimaligen Ergänzung der Gabe der Zungenrede durch die Gabe ihrer Auslegung (V. 8.29) bereitet Paulus schon die Relativierung des Stellenwerts der Zungenrede im Gottesdienst vor, die er dann in Kapitel 14 einfordert (vgl. 14,5.13.26–28).
Die Entscheidung nun darüber, wem angesichts der Pluralität von Charismen welche Geistesäußerung zuteil wird, obliegt dem Gottesgeist selbst (12,11). Die jeweils individuell verschiedene Zuteilung besitzt daher für die einzelnen Gemeindemitglieder einen gnadenhaften Charakter. Niemand ist von dieser Zuteilung ausgeschlossen. Doch ist ihr Ziel weder die Selbsterbauung noch eine Erhöhung des Ansehens, sondern es gilt: „Jedem wird die Kundgabe des Geistes zum Nutzen ge51
Zum Hintergund der korinthischen Gruppenstreitigkeiten vgl. ausführlich H. Merklein, 1Kor I (s. Anm. 26) 134–152.
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geben“ (12,7). Dass Paulus damit auf den Nutzen der Gemeinde abhebt, zeigt nicht erst Kapitel 14, in dem der Aufbau der Gemeinde im Mittelpunkt steht: „Da ihr Eiferer nach Geistesäußerungen seid, sucht, dass ihr zur Erbauung der Gemeinde daran Überfluss habt“ (14,12b; vgl. V. 4b.5c.17.26c.31b). Diese pragmatische Zielsetzung steht auch schon hinter dem Gleichnis vom Leib (12,14–26), anhand dessen Paulus der Gemeinde ihre Existenz als Leib Christi eindringlich verdeutlicht (12,12f.27). Es sind vor allem zwei Aspekte dieses Leib-Seins, die das Organismusgleichnis den korinthischen Christen und Christinnen veranschaulichen soll: 1. Die Pluralität der Charismen ist eine notwendige Voraussetzung für den Bestand der Gemeinde. Ebenso wie ein Leib nicht nur aus einem einzigen Organ besteht, sondern seine Existenz dem Zusammenspiel verschiedener Organe verdankt, so kann auch eine Gemeinde nicht kraft einer einzigen Geistesäußerung existieren (12,14–20). 2. Charismen sind nicht immer außergewöhnliche Begabungen, sondern oft auch ganz unspektakuläre Fähigkeiten, die deswegen für die Existenz der Gemeinde aber nicht weniger wichtig sind. Auch dies lässt sich am Leib unschwer nachvollziehen. Denn auch hier gibt es Organe, die unscheinbar oder wenig angesehen, gleichwohl aber unentbehrlich sind (12,21–26). Mit Kapitel 12 hat Paulus also einer einseitigen Favorisierung einer bestimmten Geistesäußerung im allgemeinen und der Zungenrede im besonderen bereits deutliche Riegel vorgeschoben. Sie verstärkt er noch durch das sogenannte Hohe Lied der Liebe in Kapitel 13, das er in 12,31b einleitet mit den Worten: „Und ich zeige euch darüber hinaus noch einen ganz ausgezeichneten Weg.“52 Dieser Weg will 12,31a zufolge dem Streben der korinthischen Gemeinde nach Charismen das optimale Erreichen des Ziels weisen. Es ist der Weg von Glaube, Hoffnung und Liebe, unter denen nach Paulus die Liebe herausragt (13,13). „Wo Glaube, Hoffnung und Liebe die Existentiale christlichen Lebens sind, wird jeder Streit um die vorrangige Angemessenheit einer bestimmten Geistesäußerung verstummen. […] Glaube, Hoffnung und Liebe geben die bleibende, d.h. jetzt gültige Dimension christlicher Existenz an, in der die Charismen zu realisieren sind. Daß die Liebe ‚die größte von ihnen‘ ist […], liegt nicht nur daran, daß sie im Gegensatz zu den Charismen ‚niemals dahinfällt‘ (V. 8) […]. Die Liebe ist vor allem deswegen ‚die größte‘, weil sie die Praxis bezeichnet, in der Glaube und Hoffnung sich verwirklichen. Das gilt für die Gegenwart, die im Gegensatz zum Schauen von Glaube und Hoffnung gezeichnet ist. Das gilt auch für die eschatologische Zukunft, in der Glaube und Hoffnung im Schauen aufgehoben sind. Dieses Schauen ist aber kein
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Zur Begründung der Übersetzung vgl. O. Wischmeyer, Der höchste Weg. Das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes (StNT 13), Gütersloh 1981, 34, die allerdings statt des Elativs (einen ganz ausgezeichneten Weg) die superlativische Variante (den ausgezeichnetsten Weg) wählt.
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theoretischer (!) Akt, sondern Praxis der Liebe. Insofern fällt die Liebe im wahrsten und eigentlichen Sinn des Wortes niemals dahin, nicht nur, weil in ihr alles aufgehoben ist und bleibt, was in den Charismen fragmentarisch und vorläufig zum Vorschein kommt, sondern auch, weil in ihr fortdauert, was aufgrund von Glaube und Hoffnung jetzt schon praktiziert wird. Deshalb ist die Liebe der ausgezeichnete Weg, der den Charismen das Ziel weist. Daher ist es angesagt, der Liebe nachzujagen, wenn es darum geht, nach den höchsten Charismen zu streben (12,31).“53 Im Rahmen des vorgezeichneten Weges von Glaube, Hoffnung und Liebe (Kap. 13) und unter Beachtung ihres Geschenkcharakters und ihrer Pluralität (Kap. 12) ist also ein Streben nach Charismen für Paulus durchaus legitim und wünschenswert (14,1; vgl. 12,31). Nachdem er so die Voraussetzungen für ein sachgerechtes Verständnis geschaffen hat, kann er jetzt in Kapitel 14 den Vorrang der Prophetie vor der Zungenrede entfalten, ohne eine erneute Verabsolutierung fürchten zu müssen. Warum verdient aber die Prophetie nach paulinischer Überzeugung diesen Vorrang vor der Glossolalie? Gewiss nicht, weil Paulus ekstatische Phänomene zurückdrängen wollte. Denn zum einen ist die Glossolalie nicht zwangsläufig mit einer Ekstase verbunden.54 Zum anderen aber ist ein ekstatischer oder tranceähnlicher Zustand bei der Prophetie nicht in jedem Fall auszuschließen.55 Die entscheidende Differenz liegt für Paulus vielmehr darin: Die Prophetie erfolgt in für alle verständlicher Sprache. Zungenrede dagegen darf zwar nicht gleichgesetzt werden mit zusammenhanglosem Gestammel, wenngleich sie diesen Eindruck hervorrufen mag. Doch bedient sie sich einer Sprache, deren Bedeutung verborgen bleibt, weil ihr Sprachcode nicht allgemein zugänglich ist. Nun geht aus Kapitel 12 unmissverständlich hervor, dass Paulus die Charismen in einen Bezug zur Gemeinde und deren Nutzen setzt. An diesem Maßstab gemessen, muss aber die Glossolalie hinter der Prophetie zurücktreten. Die Prophetie nämlich kommt unmittelbar der Gemeindeerbauung zugute (14,4b.6). Als Rede zur Erbauung, Mahnung und Tröstung (14,3) greift sie gegenwartsbezogen56 Anliegen, Fragen und Probleme der Gemeinde auf. Beispiele solch prophetischer Rede bietet auch Paulus selbst in seinen Briefen. Genannt sei hier nur ihre tröstende Funktion im Zusammenhang der Beunruhigung der thessalonikischen Gemeinde über die mögliche Benachteiligung verstor53
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H. Merklein zu 1Kor 13,13 in seinem noch unveröffentlichten Manuskript zum 3. Band seines Korintherbriefkommentars (s. Anm. 49). [Das Zitat findet sich in dem jetzt vorliegenden Teilband (s. Ergänzung zu Anmerkung 49) auf den Seiten 162f] Vgl. H.-J. Klauck, Mit Engelszungen? Vom Charisma der verständlichen Rede in 1Kor 14 in: ZThK 97 (2000), 276–299, hier 282–283. Vgl. G. Dautzenberg, Prophetie bei Paulus in: E. Dassmann, W. H. Schmidt u.a. (Hgg.), Prophetie und Charisma. (JBTh 14), Neukirchen-Vluyn 1999, 55–70, hier: 59. Diesen Gegenwartsbezug hebt etwa F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 130 besonders hervor.
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bener Gemeindemitglieder gegenüber lebenden bei der Parusie Christi (vgl. 1Thess 4,15b im Kontext von 4,13–18).57 Prophetische Rede ist also menschenbezogen (1Kor 14,3), während die Glossolalie unmittelbar auf Gott bezogen ist (14,2). Nicht zufällig setzt Paulus sie in 14,14–17 dann auch in einen Bezug zu verschiedenen Formen des Gebets.58 Im Unterschied zur gemeindeerbauenden Prophetie dient die Glossolalie der Selbsterbauung (14,4a). Als der individuellen Gottesbeziehung zugeordnet, gehört sie für Paulus deshalb in den privaten Bereich.59 Hiervon macht er nur eine Ausnahme, wenn im Gottesdienst die Möglichkeit zur Auslegung gegeben ist; dann nämlich ist auch ein Nutzen für andere gewährleistet (14,13–19.26–28). Ein solch gemeindebezogener Nutzen ist aber bei prophetischen Beiträgen im Gottesdienst unmittelbar gegeben. In 1Kor 14 verwendet Paulus für diese Beiträge die Bezeichnungen „Prophetie“ (14,6) und „Offenbarung“ (14,6.26). „Vermutlich bezeichnet die erstere die prophetische Rede im engeren Sinn (vgl. προ:ητεύειν für das Sprechen der Propheten 11,4f; 14,1.3–5.24.31.39), während die letztere bei der Offenbarungserfahrung und dem Offenbarungsinhalt ansetzt (vgl. ἀποκαλύπτεσ=αι 14,30). Aus dem Gefälle der Aussagen in 14,26.29–33 scheint hervorzugehen, daß prophetische Rede durchweg aufgrund von ‚Offenbarung‘ erfolgt.“60 Noch eine weitere Unterscheidung dürfte Paulus wohl in 14,29f voraussetzen, und zwar zwischen vorbereiteter Prophetie und spontanem Offenbarungsempfang während des Gottesdienstes.61 Zur Vorbereitung prophetischen Sprechens im Gottesdienst gehört das Nachsinnen über die erhaltene Offenbarung ebenso wie ihre interpretierende Versprachlichung im Blick auf die konkreten Gemeindebelange. Aber schon der Offenbarungsempfang bedarf der Vorbereitung, und zwar vor allem durch ein Sich-Vertrautmachen mit den Traditionen der Glaubensgemeinschaft und durch das Gebet.62 Genau dies ist der Hintergrund, auf dem Paulus sinnvollerweise das Streben nach Prophetie einfordern kann (14,1c). Ja, Paulus geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er grundsätzlich allen Gemeindemitgliedern die Fähigkeit zum prophetischen Reden zuspricht (14,31).63 Wenngleich 57
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Weitere Beispiele finden sich etwa in 1Kor 15,51b–52a, 1Kor 2,6–8 oder in Röm 11,25b–26a, vgl. dazu H. Merklein, Der Theologe als Prophet. Zur Funktion prophetischen Redens im theologischen Diskurs des Paulus in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT 105), Tübingen 1998, 377–404. Vgl. G. Dautzenberg, Prophetie (s. Anm. 55) 62; H.-J. Klauck, Engelszungen (s. Anm. 54) 282. Vgl. H.-J. Klauck, Engelszungen (s. Anm. 54) 295. Vgl. G. Dautzenberg, Prophetie (s. Anm. 55) 59. Vgl. G. Dautzenberg ebd.: „Zwar ist nach 14,30 ein akutes Offenbarungsgeschehen während der Versammlung nicht außergewöhnlich, aber wenn zwei oder drei Propheten nacheinander reden (14,29), ist es schon dann, wenn man sich den Verlauf einer Versammlung vorzustellen sucht, wahrscheinlich, daß nicht nur in der Stunde der Versammlung erfahrene Offenbarungen mitgeteilt werden.“ Vgl. G. Dautzenberg, Prophetie (s. Anm. 55) 60. Vgl. H.-J. Klauck, Engelszungen (s. Anm. 54) 295. 1Kor 14,31 darf freilich nicht als Grundsatzaussage missverstanden werden. Vielmehr ist ihre Pragmatik zu berücksichtigen. Paulus will deutlich machen, dass allen, die im Gottesdienst prophetisch reden wollen, die Möglichkeit dazu einzuräumen ist, selbst
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die Prophetie also ein Charisma ist, d.h. gnadenhaften Charakter trägt, widerfährt sie dem Menschen nicht einfach. Vielmehr setzt sie seinen aktiven Einsatz voraus. Dieser Einsatz aber kommt der Gemeinde zugute. Ergänzend zu 1Kor 12–14 bietet auch der ältere 1. Thessalonicherbrief im Rahmen der Imperativreihe 5,16–22 einige knappe, aber dennoch aufschlussreiche Aussagen über das Wirken des Geistes im Leben der Gemeinde. Die Funktion der Imperative liegt in der Ermutigung und Bestärkung der Gemeinde, die nach Auskunft von 3,6–8 auf dem richtigen Weg ist. Im Unterschied zu 1Kor 12–14 stellt 1Thess 5,16–22 also keine Reaktion auf aktuelle Fehlentwicklungen in der Gemeinde dar.64 Strukturell bildet 1Thess 5,16–22 eine Doppeltrias von kurzen, stakkatohaft aufeinanderfolgenden Mahnungen (V. 16–18a.19–21a), von denen die letzte V. 21a noch einmal in zwei inhaltlich abhängigen Mahnungen entfaltet wird (V. 21b.22). V. 18b kommt eine Brückenfunktion zu, indem er gleichermaßen rückbezogen wie vorverweisend die beiden Mahnungstriaden verbindet.65 Die erste Trias kreist inhaltlich um das Gebet, und zwar um das beständige, unaufhörliche Gebet: „Unablässig betet!“ (V. 17). Die Existenz der Gemeinde tritt so als gottesdienstliche Existenz in den Blick, die sich in konkreten, gottesdienstlichen Zusammenkünften gleichsam verdichtet.66 Dieser gottgewollten (V. 18b) betenden Existenz der Gemeinde korrespondiert ihr Sein als Tempel des Heiligen Geistes (1Kor 3,16f; 6,19). Entsprechend ist sie auch zu stetiger Heiligung aufgerufen (1Thess 4,1–10). Die betende Grundhaltung der Gemeinde (V. 17) wird in V. 18a unter dem speziellen Aspekt des stetigen67 Dank(gebet)es aufgegriffen. Aber auch der Aufruf zur Freude V. 16 fügt sich in die Thematik des Gebetes. Denn die Freude als Frucht des Geistes (Gal 5,22; vgl. Röm 14,17) findet ihren Ausdruck im Lobgebet.68
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wenn es alle Anwesenden wären! Pragmatisch bedeutsam ist dabei vor allem der Kontrast zu den Bestimmungen für glossolalisches Reden. Hier reglementiert Paulus streng: Selbst unter der Voraussetzung gewährleisteter Übersetzung dürfen nur zwei, höchstens drei während des Gottesdienstes in Zungen sprechen (14,27f). Vgl. o. zu 1Thess 4,1–10. Zur Strukturanalyse vgl. F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 127f. Vgl. auch R. Börschel, Konstruktion (s. Anm. 34) 300. Angesichts der beiden temporalen Adverbien in V. 16.17 empfiehlt es sich, auch ἐν παντί V. 18a temporal (ἐν παντὶ καιρῷ = immerzu) zu interpretieren, vgl. E. v. Dobschütz, Die Thessalonicherbriefe (KEK 10. Abt.), Göttingen 1974 (= Nachdruck der 7. Aufl. von 1909), 223; R. Börschel, Konstruktion (s. Anm. 34) 301. Modal (bei allem = in jeder Situation) löst ἐν παντί W. Marxsen, 1Thess (s. Anm. 40) 70 auf; im Sinne von περὶ παντός übersetzt T. Holtz, 1Thess (s. Anm. 34) 240; vgl. ebd. 257. Im Kontext von 1Thess 5,16–18a erhält der Aufruf zur Freude als der bestimmenden christlichen Grundhaltung (vgl. O. Knoch, Thess [s. Anm. 34] 60; T. Holtz, 1Thess [s. Anm. 34] 257) zugleich die Konnotation der Versprachlichung dieser Freude im Lobpreis Gottes, denn: „Die besondere Bedeutung des Verbums und des Substantivs liegt nicht im Wortsinn als solchem, sondern in den Sachzusammenhängen, in denen Freude auftaucht“ (H. Conzelmann, Art. χαίρω κτλ. in: ThWNT IX, 350–362, hier: 357f).
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Im Unterschied zu 1Kor 12–14 wird nun die Glossolalie weder in 1Thess 5,16–22 noch im Gesamtbrief irgendwo explizit thematisiert. Dies lässt den Schluss zu, dass in der thessalonikischen Gemeinde die Glossolalie nicht zu Missverständnissen oder Fehlentwicklungen führte. Aus dem Befund jedoch darüber hinaus zu folgern, die Glossolalie sei in Thessalonich als Geistesgabe unbekannt gewesen,69 geht m.E. zu weit. Als begnadeter Glossolale (vgl. 1Kor 14,18) dürfte Paulus die Gemeinde in Thessalonich ebenso wie die Gemeinde in Korinth mit der Zungenrede bekannt gemacht haben.70 Nun steht nach 1Kor 14,14–17 die Glossolalie in engster Beziehung zu den verschiedenen Formen des Gebetes.71 So könnten möglicherweise auch die Aufrufe zu lobpreisender Freude, zu Gebet und Dank in 1Thess 5,16–18a im paulinischen wie gemeindlichen Verständnis glossolalische Formen einschließen, freilich sich nicht darin erschöpfen. Die zweite Trias von Imperativen wird in V. 19 mit einem Aufruf von grundsätzlichem Charakter eröffnet: „Löscht den Geist nicht aus!“ Basis dieses Aufrufs ist die paulinische wie allgemein urchristliche Überzeugung von der Geistbegabung aller Glaubenden.72 Sachlich greift V. 19 somit die Aussage von 1Thess 4,8 auf, derzufolge Gott der Gemeinde seinen Heiligen Geist schenkt. Er zielt also nicht auf konkrete pneumatische Phänomene73 wie etwa die Glossolalie,74 denen die Gemeinde reserviert gegenübersteht75 oder die einzelne Pneumatiker bei sich selbst unterdrücken wollen.76 5,19 erinnert vielmehr allgemein an die Wirksamkeit des Gottesgeistes in der Gemeinde und in den einzelnen Glaubenden.77 Pragmatisch dient der Aufruf dazu, noch vor Konkretion dieser Wirksamkeit in bestimmten Geistesäußerungen an das Verantwortungsgefühl der Gemeinde zu appellieren, den Geist in seinem Wirken nicht zu unterdrücken.78 Die Gemeinde soll sich der 69 70 71 72 73
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Vgl. etwa F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 129. Vgl. G. Dautzenberg, Prophetie (s. Anm. 55) 61. Vgl. G. Dautzenberg, Prophetie (s. Anm. 55) 62; H.-J. Klauck, Engelszungen (s. Anm. 54) 282. Vgl. o. unter Ziffer 1. Geistäußerungen, vgl. E. v. Dobschütz, Thess (s. Anm. 67) 225 („es ist die Gesamtheit der außerordentlichen Geisteswirkungen gemeint, wie sie Paulus z.B. I Kor 12,8ff.28ff aufzählt.“); T. Holtz, 1Thess (s. Anm. 34) 259; richtig m.E. R. Börschel, Konstruktion (s. Anm. 34) 304: „So bedeutet die Aufforderung, den Geist nicht auszulöschen, ein Festhalten am Lebenswandel nach dem Willen Gottes zur Heiligung. 1Thess 5,19 muß demnach nicht auf bestimmte Charismen, wie sie z.B. in 1Kor 12,7–10 aufgeführt werden, bezogen werden.“ So etwa dezidiert G. Dautzenberg, Prophetie (s. Anm. 55) 61f. Vgl. E. v. Dobschütz, Thess (s. Anm. 67) 226. So etwa W. C. van Unnik, „Den Geist löschet nicht aus“ (I Thessalonicher V 19) in: NT 10 (1968), 255–269, hier: 269; T. Holtz, 1Thess (s. Anm. 34) 259. Dafür spricht nicht zuletzt, dass Paulus in 1Thess 5,19 den Begriff πνεῦμα, nicht wie in 1Kor 14,1b.12a πνευματικά wählt. Vgl. W. C. van Unnik, Geist (s. Anm. 76) 261: „Σβέννυμι wird im Griechischen des öfteren mit Gemütsbewegungen, inneren Regungen verbunden und heißt dann so viel als: ‚zur Ruhe bringen, unterdrücken, verschwinden lassen‘.“
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vorhandenen, wenngleich in Thessalonich nicht virulenten Gefahr bewusst werden, dass sie das Wirken des Geistes wie eine Flamme löschen kann. Stattdessen soll sie ihm Raum geben, den er, um wirken zu können, braucht wie die Flamme die Luft. Unmittelbar anschließend folgt in V. 20 als erste Konkretion des Geistwirkens der Aufruf, prophetische Reden nicht zu verachten. Traditionsgeschichtlich verdankt sich diese Abfolge sicher dem engen Zusammenhang zwischen dem endzeitlichen Wirken des Geistes, der daraus resultierenden Geistbegabung aller und ihrer Manifestation in prophetischem Reden nach Joel 3. Doch zeigt der Zusammenhang von 1Thess 5,19f auch, dass die Prophetie für Paulus als Ausdruck des Geistwirkens eine herausragende Bedeutung hat, und zwar ganz unabhängig und noch vor jedem konkreten Konflikt, wie er sich später in Korinth entzündet.79 Die Prophetie ist die erste und grundlegende Geistesäußerung und Gnadengabe für das Leben der Gemeinde. Entsprechend kommt für Paulus eine Verachtung prophetischer Reden in der Gemeinde geradezu einer Auslöschung des Geistes gleich.80 Mit 5,20 bestärkt er daher die Gemeinde, die Gabe der Prophetie zu akzeptieren und in ihrer Bedeutung immer tiefer zu erkennen. Diese Bedeutung ist aber nach 1Kor 14,3f strikt gemeinde- und gegenwartsbezogen, dient die Prophetie doch dem Aufbau der Gemeinde, der Mahnung und dem Trost. Der Aufruf, prophetische Reden nicht zu verachten, impliziert zudem durchaus auch schon die Ermunterung, im Sinn von 1Kor 14,1c nach der Gabe prophetischen Redens aktiv zu streben. Es dürfte Paulus also nicht zuletzt darum gehen, den Einsatz der Gemeindemitglieder für die Prophetie zu stärken. Der Aufruf in V. 21a „Alles aber prüft!“ wird zumeist von 1Kor 14,29 her auf die Beurteilung der prophetischen Äußerungen durch die Gemeinde bezogen.81 Doch birgt diese Interpretation Schwierigkeiten. Die erste Schwierigkeit ist sprachlicher Art: Bestünde ein Rückbezug auf die in V. 20 genannten prophetischen Reden (Akk. Pl. Fem.: προ:ητείας), so wäre zu erwarten, dass Paulus sagte: Alle, d.h. alle prophetischen Reden (gr. πάντες) prüft! Stattdessen aber heißt es: Alles (Neutr. Pl., gr. πάντα) prüft! Schwerwiegender aber ist der sachliche Einwand, der sich aus der Auffächerung der geforderten Prüfung in den V. 21b.22 ergibt: Können geistgewirkte prophetische Reden,82 die es gerade nicht zu verachten gilt, nicht nur gut, sondern auch böse sein? Dem Dilemma entkommt man auch dann nicht, wenn man „gut“ im Sinne von „nützlich“ und „böse“ im Sinne von „unbrauchbar“, und zwar 79
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Durch den korinthischen Konflikt sieht Paulus sich freilich gedrängt, seine Hochschätzung der Prophetie auch explizit zu begründen. Vgl. etwa F.W. Horn, Angeld (s. Anm. 7) 129. Vgl. u.a. E. v. Dobschütz, Thess (s. Anm. 67) 226; W. Marxsen, 1Thess (s. Anm. 40) 72; T. Holtz, 1Thess (s. Anm. 34) 261; R. Börschel, Konstruktion (s. Anm. 34) 309. Es handelt sich nicht um Reden, die erst noch als prophetisch zu erweisen wären!
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bezogen auf den Gemeindeaufbau versteht.83 Wenn es nach 1Kor 14,4 Kennzeichen prophetischer Rede ist, dass sie dem Gemeindeaufbau dient, kann dann prophetische Rede, die sich dazu als unbrauchbar erweist, noch als prophetische Rede im paulinischen Verständnis gelten?84 Es ist daher m.E. näherliegend, den Aufruf in V. 21a, alles zu prüfen, nicht auf V. 20 zurückzubeziehen. Positiv lässt sich V. 21a als ein weiteres Beispiel einer Befähigung durch den Geist neben der Prophetie bestimmen. Es ist die Befähigung zur Urteilsfindung nach göttlichem Maßstab, auch und vielleicht gerade in der Auseinandersetzung mit Wertvorstellungen der heidnischen Gesellschaft (vgl. Phil 4,8).85 Fazit: Existenz als Gemeinde verdankt sich nach paulinischer Darstellung grundlegend dem Wirken des Geistes. Die Gemeinde erhält ihre Lebenskraft durch das Zusammenspiel einer Vielzahl von Geistesäußerungen. Als Geistesäußerungen gelten Paulus nicht nur außergewöhnliche Begabungen wie etwa die Glossolalie oder die Kraft, Wunder zu wirken (1Kor 12,10.28), sondern auch ganz unspektakuläre Fähigkeiten wie zu glauben (1Kor 12,9), zu helfen oder zu leiten (1Kor 12,28), zu dienen, zu lehren, zu trösten oder zu ermahnen (Röm 12,7f). Alle Geistesäußerungen aber stehen unter dem Vorzeichen des Aufbaus der Gemeinde und ihres Nutzens (vgl. 1Kor 12,7; 1Kor 14). Gerade in der Auseinandersetzung mit der korinthischen Gemeinde betont Paulus, dass die Geistesäußerungen (πνευματικά) die Qualität von Gnadengaben (χαρίσματα) haben (1Kor 12,1.4). Als Geschenk der Gnade Gottes unterstehen sie nicht der Verfügbarkeit des Menschen und sind nicht einklagbar. Dennoch kennt und fördert Paulus unter Beachtung dieses gnadenhaften Geschenkcharakters und der notwendigen Pluralität ein legitimes Streben nach Charismen. Einen herausragenden Stellenwert misst er dabei der Prophetie zu, wie bereits im 1. Thessalonicherbrief als dem ältesten Paulusbrief belegt ist: Ein Verachten der Prophetie kommt demnach faktisch einem Auslöschen des Geistes gleich (1Thess 5,19f). Eine ausführliche Begründung für diese Hochschätzung der Prophetie liefert Paulus in seiner Stellungnahme zum korinthischen Konflikt (1Kor 14).86 Sie verdankt sich ihrer unverzichtbaren Funktion für den Gemeindeaufbau. 83 84
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So R. Börschel, Konstruktion (s. Anm. 34) 310–312. Die Deutung von 1Kor 14,29 (vgl. 1Kor 12,10) her ist auch deshalb schwierig, weil Paulus hier nicht das Verb δοκιμάζειν, sondern διακρίνειν verwendet. In 1Kor 14 steht also nicht ein Prüfen prophetischer Rede, sei sie gut oder böse, zur Debatte, sondern ein Deuten der Prophetie (mit G. Dautzenberg, Prophetie [s. Anm. 55] 66–68). Anders ausgedrückt. Es geht um die Beantwortung der Frage, wie sich eine Prophetie für den Aufbau der Gemeinde fruchtbar machen lässt, wie sie in einer konkreten Fragestellung der Gemeinde weiterhilft. So versieht etwa auch Paulus selbst seine Prophetie in 1Thess 4,15b in 4,16f mit einer Deutung (vgl. 1Kor 15,51b–52a mit 15,52b–57; Röm 11,25b–26a mit 11,28–32; 1Kor 2,6–8 mit 2,10–15), vgl. H. Merklein, Theologe (s. Anm. 57) 385–394.399f. Vgl. dazu auch die paulinischen Tugendkataloge, die durchaus nicht nur christliches Ethos widerspiegeln (neben Phil 4,8 besonders Gal 5,22f), vgl. M. Gielen, Art. Tugendkataloge in: LThK3 10, 302f. Nicht zufällig dürfte auch in der Charismenliste Röm 12,6–8 die Prophetie an erster Stelle genannt sein.
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Die Fähigkeit prophetischen Redens, die Paulus prinzipiell allen Glaubenden zuspricht (14,31) setzt einen aktiven Einsatz voraus. Durch Gebet und Meditation der urchristlichen Traditionen gilt es, sich auf den Offenbarungsempfang vorzubereiten. Und auch die erhaltene Offenbarung verlangt nach einer gegenwarts- und situationsbezogenen Weitergabe in der Gemeindeversammlung. So kann prophetische Rede ihre Funktion des Erbauens, Ermahnens und Tröstens (14,3) erfüllen. Durch eine Vielzahl von Gnadengaben ermöglicht also das Wirken des Geistes den Glaubenden ein Leben als Gemeinde. Unter diesen Gnadengaben aber ragt nach Auskunft des Paulus die Prophetie heraus. So darf christliche Spiritualität, die sich auf Paulus beruft, unter dem Vorzeichen des gemeindlichen und kirchlichen Lebens zutreffend als eine Spiritualität des Prophetischen bezeichnet werden.
4. Impulse für christliche Spiritualität in heutiger Zeit Die Impulse, die die paulinischen Briefe für eine christliche Spiritualität auch in heutiger Zeit zu bieten haben, sind zahlreich. Ich möchte drei, die mir besonders wichtig erscheinen, herausgreifen. 1. Christliche Spiritualität, die sich ihrer neutestamentlichen, speziell paulinischen Wurzeln bewusst ist, gewinnt ihre Kraft aus der Gewissheit der Geistbegabung aller Glaubenden. Sie kann und soll ein Selbstbewusstsein bei jedem Christen und jeder Christin freisetzen, das nicht aus dem Stolz auf eigene Leistung erwächst, sondern aus der Freude über das göttliche Geschenk des Geistes. Geistliche zu sein ist also nicht das Kennzeichen der Mitglieder eines bestimmten Standes in der Kirche, Geistliche sind vielmehr alle Getauften. Der Heilige Geist schenkt ihnen Anteil am Leben Gottes, d.h. Anteil am Leben des Heiligen. Insofern kann Paulus die Mitglieder seiner Gemeinden sachgerecht nicht nur als Geistliche (Gal 6,1; 1Kor 3,1) ansprechen, sondern auch als Heilige (Röm 1,7; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Phil 1,1). Als solche sind sie – einzeln wie als Gemeinschaft – ein Heiligkeitsbezirk inmitten einer profanen Welt, sind sie Tempel des Heiligen Geistes (1Kor 3,16f; 6,19). 2. Damit komme ich bereits zu einem zweiten, zentralen Impuls paulinisch fundierter Spiritualität: Als Gemeinde und Kirche müssen wir uns wieder neu als Erfahrungsraum des Heiligen für die Welt begreifen lernen. Dies ist nicht ganz einfach. Denn als Menschen des 21. Jahrhunderts inmitten einer technologisierten Welt erschließt sich uns die Tempelmetaphorik im Unterschied zu den Adressaten der Paulusbriefe nicht mehr unmittelbar aus unserer Lebenswelt. Die Mitglieder der paulinischen Gemeinden begegneten tagtäglich Tempeln, deren Architektur sie schon auswies als vom Profanen abgegrenzte Räume der Heiligkeit, als Stätten göttlicher Präsenz inmitten der Welt und doch abgesondert von der Welt. Genau
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dieses Tempelkonzept überträgt Paulus auf die einzelnen Glaubenden wie auf die Gemeinden als ganze. Dabei redet er, wie bereits erwähnt, nicht einer Ghettoisierung der Gemeinden das Wort. Im Gegenteil: Als Wohnstätte des göttlichen Geistes sollen sie ja gerade den Menschen die Begegnung mit dem Heiligen eröffnen, freilich nicht so, dass sie sich selbst profanisieren, sondern dass sie umgekehrt den Menschen die Heiligung ermöglichen, zu der sie selbst auch immer wieder aufgerufen sind. Paulus ist also strikt auf Abgrenzung bedacht, gerade um den Bezirk des Heiligen in der Welt stetig auszudehnen. In einer Spiritualität, die den Gedanken der Heiligkeit wieder ernst nimmt, liegt eine große Chance für die Kirche und für die Welt von heute. Warum nämlich ziehen sich zunehmend mehr Mitglieder der Kirche – also Geistbegabte! – in den Raum des Profanen zurück? Warum findet die profane Welt die christliche Kirche und ihre Botschaft immer weniger attraktiv oder umgekehrt formuliert: Warum übt die Kirche immer weniger Anziehungskraft auf die Welt aus? Liegt vielleicht ein wesentlicher Grund darin, dass sie zu wenig heilig ist, dass die Grenzen zum Profanen immer unschärfer werden? Wodurch unterscheiden wir uns denn in unserem konkreten Verhalten als Mitglieder der Kirche von den Mitgliedern politischer Parteien, Interessenvertretungen oder Vereinen? Auch unter uns gibt es die Gier nach Einfluss und Macht, gibt es Intrigen, Eitelkeiten und Selbstinszenierung. Wenn wir aber auf diesen Gebieten mit der Welt konkurrieren wollen, sind wir chancenlos. Stattdessen sollten wir uns auf unser Proprium besinnen, dessen die Welt so sehr bedarf. 1998 schrieb Helmut Merklein im Vorwort des zweiten Bandes seiner Studien zu Jesus und Paulus: „Wenn das Neue Testament und insbesondere Paulus die Tempelsymbolik auf die Gemeinde übertragen, dann muß diese zum Ort werden, wo Gottesnähe erfahrbar wird. Dies kann nicht nur im zu verkündigenden Wort und in diakonischer Tat geschehen, sondern muß vor allen Dingen in symbolischer Konstitution von Heiligkeit geschehen. Um Mißverständnissen vorzubeugen, mit ‚symbolisch‘ meine ich nicht nur die Sakramente […]. Es geht um eine umfassende Symbolik der Heiligkeit, die sowohl das Selbst-Bewußtsein als auch den Selbst-Stand der Kirche bestimmen muß, damit diese zum Ort der Gottesnähe für und gegen die Welt wird. […] Wir können keine heile, wohl aber eine heilige Welt gestalten. Die Heiligkeit ist das, was Gott von der Welt unterscheidet. Gerade wegen dieser Andersheit sehnt sich die Welt – bewußt oder unbewußt – nach Gott.“87 Als Tempel Gottes sind die Gemeinden, ist die Kirche aufgerufen, der Welt diese Begegnung mit dem ganz anderen Gott anfanghaft zu ermöglichen. Dies kann freilich nur gelingen, wenn die Grenzen zum Profanum klar gezogen sind.
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H. Merklein, Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT 105), Tübingen 1998, VIII.
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I. Anthropologie – Eschatologie – Spiritualität
Nicht anders nämlich ist die Gemeinschaft der Glaubenden für die Welt als Heiligkeitsbezirk erkennbar und kann zum erstrebenswerten Ziel werden. 3. Ein dritter und letzter Impuls, den ich hervorheben möchte, ist die prophetische Dimension paulinisch geprägter Spiritualität. Unter den Geistesgaben, die das Leben als christliche Gemeinde, als Kirche ermöglichen, ragt für Paulus die Prophetie hervor. Im Unterschied zum populären Verständnis des Begriffs ist Prophetie für Paulus nicht zukunfts-, sondern gegenwartsbezogen. Sie greift aktuelle Anliegen, Fragen und Probleme der Gemeinde auf, auf die die Tradition Antworten schuldig bleibt. Dies belegen nicht zuletzt die Stellen in den Briefen, an denen Paulus selbst als Prophet spricht.88 Die Prophetie ist nicht Gegenspielerin der Tradition, sondern die geistgeschenkte, bewegende Kraft, die die Tradition lebendig erhält. Insofern stellt sie eine notwendige Ergänzung zur Tradition dar. Angesichts dieser eminenten Bedeutung der Prophetie für den Bestand der Glaubensgemeinschaft verwundert es nicht, dass Paulus jedem Mitglied prinzipiell die Fähigkeit prophetischen Sprechens zuerkennt. Zugleich fordert er das bewusste Streben nach Prophetie, um diese Geistesgabe bei möglichst vielen zu aktivieren. Im Gegensatz zur paulinischen Hochschätzung der Prophetie begegnete man ihr die Kirchengeschichte hindurch eher reserviert und skeptisch und vertraute lieber der Tradition. Und auch heute fristet die Prophetie in der Kirche allenfalls ein Schattendasein.89 Für eine christliche Spiritualität freilich, die sich auf ihre biblischen Grundlagen besinnt, ist die Dimension des Prophetischen unverzichtbar. Sie gilt es, auf allen Ebenen der Kirche neu zu entdecken. Denn die Prophetie bildet die notwendige Ergänzung zur Tradition, sofern diese nicht immer weiter in Realitätsferne und Bedeutungslosigkeit abgleiten soll. Nur die Prophetie kann verhindern, dass auf die vielen brennenden Fragen unserer Zeit alte Antworten gegeben werden, die die Köpfe und Herzen der Menschen nicht mehr erreichen. Nur wenn die Prophetie der Tradition helfend zur Seite tritt, wenn dadurch den Menschen neue, geistgewirkte Perspektiven aufgezeigt werden können, wird der lautlose Auszug der Vielen aus der Kirche ein Ende finden. Für Paulus kommt ein Verachten der Prophetie faktisch einer Verhinderung des Geistwirkens gleich. Wo immer daher in der Kirche einseitig die Unveränderlichkeit der Tradition betont wird, ist die reale Gefahr gegeben, den Geist auszulöschen. Zumindest aber dokumentiert sich darin ein Misstrauen gegenüber der bewegenden und erneuernden Kraft des Geistes. Wo immer dagegen in der Kirche die paulinische Mahnung beherzigt wird, wird die Prophetie den Stellenwert erhal88
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H. Merklein, Theologe (s. Anm. 57) 396 spricht zu Recht von einer „argumentative(n) Leerstelle“, die mit Hilfe der Prophetie gefüllt wird. Dasselbe Schattendasein fristet die Prophetie freilich auch in der Theologie, vgl. H. Merklein, Theologe (s. Anm. 57) 403f.
„Löscht den Geist nicht aus, verachtet prophetische Reden nicht!“
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ten, der ihr als herausragende Geistesgabe für das Leben der Kirche zukommt. Prophetische Reden nicht zu verachten heißt freilich auch für jedes einzelne Mitglied der Kirche, sich im Gebet sowie in rationaler und meditativer Reflexion der Tradition um prophetische Einsichten zu bemühen. Gefordert ist also mit Paulus der aktive Einsatz: „Strebt aber nach den Geistesäußerungen, erst recht aber, dass ihr prophetisch redet!“ (1Kor 14,1). Am Vorabend des 2. Vatikanischen Konzils hat kein Geringerer als Karl Rahner auf dem Österreichischen Katholikentag 1962 hier in Salzburg mit einer scharfsichtigen kirchlichen Situationsanalyse ein eindrucksvolles Plädoyer verbunden für die Akzeptanz der vielfältigen Geisteswirkungen.90 Nachdem die vom Konzil ausgehende Aufbruchstimmung inzwischen längst vergangen ist, gewinnt sein damaliger Vortrag in vielem heute wieder eine überraschende Aktualität. Nachdrücklich weist Rahner auf die erschreckende Möglichkeit hin, dass das Geistwirken in der Kirche tatsächlich unterdrückt und erstickt werden kann, und er erinnert daran, dass hier jeder und jede Glaubende in der Verantwortung vor Gott steht.91 „Wie vieles wäre anders, wenn man dem Neuen nicht so oft entgegentreten würde mit der überlegenen Selbstsicherheit, mit einem Konservativismus, der nicht Gottes Ehre und Lehre und Stiftung in der Kirche verteidigt, sondern sich selbst, die alte Gewohnheit, das Übliche, daß man leben kann ohne den Schmerz der täglich neuen Metanoia. Wenn man aber brennend empfände, daß man auch gerichtet werden kann durch seine Unterlassungen, für seine diffuse, anonyme Herzenshärte und Herzensträgheit, für seinen schuldhaften Mangel an schöpferischer Phantasie und am Mut zum Kühnen, dann würde man sicher auch hellhöriger, vorsichtiger, zuvorkommender auf die leiseste Möglichkeit achten, daß sich irgendwo der Geist regt, der nicht schon in die amtlichen Formeln und Maximen der Kirche und ihrer amtlichen Stellen eingegangen ist. Dann würde man sehnsüchtig ausschauen, ob nicht Charismen sich melden, für die wir erst einen Blick und ein Gespür uns erwerben müssen.“92 Solch einen Blick, solch ein Gespür müssen wir heute vor allem neu für die Prophetie erwerben, nachdem sie so viele Jahrhunderte in unserer Kirche eine Randexistenz gefristet hat. Denn gerade an ihrer Wertschätzung muss sich messen lassen, ob wir dem Wirken des Geistes trauen. Für Paulus jedenfalls gehört beides untrennbar zusammen. Seine Mahnung ist heute vielleicht aktueller denn je: „Löscht den Geist nicht aus, verachtet prophetische Reden nicht!“ (1Thess 5,19f).
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Vgl. K. Rahner, Löscht den Geist nicht aus! in: ders., Schriften zur Theologie VII, Einsiedeln 1966, 77– 90. Vgl. K. Rahner, Geist (s. Anm. 90) 77f.84. K. Rahner, Geist (s. Anm. 90) 84f.
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Beten und Prophezeien mit unverhülltem Kopf? Die Kontroverse zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde um die Wahrung der Geschlechtsrollensymbolik in 1Kor 11,2–16*
1. Problemstellung Quot homines, tot sententiae: Dieses alte lateinische Sprichwort scheint geradezu maßgeschneidert für die exegetische Zunft, was sich paradigmatisch nicht zuletzt an den Forschungsbeiträgen zu 1Kor 11,2–16 belegen läßt. So wird bei diesem Briefabschnitt seit langem nicht nur die Stringenz der paulinischen Argumentation insgesamt sowie die Bedeutung der einzelnen Argumente kontrovers diskutiert.1 Umstritten ist vielmehr bereits, was genau den sachlichen Anlaß der paulinischen Intervention bildete.2 Denn Paulus beläßt es bei knappen Andeutungen des kritisierten Tatbestandes, die für heutige Leserinnen und Leser, denen im Unterschied zum ursprünglichen Adressatenkreis der situative Hintergrund unbekannt ist, alles andere als eindeutig sind. Doch trotz aller Kontroversen um ein angemessenes Textverständnis darf zu* 1
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Abgedruckt in: ZNW 90 (1999), 220–249. Vgl. das Urteil von R. Scroggs, Paul and the Eschatological Women, JAAR 40 (1972) 283–303, hier: 297: „In its present form this is hardly one of Paul’s happier compositions. The logic is obscure at best and contradictory at worst.“ Ähnlich auch W.A. Meeks, The Image of the Androgyne: Some Uses of a Symbol in Earliest Christianity, HR 13 (1973) 165–208, hier: 200: „The structure of Paul’s argument in 11:3–16 is not one of his most lucid patterns of logic.“ Unberücksichtigt bleiben im folgenden Arbeiten, die die Schwierigkeiten des Textes dadurch verlagern, daß sie ihn Paulus absprechen und als nachpaulinische (z. T. mehrstufige) Interpolation bewerten, vgl. etwa O. Walker jr., 1Corinthians 11:2–16 and Paul’s View regarding Women, JBL 94 (1975) 94–110; ders., The Vocabulary of 1 Corinthians 11:3–16: Pauline or Non-Pauline?, JSNT 35 (1989) 75–88; L. Cope, 1Corinthians 11:2–16: One Step Further, JBL 97 (1978) 435–436; G. W. Trompf, On Attitudes Toward Women in Paul and Paulinist Literature: 1 Corinthians 11:3–16 and Its Context, CBQ 42 (1990) 196–215. Zur Kritik vgl. J. Murphy-O’Connor, The Non-Pauline Character of 1Corinthians 11:2–16?, JBL 95 (1976) 615–621; ders., Interpolations in 1Corinthians, CBQ 48 (1986) 81–94, bes. 87–90. Als weitgehend selbständiges Schreiben im Rahmen einer 10 Briefe umfassenden Korintherkorrespondenz (Brief C: 1Kor 11,2–22.27–34 – Fragen der Gemeindeordnung) beurteilt H. F. Richter im Anschluß an W. Schmithals den hier interessierenden Abschnitt 11,2–16, vgl. H. F. Richter, Anstößige Freiheit in Korinth. Zur Literarkritik der Korintherbriefe (1Kor 8,1–13 und 11,2–16), in: The Corinthian Correspondence (BEThL 125), hg. v. R. Bieringer, Leuven 1996, 561–575. Zur Kritik an solch weitreichenden literarkritischen Thesen zu den paulinischen Briefen und speziell zum 1. Korintherbrief vgl. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 1994, 95–96 und H. Merklein, Die Einheitlichkeit des ersten Korintherbriefes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 345–375. Vgl. den Überblick bei D.E. Blattenberger, Rethinking 1 Corinthians 11:2–16 through Archaeological and Moral-Rhetorical Analysis (Studies in the Bible and Early Christianity 36), Lewiston u.a. 1997, 1–6.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
nächst als weitgehend konsensfähig festgehalten werden: Paulus tadelt in den V. 4– 6, daß in Korinth die gottesdienstlichen Funktionen des Betens und Prophezeiens mit einer provokanten Herrichtung des Kopfes ausgeübt werden3, provokant deshalb, weil sie offenkundig die gesellschaftlich-kulturell akzeptierte Geschlechtsrollensymbolik negiert und so die Differenzierung zwischen Mann- und Frausein in Frage stellt.4 Die Gestaltung der V. 4.5a als antithetischer Parallelismus legt es nun nahe zu vermuten, daß Paulus in beiden Versen auch ein inhaltlich entsprechendes Phänomen diskutieren will. Er will also herausstellen, daß eine bestimmte Herrichtung des Kopfes, die der weiblichen Geschlechtsrollensymbolik zugeordnet ist, für den Mann eine Schande ist. Umgekehrt gilt das gleiche für die Frau, sofern sie auf die entsprechende männliche Geschlechtsrollensymbolik zurückgreift. Das weibliche Geschlechtsrollensymbol umschreibt Paulus dabei in V. 4 mit κατὰ κε:αλῆς ἔχων, also „[etwas] vom Kopf herab habend“ bzw. „[etwas] auf dem Kopf habend“, je nachdem, ob man die im Griechischen verwendete Präposition κατά als Bezeichnung der Richtung oder als Ortsangabe versteht.5 Das korrespondierende männliche Geschlechtsrollensymbol charakterisiert Paulus dagegen in V. 5a durch ἀκατακαλύπτῳ τῇ κε:αλῇ d.h. „mit unverhülltem Kopf“ bzw. „mit entblößtem Kopf“. Doch trotz der antithetisch auf Mann und Frau bezogenen parallel gestalteten Aussagen der V. 4.5a zeigt der Fortgang des Textes in den V. 5b.6.13, die nur noch den weiblichen Aspekt berücksichtigen, daß das beanstandete Verhalten von den Frauen ausgeht.6 Dagegen dürfte die Aussage über die Männer in V. 4 wohl nur als fiktive Entsprechung der Stringenz der Argumentation dienen.7 In der Frage, welches Geschlechtsrollensymbol die Frauen in ihrer abweichenden Herrichtung des Kopfes genau ablehnten, gibt es nun in der Forschung im wesentlichen zwei Erklärungsangebote. Die Vertreter der ersten und lange Zeit unhinter-
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Anders dagegen der Beitrag von A. Padgett, Paul on Women in the Church, JSNT 20 (1984) 69–86, der 1Kor 11,4–7 als Wiedergabe der korinthischen Position beurteilt, von der sich Paulus in den V. 10–12 (wobei die V. 13–15 als Aussagesätze, nicht als rhetorische Fragen gelesen werden) gerade absetzt. Vgl. G. Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie (FRLANT 131), Göttingen 1983, 178; Meeks, Image (s. Anm. 1), 201; J. M. Gundry-Volf, Gender and Creation in 1Corinthians 11:2–16. A Study in Paul’s Theological Method, in: Evangelium, Schriftauslegung, Kirche. FS Peter Stuhlmacher, Göttingen 1997, 151–171, hier: 153–154 F. Blass, A. Debrunner, F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 161984, 182 § 225 verzeichnen für κατά mit Genitiv in lokaler Verwendung die Bedeutung der Richtungsangabe, ergänzen dann aber in Anmerkung 2 zu 1Kor 11,4 „‚über den Kopf hinab‘ = ‚auf dem Kopf‘“. Vgl. etwa Meeks, Image (s. Anm. 1), 201; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 2. Teilband 1Kor 6,12–11,16 (EKK 7/2), Solothurn, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 1995, 504 und Anm. 94; K. T. Wilson, Should Women Wear headcoverings?, BS 148 (1991) 442–462, hier: 447. Gegen J. MurphyO’Connor, Sex and Logic in 1Corinthians 11:2–16, CBQ 42 (1980) 482–500, hier: 483, dessen Aussage „the problem, therefore, involved both sexes“ freilich insofern zuzustimmen ist, als das Tun der Frauen zumindest von einer Gruppe von Männern gebilligt worden sein dürfte. Vgl. J.P. Meier, On the Veiling of Hermeneutics (1Cor 11.2–16), CBQ 40 (1978) 212–226, hier 218.
Beten und Prophezeien mit unverhülltem Kopf?
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fragten Erklärung sehen hinter den Ausführungen die Weigerung der korinthischen Frauen, während ihres gottesdienstlichen Betens oder Prophezeiens eine Kopfbedeckung zu tragen.8 Dabei wird diese Kopfbedeckung zumeist mit dem über den Kopf gezogenen Teil des Himations, also des Obergewandes, identifiziert.9 Dagegen vermuten die Anhänger der zweiten und in neueren Untersuchungen immer häufiger anzutreffenden Erklärung, daß der Streit um eine bestimmte Haartracht geht.10 Demnach hätten die Frauen ihr Haar gelöst und offen getragen, während Paulus zu einer geordneten Frisur aufgestecktes Haar anmahnt, das dann die Funktion der Verhüllung des Kopfes übernimmt. Die beiden Erklärungsversuche gilt es im folgenden auf ihre textinterne und ihre kulturgeschichtliche Stichhaltigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. Dazu ist die Aufmerksamkeit zunächst auf die hierfür zentralen V. 4–6.13– 15 zu richten. Im Anschluß daran gilt es dann, sich der paulinischen Argumentation mit ihrem Schwerpunkt in den V. 3.7–12. zuzuwenden.
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Vgl. u.a. H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 21981, 225; F. Lang, Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen 1986, 139; J. Delobel, 1Corinthians 11,2–16: Towards a Coherent Interpretation, in: L’Apôtre Paul (BEThL 73), hg. v. A. Vanhoye, Leuven 1986, 369–389, bes. 371–376; A. Strobel, Der erste Brief an die Korinther (ZBK 6.1), Zürich 1989, 166; B. Byrne, Paul and the Christian Woman, Collegeville/MN 1988, 39–40; J. Reiling, Mann und Frau im Gottesdienst. Versuch einer Exegese von 1. Korinther 11,2–16, in: Gemeinschaft am Evangelium. FS Wiard Popkes, Leipzig 1996, 197–210; Scroggs, Paul (s. Anm. 1), 297–298; R. Oster, When Men wore Veils to Worship: The Historical Context of 1Corinthians 11.4, NTS 34 (1988) 481–505; Wilson, Women (s. Anm. 6), 446; B. Witherington III, Conflict and Community in Corinth. A Socio-rhetorical Commentary on 1 and 2 Corinthians, Grand Rapids 1995, hier: 231–240; C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHNT 7), Berlin 1996, 246. Ausführlich dazu Theißen, Aspekte (s. Anm. 4 ), 162–164. Vgl. S. Lösch, Christliche Frauen in Korinth (1 Cor. 11,2–16). Ein neuer Lösungsversuch, ThQ 127 (1947) 216–261. (Lösch vertritt meines Wissens als erster die Auffassung, daß sich hinter 1Kor 11,2–16 eine Kontroverse um die Haartracht der Frauen im Gottesdienst verbirgt, doch verbindet er die Haartrachthypothese noch engstens mit der Kopfbedeckungshypothese: Die korinthischen Frauen beten und prophezeien gemäß heidnischer Kultsitte – Lösch beruft sich auf zwei, und zwar Mysterienkulte betreffende Inschriften aus Andania und Lycosura – mit aufgelöstem Haar; Paulus dagegen tritt ein für eine verhüllende Kopfbedeckung gemäß jüdischer Sitte, die die Unterstellung der Frau unter ihren Ehemann symbolisiert.) Vgl. ferner A. Isaksson, Marriage and Ministry in the New Temple. A Study with Special Reference to Mt 19.3–12 and 1Cor 11.3–16, Lund 1965, 155–185; W. J. Martin, I Corinthians 11:2–16. An Interpretation, in: Apostolic History and the Gospel. FS F. F. Bruce, Grand Rapids, Michigan 1970, 231–241; J. B. Hurley, Did Paul Require Veils or Silence of Women? A Consideration of I Cor. 11:2– 16 and I Cor. 14:33b–36, WThJ 35 (1972/73) 190–220, hier: 193–204; Murphy-O’Connor, Sex (s. Anm. 6); ders., 1Corinthians 1:2–16 Once Again, CBQ 50 (1988) 265–274, bes. 267–268; Padgett, Paul (s. Anm. 3); H.-J. Klauck, 1. Korintherbrief (NEB 7), Würzburg 1984, 78 (vgl. ebd. 77 auch die Überschrift zu 11,2–16: Das Problem der richtigen Haartracht“); Schrage, 1. Korintherbrief (s. Anm. 6), 491–494; Blattenberger, Rethinking (s. Anm. 2); N. Baumert, Antifeminismus bei Paulus? Einzelstudien, FzB 68, Würzburg 1992, 53–108, bes. 56–65.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
2. Die Verweigerung einer Kopfbedeckung als Anlaß der paulinischen Intervention Vermutet man, daß sich hinter der in 1Kor 11,4–6 diskutierten Geschlechtsrollensymbolik konkret die Kontroverse um eine Kopfbedeckung verbirgt, so bietet sich folgende Erklärung an: Übersetzt man κατὰ κε:αλῆς ἔχων in V. 4 mit „etwas vom Kopf herab habend“, ist an das über den Kopf gezogene Himation zu denken. Dabei verlief der Stoff etwa vom Scheitelpunkt über den Hinterkopf zur NackenSchulter-Partie hinab, ließ den vorderen Teil des Kopfes jedoch frei. Das alternative Verständnis „etwas auf dem Kopf habend“ bringt der Sache nach keine wesentlich andere Akzentuierung. Nur wird hier das Augenmerk stärker auf den Teil des Himations gelenkt, der auf dem Kopf aufliegt. Hinter der auf die Frauen bezogenen Formulierung ἀκατακαλύπτῳ τῇ κε:αλῇ in V. 5a verbirgt sich dann wohl ihre Weigerung, sich beim Beten und Prophezeien das Himation über den Kopf zu ziehen. Sie treten also „mit unverhülltem Kopf“, d.h. „unbedeckt“ oder „barhäuptig“ auf. Konzentriert man sich textintern ausschließlich auf die V. 4.5a, so bietet die Hypothese der Kopfbedeckung eine plausible Erklärung für die paulinische Aussageintention. Vor allem unterstützt sie die Vermutung, daß die von den Frauen in der Gemeinde geübte Praxis gottesdienstspezifisch war, die kritisierte Herrichtung des Kopfes also jederzeit außerhalb des Gottesdienstes rückgängig gemacht werden konnte. Speziell bei der Ausübung gottesdienstlicher Funktionen hätten sich die Frauen demnach also geweigert, eine Kopfbedeckung zu tragen und wären barhäuptig aufgetreten. Sobald man jedoch bereits die V. 5b.6 mit in die Überlegungen einbezieht, kommen Zweifel an der scheinbar so unkomplizierten Erklärung auf. In V. 5b nämlich wird die mit unbedecktem Kopf agierende Frau einer Kahlrasierten gleichgesetzt. In V. 6a wird dieser Grundgedanke leicht variiert fortgeführt. Als logische Konsequenz fordert Paulus nämlich: Eine Frau, die ihren Kopf nicht bedeckt, soll sich auch scheren lassen. Der Weigerung, sich zu verhüllen, wird also die Forderung, sich scheren zu lassen, gegenübergestellt. Sie dient dazu, die Schande des unbedeckten Kopfes in aller Schärfe bewußt zu machen und greift zudem die Stigmatisierung der Frau als einer Kahlrasierten auf. „Sich scheren lassen“ (κείρασ=αι) und „sich kahlrasieren“ (ξυρᾶσ=αι) treten in V. 6b dann unmittelbar nebeneinander. Beide Verben bezeichnen Eingriffe an den Haaren, die eine gewisse Radikalität aufweisen. Sie unterscheiden sich primär durch das Instrument (Schere bzw. Rasiermesser), mit dem diese Eingriffe durchgeführt werden.11 Dabei beschreibt 11
Vgl. H. Lietzmann, An die Korinther I.II, ergänzt von W. G. Kümmel (HNT 9), Tübingen 41949, 53.
Beten und Prophezeien mit unverhülltem Kopf?
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„sich kahlrasieren“ die radikalere Vorgehensweise, während „sich scheren lassen“ das Schneiden bzw. Stutzen der nachwachsenden Haupthaare zum Ausdruck bringt. Die beiden Verben sind also nicht exakt bedeutungsgleich. Daß Paulus jedoch im Kontext auf die radikalere Vorgehensweise der Kahlrasur abhebt, legt sich schon durch die Abfolge der Verben nahe, die er in den V. 5f jeweils zweimal verwendet. Denn ξυρᾶσ=αι (sich kahlrasieren) dient als Leitbegriff, indem es sich wie eine Klammer um κείρασ=αι (sich scheren) legt. Bei dieser Verwendung der Verben könnte Paulus durchaus durch den Sprachgebrauch der LXX beeinflußt sein. Mich 1,16 stellt nämlich ebenfalls beide Verben zu einem Hendiadyoin zusammen. So wird die an die Tochter Israels gerichtete Aufforderung, der Trauer über ihre Kinder sichtbaren Ausdruck zu verleihen, noch verstärkt: „Schere dich völlig kahl!“ Im Kontext von 1Kor 11,5.6a dürfte daher die Kombination von ξυρᾶσ=αι und κείρασ=αι auf eine radikale, entstellende Manipulation am Haupthaar der Frau zielen.12 Weil dies, wie aus dem Umkehrschluß in V. 6b hervorgeht, für sie schändlich ist, ergeht dann auch die Aufforderung „sie soll sich verhüllen!“ Paulus gibt also den Frauen der korinthischen Gemeinde in ironisierender Zuspitzung zu verstehen: Euer Handeln ist gleichzusetzen mit der entehrenden Totalentfernung des Haupthaares (V. 5b). Dann vollzieht doch diesen Schritt in letzter Konsequenz auch noch oder aber verhüllt euch. Die Hypothese der Kopfbedeckung für 1Kor 11,2–16 vorausgesetzt, fällt nun auf, daß Paulus in den V. 5b.6 das Problem konsequent anhand der Haartracht erörtert. Will man nicht die Kopfbedeckung zur Haartracht selbst zählen, so ist unter dieser Voraussetzung zumindest eine Verschiebung des Wortfeldes zu verzeichnen. Diese wird bezeichnenderweise in den semantisch eng mit V. 4–6 verbundenen V. 13–15 beibehalten, die sich ebenfalls auf die Haartracht von Männern und Frauen konzentrieren. Dabei greift V. 13 zunächst auf V. 5a zurück und fordert in Form einer rhetorischen Frage, das Verhalten der Frau, die „unverhüllt“ (ἀκατακάλυπτος) betet, als unschicklich zu verurteilen. Die V. 14f richten den Blick über diese spezielle gottesdienstliche Situation hinaus und erörtern generell die Frage der unterschiedlichen Bewertung langer Haare bei Mann und Frau.13 Ausdrücklich wird jetzt die Natur als Maßstab gesellschaftlich-kultureller Konvention angeführt. Dabei legt es der enge Zusammenhang zwischen V. 13 und V. 14f nahe, das Unverhülltsein der Frau in V. 13 auf eine bestimmte Haartracht zu beziehen, wird doch in V. 15b das lange Haar der Frau eigens als ihre Hülle bzw. als ihr Umhang bezeich-
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So auch schon E. Kähler, Die Frau in den paulinischen Briefen. Unter besonderer Berücksichtigung des Begriffes der Unterordnung, Zürich, Frankfurt a.M. 1960, 56. Dies läßt zumindest die vorsichtige Vermutung zu, daß das in 1Kor 11,2–16 erörterte Problem nicht als bloß gottesdienstspezifisch zu denken ist.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
net.14 Dagegen deutet im Kontext nichts auf eine Verweigerung einer Kopfbedeckung hin. Geht man nun davon aus, daß zwischen V. 4–6 und V. 13–15 ein enger begrifflicher und sachlicher Bezug besteht, der allein schon durch das gemeinsame Wortfeld „gesellschaftliches Werturteil“ signalisiert wird,15 dürfte auch in den V. 4–6 die Verwendung von „unverhüllt“ und „sich verhüllen“ auf die Haartracht zielen. Die in 1Kor 11,2–16 zur Debatte stehende Praxis betrifft somit wohl nicht die Verweigerung einer Kopfbedeckung, sondern eine von der Norm gesellschaftlich-kultureller Konvention abweichende Haartracht. Gestützt wird diese Bewertung schließlich aus kulturgeschichtlicher Perspektive. Bezieht man nämlich die Aussagen der V. 4.5a auf eine Kopfbedeckung, so besitzen sie für Adressaten und Adressatinnen im römisch-hellenistischen Kulturraum des 1. Jhds. n.Chr. durchaus keine selbstverständliche Plausibilität. Denn hier ist die Kopfbedeckung weder im profanen noch im kultischen Bereich ein eindeutiges (weibliches) Geschlechtsrollensymbol. Zwar bezeugt Plutarch, daß es im römischen Kulturkreis für Frauen üblicher war, verhüllt in die Öffentlichkeit zu gehen, für Männer dagegen unverhüllt.16 Doch zeigt schon die komparativische Formulierung, daß diese Aussage relativ zu verstehen ist. Es bestand also für Frauen keineswegs eine Pflicht, sich in der Öffentlichkeit nur mit bedecktem Haupt zu zeigen.17 Zudem nimmt der Trend zur Kopfbedeckung von Ost nach West deutlich ab.18 Angesichts dessen ist freilich gerade im römisch geprägten Korinth kaum mit einer ausgeprägten Akzeptanz der weiblichen Kopfbedeckung zu rechnen. Andere Belege geben zu erkennen, was schon die vorsichtige Formulierung Plut. Mor. 267 A/B nahelegt, nämlich daß eine Kopfbedeckung auch für einen Mann nicht unüblich war (Plut. Mor. 200 E/F; Plut. Cor. 23,1f; Diod. 38/39,19). Im Gegenteil: Wenn etwa Plutarch von Cato Minor zu berichten weiß, daß er seinen Körper durch intensive Übungen stählte, indem er sich u.a. daran gewöhnte, Hitze und Schnee ἀκαλύπτῳ κε:αλῇ auszuhalten (Cat.Min. 5,6), zeigt dies gerade die Außergewöhnlichkeit des beschriebenen Verhaltens. Dies bringt noch einen anderen Aspekt ins Spiel: Vor 14
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Gegen die These einer Kopfbedeckung führt Schrage, 1. Korintherbrief (s. Anm. 6), 494 zutreffend an, „daß V 15, wonach der Frau das lange Haar anstelle oder als Hülle gegeben ist, schwerlich paßte, wenn Paulus auf eine zusätzliche Verhüllung aus sein sollte“ (Hervorhebungen M. G.); vgl. auch Martin, I Corinthians (s. Anm. 10), 233. Vgl. V. 4.5a καταισχύνει, V. 6b αἰσχρόν, V. 13 πρέπον, V. 14 ἀτιμία, V. 15a δόξα. Zum engen Zusammenhang zwischen einer gesellschaftlich akzeptierten Geschlechtsrollensymbolik und dem gesellschaftlichen Werturteil (Ehre im Fall der Konformität, Schande im Fall der Abweichung) vgl. GundryVolf, Gender (s. Anm. 4), 153–155.169. Plutarch, Mor. 267 A/B: συνη=έστερον δὲ ταῖς μὲν γυναιξὶν ἐγκεκαλυμμέναις, τοῖς δὲ ἀνδράσιν ἀκαλύπτοις εἰς τὸ δημόσιον προϊέναι. Vgl. C.L. Thompson, Hair-Styles, Head-Coverings, and St. Paul. Portraits from Roman Corinth, BA 51 (1988) 99–115,hier: 112. Vgl. Theißen, Aspekte (s. Anm. 4), 164–167.
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allem in Gegenden, die über weite Strecken des Jahres klimatisch hohe Temperaturen aufweisen, dürfte sich schon aus medizinischen Gründen eine Kopfbedeckung nicht zu einem eindeutigen männlichen oder weiblichen Geschlechtsrollensymbol entwickeln. Allenfalls könnte dies für die Art der Kopfbedeckung gelten. Doch lassen die Quellen hier keine Differenzierung zu. Vielmehr legen sie durchweg für Männer wie Frauen unterschiedslos eine Verhüllung, und zwar durch das hochgezogene Himation nahe.19 Sozusagen die Nahtstelle zwischen dem profanen und dem kultischen Bereich thematisiert Plutarch Mor. 266, indem er hier die Frage diskutiert, warum im römischen Kulturkreis die Männer bei der Verehrung der Götter ihren Kopf bedecken (ἐπικαλύπτονται τὴν κε:αλήν), wenn sie aber verehrungswürdige Menschen treffen und zufällig die Toga über den Kopf gezogen haben, diesen enthüllen (κἂν τύχωσιν ἐπὶ τῆς κε:αλῆς ἔχοντες τὸ ἱμάτιον, ἀποκαλύπτονται). Wichtig ist diese „römische Frage“ im vorliegenden Zusammenhang, weil sie zeigt, daß die Kopfbedeckung des Mannes durch die Toga zwar nicht auf den Kult beschränkt war (vgl. auch Dion. Hal. Ant. 3,71), aber beim Kult obligatorisch war (vgl. auch Dion. Hal. Ant. 12,16). So sind etwa auch in Korinth zwei zeitgenössische Plastiken von Augustus und Nero gefunden worden, die die beiden Herrscher in priesterlicher Funktion darstellen, und zwar in geradezu prototypischer Weise „capite velato“.20 Dieser Befund impliziert nun aber nicht, daß Frauen in kultischen Kontexten ihren Kopf nicht bedeckten. Vielmehr ist die unterschiedslose Verhüllung des Kopfes von Männern und Frauen durch das über den Kopf gezogene Obergewand sowohl archäologisch21 als auch literarisch22 gut bezeugt. Da also kulturgeschichtlich für das römisch geprägte Korinth des 1. Jhds. n.Chr. die Kopfbedeckung als eindeutig zugewiesenes Geschlechtsrollensymbol weder für Frauen noch für Männer nach Ausweis der Quellen existiert haben dürfte und dies unterschiedslos für den profanen wie den kultischen Bereich gilt, liegt die Vermutung nahe: Ein Verzicht auf eine Kopfbedeckung im Gottesdienst seitens der Frauen in der korinthischen Gemeinde wäre wohl kaum als spektakuläre Auflehnung gegen eine weibliche Geschlechtsrollensymbolik geeignet gewesen. Daß das Tun der Frauen aber eine gewisse spektakuläre Note besessen haben muß, legt die vehement auf die Schöpfungsordnung pochende paulinische Argumentation nahe. Könnte es nun aber sein, daß Paulus versucht, in der überwiegend heidenchrist19 20 21
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Vgl. Plutarch, Mor. 200 E/F.266C.267C; Diodor Siculus 38/39,19; Lucian, Imag. 6,22 u.ö. Vgl. Thompson, Hair-Styles (s. Anm. 17), 101.103; Oster, Men (s. Anm. 8), 496. Genannt sei hier als ein besonders eindruckvolles Zeugnis nur die Darstellung der Opferprozession der kaiserlichen Familie auf der Ara Pacis Augustae. Witherington III, Conflict (s. Anm. 8), 234 verweist hier auf Varro, De Lingua latina 5,29,130 und Iuvenal 6,390–392.
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lich geprägten Gemeinde Korinths zumindest während des Gottesdienstes jüdische Konventionen durchzusetzen? Nun darf man für den jüdischen Kulturkreis des 1.Jhds. n.Chr. in der Tat davon ausgehen, daß Frauen sich in der Öffentlichkeit durchweg mit Kopfbedeckung zeigten. Entsprechende zeitgenössische Belege bieten etwa Philo und Josephus in ihrer Wiedergabe des Eifersuchtsordals aus Num 5. Beide nämlich interpretieren übereinstimmend den Akt, den der Priester zu Beginn des Ordals gemäß Num 5,18 vorzunehmen hat, als Entfernung der Kopfbedeckung, die die ehrbare Frau trägt.23 Der hebräische Text, dessen Kenntnis bei Josephus aufgrund seiner priesterlichen Abstammung und seiner Herkunft aus Jerusalem (vgl. Vit. 1f) vorausgesetzt werden darf, liest an dieser Stelle השּא השראUתע ארוּפ. Legt man die in den Fachwörterbüchern verzeichnete,24 jedoch seltene Bedeutung „entblößen“ für die hebräische Wurzel פרעzugrunde, läßt sich übersetzen „Und er (d.h. der Priester) entblößt den Kopf der Frau.“ Zumeist jedoch bezieht sich פרע auf das Haupthaar und umfaßt die Bedeutungsnuancen „das Haar frei wachsen lassen, das Haar frei hängen lassen, das Haar lösen“. Diese letzte Variante fügt sich gut in den Kontext von Num 5 ein, so daß V. 18 sachgerecht übersetzt werden kann mit „Und er löst das Haar der Frau.“ Der hebräische Wortlaut von Num 5,18 bezieht sich damit wohl nicht auf die Entfernung einer Kopfbedeckung, sondern auf die Zerstörung der geordneten Haartracht der ehrbaren Frau. Die LXX allerdings, die Philo als Vorlage dient und die auch Josephus nicht unbekannt gewesen sein dürfte, liest den hebräischen Text offenkundig im zuerst genannten Verständnis, denn sie gibt פרעdurch ἀποκαλύπτειν (enthüllen) wieder,25 ohne freilich zu präzisieren, was zur Enthüllung des Kopfes weggenommen wird: die Kopfbedeckung oder, was ebenfalls möglich wäre, das Haar. Philo und Josephus jedenfalls entscheiden diese Frage im Sinne einer Kopfbedeckung, die zu ihrer Zeit für jüdische Frauen damit relativ unumstritten gewesen sein dürfte. Probleme bereitet jedoch V. 4, will man die pln Argumentation mit dem Bemühen erklären, jüdische Konventionen durchzusetzen. Denn die Vorschriften für Priester etwa im Buch Levitikus (Lev 8,9.13; 16,4) oder bei Ezechiel (Ez 44,18) schreiben eine Kopfbedeckung bei kultischen Verrichtungen vor, Bestimmungen, die am Jerusalemer Tempel z. Zt. der Entstehung von 1Kor selbstverständlich noch
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Vgl. Philo, Spec.Leg. 3,56: καὶ τοὐπίκρανον ἀ?ελών; Jos. Ant. 3,270: καὶ τῆς κε?αλῆς τὸ ἱμάτιον ἀ?ελών. Mit ἐπίκρανον wählt Philo einen semantisch ganz offenen Begriff, der alles bezeichnen kann, was sich auf dem Kopf befindet. Dagegen spezifiziert Josephus die Kopfbedeckung als Teil des Himations, das auf dem Kopf aufliegt. Vgl. besonders L. Koehler, W. Baumgartner, Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament Lieferung III, 3. neubearbeitete Auflage Leiden 1983, 912f; ferner T. Kronholm, Art. ערפּ, ערפּ, ThWAT 6 (1989) 757–760, hier: 758. Vgl. Num 5,18 LXX: καὶ ἀποκαλύψει τὴν κε?αλὴν τῆς γυναικός.
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praxisrelevant waren.26 Die rabbinischen Belege sind zwar aufgrund ihrer schwierigen Datierung methodisch für die neutestamentlichen Schriften nur mit äußerster Vorsicht heranzuziehen.27 Doch runden sie zumindest das Bild ab, da sie wenigstens für die nachfolgende Zeit bezeugen, daß auch der nichtpriesterliche jüdische Mann die Verhüllung des Kopfes im Synagogengottesdienst kannte.28 Daher dürfte sich also auch die Vermutung, Paulus trete in 1Kor 11,4–6 für die Akzeptanz jüdischer Konventionen ein, als haltlos erweisen, denn selbst wenn V. 4 vermutlich nur als fiktive Entsprechung zu V. 5a dient, hätte Paulus unter diesen Umständen die Kraft seiner Argumentation doch erheblich geschwächt.
3. Die Verweigerung einer geordneten Haartracht als Anlaß der paulinischen Intervention So ist jetzt also zu überprüfen, ob die Haartrachthypothese eine plausible Erklärung für die paulinische Intervention in 1Kor 11,2–16 bietet. Sie geht davon aus, daß die Schande verursachende Herrichtung des Kopfes bei den Männern das herabwallende lange Haar meint, bei den Frauen aber das aufgelöste Haar, das im Unterschied zur geordnet aufgesteckten Frisur keine verhüllende Funktion besitzen soll. Als Hauptzeuge für diese Interpretation von V. 5a wird dabei auf Lev 13,45 LXX verwiesen. Nur an dieser Stelle ist das Adjektiv „unverhüllt“ (ἀκατακάλυπτος) in der LXX belegt und dabei noch auf „Kopf“ (κε:αλή) bezogen. Der Kontext des Belegs sind die Reinheitsgesetze Lev 11–15, und konkret geht es in Lev 13,45 um die äußere Stigmatisierung eines Aussätzigen, durch die er von den Gesunden abgesondert werden soll. In 13,45a erfolgen zwei Bestimmungen über die Kleidung und die Herrichtung des Kopfes. Dabei fordert der hebräische Text das Tragen eingerissener Kleider und – erneut unter Verwendung der Wurzel – פרעfrei herabhängender, zerzauster Haare.29 Die LXX spricht dagegen vom Entfernen der Kleider und davon, daß der Kopf unverhüllt (ἀκατακάλυπτος) sei.30 Wie schon in Num 5,18 liest sie also das hebräische Verb in der Bedeutung „entblößen“ und überträgt diesen Sinn 26 27
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Weitere Belege bei Blattenberger, Rethinking (s. Anm. 2), 44f. Vgl. dazu K. Müller, Zur Datierung rabbinischer Aussagen, in: Neues Testament und Ethik. FS Rudolf Schnackenburg, Freiburg, Basel, Wien 1989, 551–587. Bill. IV/1, 149–151 verweisen etwa auf das Amt des Vorbeters, das jeder männliche Israelit ausüben durfte, sofern er das Gebetsritual beherrschte. Bei der Ausübung seiner Funktion hatte er sich in einen Gebetsmantel zu hüllen. So heißt es bRH 17b: „Jahve zog an ihm vorüber und rief: Jahve, Jahve ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue Ex 34,6 R. Jochanan (gest. 279) hat gesagt: Wenn die Schriftstelle nicht geschrieben stände, würde man es nicht sagen dürfen. Sie lehrt, daß Gott sich (in den Gebetsmantel) einhüllte wie der Vorbeter“ (a.a.O. 151, Anm. k.). Lev 13,45a (MT): רוּעה פיgה יואשרfl וnמרgיוּ פgהי Lev 13,45a (LXX): τὰ ἱμάτια αὐτοῦ ἔστω παραλελυμένα καὶ ἡ κε?αλὴ αὐτοῦ ἀκατακάλυπτος.
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offenkundig auch auf die Kleiderbestimmung. Damit tritt in der LXX der Vorgang der Entblößung an die Stelle der ästhetischen Verunstaltung von Kleidung und Kopf, auf die die Forderungen im hebräischen Text abheben. Angesichts dessen verliert das Argument an Überzeugungskraft, Lev 13,45 LXX belege, daß das griechische Adjektiv ἀκατακάλυπτος auch die lose herabhängenden Haare bezeichnen könne.31 Vielmehr deutet die Wortwahl im Griechischen zunächst einmal ganz wörtlich auf das Wegnehmen von etwas Verhüllendem. Dabei bleibt jedoch offen, worin konkret das Entblößen des Hauptes besteht. Ist es in exakter Entsprechung zu den Kleidern das Entfernen einer textilen Bedeckung oder ist es analog hierzu das Entfernen der Haare als der natürlichen Kopfbedeckung? Damit ergibt sich also auch hier wieder die gleiche Unsicherheit wie in Num 5,18 LXX. Die Entfernung einer textilen Bedeckung scheint zwar vom griechischen Wortsinn her die näherliegende Erklärungsmöglichkeit zu sein. Doch sollte bedacht werden, daß das zugrundeliegende hebräische Verb פרעsich bei der Beschreibung einer Person auf das Haupthaar bezieht. In diesem Zusammenhang verdient Ez 44,20 besondere Beachtung. Im hebräischen Text findet sich hier folgende Anweisung zur Haartracht der Priester: „Ihre Köpfe sollen sie nicht entblößen, und ihr volles Haupthaar sollen sie nicht hängen lassen, sie sollen ihre Köpfe (= Kopfhaar) exakt stutzen.“32 Gegen die Extreme einer Kahlrasur und einer lang herabwallenden Mähne wird also die Forderung nach einer gepflegten Kurzhaarfrisur erhoben. Diese Stelle übersetzt die LXX wiederum mit deutlich interpretierender Tendenz.33 Der antithetische Parallelismus der beiden ersten Zeilen wird in einen synonymen Parallelismus verwandelt, der sich in seinen beiden Teilen gegen eine Kahlrasur wendet: „Ihre Köpfe sollen sie nicht kahlrasieren, und ihre Haare sollen sie nicht entfernen.“ Dem wird positiv die Forderung gegenübergestellt: „Sorgfältig sollen sie ihre Köpfe verhüllen (καλύπτοντες καλύψουσιν τὰς κε:αλὰς αὐτῶν)34.“ Im Kontext der beiden vorausgehenden Verbote kann sich die Formulierung an dieser Stelle wohl nur auf die Haare, nicht aber auf eine textile Kopfbedeckung beziehen. Als Zwischenergebnis ist also festzuhalten: Die Bedeutung „gelöstes/frei herabhängendes Haar“ für das Syntagma ἀκατακαλύπτῳ τῇ κε:αλῇ in 1Kor 11,5a 31 32
33
34
Gegen Schrage,1. Korintherbrief (s. Anm. 6), 494.507; Hurley, Paul (s. Anm.10), 198. Ez 44,20 (MT) לּחוּגflא י לnאשרflו חוּלּשflא יע לרוּפ nיהאשרzתמוּ אgסgכ יnסוכּ Vgl. dazu auch T. Kronholm, Art. ערפּ, ערפּ, ThWAT 6 (1989) 757–760, hier: 760. Ez 44,20 (LXX): καὶ τὰς κε?αλὰς αὐτῶν οὐ ξυρήσονται καὶ τὰς κόμας αὐτῶν οὐ ψιλώσουσιν καλύπτοντες καλύψουσιν τὰς κε?αλὰς αὐτῶν Die Figura etymologica impliziert eine Verstärkung des Ausdrucks und dient zur Wiedergabe der Konstruktion mit dem Inf. absolutus im hebräischen Text, vgl. dazu auch R. Helbing, Die Kasussyntax der Verba bei den Septuaginta. Ein Beitrag zur Hebraismenfrage und zur Syntax der Κοινή, Göttingen 1928, 88–92, bes. 91.
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kann nicht mit Lev 13,45 LXX belegt werden. Vielmehr bezeichnet diese Stelle wie auch Num 5,18 LXX die Entfernung von etwas den Kopf Verhüllendes, das nicht näher spezifiziert wird. Daß es sich dabei nicht zwangsläufig um eine textile Kopfbedeckung handeln muß, nur weil jeweils Wortbildungen vom Stamm καλυπτgewählt sind, belegt Ez 44,20 LXX, wo derselbe Verbalstamm die verhüllende Funktion der Haare beschreibt. Im Textzusammenhang geprüft, gerät die These erst recht ins Wanken, bei der von Paulus abgelehnten Haartracht der Frauen handele es sich um gelöstes, frei herabwallendes Haar. Bei dieser Interpretation nämlich hebt die Gegenüberstellung von „etwas vom Kopf herab habend“ und „mit unverhülltem Kopf“ den für den Text grundlegenden Gegensatz zwischen Mann (V. 4) und Frau (V. 5a) auf. Denn das auf den Mann bezogene Syntagma bezeichnet in diesem Fall ja auch das lang herabwallende Haar. Dies gilt selbst dann, wenn man eine gewisse Asymmetrie zwischen den Gegensätzen zugesteht, insofern das kritisierte Faktum bei den Männern auf die Haarlänge abhebt, bei den Frauen aber auf die Haarordnung. Sobald man nämlich bei der Haarordnung zwischen lose und gebunden unterscheiden kann, ist langes Haar vorausgesetzt. Umgekehrt impliziert unter dem Aspekt der Haarlänge eine Langhaarfrisur in sich die Varianten „lose“ und „gebunden“. Faktisch wird freilich selbst unter der Voraussetzung einer Asymmetrie zwischen den Gegensätzen bei Mann und Frau gleichermaßen dasselbe „Phänomen“ kritisiert, nämlich langes, offen getragenes Haar. Dann fällt aber auch der antithetische Bezug der V. 4.5a dahin, der durch die wechselseitige Vertauschung der charakteristischen Geschlechtsrollensymbolik gegeben ist. Denn nur für den Mann, der mit lang herabwallendem Haar betet oder prophezeit, läßt sich behaupten, daß er auf die weibliche Geschlechtsrollensymbolik zurückgreift. Dagegen läßt sich umgekehrt das gelöste lange Haar der Frauen gerade nicht als männliches Geschlechtsrollensymbol bewerten. Die gängige Erklärung der Haartrachthypothese zugrundegelegt, verliert also der antithetische Parallelismus der V. 4.5a seine Funktion. Dies dürfte aber kaum die Verfasserintention treffen, da Paulus in den V. 14.15a einen weiteren antithetischen Parallelismus bildet, wiederum mit der Hauptopposition Mann vs Frau.
4. Modifikation der Haartrachthypothese Die bisher vorgetragenen Überlegungen empfehlen einerseits, den Anlaß der paulinischen Intervention im Bereich der Haartracht zu suchen. Andererseits haben sie jedoch auch die Schwierigkeiten aufgedeckt, die die These der Verweigerung einer geordnet aufgesteckten Frauenfrisur in sich birgt. Angesichts dessen empfiehlt sich
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der Versuch, die Haartrachthypothese zu modifizieren. Hierfür erscheint es sinnvoll, verstärkt auf die enge semantische und thematische Verflechtung der V. 4f und 14f zu achten. In den V. 14.15a steht ohne Zuspitzung auf den gottesdienstlichen Bereich die unterschiedliche Bewertung langen Haares bei Mann und Frau im Mittelpunkt. Wenn ein Mann langes Haar trägt, ist es für ihn eine Schande (V. 14). Wenn eine Frau dagegen langes Haar trägt, ist es für sie eine Ehre (V. 15a). Diese Feststellung wird für die Frau noch eigens begründet: „Denn das lange Haar ist ihr anstelle einer Hülle gegeben“ (V. 15b). Der jeweilige Umkehrschluß wird dagegen nicht eigens gezogen. Er lautete: Wenn ein Mann kurzes Haar hat, ist es für ihn eine Ehre (zu V. 14); wenn aber eine Frau kurzes Haar hat, ist es für sie eine Schande (zu V. 15a), denn dann fehlt ihr die Hülle, sie ist also unverhüllt (zu V. 15b). Bezieht man nun die Aussagen der V. 14f auf die V. 4f, ergibt sich folgende Aussagestruktur: Das allgemeine Urteil der Schande über den Mann in V. 14 („eine Schande für ihn“) gilt auch für den Bereich des Gottesdienstes in V. 4 („er beschämt sein Haupt“), weil hier wie dort die Voraussetzung das lange Haar des Mannes ist („wenn er langes Haar trägt“ V. 14; „etwas vom Kopf herab habend“ V. 4). Dagegen differieren die Voraussetzungen der Aussagen über die Frau zwischen V. 5a und V. 15a. V. 15a geht davon aus, daß die Frau langes Haar besitzt und leitet daraus das Urteil der Ehre ab. V. 15b begründet dies noch mit der verhüllenden Funktion langer Haare. V. 5a setzt dagegen voraus, daß die Frau gottesdienstliche Funktionen mit „unverhülltem“ Kopf ausübt und spricht darüber das Urteil der Schande. Setzt man also die V. 5a.15 zueinander in Beziehung, so läßt sich V. 5a als Umkehrschluß zu V. 15 verstehen: Ist langes Haar aufgrund seiner verhüllenden Funktion eine Ehre für die Frau,35 dann kann der „unverhüllte Kopf“ in V. 5a, der Schande einträgt, im Argumentationsgang des Textes wohl kaum etwas anderes bezeichnen als eine Kurzhaarfrisur, denn eine solche war gemäß der zeitgenössischen Geschlechtsrollensymbolik allein den Männern vorbehalten.36 In diesem Sinne37 ist m.E. die Hypothese der Haartracht zu modifizieren.38 35
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Dabei müssen sich freilich die Vertreter der gängigen Haartrachthypothese zu 1Kor 11,2–16 fragen lassen, weswegen offen getragenes langes Haar diese Funktion nicht ebensogut erfüllen sollte wie das aufgesteckte lange Haar. Dies gilt für den römisch-hellenistischen Kulturraum, ebenso aber auch für den jüdischen, vgl. MurphyO’Connor, Sex (s. Anm. 6), 486; Blattenberger, Rethinking (s. Anm. 2), 52–55. Diese Variante der Haartrachthypothese bevorzugen ebenfalls Martin, ICorinthians (s. Anm. 10), 233 und Blattenberger, Rethinking (s. Anm. 2) 66. Versteht man die Verben ξυρᾶσ=αι und κείρασ=αι in der hier vorgeschlagenen Weise, wonach κείρασ=αι (= die Haare scheren lassen, d.h. kurz schneiden lassen) im Kontext ganz unter den semantischen Einfluß von ξυρᾶσ=αι (= kahlrasieren lassen) gerät und seiner Verstärkung dient (vgl. o. S. 162f), entfällt auch das von Murphy-O’Connor, Sex (s. Anm. 6), 487–488 und Delobel, Interpretation (s. Anm. 8 ), 372 vorgebrachte Argument gegen die Kurzhaarhypothese. Da nämlich Murphy-O’Connor und Delobel den engen Bezug der beiden Verben übersehen,
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Legt man nun das hier vorgeschlagene Verständnis zugrunde, dann funktioniert auch die Opposition in den V. 4.5a wieder. Der Kurzhaarfrisur der Frau, die sich damit eines männlichen Geschlechtsrollensymbols bedient, tritt beim Mann das dem Bereich weiblicher Geschlechtsrollensymbolik zugewiesene lange Haar gegenüber.39 Die hier vorgetragene Lösung hat allerdings die Schwierigkeit, daß die im Rahmen der kulturge-
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ergibt sich für sie unter Voraussetzung der Kurzhaarhypothese aus V. 6a ein Widerspruch: „Wenn nämlich eine Frau sich nicht verhüllt, d.h. kurzes Haar trägt, soll sie sich auch scheren, d.h. die Haare kurz schneiden lassen.“ Damit stellte V. 6 eine sinnlose Tautologie dar. Auch Blattenberger, Rethinking (s. Anm. 2), 66, Anm. 11 sieht darin eine Schwierigkeit für die von ihm favorisierte Erklärung von 1Kor 11,5a mit Hilfe der Kurzhaarfrisur. Beachtet man aber den semantischen Kontext der V. 5b–6b insgesamt, so zielt Paulus auf die Gleichsetzung einer (Männern vorbehaltenen) Kurzhaarfrisur von Frauen mit der entehrenden Totalentfernung der Haare (Glatze) durch eine Kahlrasur. Eine andere Lösung der Problematik von V. 6 im Rahmen der Kurzhaarhypothese bietet Martin, ICorinthians (s. Anm. 10) an. Er betont die differenzierte Verwendung von Imperativ Aorist (in 1Kor 11,6: κειράσ=ω) und Imperativ Präsens (in Kor 11,6: κατακαλυπτέσ=ω) im Griechischen (vgl. a.a.O. 234– 238) und leitet daraus folgende Paraphrase von 1Kor 11,6 ab: Wenn eine Frau unverhüllt ist (d.h. kein langes Haar hat), dann soll ihr Haar geschoren bleiben für die gegebene Zeit (punktuell); da es aber eine Schande für die Frau ist, geschoren oder kahlrasiert zu sein, soll sie verhüllt werden (d.h. soll ihr Haar erneut wachsen) (inchoativ) (vgl. a.a.O. 238–239). Im Unterschied zur hier vertretenen Erklärung von 1Kor 11,6 (vgl. o. S. 162f) muß Martin für die dort gegebene Anweisung einen ganz konkreten, eingegrenzten Kreis von Frauen als Adressatinnen postulieren: Frauen, die religiös und gesellschaftlich verachtet waren (z.B. Dirnen) und deshalb geschorenes Haar trugen, denen man aber nach ihrer Konversion nicht so lange den Zugang zum Gottesdienst verweigern wollte, bis ihr Haar nachgewachsen war (a.a.O. 238). Abgesehen davon, daß Paulus keinen eingegrenzten Adressatenkreis im Blick hat – in 11,4.5 spricht er ausdrücklich πᾶς ἀνήρ und πᾶσα γυνή an –, scheitert die Interpretation von Martin auch an V. 5b, wo die Adressatinnen gerade mit Frauen aus der Klasse der Geschorenen verglichen werden, also doch wohl nicht mit ihnen identisch sind! In diesem Zusammenhang sei noch einmal kurz an Ez 44,20 LXX erinnert. Wie der Übersetzer der LXX schreibt auch Paulus dem Haar in 1Kor 11,15 eine verhüllende Funktion zu. Gerade der Vergleich zwischen beiden Stellen läßt jedoch sehr schön erkennen, wie sich die jeweilige Rollensymbolik in der Verwendung der Begriffe auswirkt. Wird der vom Priester geforderten Kurzhaarfrisur eine verhüllende Funktion zugeschrieben, so kann bei einer Frau diese Funktion nur das lange Haar erfüllen. Durch eine Kurzhaarfrisur dagegen wird ihr Kopf seiner Hülle beraubt, sie selbst aber damit einer Kahlrasierten gleichgestellt. Dieses gilt es sich je nach Verständnis der Präposition κατά als herabwallend oder aufgesteckt vorzustellen. Unabhängig jedoch davon, wie der Präpositionalausdruck interpretiert wird, zielt die Antithese der V. 4.5a jeweils auf eine von Paulus beanstandete Aufhebung bzw. Vertauschung der Geschlechtsrollensymbolik bei Mann und Frau. Dabei deutet die Fortführung des Textes (vgl. V. 5b.6.10.13), wie bereits erwähnt, darauf hin, daß den V. 4.5a nur eine aktuelle Praxis bei den Frauen zugrundeliegen dürfte, während die antithetischen Aussagen über die Männer dazu die der Argumentation dienende fiktive Entsprechung bilden. Ist dies richtig beobachtet, so ist die Variante mit „etwas auf dem Kopf haben“ zur Bezeichnung des hochgesteckten langen Haares bei Männern noch provokanter als die Alternative des lang herabwallenden Haares. Denn langes, offenes getragenes Haar war bei Männern im römisch-hellenistischen Kulturraum des 1. Jhds. n.Chr. zwar nicht üblich (vgl. H. Blanck, Einführung in das Privatleben der Griechen und Römer, Darmstadt 21996, 83) und gesellschaftlich auch nicht akzeptiert (vgl. H. Herter, Art. Effeminatus, RAC 4 (1959) 620–650, hier: 632), was die Voraussetzung für die rigorose Aussage in V. 14 bildet, kam jedoch bisweilen durchaus vor. Dagegen war das hochgesteckte lange Haar ausschließlich Frauen vorbehalten. In der Anstößigkeit würde daher gerade diese Variante der männlichen Kurzhaarfrisur bei den korinthischen Frauen entsprechen. M. E. wahrscheinlicher ist jedoch, daß Paulus mit dem Präpositionalausdruck in V. 4 das lang herabwallende Haar beim Mann bezeichnen will. Dies korrespondiert auch eleganter mit V. 14.
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schichtlichen Erwägungen bemühten Quellen allesamt das Syntagma κατὰ (τῆς) κε-αλῆς (ἔχων) als auch καλύπτεσ1αι und seine Derivate im Zusammenhang einer textilen Kopfbedeckung verwenden. Verschiedentlich findet sich sogar die explizite Verbindung mit τὸ ἱμάτιον oder ἡ περιβολή (so etwa Dionysius Halicarnassus, Ant. 3,71,5; 12,16,4; Plutarch, Caes. 66,12; Pomp. 40,4; Mor. 200E. 267C u.ö.). Damit steht der übliche Sprachgebrauch zunächst gegen die Interpretation von κατὰ κε-αλῆς ἔχων vs ἀκατακαλύπτῳ τῇ κε-αλῇ als Lang- vs Kurzhaarfrisur. Angesichts der deutlichen Probleme, die die Kopfbedeckungshypothese jedoch, wie aufgezeigt, gerade vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund mit sich bringt, ist aber zu erwägen, ob Paulus den semantischen Aspekt der Verhüllung, der seiner Wortwahl in 1Kor 11,4–6.13 eigen ist, nicht im übertragenen Sinn für die Haare verwendet. Dies wäre zwar gewiß außergewöhnlich, jedoch nicht unmöglich. Einen Anhaltspunkt für solch metaphorische Verwendung fand er zumindest in Ez 44,20 LXX. Zudem unterstützt auch 1Kor 11,15 die Vermutung einer metaphorischen Redeweise, denn hier spielt Paulus explizit auf die verhüllende Funktion der weiblichen Langhaarfrisur an. Gerade der Aspekt der Verhüllung der Frau bzw. der Nichtverhüllung des Mannes ist aber für seine schöpfungstheologische Argumentation in 1Kor 11,7 (vgl. auch V. 3) zentral. Das entscheidende, geschlechtsrollenspezifische Kriterium der Verhüllung der Frau konnte Paulus aber dabei, anders als in dem jüdischen Kontext, in dem er aufgewachsen war (obligatorische Kopfbedeckung für Frauen), in der primär heidenchristlichen Gemeinde des römisch-hellenistisch geprägten Korinths nur durch das gesellschaftlich akzeptierte Geschlechtsrollensymbol der Langhaarfrisur gewahrt sehen. Ein Mißverständnis seiner ungewöhnlichen Wortwahl mußte er dabei nicht fürchten, da den Adressatinnen und Adressaten der konkrete Anlaß seiner Intervention in 1Kor 11,2–16 präsent war.
Diesen Anlaß nun in der Entscheidung der weiblichen Gemeindemitglieder in Korinth für eine männliche Kurzhaarfrisur zu sehen, bietet im Vergleich zur Hypothese einer Kopfbedeckung den Vorteil, daß sie keinen semantischen Bruch zwischen den V. 4–6 und 13–15 annehmen muß.40 Im Unterschied zur üblicherweise vertretenen Haartracht-Hypothese beachtet die hier vorgetragene Modifikation, daß Paulus im Streit um die Aufhebung der Geschlechtsrollensymbolik selbst die im Kontext entscheidenden Geschlechtsrollensymbole benennt: Mann – kurzes Haar/ Frau – langes Haar (V. 14.15a). Auf der Argumentationsebene des Textes geht es
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Einen solchen Bruch vermag freilich Delobel, Interpretation (s. Anm. 8), 373 überhaupt nicht zu entdecken, da er das Verhältnis zwischen den V. 4–6.13 und V. 14–15 als Analogie bestimmt: „According to Paul, men have ‚naturally‘ short hair, and they should behave in that line as far as their head is concerned. That may mean that they should keep the head uncovered like nature leaves the head uncovered. Women have ‚naturally‘ long hair, and they also should behave in that line by keeping the head covered: they need a περιβόλαιον in line with nature’s own hint.“ (Ähnlich D. R. MacDonald, Corinthian Veils and Gnostic Androgynes, in: K. L. King, Images of the Feminine in Gnosticism, Philadelphia 1988, 276–292, hier: 280.) Gegen diese Interpretation im Sinne einer Analogie spricht aber zunächst, daß die von Paulus in V. 15 gewählte Formulierung den Frauen, deren Verhalten ja im gesamten Text im Zentrum der Debatte steht, kein περιβόλαιον anzulegen empfiehlt, weil bereits die Natur eine solche Empfehlung durch die langen Haare ausspricht. Vielmehr heißt es, daß die langen Haare selbst der Frau ἀντὶ περιβολαίου, d.h. als bzw. anstelle eines Umhangs gegeben sind. Den langen Haaren wird also schon die verhüllende Funktion zugesprochen, so daß eine zusätzliche Kopfbedeckung entbehrlich scheint, vgl. dazu auch Schrage, 1. Korintherbrief (s. Anm. 6), 494. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, wie ein solches Analogieargument mit der Natur überzeugen soll, wenn schon die Aussagen in den V. 4f.13 – bezieht man sie auf die Kopfbedeckung – der gesellschaftlichen Erfahrungswelt ihrer Adressaten und Adressatinnen nicht entsprechen
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also nicht darum, in welcher Form eine Frau ihre langen Haare trägt, sondern viel grundsätzlicher, daß sie sie überhaupt trägt und damit das frauenspezifische Geschlechtsrollensymbol für sich akzeptiert. Denn eine Kurzhaarfrisur war für geachtete Frauen undenkbar.41 Vielmehr definierte sie geradezu den Mann, wie etwa Plutarch (Mor. 267B) für den griechischen und Phaedrus (Fab. 54, 24–33, bes. 27.) für den lateinischen Sprachbereich belegen.42 Entsprechend galt kurzes Haar bei Frauen im allgemeinen als Indiz sexueller Perversion und war gesellschaftlich geächtet.43 Sueton berichtet in seinen Kaiserviten sogar von einer drastischen Strafmaßnahme des Augustus gegen einen Schauspieler, weil dieser sich von einer Frau mit Männerfrisur sein Essen servieren ließ (Aug. 45,4). Vor diesem kulturellen Hintergrund wird dann auch der Vergleich mit einer Kahlrasierten in V. 5b verständlich. Gleiches gilt für die anschließende Aufforderung des Paulus, sie solle dann auch konsequenterweise den letzten Schritt tun und sich dieser Schande des Scherens aussetzen (V. 6). Eine solch harsche Reaktion wirkte andererseits überzogen, sofern nur die Frage einer Kopfbedeckung oder einer bestimmten Weise, das lange Haar zu tragen, zur Debatte stünde. Wie aber kamen Frauen der korinthischen Gemeinde dazu, sich entgegen allen gesellschaftlichen Konventionen sowohl im heidnischen wie auch im jüdischen
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Vgl. dazu mit zahlreichen Quellentexten M. Küchler, Schweigen, Schmuck und Schleier (NTOA 1), Fribourg, Göttingen 1986, 79–82. Umgekehrt erregte langes Haar bei Männern bereits oft den Verdacht homosexueller Neigungen (vgl. PsPhocylides 210; Horaz, Epod. 11,28; Petronius 119,24.27 Martial, Epigr. 12,97; Iuvenal 2,96; Plutarch, Mor. 261F u.ö.), vgl. Herter, Effeminatus (s. Anm. 36), 632. Gegen diesen eindeutigen Quellenbefund aus dem römisch-hellenistischen Kulturkreis z. Zt. der ausgehenden Republik und der frühen Kaiserzeit und zugleich gegen die unmißverständliche Aussage von 1Kor 11,14 besteht Baumert, Antifeminismus (s. Anm. 10), 61–62 darauf: „Lange Haare beim Mann galten also nicht als Schande“ (Zitat ebd. 62). Um diese Auffassung durch Paulus stützen zu lassen, muß er freilich κομᾶν in den V. 14.15 mit jeweils unterschiedlichen semantischen Akzentuierungen versehen (V. 14: „sich mit dem Haar beschäftigen, damit prunken“; V. 15: „das Haar lang fallen lassen“) (ebd. 56). Diese unterschiedliche Akzentuierung dürfte angesichts der streng parallelen Form der Verse wohl kaum der Intention des Paulus entsprechen, da er nicht erwarten konnte, daß seine Adressaten die differenzierende Nuancierung von κομᾶν tatsächlich rezipierten. Schließlich ist es auch bezeichnend, daß Baumert den für seine Interpretation schwierigen V. 15b einfach gegen den überlieferten Wortlaut paraphrasiert: „denn das Haar ist (von Natur aus allen Menschen [sic!]) als Decke (Schutz) gegeben“ (ebd. 56). Selbst wenn man sich seinem Urteil anschließt und aus V. 15b das auf γυνή bezogene Dativobjekt αὐτῇ textkritisch eliminiert (mit Þ46, D, F, G und dem Mehrheitstext, allerdings gegen א, A und B) (vgl. ebd. 77–78), kann aufgrund der Opposition ἀτιμία (V. 14) vs δόξα (V. 15a) und aufgrund des antithetisch-semantischen Bezuges zwischen dem als unschicklich bzw. schändlich bezeichneten „unverhüllten“ Zustandes der Frau (V. 5a.13: ἀκατακάλυπτος) und der „Hülle (περιβόλαιον) die Aussage von V. 15b sinnvoll nur auf die Frau, nicht aber auf Mann und Frau bezogen werden. Küchler, Schweigen (s. Anm. 41), 79–81 erwähnt als Ausnahmen Zwangslagen im Krieg oder Preisgabe des Haares aus Liebe, um etwa dem Mann in die Verbannung oder in den Krieg folgen zu können, schließlich auch die Kurzhaarfrisur als Trick, um eine nur Männern vorbehaltene Ausbildung zu absolvieren. Plutarch, Mor. 267B nennt für Griechenland den Brauch, daß Frauen sich als Ausdruck der Trauer die Haare abschneiden.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
Kulturbereich eine Männern vorbehaltene Kurzhaarfrisur zuzulegen? Hintergrund dürfte die urchristliche Tradition sein, die Paulus in Gal 3,27f zitiert: „Die ihr nämlich auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Da ist nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Sklave noch Freier, nicht mehr männlich und weiblich: Ihr alle nämlich seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,27f). Diese Tradition betont die neue Identität, die die Christen durch ihre Taufe in Christus Jesus gewonnen haben und aufgrund derer alle religiösen, sozialen und geschlechtlichen Unterschiede ihre Bedeutung verlieren.44 Diese Tradition dürfte auch in der korinthischen Gemeinde nicht unbekannt gewesen sein. Darauf deuten jedenfalls 1Kor 7,17–24 und 12,13 hin. An diesen Stellen finden sich nämlich deutliche Anspielungen auf die Tradition von Gal 3,27f. Dabei werden jedoch jeweils nur die beiden ersten Gegensatzpaare „Jude/Grieche“ und „Sklave/Freier“ aufgegriffen. Die Aufhebung ihrer Relevanz im Gemeindeleben war offenbar unumstritten, so daß sie deshalb von Paulus auch argumentativ eingesetzt werden konnten. Gerade der Kontext von 1Kor 7 deutet aber darauf hin, daß das Bewußtsein des „nicht mehr männlich und weiblich“ prinzipiellere Schlußfolgerungen aus sich entließ als die Konsequenz, daß die geschlechtlichen Unterschiede bedeutungslos für Stellung und Funktion in der Gemeinde wurden. Die asketischen Tendenzen, die aus der korinthischen Überzeugung in 7,1b ersichtlich werden,45 ließen sich mit der Überzeugung des „nicht mehr männlich und weiblich“ glänzend begründen: Wenn nämlich in der durch Jesus Christus begründeten Erlösungsordnung die geschlechtliche Differenzierung ihre Bedeutung verloren hat, ist damit die Schöpfungsordnung, die diese Differenzierung begründet, aufgehoben. Jede sexuelle Begegnung zwischen Mann und Frau, die die schöpfungsmäßige Differenzierung nur bestätigt, hat diesem Denken zufolge also keinen Platz in der Erlösungsordnung und ist daher abzulehnen.46 In den
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Gal 3,27f als Hintergrund für die sich in 1Kor 11,2–16 widerspiegelnde Kontroverse zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde vermuten u.a. auch Wilson, Women (s. Anm. 6), 447; Meier, Veiling (s. Anm. 7), 217; Blattenberger, Rethinking (s. Anm. 2), 14; Scroggs, Paul (s. Anm. 1), 291–293; Wolff, Brief (s. Anm. 8), 245–247; Klauck, 1. Korintherbrief (s. Anm. 10), 80. Einflüsse von Riten in Fruchtbarkeitskulten (z. B. Dionysoskult) vermutet etwa C. Kroeger, The Apostle Paul and the GrecoRoman Cult of Women, JETS 30 (1987) 25–38; ähnlich D. W. J. Gill, The Importance of Roman Portraiture for Head-Coverings in 1 Corinthians, TynBull 41 (1990) 245–260, bes.: 255–256. Einen gnostischen Hintergrund vermutet dagegen MacDonald, Veils (s. Anm. 40); kritisch dazu vgl. B. Brooten, Response to „Corinthian Veils and Gnostic Androgynes“ by Dennis Ronald MacDonald, in: K. L. King, Images of the Feminine in Gnosticism, Philadelphia 1988, 293–296. Zur Deutung von 1Kor 7,1b als korinthische Parole vgl. H. Merklein, „Es ist gut für den Menschen, eine Frau nicht anzufassen“. Paulus und die Sexualität nach 1Kor 7, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 385–408, bes. 389–391; Schrage, 1. Korintherbrief (s. Anm. 6), 59–60; Scroggs, Paul (s. Anm. 1), 295–296. Vgl. H. Merklein, Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie. Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteiligung von Frauen in paulinischen Gemeinden, in: Eschatologie und Schöpfung. FS Erich Gräßer, Berlin/New York 1997, 231–259, hier: 235.
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Horizont eines solchen Denkens, das sich einer „prinzipiell-innovatorische(n) Interpretation“ von Gal 3,28 verdanken dürfte,47 fügt sich auch hervorragend das Verhalten der korinthischen Frauen.48 Vor diesem Hintergrund geht die hier vertretene Deutung im Unterschied zu den bisherigen Interpretationsangeboten davon aus, daß die Frauen mit ihrer Entscheidung für eine Kurzhaarfrisur nicht nur ein typisch weibliches Geschlechtsrollensymbol ablehnten, sondern darüber hinaus sich bewußt für ein typisch männliches Geschlechtsrollensymbol entschieden, wobei sie wohl bewußt den Bereich des Gottesdienstes überschritten. Aufgrund ihres Verständnisses der Tradition Gal 3,28 wollten sie mit ihrer Maßnahme, die sich eben nicht nach Beendigung des Gottesdienstes kurzfristig wieder rückgängig machen ließ, offenbar eine prinzipielle, nicht auf den gottesdienstlichen Raum beschränkte funktionelle Aufhebung der geschlechtlichen Unterschiede „in Christus“ sinnenfällig dokumentieren. Bezeichnend ist freilich, daß sie dabei das „nicht mehr männlich und weiblich“ von Gal 3,28 als „nur noch männlich“ interpretierten. Dies allerdings ist verständlich innerhalb der patriarchal strukturierten Gesellschaft, in der sie lebten und damit auf der Seite der Unterprivilegierten standen. Denn gerade durch Angleichung an männliche Rollenvorgaben konnten die korinthischen Christinnen zu erkennen geben, daß sie nicht nur die geschlechtlichen Unterschiede, sondern auch ihre damit verbundene Unterprivilegierung durch ihre neue Identität „in Christus“ als überwunden betrachteten.
5. Die paulinische Argumentation gegen das Verhalten der Frauen Die Stellungnahme des Paulus wirkt auf den ersten Blick recht harsch und rigide. Doch ist es wichtig, sich zunächst einmal bewußt zu machen, worauf seine Argumentation zielt. So wird von ihm nicht in Frage gestellt, daß Männer und Frauen gleichermaßen im Gottesdienst beten und prophetisch reden (V. 4a.5a.13). Was die Umsetzung von Gal 3,28 im Blick auf eine gleichberechtigte Stellung und Funktion der Frauen in der Gemeinde betrifft, herrscht zwischen ihm und den Korinthern 47 48
Ebd. 234. Angesichts dieses asketisch geprägten Hintergrundes wird dann auch unwahrscheinlich, daß 1Kor 11,2– 16 sich gegen gleichgeschlechtliche Tendenzen in der korinthischen Gemeinde wenden soll (gegen C. K. Barrett, A Commentary on the First Epistle to the Corinthians, London 21971, 257; Murphy-O’Connor, Sex [s. Anm. 6], 490; Theißen, Aspekte [s. Anm. 4], 178–180; R. Scroggs, Paul and the Eschatological Women: Revisited, JAAR 42 (1974) 532–537, hier: 534). Im Unterschied zu textlich verifizierbaren libertinistisch begründeten heterosexuellen Ausschweifungen (vgl. 1Kor 5,1–13; 6,12–20) und asketischen Neigungen (vgl. 1Kor 7,1b) gibt es keinen Anhaltspunkt für homosexuelle Tendenzen in der Gemeinde. Und so muß auch Murphy-O’Connor, ebd. zugeben: „He (Paul, M. G.) had no evidence of homosexual practices, otherwise he would certainly have reacted in the same direct fashion as in the case of incest (5:1–13). Nonetheless the possibility worried him“ (Kursivsetzung M. G.).
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
zweifelsohne ein Konsens. Kontrovers wird dagegen offensichtlich beurteilt, wie bzw. genauer mit welcher Frisur Männer und Frauen beten und prophetisch reden. Während zumindest Teile der korinthischen Gemeinde eine weitergehende Umsetzung der in Gal 3,28 propagierten Aufhebung der geschlechtlichen Unterschiede durch eine Übernahme des männlichen Geschlechtsrollensymbols „Kurzhaarfrisur“ seitens der Frauen befürworten, besteht Paulus darauf, die Unterschiede in der Geschlechtsrollensymbolik zu wahren. Damit scheint das durch die funktionale Gleichstellung von Mann und Frau beim gottesdienstlichen Beten und Prophezeien durchbrochene patriarchalische Grundmuster von Über- und Unterordnung durch die Haltung des Paulus in der Frage der Geschlechtsrollensymbolik doch wieder bestätigt zu werden.49 Angesichts dessen gilt es, sich die V. 3.7–11, die den argumentativen Unterbau für die Entscheidung in der konkreten Fragestellung bilden, einmal genauer anzusehen. Bereits in 11,3 scheint das Schema Über- und Unterordnung durch die Verwendung des Begriffs „Haupt“ (κε:αλή) zum Ausdruck gebracht. Sofern nun aber „Haupt“ im Verständnis von „Oberhaupt“ bzw. „Herrscher“ hier die übergeordnete Stellung des Mannes gegenüber der Frau bezeichnen soll,50 ergibt sich die Schwierigkeit, daß diese Verwendung des Begriffs, die überwiegend im atl.-jüdischen Sprachraum belegt ist,51 stets die Herrschaft über eine Gruppe von Menschen zum Ausdruck bringt.52 Zudem will beachtet sein, daß die Aussage über das Verhältnis Mann/Frau eingebettet ist in zwei Aussagen über das Verhältnis Christus/Mann und 49
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Allerdings spricht 1Kor 11,2–16 ganz allgemein von Mann und Frau (vgl. V. 4: πᾶς ἀνήρ und V. 5a: πᾶσα γυνή) und bezieht sich nicht auf Ehepaare, vgl. L. Brun, „Um der Engel willen“ 1Kor 11,10., ZNW 14 (1913) 298–308, hier: 301; Conzelmann, Brief (s. Anm. 8), 224–225; Baumert, Antifeminismus (s. Anm. 10), 67; Schrage, 1. Korintherbrief (s. Anm. 6), 500–501; Wilson, Women (s. Anm. 6), 448–449; gegen u.a. Hurley, Paul (s. Anm. 10); Isaksson, Marriage (s. Anm. 10); V. Hasler, Die Gleichstellung der Gattin. Situationskritische Reflexionen zu 1Kor 11,2–16, ThZ 50 (1994) 189–200. Wenn Hasler sich sogar, bezogen auf 11,7, zu der Aussage versteigt: „Ehre und Würde des Mannes bestehen darin, dass Gott ihn erschaffen hat, die ganze Würde und Ehre der Frau darin, dass sie Gott zur Gattin erschaffen hat“ (ebd. 196, Kursivsetzung M. G.), so hat er offensichtlich 1Kor 7 aus den Augen verloren, wo Paulus ein deutliches Signal für eine Bevorzugung der Ehelosigkeit gibt. So etwa W. Grudem, Does ΚΕΦΑΛΗ („Head“) Mean „Source“ or „Authority over“ in Greek Literature? A Survey of 2.336 Examples, TrinJ 6 (1985) 38–59, bes. 56–57; ders., The Meaning of κε?αλή („Head“). A Response to Recent Studies, TrinJ 11(1990) 3–72; J.A. Fitzmyer, Another Look at ΚΕΦΑΛΗ in 1Corinthians 11.3, NTS 35 (1989) 503–511; ders., Kephale in I Corinthians 11:3, Interp. 47 (1993) 52–59. Vgl. H. Schlier, Art. κε?αλή, ἀνακε?αλαιόομαι, ThWNT 3 [o. J.] 672–682, hier: 674. Daß diese Bedeutung freilich im Profangriechischen gänzlich unbekannt ist (vgl. ebd. 673; vgl. auch S. Bedale, The Meaning of κε?αλή in the Pauline Epistles, JThS 5 [1954] 211–215, hier: 211; Delobel, Interpretation [s. Anm. 8], 377), ist inzwischen durch Fitzmyer, Kephale (s. Anm. 50), 54–55 widerlegt, der auch einige Belege außerhalb des alttestamentlich-jüdischen Sprachraums beibringen konnte. Dabei stehen die Belege bei Plutarch (Pel. 2,1; Cic. 14,6; Galba 4,3) zeitlich den paulinischen Briefen besonders nahe. Vgl. J. Weiß, Der erste Korintherbrief (KEK 5), Göttingen 91910, 269; Barrett, Commentary (s. Anm. 48), 248. Diesen Gruppenbezug bestätigen im übrigen die von Fitzmyer, Kephale (s. Anm. 50), 54–55 angeführten Belege ausnahmslos.
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Gott/Christus, also gleichsam christologisch gerahmt ist. Weiter führt es nun, wenn man V. 3 mit den V. 7–9 in Beziehung setzt und die Aussagen als aufeinander bezogen liest. Dies legt sich schon deshalb nahe, weil Paulus nach Einschärfung des Grundsatzes in V. 3 in den V. 4–6 zunächst die konkrete Problematik anspricht, bevor er sich in den V. 7–9 der argumentativen Begründung des Grundsatzes zuwendet und damit den Faden aus V. 3 wieder aufgreift.53 Im Rahmen dieser Argumentation greift er nun auf die beiden Schöpfungserzählungen von Gen 1 und 2 zurück, wobei er ganz entsprechend der zeitgenössischen frühjüdischen Auslegung dieser Texte Gen 1 (11,7) von Gen 2 (11,8f) her liest und so die Vorordnung des Mannes in der Schöpfung nachdrücklich sichert.54 Die Aussage in 11,8 („nicht nämlich ist der Mann aus der Frau, sondern die Frau aus dem Mann“) spielt auf die in Gen 2,21f geschilderte Erschaffung der Frau aus der Rippe Adams an, während 11,9 („und nicht nämlich wurde geschaffen der Mann wegen der Frau, sondern die Frau wegen des Mannes“) Gen 2,18 aufgreift, wonach die Frau als Hilfe für den Mann geschaffen wurde. Die beiden Verse halten also unter Berufung auf die jahwistische Schöpfungserzählung fest, daß die Frau entsprechend der schöpfungsmäßigen Grundlage dem Mann ihre Existenz verdankt und aus ihm ihr Sein hat.55 Im Argumentationsgang dienen sie der Begründung von V. 7, der auf die Aussage der Gottebenbildlichkeit des Menschen aus Gen 1,27 zurückgreift. Dabei fällt auf, daß die Differenzierung in der Geschlechtsrollensymbolik damit begründet ist, daß der Mann Bild (εἰκών) und Abglanz (δόξα) Gottes ist, die Frau aber Abglanz (δόξα) des Mannes. Spricht Paulus damit der Frau die Gottebenbildlichkeit ab und reserviert sie allein für den Mann? Dieser Schluß sollte nicht voreilig gezogen werden, denn legt man Ps 8,6f zugrunde,56 ist die δόξα, d.h. der Widerschein der göttlichen Herrlichkeit, auf einer Ebene mit εἰκών als Bezeichnung für die Gottebenbildlichkeit des Menschen zu sehen.57 Auch im paulinischen Sprachgebrauch bringt δόξα das Wesen Gottes zum Ausdruck, wie es in Schöpfung und Offenbarung erkannt werden kann (Röm 1,20.23).58 Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, daß der Frau in 1Kor 11,7 die Gottebenbildlichkeit nicht abgesprochen wird, auch wenn der Begriff „Bild“ auf den Mann beschränkt bleibt und der Widerschein der göttlichen
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Vgl. M. Gielen, Tradition und Theologie neutestamentlicher Haustafelethik. Ein Beitrag zur Frage einer christlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen (BBB 75), Frankfurt a.M. 1990, 251. Vgl. Murphy-O’Connor, Once Again (s. Anm. 10), 272. Vgl. Gielen, Tradition (s. Anm. 53 ), 251. „Du hast ihn (den Menschen) nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit (hebr. דוב ;כgr. δόξα) und Ehre (hebr. רד ;הgr. τιμή) gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt.“ Vgl. G. von Rad, Art. εἰκών, D. Die Gottesebenbildlichkeit im AT, ThWNT 2 (1935) 387–390, hier: 389–390. Vgl. H. Hegermann, Art. δόξα, EWNT 1,832–841, hier: 837.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
Herrlichkeit, der auch der Frau eigen ist, mittelbar über den Mann verläuft.59 Letzteres ist keine Qualitätsminderung der Gottebenbildlichkeit der Frau und damit eine Herabsetzung ihrer Würde, da Paulus von Gen 2 her argumentiert, wonach die Frau ja gerade Gebein vom Gebein und Fleisch vom Fleisch des Mannes, ihm also im Unterschied zu allen anderen Lebenwesen ebenbürtig ist (vgl. 1Kor 11,8 mit Gen 2,21–23). Vielmehr geht es Paulus im Kontext um die zeitliche Abfolge (der Mann wurde als erster geschaffen), woraus er die differierende Zuordnung der Geschlechter ableitet. Daß er dann aber darauf verzichtet, die Frau in Entsprechung zur Bezeichnung des Mannes als Bild und Abglanz Gottes auch explizit als Bild des Mannes zu bezeichnen, dürfte sich unschwer aus dem konkreten Anlaß seiner Ausführungen erklären, da angesichts der Bestrebungen der korinthischen Frauen, sich in ihrem Äußeren den Männern anzugleichen, dieser Ausdruck doch allzu sehr die Gefahr eines Mißverständnisses geborgen hätte. Hebt Paulus in 11,7–9 damit dezidiert auf die Erschaffung der Frau aus dem Mann ab, so ergibt sich von hier aus auch eine andere Verständnismöglichkeit der Haupt-Metapher in 11,3. So läßt sich vor dem erarbeiteten Hintergrund vom Mann sagen, daß er Haupt (κε:αλή) der Frau insofern ist, als in ihm – bezogen auf die Erschaffung des ersten Menschenpaares – die Existenz der Frau begründet ist, er also ihr Ursprung ist.60 Diese Bedeutung von „Haupt“, die sowohl Anknüpfungspunkte im profanen Griechisch61 wie auch im Bibelgriechisch der LXX62 hat, macht deutlich, daß es Paulus im Argumentationsduktus der V. 3.7–9 nicht so sehr um die Überordnung des Mannes über die Frau im Sinne eines Herrschaftsanspruchs geht.63 Dies stünde auch im Gegensatz zu der von ihm fraglos akzeptierten funktio59 60
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Vgl. dazu auch Schlier, Art. κε?αλή (s. Anm. 51), 678. Vgl. Schlier, Art. κε?αλή (s. Anm. 51), 678 zu 1Kor 11,3: „κε?αλή meint den, der über dem anderen in dem Sinne steht, daß er sein Sein begründet.“ Vgl. ferner Bedale, Meaning (s. Anm. 51), 214; Scroggs, Paul (s. Anm. 1), 298f, Anm. 41; Barrett, Commentary (s. Anm. 48), 248; Byrne, Paul (s. Anm. 8), 42. Vgl. R. S. Cervin, Does κε?αλή Mean „Source“ or „Authority over“ in Greek Literature? A Rebuttal, TrinJ 10 (1989) 85–112, bes., 89–91.112; Schlier, Art. κε?αλή (s. Anm. 51), 673. Vgl. Bedale, Meaning (s. Anm. 51), 212–213. Der semantische Gehalt von κε?αλή in 1Kor 11,3 kann also nicht losgelöst vom Kontext, in den das Wort eingebettet ist, bestimmt werden. (So auch A. C. Perriman, The Head of a Woman: The Meaning of ΚΕΦΑΛΗ in 1Cor. 11:3, JTS 45 [1994] 602–622, hier: 619.) Vielmehr konstituiert dieser Kontext den semantischen Gehalt grundlegend mit, wobei Paulus kreativ (vgl. nur das Wortspiel mit κε?αλή zwischen V. 3 und V. 4.5a) die ihm im Griechischen gebotenen Anknüpfungspunkte nutzt. Der Versuch, mit Hilfe der rein lexikographischen Methode für κε?αλή in 1Kor 11,3 die Bedeutung „Herrschaft“ bzw. „Autorität über“ zu sichern, wie dies Grudem in seinen Beiträgen (vgl. Anm. 50) versucht, muß aus zwei Gründen scheitern: Er übersieht zunächst den dezidiert protologischen Argumentationsduktus der V. 3.7–9, der für κε?αλή innerhalb der Aussagenreihe von V. 3 doch eher die Bedeutung „Ursprung“ nahelegt. Ferner setzt er – weitgehend unreflektiert – voraus, daß 1Kor 11,2–16 auf die konkrete Relation der Ehe bezogen ist. Da Paulus aber in 1Kor 11,2–16 nicht Ehemann und Ehefrau im Blick hat, sondern allgemeingültige Aussagen macht, die für jeden Mann an sich und jede Frau an sich
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nalen Gleichstellung der Frau im gottesdienstlichen Handeln.64 Vielmehr dient ihm der Rückgriff auf Gen 2, durch den die Ersterschaffung des Mannes und die Erschaffung der Frau aus ihm als ihrem Ursprung (κε:αλή) herausgestellt wird, dazu, die schöpfungsmäßige Unterschiedenheit der Geschlechter und die schöpfungsmäßige Vorordnung65 des Mannes zu begründen, die wiederum in der entsprechenden Geschlechtsrollensymbolik ihren angemessenen Ausdruck finden.66 Dabei will freilich beachtet sein, daß Paulus den Mann, obwohl er in ihm den Ursprung der Frau sieht, nicht als Schöpfer der Frau apostrophiert. Sein Hauptsein über die Frau liegt also auf einer anderen Ebene als das Hauptsein Christi über den Mann und das Hauptsein Gottes über Christus.67 Das Verständnis von 1Kor 11,3 erschließt sich letztlich erst von 1Kor 8,6 her. Hier zitiert Paulus wiederum vorgeprägtes Traditionsgut, das ein Bekenntnis darstellt zu Gott, dem Schöpfer, und Christus, dem Schöpfungsmittler:68 „Aber uns ist ein Gott, der Vater, durch den
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(vgl. besonders V. 4.5a) Geltung beanspruchen (vgl. auch Anm. 49), fehlt der Raum, in dem ein Autoritäts- oder Herrschaftsanspruch vom Mann über die Frau erhoben werden könnte. Gegen Blattenberger; Rethinking (s. Anm. 2), 19, der in 1Kor 11,3 eine funktionale Unterscheidung zwischen Mann und Frau grundgelegt sehen will: „The distinction between the man and woman is a functional one similar to the God/Christ differentiation. Paul’s analogy here has a parallel in 15:28 where Christ is said to be ‚subjected‘ (ὑποταγήσεται) to God even in the redemptive consummation. And so by analogy the woman is to understand that she does have equal spiritual/human value and parity in access to salvific gifts (cf. Gal 3:28), but that fact does not rule out a functional distinction since this is found in the Godhead itself“ (Kursivsetzung M. G.). Diese Interpretation von 1Kor 11,3 hat allerdings Paulus selbst gegen sich, der in unmittelbarem Anschluß in 11,4.5a in streng parallelem Satzbau ganz selbstverständlich voraussetzt, daß jedem Mann und jeder Frau im Gottesdienst die Möglichkeit des Betens und Prophezeiens gegeben ist. So plädiert Cervin, κε?αλή (s. Anm. 61), 112 auch dafür, κε?αλή in 1Kor 11,3 im Sinne von „preeminence“ zu verstehen. Doch ist die im Text implizierte Vorordnung des Mannes ja erst Folge der zeitversetzten Erschaffung von Mann und Frau, die es ermöglicht, daß die Frau aus dem Mann erschaffen wird. Daher dürfte die Bedeutung „Ursprung“ semantisch doch leitend sein. Wenn Paulus im unmittelbaren Anschluß an 11,3 über jeden Mann und jede Frau, die dieser spezifischen Geschlechtsrollensymbolik zuwiderhandeln, urteilt, daß er sein bzw. sie ihr Haupt beschämt (V. 4.5a), so dürfte er hiermit primär die Schande meinen, die das Verhalten über die eigene Person bringt (Zur reflexiven Verwendung des Personalpronomens in der Koine vgl. E. G. Hoffmann, H. von Siebenthal, Griechische Grammatik zum Neuen Testament, Riehen/Ch 1985, 198, § 139j). Denn der Kopf als herausragender Teil des Menschen steht nicht selten für die Person als solche (vgl. Schlier, Art. κε?αλή (s. Anm. 51), 673). Am Kopf aber manifestiert sich im Kontext von 1Kor 11,2–16 gerade das tadelnswerte Handeln. So besteht zwischen der Verwendung von κε?αλή in 11,3 (Ursprung) und 11,4.5a (Kopf als pars pro toto für die Person) kein unmittelbarer, wohl aber ein mittelbarer Bezug. Denn das in den V. 4.5a kritisierte Verhalten mißachtet die in V. 3 eingeschärften schöpfungsmäßigen Relationen. In dieser Mißachtung aber liegt der eigentliche Grund für die Schande, die dieses Verhalten über den Menschen bringt. Bezieht man dagegen die Beschämung des Hauptes unmittelbar auf die in 11,3 genannten Relationen (so etwa Baumert, Antifeminismus [s. Anm. 10], 66–67), müßte man für die Aussage über das Haupt der Frau in 11,5 – im Unterschied zur Aussage über das Haupt des Mannes in 11,4 (= Christus) – doch wohl eine konkrete verwandtschaftliche Relation voraussetzen (Ehemann, evtl. auch Vater oder Bruder), die der Text aber gerade nicht anspricht (vgl. o. Anm. 49). Vgl. Schrage, 1. Korintherbrief (s. Anm. 6), 502; Reiling, Mann (s. Anm. 8), 200. Zur Diskussion um die traditionsgeschichtliche Entwicklung des Bekenntnisses vgl. Wolff, Brief (s. Anm. 8) den Exkurs „Das Bekenntnis 1. Kor 8,6, 172–176, bes. 175–176.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
alles ist und wir auf ihn hin, und ein Herr Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn.“ Bezogen auf die Verhältnisbestimmung in 1Kor 11,3 bedeutet dies: Gott ist das Haupt Christi, insofern Christus aus Gott ist. Christus ist das Haupt des Mannes, sofern der Mann durch Christus ist. Der Mann aber ist Haupt der Frau, insofern die Frau aus ihm, der selbst Geschöpf ist, geschaffen wurde, so daß er gleichsam nur das „Material“ lieferte. Damit verdanken also Mann und Frau gleichermaßen ihr Sein Gott, dem Schöpfer, und Christus, dem Schöpfungsmittler.69 Stehen sie also unter dem Aspekt der Geschöpflichkeit auf einer Stufe, so ist der Mann doch als Haupt der Frau dieser rangmäßig vorgeordnet, weil er vor ihr existierte.70 An die differenzierende Zuordnung von Mann und Frau unter Berufung auf Gen 1.2 in den V. 7–9 schließt sich nun in V. 10 begründend eine Aussage an, die in der Bestimmung ihrer Intention äußerst umstritten ist und als klassisches Beispiel für eine crux interpretum bezeichnet werden darf. Kontrovers diskutiert wird hier zunächst, was unter ἐξουσία zu verstehen ist.71 Ist es die Kopfbedeckung, insofern sie eine apotropäische Funktion erfüllt, der Frau also Kraft verleiht, sich gegen Angriffe böser Mächte zu erwehren?72 Oder ist es die Kopfbedeckung als Symbol der Macht, unter welcher die Frau steht, konkret das Symbol der Macht des (Ehe-)Mannes?73 Oder bezeichnet ἐξουσία nicht vielmehr die Symbolkraft der 69
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Im Unterschied zu dieser durchgängig protologischen Interpretation von V. 3 (vgl. auch Scroggs, Paul [s. Anm. 1], 301: „what is expressed, is the order of the creative events“) differenziert Murphy-O’Connor, Sex (s. Anm. 6), 493–495, indem er von den drei genannten Relationen nur die Relation Mann/Frau („… Haupt der Frau aber ist der Mann“ V. 3c) auf die Schöpfung bezieht, die übrigen Relationen aber soteriologisch-eschatologisch deutet. Diese Erklärung dürfte schon daran scheitern, daß Murphy-O’Connor, um nicht die Frau von der Erlösungsordnung auszuschließen, ἀνήρ in V. 3b als „Mensch“ interpretieren und dann zu V. 3c hin eine semantische Verengung zu „Mann“ in Kauf nehmen muß. Dies erforderte aber doch wohl ein eindeutiges Textsignal, wollte Paulus nicht ein Mißverständnis seiner Rezipienten vorprogrammieren. Zur Kritik vgl. auch Delobel, Interpretation (s. Anm. 8), 378–379. 1Kor 11,3 jegliche Stufung zwischen den Geschlechtern abzusprechen, wird dem Text m.E. nicht gerecht (gegen Scroggs, Paul [s. Anm. 1], 301). Doch legt 11,3 auch nicht die hierarchisch strukturierte Grundlage für einen Herrschaftsanspruch des Mannes über die Frau (so etwa Delobel, Interpretation [s. Anm. 8]; 381; Hurley, Paul [s. Anm. 10], 202–204; Grudem, ΚΕΦΑΛΗ [s. Anm. 50], 56–57; H. van de Sandt, I Kor. 11,2–16 als een retorische eenheid, Bijdr. 49 (1988) 410–425, hier: 412) – dem widerspricht der Gedanke ihres gemeinsamen geschöpflichen Verdanktseins –, sondern für die Akzeptanz einer Geschlechtsrollensymbolik, die die schöpfungsmäßige Differenziertheit von Mann und Frau sinnenfällig zum Ausdruck bringt. Vgl. dazu auch Blattenberger, Rethinking (s. Anm. 2), 21: „The headcovering, whether a veil or hairstyle, is meant to reinforce the sexual distinctiveness between the man and woman which ultimately derives from creation.“ Vgl. auch Baumert, Antifeminismus (s. Anm. 10), 98–99. Vgl. zum Folgenden vor allem die informativen Überblicke über die Auslegungsproblematik bei J.A. Fitzmyer, A Feature of Qumran Angelology and the Angels of 1Cor 11:10 (1957/58 mit einem Postskript 1966), in: ders., Essays on the Semitic Background of the New Testament, Missoula 1974, 187– 204, hier: 191–194; Küchler, Schweigen (s. Anm. 41), 89–97. Vgl. u.a. M. Dibelius, Die Geisterwelt im Glauben des Paulus, Göttingen 1909, 18–22; Weiß, Korintherbrief (s. Anm. 52), 274; Lietzmann, Korinther (s. Anm. 11), 54. Vgl. etwa Bill. III, 435–436; Lösch, Frauen (s. Anm. 10), 219–225.
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Kopfbedeckung im Blick auf die Macht, Ehre und Würde, die der Frau zu eigen sind?74 Als Gemeinsamkeit all dieser Erklärungsversuche fällt nun auf, daß sie als Anlaß der paulinischen Intervention in 1Kor 11,2–16 einen Streit um die Kopfbedeckung der Frau voraussetzen und diese umstrittene Kopfbedeckung in unmittelbaren Zusammenhang mit der ἐξουσία bringen, die entsprechend als „Macht auf dem Kopf der Frau“ liegt. Genau hier liegt aber auch die diesen Erklärungsversuchen gemeinsame, entscheidende Schwäche. Denn sie implizieren, daß ἐξουσιά eine im Griechischen völlig fremde, konkret-dingliche Bedeutung zugewiesen werden muß. Diese Schwierigkeit versucht man dadurch zu bewältigen, daß diese konkret-dingliche Bedeutung als Folge einer Übersetzung aus dem Aramäischen bzw. Hebräischen bewertet wird, wobei die Belege durchweg dem rabbinischen Schrifttum entnommen sind.75 Doch ruft die Bewältigung der einen nur zwei neue Schwierigkeiten hervor. Denn zum einen stellt sich die Frage, wie Adressaten griechischer Sprache und zudem (überwiegend) heidenchristlicher Provenienz die Aussage von V. 10 dann überhaupt in der beabsichtigten Weise hätten rezipieren können. Zum anderen aber muß methodisch angezweifelt werden, ob die beigebrachten rabbinischen Belege angesichts der schwierigen Datierungslage für die Zeit der Entstehung des 1. Korintherbriefs überhaupt beweiskräftig sind.76 Vor dem Hintergrund der hier favorisierten Erklärung, die Frauen hätten sich eine 74
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Vgl. M.D. Hooker, Authority on Her Head: An Examination of I Cor. XI. 10, NTS 10 (1963/64) 410– 416. G. Kittel, Die „Macht“ auf dem Haupte (I. Kor. 11,10), Arbeiten zur Religionsgeschichte des Urchristentums I,3, Leipzig 1920, 17–30 beruft sich auf den Traktat Schabbat VI, 8b des Jerusalemer Talmuds und leitet die dort verwendete Bezeichnung für eine Kopfbinde, יּהנטוgלש, vom Stamm לט = שMacht ausüben ab, übersetzt in der LXX mit ἐξουσιάζεσ=αι, (κατα)κυριεύειν oder ἄρχειν. Entsprechend weist Kittel auch dem Nomen die semantische Valenz „Macht, Herrschaft“ zu und kommt zu dem Ergebnis: „Wir haben damit (…) das genaue aramäische Analogon zu der ἐξουσία der Pauluswortes: ein Ding, das zwar etymologisch ‚Macht‘, seiner Bedeutung nach aber etwas wie ‚Kopfbinde‘ oder ‚Schleier‘ zu heißen scheint“ (a.a.O. 20). Dieser Lösung schließt sich etwa Fitzmyer, Feature (s. Anm. 71), 194 an. Ein anderes Übersetzungsäquivalent, nämlich ארg = הוּמ1. Macht, Kraft und 2. Kopfbedeckung, Schleier etc., schlägt G. Schwarz, ἐξουσίαν ἔχειν ἐπὶ τῆς κε?αλῆς? (1. Korinther 11,10), ZNW 70 (1979) 249 vor, stimmt aber im Ergebnis mit Kittel überein. Bill. III (s. Anm. 73), 435–436 sieht dagegen einen Bezug zur Macht des Mannes gegeben, unter welche die Frau mit ihrer Heirat gestellt wird und die ihren äußeren Ausdruck in der Kopfbedeckung findet. Die Macht des Mannes wie die sie symbolisierende Kopfbedeckung aber wird im rabbinischen Schrifttum mit וּתש רbezeichnet (vgl. z.B. mKetubot 7,8; mNedarim 10,5). Diese Erklärung, der sich etwa A. Jaubert, Le Voile Des Femmes (I Cor. XI. 2–16), NTS 18 (1971) 413–430, hier: 428 und Küchler, Schweigen (s. Anm. 41), 91–92 anschließen, ist freilich im Unterschied zu der von Kittel und Schwarz mit der Schwierigkeit befrachtet, die Aussage 1Kor 11,10 auf die verheiratete Frau beziehen zu müssen, eine Verengung, die sich vom Kontext (vgl. besonders V. 4.5a πᾶς ἀνήρ/πᾶσα γυνή) (vgl. Anm. 49) verbietet. Vgl. Müller, Datierung (s. Anm. 27), 587: „Es ist heute noch nicht möglich, das Netz der späteren rabbinischen Redaktionen des zweiten und dritten Jahrhunderts abzuheben. Das sollte den Neutestamentler vorsichtig machen. Denn es ist so gut wie sicher, daß er bei einem durch die Datensperre nicht energisch genug gehemmten Zugriff auf rabbinische Texte das Judentum des dritten Jahrhunderts an urchistliche Sachverhalte heranbringen und erbarmungslos vergleichen wird.“
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
geschlechtsrollenspezifisch männliche Kurzhaarfrisur zugelegt, paßt die üblicherweise vorgetragene Deutung der „Macht auf dem Kopf“ erst recht nicht. Darüber hinaus empfiehlt es sich ohnehin unter Beachtung der griechischen Sprachkompetenz der Briefadressaten, ἐξουσία entsprechend der gängigen Verwendung dieses Wortes als Abstraktum zu verstehen. Entsprechend ist dann nicht zu übersetzen, daß „die Frau eine Macht auf dem Kopf haben soll“, sondern daß sie Macht (i.S. von Kontrolle) über ihren Kopf, und d.h. damit über sich selbst (vgl. V. 4.5a) haben soll.77 Die Aussage zielt dann, passend zum vorausgehenden Argumentationsmuster, darauf, daß die Frau sich, was ihren Kopf betrifft, nicht zu Maßnahmen hinreißen lassen soll, die ihre schöpfungsmäßige Nachordnung dem Mann gegenüber durch die Ablehnung weiblicher bzw. durch die Übernahme männlicher Geschlechtsrollensymbolik verdecken.78 Ebenfalls umstritten ist die Erklärung, was damit gemeint ist, daß die Frau sich entsprechend zu verhalten hat „wegen der Engel“.79 Liegt hier eine Anspielung auf das in Jes 6,2 geschilderte Verhalten der Engel vor dem Thron Jahwes vor, die mit ihren Schwingen Gesicht und Füße bedecken? Ist also „wegen der Engel“ gleichbedeutend mit „weil es auch die Engel so tun“?80 Häufig vermutet man hinter der Formulierung διὰ τοὺς ἀγγέλους auch eine Anspielung auf die gefallenen Engel aus Gen 6, eine Erzählung, die in der 77
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Vgl. auch Delobel, Interpretation (s. Anm. 8), 387; Padgett, Paul (s. Anm. 3), 71–72; Baumert, Antifeminismus (s. Anm. 10), 84; Schrage, 1. Korintherbrief (s. Anm. 6), 514. Belege für diese Verwendung von ἐξουσίαν ἔχειν ἐπί mit Genitiv finden sich zahlreich in LXX und NT (vgl. u.a. Dan 3, 97; Sir 17,2; Lk 9,1; Offb 2,26; 14,18; 20,6). Vgl. auch Schrage, 1. Korintherbrief (s. Anm. 6), 514. Vgl. wiederum die informativen Forschungsüberblicke bei Fitzmyer, Feature (s. Anm. 71), 195–198 und Küchler, Schweigen (s. Anm. 41), 98–107. Um die ganze Spannbreite der Auslegungsbemühungen zu 1Kor 11,10 in den Blick kommen zu lassen, seien auch folgende Interpretationen wenigstens genannt: Unter den Engeln sind wie z.B. in Offb 2,1.8 Bischöfe bzw. Gemeindeleiter zu verstehen. (So in der Neuzeit u.a. K. Bornhäuser, „Um der Engel willen“ 1Kor 11,10, NkZ 41 [1930] 475–488, bes. 478– 483; zu den altkirchlichen Belegen vgl. W. Schrage, Korintherbrief [s. Anm. 6], 538, Anm. 322.) Die Engel bezeichnen Boten aus anderen Gemeinden, die durch das Verhalten der korinthischen Frauen schockiert werden könnten. (Vgl. Padgett, Paul [s. Anm. 3], 81–82; Murphy-O’Connor, Once Again (s. Anm. 10), 271–272; J. Winandy, Un curieux casus pendens. 1 Corinthiens 11.10 et son interprétation, NTS 38 [1992] 621–629, hier: 628.) Die Erwähnung der Engel in 1Kor 11,10 ist in Verbindung zu sehen mit den Engeln, die den Frauen am Ostermorgen die Botschaft von der Auferweckung Jesu am leeren Grab verkünden. (So M.-L. Rigato, „Giunge Maria Maddalena annunciando ai discepoli: Ho visto il Signore“ [Gv 20,18]. A quali Angeli allude Paolo in 1Cor 11,10?, Ho Theológos 2 [1984] 269–282). Zur Kritik an diesen Interpretationen vgl. Schrage, 1. Korintherbrief (s. Anm. 6), 515 und Anm. 169; Wolff, Brief (s. Anm. 8), 253. Vgl. J.A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti, o.O. 31773, Nachdruck Stuttgart 1915, 657, der die Gleichung aufstellt: „mulier se tegat propter angelos, i.e. quia etiam angeli teguntur; sicut ad Deum se habent angeli, sic ad virum se habet mulier. Dei facies patet: velantur angeli. Es. 6. Viri facies patet: velatur mulier.“ Mit Bezug auf Jes 6 erklärt ferner die Stelle K. Rösch, „Um der Engel willen“ (1Kor. 11,10), ThGl 24 (1932) 363–365, hier: 364. Dazu kritisch Küchler, Schweigen (s. Anm. 41), 100: „Der Gedanke ist zwar schön, doch ist er willkürlich, denn warum sollten gerade die Frauen dasselbe Verhalten wie die Engel einnehmen, wenn doch die Engel, Gesandten und Boten Gottes immer als Männer vorgestellt sind?“ Zur Kritik vgl. auch Fitzmyer, Feature (s. Anm. 71), 195.
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zeitgenössischen frühjüdischen Literatur intensiv rezipiert wurde (vgl. TestRub 5; äthHen 6–11; Jub 4,22; 5,1–11; syrBarApk 56,10–16; Jos ant I, 73; Philo, gig. u.ö.).81 Frauen, die auf eine geschlechtsrollenspezifisch weibliche Herrichtung ihres Kopfes verzichteten, seien dieser These nach der sexuellen Begierde dieser Engel ausgesetzt, die die Schwäche der Frauen, wenn sie sich etwa in Ekstase befänden, ausnutzen und sie verführen könnten.82 Gegen diese Deutung ist jedoch zunächst einzuwenden, daß es im Kontext nicht um die Schwäche der Frau, sondern um ihre schöpfungsmäßige Relation zum Mann geht.83 Ferner ist in den V. 4.5a.13 explizit die Situation des Betens und Prophezeiens im Gottesdienst angesprochen, die von Paulus gerade nicht – im Unterschied zur Glossolalie – mit ekstatischer Verzückung in Verbindung gebracht wird.84 Und schließlich ist darauf zu verweisen, daß der Kontext in keiner Weise sexuell konnotiert ist,85 so daß dieser Aspekt, wäre er intendiert, doch deutlicher herausgearbeitet sein müßte. So ist es doch wahrscheinlicher, daß gerade unter Berücksichtigung des Kontextes an die Präsenz der guten Engel im Gottesdienst zu denken ist, wie sie etwa in Ps 138,1 (137,1 LXX) oder Offb 8,3 vorausgesetzt ist.86 Aufschlußreich sind zudem Parallelen in den Qumranschriften, die alle physisch nicht Vollkommenen in der Gemeinderegel (1QSa 2,3– 81
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Vgl. dazu vor allem F. Dexinger, Jüdisch-Christliche Nachgeschichte von Gen 6,1–4, in: Zur Aktualität des Alten Testaments. FS Georg Sauer, Frankfurt a.M. 1992, 155–175; Küchler, Schweigen (s. Anm. 41), 220–445. Vgl. Meier, Veiling (s. Anm. 7), 220–221; Theißen, Aspekte (s. Anm. 4), 176–177; D. B. Martin, The Corinthian Body, New Haven/London 1995, 244; Küchler, Schweigen (s. Anm. 41), 489, der allerdings unter den Engeln von 11,10 auch die guten Engel einschließen will. So versteht er den Ausdruck „wegen der Engel“ als „ein weiterführendes Symbolwort (…), das die Situation des Betens und Prophezeiens der Frauen als eine Situation interpretiert, in welcher man mit den guten und bösen Vertretern der Engelund Geisterwelt in besonders nahen Kontakt gelangt, so daß man den Ordnungsansprüchen der guten Schöpfungs-, Schutz- und Kultengel, wie auch den Annäherungen und Attacken der henochschen Wächter/Engel und Dämonen, die eine besondere Affinität zu schönen Frauen haben, Rechnung tragen muß.“ Vgl. ferner C. Senft, La Première Épître de Saint-Paul aux Corinthiens (CNT VII), Neuchâtel/Paris 1979, 144; Strobel, Brief (s. Anm. 8), 169. Von den älteren Kommentaren vgl. Weiß, Korintherbrief (s. Anm. 52), 274–275; Lietzmann, Korinther (s. Anm. 11), 54–55. So auch Fitzmyer, Feature (s. Anm. 71), 196–197. Daher überzeugt auch nicht die Erklärung von Wolff, Brief (s. Anm. 8), 254, der 1Kor 11,10 auf „die Entrückung des Ekstatikers (genauer: der Ekstatikerin, M. G.) in die himmlische Welt“ beziehen will. So muß etwa Martin, Body (s. Anm. 82), 244–245 zu einer methodisch fragwürdigen Argumentation Zuflucht nehmen: „What I am attempting here is a reconstruction not of Paul’s conscious intentions but of the ideological matrix in which the veiling of women could be thought necessary during the act of prophecy.“ Diese „ideological matrix“ beschreibt er folgendermaßen: „The physiology of prophecy could be analyzed by analogy with the physiology of sex, because prophecy was thought of as the penetration of the body of the priestess by the god or some other, perhaps inanimate, invading force. The moment of prophecy was the moment of invasion. Thus people were especially vulnerable and endangered when open to the forces of prophetic inspiration. Moreover, according to the dominant GrecoRoman ideology, women were generally more vulnerable than men“ (a.a.O. 241–242; zum Zusammenhang vgl. ebd. 239–242). Vgl. A. Schlatter, Paulus, der Bote Jesu, Stuttgart 31962, 312–313; Kähler, Frau (s. Anm. 12), 61; Baumert, Antifeminismus (s. Anm. 10), 86–87.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
11) von der Teilnahme am Gottesdienst und in der Kriegsrolle (1QM 7,4–6) von der Teilnahme am Krieg ausschließen und dies damit begründen: „denn Engel von Heiligkeit sind in ihrer Gemeinde“ bzw. „denn die heiligen Engel sind zusammen mit ihren Heerscharen“. Denkt auch Paulus in 11,10 an die Präsenz heiliger Engel, so könnte es durchaus sein, daß er die geschlechtsrollensymbolisch korrekte Herrichtung des weiblichen Kopfes zum Bereich der körperlichen Vollkommenheit hinzurechnet, deren Verweigerung aber als Makel (vgl auch V. 5c.6), der die Engel beleidigt.87 Möglicherweise spielt aber auch noch die zeitgenössische Vorstellung mit hinein, daß die Engel bei der Erschaffung der Welt und des Menschen zugegen waren88 (z.B. Jub. 2,1–16), also um die schöpfungsmäßig verankerte, differenzierende Zuordnung von Mann und Frau wissen, gegen die die korinthischen Frauen nach paulinischer Auffassung verstoßen.89 Argumentiert Paulus in den V. 3.7–10 für sein Anliegen einer Wahrung der Geschlechtsrollensymbolik mit der Schöpfungsordnung, so wechselt er in den V. 11f auf die eschatologische Ebene und verweist auf die Gleichrangigkeit von Mann und Frau im Herrschaftsbereich des Kyrios. Diesem Verständnis der Gleichrangigkeit liegt dabei die paulinische Rezeption von Gal 3,28 zugrunde, wonach die schöpfungsmäßigen Unterschiede in Analogie zu den ethnisch-religiösen und sozialen Unterschieden zwar angesichts der mit Jesus Christus angebrochenen neuen Schöpfung aufgehoben sind, d.h. unter soteriologischer Prämisse keine Rolle mehr spielen, gleichwohl aber in der Zeit der eschatologischen Spannung zwischen dem Schon und Noch-Nicht bestehen bleiben. Die praktisch-innovative Kraft von Gal 3,28 bleibt dieser Interpretation zufolge also auf den innergemeindlichen Raum begrenzt.90 Auch für die Glaubenden, die als in Jesus Christus Erlöste bereits neue Schöpfung sind und in ihm ihre neue Identität gewonnen haben, ist also die Schöpfung nicht gänzlich überholt. Daher muß Paulus den Versuch der korinthischen Frauen, die in der Schöpfungsordnung grundgelegten Unterschiede zwischen den Geschlechtern durch Übernahme der männlichen Geschlechtsrollensymbolik zu 87 88 89
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Vgl. Fitzmyer, Feature (s. Anm. 71), 198–200. Abgeleitet aus dem Plural in Gen 1,26 „Laßt uns den Menschen machen …“ Vgl. Brun, Engel (s. Anm. 49), 304–305. Stärker auf die Rolle der Engel bei der Vermittlung des Gesetzes (vgl. Gal 3,19) und ihre Wächterfunktion über die Taten der Menschen und ihre Gesetzestreue (1Kor 4,9; Philo, Somn. 1,140–142; Jub 4,6; äth Hen 99,3) hebt Murphy-O’Connor, Sex (s. Anm. 6), 496–497 ab: „In Paul’s view women had full authority (exousian echein) to act as they were doing, but they needed to convey their new status to the angels who watched for breaches of Law. The guardians of an outmoded tradition had to be shown that things had changed.“ (Zitat ebd. 497). Das Problem dieser Erklärung besteht freilich darin, daß Paulus nur partiell mit den korinthischen Frauen übereinstimmt, nämlich im Daß ihres gottesdienstlichen Betens und Prophezeiens, nicht im Wie. Der Dissens im Wie gründet aber nach paulinischem Verständnis nicht im Gesetz, sondern in der Schöpfungsordnung, genauer in der Mißachtung derselben, indem die Frauen der korinthischen Gemeinde die diese Ordnung dokumentierende Geschlechtsrollensymbolik zur Disposition stellen. Vgl. Merklein, Spannungsfeld (s. Anm. 46), 236.
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überwinden, ablehnen.91 Die Verse 11f erweisen sich damit als der entscheidende Punkt der paulinischen Argumentation. Grundlage ist dabei der Gedanke, daß Erlösung nicht an dem Punkt ansetzt, wo der Mann vor der Frau erschaffen wird, sondern einbricht in den schöpfungsbedingten Zusammenhang von Zeugung und Geburt.92 Paulus geht also von dem empirischen Befund aus, daß auch für die christlichen Gemeinden, in denen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern soteriologisch bedeutungslos geworden sind, gilt, daß jede Frau von einem Mann gezeugt und jeder Mann von einer Frau geboren ist. „Die Geschlechterdifferenz ist geradezu die Voraussetzung für das Im-Herrn-Sein.“93 Weil also Mann und Frau auch im Herrschaftsbereich des Kyrios aufeinander hingeordnet und verwiesen sind, muß der Mann als Mann und die Frau als Frau „im Herrn“ sein. Ihre Gleichrangigkeit darf daher nicht mißverstanden werden als Gleichmacherei, die alle schöpfungsmäßig angelegten Unterschiede, die eben auch eschatologisch ihre Gültigkeit behalten (V. 12), einebnen will. Weil aber gerade bei der Feier des Gottesdienstes das diffizile Spannungsgefüge zwischen der in der Schöpfungsordnung begründeten Geschlechterdifferenz und der in der Erlösungsordnung begründeten Gleichrangigkeit der Geschlechter94 am unmittelbarsten erfahrbar wird, wird für Paulus gerade hier in besonderem Maße die Schändlichkeit im Verhalten der 91
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Wenngleich also nicht praktizierte oder potentielle sexuelle Perversion der korinthischen Frauen Anlaß und Thema der paulinischen Argumentation ist, konnte eine weibliche Kurzhaarfrisur im außergemeindlichen Raum eben diese Konnotation hervorrufen (vgl. o. S. 173). Von einer Befolgung seines Appells dürfte sich Paulus daher zumindest als willkommenen Nebeneffekt versprochen haben, daß die Gemeinde diesem selbstverschuldeten heidnischen Mißverständnis nicht länger ausgesetzt war. Zum Verhältnis der Verse 11,3 und 11,11f vgl. auch Schlier, Art. κε?αλή (s. Anm. 51), 678. Die von Baumert, Antifeminismus (s. Anm. 10), 90 gestellte Frage: „Und inwiefern ereignet sich dann ‚im Herrn‘ etwas anderes als in der langen Kette vorher, ehe der Messias kam?“ setzt also einen falschen Akzent. Baumert selbst entscheidet sich für eine typologische Interpretation von V. 12: „Bleiben wir im Kontext, so greift ἐκ τοῦ ἀνδρός in V. 12a gewiß die Tatsache auf, daß Eva aufgrund von Adam und ‚aus‘ seiner Seite gebildet wurde. Das Neue, was dem gegenübergestellt wird, ist aber nicht die Nachkommenschaft von Adam und Eva, sondern ist ‚der Christus‘. Bevor die Gemeinde als ganze ihn repräsentiert, ist der ‚Messias‘ als einzelner ‚durch die Frau‘ in die Welt eingetreten und so – analog zu Adam – zum Urbild oder Präger (Typos) aller Männer geworden (11,3a); Prägerin der Frau ist dann aber die Mutter des ‚Retters‘. Das erklärt, warum Paulus in V 12 immer den Artikel setzt: Es ist jeweils der Mann (Adam, Christus) und die Frau (Eva, Maria). In V 11 dagegen fehlt der Artikel, weil Paulus dort zunächst generell darüber spricht, daß ‚im Herrn‘ Männlich und Weiblich nicht unabhängig voneinander sind“ (ebd. 94–95). Die Beweislast, die Baumert damit dem Gebrauch des Artikels in V. 12 aufbürdet, vermag dieser aber nicht zu tragen. Den unprätentiösen Wechsel zwischen dem Gebrauch und dem Wegfall des Artikels belegen stattdessen im Kontext hinreichend die V. 3.7.9. Näherliegend ist es zudem, die V. 11f beide gleichermaßen auf die Situation ἐν κυρίῳ zu beziehen, da sich V. 12 nicht nur formal-syntaktisch, sondern auch inhaltlich, ohne „Gedankenakrobatik“ zu fordern, als Begründung von V. 11 zu erkennen gibt. Die Schlußbemerkung „alles aber aus Gott“ faßt dann zusammen, daß die schöpfungsbedingte Verwiesenheit der Geschlechter ebenso wie ihre Gültigkeit „im Herrn“ sich gleichermaßen Gott verdankt, der die Bedingungen der Schöpfungs- wie der Erlösungsordnung setzt. Merklein, Spannungsfeld (s. Anm. 46), 241. So setzt Paulus etwa ganz selbstverständlich in 11,4.5a den geschlechtsunabhängigen Empfang des von ihm so hochgeschätzten Charismas der Prophetie (vgl. 1Kor 14) voraus.
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Frauen manifest, die dieses Spannungsgefüge gefährden. Darum macht er seine Kritik auch exemplarisch am gottesdienstlichen Bereich fest (vgl. V. 4.5.13),95 ohne freilich die Gleichheit von Mann und Frau bei der Ausübung gemeindlicher Funktionen anzutasten. Denn sie ist für ihn Folge der soteriologischen Gleichstellung der Geschlechter, die durch den unterschiedslosen Geistempfang und die geschlechtsunabhängige Verteilung der Charismen durch Gott selbst ihre Bestätigung findet. Entsprechend beten und prophezeien Mann und Frau gleichermaßen im Herrschaftsbereich des Kyrios. Insofern aber in der eschatologischen Spannung zwischen Anbruch und Vollendung der neuen Schöpfung die schöpfungsmäßig angelegten Unterschiede zwischen den Geschlechtern noch in Kraft bleiben, wodurch die gegenseitige Hinordnung von Mann und Frau „im Herrn“ (V. 11) erst sinnvoll wird, ist es wichtig, daß der Mann als Mann und die Frau als Frau betet und prophezeit. Ebendies dokumentiert sich für Paulus in der Geschlechtsrollensymbolik, die es daher auch im Raum der Gemeinde zu wahren gilt.96
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Die Argumente, die Paulus in den V. 3.7–12.14f anführt, gelten natürlich für den gottesdienstlichen Bereich, sind aber nicht darauf eingeschränkt, vgl. auch Brooten, Response (s. Anm. 44), 294–295. Vgl. Gielen, Tradition (s. Anm. 53), 252–253, wobei ich dort aber noch ganz selbstverständlich meinen Überlegungen die Kopfbedeckungshypothese zugrundegelegt habe.
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Stellung und Funktionen von Frauen in paulinischen Gemeinden* „Sankt Paul schrieb einen ganzen Winter Den längsten Brief an die Korinther, Um unter anderm zu verkünden, Daß zur Vermeidung ärgerer Sünden Es neben sonstigem Angenehmen Doch klüger sei, ein Weib zu nehmen. Nur, wer nichts übrig hätt für Liebe, Tät besser, wenn er ledig bliebe. Auch rät schon Paulus zur Vermeidung Der, scheint’s, schon damals häufigen Scheidung. Zuletzt legt er dem Weibe nah Das ‚taceat in ecclesia!‘ Auf Deutsch: Wo Männer würdig walten Da soll das Weib die Klappe halten! Der Brief fand sicher viele Leser, Desgleichen der an die Epheser, Worin er noch den Unsinn glaubt, Es sei der Mann des Weibes Haupt. Drum schrieb er, voller Größenwahn: ‚Weib, sei dem Manne untertan!‘ Und mit der gleichen Mahnung schloß er Auch seinen Brief an die Kolosser. Schon damals stand, nebst manchem Schiefen, Viel Richtiges in den Hirtenbriefen.“1
Es war im Jahr 1932, als der Lokalredakteur der „Münchner Neuesten Nachrichten“, Eugen Roth, dem Thema „Paulus und die Frauen“ diese Zeilen widmete, und zwar im Rahmen einer heiteren, nicht ganz ernst gemeinten Betrachtung der „Frau in der Weltgeschichte“. Gleichwohl prägt das von Roth mit einem Augenzwinkern vorgetragene Klischee von Paulus als Chauvinist und patriarchalischem Unterdrücker der Frauen auch heute noch weithin das Bewusstsein vieler Menschen. Soviel sei schon einmal vorweggenommen: Nichts wird Paulus weniger gerecht als eine Zuordnung zum Lager der Chauvinisten und Frauenhasser. Doch lässt sich ein solches Fehlurteil vermeiden bzw. revidieren. Dazu bedarf es allerdings einer diffe*
1
Abgedruckt in: Hölscher, Andreas, Kampling, Rainer (Hg.), Die Tochter Gottes ist die Weisheit. Bibelauslegung durch Frauen (Theologische Frauenforschung in Europa 10), Münster u.a. 2003, 115–139. Eugen Roth, Die Frau in der Weltgeschichte. Ein heiteres Buch mit 60 Bildern von Ernst Penzoldt, München, Wien 1990, 36–38.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
renzierten Wahrnehmung der unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefe. So ist es in der neutestamentlichen Forschung schon lange Konsens, zwischen den sog. Protopaulinen bzw. echten Paulusbriefen (1Thess, 1.2Kor, Gal, Röm, Phil und Phlm) und den sog. Deuteropaulinen (Kol, Eph, 2Thess, Past) zu unterscheiden. Die Deuteropaulinen sind Briefe, die sich nach dem Tod des Apostels an die von ihm gegründeten Gemeinden (bzw. deren Leiter) wenden. Unter Berufung auf seine Autorität werden nun Weisungen in eine sich stetig wandelnde Gemeindesituation hinein ausgesprochen. So lässt sich auch unter dem Aspekt der Stellung und Funktionen von Frauen in paulinischen Gemeinden eine deutliche Veränderung der Verhältnisse von der Gründergeneration (Protopaulinen) über die 2. Generation (Kol, Eph) zur 3. Generation (Past) hin beobachten. Die Tragweite dieser Entwicklung lässt sich freilich erst ermessen, wenn deutlich geworden ist, welche Freiräume die Frauen der ersten urchristlichen Generation im paulinischen Missionsgebiet besaßen. Ihre Stellung und Funktionen im Wandel von den Anfängen bis zur Wende vom 1. zum 2. Jhd. n.Chr. in Grundzügen zu skizzieren, ist Ziel der folgenden Darstellung.
1. Stellung und Funktionen von Frauen in den paulinischen Gemeinden zu Lebzeiten des Gemeindegründers 1.1 Die Eigenart der Quellen Die paulinischen Briefe sind durchweg Gelegenheitsschreiben. Ihr situationsorientierter Charakter bringt es mit sich, dass sie kaum thematische Statements oder Grundsatzerklärungen bieten. Dies gilt auch für die Frage nach Stellung und Funktionen von Frauen in den paulinischen Gemeinden. Die ergiebigsten Informationen hierzu finden sich in 1 Kor 11,2–16 und in Röm 16,1–16. In 1Kor nimmt Paulus zu konkreten Fehlentwicklungen in der Gemeinde Stellung, die u.a. auch das Verhalten der Frauen betreffen. Der Röm richtet sich dagegen ausnahmsweise an eine nicht von Paulus gegründete Gemeinde. Zum Zeitpunkt der Abfassung war Paulus den meisten Gemeindemitgliedern persönlich unbekannt. Und so stellt er vor einem bald geplanten Besuch sich und seine spezifisch gesetzesfreie Evangeliumsverkündigung in diesem Brief der Gemeinde vor. Innerhalb dieses durchweg rational-argumentativ geprägten Schreibens deckt nun die Grußliste in Kapitel 16 das emotional-persönliche Spektrum ab. Paulus will damit dokumentieren: „Seht her, auch wenn ich noch nie in eurer Gemeinde Gast war, so verbinden mich doch mit vielen eurer Glaubensschwestern und -brüder zwischenmenschlich-freundschaftliche Kontakte. So wie ich über sie informiert bin, so sind sie es auch über mich. Befragt
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sie nur, und sie werden sich für die Integrität meiner Person und Verkündigung verbürgen!“ Angesichts der hohen Mobilität, die die Christen und Christinnen der ersten Generationen auszeichnete, darf davon ausgegangen werden: Paulus lernte die in Röm 16 genannten Personen wohl in den Gemeinden seines Missionsgebiets kennen, sei es, dass sie ihnen entstammten, sei es, dass sie vorübergehend dort ansässig geworden waren oder sei es, dass sie nur auf der Durchreise Station bei Glaubensgenossen machten.2 Festzuhalten bleibt zunächst: Die Informationen, die Röm 16 in Bezug auf Stellung und Funktionen von Frauen sowohl in den paulinischen Gemeinden wie auch in der römischen Gemeinde enthält, sind nicht Selbstzweck. Sie stehen vielmehr im Dienst einer anderen Aussageintention. Im Blick auf die Fragestellung dieses Beitrags erfolgen sie eher beiläufig und unbeabsichtigt und sind gerade dadurch umso aussagekräftiger. Ihnen soll daher zunächst Aufmerksamkeit gewidmet werden.
1.2 Der Befund in Röm 16,1–16 In Röm 16,3–16 grüßt Paulus neben einigen Personengruppen 26 Einzelpersonen: 9 Frauen und 17 Männer. Die deutlich männliche Dominanz schwindet allerdings, sobald als Kriterium eine funktionsorientierte Charakterisierung der Personen hinzutritt. Eine solche Charakterisierung erfahren nur 10 Personen, davon 6 Frauen und 4 Männer. In den V. 6.12 richtet Paulus seine Grüße an Maria, Tryphäna, Tryphosa und Persis. Dabei hebt er jeweils ihren mühevollen Einsatz „im Herrn“ (V. 12) bzw. für die Gemeinde (V. 6) lobend hervor. Die Wortgruppe „Mühe/sich abmühen erhält nun in den paulinischen Briefen oftmals eine spezifische Bedeutung. Sie bezeichnet dann die Anstrengungen, denen Paulus und andere sich im Dienst der Evangeliumsverkündigung und in der Gemeindarbeit aussetzen (vgl. 1Kor 3,8; 15,58; 2Kor 6,5; 1Thess 1,3; 3,5 u.ö.).3 Möglicherweise dient die Wortgruppe, sofern sie gemeindebezogen verwendet ist, sogar zur Bezeichnung der charismatischen Gemeindeleitung.4 Die in Röm 16,6.12 von Paulus namentlich gegrüßten Frauen dürften somit in der römischen Gemeinde keinesfalls eine Nebenrolle gespielt haben. Im Gegenteil: Es darf berechtigterweise vermutet werden, dass sie Leitungsaufgaben ausübten. In Röm 16,3f grüßt Paulus Priska und Aquila. Dieses Ehepaar hatte er kennenge2
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Vgl. auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer (Röm 12–16) (EKK VI/3), Zürich, Braunschweig, Neukirchen-Vluyn 2. durchges. Aufl. 1989, 133. Vgl. W.-H. Ollrogg, Paulus und seine Mitarbeiter (WMANT 50), Neukirchen-Vluyn 1979, 75. Darauf könnten 1Kor 16,15–18 und 1Thess 5,12–13a hinweisen, vgl. S. Schreiber, Arbeit mit der Gemeinde (Röm 16,6.12). Zur versunkenen Möglichkeit der Gemeindeleitung durch Frauen: NTS 46 (2000), 204–226.
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lernt, als er – wohl im Frühjahr 50 – erstmals nach Korinth kam. Bei ihnen fand Paulus Unterkunft und Arbeit (vgl. Apg 18,3), vor allem aber wohl auch Unterstützung in seiner Missionsarbeit. Nicht zufällig nennt er die beiden in Röm 16,3 „meine Mitarbeiter in Christus Jesus“. Mit dem Begriff „Mitarbeiter“ qualifiziert Paulus durchweg die Personen, die nach dem Willen Gottes wie er in der (externen wie internen) Evangeliumsverkündigung tätig sind. Es sind also Mitmissionare oder Arbeitskollegen, keine Gehilfen oder gar Diener des Paulus. Als Verkündiger sind die Mitarbeiter vielmehr Diener Gottes (1Kor 3,5.9).5 Wie sich an Priska zeigt, ist also die Evangeliumsverkündigung nicht nur Männersache. Dies war auch von praktischem Nutzen, denn Männer war der Zutritt zum internen Bereich eines Hauses, der den Frauen vorbehalten war, verwehrt.6 Doch waren Priska und Aquila nicht nur in der Verkündigung tätig. Als selbständige Handwerker7 dürften sie über ein größeres Hauswesen verfügt haben. Dies stellten sie der Gemeinde an dem Ort, wo sie gerade lebten, zu Versammlungs- und sonstigen Zwecken zur Verfügung.8 Die beiden sind also für die urchristliche Missions- und Gemeindearbeit von großer Bedeutung. Dass Priska dabei nicht nur in Röm 16,3, sondern auch Apg 18,18.26; 2Tim 4,19 gegen jede antike Gepflogenheit vor ihrem Mann genannt wird, lässt im Übrigen den vorsichtigen Schluss zu, dass ihr der bedeutendere Part zukam.9 In Röm 16,7 begegnet in Andronikos und Junia höchstwahrscheinlich ein weiteres missionierendes judenchristliches Ehepaar. Im Unterschied zu Priska und Aquila bezeichnet Paulus aber diese beiden ausdrücklich als hochangesehene Apostel der ersten Stunde.10 Der Begriff Apostel ist hier von der Tätigkeit her 5 6
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Vgl. W.-H. Ollrogg (s. Anm. 3), 70–72. Vgl. hierzu G. Lohfink, Weibliche Diakone im Neuen Testament in: G. Dautzenberg, H. Merklein, K. Müller (Hgg.), Die Frau im Urchristentum (QD 95), Freiburg 1983, 320–338, hier: 329 unter Berufung auf Clemens Alexandrinus, Stromateis III,53,3; vgl. auch H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther Kapitel 5,1–11,1 (ÖTK 7/2), Gütersloh 2000, 217. Zeltmacher, vgl. Apg 18,3. An diesem Ehepaar lässt sich im Übrigen sehr gut die Mobilität der ersten urchristlichen Generationen aufzeigen. Nach Apg 18,18 verlassen die beiden etwa im Spätsommer des Jahres 51 zusammen mit Paulus Korinth und begleiten ihn bis Ephesus. Als Paulus auf seiner dritten Missionsreise im Frühjahr 54 (oder 55) in Ephesus den 1. Korintherbrief abfasst (1Kor 16,8), sind sie noch in Ephesus ansässig. Denn in 1Kor 16,19 richtet Paulus eigens Grüße von ihnen und von der Gemeinde in ihrem Haus an die Briefadressaten in Korinth aus. Röm 16,3f zeigt Priska und Aquila dann wieder zurück in Rom. Auch hier haben sie, wie aus 16,5 hervorgeht, ihr Haus wieder für die Gemeinde geöffnet. Vgl. G. Lohfink (s. Anm. 6) 331 und Anm. 16; H. Merklein (s. Anm. 6) 217. M.H. Burer und D. B. Wallace, Was Junia Really an Apostle? A Re-Examination of Rom 16.7 in: NTS 47 (2001), 76–91 plädieren neuerdings nachdrücklich dafür, episēmoi en tois apostolois nicht als hervorragend unter den Aposteln zu verstehen, sondern im Sinn von den Aposteln (= den Leitern der Jerusalemer Gemeinde, vgl. a.a.O. 90, Anm. 67) wohlbekannt zu deuten. Andronikos und Junia gehörten demnach nicht selbst zum Kreis der Apostel. Nun soll nicht bestritten werden, dass die griechische Formulierung auch den von Burer/Wallace favorisierten Sinn haben kann. Dass diese Interpretation aber philologisch nahezu zwingend sein soll, wie sie zu beweisen suchen, ist doch ernsthaft zu bezweifeln. Wie sollte man es unter dieser Voraussetzung
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gleichbedeutend mit Missionar. Doch impliziert er im Unterschied dazu nach paulinischem Verständnis die Beauftragung zur Verkündigung durch den Auferstandenen selbst (1Kor 9,1; 15,5–10).11 Wer nun Röm 16,7 in einer der gängigen deutschen Bibelübersetzungen nachliest,12 fragt sich vielleicht verwundert: Wo ist denn hier von einer Junia die Rede? Genannt sind doch zwei Männer: Andronikos und Junias. In der Tat! Doch muss gefragt werden, ob Junias immer ein Junias war oder ob wir hier mit dem Phänomen einer literarischen Transsexualität konfrontiert werden.13 Eigenartigerweise ist nämlich der männliche Vorname Junias in der Antike weder literarisch noch inschriftlich irgendwo belegt. Breit bezeugt ist dagegen die weibliche Form Junia. Die Sachlage verkompliziert sich noch, wenn man beachtet, dass die Buchstabenfolge im griechischen Original bei männlichem und weiblichem Vornamen identisch ist, sofern sie in den Akkusativ treten. Eben dies aber ist in Röm 16,7 der Fall. Eine Unterscheidung ist dann nur möglich mit dem der griechischen Sprache eigenen Akzentsystem: ein Zirkumflex auf der letzten Silbe bei der männlichen Form (Juniân), ein Akut auf der vorletzten Silbe bei der weiblichen Variante (Junían). Nun kannten aber die ältesten und damit wertvollsten Handschriften des Neuen Testaments, die den Text in Großbuchstaben überliefern, dieses Akzentsystem noch nicht. Damit ist die von ihnen bezeugte Buchstabenfolge (IUNIAN) ambivalent.
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nämlich erklären, dass griechischsprachige Kirchenväter als Muttersprachler (!) den griechischen Text in dem von Burer/Wallace abgelehnten Verständnis hervorragend unter den Aposteln lesen (vgl. unten Anm. 15). Zudem fügt sich dieses Verständnis im Unterschied zu dem von Burer/Wallace bevorzugten nahtlos in den Kontext ein. Paulus nämlich charakterisiert Andronikos und Junia in Röm 16,7 gleich vierfach. Dabei stellt er durch die einzelnen Charakterisierungen jeweils einen Bezug zwischen dem gegrüßten Paar und sich selbst her. Die beiden ersten Charakterisierungen heben Gemeinsamkeiten zwischen Paulus einerseits und Andronikos und Junia andererseits hervor: 1. Sie entstammen demselben Volk wie Paulus, sind also wie er Judenchristen, und 2. sie waren Mitgefangene des Paulus. Die beiden letzten Charakterisierungen stehen zu den vorausgehenden in einem steigernden Verhältnis (Klimax) und stellen Andronikos und Junia in ein überbietendes Verhältnis zu Paulus. Dies gilt zunächst qualitativ: Sie ragen eben hervor unter den Aposteln, während Paulus sich selbst in 1Kor 15,9 ausdrücklich als den Geringsten unter den Aposteln bezeichnet. Sodann übertreffen sie Paulus aber auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Zugehörigkeit zu Christus. Sie waren nämlich schon vor ihm in Christus. Eine Notiz dagegen, die festhält, dass Andronikos und Junia den Jerusalemer Aposteln wohlbekannt seien, steht quer zur Pragmatik von Röm 16,7. Vgl. B. Brooten, „Junia … hervorragend unter den Aposteln“ (Röm. 16,7) in: E. Moltmann-Wendel (Hg.), Frauenbefreiung. Biblische und theologische Argumente, München 4. veränd. Aufl. 1986, 148–151, hier: 151. Im Unterschied dazu die lk Konzeption: Lk identifiziert die Apostel mit dem Zwölferkreis (als Verbindungsglied zwischen dem irdischen Jesus und den nachösterlichen Gemeinden [Nachwahl des Matthias Apg 1,15–26!]) und grenzt gemäß dieser Konzeption den Apostelkreis entsprechend ein. Z.B. Einheitsübersetzung, revidierte Lutherübersetzung, Zürcher Bibel. Zum Folgenden vgl. B. Brooten (s. Anm. 11), passim; G. Lohfink (s. Anm. 6), 327–332; H. Merklein, Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie. Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteilung von Frauen in paulinischen Gemeinden in: M. Evang, H. Merklein, M. Wolter (Hgg.), Eschatologie und Schöpfung. Festschrift für E. Gräßer zum 70. Geburtstag (BZNW 89), Berlin, New York 1997, 231– 259, hier: 246–248.
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Interessant ist nun allerdings, dass in zwei dieser wichtigen Textzeugen14 ein Akzent später nachgetragen wurde, und zwar – der weibliche! Auch die griechischen Kirchenväter interpretierten den Namen als Muttersprachler selbstverständlich weiblich und bestätigen damit den literarischen und inschriftlichen Befund.15 Erst in der Reformationszeit setzte sich die männliche Interpretation durch. Die philologisch hervorragend geschulten Exegeten des vorigen Jahrhunderts wussten allerdings noch um die weibliche Variante. Erst der Römerbriefkommentar von E. Käsemann aus dem Jahr 1960 fand den Befund keines Kommentars mehr für würdig. Aus Junia schien endgültig ein Junias geworden zu sein, bis B. Brooten in den 70er Jahren das Problem wieder bewusst machte.16 Mit Priska und Aquila sowie mit Andronikos und Junia begegnen uns also zwei Ehepaare, die in der missionarischen und wohl auch innergemeindlichen Evangeliumsverkündigung tätig sind. Dass sie darin keine Ausnahme darstellen, belegt eine Bemerkung des Paulus in 1Kor 9,5, wo er fragt: „Haben wir nicht das Recht dazu, eine (Glaubens)schwester als Frau mitzunehmen, wie die übrigen Apostel und die Brüder des Herrn und Kephas?“ Im Gegenteil: Diese Stelle legt nahe, dass die Wahrnehmung der Verkündigungstätigkeit durch Ehepaare sogar die Regel war. Im Unterschied zu den in 1Kor 9,5 erwähnten Frauen sind wir aber über Stellung und Funktion von Junia und Priska genauer informiert. Das 16. Kapitel des Römerbriefs beginnt nun nicht mit den Grüßen, die es insgesamt dominieren. Vielmehr bildet in den V. 1f ein Empfehlungsschreiben für eine gewisse Phoebe den Auftakt. Bei dieser Frau handelt es sich offenkundig um eine selbständige Geschäftsfrau, die in dem zu Korinth gehörigen Hafenort Kenchreä ansässig ist, wohl geschäftlich nach Rom reist17 und vielleicht auch den Römerbrief überbringt. Seine Empfehlung begründet Paulus dreifach: 1. Phoebe ist eine Glau14 15
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Codex Vaticanus (B) und Codex Claromontanus (D). Chrysostomus vermerkt ausdrücklich: „Ein Apostel zu sein ist etwas Großes. Aber hervorragend unter den Aposteln – bedenke, welch wunderbares Loblied das ist. Sie waren hervorragend auf Grund ihrer Arbeit und ihrer rechtschaffenen Taten. Wie groß muß die Weisheit dieser Frau gewesen sein, daß sie für den Titel Apostel würdig gefunden wurde.“ (In Epistolam ad Romanos 31,2: PG 60, 669f, zitiert nach B. Brooten [s. Anm. 11], 148). Interessant ist im Übrigen, wie die Herausgeber des „Nestle-Aland“, der maßgeblichen wissenschaftlichen Textausgabe des griechischen Neuen Testaments, mit Junia umgingen: Bis zur 25. Auflage fand sich der Nachweis der weiblichen Lesart auch im textkritischen Apparat. In der 26. Auflage wurde er entfernt. Aufgrund der eindeutigen Forschungsergebnisse mußte er allerdings als eine der wenigen Veränderungen erneut in die z. Zt. aktuelle 27. Auflage aufgenommen werden. Allerdings konnten sich die Herausgeber bis zum 4. Druck dieser Auflage nicht dazu durchringen, die weibliche Form Junían auch in den Text zu übernehmen, und dies gegen alle Kriterien einer wissenschaftlich verantworteten Textkritik (vgl. dazu P. Arzt, Junia oder Junias? Zum textkritischen Hintergrund von Röm 16,7 in: F.V. Reiterer, P. Eder OSB (Hgg.), Liebe zum Wort. Festschrift für P. Ludger Bernhard OSB, Salzburg, Wien 1993, 83–102). Erst der 5. Druck gesteht Junia seit neuestem den ihr gebührenden Platz im Text zu. Die Empfänger sollen Phoebe in jeder Sache (pragma) beistehen (V. 2). Die Wortwahl deutet darauf hin, dass es sich um Geschäftangelegenheiten handelt, vgl. G. Schneider, Art. pragma in: EWNT III, 345f.
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bensgenossin (Schwester). 2. Sie ist Diakonin der Gemeinde von Kenchreä. 3. Sie hat sich als Helferin von vielen, so auch von Paulus bewährt. Wahrscheinlich spielt Paulus damit auf die Gewährung von Gastfreundschaft an. Dies liegt nahe, denn als selbständige Geschäftsfrau dürfte sie einem eigenen Hauswesen mit Sklaven vorgestanden haben. Die Infrastruktur für die gastliche Aufnahme von Glaubensbrüdern und -schwestern stand ihr also zur Verfügung. Eine wichtige Frage ist nun, ob Paulus mit der Bezeichnung diakonos in V. 1 ganz unspezifisch zum Ausdruck bringen will: Phoebe erfüllt Dienstleistungen für die Gemeinde in Kenchreä. Oder deutet die Formulierung bereits auf institutionell sich verfestigende Strukturen (Stichwort: Amtsbezeichnung)? Für die zuletzt genannte Möglichkeit sprechen u.a. folgende Argumente:18 1. Legt man einen unspezifischen Gebrauch des Wortes zugrunde, entsteht eine inhaltliche Doppelung zu der in V. 2 genannten Helferfunktion. 2. Der wie der Römerbrief zu den Spätbriefen zählende Philipperbrief kennt ebenfalls bereits den Terminus Diakon (1,1). Er steht hier in unmittelbarem Zusammenhang zur Funktionsbezeichnung Episkop und weist daher wie diese auf eine institutionelle Verfestigung der Gemeindeaufgaben hin. 3. Die weibliche Form Diakonissa ist erst im 2. Jhd. belegt. So spricht also nichts dagegen, dass Paulus Phoebe die Funktionsbezeichnung in grammatisch männlicher Form zulegt. Das also, was diese Frau für ihre Gemeinde leistet, findet damit offenbar schon in einem institutionell fester gefügten Rahmen statt als die Arbeit der übrigen in Röm 16 genannten Frauen, die eher charismatisch verankert ist. Leider äußert sich Paulus nicht zur inhaltlichen Ausgestaltung der Diakonenfunktion, weil er diese Kenntnis wohl bei seinen Adressaten voraussetzen darf. Doch auch so bietet Röm 16,1–16 einen aufschlussreichen Einblick in das breite Tätigkeitsspektrum, das Frauen in den Gemeinden des paulinischen Missionsgebietes, aber auch in Rom abdeckten. Es verdient festgehalten zu werden: Weder sind dies allein frauenspezifische Tätigkeiten noch sind aus ihnen Leitungsfunktionen oder Verkündigungsdienst ausgeklammert.
1.3 Der Befund in 1Kor 11,2–1619 Durch 1Kor 11,2–16 bestätigt sich zunächst der Befund: Bei der Wahrnehmung gemeindlicher und auch speziell gottesdienstlicher Aufgaben herrschte in den paulinischen Gemeinden der ersten urchristlichen Generation eine funktionale Gleichstellung zwischen Männern und Frauen. Gleichwohl schreitet Paulus hier energisch 18 19
Vgl. G. Lohfink (s. Anm. 6), 326; W.-H. Ollrogg (s. Anm. 3), 31 und Anm. 126. Ausführlich hierzu M. Gielen, Beten (s. II.1.). S. dort auch zur Diskussion mit der Forschung.
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gegen ein Verhalten von Frauen ein, das die Erfahrungen der gemeindlichen Praxis ins Prinzipielle erhebt.
1.3.1 Der gesellschaftlich-kulturelle Hintergrund Anlass zur Kritik, die Paulus in 1Kor 11,2–16 übt, bietet folgender Sachverhalt: Es gibt Frauen in der korinthischen Gemeinde, die im Gottesdienst beten und prophezeien, ohne ihren Kopf zu „verhüllen“. Diese fehlende Verhüllung empfindet Paulus offenkundig als Provokation. Dabei richtet sich seine Kritik danach, was in der Gesellschaft akzeptiert bzw. nicht akzeptiert ist. Wiederholt (V. 4–6.13–15) nämlich spricht er von „Ehre“ bzw. „Schande“. Für Paulus liegt die Provokation also darin, dass die Frauen missachten, was in ihrer Gesellschaft und Kultur als typisch weiblich (bzw. typisch männlich) gilt, was also als Symbol für das Frau- bzw. Mannsein dient.20 Zumeist wird nun vermutet, dass der Verzicht der Frauen auf eine Verhüllung konkret in der Weigerung bestanden habe, im Gottesdienst eine Kopfbedeckung (Kopftuch oder Schleier) zu tragen. Allerdings besitzt diese Erklärung einen Schönheitsfehler. Denn die zeitgenössischen Informationsquellen machen eines ganz deutlich: Innerhalb des römisch-hellenistischen Kulturkreises galt eine Kopfbedeckung weder im Alltag noch im Bereich des Kultes als eindeutig weibliches Geschlechtsrollensymbol. Auch gab es in der Art der Kopfbedeckung offenbar keine Differenzen zwischen den Geschlechtern. Die Quellen sprechen hier unterschiedslos von einer Verhüllung, und zwar durch das über den Kopf gezogene Obergewand. Wesentliche Unterschiede lassen sich auch nicht zum jüdischen Kulturkreis aufzeigen. Nur bestand hier eine Verpflichtung für die Frauen, sich in der Öffentlichkeit mit bedecktem Haupt zu zeigen. Die Ablehnung einer Kopfbedeckung durch Frauen in der korinthischen Gemeinde konnte vor diesem Hintergrund wohl kaum als Verstoß gegen ein gesellschaftlich akzeptiertes Symbol des Frauseins verstanden werden. Zudem fällt auf, dass Paulus im griechischen Originalton nirgendwo von „Kopftuch“ oder „Schleier“ spricht. Er formuliert viel offener. Dies trifft besonders auf die Aussage über die Männer in V. 4 zu („etwas vom Kopf herab habend“). Bezogen auf die Frauen spricht Paulus von „mit unverhülltem Kopf“ (V. 5a), „sich (nicht) verhüllen“ (V. 6) und von „unverhüllt“ (V. 13). Zugleich lenkt er in den V. 5b–6.14f das Interesse auf die Haare. So dreht sich in V. 5b–6
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Wenn Paulus in diesem Zusammenhang in V. 14 im Übrigen einmal die Natur als Lehrmeisterin für ein schickliches „Outfit“ anführt, das zwischen Männern und Frauen unterscheidet, so zeigt dies nur: Er hat gestaltete Natur, und das heißt Kultur im Blick. Vgl. hierzu auch H. Merklein (s. Anm. 13), 242.
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alles um den Gegensatz radikale Entfernung der Haare oder ehrenvolle Verhüllung. In V. 14f argumentiert Paulus ganz selbstverständlich mit dem kurzen Haar als eindeutig männlichem Geschlechtsrollensymbol und mit dem langen Haar (dank seiner verhüllenden Funktion) als eindeutig weiblichem Geschlechtsrollensymbol. Diese Bewertung bestätigen im Übrigen seine Zeitgenossen Plutarch (Mor. 267B) und Phaedrus (Fab. 54,24–33, bes. 27), für die Kurzhaar den Mann bezeichnen kann. Bedenkt man dies, verliert auch ein anderer Erklärungsversuch an Überzeugungskraft. Er besteht darin, den Anlass für die paulinische Kritik in einer Weigerung der Frauen zu sehen, ihr langes Haar hochgesteckt zu tragen. Vielmehr hätten sie es lose herabfallen lassen, was in der Öffentlichkeit unschicklich gewesen sei. Offen bleiben bei dieser Erklärung allerdings folgende Fragen: 1. Warum sollte nur hochgestecktes langes Haar als Verhüllung dienen können? 2. Warum erwähnt Paulus wiederholt das Abschneiden von Haaren bzw. kurzes Haar (V. 5b–6.14f)? Daher hat die Vermutung, dass sich die korinthischen Frauen eine als typisch männlich geltende Kurzhaarfrisur zugelegt haben, die größte Wahrscheinlichkeit für sich.
1.3.2 Der Grund für das ungewöhnliche Verhalten der korinthischen Frauen Warum aber entschieden sich Frauen der korinthischen Gemeinde zu diesem außergewöhnlichen Schritt? Auslöser war wohl ihr Wissen um eine urchristliche Tauftradition, die auch Paulus selbst in Gal 3,27f zitiert: „Die ihr nämlich auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angezogen. Da gibt es nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Sklave noch Freier, nicht mehr männlich und weiblich. Ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ Diese Überlieferung betont also die neue Identität, die die Christen durch ihre Taufe in Christus Jesus gewonnen haben. In ihr sind demnach alle religiösen, sozialen und geschlechtlichen Unterschiede bedeutungslos. 1Kor 7,17–24 und 12,13 deuten auf die Kenntnis der Überlieferung in Korinth hin. Dabei greift Paulus jedoch jeweils nur die beiden ersten Gegensatzpaare „Jude/Grieche“ und „Sklave/Freier“ auf. Dass diese Gegensätze im Gemeindeleben keine Bedeutung mehr hatten, war offenbar unumstritten. Deshalb konnten sie von Paulus auch als Argument eingesetzt werden. Gerade der Zusammenhang von 1Kor 7 legt aber folgende Schlussfolgerung nahe: Das Bewusstsein des „nicht mehr männlich und weiblich“ begnügte sich in Korinth nicht mehr mit der Konsequenz, dass die geschlechtlichen Unterschiede bedeutungslos für Stellung und Aufgabe in der Gemeinde wurden. Die korinthische Überzeugung „Es ist gut für den Mann, eine Frau nicht anzurühren“ (7,1) belegt deutlich asketische Tendenzen. Sie ließen sich mit der Überzeugung des „nicht mehr männlich und weiblich“ glänzend
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begründen. Der Gedankengang war wohl folgender: Wenn in der durch Jesus Christus begründeten Erlösungsordnung die geschlechtliche Unterscheidung ihre Bedeutung verloren hat, ist damit die Schöpfungsordnung, die diese Unterscheidung begründet, aufgehoben. Jede sexuelle Begegnung zwischen Mann und Frau bestätigt die schöpfungsmäßige Unterscheidung nur. Sie hat also diesem Denken zufolge keinen Platz in der Erlösungsordnung mehr und ist daher abzulehnen. In ein solches Denken fügt sich auch hervorragend das Verhalten der korinthischen Frauen. Mit ihrer Kurzhaarfrisur entschieden sie sich bewusst für ein typisch männliches Geschlechtsrollensymbol. Eben damit wollten sie offenbar die Aufhebung der geschlechtlichen Unterschiede „in Christus“ auch nach außen erkennbar zeigen. Bezeichnend ist freilich, dass sie dabei das „nicht mehr männlich und weiblich“ von Gal 3,28 als „nur noch männlich“ auslegten. Dies allerdings ist verständlich innerhalb der männerzentrierten Gesellschaft, in der sie lebten. Denn gerade durch die Übernahme eines männlichen Geschlechtsrollensymbols konnten die korinthischen Christinnen ein Zeichen setzen. Sie gaben damit zu erkennen, dass sie nicht nur die geschlechtlichen Unterschiede, sondern auch ihre damit verbundene Benachteiligung durch ihre neue Existenz „in Christus“ als überwunden betrachteten.
1.3.3 Das Anliegen des Paulus Was Paulus sagt, klingt zunächst sehr hart und kompromisslos. Doch geht es ihm nicht darum, die gleichberechtigte Stellung der Frauen im Gottesdienst anzutasten. Ganz selbstverständlich stimmt Paulus mit der Gemeinde darin überein, dass Männer wie Frauen im Gottesdienst dieselben Aufgaben (Beten und Prophezeien) verrichten dürfen (V. 4–5a). Dies ist vor allem im Fall der Prophetie bedeutsam. Denn für Paulus hat gerade diese Geistesgabe einen besonders hohen Stellenwert, da sie zum Aufbau der Gemeinde beiträgt (1Kor 14,1–25). Die Auseinandersetzung geht allein um die Frage, wie, konkret wohl mit welcher Frisur Männer und Frauen beten und prophezeien. Hier besteht Paulus darauf, die Unterschiede in der Geschlechtsrollensymbolik zu wahren. Seine Argumente dafür legt er in den V. 3.7– 11 offen. In V. 3 schärft Paulus zunächst die abgestuften Beziehungen zwischen Gott, Christus, Mann und Frau ein. Diese Aussage steht zum einen in Beziehung zum Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer, und Christus, dem Schöpfungsmittler (1Kor 8,6). Zum anderen macht sich schon hier sein Verständnis der 2. Schöpfungserzählung Gen 2,4b–24 bemerkbar, das Paulus in den V. 7–9 darlegt. Dieses Verständnis ist nun ganz von der im damaligen Judentum gängigen Interpretation bestimmt. Der damit gegebene schöpfungstheologische Hintergrund von V. 3 emp-
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fiehlt es, das Bild vom Haupt im Sinn des Ursprungs zu verstehen. Damit lassen sich die genannten Beziehungen genauer bestimmen: Gott ist das Haupt Christi, denn Christus ist aus Gott. Christus ist das Haupt des Mannes, denn der Mann ist durch Christus. Der Mann schließlich ist Haupt der Frau, denn die Frau wurde nach Gen 2 aus ihm, der selbst Geschöpf ist, geschaffen. Damit verdanken Mann und Frau ihr Sein Gott, dem Schöpfer, und Christus, dem Schöpfungsmittler. Als Geschöpfe sind sie also gleichgestellt. Doch ist der Mann als Haupt der Frau dieser rangmäßig vorgeordnet, weil er zeitlich vor ihr geschaffen wurde. Diesen Gedanken wiederholt Paulus noch einmal ausdrücklich in den V. 8f. In seiner Argumentation dienen sie der Begründung von V. 7, der die Aussage von der Gottebenbildlichkeit des Menschen aus Gen 1,26f aufgreift. V. 7 begründet nun seinerseits die Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Geschlechtsrollensymbolik damit, dass der Mann Bild und Abglanz Gottes ist, die Frau aber nur Abglanz des Mannes. Spricht Paulus damit etwa der Frau die Gottebenbildlichkeit ab? Dies ist sehr unwahrscheinlich. Legt man nämlich Ps 8,6f zugrunde,21 liegt die doxa des Menschen, d.h. der ihm unabhängig vom Geschlecht eigene Widerschein der göttlichen Herrlichkeit, auf einer Ebene mit Bild (gr. eikon) als Bezeichnung für die Gottebenbildlichkeit des Menschen.22 Auch für Paulus selbst bringt dieser Begriff des „Abglanzes“ bzw. der „Herrlichkeit“ (im Griechischen steht hierfür jeweils dasselbe Wort doxa) das Wesen Gottes zum Ausdruck, wie es in Schöpfung und Offenbarung erkannt werden kann (Röm 1,20.23). So wird der Frau in 1Kor 11,7 nicht die Gottebenbildlichkeit abgesprochen. Nur verläuft der ihr eigene Widerschein göttlicher Herrlichkeit mittelbar über den Mann. Dies bedeutet aber keine Herabsetzung ihrer Würde. Denn Paulus argumentiert ja in V. 8 gerade von Gen 2,21–23 her, wonach die Frau dem Mann als einziges Lebewesen ebenbürtig ist. Vielmehr geht es Paulus in den V. 7–9, wie schon in V. 3, um die zeitliche Abfolge (Ersterschaffung des Mannes). Hiervon leitet er die Zuordnung der Geschlechter gerade in ihrer Verschiedenheit ab. In V. 10 folgert Paulus daraus die Notwendigkeit eines Verhaltens der Frau, das ihrer Frauenrolle entspricht. Konkret will Paulus sie wohl zum Tragen langer Haare verpflichten. Dies soll dokumentieren, dass sie die Kontrolle über sich selbst bewahrt. (Es geht also nicht so sehr um eine [als Ding verstandene] Vollmacht auf dem Kopf, wie zumeist übersetzt wird, sondern um die Vollmacht über den Kopf, d.h. über die eigene Person.) Paulus begründet dies mit den Engeln, die er hier wohl in ihrer Funktion als im Gottesdienst
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„Du hast ihn [den Menschen] nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. / Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen gelegt …“ Vgl. G. von Rad, Art. eikon, D. Die Gottebenbildlichkeit im AT in: ThWNT 2, 389f.
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anwesende Beobachter und Wächter über die Schöpfungsordnung versteht.23 Die V. 11f lenken die Aufmerksamkeit der Adressatinnen und Adressaten auf die „im Herrn“ geltende Erlösungsordnung. Sie bilden das Zentrum der paulinischen Argumentation. Grundlegend ist dabei folgender Gedanke: Die Erlösung in Jesus Christus hebt den Zusammenhang von Zeugung und Geburt, wie er durch die Schöpfungsordnung vorgegeben ist, nicht auf. Auch für die Christinnen und Christen, die in den paulinischen Gemeinden das „nicht mehr männlich und weiblich“ von Gal 3,28 ganz praktisch in der Gleichstellung bei ihren Aufgaben erleben, gilt weiterhin: Jede Frau ist von einem Mann gezeugt, d.h. sie ist nicht ohne den Mann, sondern aus ihm (vgl. V. 11f). Ebenso ist jeder Mann von einer Frau geboren, d.h. er ist nicht ohne die Frau, sondern durch sie. Weil sie also in ihrer schöpfungsgegebenen Unterscheidung aufeinander hingeordnet und angewiesen bleiben, muss der Mann als Mann und die Frau als Frau „im Herrn“ sein. Ebendies dokumentiert sich für Paulus in der gesellschaftlich-kulturell ausgeprägten Geschlechtsrollensymbolik, die es daher auch in den christlichen Gemeinden zu respektieren gilt. Gerade aber bei der Feier des Gottesdienstes wird das sensible Spannungsgefüge zwischen der in der Schöpfungsordnung begründeten Unterscheidung der Geschlechter und ihrer in der Erlösungsordnung begründeten Gleichrangigkeit am unmittelbarsten erfahrbar. Deshalb zeigt sich für Paulus hier ganz besonders die Schändlichkeit des Verhaltens der korinthischen Frauen, die dieses Spannungsgefüge gefährden. Darum macht er seine Kritik auch exemplarisch am gottesdienstlichen Bereich fest (V. 4f.13), ohne die Gleichheit von Mann und Frau bei der Ausübung gemeindlicher Aufgaben in Frage zu stellen. Der Dissens zwischen Paulus und (zumindest Teilen) der korinthischen Gemeinde berührt also nicht – und dies ist wichtig – die funktionale Gleichstellung der Geschlechter im Gemeindeleben. An ihr hält Paulus nicht nur in 1Kor 11,2–16 fest. Dass sie für ihn vielmehr eine Selbstverständlichkeit war, bestätigt in aller wünschenswerten Deutlichkeit auch Röm 16. Der Konflikt entzündet sich erst an einer unterschiedlichen Verhältnisbestimmung von Schöpfungs- und Erlösungsordnung.24 Im Unterschied nämlich zu einer in Korinth verfochtenen Meinung hält Paulus daran fest: Die Teilhabe aller Glaubenden an der in Jesus Christus begründeten und endzeitlich qualifizierten Erlösungsordnung bedeutet nicht, dass sie bereits den Strukturen der Schöpfungsordnung enthoben sind. Dies gilt auch und gerade für die in der Schöpfungsordnung grundgelegte Hinordnung der Geschlechter aufeinander in ihrer Verschiedenheit. Deshalb muss Paulus auch Tendenzen in Korinth Einhalt gebieten, die auf dem Weg der Askese zwischen Eheleuten die Auf23 24
Zum Motiv vgl. Ps 138,1; Offb 8,3; 1QSa 2,3–11; 1QM 7,4–6. Vgl. hierzu H. Merklein (s. Anm. 13), 234–236.
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hebung der Schöpfungsordnung dokumentieren wollen (1Kor 7,1b). Ein solches Bemühen ist für Paulus aber aufgrund der natürlichen Konstitution des Menschen von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Denn die Fähigkeit zur geschlechtlichen Askese ist seiner Überzeugung nach nur im Status der Ehelosigkeit denkbar. Sie verdankt sich dabei nicht menschlicher Willensanstrengung, sondern göttlichem Charisma. Beachtung verdient in unserem Kontext im Übrigen, dass Paulus in 1Kor 7,2–7 nicht einseitig aus männlich-patriarchaler Perspektive argumentiert, sondern wechselseitig aus der Perspektive von Mann und Frau. Die in der Zeit der Spannung zwischen dem Anbruch der endzeitlichen Erlösungsordnung und der noch bestehenden Schöpfungsordnung weiterhin gültige wechselseitige Hinordnung von Mann und Frau in ihrer Verschiedenheit findet nach paulinischer Überzeugung nun ihren sinnenfälligen Ausdruck in der Geschlechtsrollensymbolik. Dagegen lehnen Frauen in der korinthischen Gemeinde eine solche Geschlechtsrollensymbolik gerade ab. Denn sie sind der Überzeugung, dass sie durch die Taufe den Bedingungen der Schöpfungsordnung bereits enthoben sind, die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich also bereits eschatologisch aufgehoben ist. Der Streit geht also nicht nur um die vordergründige Modefrage des Haarschnitts und der Haarlänge. Als konkrete Geschlechtsrollensymbole, an denen sich der Konflikt zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde entzündet, erweisen sich lange bzw. kurze Haare allerdings als gesellschaftlich-kulturell bedingt und damit grundsätzlich auch wandelbar.
1.4 Fazit Die Zeugnisse der ersten Generation, also die echten Paulusbriefe, bieten ein Bild der Gleichberechtigung von Frauen und Männern bei der Erfüllung gemeindlicher Aufgaben. Diese funktionale Gleichberechtigung dürfte sich verschiedenen Faktoren verdankt haben. Zunächst ein äußerer Faktor: Die Situation der Gründungsphase brachte es mit sich, dass auf Gemeindeebene strukturell gleichsam beim Punkt Null angefangen werden musste. Somit waren verschiedene Optionen für die praktische Gestaltung von Gemeindeleben und -leitung gegeben. Dabei fiel die Entscheidung gegen den gesamtgesellschaftlichen Trend für eine gleichberechtigte Stellung von Männern und Frauen und für eine geschlechtsunabhängige Aufgabenverteilung. Hier greifen nun interne Faktoren: Zunächst ist die Erfahrung der geschlechtsunabhängigen Geistbegabung aller Getauften zu nennen, die sich konkretisiert in den verschiedenen Gnadengaben für den Gemeindeaufbau (1Kor 12!). Eng damit verbunden ist die Überzeugung, die in der Tauftradition Gal 3,27f ihren Niederschlag gefunden hat: Die in Christus neu gewonnene Identität aller Getauften
200
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hebt alle anderen Identitäten in ihrer trennenden oder sogar diskriminierenden Kraft auf. Dies gilt dann aber eben auch für die geschlechtliche Identität des Mannoder Frauseins. Allerdings besteht Paulus darauf, dass die schöpfungsmäßig begründete Verschiedenheit und Verwiesenheit der Geschlechter aufeinander auch „in Christus“ nicht einfachhin geleugnet wird. Deshalb pocht er vehement auf die Einhaltung der gesellschaftlich akzeptierten Geschlechtsrollensymbolik. Die funktionale Gleichstellung von Frauen auf Gemeindebene stand ungeachtet dessen für ihn nie zur Disposition.
2. Stellung und Funktion von Frauen in den paulinischen Gemeinden nach dem Tod des Gemeindegründers 2.1 Die Zeugnisse der 2. Generation: Kolosser- und Epheserbrief Die gesellschaftlich-kulturelle Verflechtung urchristlicher Gemeindewirklichkeit berührt dann in der zweiten und dritten Generation sehr viel stärker die Stellung und Funktion von Frauen. Die deuteropaulinischen Briefe an die Kolosser (ca. 70 n.Chr.) und Epheser (ca. 80–90 n.Chr.) bieten kaum Hinweise auf gemeindliche Mitarbeit von Frauen. Allerdings findet sich in Kol 4,15 ein Gruß des Verfassers an eine Frau namens Nympha und die Gemeinde in ihrem Haus. Das heißt, Nympha hat wohl ihr Haus der örtlichen Gemeinde zu Versammlungs- und anderen Zwecken zur Verfügung gestellt. Dies lässt darauf schließen, dass sie eine aktive Rolle im Gemeindeleben spielte. Aufschlussreich für unsere Fragestellung sind allerdings die sog. Haustafeln, die sich sowohl im Kol (3,18–4,1) wie im Eph (5,21–6,9) finden.25 Sie dürften ihre Entstehung der großen Bedeutung verdanken, die gerade den Häusern für die Existenz der Gemeinden und die Entfaltung des Gemeindelebens zukam. Haus meint dabei im antiken Verständnis eine komplexe und autarke Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von Familienangehörigen im engeren und weiteren Sinn (Hausbesitzer mit Frau, Kindern, ggf. weiteren Verwandten sowie die Sklaven
25
Vgl. hierzu: M. Gielen, Tradition und Theologie neutestamentlicher Haustafelethik. Ein Beitrag zur Frage einer christlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen (BBB 75), Frankfurt a.M. 1990; H. v. Lips, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament (WMANT 64), Neukirchen-Vluyn 1990, 356–378; D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und antike Ökonomie: NTS 27 (1981), 83–97; K. Müller, Die Haustafel des Kolosserbriefes und das antike Frauenthema. Eine kritische Rückschau auf alte Ergebnisse in: G. Dautzenberg, H. Merklein, K. Müller (Hgg.), Die Frau im Urchristentum (QD 95), Freiburg, Basel, Wien 1983, 263–319; A. Standhartinger, Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefes (NT Suppl. 94), Leiden, Boston, Köln 1999, 247–276; J. Woyke, Die neutestamentlichen Haustafeln. Ein kritischer und konstruktiver Forschungsüberblick (SBS 184), Stuttgart 2000.
Stellung und Funktion von Frauen in paulinischen Gemeinden
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und ihre Familien). In den Städten waren solche Hauswesen zumeist im Milieu von Handwerk und Handel angesiedelt. Es ist nun bezeichnend, dass Paulus sich bei seiner städtezentrierten Mission durchweg zunächst an die materiell und sozial bessergestellte Gruppe der Hausbesitzer wandte. Vertreter aus ihren Reihen traf er mit ziemlicher Sicherheit unter den heidnischen Sympathisanten mit dem Judentum, den sog. Gottesfürchtigen. Nicht zufällig begann Paulus also wohl in aller Regel seine Missionspredigt in einer Stadt in der örtlichen Synagoge, obwohl er sich von Gott zur Evangeliumsverkündigung unter den Heiden gesandt wusste (Gal 1,15f). Denn es war unverzichtbar, zu Beginn der Missionsverkündigung einen oder mehrere Hausbesitzer für den Glauben an Jesus Christus zu gewinnen. Nur wenn sie ihr Hauswesen mit seiner gesamten Infrastruktur zur Verfügung stellten, konnte sich ein Gemeindeleben entwickeln. So boten die Häuser zum einen das materielle Fundament der Gemeinde, deren Mitglieder sich in ihrer Mehrzahl aus den sozial niedrigen Schichten rekrutierten (vgl. 1Kor 1,26). Zum anderen boten allein die Häuser Platz, wenn sich die Gemeinde zur Feier des Herrenmahles, zu gemeinsamem Gebet oder zur Katechese versammelte. Darüber hinaus übernahmen Mitglieder christlicher Häuser Kurierdienste zwischen der Gemeinde und ihrem Gemeindegründer, wenn dieser nach meist nur kurzem Aufenthalt die junge, noch ungefestigte Gemeinschaft wieder verlassen musste (1Kor 16,17). Schließlich boten die Häuser umherreisenden Mitchristen oder auch Missionaren Quartier und Gastfreundschaft. Kurzum: Gerade aus den Häusern rekrutierten sich die entscheidenden Verantwortungsträger der Gemeinde (1Kor 16,15f.19; Röm 16,3–5.23 u.ö.). Angesichts dessen lag es nahe, bei allmählich schwindender Naherwartung die Frage nach der Ordnung und Führung solcher Hauswesen in ihrer komplexen Struktur bewusst zu reflektieren, und zwar unter christlichem Vorzeichen. Da die Existenz der Hauswesen der Existenz der Gemeinde vorauslag, war diese Frage schon zuvor im profan-gesellschaftlichen Zusammenhang aktuell. Die Haustafeln des Kol und Eph greifen nun das bereits im 4. Jhd.v.Chr. entwickelte Konzept der Oikonomik auf. Adressat der Oikonomiktraktate ist stets der Hausherr. Ihm werden im Blick auf das wirtschaftliche Gedeihen seines Hauswesens sachdienliche Hinweise zur Führung der konstitutiven Gruppen von Frau, Kindern und Sklaven gegeben. Diese implizieren dabei stets die Empfehlung zum Verzicht auf ein Ausspielen seiner patriarchalen Machtfülle. In der römisch-hellenistischen Gesellschaft der Zeitenwende gewann das Oikonomikkonzept erneut an Aktualität. In der gesellschaftlichen Diskussion über eine einsetzende Frauenemanzipation, die auch eine streng restaurativ-patriarchalische Gegenbewegung auslöste, spielte es den vermittelnden Part zwischen den Extremen. Diesen Entwurf mit seiner gemildert-patriarchalischen Grundtendenz, der im Dienst funktionstüchtiger und wirtschaftlich blühender Hauswesen stand, greifen nun die Haustafeln des Kolosser- und Epheser-
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briefes auf. Zugleich wird dieser Entwurf unter dem Vorzeichen christlicher Glaubens- und Gemeindeerfahrung modifiziert: Adressat ist nicht mehr allein der Hausherr, sondern auch Frau, Kinder und Sklaven als die untergeordneten Mitglieder des Hauses. An sie alle ergehen verbindliche Mahnungen, d.h. auch der Hausherr wird in seiner souveränen Entscheidung über die Art seiner Haushaltsführung eingeschränkt. Er ist nicht mehr Adressat einer Empfehlung, sondern Befehlsempfänger. Das Schema von Über- und Unterordnung in den zwischenmenschlichen Beziehungen wird aufgebrochen. Denn indem alle Mitglieder des Hauses einschließlich des Hausherrn auf ihre Bindung an den einen Herrn hin angesprochen werden (Kol 4,1; Eph 6,9), befinden sie sich alle Jesus Christus gegenüber in der Rolle der Untergeordneten.26 So ist es kein Zufall, dass die Haustafel des Eph in 5,21 dann auch eingeleitet wird mit der Aufforderung, sich einander unterzuordnen in der Ehrfurcht Christus gegenüber. Diese Modifikationen dürften sich dem Bewusstsein verdanken, dass in der Taufe alle unterschiedslos die Identität des „Einer-Sein-inChristus“ gewonnen haben. Konkret fand dies seinen Niederschlag in einer Aufhebung der Relevanz aller ethnisch-religiösen, sozialen und geschlechtlichen Unterschiede im Raum der Gemeinde. Gleichwohl muss festgestellt werden: Die Erfahrungen der Gemeindewirklichkeit, die eine funktionale Gleichstellung von Frauen und Männern kannte, werden in der zweiten Generation für die soziale Ordnung christlicher Häuser nicht fruchtbar gemacht. Eine Formulierung, die etwa Priska und Aquila auf einer Ebene als Leitung eines Hauswesens in den Blick fasst (1Kor 16,19; Röm 16,3.5), ist vor dem Hintergrund der Haustafeln schwerlich denkbar. Zwar kennt der Kolosserbrief mit Nympha in der Praxis durchaus noch eine (wohl alleinstehende) Frau als Leiterin eines Hauses, in dem sich die Gemeinde versammelte (4,15). Dennoch orientiert sich das Ergebnis der Reflexion über die soziale Ordnung des christlichen Hauses am patriarchalischen Mainstream der römischhellenistischen Gesellschaft: In den Haustafeln wird selbstverständlich die Leitung durch einen Hausherrn vorausgesetzt, wenngleich in der gemilderten Form der Oikonomikkonzeption. Es ist also festzuhalten: Bei der Entscheidung über die Frage der sozialen Ordnung des christlichen Hauses bezeugen der Kolosser- und 26
A. Standhartinger (s. Anm. 25), 261–265 führt die Gesetzessammlungen des Charondas und Zaleukos an als „Beispiele für die Verbreitung einer Gattung von Texten, die imperativische Ermahnungen rund um die sozialen Beziehungen, verbunden mit kurzen Begründungen an einzelne soziale Gruppen des antiken oikos, zusammenstellt“ (Zitat a.a.O. 265). Auch diese Textbeispiele gehören m.E. in den Bereich der eng mit der Politik verknüpften antiken Oikonomikliteratur. Doch entsprechen sie bei näherer Betrachtung ebensowenig wie die zuvor bereits etwa bei K. Müller, D. Lührmann oder M. Gielen (s. Anm. 25) herangezogenen Oikonomiktexte dem Formschema der Haustafeln des Kolosser- und Epheserbriefes (direkte Anrede, Mahnung in der 2. Pers. Imperativ Plural; stereotype Voranstellung der untergeordneten Gruppen; konsequent durchgehaltene religiöse Fundierung der Mahnungen). Dieses Formschema und die damit verbundenen Implikationen haben meiner Meinung nach daher weiterhin als genuin christlich zu gelten
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der Epheserbrief für das paulinische Missionsgebiet eine bewusste Wahl zwischen verschiedenen, in der profanen Gesellschaft bereitstehenden Modellen. Indem diese Wahl auf das maßvoll-konservative Modell der Oikonomik fällt, findet eine Angleichung an gesamtgesellschaftlich dominierende patriarchale Strukturen statt. Damit erweist sich der gesellschaftliche Einfluss stärker als die Erfahrungen der Gemeindewirklichkeit. Da diese Erfahrungen geprägt waren von einer funktionalen Gleichstellung der Geschlechter, hätte sich ein Aufgreifen in der Gesellschaft vorhandener liberal-emanzipatorischer Tendenzen nämlich geradezu angeboten. Tatsächlich beschränkt sich der Einfluss gemeindlicher Erfahrungen aber auf die genannten Modifikationen an der Oikonomikkonzeption, ohne dabei ihre patriarchale Grundtendenz in Frage zu stellen.
2.2 Die Zeugnisse der 3. Generation: Pastoralbriefe (Schwerpunkt: 1. Timotheusbrief) Nicht zuletzt das Beispiel der Hausherrin Nympha, die ihr Haus der Gemeinde zur Verfügung stellte, belegt: Die Option für eine gemäßigt-patriarchale Sozialordnung des christlichen Hauses in der zweiten urchristlichen Generation hatte zunächst noch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Gemeindepraxis. Dies änderte sich in der dritten Generation, die literarisch durch die Pastoralbriefe (ca. 100 n.Chr.) repräsentiert wird.27 Die Stoßrichtung der Pastoralbriefe ist eine doppelte: Nach innen gilt es, die christlichen Gemeinden gegen Irrlehren zu immunisieren. Als zentrale Aufgabe der Gemeindeleitung wird es daher angesehen, die „gesunde Lehre“ zu wahren und zu fördern. Nach außen gilt es, die Akzeptanz der christlichen Gemeinden durch die heidnische Gesellschaft zu steigern.28 Wo immer es möglich ist, bemüht sich der Verfasser der Pastoralbriefe daher, Übereinstimmungen zwischen dem gesamtgesellschaftlich akzeptierten und dem christlichen Ethos aufzuzeigen.29 Was Stellung und Funktion von Frauen in christlichen Gemeinden betrifft, so erfolgt in den Pastoralbriefen eine folgenschwere Weichenstellung.30 Denn die 27
28 29
30
Vgl. L. Oberlinner, Die Pastoralbriefe. Erste Folge: Kommentar zum Ersten Timotheusbrief (HThK XI 2/1), Freiburg/Basel/Wien 1994, XLVI; J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus (EKK XV), Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1988, 46. Vgl. J. Roloff (s. Anm. 27), 26.42f. Sehr deutlich wird dies etwa in den sog. Berufspflichtenspiegeln für Episkopen (1Tim 3,1–7) und Diakone (1Tim 3,8–13). Hier geht es nicht um spezifisch christliche oder theologische Qualifikationen, sondern um ein Persönlichkeitsprofil, das mit dem anderer Leitungsfunktionen in der profanen Gesellschaft übereinstimmt, vgl. L. Oberlinner (s. Anm. 27), 110f; J. Roloff (s. Anm. 27), 150f. Vgl. dazu ausführlich U. Wagener, Die Ordnung des „Hauses Gottes“. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe (WUNT 2/65), Tübingen 1994.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
Struktur der christlichen Gemeinde wird an die Struktur des christlichen Hauses angeglichen. Dessen soziale Ordnung aber war durch die Haustafeln bereits als grundsätzlich patriarchal definiert worden. Damit wird die bis dahin in den Gemeinden des paulinischen Missionsgebietes praktizierte charismatische Gemeindeleitung abgelöst. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass eine zahlenmäßig wohl variable Gruppe von Männern und Frauen aufgrund der ihnen vom Geist verliehenen Fähigkeiten Verantwortung für die Gemeinde übernahm.31 Im Unterschied dazu bestimmt der Verfasser der Pastoralbriefe die Gemeindeleitung als eine Aufgabe, um die man(n) sich bewerben kann, wenn bestimmte, weitgehend bürgerliche Kriterien erfüllt sind (1Tim 3,1–7). Insofern die Gemeinde als „Hauswesen Gottes“ verstanden wird (1Tim 3,15), ist eine zentrale Voraussetzung die Bewährung im eigenen Haus (1Tim 3,5). Dieses Konzept bringt es mit sich, daß die Gemeinde nurmehr von einer einzigen Person geleitet werden soll, und zwar von einem Mann. Dieses Modell hatte angesichts der in den Pastoralbriefen verfolgten Intentionen unbestreitbare Vorzüge. So ermöglichte die Konzentration der Gemeindeleitung in der Hand einer einzigen Person den denkbar wirksamsten Schutz gegen den Einfluss von Irrlehrern. Nach außen zur heidnisch-profanen und weithin patriarchal strukturierten Gesellschaft hin aber machte es einen guten Eindruck, wenn der Repräsentant der Gemeinde ein Mann war. Die Kehrseite der Medaille war, dass der Verfasser der Pastoralbriefe sich eifrig darum bemühte, den Einfluss von Frauen auf Gemeindeebene zurückzudrängen bzw. ganz zu beseitigen. Ihre Rolle wurde stattdessen konservativ-gesellschaftlichen Tendenzen konform auf innerfamiliäre Aufgaben eingegrenzt.32 Dies unterstreichen eindrucksvoll der sog. Frauenspiegel (1Tim 2,9–15) und die sog. Witwenregel (1Tim 5,3–16). Entsprechend der geforderten Unterordnung unter den Mann und der intendierten Beschränkung auf die Familie verbietet der Verfasser des 1Tim den Frauen das gemeindliche Lehren (2,12). Implizit bezeugt das Verbot im Übrigen nur, dass Frauen zur Zeit der Abfassung der Pastoralbriefe noch Lehraufgaben wahrnahmen. Dies bestätigt auf subtile Weise der Berufspflichtenspiegel für Diakone (1Tim 3,8–13). Im Unterschied zum unmittelbar vorausgehenden Pflichtenspiegel eines Episkopen (Sg.!) werden hier Kriterien für Diakone und für Frauen, d.h. Diakoninnen aufgestellt. Die grundlegende Bedingung für die Zulassung zum Amt wird in V. 10 genannt: die Unbescholtenheit. Ihr korrespondiert in den V. 8.11 die Forderung nach Ehrbarkeit. Sie wird in einem jeweils dreigliedrigen Kriterienkatalog weiter entfaltet. Dabei ent31
32
Dabei kristallisierten sich gegen Ende der ersten Generation durchaus schon institutionell sich auf ein Amt hin verfestigende Funktionen heraus (1Kor 12,28f; Röm 16,1; Phil 1,1). Ausführlich dazu G. Dautzenberg, Zur Stellung der Frauen in den paulinischen Gemeinden in: ders., H. Merklein, K. Müller (Hgg.), Die Frau im Urchristentum (QD 95), Freiburg, Basel, Wien 1983, 182–224, hier: 193–205.
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sprechen sich „nicht doppelzüngig“ (V. 8) und „nicht verleumderisch“ (V. 11), „kein Alkoholiker“ (V. 8) und „nüchtern“ (V. 11) sowie „nicht gierig nach schändlichem Gewinn“ (V. 8) und „zuverlässig in allen Dingen“ (V. 11). Diese Eignungskriterien konzentrieren sich auf gesamtgesellschaftlich geforderte Verhaltensnormen. Daher lassen sie nur wenig Rückschlüsse auf das spezifische Aufgabenfeld des Diakonenamtes zu. Allenfalls aus dem Verbot der Gewinnsucht und dem Gebot der Zuverlässigkeit lässt sich vorsichtig folgern, dass es karitative Aufgaben umfasste, etwa die Einsammlung und Verteilung von Spenden. Was aber spricht dafür, dass es sich bei den in V. 11 genannten Frauen um Diakoninnen handelt? Liegt es stattdessen nicht viel näher, in ihnen die Ehefrauen der Diakone zu sehen? Dies scheint noch dadurch gestützt zu werden, dass der nachfolgende V. 12 auf die familiäre Situation der Diakone eigens eingeht. Doch hat eine Gleichsetzung der in V. 11 genannten Frauen mit Diakoninnen die besseren Argumente für sich:33 Erstens spricht dafür die auffallende formale und inhaltliche Parallelisierung der Eignungskriterien in den V. 8.11. Zweitens: Wären die Ehefrauen der Diakone gemeint, so müßte im Griechischen anders (mit Artikel und mit Possessivpronomen) formuliert werden. Drittens wäre in diesem Fall auch das Fehlen entsprechender Weisungen für die Ehefrau des Episkopen im vorausgehenden Abschnitt unerklärlich. Denn schließlich bekleidet der Episkop im Konzept der Pastoralbriefe die exponiertere Stelle im Vergleich zu den Diakonen. Viertens schließlich belegt der berühmte Briefwechsel zwischen Plinius und Kaiser Trajan für das Verbreitungsgebiet der Pastoralbriefe zu Beginn des 2. Jhds.n.Chr. (!) die Existenz weiblicher Diakone (ministrae) (vgl. Plin. ep. 10,96,8). Während es also in der lateinischen Sprache die weibliche Entsprechung zu minister gibt, ist sie für die griechische Sprache, wie erwähnt, erst im 2. Jhd. n.Chr. belegt. So spricht auch dieser Befund eher für als gegen das Verständnis der in V. 11 genannten Frauen als Diakoninnen. Um zwischen männlichen und weiblichen Amtsträgern unterscheiden zu können, stand also dem griechischsprachigen Verfasser der Pastoralbriefe in Abgrenzung von Diakonen nur die neutrale Bezeichnung Frauen zur Verfügung. Offensichtlich war er aber an dieser Unterscheidung sehr interessiert. So fügt er in V. 12 für die männlichen Amtsträger eigens eine Vorschrift zu Familienstand und -situation ein, die der Vorschrift für den Episkopen entspricht (V. 2.4). Ein wichtiges Eignungskriterium für die Diakone ist demnach ihre Führungskompetenz als Familienväter und Hausvorsteher. Dieses Kriterium der Führungskompetenz lässt sich aber im Denkhorizont der Pastoralbriefe keinesfalls auf Diakoninnen übertragen. Denn die Frauen sollen im Haus stets die dem Mann untergeordnete Rolle spielen (2,12b). 33
Vgl. auch L. Oberlinner (s. Anm. 27), 139–142; J. Roloff (s. Anm. 27), 164f; G. Lohfink (s. Anm. 6), 332–334.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
Auch wird im Unterschied zu den Diakonen bei den Diakoninnen nicht der Status des Verheiratetseins erwähnt. Möglicherweise bekleideten also gerade unverheiratete, selbständige Frauen vorzugsweise dieses Amt (vgl. Röm 16,1f!). Dies aber war dem Verfasser der Pastoralbriefe wiederum ein Dorn im Auge, sah er doch die Bestimmung der Frau im Gebären von Kindern und in der Sorge für die Familie, konkret also eingeschränkt auf den häuslichen Bereich (1Tim 2,9–15; 5,3–16). Fast interessanter ist aber noch eine andere Differenz, die in 1Tim 3,8–13 zwischen Diakonen und Diakoninnen gemacht wird. Denn nur für die Männer wird die Vorschrift formuliert: „Sie sollen mit reinem Gewissen am Geheimnis des Glaubens festhalten“ (V. 9). Dieses Geheimnis des Glaubens ist nach Auskunft von 1Tim 3,16 nun nichts Geringeres als der Inhalt des Evangeliums, wie es apostolisch überliefert wurde (Paulus ist der fiktive Sprecher!). Das Geheimnis des Glaubens entspricht somit der gesunden Lehre, die es zu bewahren gilt. Nun ist kaum anzunehmen, dass die Forderung nach Akzeptanz der gesunden Lehre nicht auch die Diakoninnen betreffen sollte. Daher ist zu vermuten, dass die Forderung in V. 9 weniger auf die passive Akzeptanz, sondern primär auf die aktive Weitergabe abhebt. Der Berufspflichtenspiegel in 1Tim 3,8–13 sieht also vor, dass nur die Diakone, nicht aber die Diakoninnen mit dem Dienst der Verkündigung und Katechese betraut werden sollen. Dies entspricht der generellen Zielsetzung der Pastoralbriefe, den Frauen das Lehren strikt zu untersagen (1Tim 2,11f). Ihr Verfasser geht also von der Gemeindepraxis aus, die die Ausübung des Diakonats durch Männer und Frauen gleichermaßen kennt. Dies entspricht nun in keiner Weise seinem konservativ-patriarchalischem Frauenbild, das er aus Gründen der Außenwirkung wie der inneren Konsolidierung der Gemeinden durchsetzen will. Offenbar sieht er aber keine Chance, sofort ein generelles Verbot des Diakonats der Frau durchzusetzen. So versucht er auf subtile Weise, durch den Kriterienkatalog für den Diakonat die Kompetenzen der Diakoninnen im Vergleich zu den Diakonen einzuschränken. Dass bei den Frauen keine Leitungskompetenz eingefordert wird, bedeutet nichts anderes, als dass sie Leitungsaufgaben nicht mehr wahrnehmen sollen. Mit der Aufgabe der Verkündigung und Katechese sollen nur noch die Männer betraut werden, denn nur an ihre Adresse wird gesagt: Sie sollen das Geheimnis des Glaubens (aktiv) bewahren. So soll der bisher identische Aufgabenbereich der Diakone und Diakoninnen für die Frauen auf karitative Tätigkeiten eingeschränkt werden.34 Blickt man auf die weitere Entwicklung, so ist die Rechnung des Verfassers der Pastoralbriefe aufgegangen. Die von ihm angestrebte Aushöhlung des Diakonats der Frau setzte sich offenbar in den Gemeinden des paulinischen Missionsgebietes 34
Vgl. L. Oberlinner (s. Anm. 27), 141f.
Stellung und Funktion von Frauen in paulinischen Gemeinden
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durch und führte schließlich in Konsequenz zur endgültigen Verdrängung der Frauen aus diesem Amt. Ebenso erfolgreich war sein Konzept, die Gemeinde in Angleichung an die Strukturen des antiken Hauses mit seiner prinzipiell patriarchalischen Ausrichtung zu organisieren. Die hierarchische Ausrichtung dieses Konzepts mit einem natürlich männlichen Gemeindeleiter als Hausvater bzw. in Vertretung Gottes als Hausverwalter (Tit 1,7) an der Spitze führte schließlich zu einer generellen Verdrängung der Frauen aus der Ebene der Gemeindeleitung. Eher als Fußnote möchte ich noch folgendes anfügen: Die echten Paulusbriefe bezeugen, wie gesehen, ganz selbstverständlich eine gleichberechtigte Stellung von Frauen und Männer in ihren gemeindlichen Funktionen. In deutlichem Widerspruch dazu steht das berühmt-berüchtigte „mulier taceat in ecclesia“. Diese Forderung nach Schweigen der Frauen in der Gemeindeversammlung und damit nach Unterordnung findet sich in 1Kor 14,33b–36, also in einem echten Paulusbrief. Dennoch darf Paulus für diese Forderung nicht verantwortlich gemacht werden. Vielmehr entspricht sie recht genau dem gerade skizzierten theologischen Konzept der Pastoralbriefe. Da sich die Verse zudem problemlos aus ihrem jetzigen Kontext herauslösen lassen, ja inhaltlich dort ein Fremdkörper sind, nur lose mit ihm verbunden durch das Stichwort „schweigen“, liegt der Verdacht nahe: Bei 1Kor 14,33b–36 handelt es sich um eine nachpaulinische Einfügung, die unter dem Einfluss der Entwicklung, die die Pastoralbriefe repräsentieren und fördern, vorgenommen wurde.35
3. Zusammenfassung und Ausblick Die Entwicklung der Stellung und Funktionen von Frauen in den paulinischen Gemeinden der drei ersten urchristlichen Generationen lässt sich anhand der Briefe des Corpus Paulinum recht zuverlässig skizzieren. Sie ist gleichbedeutend mit einer stetigen Einschränkung des Handlungsspielraums von Frauen.36 Die Paulusbriefe dokumentieren eine funktionale Gleichstellung von Männern und Frauen auf Gemeindebene. Sie gründete zum einen in der Erfahrung der geschlechtsunabhängigen Geistbegabung der Gemeindemitglieder (1Kor 12), zum anderen in ihrer durch die Taufe erhaltenen neuen Identität des „Einer-in-Christus“ (Gal 3,28). 35
36
Nachzulesen ist diese These und ihre Begründung bei G. Dautzenberg, Urchristliche Prophetie (BWANT 104), Stuttgart u.a. 1975, 257–273. Sie wird heute in der exegetischen Forschung weithin akzeptiert. Eine Ausnahme unter den jüngeren Veröffentlichungen bildet etwa C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHNT 7), Berlin 1996, 341–345. Vgl. dazu den treffenden Untertitel des Beitrags von H. Merklein (s. Anm. 13): Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteilung von Frauen in paulinischen Gemeinden.
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II. Frauen in paulinischen Gemeinden
Für die weitere Entwicklung entscheidend wurde dann, dass der Vollzug des Gemeindelebens auf die Infrastruktur christlich gewordener Hauswesen angewiesen war. Hier waren aber aus vorchristlicher Zeit gesellschaftlich geprägte Strukturen vorgegeben. Wenngleich es nun in der römisch-hellenistischen Gesellschaft im 1. Jhd. v. und n.Chr. Ansätze einer Frauenemanzipation gab, war sie insgesamt konservativ-patriarchal bestimmt. Innerhalb eines gesellschaftlichen Diskurses wählten schließlich die urchristlichen Gemeinden der zweiten Generation in der Frage der Gestaltung christlicher Hauswesen einen Kompromiss. Sie entschieden sich zwischen den Extremen emanzipatorischer und streng restaurativer Bestrebungen für das maßvoll vermittelnde Modell der Oikonomik. Diese Wahl fand ihren Niederschlag in den sog. Haustafeln des Kolosser- und Epheserbriefes. Zwar wurden christlicherseits noch einmal Modifikationen an der Oikonomikkonzeption aufgrund von Glaubensüberzeugungen und Gemeindeerfahrungen vorgenommen. Dennoch ist die Grundtendenz der Haustafeln klar patriarchal, d.h. auf den (männlichen) Hausvorstand ausgerichtet. Damit findet in der zweiten urchristlichen Generation auf der Ebene der Häuser eine deutliche Angleichung an den gesamtgesellschaftlichen Mainstream statt. Die Ebene der Gemeinde ist davon, soweit wir erkennen können, noch nicht betroffen. Ebenso ist in der Praxis die Leitung eines christlichen Hauswesens durch eine Frau bezeugt (Kol 4,15). War aber die Gemeinde für ihre Existenz auf die Infrastruktur christlicher Hauswesen angewiesen, so konnte es nur eine Frage der Zeit sein, wann die Entscheidung für eine grundsätzlich patriarchale Struktur dieser Häuser auch auf die Gemeindestruktur zurückwirkte. Genau dies geschieht dann bereits eine Generation später in den sog. Pastoralbriefen. Ihr Verfasser tritt ausdrücklich ein für eine Angleichung der Gemeindestruktur an die Struktur des antiken Hauswesens. Sein Votum sollte sich schon bald als äußerst einflussreich und wirkmächtig erweisen. Die Folge war eine strikt hierarchisch-patriarchale Konzeption von Gemeinde und damit verbunden eine vollkommene Verdrängung von Frauen als aktiven Verantwortungsträgerinnen im Gemeindeleben. Die große Durchsetzungskraft der Konzeption der Pastoralbriefe dürfte vor allem in ihrer Übereinstimmung mit dem gesellschaftlich-kulturellen Erfahrungshorizont der Gemeindemitglieder zu suchen sein. Offenbar ließ sich in einer Zeit schwindender Naherwartung und fortschreitender Institutionalisierung der Spagat zwischen gesellschaftlicher Erfahrung und gemeindlicher Kontrasterfahrung im Rollenspiel der Geschlechter nicht länger aushalten. Interessanterweise erleben wir heute, wie mir scheint, nicht zuletzt deswegen eine Entwicklung unter umgekehrtem Vorzeichen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte vor allem in Europa und in Nordamerika eine kräftige gesellschaftliche Emanzipationsbewegung von Frauen ein. Es dürfte daher wohl kaum ein Zufall sein, dass sich parallel dazu, gestützt durch die Aufbruchstimmung, die das 2. Vati-
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kanum auslöste, auch immer mehr Tätigkeitsfelder für Frauen in Gemeinde und Kirche öffneten und öffnen. Weder gesellschaftlich noch kirchlich ist bislang eine volle Gleichberechtigung in der Wahrnehmung von Funktionen durch Frauen und Männer erreicht. Das Problembewusstsein in der Gesellschaft wie in der Kirche – und hier vor allem an der Basis – ist aber geschärft. In Rückbesinnung auf die praktischen Konsequenzen der Geisterfahrung in der 1. urchristlichen Generation und vor allem im Vertrauen auf das auch gegenwärtige Wirken des endzeitlichen Gottesgeistes könnte und sollte Kirche sich als Motor der Entwicklung erweisen. Vielleicht erscheint dies manchem und mancher als zu optimistisch. Dennoch: Wir dürfen auf den Fortgang der Ereignisse gespannt sein!
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Mut zur Herrenmahlgemeinschaft Ökumenische Impulse aus paulinischer Perspektive
Zur Feier des Herrenmahls äußert Paulus sich nur im 1. Korintherbrief.1 Dieser Brief spiegelt in seiner bunten Themenpalette die vielfältigen Fragen und Probleme wider, die das Leben der erst wenige Jahre zuvor gegründeten korinthischen Gemeinde bestimmten und belasteten. Als besonders gravierend erwiesen sich Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen (1Kor 1–4; vgl. 12–14). Sie erwuchsen aus einer konkurrierenden Berufung auf verschiedene Verkündiger und die Art ihrer Verkündigung. Dabei spielte wohl vor allem ein unterschiedliches Bildungsniveau zwischen den Anhängern der verschiedenen Gruppen eine entscheidende Rolle. Ein höheres Bildungsniveau steht aber in Wechselbeziehung mit den ökonomisch-finanziellen Möglichkeiten, und beide Faktoren bestimmen wieder die gesellschaftliche Stellung maßgeblich mit.
1. Missstände bei der Feier des Herrenmahls in Korinth (1Kor 11,17–34) In 1Kor 11,17–34 thematisiert Paulus nun die Feier des Herrenmahls in Korinth. Denn auch diese Feier ist nach seinen Informationen geprägt durch Spaltungen zwischen den Gemeindemitgliedern (V. 18). Dazu aber kann Paulus nicht schweigen. Er muss vielmehr Position beziehen gegen diese Fehlentwicklung, die eine würdige und angemessene Feier des Herrenmahls in Frage stellt. Mehr noch: Paulus sieht durch die aktuelle Situation beim Zusammenkommen in Gemeinde das Ziel der Herrenmahlfeier geradezu pervertiert. Ziel des Herrenmahls wäre es, das stetige 1
Der nachfolgend abgedruckte Text wurde am 27. Juli 2003 im Universitätsclub Bonn als Vortrag gehalten im Rahmen einer vom Evangelischen Forum Bonn und vom Katholischen Bildungswerk Bonn gemeinsam getragenen Veranstaltung zum Thema „Das Herrenmahl aus der Sicht der protestantischen und katholischen Exegese“, die zum Begleitprogramm des SNTS-Kongresses gehörte (abgedruckt in: BZ N.F. 48 [2004], 104–113). Den evangelischen Part bestritt Herr Kollege Ulrich Luz aus Bern. Da in der exegetischen Beurteilung der thematisch auf das Herrenmahl bezogenen Texte des Neuen Testaments keinerlei konfessionelle Gräben (mehr) bestehen, war im Vorfeld der Veranstaltung zwischen Herrn Kollegen Luz und mir die Absprache getroffen worden, dass er die Texte der Evangelientradition behandeln und ich mich auf den paulinischen Befund konzentrieren würde. Für die Veröffentlichung wurde das Vortragsmanuskript nur um einige wenige Anmerkungen ergänzt. Im Text werden folgende Abkürzungen verwendet: EE = Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“ Johannes Pauls II. vom 17. April 2003 UR = Unitatis Redintegratio (Ökumenismusdekret des II. Vatikanums).
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
innere Wachstum der Gemeinde auf die ihr von Gott geschenkte Heiligkeit hin voranzubringen. Stattdessen legen die korinthischen Missstände bei der Herrenmahlfeier die Zerrüttung der Gemeinde offen bzw. fördern sie noch. Kurzum, Paulus sieht sich gezwungen, den Gemeindemitgliedern schonungslos zu attestieren: Statt zu ihrem Nutzen kommen sie zu ihrem Schaden zusammen (V. 17). Und: Das, was bei ihren Zusammenkünften geschieht, verdient nicht mehr den Namen Herrenmahlfeier (V. 20). Bevor nun Paulus den konkreten Kritikpunkt anspricht, versucht er in V. 19 der beklagenswerten Situation immerhin noch einen positiven Aspekt abzugewinnen: Die Spaltungen in der Gemeinde müssen sein, damit die bewährten Gemeindemitglieder offenbar werden. Gemeint sind diejenigen, die sich nicht in die Spaltungen hineinziehen lassen, sondern sich davon distanzieren. Von ihnen erhofft sich Paulus wohl auch, dass sie tatkräftig zur Überwindung der Fehlentwicklung beitragen. Die Gemeinde ist also der Ort, an dem die Bewährung offenbar wird. Worin besteht nun aber konkret die beklagenswerte Situation bei der korinthischen Herrenmahlfeier? Die entscheidenden Informationen liefern V. 21.33, die antithetisch aufeinander zu beziehen sind. V. 21 skizziert knapp den Ist-Zustand, V. 33 den Soll-Zustand. Doch lässt die paulinische Formulierung zwei Verständnismöglichkeiten zu. Bis vor einigen Jahren galt unhinterfragt ein temporal gefärbtes Verständnis. Die Beschreibung des Ist-Zustandes von V. 21 lautet demgemäß: „Ein jeder nämlich nimmt sein eigenes Mahl vorweg beim Essen, und der eine hungert, der andere aber ist betrunken.“ Korrespondierend fordert V. 33 dann folgenden Soll-Zustand ein: „Daher, meine Brüder [und Schwestern], wenn ihr zum Essen zusammenkommt, wartet aufeinander!“ Diese Wiedergabe der V. 21.33 geht von einem breit bezeugten Bedeutungsgehalt der beiden im Griechischen zugrundeliegenden Verben aus. Doch die aus lexikalischer Perspektive naheliegende Übersetzung wirft sachliche Probleme auf. Denn sie fordert zwingend, dass das ursprünglich mit der Herrenmahlfeier verbundene Sättigungsmahl in Korinth bereits dem eigentlich eucharistischen Mahl mit Brot- und Kelchhandlung vorausgeht. Dem steht aber der Wortlaut der Herrenmahlüberlieferung entgegen, die Paulus in V. 23b–25 zitiert. Denn in V. 25a heißt es ausdrücklich: Ebenso [nahm er] auch den Kelch nach dem Essen ...“ Damit setzt die von Paulus zitierte Tradition voraus, dass das Sättigungsmahl von den eucharistischen Handlungen gerahmt wurde. Die Brothandlung eröffnete die Herrenmahlfeier, daran schloss sich die Sättigungsmahlzeit an, und die Kelchhandlung beschloss das Herrenmahl. Diese Abfolge von Brothandlung – Sättigungsmahlzeit – Kelchhandlung dürfte auf das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern selbst zurückgehen. Denn jede festliche jüdische Mahlzeit wurde vom Gastgeber mit dem Brechen und Austeilen von Brotfladen eröffnet und mit dem Ausschenken von Wein beschlossen. Dabei sprach der Gastgeber jeweils über Brot und Wein ein Gebet als
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Dank an Gott, den Spender der lebenserhaltenden und freudebringenden Nahrung. Diesen üblichen Rahmen hat Jesus beim letzten Mahl mit seinen Jüngern vor seinem Leiden und Sterben wohl zu Zeichenhandlungen gewählt, um mit ihnen seinen gewaltsamen Tod als heilbringende Lebenshingabe zu deuten. Der Rahmen lässt sich neben 1Kor 11,25 auch noch Lk 22,20 erkennen. Da nun die Brot- wie die Kelchhandlung dasselbe Geschehen erschlossen, rückte man sie bei der urchristlichen Herrenmahlfeier später auf Grund dieser gleichen Bedeutung zusammen an das Ende der Mahlzeit. Diese Entwicklung spiegelt im Übrigen der mk-mt Strang der Abendmahlsüberlieferung bereits wider (Mk 14,22–24; Mt 26,26–28).
Die weit verbreitete, temporale Wiedergabe der V. 21.33 muss also unterstellen, dass die von Paulus zitierte Überlieferung in Korinth um das Jahr 55 bereits durch die Praxis überholt war. Dies vorausgesetzt, hat man sich die Situation folgendermaßen vorzustellen: Die wohlhabenden Gemeindemitglieder, die über ihre Zeit freier verfügen konnten als die armen Glaubensbrüder und -schwestern, trafen schon vor diesen am Versammlungsort ein. Dort begannen sie schon einmal mit dem Sättigungsmahl. Wenn dann endlich auch die Armen eintrafen, hatten die Wohlhabenden schon tüchtig den Speisen und Getränken zugesprochen. Während einige aus ihren Reihen bereits einen Schwips hatten, blieb für die Armen kaum mehr etwas übrig, um ihren Hunger zu stillen. Dabei dürften die Reichen kaum große Gewissensbisse gehabt haben. Denn vom sakramentalen Herrenmahl – dem eigentlichen Zweck der Gemeindeversammlung – entging den Armen ja nichts. Das sachliche Problem dieser Interpretation besteht darin, dass sie eine Spannung in Kauf nehmen muss zwischen der von Paulus zitierten Herrenmahlüberlieferung und der Herrenmahlpraxis in Korinth (eucharistische Handlungen am Ende des Sättigungsmahls). Sollten die konkreten Missstände bei der Herrenmahlfeier in Korinth aber tatsächlich aus einer gegenüber der Überlieferung abweichenden Praxis erwachsen sein, so wäre doch erstaunlich, dass Paulus hierüber kein Wort verliert. Daher hat der Tübinger Neutestamentler Otfried Hofius vor einigen Jahren einen m. E. überzeugenden Vorschlag für ein alternatives Verständnis der V. 21.33 in die Debatte eingebracht.2 Er empfiehlt eine Wiedergabe der entscheidenden Verben ohne temporale Bedeutungsnuance. Auch für diese Variante gibt es hinreichend literarische Belege. Sie ist also philologisch gleichermaßen möglich. Demnach lautet die Beschreibung des Ist-Zustandes in V. 21: „Ein jeder nämlich nimmt sein eigenes Mahl ein beim Essen, und der eine hungert, der andere aber ist betrunken.“ Und V. 33 fordert entsprechend als Soll-Zustand ein: „Daher, meine Brüder [und Schwestern], wenn ihr zum Essen zusammenkommt, nehmt einander gastlich auf (bzw. bewirtet einander)!“ Damit stellen sich die von Paulus kritisierten Missstände bei der Feier des korinthischen Herrenmahls so dar: Die Gemeindemitglieder bringen jeweils Speisen für 2
Vgl. O. Hofius, Herrenmahl und Herrenmahlparadosis. Erwägungen zu 1Kor 11,23b–25, in: ZThK 85 (1988), 371–408; wiederabgedruckt in: ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 21994, 203–240.
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das Sättigungsmahl mit. Dabei fallen die Esspakete der Reichen ungleich üppiger aus als die der Armen. Statt nun mit den Armen zu teilen und vom eigenen Überfluss abzugeben, verzehren die Reichen allein, was sie mitgebracht haben. Reich und Arm nehmen also jeweils ihre eigene, höchst unterschiedliche Mahlzeit ein (V. 21). Dies aber widerspricht dem Charakter der Herrenmahlüberlieferung, die das Sättigungsmahl rahmt und qualifiziert. Gestützt wird diese Interpretation auch durch den Kontext. Denn in der paulinischen Argumentation der V. 20.21 treten „Herrenmahl“ und „eigenes Mahl“ antithetisch gegenüber. Beides geschieht aber unter dem eingangs genannten Vorzeichen „wenn ihr nun zusammenkommt“. Damit will Paulus wohl sagen: Das, was die Gemeinde, wenn sie versammelt ist, tut, ist keine gemeinsame Feier des Herrenmahles, sondern ein zeit- und ortsidentisches Einnehmen vieler einzelner Privatmahlzeiten. Dazu braucht es aber nach paulinischer Überzeugung nicht die Zusammenkunft. Im Gegenteil! Dann ist es besser, in den Privathäusern zu essen und zu trinken, um die großen Sozialunterschiede in der Gemeinde nicht auch noch selbstgefällig zu demonstrieren. Dies nämlich kommt einer Beschämung der Armen und einer Verachtung der Gemeinde gleich (V. 22). Paulus hält nun dem beschämenden und rücksichtslosen Verhalten der Reichen in der Gemeinde, das er nur tadeln kann, die Abendmahlüberlieferung entgegen (V. 23b–25.26). Damit will er die Gemeinde daran erinnern, was sie im Herrenmahl vergegenwärtigend feiert und verkündigt. Im Zentrum des Herrenmahls steht die liebende Selbsthingabe Jesu „für euch“, das Angebot des neuen Bundes „in seinem Blut“. Dieses Angebot hat die Gemeinde angenommen und darin gründet ihre Heiligkeit. Vor diesem Hintergrund treten aber das Verhalten einiger Gemeindemitglieder beim Sättigungsmahl und der Sinn der Herrenmahlfeier in krassen Gegensatz zueinander. Die reicheren Gemeindemitglieder kümmern sich nur um ihr eigenes Wohlergehen und denken nicht daran, den ärmeren von ihrem Überfluss abzugeben. Sie selbst verweigern also einen leicht zu verschmerzenden Verzicht und feiern doch zugleich die heilwirkende Lebenshingabe Jesu. Zwischen ihrem Handeln und dem Handeln Jesu besteht also ein eklatanter Widerspruch. Daher haben sie, wie Paulus in V. 27 folgert, in unwürdiger Weise Anteil am eucharistischen Brot und am eucharistischen Kelch. So werden sie schuldig am Leib und am Blut des Herrn. Damit soll nicht gesagt sein, dass ihnen nachträglich die Schuld am Tod Jesu aufgebürdet wird. Sie vergehen vielmehr Verrat an der Hingabe Jesu für die Menschen, die sie im Herrenmahl feiern. Insofern diese Hingabe Jesu auch ihnen zugute kommt, muss sie zugleich ihre eigene Existenz als eine Existenz für andere prägen. Daher ruft Paulus in V. 28 die Korinther auf, sich vor dem Genuss der eucharistischen Gaben zu prüfen, ob sie nicht in der Gefahr eben dieses Verrates stehen. Erst nach Bestehen dieser Selbstprüfung sollen sie am Herrenmahl teil-
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nehmen. Denn es gilt, wie V. 29 begründend anfügt: „Wer nämlich isst und trinkt, isst und trinkt sich das Gericht zu, wenn er den Leib nicht richtig beurteilt.“ Diejenigen also müssen mit einer Verurteilung rechnen, die die eucharistischen Gaben gedankenlos entgegennehmen, statt sich Rechenschaft über ihren unschätzbaren Wert abzulegen und über die ethischen Konsequenzen ihres Empfangs nachzudenken. Insofern schärft V. 29 noch einmal das Anliegen von V. 27 ein, und zwar ergänzt um den Aspekt der drohenden Verurteilung. Dieser ergibt sich freilich logisch aus dem Aspekt des Schuldigwerdens in V. 27. In V. 30 fügt Paulus die zahlreichen Krankheits- und Todesfälle unter den korinthischen Christen als Beweis dafür an, dass aus dem unwürdigen Verhalten ihrer Mitglieder der Gemeinde die Verurteilung erwächst. Dabei sollen allerdings nicht die Kranken und Verstorbenen als die Schuldigen dargestellt werden. Sie dienen vielmehr als Zeichen für den desolaten Zustand der Gemeinde. Dies geht nicht zuletzt daraus hervor, dass Paulus ab V. 30 wieder im Plural formuliert. V. 31 weist einen Ausweg aus der Misere, den die Korinther freilich, wie das irreale Satzgefüge zeigt, noch nicht eingeschlagen haben: „Würden wir uns nämlich selbst richtig beurteilen, würden wir nicht verurteilt werden.“ Doch gewinnt Paulus, wie V. 32 zeigt, selbst dieser augenblicklichen Situation noch einen positiven Aspekt ab. Wie die Krankheitsund Todesfälle in der Gemeinde zeigen, übernimmt der Kyrios bereits jetzt, also noch vor der Parusie, die richtende Funktion. Dies geschieht aus pädagogischen Gründen, damit die Gemeinde nicht beim letzten Gericht zusammen mit der Welt der endgültigen Verurteilung zum Opfer fällt. Vor diesem Hintergrund ergehen in V. 33f die abschließenden Mahnungen: Es gilt, die Missstände bei der Feier des Herrenmahles abzustellen. Konkret heißt das nach dem hier favorisierten Erklärungsmodell: Bei der Einnahme der Sättigungsmahlzeit sollen die wohlhabenden Gemeindemitglieder die ärmeren teilhaben lassen an ihren reichlich vorhandenen Speisen und Getränken: „Nehmt einander gastlich auf!“ oder „Bewirtet einander!“ (V. 33). Die anschließende Anweisung von V. 34a zielt nun nicht darauf ab, dass insbesondere die Wohlhabenden sich zu Hause satt essen sollen, damit sie beim Herrenmahl leichter etwas abgeben können. Was Paulus in V. 34a anspricht, ist eine andere Symbolik des Essens. Wer das Essen als Möglichkeit des Sattwerdens betrachtet, der soll zu Hause essen. Soweit mit dem Essen diese Funktion verbunden ist, berührt es das Herrenmahl höchstens indirekt. Für das Herrenmahl spielt die soziale Symbolik die fundamentale Rolle. Wer sie missachtet, verkehrt das Zusammenkommen. Aus dem Zusammenkommen zu einem gemeinschaftlichen Essen (V. 33) wird ein „Zusammenkommen zum Gericht“. Es ist im Übrigen kaum Zufall, dass Paulus plötzlich die Person wechselt und mit der 2. Pers. Pl. unmittelbar die Gesamtgemeinde anspricht. Das heißt, die ganze Gemeinde ist gefordert, nicht nur die Reichen. Die Gemeinde darf die kritisierte Praxis nicht hinnehmen. Damit hat
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Paulus die entscheidenden Weichen gestellt. Weitere Einzelheiten wird er regeln, wenn er nach Korinth kommt (V. 34b; vgl. 4,19; 16,5–7).
2. Die Frage ökumenischer Herrenmahlgemeinschaft im Licht der paulinischen Argumentation in 1Kor 11,17–34 Im Mai diesen Jahres (2003) fand in Berlin der 1. ökumenische Kirchentag statt. Im Vorfeld wurden mit diesem interkonfessionellen Treffen gerade im Land der Reformation große Hoffnungen verbunden. Sollte es nicht als Kairos, als gottgeschenkte Chance verstanden werden, gerade in der Frage der Herrenmahlgemeinschaft zwischen der katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation nun endlich auch den praktischen Durchbruch zu schaffen? Denn folgt man den Aussagen zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge und kirchlicher Konsenspapiere ökumenischer Arbeitsgruppen der letzten Jahre und Jahrzehnte, so wird deutlich: Die entscheidenden Kontroversfragen rund um das Herrenmahl wie Realpräsenz, Transsubstantiation sowie Opfer- und/oder Mahlcharakter sind theologisch-dogmatisch geklärt. Die noch bestehenden Probleme in den Fragen von Amt und apostolischer Sukzession sind grundsätzlich überwindbar, Lösungsvorschläge liegen bereit.3 Warum also jetzt nicht mutige Schritte in der Praxis wagen? Doch kaum zufällig wenige Wochen vor Beginn des ökumenischen Kirchentages wurde am Gründonnerstag 2003 eine neue Enzyklika Johannes Pauls II. veröffentlicht, die dem Thema Eucharistie gewidmet ist. Diese Enzyklika machte alle mit dem Berliner Kirchentag verbundenen Hoffnungen auf eine praktizierte Herrenmahlgemeinschaft zwischen katholischen und evangelischen Christen zunichte. Im Gegenteil: Der Papst betrachtet eine solche Gemeinschaft zwar als das erstrebenswerte Ziel. Aber ein Erreichen dieses Ziels erwartet er nicht in naher Zukunft (EE 44.61). Denn er pocht auf die vollendete Kirchengemeinschaft als Voraussetzung für die Eucharistiegemeinschaft (EE 35.38.44). Beides ist für ihn aber untrennbar verbunden mit dem Weiheamt in apostolischer Sukzession (EE 28.30 [vgl. UR 22]). Nur dieses Weiheamt garantiere den gültigen Vollzug der Eucharistiefeier. Da es nun in den Kirchen der reformatorischen Tradition fehle, sei dort dieser gültige Vollzug nicht möglich (EE 29). Entsprechend weist Johannes Paul II. die Katholiken an, nicht am Abendmahl der reformatorischen Kirchen teilzunehmen (EE 30), d. h. konkret, sie müssen die von diesen Kirchen angebotene eucharistische Gastfreundschaft aus3
Vgl. P. Neuner, Ökumenische Theologie. Die Suche nach der Einheit der christlichen Kirchen, Darmstadt 1997; T. Söding (Hrsg.), Eucharistie. Positionen katholischer Theologie, Regensburg 2002; J. Brosseder/H.-G. Link (Hrsg.), Eucharistische Gastfreundschaft. Ein Plädoyer evangelischer und katholischer Theologen, Neukirchen-Vluyn 2003.
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schlagen. Ebenso verbietet der Papst es, eine Einladung zur Teilnahme an der Kommunion im Rahmen der katholischen Eucharistiefeier gegenüber evangelischen Mitchristen auszusprechen (EE 38.45). Zwar beinhaltet die neue Enzyklika substantiell keine Verschärfung der Situation. Dennoch schreibt sie den katholischen Standpunkt nachdrücklich fest. Damit aber birgt sie die Gefahr der Resignation und Stagnation in den ökumenischen Bemühungen um die Herrenmahlgemeinschaft. Wie lässt sich solcher Resignation wehren und die Stagnation überwinden? Welche Impulse lassen sich dafür aus den neutestamentlichen Schriften, ausgehend von der paulinischen Erörterung der Missstände beim Herrenmahl in der korinthischen Gemeinde, gewinnen? Zunächst einmal: Unsere heutigen ökumenischen Probleme bei der Herrenmahlfeier sind selbstverständlich nicht die Probleme, mit denen sich Paulus in Korinth konfrontiert sieht. Die beiden Sachverhalte sind grundsätzlich auseinanderzuhalten. Gerade die notwendige Differenzierung lässt aber auch eine Analogie erkennen, die unsere Situation als um so skandalöser ausweist. Ungeachtet der Verschiedenheit von Ursachen und Ausmaß markiert das Faktum von Gruppenbildungen unter Christen damals wie heute den Ausgangspunkt von Missständen bei der Feier des Herrenmahls. Die Probleme in Korinth manifestieren sich freilich auf der sozialen Ebene, unsere Probleme dagegen auf der theologisch-sakramentalen Ebene. In 1Kor 11 bezieht Paulus Stellung gegen eine krasse Benachteiligung von ärmeren Gemeindemitgliedern beim Sättigungsmahl. Er kritisiert das ihnen von den wohlsituierten Gemeindemitgliedern aufgezwungene „Fasten“. Denn diese kommen offenbar gar nicht auf die Idee, vom Überfluss ihrer mitgebrachten Speisen und Getränke abzugeben. Diese Gedankenlosigkeit konfrontiert Paulus mit der liebenden Selbsthingabe Jesu, die die korinthische Gemeinde beim Herrenmahl vergegenwärtigend feiert. Sie kommt allen Mitfeiernden unterschiedslos zugute. Ihr Verhalten muss sich daher am Verhalten Jesu orientieren, soll nicht der Sinn des Herrenmahls preisgegeben werden. Unser heutiges ökumenisches Problem bei einer Herrenmahlfeier, an der Angehörige der römisch-katholischen und reformatorischen Konfession teilnehmen, ist ein erzwungenes eucharistisches Fasten. Damit betrifft der Missstand, mit dem wir konfrontiert sind, im Unterschied zu Korinth nicht beklagenswerte, sozial bedingte Begleitumstände, sondern das sakramentale Zentrum selbst. So müssen wir die anklagende Feststellung des Paulus erst recht auf unsere Situation beziehen: „Wenn ihr also am gleichen Ort zusammenkommt, so ist dies kein Essen des Herrenmahls“ (1Kor 11,20).
Es ist also im Vergleich zur korinthischen Situation eine verschärfte Problematik zu konstatieren. Hinzu kommt: Das erzwungene eucharistische Fasten erwächst weder
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der konkret feiernden Gemeinde selbst noch ist es Folge gedankenlosen Handelns. Zwar hat die Leitung der reformatorischen Kirchen im Sinne eucharistischer Gastfreundschaft inzwischen uneingeschränkt die Einladung an die Katholiken zur Teilnahme am Abendmahl freigegeben. Umgekehrt sehen sich die Katholiken aber von ihrer Kirchenleitung angewiesen, diese Einladung abzuweisen und auch ihrerseits keine Einladung an die evangelischen Christen zur Teilnahme an der Eucharistiefeier auszusprechen. Und die römisch-katholische Kirchenleitung handelt sehr bewusst und begründet ihre Haltung mit theologischen Argumenten. Dafür ist die Eucharistie-Enzyklika vom April diesen Jahres nur das jüngste Beispiel. Auch Paulus argumentiert in 1Kor 11 im Übrigen dezidiert theologisch. Doch setzt er seine Argumente ein zur unmittelbaren pragmatischen Überwindung, nicht zur Prolongierung der Gemeindespaltungen und der Pervertierung der Herrenmahlfeier. Es sind nun vor allem zwei Argumente, mit denen gegenwärtig die römisch-katholische Kirchenleitung ihre Ablehnung in der Frage der ökumenischen Herrenmahlgemeinschaft begründet: 1. Eucharistiegemeinschaft begründet nicht Kirchengemeinschaft, sondern folgt aus ihr. 2. Die Gültigkeit der Eucharistiefeier ist abhängig vom Weiheamt in apostolischer Sukzession. Die Tragfähigkeit dieser Hauptargumente muss sich nicht zuletzt am neutestamentlichen Befund erweisen. Zunächst zum ersten Argument: Die Kirchengemeinschaft muss der Eucharistiegemeinschaft vorausgehen. Bereits in 1Kor 10,14–22 thematisiert Paulus die Herrenmahlgemeinschaft. Offenkundig gab es in Korinth Gemeindemitglieder, die aus familiären, freundschaftlichen oder geschäftlichen Gründen weiterhin an heidnischen Götzenopfermahlzeiten teilnahmen. Ihr Argument dürfte gelautet haben: Da es nur den einen Gott und den einen Herrn Jesus Christus gibt, sind die Götter Nichtse (vgl. 1Kor 8,6). Dann aber besitzt die Teilnahme an Götzenopfermahlzeiten keine existentiellreligiöse Dimension und ist vereinbar mit der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde und mit der Teilnahme am Herrenmahl. Paulus lehnt eine solche Einstellung kategorisch ab. Hinter dem heidnischen Götzenkult sieht er die Dämonen als Gegenspieler Gottes wirksam. Teilnahme an Götzenopfermahlzeiten bewirkt Teilhabe an der dahinterstehenden dämonischen Wirklichkeit, Teilnahme am Herrenmahl aber bewirkt Teilhabe am sakramentalen Leib und Blut Christi, also an seiner heilwirkenden Lebenshingabe. Beides schließt sich daher wechselseitig aus (10,20f). Die im Herrenmahl sakramental begründete Gemeinschaft der einzelnen Gemeindemitglieder mit Christus hat aber nach paulinischer Überzeugung auch eine gemeinschaftsstiftende Funktion zwischen den Gemeindemitgliedern:
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„Weil es ein Brot [ist], sind wir, die Vielen, ein Leib, wir alle nämlich haben teil an dem einen Brot“ (1Kor 10,17).
Gemeinschaft der Christusglaubenden untereinander, also Kirchengemeinschaft, erwächst demnach aus der Herrenmahlgemeinschaft, nicht umgekehrt!4 Die eindeu4
Paulus sagt ja gerade nicht: „Weil wir, die Vielen, ein Leib sind, haben wir teil an dem einen Brot.“ Eucharistiegemeinschaft hat nach 1Kor 10,17 also eindeutig kirchenkonstitutive Funktion. Pragmatisches Ziel der Aussage ist es zu betonen, dass die Teilnahme am Herrenmahl christliche Identität begründet, die unteilbar ist, weil sie gründet in der Gemeinschaft und Teilhabe an der einen, unteilbaren Lebenshingabe Jesu Christi. Diese christliche Identität hat eine personale (V. 16) und eine ekklesiale (V. 17) Dimension (vgl. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther Kapitel 5,1–11,1 [ÖTK 7/2], Gütersloh, Würzburg 2000, 263). Sie hat dagegen – dies ist wichtig gerade angesichts der Parteiungen in Korinth, die auch im Hintergrund der Problematik der Kapitel 8–10 stehen – keine gruppenspezifische Dimension. Übertragen auf unsere Situation bedeutet dies: Die in der Eucharistiegemeinschaft gründende christliche Identität hat eben auch keine konfessionelle Qualität! Unterstützend lässt sich hier zunächst auf Gal 3,28 verweisen, wo Paulus eine urchristliche Tradition rezipiert. Diese Tradition besagt bekanntlich, dass in Jesus Christus alle Identitäten, die Unterschiede zwischen Menschen begründen, seien sie religiöser, sozialer, geschlechtlicher oder sonstiger Art, ihre Bedeutung verloren haben. Entsprechend trat Paulus auch in Antiochia vehement für eine Herrenmahlgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen ein, und zwar ohne jegliche Vorbedingungen (vgl. Gal 2,11–14)! Auch 1Kor 1,18–25 weist in die gleiche Richtung: Angesichts der konkurrierenden Gruppenbildungen in der Gemeinde versammelt Paulus die Gesamtgemeinde gleichsam vor dem Kreuz Christi. Er konfrontiert sie mit dem Wort vom Kreuz, das scheidet zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden, zwischen denen, die gerettet werden, und denen, die zugrunde gehen. Angesichts dessen kann es für die Gemeinde der an Christus Glaubenden nur noch das „Wir“ geben, aber keine konkurrierenden Gruppierungen (oder Konfessionen). In 1Kor 12,13 greift Paulus die Tradition von Gal 3,28 auf: „Und wir alle nämlich wurden in dem einen Geist zu einem Leib (oder in einen Leib hinein) getauft, ob Juden oder Griechen, ob Sklaven oder Freie, und wir alle wurden getränkt mit dem einen Geist.“ Mit dieser Aussage schreibt Paulus der Taufe eine gemeinde- bzw. kirchenkonstituierende Bedeutung zu. Dies darf aber nicht als Konkurrenz oder gar Widerspruch zu 1Kor 10,17 verstanden werden, vielmehr ergänzen sich beide Aussagen: Gemeinschaft mit Christus und untereinander wird grundlegend konstituiert durch die Taufe und diese personale und ekklesiale Gemeinschaft wird immer wieder erneuert und aktualisiert durch das Herrenmahl, das damit ebenfalls gemeinde- bzw. kirchenkonstitutiv wirkt. Dieser Befund besitzt eine nicht zu unterschätzende Relevanz im Kontext der ökumenischen Herrenmahlgemeinschaft: Aus der durch die Taufe konstituierten Gemeinschaft erwächst selbstverständlich die Herrenmahlgemeinschaft. Nun haben die katholische Kirche und die Kirchen der Reformation bereits wechselseitig die Taufe anerkannt. Dann aber ist genau in der wechselseitig anerkannten Taufe die gemeinsame Plattform gegeben, auf der die Herrenmahlgemeinschaft selbstverständlich aufruhen kann. In diesem Zusammenhang noch ein letzter Aspekt: Nach 1Kor 12 ist die Verbindung, die zwischen den Christen durch die Taufe geschaffen wird, eine somatische Wirklichkeit. Angesichts der Probleme in Korinth (konkret im Streit um das Charisma, das christliche Identität definiert) will Paulus sagen: Die in der Taufe gewonnene Identität konstituiert gerade keine uniforme, sondern eine pluriforme Wirklichkeit, eben einen Leib mit seinen vielen, unterschiedlichen Gliedern und Organen. Paulus bezieht seine Aussage auf die einzelnen Mit-Glieder der korinthischen Ortsgemeinde mit ihren unterschiedlichen Charismen. Gerade die Rezeption des Leibgedankens im Blick auf die Universalkirche in den Deuteropaulinen (Kol/Eph) berechtigt aber m. E. dazu, unter ökumenischen Aspekt die paulinische Argumentation für die universale Gemeinschaft aller Getauften fruchtbar zu machen. Dann aber gilt: Die universale Gemeinschaft aller Getauften ist eine leibliche Wirklichkeit, die durch die verschiedenen Konfessionen gerade in ihrer geschichtlich herauskristallisierten Unterschiedenheit und in ihrer dadurch (!) bedingten Verwiesenheit aufeinander den einen, unteilbaren ekklesiologischen Leib Christi bildet. Unter dieser Rücksicht ließe sich der traurigen Tatsache der konfessionellen Aufsplitterung der Getauften sogar ein positi-
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tige Aussage des Paulus sollte in ihrer Relevanz für die Lösung unserer heutigen ökumenischen Probleme ernstgenommen werden. Diese Relevanz lässt sich nicht abschwächen durch den Hinweis, Paulus fasse nur die kleine korinthische Ortsgemeinde in den Blick. Denn obwohl er die konkrete korinthische Situation vor Augen hat, ist seine Aussage zugleich gültig für die Gesamtheit der an Christus Glaubenden.5 Ein deutliches Indiz für diesen universalen Aspekt ist, dass Paulus nicht einfach sagt: „Weil es ein Brot ist, sind wir ein Leib ...“ Vielmehr fügt er ein: „...sind wir, die Vielen, ein Leib ...“. Er bedient sich damit einer für die semitischen Sprachen charakteristischen Ausdrucksweise, die stets eine Gesamtheit bezeichnet. Zwar wird Herrenmahl- und Kirchengemeinschaft immer nur in der konkreten Gemeindeversammlung erfahrbar. Doch umfasst sie alle, die im Brechen des Brotes und im Trinken des Kelches den Tod Jesu erinnernd vergegenwärtigen und verkündigen. Die paulinische Perspektive erweist somit das Argument „Erst Kirchengemeinschaft, dann Herrenmahlgemeinschaft“ als nichtig. Vielmehr gilt umgekehrt: Die Feier des Herrenmahls konstituiert Kirchengemeinschaft, und zwar unter allen, die Anteil haben an dem einen Brot und dem einen Kelch, d.h. an der einen, unteilbaren Lebenshingabe Jesu Christi. Konsequent weitergedacht, bedeutet dies: Ungeachtet aller äußeren Kirchenspaltungen und gegenseitigen Lehrverurteilungen hat auf Grund der in allen christlichen Konfessionen stattfindenden Herrenmahlfeier eine innere Kirchengemeinschaft durch die Jahrhunderte hindurch nie aufgehört zu bestehen. Es ist hohe Zeit, daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen, die konfessionellen Herrenmahlfeiern uneingeschränkt interkonfessionell zu öffnen und dadurch die Gemeinschaft zwischen den christlichen Kirchen auch nach außen hin zu dokumentieren. Dies ist um so dringlicher, weil die Feier des Herrenmahls auch einen verkündigenden Charakter hat (1Kor 11,26). Diese Verkündigung sind wir Christen der Welt schuldig. Glaubwürdig ist sie freilich nur, wenn die Herrenmahlfeier ein Zeugnis christlicher Gemeinschaft, nicht aber christlicher Zerrüttung ist. Doch vom römisch-katholischen Standpunkt spricht ein weiteres, gravierendes Argument gegen eine baldige Freigabe der interkonfessionellen Herrenmahlgemeinschaft zwischen Angehörigen der römisch-katholischen und der reformatorischen Tradition. Es ist dies die noch ausstehende, endgültige Klärung der Amtsfrage. Da nämlich den Kirchen der reformatorischen Tradition das Weiheamt
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ver Aspekt abgewinnen. Zugleich würden damit alle etwaigen unterschwellig vorhanden Bestrebungen, die vielen christlichen Konfessionen in den Schoß der katholischen Kirche zurückzuholen, obsolet. Im Gegenteil: Die konfessionelle Vielfalt könnte statt als Belastung als Bereicherung verstanden werden. Johannes Paul II. bemüht in EE 23f 1Kor 10,17 ebenfalls als Beleg für die gemeinschaftsstiftende Kraft der Eucharistie, bezieht ihn aber offenkundig nur auf die Gemeinschaft der römisch-katholischen Kirche, ohne dies allerdings explizit auszusprechen.
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in apostolischer Sukzession fehle (vgl. UR 22), sei dort ein gültiger Vollzug der Eucharistiefeier nicht gegeben (vgl. EE 28.29). Erneut freilich vermag das neutestamentliche Zeugnis die Bedeutung auch dieses Arguments erheblich zu relativieren. So muss zunächst auffallen: Bei seiner Erörterung der korinthischen Missstände behaftet Paulus nicht den Vorsitzenden der korinthischen Herrenmahlfeier bei seiner Verantwortung, sondern die Gesamtgemeinde. Diese Beobachtung wiegt um so schwerer, als es in Korinth schon Leute gab, die gemeindliche Leitungsfunktionen wahrnahmen (vgl. 16,15–18). Doch fügt sie sich nahtlos in den gesamtneutestamentlichen Befund ein. Denn nirgendwo im Neuen Testament wird die Frage des Vorsitzes bei der Feier des Herrenmahls thematisiert, geschweige denn in eine Verbindung zur apostolischen Sukzession gesetzt. Dies gilt selbst für die spätneutestamentlichen Pastoralbriefe. Sie argumentieren zwar explizit mit der apostolischen Sukzession, die sie im Übrigen auf Paulus, nicht auf die Zwölf zurückführen. Doch ordnen sie das so legitimierte Amt ausschließlich der Weitergabe der „gesunden Lehre“ zu. Im Mittelpunkt des Interesses steht also die Wahrung der Glaubensinhalte gemäß der paulinischen Tradition. Dagegen bleibt ein Bezug zwischen Amt und Vollzug der Herrenmahlfeier auch in den Pastoralbriefen unberücksichtigt. Historisch wird man von folgender Situation ausgehen dürfen: Das urchristliche Gemeindeleben einschließlich der Mahlfeiern fand ausschließlich in Privathäusern statt. So wird der Hausherr, der sein Haus der Gemeinde zur Verfügung stellte, ganz selbstverständlich auf Grund seiner Funktion im Haus auch den Vorsitz bei der Herrenmahlfeier wahrgenommen haben. Nur am Rande sei bemerkt, dass es auch selbständige Frauen gab, die in der Funktion als Hausherrin ihr Haus der Gemeinde zur Verfügung stellten (Kol 4,15; vgl. Röm 16,1f; Apg 16,14f). Dann dürften sie aber auch die daraus erwachsenden Aufgaben bei der Herrenmahlfeier übernommen haben. Es bleibt also nüchtern festzustellen: Neutestamentlich findet sich kein Anhaltspunkt für eine unverzichtbare Verbindung von Amt, apostolischer Sukzession und Vorsitz bei der Herrenmahlfeier. Damit soll keineswegs bestritten werden, dass eine solche Verbindung in der Tradition der Kirche schon früh eine Rolle zu spielen begann. Sie ist also durchaus legitim und bedeutsam. Aber auch das ist Faktum: Die Kirche hat Schriften wie etwa die Ignatiusbriefe oder den 1. Klemensbrief, die die heute trennend zwischen den Konfessionen stehende Amtsfrage im Sinne der römisch-katholischen Position thematisieren, nicht in den Kanon aufgenommen. Dieser aber gilt mit Recht als inspiriert! Könnte dies die Verantwortlichen in der römisch-katholischen Kirche heute nicht dazu befreien, die Begründung und Legitimation der kirchlichen Ämter in der reformatorischen Tradition unbeschadet des Aspektes der apostolischen Sukzession der Ämter in der katholischen Tradition zu akzeptieren?
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Noch einen letzten Aspekt möchte ich ansprechen und damit zugleich auf 1Kor 11 zurückkommen. Angesichts der Missstände bei der korinthischen Feier des Herrenmahls nimmt Paulus die Gemeinde in die Pflicht. Nicht zuletzt sieht er die Fehlentwicklung auch als Chance, dass die im Glauben besonders bewährten Gemeindemitglieder ihre Qualitäten zur Überwindung der Spaltungen aktiv einbringen (11,19). Überspitzt gesagt: Paulus setzt seine Hoffnung nicht auf die Kirchenleitung, sondern auf das Kirchenvolk. Dies kommt den Empfindungen heutiger Menschen sehr entgegen. Vielleicht ist deshalb jetzt der Kairos gekommen, dass an der Basis der Gemeinden die aus der Taufe erwachsende Würde und die Verantwortung aller für die je eigene Kirche neu entdeckt wird. Diese Entdeckung sollte fruchtbar gemacht werden für eine möglichst rasche Überwindung der konfessionellen Schranken bei der Feier des Herrenmahls. Darunter stelle ich mir nicht vor, dass gerade die römisch-katholischen Gemeinden das Gesetz des Handelns so in die Hand nehmen, dass sie in der Praxis gegen den erklärten Willen ihrer Kirchenleitung das Faktum interkonfessioneller Herrenmahlfeiern schaffen. Ein gangbarer Weg scheint mir aber folgender zu sein: In den Gemeinden muss eine breit angelegte ökumenische Aufklärungsarbeit geleistet werden. Auf dieser Grundlage sollte in steter Beharrlichkeit das Gespräch mit der diözesanen Kirchenleitung gesucht und geführt werden. Den ökumenisch engagierten Bischöfen wird so Unterstützung und Ermutigung zuteil für ihre Initiativen auf der Ebene der Weltkirche. Die ökumenisch eher passiven Bischöfe dagegen werden zunehmend unter Rechtfertigungszwang und Handlungsdruck geraten. Auf diese Weise dürfen wir hoffentlich schon bald den Aufruf des Paulus beherzigen: „Nehmt einander (beim Herrenmahl) gastlich auf!“ (1Kor 11,33)
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„Der Leib aber ist nicht für die Unzucht …“ (1Kor 6,13) Möglichkeiten und Grenzen heutiger Rezeption sexualethischer Aussagen des Paulus aus exegetischer Perspektive*
In seiner 1981 veröffentlichten Dissertation hat Werner Wolbert zutreffend auf die wechselseitige Verwiesenheit von Exegese und Moraltheologie aufmerksam gemacht.1 Mit dieser Arbeit, die dem Thema „Ethische Argumentation und Paränese in 1Kor 7“ gewidmet ist, hat er zugleich selbst einen Beitrag geleistet, der die Bereicherung der Exegese durch die Moraltheologie eindrucksvoll unter Beweis stellt. Als exegetische Kollegin von Werner Wolbert an der Salzburger Theologischen Fakultät freue ich mich daher, ihn zu seinem 60. Geburtstag mit einigen hoffentlich interessanten, vielleicht sogar provokativen Impulsen für die Moraltheologie aus exegetischer Perspektive ehren zu dürfen.2 Konkret möchte ich in thematischer Anknüpfung an seine Dissertation aus exegetischer Perspektive die Frage stellen nach den Möglichkeiten und Grenzen einer heutigen Rezeption sexualethischer Aussagen des Paulus. Die Formulierung „sexualethische Aussagen des Paulus“ statt „Sexualethik des Paulus“ ist dabei nicht zufällig. Sie unterstreicht, dass Paulus sexualethische Themen weder theoretisch noch umfassend-systematisch abhandelt. Vielmehr greift er sie in Gelegenheitsschreiben an seine Gemeinden situationsbezogen und in pastoraler Zuspitzung auf.3 Diese Charakteristika gilt es zu beachten, wenn nun verschiedene sexualethisch relevante paulinische Äußerungen miteinander ins Gespräch gebracht werden sollen.
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Abgedruckt in: SaThZ 10/2 (2006), 222–248. W. Wolbert, Ethische Argumentation und Paränese in 1Kor 7, Düsseldorf 1981, 70f. Meine Freude ist umso größer, als ich damit zugleich an die Anfänge meines eigenen wissenschaftlichen Arbeitens zurückgeführt werde. Denn es waren gerade meine Studien beim damaligen Bonner Moraltheologen Franz Böckle, die mein schon früh ausgeprägtes Interesse an der neutestamentlichen Exegese auf die moraltheologisch relevante Frage nach einer christlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen lenkten. Dieser Frage bin ich dann in meiner Dissertation nachgegangen, vgl. M. Gielen, Tradition und Theologie neutestamentlicher Haustafelethik. Ein Beitrag zur Frage einer christlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen (BBB 75), Frankfurt a.M. 1990. Vgl. dazu auch W. Wolbert, Argumentation 95: „Ein Moraltheologe muß ein Problem möglichst mit allen relevanten Gesichtspunkten zur Sprache bringen. Paulus dagegen stellt normativ-ethische Überlegungen nur an, insofern sie pastoral gefordert sind; er bringt nur die Gesichtspunkte, die für die Beantwortung der gestellten Frage relevant sind, nicht die, die überhaupt wichtig sind.“
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
1. Die Unvereinbarkeit zwischen dem Verkehr mit Prostituierten und der Zugehörigkeit zum Herrn (1Kor 6,12–20) Der 1. Korintherbrief zeugt von zahlreichen Problemen, die in der korinthischen Gemeinde aufgetreten sind. Informationen darüber erhielt Paulus wohl vor allem durch die Leute der Chloe (1Kor 1,11; vgl. 5,1; 11,18) und durch einen Gemeindebrief (1Kor 7,1. [25]; vgl. 8,1; 12,1; 16,1. [12], der ihm von Stephanas und seinen Begleitern nach Ephesus überstellt worden sein könnte (vgl. 1Kor 16,17f).4 Die Kapitel 5 und 6 behandeln nun drei verschiedene Missstände: 1. Inzest mit der Stiefmutter (5,1–13), 2. ein vor einem heidnischen Gericht ausgetragener Rechtsstreit zwischen Gemeindemitgliedern in Finanzangelegenheiten (6,1–11) und 3. Verkehr mit Prostituierten (6,12–20). Gehören Missstand 1 und 3 zum Bereich der Unzucht, so Missstand 2 zum Bereich der Habgier. Damit begegnen hier zentrale Themen frühjüdischer Heidenpolemik,5 allerdings als konkrete Probleme innerhalb der christlichen Gemeinde in Korinth. Möglicherweise setzten manche heidenchristlichen Gemeindemitglieder bestimmte Verhaltensweisen nur einfach fort, die sie auch schon vor ihrer Hinwendung zum Evangelium Jesu Christi geübt hatten. Denkbar ist freilich, dass sie dies nun dezidiert mit der in Christus gewonnenen Freiheit rechtfertigten (vgl. 6,12: „Alles ist mir erlaubt!“)6 und dabei sogar heidnische Tabus überschritten (vgl. 5,1: „Unzucht solcherart, wie sie nicht einmal unter Heiden vorkommt“).7 Für Paulus hingegen sind diese Verhaltensweisen unvereinbar mit dem in der Hingabe Christi gründenden Status der Reinheit und Heiligkeit der Gemeinde insgesamt wie ihrer einzelnen Mitglieder (vgl. 5,7; 6,11.19). Primär nimmt er dabei die Gemeinde in die Pflicht,8 die sich als heiliger Bezirk verstehen lernen soll.9 Dies impliziert – wie schon in 1Thess – die Abgrenzung vom Profanen, konkret also wohl von typisch heidnischen Handlungsnormen und –mustern. Unter den in 1Kor 5–6 erörterten Problemfällen möchte ich nun den zuletzt diskutierten aufgreifen, nämlich die Frage des Verkehrs von Christen mit Prostituierten (6,12–20). 4
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Vgl. H.-J. Klauck, 1. Korintherbrief (NEB.NT 7), Würzburg 1984, 10; C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 1996, 10; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 4. Teilband 1Kor 15,1–16,24 (EKK VII/4), Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 2001, 457. Vgl. E. Reinmuth, Geist und Gesetz. Studien zu Voraussetzungen und Inhalt der paulinischen Paränese (ThA 44); Berlin 1985, 12–47; R. Börschel, Die Konstruktion einer christlichen Identität. Paulus und die Gemeinde von Thessalonich in ihrer hellenistisch-römischen Umwelt (BBB 128), Berlin, Wien 2001, 247 mit Anm. 266. Vgl. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 5,1–11,1 (ÖTK 7/2), Gütersloh, Würzburg 2000, 27. Vgl. ebd. 32. Die paulinische Argumentation in den Kapiteln 5f richtet sich durchweg an die Gesamtgemeinde, nicht an die einzelnen Gemeindemitglieder, die die erörterten Missstände unmittelbar zu verantworten haben. Vgl. zur Motivik von Reinheit und Heiligkeit in 1Kor 5–6 H. Merklein, 1Kor II, 25f.
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Zunächst empfiehlt sich hier ein kurzer Blick auf die sozialgeschichtliche Realität von Prostitution in der hellenistisch-römischen Gesellschaft und damit im heidnischen Umfeld der korinthischen Gemeinde. Den vielleicht entscheidenden Schlüssel zum antik-heidnischen Verständnis von Prostitution bietet die Etymologie des Wortfeldes pornei,a, das im Griechischen zur Bezeichnung der Sache dient.10 Es leitet sich nämlich her von pe,rnhmi/verkaufen und ist außerhalb des jüdisch-christlichen Bereichs frei von jeder negativen moralischen Wertung.11 Vielmehr verweist die etymologische Wurzel auf den ökonomischen Aspekt von Prostitution, die als wichtiger und legitimer Wirtschaftsfaktor galt. Prostituierte entstammten fast durchweg der Unterschicht,12 zu der allerdings 90 % der Bevölkerung gehörten. Sie waren gesellschaftlich integriert und teilten grundsätzlich das Ansehen der übrigen Unterschichtangehörigen.13 Abgesehen von Frauen, die hauptberuflich in einem Bordell arbeiteten oder sich freiberuflich als Unterhalterinnen etwa bei privaten Festen oder in Thermen verdingten, vollzog sich Prostitution häufig als Nebenerwerb. So verrichteten etwa Sklavinnen und Freigelassene von Handwerkern, Kaufleuten oder auch Gastwirten oftmals nicht nur die anfallenden Tätigkeiten im Betrieb ihres (ehemaligen) Herrn, sondern standen den Kunden auch für sexuelle Dienste zur Verfügung. In die durch solch nebenerwerbliche Prostitution zu erzielende Umsatzsteigerung der Betriebe wurden nicht selten auch die Ehefrauen und Töchter der Besitzer eingebunden.14 Für finanziell weniger gut gestellte Mitglieder der Unterschicht war die Prostitution der Ehefrau oft sogar eine bittere ökonomische Notwendigkeit.15 Dem skizzierten gesellschaftlichen und ökonomischen Stellenwert von Prostitution entspricht zum einen, dass sie selbstverständlich in das Alltagsleben integriert war,16 und zum anderen, dass die Männer jedweden Standes, die zu Prostituierten gingen, ebenso selbstverständlich auf Akzeptanz zählen konnten.17
Angesichts dieser konkreten Erfahrungswelt dürften sich die neu bekehrten heidenchristlichen Mitglieder der korinthischen Gemeinde zunächst einmal gar keiner Schuld bewusst gewesen sein, wenn sie weiterhin Kontakte zu Prostituierten pflegten. Paulus dagegen konnte angesichts seiner jüdischen Herkunft Prostitution 10
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Vgl. R. Kirchhoff, Die Sünde gegen den eigenen Leib. Studien zu po,rnh und pornei,a in 1Kor 6,12–20 und dem sozio-kulturellen Kontext der paulinischen Adressaten, Göttingen 1994, 22. Vgl. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1–4 (ÖTK 7/1), Gütersloh, Würzburg 1992, 29. Für Frauen, die zur kleinen gesellschaftlichen Oberschicht gehörten, erübrigte sich in aller Regel der ökonomische Aspekt der Prostitution als Mittel zum Erwerb oder zur Verbesserung des Lebensunterhaltes. Als Mitglieder der elitären Bürgerklasse mussten diese Frauen, sofern sie sich als Prostituierte registrieren ließen, erhebliche Statuseinbußen hinnehmen, die die geringen Vorteile kaum aufzuwiegen vermochten (vgl. R. Kirchhoff, Sünde 59–63). Denn „die staatliche Gesetzgebung, die Sexualkontakte regeln sollte, wandte sich in erster Linie an die bürgerliche Oberschicht und zielte darauf, die Standesgrenzen zu wahren und den Bestand der Elite zu gewährleisten.“ (ebd. 66) Vgl. dazu auch die informative Monographie von A. Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus. Eine Untersuchung im Rahmen der Gesellschaftspolitik des Princeps (Historia Einzelschriften Heft 67), Stuttgart 1991. Vgl. R. Kirchhoff, Sünde 66. Vgl. R. Kirchhoff, Sünde 47–53. Vgl. R. Kirchhoff, Sünde 65f. „Dass es sich bei der Prostitution in Rom um die Zeitenwende um ein völlig legales Geschäft handelte, das sich auch durchaus einer nicht geringen Akzeptanz erfreute, geht schon allein aus dem Umstand hervor, dass es mit dem 25. beziehungsweise 26. April jeden Jahres sowohl für weibliche also auch für männliche Prostituierte einen eigenen Feiertag gab.“ (A. Winterer, Verkehrte Sexualität – ein umstrittenes Pauluswort. Eine exegetische Studie zu Röm 1,26f. in der Argumentationsstruktur des Römerbriefes und im kulturhistorisch-sozialgeschichtlichen Kontext [EHS Reihe XXIII Theologie Band 810), Frankfurt a.M. 2005], 38f.) Vgl. A. Winterer, Sexualität 40 mit Verweis auf Hor. Sat. 1,2,31–35.
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
nicht als ausschließlich ökonomischen Faktor akzeptieren. Vielmehr musste er sie ethisch als Unzucht disqualifizieren und entsprechend Gemeindemitgliedern jeden Umgang mit Prostituierten verbieten. Dies geschah wohl bereits im sog. Vorbrief, in dem jedenfalls sexualethische Fragen thematisiert wurden (vgl. 1Kor 5,9: „Ich habe euch in dem Brief geschrieben, keinen Umgang zu haben mit Unzüchtigen.“). Diese Aufforderung beabsichtigte offenbar die gemeindeinterne Isolation nicht zuletzt der Männer, die zu Prostituierten gingen. Doch dürfte Paulus damit die von ihren konkreten gesellschaftlichen Erfahrungen geprägten Adressaten kaum überzeugt haben.18 Mit einiger Wahrscheinlichkeit begannen sie, ihre vertrauten heidnischen Gepflogenheiten auf der Grundlage einer spezifischen Erlösungslehre zu rechtfertigen,19 die sie aus der philonisch beeinflussten Evangeliumsverkündigung des Apollos ableiteten,20 der kurz nach Paulus in der korinthischen Gemeinde gewirkt hatte (vgl. besonders 1Kor 3,5–17).21 Kennzeichnend für diese schöpfungsimmanent konzipierte Erlösungslehre war die Überzeugung vom bereits erfolgten noetischen Aufstieg der Glaubenden zu Christus, dessen Auferweckung als Rückkehr in seine urbildliche, leiblose Pneumaexistenz verstanden wurde. Zur Vollendung ihres Heils erwarteten die Anhänger dieses Erlösungsmodells nur noch die durch den Tod ermöglichte Befreiung vom Leib, um dann endlich wie Christus als reines Pneuma zu existieren. Aus dieser leibfeindlichen Erlösungshoffnung libertinistische Konsequenzen für das Verhalten bis zum Tod zu ziehen, war eine nahe liegende Möglichkeit. Offenkundig haben Mitglieder der korinthischen Gemeinde genau diese Möglichkeit genutzt und den für sie unproblematischen Kontakt zu Prostituierten mit libertinistischen Parolen gestützt.22 Paulus greift diese Parolen in 18
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Treffend bemerkt H. Merklein, 1Kor I, 29f: „Vor einem derartigen kulturgeschichtlichen Hintergrund ist es nur zu gut verständlich, daß auch manches Mitglied der korinthischen Gemeinde mit dem christlichen Import einer jüdisch beeinflußten Sexualmoral Schwierigkeiten hatte.“ Vgl. H. Merklein, 1Kor II, 71. In diesem Zusammenhang kann ich mich dem Votum von R. Kirchhoff, Sünde 100f nicht anschließen. Sie geht davon aus, dass sich in 1Kor 6,12f kein Nachhall korinthischer Parolen findet, mit denen bestimmte Leute in der Gemeinde ihr Verhalten zu rechtfertigen suchten. Ihr Hinweis auf fehlendes Schuldbewusstsein der korinthischen Männer angesichts gängiger gesellschaftlicher Verhaltensnormen, das ihnen eine Verteidigung eigenen Tuns unnötig erscheinen ließ, ist nur überzeugend für die Situation vor Erhalt des in 1Kor 5,9f erwähnten Vorbriefs. Danach dürften sich zumindest einige Gemeindemitglieder unter Argumentationszwang gesehen haben. Dazu ausführlich: H. Merklein, 1Kor I, 119–133. In der verglichen mit der paulinischen Evangeliumsverkündigung rhetorisch differierenden und inhaltlich anders akzentuierten Verkündigungstätigkeit des Apollos dürfte die Initialzündung für die Ausbildung konkurrierender innergemeindlicher Gruppierungen (vgl. 1,11f) zu finden sein, eine Problematik, mit der sich Paulus schwerpunktmäßig in 1,10–4,21 sowie 12,1–14,40 auseinandersetzt. Zu den Parteien in Korinth vgl. H. Merklein, 1Kor I, 134–152; ders./M. Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (ÖTK 7/3), Gütersloh 2005, 108–111. Als korinthische Parolen dürfen gelten: „Alles ist mir erlaubt!“ (V. 12a.b); „Die Speisen sind für den Bauch da und der Bauch für die Speisen; Gott wird beide vernichten.“ Und: „Der Leib ist für die Prostitution da und die Prostitution für den Leib.“ Vgl. dazu W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 2. Teilband 1Kor 6,12–11,16 (EKK VII/2), Solothurn, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 1995, 20f.
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1Kor 6,12f auf und korrigiert sie zugleich. Die entscheidende Differenz zwischen seinen korinthischen Gesprächspartnern und ihm liegt dabei in der Beurteilung des Leibes. Für Paulus nämlich sind Bauch (koili,a) (V. 13a) und Leib (sw/ma) (V. 13b) nicht einfach Synonyme.23 Denn im Unterschied zum Bauch als dem Sitz der Verdauungs- und Sexualorgane erschöpft sich der Leib nicht in einer bloß physischen Dimension. Vielmehr gilt: „Der Mensch hat nicht einen Leib, sondern ist Leib, von dem er sich nicht als etwas ihm Fremdes distanzieren kann.“24 Die entscheidende Dimension des Leibes ist die kommunikative. Nur als leibhaft Existierender kann der Mensch in Beziehung treten zu anderen Menschen, zur Welt und zum Kyrios.25 Unter dieser Voraussetzung aber ist zu klären, ob die Beziehung zu einer Prostituierten – wie zumindest einige korinthische Gemeindemitglieder glauben – die Beziehung zum Kyrios unberührt lässt. Paulus bestreitet dies nachdrücklich (V. 15) und untermauert seine Überzeugung argumentativ in V. 16f. Dazu konfrontiert er seine Adressaten in V. 16a mit der Aussage, dass der sexuelle Kontakt mit einer Prostituierten keine unverbindliche und folgenlose Begegnung ist. Vielmehr verbindet die körperliche Vereinigung die beiden Menschen zu einer leibhaften Einheit, und das heißt entsprechend dem paulinischen Leibverständnis zu einer personal-kommunikativen Gemeinschaft. Dass Paulus das „Ein-Leib-Sein“ mit der Prostituierten genauso verstanden wissen will, bestätigt er durch ein Zitat von Gen 2,24b, das er in V. 16b begründend anfügt: „Es werden nämlich – so heißt es – die Zwei zu einem Fleisch“. In der zweiten Schöpfungserzählung steht diese Aussage freilich im Kontext der Konstituierung einer dauerhaften und ausschließlichen Beziehung zwischen Mann und Frau. Das „Ein-Fleisch-Werden“, das der paulinischen Formulierung in V. 16a „Ein-Leib-Sein“ sachlich entspricht, erschöpft sich also schon in Gen 2,24 nicht in der sexuellen Vereinigung. Der Vers, der als Erzählerkommentar die zweite Schöpfungserzählung beschließt, spricht nämlich in seinem ersten Teil davon, dass der Mann Vater und Mutter verlässt und sich an seine Frau hängt (hebr. Qbd; gr. proskolla/sqai[LXX]). Das aber heißt nach C. Westermann: „Er tritt in eine feste Lebensgemeinschaft mit ihr ein auf Grund seiner Liebe zu ihr.“26 Im Unterschied zur ersten Schöpfungserzählung (Gen 1,27f) 23 24 25
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Vgl. W. Schrage, 1Kor II, 21.23. W. Schrage, 1Kor II, 22. Vgl. H. Merklein, 1Kor II, 73. Weil also die so verstandene somatische Dimension konstitutiv für die menschliche Existenz ist, ist sie im Unterschied zu physischen Dimension (Bauch/koili,a) auch nicht der endgültigen Vernichtung anheim gegeben. Vielmehr schließt Gottes auferweckendes Handeln, das an Christus bereits erfolgt ist und an den Menschen künftig erfolgen wird (6,14; vgl. 15,20–28) die somatische Dimension ein. Freilich liegt genau in diesem Punkt auch eine ernstzunehmende Differenz zwischen der Überzeugung eines Teils der korinthischen Gemeinde (vgl. 15,12!) und der paulinischen Überzeugung, die Paulus in 1Kor 15 argumentativ beizulegen bemüht ist, vgl. H. Merklein/M. Gielen, 1Kor III, 237–394. C. Westermann, Genesis. I. Teilband Genesis 1–11 (BK I/1), Neukirchen-Vluyn 1974, 318
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betrachtet Gen 2,23f im Übrigen die Gemeinschaft zwischen Mann und Frau frei vom Zweck der Erzeugung von Nachkommenschaft allein unter dem Vorzeichen ihres personalen Hingezogenseins zueinander.27 Diesen Aspekt gilt es später noch einmal aufzugreifen. Zunächst verdient jedoch Aufmerksamkeit, dass Paulus in 1Kor 6,16 den Freier einer Prostituierten ausdrücklich als einen „Sich an eine Prostituierte Hängenden“ (kollw,menoj th|/ po,rnh|) bezeichnet. Damit greift er genau das Verb auf, welches in der LXX-Übersetzung von Gen 2,24a für das Sich-Anhängen des Mannes an seine Frau28 als Beginn einer dauerhaften Lebensgemeinschaft steht.29 Dadurch also, dass Paulus den Sexualverkehr eines christlichen Gemeindemitglieds mit einer Prostituierten an Gen 2,24 rückbindet, bringt er das Problem aus seiner Perspektive exakt auf den Punkt: Für ihn nämlich konstituiert Gen 2,24 einen unaufhebbaren Bezug zwischen der sexuellen Begegnung von zwei Menschen und dem Beginn einer umfassenden, dauerhaften und unteilbaren (vgl. mi,a sa,rx) Lebensgemeinschaft zwischen ihnen.30 Aufgrund dieses inaugurativen Charakters des Sexualverkehrs muss Paulus also jeden Kontakt mit einer Prostituierten ablehnen. Denn ein solcher ist geradezu definitionsgemäß auf die sexuelle Ebene beschränkt. Der Beginn einer umfassenden Lebensgemeinschaft, der gleichsam automatisch auch durch das Zusammensein mit einer Prostituierten gesetzt wird, kann und will in diesem Fall also nicht gelebt werden. Denn eine Lebensgemeinschaft widerspricht dem Wesen der Prostitution. Umgekehrt widerspricht damit aber auch die Prostitution dem Schöpferwillen Gottes, wie er durch Gen 2,24 bezeugt ist. Weil dies so ist, ist der Kontakt zu einer Prostituierten – im Unterschied zu einer schöpfungskonformen, also dauerhaften und unteilbaren Beziehung zwischen Mann und Frau – unvereinbar mit der Bindung an den Kyrios (V. 15.17).31 Entsprechend dem Cha27
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Vgl. ebd. Dass ein solch personal verstandenes Liebesverhältnis – unter Ausblendung des Zwecks der Nachkommenschaft – als Wert an sich geschätzt wird, beschränkt sich in der alttestamentlichen Überlieferung keineswegs auf die zweite Schöpfungserzählung, vgl. dazu H. W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, Gütersloh 72002, 248–253. In der LXX allerdings mit der Vorsilbe pros- (proskolla/sqai). Den Aspekt der Dauerhaftigkeit unterstreicht Paulus im Übrigen noch durch die gewählte grammatische Form des substantivierten Partizips Präsens (zum durativen Aspekt des Präsensstammes vgl. E.G. Hoffmann/H. von Siebenthal, Griechische Grammatik zum Neuen Testament, Riehen/Ch 1985, 306f [§ 194a–d]). Vgl. R. Kirchhoff, Sünde 171. Paulus zeigt sich damit einer frühjüdischen Tradition verpflichtet, die sich etwa auch BerR 18 findet: „BerR 18 legt Gen 2,24b.c nicht (nur) als eine Ordnung aus, auf die sich Partner und Partnerin beim Eheschluss willentlich verpflichten, sondern als eine Grundordnung, die für jeden Sexualverkehr gilt, unabhängig von der Intention von Mann und Frau, die stärker ist als von Menschen getroffene vertragliche Abmachungen. ‚Anhängen‘ bedeutet wie in (…) BerR 18 ‚sexuell verkehren‘; doch sagt der Text mit Gen 2,24, dass es nicht möglich ist, die Handlung auszuführen, ohne dass der Mann sich an die Frau bindet und eine eheliche Beziehung entsteht.“ (vgl. ebd.164). In 1Kor 6,17 formuliert Paulus zunächst ganz parallel zu V. 16 (o` de. kollw,menoj tw|/ kuri,w|). Damit ist also auch die Beziehung zu Christus als dauerhafte (wenngleich freilich nicht exklusive, denn sie gilt ja
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rakter seiner Briefe als Gelegenheitsschreiben diskutiert Paulus in 1Kor 6 ausschließlich das aktuelle Problem, nämlich den Kontakt zwischen Gemeindemitgliedern und Prostituierten. Doch dürfte seine Argumentation grundsätzlich übertragbar sein auf alle Sexualkontakte, die außerhalb der Begründung oder Existenz einer umfassenden personalen Lebensgemeinschaft stehen und ihm deshalb als Unzucht gelten müssen.
2. Ehe als Remedium concupiscentiae? (1Kor 7,1–9) Thematisch steht 1Kor 7 in deutlichem Bezug zu den beiden vorausgehenden Kapiteln. Denn weiterhin werden Fragen im sexualethischen Umfeld erörtert, allerdings unter geradezu umgekehrtem Vorzeichen. Wird Paulus zuvor durch das Verhalten einer gemeindlichen Gruppe, die aus ihrer leibfeindlichen Erlösungshoffnung libertinistische Konsequenzen zieht, zur Stellungnahme gezwungen,32 sieht er sich jetzt durch asketische Tendenzen herausgefordert. Näherhin konfrontiert ihn der Gemeindebrief mit der Behauptung:33 „Es ist gut für den Menschen, keinen sexuellen Umgang mit einer Frau zu pflegen34!“ Hinter dieser Behauptung steht offenbar eine andere Gruppe als die durch die Verkündigung des Apollos beein-
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in Bezug auf alle Glaubenden, vgl. V. 15) ausgewiesen. Allerdings ist sie von anderer Qualität. Denn kaum zufällig bedeutet das Sich-Binden an den Herrn für die Glaubenden, mit ihm ein Geist zu sein. Um Paulus nicht misszuverstehen, darf zwischen ein Leib (V. 16) und ein Geist (V. 17) aber kein Gegensatz konstruiert werden. Denn nur als leibhaftes, personal-kommunikatives Wesen kann der Mensch die Bindung an den Herrn eingehen. Dann aber gilt: „Wer sich – wohlgemerkt: mit seinem Leib, mit seiner leiblichen Existenz – an den Herrn hängt, hat Teil an dessen pneumatischer Existenz, wird – wie Paulus in V. 17b sagt – ‚ein Geist‘ (>hen pneumapneuma< ist nicht die Aufhebung oder Negation des >somasoma< in der Identität mit Christus erlangt. (…) ‚Sich an den Herrn hängen‘ ist der Beginn einer neuen Existenz, die nicht nur vom Geist bewirkt ist, sondern selbst pneumatische Existenz, d.h. neue Schöpfung (vgl. 2Kor 5,17) ist. Wer ‚ein Geist‘ mit dem Herrn ist, hat teil an der gleichen geistlichen Identität wie der Herr, dessen Existenzweise und Existenzsphäre der Geist ist.“ (H. Merklein, 1Kor II, 77f). Während der ungenierte Umgang mit Prostituierten (6,12–20) gewiss zumindest mehrheitlich von den Mitgliedern der Gruppe der Apollosanhänger gepflegt wurde, handelte es sich beim Inzest mit der Stiefmutter (5,1–13) mit einiger Wahrscheinlichkeit um einen Einzelfall, der jedoch von der libertinistisch eingestellten Gruppe akzeptiert und verteidigt worden sein dürfte. In 1Kor 7,1b handelte es sich um eine These aus der korinthischen Gemeinde (so die Einheitsübersetzung), nicht um eine paulinische These (so die revidierte Lutherübersetzung), vgl. H. Merklein, „Es ist gut für den Menschen, eine Frau nicht anzufassen“. Paulus und die Sexualität nach 1Kor 7, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43), Tübingen 1987, 385–408, hier: 389–391 sowie zur Auseinandersetzung mit der Forschung ebd. die Anmerkungen 4 und 7. {Aptesqai = wörtlich „berühren, anfassen“, hier als euphemistische Umschreibung für den Geschlechtsverkehr, vgl. H. Merklein, 1Kor II, 103.
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flusste.35 Zwei Indizien deuten auf die Paulusanhänger, die sich – im Unterschied zur Apollosgruppe – aus der Mehrheit der einfachen, eher ungebildeten und einflusslosen Gemeindemitglieder (vgl. 1,26) rekrutierten. Zum einen nämlich dürfte Paulus aus seiner grundsätzlichen Bevorzugung einer ehelosen und damit sexualasketischen Lebensweise (1Kor 7,7a) schon vor der Abfassung des 1Kor keinen Hehl gemacht haben. Zum anderen betrachteten die Paulusanhänger – in Abgrenzung von der bei den Apollosanhängern favorisierten und intellektuell anspruchsvollen Weisheitsrede – die Befähigung zur bildungsneutralen Zungenrede als entscheidendes Merkmal christlicher Identität (vgl. 1Kor 12–14). Paulus selbst aber hatten sie bei seinem Gemeindeaufenthalt zweifellos als begnadeten Zungenredner erlebt (vgl. 1Kor 14,18). Nun galt die Glossolalie als Sprache der Engel (vgl 1Kor 13,1), die Existenzweise der Engel aber als asexuell (vgl. Mk 12,25). So lag eine sexualasketische Schlussfolgerung gerade für die Mitglieder der Paulusgruppe nahe: Wer bereits in dieser Welt die Sprache der Engel spricht, der muss auch in eine engelgleiche, d.h. asexuelle Existenzweise eintreten. Niemand geringeres als ihr Gemeindegründer Paulus lebte ihnen dies doch vor! Die daraus erwachsende sexualasketische Parole (7,1b), mit der Paulus durch den gemeindlichen Fragebrief konfrontiert wird, kann er aufgrund ihres generalisierenden Charakters allerdings nicht akzeptieren. Obwohl er in 1Kor 7 an seiner grundsätzlichen Bevorzugung der Ehelosigkeit festhält (vgl. etwa V. 7a.8.38.40), argumentiert er sehr differenziert. Die Argumentationsbasis legt er dabei erwartungsgemäß am Beginn der Texteinheit in den V. 2–9. Auf sie werde ich mich im Folgenden konzentrieren. In den V. 2–6 weist Paulus zunächst die Anwendung der korinthischen Parole auf bestehende Ehen entschieden zurück. Mehr noch: Er fordert stattdessen nachdrücklich den Geschlechtsverkehr zwischen Eheleuten ein. Dass „ein jeder seine eigene Frau und eine jede ihren eigenen Mann haben soll“ (V. 2), bezieht sich also nicht auf eine allgemeine Pflicht zur Eheschließung. Dies widerspräche der Favorisierung ehelosen Lebens durch Paulus. Es widerspräche aber ebenso der sexuellen Konnotation der korinthischen These, die ja gerade unter Ehepaaren in ihrer Grundsätzlichkeit beunruhigend wirken musste. V. 2 mahnt vielmehr dazu, innerhalb einer bestehenden Ehe auch Geschlechtsverkehr zu praktizieren.36 Eben dies bestätigen die V. 3f, in denen Paulus auf die wechselseitigen 35
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Dies zumindest primär. Nicht ausgeschlossen ist freilich, dass auch in den Reihen der Apollosanhänger sich die leibabwertende Einstellung und die leibfeindliche Erlösungshoffnung statt durch libertinistische Schlussfolgerungen durch asketische Neigungen artikulierte, vgl. H. Merklein, 1Kor II, 102. Auf den Kontext der Ehe verweist Paulus dezidiert durch das Possessivpronomen (seine Frau / e`autou/ gunai/ka) bzw. durch das Besitz anzeigende Attribut (eigener Mann / i;dion a;ndra). Er muss dies tun, um anzuzeigen, dass er im Folgenden zunächst die ganz generell formulierte korinthische Parole (V. 1b) bezogen auf Ehepaare reflektieren bzw. zurückweisen will. Das Verb haben (e;cein) bildet dabei die antithetische Substitution von nicht anfassen (mh. a]ptesqai) (V. 1a) und ist daher ebenfalls sexuell konnotiert.
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sexuellen Pflichten und Ansprüche der Eheleute verweist. Entsprechend unterstreicht er mit der V. 5 einleitenden Mahnung die Intention der V. 2–4 noch einmal unmissverständlich: „Entzieht euch einander nicht!“ Nachdem Paulus somit den ehelichen Geschlechtsverkehr als regelmäßig geboten eingeschärft hat, kann er dann in V. 5a doch noch eine Ausnahme formulieren, freilich unter denkbar eng gefassten Bedingungen: gegenseitiges Einverständnis, zeitlich befristet und nur aus einem einzigen legitimen Grund: die Freiheit für das Gebet. Nach Ablauf der festgesetzten Frist aber gilt erneut, wieder (sexuell) zusammen zu sein. Die Einforderung dieser Regel durchzieht also wie ein Cantus firmus die V. 2–5. Sie wird nicht nur in den V. 2–4 dreifach variiert. Sie rahmt auch die eng gefasste Ausnahmemöglichkeit in V. 5a. Mit V. 6 beschließt Paulus die erste Argumentationseinheit, indem er diese Ausnahmemöglichkeit noch einmal eigens als Zugeständnis qualifiziert.37 Im Gegensatz zu den Vertretern der korinthischen Parole (V. 1b) betrachtet Paulus also Sexualaskese – bezogen auf eine eheliche Beziehung – als eine Art „Ausnahmezustand“, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Zu diesem Ausnahmezustand will er aber niemanden drängen. Dagegen fordert er den Geschlechtsverkehr unter Eheleuten als Normalfall energisch ein. Seine Begründung für dieses energische Insistieren verdient Aufmerksamkeit. Zunächst einmal der
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Will Paulus nicht seine gesamte vorausgehende Argumentation konterkarieren, kann sich das Zugeständnis (V. 6) nur auf die eng gefasste Ausnahmemöglichkeit in V. 5a beziehen (vgl. W. Schrage, 1Kor II, 71; H. Baltensweiler, Die Ehe im Neuen Testament. Exegetische Untersuchungen über Ehe, Ehelosigkeit und Ehescheidung, Zürich, Stuttgart 1967, 161–163; J. Kremer, Der Erste Brief an die Korinther [RNT], Regensburg 1997, 132; A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief [HNT 9/1], Tübingen 2000, 160f; C. Wolff, 1Kor 137; als Möglichkeit W. Wolbert, Argumentation 85f), nicht aber auf das erneute Zusammensein (V. 5b) (vgl. J. Weiß, Der erste Korintherbrief [KEK 5]), Göttingen 91910, 175). Denn dies entspricht sachlich exakt der in den V. 2–4 wiederholt eingeschärften Regel, dass Geschlechtsverkehr integraler Bestandteil einer Ehe ist. Insofern partizipiert die Formulierung (i[na) … kai. pa,lin evpi. to. auvto. h=te – obwohl syntaktisch Teil eines Finalsatzes – am Gebotscharakter der V. 2f, vor allem aber der einleitenden Worte in V. 5a: Entzieht euch einander nicht (mh. avposterei/te avllh,louj)!“(vgl. C. Wolff, 1Kor 137). Da Paulus dies (tou/to) aber explizit als Zugeständnis, nicht als Gebot qualifiziert, wäre ein direkter Widerspruch gegeben, wollte man das Zugeständnis auf das gebotene Zusammensein beziehen. Entsprechend verbietet es sich auch, V. 6 auf V. 2 oder auf die V. 2–5 insgesamt zu beziehen (vgl. etwa H. Lietzmann, An die Korinther I.II [HNT 9], Tübingen, 4. von W.G. Kümmel erg. Aufl. 1949, 30; H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther [KEK 5], Göttingen 12 1981, 149; als Möglichkeit W. Wolbert, Argumentation 85f), da in diesen Versen eben durchweg die Akzeptanz der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Ehe und Geschlechtsverkehr eingefordert wird. Nicht überzeugend ist in diesem Zusammenhang etwa das Votum von H. Merklein, 1Kor II, 111: „… stellt V. 6 klar, daß das Plädoyer für die eheliche Geschlechtsgemeinschaft in V. 2–5 nicht zum Heiraten verpflichtet, sondern unter dieser Rücksicht als ‚Zugeständnis‘ zu betrachten ist. V. 6 verhindert also, die Aussage insbesondere von V. 2 (…) im Sinne des Eingehens der Ehe zu monosemieren.“ Dagegen spricht zum einen, dass die korinthische Parole (V. 1b) selbst eine klar sexuelle Konnotation hat, die paulinische Formulierung in V. 2 aber dazu die antithetische Substitution bildet, die durch die kontextuelle Einbindung damit ebenfalls sexuell konnotiert ist (so zu Recht H. Merklein, 1Kor II, 106). Aufgrund des Kontextes ist also bereits eine Interpretation der Aussage auf Ehe als sozialem Status recht unwahrscheinlich. Zudem wehrt Paulus einem solchen Missverständnis hinreichend in den V. 7–9!
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
negative Befund: Paulus argumentiert bemerkenswerter Weise nicht mit der Zeugung von Nachkommenschaft.38 Dass er auf dieses Motiv aufgrund seiner Naherwartung verzichtet, deutet er nirgendwo auch nur an.39 Weiterführend ist freilich ein Blick auf das in 1Kor 7,32–34 bemühte Argument für einen Verzicht auf die Ehe, nämlich die ungeteilte Sorge um die Belange des Kyrios. Dem steht im Fall der Verheirateten gegenüber das Zerrissensein zwischen der Sorge um die Belange des Kyrios und die Belange der Welt, zwischen dem Bemühen, dem Herrn zu gefallen, und dem Bemühen, dem Partner bzw. der Partnerin zu gefallen.40 Wiederum fehlt auf der Seite der zwischenmenschlichen Beziehung die Ausweitung der Perspektive auf Kinder/Familie. Stattdessen konzentriert sich Paulus ganz auf die Beziehung zwischen Mann und Frau und auf ihr Bemühen umeinander. Dies aber entspricht genau der Stoßrichtung des Kommentars Gen 2,24, mit dem der Erzähler die zweite Schöpfungserzählung beschließt. Im Mittelpunkt steht dort die personale Liebes- und Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau als Wert an sich, die als dauerhaft und ausschließlich konzipiert ist. Innerhalb dieser personalen Gemeinschaft besitzt die sexuelle Begegnung einen konstitutiven Charakter und zugleich einen legitimen Eigenwert. Wie schon unmittelbar zuvor in 6,12–20 rekurriert Paulus also auch in 7,2–6 – jetzt freilich implizit – auf die der zweiten Schöpfungserzählung eigene personale, nicht funktionale Perspektive der Beziehung zwischen Mann und Frau. Dafür spricht nicht nur die auffallend reziproke Argumentation aus männlichem und weiblichem Blickwinkel in den V. 2–4. Vor allem V. 4 mit dem zunächst paradox erscheinenden Verfügungsrecht nicht über den eigenen Leib, sondern gerade über den Leib des/der jeweils anderen gewinnt nicht zuletzt durch das „Ein-Fleisch-Werden“ von Mann und Frau nach Gen 2,24 Plausibilität. Allerdings rückt in 1Kor 7,2–6 angesichts des paulinischen Bemühens, die sexualasketische Parole einiger Gemeindemitglieder zurückzuweisen, der Aspekt des legitimen Eigenwerts sexueller Begegnung innerhalb der ehelichen Gemeinschaft in den Vordergrund. Doch spitzt Paulus sogar noch zu: Ehelicher Sexualverkehr ist unverzichtbar, ja geradezu notwendig, und zwar dia. de. ta.j pornei,aj, d.h. um [der Vermeidung] der Unzucht[ssünden] willen. Mit diesem Paukenschlag eröffnet Paulus in V. 2a seine Argumentation gegen die Anwendung der korinthischen Parole auf 38
39 40
Vgl. auch K. Wengst, Paulus und die Homosexualität. Überlegungen zu Röm 1,26f: ZEE 31 (1987), 72– 81, hier: 76. So aber etwa die Vermutung von W. Wolbert, Argumentation 82. Dies widerspricht nicht der grundsätzlichen Vereinbarkeit zwischen der Bindung an einen Ehepartner bzw. an eine Ehepartnerin und der Bindung an den Kyrios, vgl. o. Ziffer 1. Was Paulus in 1Kor 7,32–34 zu bedenken gibt, sind die Schwierigkeiten einer Vereinbarkeit der Anforderungen, die sich aus den beiden verschiedenen Bindungen ergeben. Die Unverheirateten dagegen können sich ganz auf die Bindung an den Kyrios konzentrieren. Deshalb favorisiert Paulus die Ehelosigkeit, sofern die charismatische Voraussetzung (V. 7) gegeben ist.
„Der Leib aber ist nicht für die Unzucht …“ (1Kor 6,13)
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bestehende Ehen. Und er beschließt diese Argumentation in V. 5b, indem er das Motiv „Sexualaskese als Einfallstor unzüchtigen Verhaltens“ variiert zu „Sexualaskese als Einfallstor satanischer Versuchung im Fall fehlender Disposition zur Enthaltsamkeit“.41 Hinter dieser Begründung des Plädoyers für die Unverzichtbarkeit des Sexualverkehrs zwischen Eheleuten wird die nüchterne Einstellung des Paulus zum natürlichen Sexualtrieb des Menschen erkennbar. Wer ihn – wie die Verfechter der sexualasketischen Parole (V. 1b) – einfach verdrängen will, wird nur erreichen, dass er sich auf illegitime Weise Bahn bricht. Einer solch falsch verstandenen und gefährlichen Askese muss Paulus eine Absage erteilen, vor allem, wenn sie auch innerhalb der Ehe gefordert wird. Denn die Ehe bildet für ihn den legitimen Ort zur Befriedigung des natürlichen Sexualtriebes.42 Wenngleich dieser Aspekt aufgrund der konkreten Pragmatik in 1Kor 7,2–6 im Vordergrund steht, ist Ehe für Paulus als remedium concupiscentiae nur unzureichend definiert. Vielmehr orientiert sich das paulinische Eheverständnis an Gen 2,24. Demnach aber ist Ehe eine dauerhafte und ausschließliche Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau, die zwar durch den Sexualverkehr begründet wird und in die das Sexualleben legitim eingebettet ist, die aber nicht nur diesen Bereich, sondern alle Bereiche des Lebens umschließt. Nachdem Paulus also in den V. 2–6 der generell formulierten sexualasketischen Parole (V1b) im Blick auf ihre innereheliche Umsetzung eine eindeutige Absage erteilt hat, kommt er ihren Verfechtern in den V. 7–9 nun doch teilweise entgegen. Er tut dies aufgrund seiner eigenen Hochschätzung des ehelosen und damit sexualasketischen Lebens,43 der er in V. 7a mit einer gewissen rhetorischen Übertreibung Ausdruck verleiht: „Ich wünschte aber, alle Menschen seien wie ich selbst.“ Dieser von Paulus skizzierte Idealzustand entspricht sehr genau dem Anliegen der korinthischen Befürworter einer prinzipiellen Sexualaskese. Paulus signalisiert ihnen somit grundsätzliche Übereinstimmung und Verständnis. Im Unterschied zu ihnen bleibt Paulus freilich Realist. Deshalb schränkt er seine und ihre Idealvorstellung mehrfach ein. Dies betrifft zunächst den „Anwärterkreis“ für ein eheloses Leben, den er von alle Menschen (V. 7a) auf die Unverheirateten und Witwen (V. 8) redu41
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Dass avkrasi,a in V. 5b die spezifische Konnotation der fehlenden Disposition, nicht Disziplin zur Enthaltsamkeit besitzt, bestätigt V. 7. Hier nämlich charakterisiert Paulus seine eigene ehelose und somit sexualasketische Lebensform als Charisma, d.h. als Gnadengabe Gottes. Die Fähigkeit zur Enthaltsamkeit ist also keine natürliche, sondern eine von Gott geschenkte. Sie lässt sich damit weder einfordern noch einüben. Im Gegensatz dazu bezeichnet die „Unenthaltsamkeit“ die Ausstattung mit dem natürlichen Sexualtrieb, der sein Recht fordert. Sehr deutlich in V. 2: eigene Frau, eigener Mann! Für Paulus gehört dies untrennbar zusammen, da Sexualität ihren legitimen Platz eben nur in einer dauerhaften und ausschließlichen Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau hat. Vgl. auch V. 9 die Zuordnung von heiraten einerseits und sich nicht enthalten können bzw. brennen andererseits; vgl. o. Ziffer 1.
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
ziert. Offenbar will Paulus vermeiden, dass die sexualasketische Fraktion der korinthischen Gemeinde sich für die Auflösung bestehender Ehen stark macht.44 Nur für die, die noch oder wieder frei von einer ehelichen Bindung sind, kann er es als gut bezeichnen, wenn sie so bleiben wie er. Die andere Einschränkung seiner in V. 7a zur Sprache gebrachten Idealvorstellung ist zweifellos gravierender. Denn in V. 7b verweist Paulus darauf, dass die Befähigung zu einem ehelosen und somit sexualasketischen Leben ein Charisma, also ein Gnadengeschenk von Gott ist.45 Als Charisma aber lässt sie sich nicht einfordern, sondern nur dankbar annehmen. Die Entscheidung zur Ehelosigkeit steht also nicht allen Menschen frei, sondern nur denen, die das Charisma der sexuellen Enthaltsamkeit erhalten haben. Für sie ist es gut, so zu bleiben wie Paulus. Für die anderen aber gilt mit V. 9: „Wenn sie sich aber nicht enthalten können, sollen sie heiraten. Es ist besser zu heiraten als [vor Begierde] zu brennen.“ Damit dokumentiert sich einmal mehr der nüchterne Realitätssinn des Paulus: Der Sexualtrieb gehört zur natürlichen Disposition des Menschen. Ihm ist daher innerhalb einer umfassenden Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau Raum zu geben. Die Befähigung zur Enthaltsamkeit und damit zum ehelosen Leben hat dagegen Geschenkcharakter. Sie kann sich der Mensch daher nicht durch asketische Übungen erarbeiten.46 Wer also ohne das Charisma der Enthaltsamkeit seinen Sexualtrieb zu unterdrücken versucht, für den wird dieser Versuch zum Einfalltor für die Unzucht.47 44
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Möglicherweise war der Fall aber auch schon eingetreten (vgl. H. Merklein, 1Kor II, 113), so dass V. 10–16 unter dieser Rücksicht als Absage des Paulus an ein solches Ansinnen zu lesen sind. Allerdings ist auch hier wieder zu beachten, dass Paulus kein Pauschalurteil fällt, sondern sorgfältig zwischen verschiedenen Situationen differenziert. Es ist unwahrscheinlich, dass Paulus in V. 7b auch die Ehe als Charisma qualifizieren will (so etwa auch W. Wolbert, Argumentation 91; H. Merklein, 1Kor II, 111f; C. Wolff, 1Kor 138) Denn für ihn ist die Ehe gleichsam die schöpfungsgemäße, natürliche Lebensform, die keiner besonderen, charismatischen Befähigung bedarf. „Der eine so, der andere so“ ist daher wohl ein Vorgriff auf die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Charismen, die im Mittelpunkt der paulinischen Argumentation in Kapitel 12 stehen (vgl. H.-J. Klauck, 1 Kor 51). Freilich geht es dort um gemeindebezogene Charismen, so dass das Charisma der Enthaltsamkeit nicht mehr aufgegriffen wird. W. Wolbert, Argumentation 91, Anm. 71 allerdings vertritt die Auffassung, ein Streben nach Ehelosigkeit (und damit im paulinischen Verständnis selbstverständlich nach sexueller Enthaltsamkeit) sei legitim und möglich. Dagegen spräche nicht der charismatische Charakter der Ehelosigkeit, denn: „Wer meint, Gottes Gabe dürfe nicht Gegenstand menschlichen Bemühens sein, dürfte eine falsche Vorstellung betreffs des Zusammenwirkens von Gott und Mensch haben. Das Wirken Gottes macht das Wirken des Menschen nicht überflüssig, sondern ermöglicht beziehungsweise ermächtigt es erst.“ Damit bestätigt Wolbert im Grunde nur, dass Askese im Fall des fehlenden Charismas der Enthaltsamkeit scheitern muss. Denn vorgängig bedarf es der göttlichen Befähigung, auf die Aktualisierung des natürlichen Sexualtriebes verzichten zu können, ohne dadurch zugleich der Gefahr der Unzucht (vgl. 1Kor 7,2) bzw. psychischer Schäden ausgesetzt zu sein. Auf dieser Grundlage ist dann freilich der so befähigte Mensch zu einer entsprechenden Lebensgestaltung aufgerufen. Wenngleich Paulus dies für Unverheiratete nicht explizit ausführt, sondern in V. 9 nur andeutet, dürfte er in diesem Fall nicht anders urteilen wie im Fall der Verheirateten (vgl. V. 2–6, bes. V. 2a.5b). Sein vorausgehendes Votum wirkt also noch nach.
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3. Gleichgeschlechtliches Verhalten im Urteil des Paulus (1Kor 6,9–11; Röm 1,26f) Gleichgeschlechtliches Verhalten ist im Neuen Testament allenfalls ein Randthema.48 Die beiden – auch wirkungsgeschichtlich – wichtigsten Äußerungen dazu finden sich bei Paulus, und zwar innerhalb eines sog. Lasterkatalogs in 1Kor 6,9 sowie in Röm 1,26f.49 Bevor wir uns diesen Äußerungen widmen, soll zunächst wiederum kurz ihr kultur- und sozialgeschichtlicher Hintergrund ausgeleuchtet werden.50 Innerhalb der hellenistisch-römischen Gesellschaft der frühen Kaiserzeit war gleichgeschlechtliches Verhalten unter Männern, sofern bestimmte Regeln eingehalten wurden, weithin akzeptiert. Entsprechend der hierarchisch-patriarchalen Grundstruktur dieser Gesellschaft standen akzeptierte homosexuelle Beziehungen durchweg unter dem Vorzeichen eines Macht- und Herrschaftsgefüges. Dem korrespondiert, dass solche Beziehungen normalerweise zwischen einem erwachsenen und einem heranwachsenden Mann gepflegt wurden. Es handelte sich also um päderastische Beziehungen, in denen der Erwachsene die aktive und der Jugendliche die passive Rolle zu übernehmen hatte. Üblicherweise entstammten die Erwachsenen, die homosexuelle Kontakte pflegten, dem Stand der Freigeborenen (ingenui) oder der Freigelassenen (liberti). Ihre jugendlichen Partner dagegen gehörten dem Sklavenstand an,51 wodurch der charakteristische Aspekt eines Machtgefälles unterstrichen wird. Die Wahl des jugendlichen Sexualpartners konnte dabei auf einen Sklaven aus dem eigenen Hausstand fallen oder auf einen Sklaven aus fremdem Besitz, den sein Herr dem Päderasten zur Verfügung stellte. Im Unterschied zur Päderastie im klassischen Griechenland war es in der römischen Gesellschaft der frühen Kaiserzeit verpönt und bei Strafandrohung verboten, homosexuelle Beziehungen zu frei geborenen Jugendlichen zu pflegen. Darin dokumentiert sich eine deutliche Akzentverlagerung. Diente nämlich die griechische Päderastie primär dem statusmäßig gleichgestellten Jugendlichen, der vom älteren 48
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Dies ist einerseits erstaunlich, da zumindest gleichgeschlechtliches Verhalten unter Männern in der hellenistisch-römischen Umwelt weit verbreitet und unter Beachtung gewisser Regeln gesellschaftlich auch akzeptiert war. Andererseits ist es erklärlich, da die ethischen Richtlinien der urchristlichen Gemeinden sich stark an der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition orientieren, in der gleichgeschlechtliches Verhalten aufgrund der schöpfungstheologisch fundierten Anthropologie ein Tabu war (im Folgenden dazu mehr). Ein dritter Beleg findet sich ebenfalls im Corpus Paulinum, und zwar im deuteropaulinischen 1. Timotheusbrief. Sein Verfasser greift erneut im Rahmen eines Lasterkatalogs in 1,10 die Bezeichnung avrsenokoi/tai (wörtlich: bei Männlichem Liegende/bei einem Mann liegende Männer) aus 1Kor 6,9 auf. Vgl. zum Folgenden den sehr instruktiven und materialreichen Überblick bei A. Winterer, Sexualität 31–66; zum Phänomen weiblicher Homosexualität in der hellenistisch-römischen Antike vgl. auch B. Brooten, Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus. Die weibliche Homoerotik bei Paulus, in: M. Barz, H. Leistner, U. Wild (Hrsg.), Hättest du gedacht, daß wir so viele sind?. Lesbische Frauen in der Kirche, Stuttgart 1987, 113–138.216–222, besonders 116–126. Damit sind freilich homosexuell-päderastische Beziehungen durchaus kein spezifisches Oberschichtphänomen, wenngleich es natürlich in den literarischen Quellen primär als solches erscheint. Dies allerdings hängt damit zusammen, dass die Autoren fast ausschließlich der Oberschicht entstammten oder in ihrem Dienst standen. Doch gab es auch in der Unterschicht, zu der rund 90 % der Bevölkerung gehörten (s.o. Ziffer 1 zum sozialgeschichtlichen Hintergrund der Prostitution), genügend finanziell Besser- und Gutgestellte, die über eigene Sklaven verfügten. Entsprechend stand es ihnen frei, diese in eine homosexuell-päderastische Beziehung mit sich selbst, mit Freunden oder Geschäftspartnern zu zwingen oder auch mit ihnen als Prostituierten Geld zu verdienen (gegen A. Winterer, Sexualität 57–59).
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
Mann in die Gepflogenheiten der Gesellschaft eingeführt wurde, so stand bei der römischen Variante das sexuelle Interesse des Erwachsenen im Vordergrund, das der dem Status nach untergeordnete Jugendliche zu bedienen hatte. Ein solch homosexuelles Verhältnis eines Mannes mit einem Haussklaven währte in der Regel längerfristig, war allerdings nicht als dauerhaftes konzipiert. Reifte der heranwachsende Sklave zum erwachsenen Mann, was durch den ersten Bartwuchs (prima barba) angezeigt wurde, so hatte er auch als Unfreier die den gesellschaftlichen Normvorstellungen entsprechende männliche, d.h. aktive Rolle innerhalb einer sexuellen Beziehung zu übernehmen. Die Übernahme der passiven und d.h. weiblichen Rolle durch einen Mann also wurde als so entehrend empfunden, dass gemäß den gesellschaftlichen Konventionen nicht einmal ein Sklave dazu gezwungen werden sollte.52 Neben den homosexuell-päderastischen Verhältnissen freier Männer zu Haussklaven gab es die ebenfalls gesellschaftlich nicht als anstößig empfundene flüchtigere Variante homosexueller Kontakte zu männlichen Prostituierten. Diese männlichen Prostituierten waren teils Sklaven, die von ihren Herren zur Prostitution gezwungen wurden, teils aber auch Freie, die entweder im Dienst eines Zuhälters standen oder als Selbständige arbeiteten. Auch unter ihnen gab es viele Heranwachsende, aber auch Erwachsene, die zuweilen Männern und Frauen gleichermaßen ihre Dienste anboten.53 Einzig der erwachsene männliche Prostituierte, der bei homosexuellen Kontakten den passiven Part übernahm, stand im Widerspruch zur gesellschaftlichen Rollenerwartung und wurde daher verachtet. Solch gesellschaftlicher Ächtung war erst recht eine dauerhafte homosexuelle Beziehung zwischen zwei erwachsenen Männern ausgesetzt. Denn in einer solchen Beziehung musste ja unweigerlich einer der Partner die passive und damit weibliche Rolle übernehmen. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Ächtung spielten homosexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen im Unterschied zu päderastischen Beziehungen in der Öffentlichkeit keine Rolle. Dass es sie dennoch gab, wird durch literarische Zeugnisse belegt.54 Gleichgeschlechtliches Verhalten unter Frauen wurde im Unterschied zu dem zwischen Männern generell negativ beurteilt. Zwar sprudeln hier die Quellen erheblich spärlicher, doch ist der Befund eindeutig. Dabei will beachtet sein, dass sich in den erhaltenen Quellen ausschließlich Männer zu Wort melden. Da diese aber entsprechend der hierarchisch-patriarchalen Grundstruktur der hellenistisch-römischen Gesellschaft auch sexuelle Beziehungen durchweg in den Machtkategorien von männlicher Überordnung und aktiver Rolle sowie weiblicher Unterordnung und passiver Rolle dachten, war für sie ein gleichgeschlechtliches Verhalten unter Frauen schlicht nicht nachvollziehbar. Der entscheidende Vorbehalt, in dem die generelle Diskriminierung solch homosexuell-weiblicher Beziehungen wurzelte, war also die Missachtung gesellschaftlich akzeptierter Rollenzuweisungen. Eine Frau, die die dem Mann vorbehaltene dominante und aktive Rolle übernahm, wurde ebenso verachtet wie ein Mann, der in die der Frau zugewiesene untergeordnete und passive Rolle schlüpfte. Allerdings gab es im Leben eines Mannes eine Phase vor Eintritt der Geschlechtsreife, in der seine Übernahme der passiv-weiblichen Rolle innerhalb eines päderastischen Verhältnisses gesellschaftlich akzeptiert war.55 Dagegen war eine
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Das zweite Ereignis übrigens, das dem homosexuellen Verhältnis zwischen Herrn und Sklaven ein Ende setzen sollte, war die Heirat des Herrn. Hier ist der Grund für den gesellschaftlichen Erwartungsdruck nicht so offensichtlich wie im Fall der Mannbarkeit des Sklaven. Den Quellen nach zu urteilen (vgl. etwa Mart. Epigr. 11,78,1–5.7; Petr. 74,8–75,7), duldeten die Ehefrauen offenbar die Konkurrenz nicht. Gerade ein längerfristiges Verhältnis zu Haussklaven, aber auch Haussklavinnen, das zum einen in nächster räumlicher Nähe zur Ehefrau gelebt wurde, das zum anderen aber bei aller Dominanz des sexuellen Aspektes doch wohl auch Zuneigung und Liebe wachsen lassen konnte, dürfte leicht die Eifersucht der Ehefrau provoziert haben. Vgl. Iuv. Sat. 9,26. Vgl. A. Winterer, Sexualität 48 unter Hinweis auf Mart. Epigr. 12,42 und Iuv. Sat. 2,117–142. Wie eng aber auch hier die Grenzen gesteckt waren, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass in der hellenistisch-römischen Gesellschaft die heranwachsenden Männer, die in der Adoleszenzphase die weibliche Rolle übernahmen, stets dem Sklavenstand entstammen mussten.
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Frau zu jeder Phase ihres Lebens auf die ihr zugewiesene Rolle festgelegt. Dies dürfte erklären, warum weiblich-homosexuelle Beziehungen ausnahmslos gesellschaftlich geächtet waren, während männlich-homosexuelle Beziehungen unter Beachtung bestimmter Regeln56 weithin auf Akzeptanz stießen.57 Eine ganz andere Einstellung zeigt sich freilich im jüdischen Traditionskreis, in dem gleichgeschlechtliches Verhalten als Verstoß gegen Gottes Schöpfungsordnung gewertet wurde und entsprechend auf einhellige Ablehnung stieß.58 Fand man in Gen 2,23f die Begründung für das Hingezogensein der beiden Geschlechter zueinander, so in Gen 1,27–28a den göttlichen Auftrag zur Zeugung von Nachkommenschaft, der eben nur in der Beziehung von Mann und Frau erfüllt werden kann. In den alttestamentlichen Schriften selbst spielt das Phänomen der Homosexualität kaum eine Rolle.59 Die beiden wichtigsten Belege sind Bestandteil einer Reihe sexueller Tabubestimmungen und lauten (EÜ): „Du darfst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; das wäre ein Greuel.“ (Lev 18,22; vgl. 18,6–23) und: „Schläft einer mit einem Mann, wie man mit einer Frau schläft, dann haben sie eine Greueltat begangen; beide werden mit dem Tod bestraft; ihr Blut soll auf sie kommen.“ (Lev 20,13; vgl. 20,10–21). Traditionsgeschichtlich gehören diese Bestimmungen zum früh-nachexilischen und von priesterlichem Reinheitsdenken geprägten Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26). Innerhalb dieses Zusammenhanges verbindet sich mit ihnen eine ganz zentrale Intention, nämlich die Wahrung der Identität Israels als heiliges Gottesvolk durch Abgrenzung von der heidnischen Umwelt und durch Erfüllung des göttlichen Willens. Dieser aber ist nach priesterschriftlichem Verständnis an der Schöpfungsordnung abzulesen.60
Entsprechend seinen jüdischen Wurzeln, denen Paulus auch und gerade als Verkündiger des Evangeliums Jesu Christi immer treu geblieben ist, lehnt auch er gleichgeschlechtliches Verhalten ab. Diese Ablehnung ist ihm so selbstverständlich, dass er sie nicht begründet, sondern konstatiert (1Kor 6,9 im Kontext von 6,9– 11) bzw. als Argument einsetzt (Röm 1,26f im Kontext von 18–32). 1Kor 6,9–11 besitzen eine gewisse Scharnierfunktion. Sie beschließen die Erörterung des Prob56
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Zu diesen Regeln gehörte ein klares hierarchisches Machtgefüge, das sich im sozialen Gefälle sowie in einem deutlichen Altersunterschied zwischen den Geschlechtspartnern dokumentierte. Weibliche Homosexualität, die ohnehin gesellschaftlicher Ächtung unterlag, sah sich dagegen an diese Regeln nicht gebunden, soweit es die wenigen einschlägigen Quellen erkennen lassen, vgl. A. Winterer, Sexualität 56. Kritik erhob sich im 1. Jhd. n.Chr. ausschließlich von einigen namhaften stoischen Philosophen bzw. Anhängern der Stoa, namentlich vom jüngeren Seneca (Ep. 122,7, vgl. 95,24), von Musonius Rufus (12. Diatribe) sowie von Plutarch (Mor. 768E). Seneca und Musonius beurteilen homosexuelle Beziehungen als widernatürlich (contra naturam; para. fu,sin), Plutarch verbucht sie unter Hybris. Solch negativ bewertetem homosexuellem Verhältnis stellt Plutarch als leuchtendes Gegenbeispiel das eheliche Verhältnis zwischen Mann und Frau als eine nicht auf Sexualität fixierte, sondern umfassend-personale und auf Dauer angelegte Liebes- und Lebensgemeinschaft gegenüber (vgl. Mor 769–770). Doch blieben solch kritische Stimmen gesamtgesellschaftlich eine Ausnahme. Vgl. den Überblick bei A. Winterer, Sexualität 114–148. Dies kann A. Winterer, Sexualität 67–114 durch eine ausführliche der zur Debatte stehenden Texte überzeugend nachweisen. Vgl. dazu A. Winterer, Sexualität 105–109. Eine weitere Absicht, die mit den sexuellen Tabubestimmungen des Heiligkeitsgesetzes verknüpft ist, ist die Zeugung einer möglichst zahlreichen und der Heiligkeit des Gottesvolkes entsprechenden heiligen Nachkommenschaft. Auch sie steht freilich als gebotene Erfüllung des göttlichen Auftrags nach Gen 1,28a im Horizont der Schöpfungsordnung. Der konkrete Hintergrund, der priesterliche Kreise in der Zeit nach dem Exil diesen göttlichen Auftrag in den Blickpunkt rücken ließ, war der Schrumpfungsprozess, den das Volk Israel durch Krieg und Deportation erlitten hatte.
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
lems von Rechtsstreitigkeiten unter Christen vor einem heidnischen Gericht (6,1–8) und leiten über zur Erörterung des Problems vom Umgang christlicher Gemeindemitglieder mit Prostituierten (6,12–20). Beide Probleme ebenso wie das in 5,1–13 behandelte Problem eines innergemeindlichen Inzestfalles widersprechen dem in der Taufe begründeten Status der Gemeindemitglieder als Reingewaschenen, Geheiligten und Gerechtfertigten (V. 11). Hier schimmert im Übrigen die priesterschriftlich beeinflusste Vorstellung abgrenzender und damit Identität wahrender Heiligkeit noch durch, freilich in eschatologischer Ausrichtung. Diesem von Gott in Jesus Christus geschenkten Status aber gilt es im Handeln gerecht zu werden und nicht in die Verhaltensweisen der vergangenen Existenz als Sünder zurückzufallen. Verschiedene Facetten dieser Sünderexistenz, die als solche vom Reich Gottes ausschließt, leuchtet Paulus zuvor in den V. 9f mit Hilfe eines traditionellen Lasterkataloges aus.61 Doch nutzt er die ebenfalls traditionelle Variabilität der einzelnen Aufzählungsglieder, um kontextgemäße Akzente in den Bereichen Sexualität (V. 9b) und Eigentum (V. 10) zu setzen. Die hier interessierende erste Hälfte des Lasterkataloges (V. 9b) umfasst 5 Glieder. An erster Stelle sind die Unzüchtigen (po,rnoi) genannt.62 Mit ihnen dürfte Paulus – wie gesehen – jene Menschen bezeichnen, die Sexualkontakte außerhalb der Ehe als einer dauerhaften und ausschließlichen personalen Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau haben. Damit umfasst die Gruppe der Unzüchtigen übergreifend alle, die sich sexueller Verfehlungen schuldig machen. Noch generellere Bedeutung besitzt die nachfolgend genannte Gruppe der Götzendiener (eivdwlola,trai). Denn sie umschließt alle Heiden, denen aus traditionell jüdischer und christlicherseits adaptierter Sichtweise stereotyp Unzucht und Habgier unterstellt wurden. Als Götzendiener sind sie gleichsam prädestiniert, allen übrigen aufgezählten Lastern zu frönen. Die an dritter Stelle aufgelisteten Ehebrecher (moicoi,) stellen einen Spezialfall der Unzüchtigen dar, insofern sie die Ausschließlichkeit der ehelichen Lebensgemeinschaft missachten. Einer anderen Variante von Unzucht machen sich nach paulinischer Überzeugung die beiden Gruppen schuldig, die die erste, primär sexuell konnotierte Hälfte des Lasterkatalogs beschließen. Dabei wird man unter den als malakoi, („Weichlingen“) Bezeichneten zunächst ganz allgemein Männer verstehen dürfen, die bei homosexuellen Kontakten den passiven Part übernehmen,63 und unter den 61
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Die Form der katalogischen Paränese (Laster- wie Tugendkataloge) ist gleichermaßen in der heidnischen Popularethik, im Frühjudentum wie im Neuen Testament verbreitet, vgl. M. Gielen, Art. Lasterkataloge, in: LThK3 6, 658f. Dass auch Paulus, sofern er sich Lasterkatalogen bedient, traditionell vorgegebenen Konventionen folgt, zeigt ein Vergleich von 1Kor 6,9f mit 1Kor 5,10f, Röm 1,29–31 oder Gal 5,19–21, vgl. H. Merklein, 1Kor II 61; W. Schrage, 1Kor II 386. 426. Vgl. auch 1Kor 5,10.11; Gal 5,19. A. Winterer, Sexualität 152 verweist darauf, dass seit dem 4. Jhd. v.Chr. „Weichheit und Effeminiertheit (…) geradezu zu den Charakteristika des passiven Partners in einer ‚homosexuellen‘ Verbindung
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als avrsenokoi/tai („bei Männlichem Liegende/bei einem Mann liegende Männer“) Bezeichneten64 entsprechend homosexuell aktiv agierende Männer.65 Berücksichtigt man allerdings den konkreten gesellschaftlichen Erfahrungshintergrund des Paulus, so dachte er wohl vornehmlich66 an päderastische Beziehungen zwischen Herren und heranwachsenden Sklaven bzw. an homosexuelle Kontakte auf der Ebene von Prostitution.67 Hier wie dort handelt es sich um zeitlich begrenzte und auf den Bereich der Sexualität konzentrierte Kontakte. Dass Paulus also homosexuell agierende Männer in 1Kor 6,9b unter die Unzuchtssünder zählt, dürfte seinen Grund primär darin haben, dass homosexuelle Kontakte durchweg außerhalb einer dauerhaften und ausschließlichen personalen Lebensgemeinschaft stattfanden. Sein Beurteilungsmaßstab ist hier kaum ein grundsätzlich anderer als im Fall des Ehebruchs oder im Fall der unmittelbar nachfolgend in 6,12–20 kritisierten heterosexuellen Prostitution. Allerdings ist auch nicht zu bezweifeln, dass Paulus die umfassend personale Lebensgemeinschaft, in die der Sexualverkehr eingebettet sein soll, auf der Grundlage von Gen 2,24 und damit unter Berufung auf die Schöpfungsordnung als heterosexuelle Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau verstanden hat. Dies bestätigt sich in aller wünschenswerten Deutlichkeit im Römerbrief, der sich als einziger der authentischen Paulusbriefe nicht an eine vom Apostel selbst gegründete Gemeinde wendet. Zum Zeitpunkt seiner Abfassung war Paulus den meisten römischen Gemeindemitgliedern persönlich unbekannt. Daher stellt Paulus angesichts eines in naher Zukunft geplanten Besuches in Rom (15,22–29) in diesem Brief sich und seine gesetzesfreie Evangeliumsverkündigung der Gemeinde vor.
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(wurden). Insofern braucht es nicht zu verwundern, dass das griechische malako,j sowie das ihm entsprechende lateinische mollis immer häufiger auch als Bezeichnung für einen sich passiv gleichgeschlechtlich verhaltenden Mann gebraucht wurden.“ Als Belege führt sie ebd. 152f u.a. an Plaut. Mil. 668 und Plut. C.Gracch. 4,22. Der Begriff avrsenokoi/tai ist vor Paulus nicht belegt. Er dürfte sich am zwanglosesten als paulinische Wortschöpfung erklären, zu der Paulus durch die Septuaginta-Version von Lev 20,13: kai. o]j a'n koimhqh/| meta. a;rsenoj koi,thn gunaiko,j bde,lugma evpoi,hsan avmfo,teroi qanatou,sqwsan e;nocoi, eivsin (vgl. Lev 18,22) angeregt worden sein dürfte, vgl. H. Tiedemann, Die Erfahrung des Fleisches. Paulus und die Last der Lust, Stuttgart 1998, 237f; A. Winterer, Sexualität 154–157, jeweils unter Berufung auf D.F. Wright, Homosexuals or Prostitutes? The Meaning of ARSENOKOITAI (1 Cor 6:9, 1 Tim 1:10), in: VigChr 38 (1984), 125–153. Vgl. etwa H. Conzelmann, 1Kor 136; H.-J. Klauck, 1Kor 46; J. Kremer, 1Kor 116; C. Wolff, 1Kor 118; A. Winterer, Sexualität 158. Allerdings wohl kaum ausschließlich, dagegen nämlich spricht Röm 1,27. Darauf weist zu Recht W. Schrage, 1Kor I, 432 hin. So R. Scroggs, The New Testament and Homosexuality. Contextual Background for Contemporary Debate, Philadelphia 1983, 101–109 und im Anschluss daran P. von der Osten-Sacken, Paulinisches Evangelium und Homosexualität, in: ders., Evangelium und Tora. Aufsätze zu Paulus (TB 77 [NT]), München 1987, 210–236, hier: 215f; M. Stowasser, Homosexualität und Bibel. Exegetische und hermeneutische Überlegungen zu einem schwierigen Thema: NTS 43 (1997), 503–526, hier: 514f.
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
Zentral für diese spezifisch paulinische Evangeliumsverkündung ist die Einsicht in die ausnahmslose Sündenverfallenheit aller Menschen, Juden wie Heiden (1,18– 3,20.23). Die Äußerungen des Paulus zum Thema Homosexualität (1,26–27) sind nun Bestandteil einer „prophetische(n) Gerichtsrede gegen die Heiden“68 (1,18– 32), mit welcher Paulus seinen Nachweis des Sünderstatus aller Menschen ante Christum (1,18–3,20) eröffnet. Innerhalb dieser Gerichtsrede markieren die V. 26– 27 die Vertauschung heterosexueller gegen homosexuelle Beziehungen als eine von verschiedenen69 immanenten Straffolgen, die aus der Abwendung der Menschen als Geschöpfe von Gott, ihrem Schöpfer, erwachsen (V. 19–23).70 Die Abkehr von Gott impliziert also die Ablehnung der von ihm gesetzten Schöpfungsordnung, die für Paulus auch in gleichgeschlechtlichem Verhalten manifest wird. Ein solches Verhalten führt er also auf eine bewusste und gewollte Entscheidung gegen die Schöpfungsordnung zurück.71 Diese Einschätzung bestätigt er durch die Wahl seiner Formulierungen: So vertauschten (meth,llaxan) die Frauen aktiv als Subjekte den natürlichen Verkehr gegen den Verkehr gegen die Natur (V. 26).72 Und ebenso
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M. Theobald, Römerbrief. Kapitel 1–11 (SKK 6/1), Stuttgart 1992, 54. Vgl. Röm 1,24f.28–31. Vgl. M. Theobald, Röm I, 63. Vgl. M. Stowasser, Homosexualität 519; K. Wengst, Paulus 77. Mit B. Brooten, Leidenschaften passim, M. Theobald, Röm I, 65, U. Wilckens, Der Brief an die Röm (Röm 1–5) (EKK VI/1), Zürich, Einsiedeln, Köln, Neukirchen-Vluyn, 2. verb. Aufl. 1987, 109 u.a. verstehe ich Röm 1,26 als bezogen auf gleichgeschlechtliches Verhalten unter Frauen. Dafür sprechen zum einen die auffallend parallelen Formulierungen ai[ te ga.r qh,leiai auvtw/n meth,llaxan th.n fusikh.n crh/sin V. 26 und oi` a;rsenej avfe,ntej th.n fusikh.n crh/sin V. 27, und zum anderen die Einleitung von V. 27 mit einem dezidierten o`moi,wj (gleichermaßen, ebenso, auf dieselbe Weise). Dass Paulus das gleichgeschlechtliche Verhalten von Frauen vor dem gleichgeschlechtlichen Verhalten von Männern behandelt, mag angesichts der größeren Verbreitung und weitaus höheren Akzeptanz von männlicher Homosexualität in der hellenistisch-römischen Gesellschaft verwundern. Gerade vor diesem Hintergrund aber kann die Anordnung auch als Klimax verstanden werden, zumal die männliche Homosexualität mit beinahe dreifachem Wortumfang (35:13) gegenüber der weiblichen Homosexualität angeprangert wird. Dass Paulus überhaupt das Thema Homosexualität aus weiblicher und männlicher Perspektive anspricht, scheint sich einer gewissen Vorliebe für reziproke Erörterungen bei sexualethischen Fragestellungen (1Kor 7 zu Fragen ehelichen Verkehrs, Ehescheidung und Ehelosigkeit) oder verwandten Themen (vgl. 1Kor 11,2–16 zur Frage der Akzeptanz von Geschlechtsrollensymbolen) zu verdanken. Immer aber geht es dabei um ein und denselben Sachverhalt aus männlicher und aus weiblicher Perspektive. Schon aus diesem Grund scheint mir die These von M. Stowasser, Homosexualität, 516–519, problematisch, Röm 1,26 auf eine spezielle Form von Empfängnisverhütung hin zu interpretieren: Den natürlichen und auf Empfängnis offenen Vaginalverkehr hätten die Frauen, die Paulus in Röm 1,26 anklage, gegen den widernatürlichen Analverkehr ausgetauscht, um so die Empfängnis eines Kindes zu verhindern. Die Gemeinsamkeit zwischen Röm 1,26 und 1,27 bestünde dann also nicht im gleichgeschlechtlichen Verhalten. Der Vergleichspunkt wäre allein eine Sexualpraxis, die auf Empfängnis nicht offen ist, allerdings auf den sehr unterschiedlichen Ebenen von Hetero- und Homosexualität. Gegen diese Interpretation spricht aber auch, dass Paulus weder in 1Kor 6.7 noch in Röm 1 erkennbar mit dem Zusammenhang von Sexualverkehr und Zeugung neuen Lebens argumentiert. In 1Kor 7,2–5 wird sogar – wie gesehen – sehr deutlich, dass Sexualverkehr für Paulus unter Eheleuten einen unverzichtbaren Stellenwert an sich besitzt, weil er die Ehe als den legitimen Ort zur Befriedigung des natürlichen Sexualtriebes
„Der Leib aber ist nicht für die Unzucht …“ (1Kor 6,13)
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gaben die Männer aktiv als Subjekte den natürlichen Verkehr mit der Frau auf (avfe,ntej) (V. 27a)73 bzw. Männer betrieben (katergazo,menoi) aktiv als Subjekte mit Männern Schamlosigkeit (V. 27b). Bemerkenswert ist im Übrigen auch die paulinische Wortwahl für Frauen (qh,leiai [Weibliche], nicht gunai/kej) und Männer (a;rsenej [Männliche], nicht a;ndrej). Hinter dieser Wortwahl nämlich dürfte sich ein Hinweis auf Gen 1,27 verbergen.74 Demnach hat Gott den Menschen gerade in der Zuordnung von männlich (LXX: a;rsen) und weiblich (LXX: qh/lu) erschaffen, eine Zuordnung, die die Menschen durch die Hinwendung zum eigenen Geschlecht nach paulinischer Überzeugung bewusst pervertieren.75
4. Hermeneutische Impulse Mit der Präsentation verschiedener sexualethisch relevanter Äußerungen des Paulus in ihrer jeweiligen situativen Einbettung und pragmatischen Intention ist die Basis gelegt für die entscheidende hermeneutische Frage. Es ist die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer Rezeption dieser Äußerungen im 21. Jahrhundert. Dazu möchte ich abschließend einige Impulse setzen aus der Perspektive einer Exegetin, die sich der historisch-kritischen Methode verpflichtet weiß und die daher die zeitbedingten, vor allem kultur- und sozialgeschichtlichen Differenzen zwischen der paulinischen und unserer heutigen Erfahrungswelt zu berücksichtigen hat. Unter diesem Vorzeichen beginne ich mit den positiven Ansatzpunkten, die die sexualethischen Äußerungen des Paulus für eine heutige Rezeption bieten. Dabei möchte ich zunächst erinnern an die bemerkenswert nüchterne und geradezu modern anmutende Beurteilung des natürlichen menschlichen Sexualtriebs, die der
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betrachtet. Das Urteil von Stowasser, „dass Sexualität als ‚Begierde‘ am Pranger steht, gleich in welcher Ausprägung sie sich konkretisiert“ (Homosexualität 519), trifft also nicht zu. Gleichsam als Kehrseite ihres Verhaltens entbrannten sie dann in Begierde zueinander. Diese Sichtweise entspricht meines Erachtens sehr genau der, die sich auch in 1Kor 7,2–5 dokumentiert: Wer im Fall des mangelnden Charismas der Enthaltsamkeit seinem Sexualtrieb nicht in einer der Schöpfungsordnung entsprechenden ehelichen Beziehung Raum gibt, der erliegt der Gefahr der Unzucht, und dies kann für Paulus im konkreten Fall eben auch die Aufnahme gleichgeschlechtlicher Beziehungen bedeuten. Eine negative Konnotation ist hier m.E. ebenso wenig wie in Gal 3,28 mit zu hören, gegen E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen, 4. durchges. Aufl. 1980, 44; K. Wengst, Paulus 73. Möglicherweise impliziert die Wortwahl neben der Anspielung auf Gen 1,27 LXX zugleich, dass Paulus mit Röm 1,27 nicht nur auf Sexualkontakte zwischen erwachsenen Männern abhebt, sondern auch auf die in seiner Erfahrungswelt sehr viel häufigeren päderastischen Verhältnisse. In dieser negativen Beurteilung gleichgeschlechtlichen Verhaltens trifft sich Paulus mit zeitgenössischen Vertretern der Stoa. Sogar deren Diktion übernimmt er in Röm 1,26.27 durch den Terminus fu,sij. Verbinden die Stoiker jedoch mit fu,sij die Natur und die ihr inhärente Ordnung, so ist für Paulus fu,sij gleichbedeutend mit kti,sij (Schöpfung) (vgl. Röm 1,20.25).
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
paulinischen Stellungnahme zum korinthischen Gemeindebrief in 1Kor 7,2–6.7–9 zugrunde liegt. Sofern nicht die Befähigung zur Enthaltsamkeit gegeben ist, die Paulus freilich als individuelle göttliche Gnadengabe und damit als Ausnahme, nicht als Regelfall betrachtet, rät er nachhaltig von einer sexualasketischen Lebensweise ab. Den natürlichen Sexualtrieb gilt es nicht zu verdrängen, sondern verantwortungsbewusst in das Leben zu integrieren. Ansonsten droht nach Überzeugung des Paulus die Gefahr, dass er sich in ethisch verwerflicher Weise Bahn bricht. Mit der Sexualität verantwortungsbewusst zu leben, heißt für Paulus aber, sie nicht auf den körperlichen Aspekt zu reduzieren, sondern ihre personale und damit zugleich kommunikative Dimension zu akzeptieren. Dies schließt nach paulinischer Überzeugung alle Sexualkontakte aus, die nur kurzfristig und ausschließlich der eigenen körperlichen Triebbefriedigung dienen. Positiv bestimmt Paulus den angemessenen Ort von Sexualkontakten unter Rückgriff auf Gen 2,24 und damit auf eine der beiden biblischen Schöpfungserzählungen.76 Demnach konstituiert die sexuelle Vereinigung zweier Menschen eine als dauerhaft und unteilbar konzipierte umfassende Lebens- und Liebesgemeinschaft zwischen ihnen. Entsprechend sieht er innerhalb einer solch personal konzipierten und alle Lebensbereiche umschließenden Gemeinschaft die genuine Verortung einer Stillung sexuellen Verlangens. Eine solch ganzheitlich-personale Betrachtungsweise menschlicher Sexualität, die Verbindlichkeit77 und wechselseitige Verantwortung einschließt, verhält 76
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Dieser Rückgriff erfolgt explizit in 1Kor 6,16 im Kontext der Erörterung des Problems eines Umgangs christlicher Gemeindemitglieder mit Prostituierten (vgl. 1Kor 6,12–20); bei der Zurückweisung der in Korinth vertretenen sexualasketischen Parole (vgl. 1Kor 7,1.2–9) steht die zweite Schöpfungserzählung implizit im Hintergrund. Ob eine solch unverzichtbare Verbindlichkeit allein über die Rechtsform der Ehe herzustellen ist, mag hier offen bleiben. In diesem Zusammenhang sei zumindest die bemerkenswerte Tatsache erwähnt, dass in den überwiegend heidenchristlichen paulinischen Gemeinden, die zum hellenistisch-römischen Rechtskreis gehörten, Paare, die in einer formal-juristisch geschlossenen Ehe lebten, die absolute Ausnahme gewesen sein dürften. Denn eine rechtlich verbindliche Eheschließung war nur Personen mit römischem Bürgerrecht, d.h. in der Regel Personen aus der gesellschaftlichen Oberschicht möglich. Freie ohne Bürgerrecht lebten ihre Partnerschaft im sog. concubinatus, Sklaven im sog. contubernium. Diese eheähnlichen Lebensgemeinschaften „ohne Trauschein“ waren gesellschaftlich akzeptiert, vgl. dazu C. Kunst, Eheallianzen und Ehealltag in Rom, in: T. Späth, B. Wagner-Hasel (Hrsg.), Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis, Darmstadt 2000, 32–52, hier: 40f. Hinweise auf eine sich ausbildende oder bereits ausgebildete christliche Zeremonie der Eheschließung fehlen in der neutestamentlichen Überlieferung. Anleihen bei der jüdischen Mutterreligion waren nicht möglich, da auch hier entsprechende religiöse Rituale fehlten, vgl. Z. W. Falk, Art. Ehe/Eherecht/Ehescheidung III. Judentum, in: TRE 9, 313–318, hier: 314,8–15 und 315,15f. Ungeachtet dieser formal-juristischen Besonderheiten geht Paulus ganz selbstverständlich von der faktischen Existenz von Ehen aus, die für ihn durch die Paare selbst, näherhin durch ihre sexuelle Vereinigung geschlossen werden und dadurch ihre Verbindlichkeit erhalten. Entsprechend kann er auch ebenso selbstverständlich das Wortfeld „heiraten“ etwa in 1Kor 7 bemühen. Eine noch einmal andere, nämlich pastoral gelagerte Frage ist, wie die Glaubensgemeinschaft die in jedem Einzelfall schmerzliche Spannung zwischen der grundsätzlichen Verbindlichkeit einer Paarbeziehung und ihrem gegebenenfalls faktischen Scheitern löst.
„Der Leib aber ist nicht für die Unzucht …“ (1Kor 6,13)
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sich widerständig zu den Vorstellungen vieler Menschen in unserer schnelllebigen Welt. Gerade deshalb aber ist sie gegen herrschende Trends wie Bindungsangst, Egoismus und Konsumverhalten um der Wahrung der menschlichen Personenwürde willen als Richtschnur eines am christlichen Menschenbild orientierten Handelns immer wieder anzumahnen. Noch an eine weitere, für die gegenwärtige Welt bedeutsame Facette im Spektrum sexualethischer Äußerungen des Paulus ist zu erinnern. Wie vor allem an seiner auf Gen 2,24 gestützten Argumentation in 1Kor 7,2–6 ersichtlich wird, besitzen die Sexualkontakte innerhalb einer personalen Lebens- und Liebesgemeinschaft zwischen zwei Menschen einen legitimen Eigenwert. Wenngleich Paulus den Aspekt der Nachkommenschaft gewiss nicht ausschließt, führt er ihn bezeichnenderweise aber auch nicht als Argument gegen die sexualasketische Parole einiger Korinther an. Stattdessen lenkt er – entsprechend seiner realistischen Einschätzung des menschlichen Sexualtriebes – den Blick auf die ethische Gefährdung, die sexualasketische Bestrebungen im Regelfall, d.h. bei fehlendem Charisma der Enthaltsamkeit hervorrufen. Genau deshalb ist dem Sexualtrieb in einer personalen, als dauerhaft und ausschließlich konzipierten Beziehung unbedingt Raum zu geben. Die einzige Ausnahme davon, die Paulus – anscheinend eher zögerlich – zugesteht (V. 6), ist eng begrenzt und wird gerade nicht mit der Familienplanung,78 sondern mit der Spiritualität des Paares begründet. Legt sich daher nicht berechtigterweise der Umkehrschluss nahe, dass für Paulus sexuelle Enthaltsamkeit – auch auf Zeit – jedenfalls kein Mittel der Wahl zur Empfängnisverhütung ist?79 Wie aber hätte er sich wohl angesichts des hohen Stellenwerts, den er der Sexualität für das Wohl der Paarbeziehung selbst zuweist, zu modernen Verhütungsmitteln geäußert? Hier scheinen jedenfalls interessante Ansatzpunkte gegeben zu sein für moraltheologische Anschlussüberlegungen. Damit komme ich zu einem letzten Punkt, der zugleich auch eine Grenze bei der 78
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Dass Familienplanung und damit zusammenhängend Empfängnisverhütung nicht erst moderne Themen sind, sondern auch schon im 1. Jhd. n.Chr. aktuell waren, belegen in aller wünschenswerten Deutlichkeit die augusteischen Ehegesetze (vgl. dazu A. Mette-Dittmann, Ehegesetze, bes. 131–186). Offenbar war der Trend zu Kindern in der hellenistisch-römischen Gesellschaft dieser Zeit stark zurückgegangen. Dass diese Entwicklung sich sexueller Enthaltsamkeit der Menschen verdankte, ist angesichts ihrer Sinnenfreudigkeit und ihrer freizügigen Einstellung zur Sexualität, die gleichermaßen literarisch, epigraphisch sowie archäologisch belegt ist (vgl. A. Dierichs, Erotik in der römischen Kunst, Mainz 1997), äußerst unwahrscheinlich. Die Ehegesetze des Augustus zielen nun zwar primär auf die gesellschaftliche Oberschicht, doch betrafen die staatlichen Maßnahmen zur Förderung der Geburtenzahlen in Form von Sanktionen und Belohnungen ebenso auch Angehörige der Unterschicht wie etwa Freigelassene (vgl. A. Mette-Dittmann, Ehegesetze 166–186). Offenkundig setzt Paulus also einen diametral unterschiedlichen Akzent im Vergleich zu Augustinus, der zumindest die katholische Tradition und Lehre sehr viel nachhaltiger geprägt hat und bis heute prägt. Denn für Augustinus ist die Aktualisierung des an sich negativ bewerteten Sexualtriebes nur in Verbindung mit der Zeugung von Nachkommenschaft ethisch gerechtfertigt, vgl. W. Wolbert, Argumentation 82. Daraus folgt, dass, sofern keine Zeugungsabsicht vorliegt, Enthaltsamkeit zu üben ist.
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
Rezeption sexualethischer Äußerungen des Paulus für die Gegenwart markiert. Denn seine kategorische Ablehnung gleichgeschlechtlichen Verhaltens bedarf zumindest einer kritischen und differenzierten Rückfrage. In Röm 1,26f bewertet Paulus, wie auch die kontextuelle Einbindung der Verse (vgl. 1,18–32) bestätigt, homosexuelle Handlungen als bewusst und willentlich gesetzte Akte gegen die Schöpfungsordnung. Ein solches Urteil ist jedoch angesichts der Erforschung der Homosexualität in den modernen Humanwissenschaften nicht mehr haltbar.80 Deren Erkenntnisse, die sich verschiedenen Forschungsansätzen verdanken, konvergieren im Ergebnis darin, „daß eine homosexuelle Grundveranlagung im Sinne der Neigungshomosexualität eine irreversible Ausrichtung sexuellen Empfindens für den einzelnen bedeutet“81. Setzt man dieses Ergebnis unter das Vorzeichen des Schöpfungsglaubens, so bedeutet das: Gott hat in seiner Schöpfung einer homosexuellen Grundveranlagung von Menschen82 Raum gegeben.83 Eine solche Einsicht war Paulus freilich verschlossen.84 Hinzu kam sein konkreter gesellschaftlicher Erfahrungshorizont. Denn innerhalb der hellenistisch-römischen Gesellschaft war es homosexuell veranlagten Menschen nicht möglich, ihre Neigung innerhalb einer dauerhaften Beziehung öffentlich zu leben. Eine gleichgeschlechtliche Verbindung zwischen zwei erwachsenen Menschen widersprach den fest gefügten Geschlechtsrollenerwartungen, denen entsprechend ein Mann stets die sexuell aktive und eine Frau stets die sexuell passive Rolle zu übernehmen hatte. Gesellschaftlich 80 81
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Vgl. M. Stowasser, Homosexualität 522. B. Fraling, Sexualethik. Ein Versuch aus christlicher Sicht, Paderborn u.a. 1995, 235 (im Original kursiv). Vgl. ferner R. C. Friedman, Männliche Homosexualität, Berlin, Heidelberg 1993. Dies gilt im Übrigen nicht nur in Bezug auf den Menschen, sondern auch auf die Tiere. Denn inzwischen ist homosexuelles Verhalten unter Tieren wissenschaftlich zweifelsfrei belegt, wobei gerade unter den Primaten auch eine stark emotionale Bindung zwischen gleichgeschlechtlichen Tieren beobachtet werden konnte, vgl. V. Sommer, Wider die Natur? Homosexualität und Evolution, München 1990, 110– 131. Vgl. dazu das Selbstzeugnis von M. Bruns, der bis zum Alter von 46 Jahren versucht hatte, seine homosexuelle Neigung – auch durch Heirat und Familiengründung – zu verdrängen, bis er schließlich erkannte, „daß es für mich nur eine einzige Lösung geben konnte: Mich endlich so anzunehmen, wie Gott mich geschaffen hat, nämlich als homosexuell empfindenden Menschen“ (M. Bruns, Selbstbewußt schwul in der Kirche?, in: U. Rauchfleisch (Hrsg.), Homosexuelle Männer in Kirche und Gesellschaft [Freiburger Akademieschriften 6], Düsseldorf 1993, 109–132, hier: 110 [kursiv M.G.]). Der Gedanke, dass Homosexualität konstitutionell bedingt sei und auf Veranlagung beruhe, findet sich zwar auch in antiken Quellen (vgl. K. Hoheisel, Art. Homosexualität: RAC 16 [1994], 289–364, hier: 338, der auf Arist. eth. Nic. 7,6,1148b 29f; PsArist. probl. 4,26, 879a 36/880a 5; Ptol. Math. tetr. 3,14,172; 4,15,188 und Firm. Math. 3,6,20; 4,12,5 und 6,30,16 verweist). Doch wird dieser Gedanke – wie die Belege zeigen – nur von Einzelstimmen geäußert, die sich zudem auf einen langen Zeitraum zwischen dem 4. Jhd. v.Chr. (Aristoteles) und dem 4. Jhd. n.Chr. (Firmicus, ein christlicher [!] Verfasser eines astrologischen Werkes) verteilen und – soweit ich sehe – keine nennenswerte Rezeption gefunden haben. Die Vorstellung einer konstitutionellen Homosexualität in der Antike daher „geläufig“ zu nennen (vgl. Hoheisel, ebd.), halte ich dann doch für zu kühn. Erheblich plausibler dürfte aufgrund der Quellenlage die Vermutung sein, dass Paulus wie den meisten seiner heidnischen und jüdischen Zeitgenossen diese Vorstellung unbekannt war.
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akzeptiert waren daher im Wesentlichen nur gleichgeschlechtliche Kontakte päderastischer Art, sei es im Rahmen des Machtgefüges zwischen Herrn und Sklaven, sei es im Rahmen von Prostitution.85 Solch päderastische Beziehungen musste Paulus – auch unabhängig von ihrer homosexuellen Orientierung – allein schon wegen der fehlenden Einbettung in eine dauerhafte und ausschließliche personale Lebensgemeinschaft ablehnen.86 Nur in einer solchen Lebensgemeinschaft haben sexuelle Kontakte für Paulus ihren legitimen Ort. Genau hier ist aber auch der Ansatzpunkt gegeben, seine rigoros ablehnende Haltung gegenüber gleichgeschlechtlichem Verhalten aufzubrechen und gleichsam Paulus von Paulus selbst her zu korrigieren. Basis dieser Korrektur können freilich nicht die ihm vertrauten „anthropologische[n] Standards“87 antiker Philosophie und alttestamentlich-frühjüdischer Tradition sein.88 Auszugehen ist vielmehr vom aktuellen humanwissenschaftlichen Erkenntnisstand. Demnach ist ein gewisser Prozentsatz von Menschen, Männern und Frauen,89 mit einer irreversiblen homosexuellen Grundveranlagung ausgestattet, die für sie ebenso natürlich ist wie die heterosexuelle Grundveranlagung für die meisten anderen Menschen. Hätte Paulus auf diesem Erkenntnisstand dennoch wider besseres Wissen gleichgeschlechtliches Verhalten als bewusste und gewollte Entscheidung gegen Gottes Schöpfungsordnung und damit als Abkehr von Gott gebrandmarkt (vgl. Röm 1,26f)? Hätte er nicht vielmehr akzeptiert, dass Gott in 85
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Es ist allerdings mit M. Bruns, Kirche 114f nachdrücklich darauf zu verweisen, dass pädophile Neigungen von homosexuellen Neigungen klar zu unterscheiden sind und dass der Anteil Pädophiler unter den homosexuellen Männern nicht höher ist als unter den heterosexuellen Männern. Dass in der hellenistisch-römischen Gesellschaft homosexuelle Kontakte fast ausschließlich in päderastischen Beziehungen stattfanden, hat mit kulturell bedingten Normen und Rollenerwartungen zu tun und zeigt keinesfalls ein „Naturgesetz“ an! Das in unserer Zeit selbstverständlich geltende gesellschaftliche Tabu des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger stand Paulus gerade nicht zur Verfügung. M. Theobald, Röm I, 70. Genau hier dürfte der entscheidende hermeneutische Fehlschluss all der Äußerungen liegen, die Homosexualität bzw. gleichgeschlechtliches Verhalten unter Berufung auf die entsprechenden Bibelstellen als widernatürlich bzw. sündhaft beurteilen. Denn sie werten die Erkenntnisse der modernen Humanwissenschaften ab gegenüber dem Wortlaut der Schrift anstatt dessen zeitbedingte und überholte Voraussetzungen zu hinterfragen und die biblischen Aussagen im Licht heutigen Wissenstandes neu zu lesen. Zu Recht merkt M. Theobald im Kontext seiner Auslegung zu Röm 1,26f an: „Wer sich für seine Überzeugung, homosexuelles Tun widerspreche der von Gott gegebenen Ordnung auf die Heilige Schrift beruft (vgl. noch 1Kor 6,9; 1Tim 1,10), ohne die geschichtliche Bedingtheit ihrer diesbezüglichen Aussagen zu berücksichtigen, behandelt die Schrift ‚biblizistisch‘, das heißt: er schaut nur auf den Buchstaben und sorgt sich weder um den literarischen noch den geschichtlichen Kontext einer Schriftstelle. Einen derart naiven Umgang mit Schrifttexten hat die Kirche bei anderen Themen längst aufgegeben. Wer käme heute noch ernsthaft auf die Idee, unter Berufung auf die Schöpfungserzählungen Gen 1–3 das kopernikanisch-galileische Weltbild bekämpfen zu wollen? So wenig die Schrift über naturwissenschaftliche Fragen belehren will, so wenig verpflichtet sie auf anthropologische Standards der hellenistisch-römischen Zeit“ (Röm I, 69f); vgl. dazu auch M. Stowasser, Homosexualität 523–526. B. Fraling, Sexualethik 232f gibt für eine irreversibel homosexuelle Neigung bei der männlichen Bevölkerung einen prozentualen Anteil von 4–5 %, bei der weiblichen Bevölkerung von 2–3 % an.
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
seiner Schöpfung auch der homosexuellen Neigung von Menschen Raum geschenkt hat? Hätte er angesichts einer solch anderen Einschätzung aber nicht selbstverständlich auf die Gestaltung gleichgeschlechtlich orientierter Sexualität denselben Maßstab angewendet, nach welchem er in 1Kor 6f auch die Gestaltung gegengeschlechtlich orientierter Sexualität vermisst? Müsste nicht die erste Konsequenz in seinem Sinne also lauten: Auch homosexuell veranlagte Menschen, denen das Charisma der Enthaltsamkeit fehlt, dürfen wegen Unzuchtsgefährdung nicht dazu gedrängt werden, ihren natürlichen Sexualtrieb zu unterdrücken? Und schlösse sich nicht nahtlos die zweite Konsequenz an: Auch gleichgeschlechtliches Verhalten darf nie auf den körperlichen Aspekt reduziert werden, sondern muss stets in seiner personal-kommunikativen Dimension gesehen werden. Es ist also wie gegengeschlechtliches Verhalten zu integrieren in eine als dauerhaft und unteilbar konzipierte personale Lebens- und Liebesgemeinschaft?90 Eine Relecture von Röm 1,26f durch die Brille humanwissenschaftlicher Erkenntnisse der Moderne wirft also vielleicht als provokant empfundene Fragen auf. Im Horizont seiner Stellungsnahme zu sexualethischen Themen in 1Kor 6f gibt Paulus selbst wichtige Impulse zu ihrer Beantwortung mit dem Ziel einer verantwortungsbewussten und menschenwürdigen Gestaltung von Sexualität.91 Mit dem Aufdecken der Fragen und dem Hinweis auf die Impulse für die geforderten Antworten endet freilich die Zuständigkeit der Exegese und beginnt die Arbeit der Moraltheologie.
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Allerdings sollte eine solch umfassende Gemeinschaft zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Partnern meines Erachtens im Unterschied zur gegengeschlechtlichen Lebensgemeinschaft nicht Ehe genannt werden, um mit diesem Begriff die prinzipielle Offenheit der gegengeschlechtlichen Beziehung für Kinder/Elternschaft zu dokumentieren. Der Verzicht auf eine solche Bezeichnung sollte aber nicht verwechselt werden mit einer Abwertung oder gar Diskriminierung einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft. Vgl. dazu auch K. Wengst, Paulus 78.
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Zur not-wendigen Wiederentdeckung der Charismen in ihrer ekklesiologischen Funktion und pastoralen Bedeutung am Beginn des 21. Jahrhunderts Ein exegetisches Plädoyer aus paulinischer Perspektive*
„In Deutschland werden die ersten Kirchen verkauft, hat sich die Quote der sonntäglichen Kirchgänger seit 1950 von 50 % auf 15 % mehr als gedrittelt und erodiert die finanzielle Basis der Kirche unter teilweise dramatischen Umständen. Dem Stand der Priester aber, der wie kein anderer Beruf katholische Kirche repräsentiert, fehlt der Nachwuchs. Nichts ist mehr, wie es war, auch wenn es manchmal noch so scheint. Die Fiktion anhaltender Normalität hat lange vorgehalten, aber sie zerreißt. Die Kirche in Deutschland – und Österreich – steckt in epochalen Umbauprozessen, sie spürt das auch zunehmend, weiß aber nicht so recht, wie sie damit umgehen soll.“1 Was liegt angesichts dieser Situation der Ratlosigkeit näher, als einen Blick zurück nach vorne zu werfen? Konkret: Was liegt näher, als die neutestamentlichen Schriften als Ur-Kunde christlichen Glaubens und Fundament aller kirchlichen Tradition über die grundlegenden Strukturen urchristlichen Gemeindelebens und deren theologisch-ekklesiologische Begründung zu befragen, um von dort Impulse für neue Weichenstellungen im Dienst lebendiger Kirche und Gemeinden am Beginn des 21. Jahrhunderts zu gewinnen? Eine solche Rückfrage empfiehlt sich aber nicht zuletzt auch unter folgender Rücksicht: Die jungen christlichen Gemeinden, die sich im Verlauf des 1. Jahrhunderts rasch im gesamten hellenistisch-römischen Weltreich ausbreiteten, standen nicht nur vor der Aufgabe der Identitätsfindung in Rückbindung an und zugleich in Abgrenzung von ihrer genuin jüdischen Wurzel. Sie mussten zugleich auch mit einer Vielzahl an philosophischen Weltanschauungen und religiösen Kulten konkurrieren und sich in einem „multireligiöse(n) Milieu“2 behaupten. Sich einem solchen „Konkurrenzkampf“ zu stellen und darin *
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Abgedruckt in: Egger-Wenzel, Renate (Hg.), Geist und Feuer. Festschrift anlässlich des 70. Geburtstages von Erzbischof Dr. Alois M. Kothgasser SDB überreicht von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg, Innsbruck u.a. 2007, 163–205. R. Bucher, Vorwort zu ders. (Hg.), Die Provokation in der Krise. Zwölf Fragen und Antworten zur Lage der Kirche, Würzburg 2004, 7. So die zusammenfassende Charakterisierung der Situation in Korinth, die H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1–4 (ÖTBK 7/1), Gütersloh, Würzburg 1992, 128, vornimmt. Die Situation selbst beschreibt er unmittelbar zuvor folgendermaßen: „Vertreter populärer Philosophien konnten in Korinth mit interessierten oder neugierigen Zuhörern rechnen. Auch fremde Religionen und
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
zu bestehen, verlernte die Kirche zumindest im Abendland rasch, nachdem sie im 4. Jahrhundert von einer misstrauisch beäugten gesellschaftlichen Minderheit unvermittelt zur Staatsreligion avancierte und durch die Jahrhunderte hindurch bis in die jüngste Vergangenheit als „Volkskirche“ unhinterfragt eine weltanschauliche und religiöse Monopolstellung innehatte. Seit wenigen Jahrzehnten aber weist die Situation der Kirche und vor allem der Gemeinden vor Ort Analogien3 mit der Situation der Urkirche bzw. der Gemeinden der ersten urchristlichen Generationen auf: „Die Kirche, früher eine machtvolle religiöse Schicksalsgemeinschaft, findet sich plötzlich als eine von vielen Anbieterinnen auf dem Markt von Religion, Sinn und Lebensbewältigung wieder.“4 Die Kehrseite dieser Medaille: Angesichts der rasant abnehmenden Zahl der Gottesdienstbesucher bzw. –besucherinnen und damit einhergehend auch der sich aktiv an der Gestaltung des Gemeindelebens beteiligenden Mitglieder werden mancherorts schon so überschaubare „Größenordnungen“ erreicht, dass sie denen urchristlicher Gemeinden immer mehr ähneln. Während sich aber heute in den Diözesen als der „Kirche vor Ort“ wie in den einzelnen Gemeinden zunehmend Ratlosigkeit und Resignation angesichts der Entwicklung breitmachen, zeichneten sich die urchristlichen Gemeinden in einer analogen Situation durch Vitalität, Engagement und missionarische Ausstrahlungskraft aus. Dies sollte dazu ermutigen, einen Blick zu werfen in diese Gemeinden der ersten Stunde, um von ihnen Anregungen zur Bewältigung unserer gegenwärtigen Probleme zu bekommen. Diesen Einblick gewähren uns am unmittelbarsten die authentischen Paulusbriefe, auf die sich die nachfolgenden Ausführungen daher
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Mysterienkulte stießen in Korinth auf Resonanz, ohne freilich die klassischen griechisch-römischen Götter in Frage zu stellen. Diese blieben selbstverständlich weiterhin Gegenstand des offiziellen Kultes. Dies entspricht auch dem literarischen und archäologischen Befund (…). Die zentralen Tempel und Statuen waren u.a. Apollon, Aphrodite, Athena, Zeus, Poseidon, Tyche (Fortuna) gewidmet. Schon mehr an der Peripherie befanden sich die Tempel für so populäre Gottheiten wie Asklepius (nahe der nördlichen Stadtmauer) oder Demeter und Kore (auf dem Weg nach Akrokorinth). An dem Weg nach Akrokorinth lagen auch zwei Isisheiligtümer (der Isis Pelagia und der ägyptischen Isis gewidmet) sowie zwei Tempel für Serapis und einer für die Göttermutter (Magna Mater?).“ (ebd.). Die Stadt Korinth bildete aber mit ihrem weltanschaulichen und religiösen Pluralismus durchaus keine Ausnahme, vgl. dazu W. Elliger, Mit Paulus unterwegs in Griechenland. Philippi, Thessaloniki, Athen, Korinth, Stuttgart 1998, 30–33 (zu Philippi); ebd. 46–48 zu Thessaloniki und ebd. 72–74.76–88 zu Athen; vgl. ferner zu Philippi: P. Pilhofer, Philippi, Band I: Die erste christliche Gemeinde Europas (WUNT 87), Tübingen 1995, 92– 113; zu Thessaloniki: C. vom Brocke, Thessaloniki – Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus (WUNT 2. Reihe 125), Tübingen 2001, 114–142; zu Ephesus: W. Elliger, Ephesos. Geschichte einer antiken Weltstadt (UB 375), Stuttgart 1985, 88–100. Als analog ist die Situation deshalb zu charakterisieren, weil natürlich ungeachtet ins Auge fallender Parallelen auch gravierende Unterschiede zu beachten sind. Denn zum einen ist die gegenwärtige Kirche geprägt durch eine zweitausendjährige Geschichte und zum anderen sind die gesellschaftlichen, kulturellen oder politischen Rahmenbedingungen in den modernen demokratischen Staaten der westlichen Welt, zu denen eben auch Deutschland oder Österreich gehören, andere als im hellenistisch-römischen Weltreich des 1. Jahrhunderts. Bucher, Vorwort (s. Anm. 1) 7.
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primär stützen (Ziffer 1–3). Allerdings wird auch ein Blick in die nachpaulinischen Pastoralbriefe5 (= Past) vonnöten sein, da hier wirkungsgeschichtlich folgenschwere Weichenstellungen vorgenommen wurden (Ziffer 4). Ziel kann dabei selbstverständlich nicht die Imitation urchristlicher Gemeindestrukturen sein.6 Ziel sollte vielmehr sein, den theologisch-ekklesiologischen Grundüberzeugungen nachzuspüren, aus denen heraus sich das urchristliche Gemeindeleben entfaltete und die auch nach zweitausend Jahren und unter veränderten Rahmenbedingungen ihre Gültigkeit behalten. Eben sie gilt es, heute zeit- und sachgemäß zu adaptieren.
1. Danach aber wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch (Joel 3,1)7 Eine, wenn nicht sogar die zentrale theologisch-ekklesiologische Grundüberzeugung, die das frühe Gemeindeleben – so, wie es uns in den Paulusbriefen begegnet – bestimmte, ist die von der Geistbegabung aller an Jesus Christus Glaubenden. Es ist eine allgemein urchristliche Überzeugung. Die ältesten schriftlichen Belege hierfür finden sich in den Paulusbriefen,8 und zwar vor allem in bereits vorpaulinisch geprägten, formelhaften Wendungen,9 die Paulus selbst ohne ausdrückliche Kennzeichnung ihrer traditionellen Herkunft in seine Argumentation einfügt: „Gott hat uns den Geist gegeben“ (1Thess 4,8; 2Kor 1,22; 5,5; Röm 5,5; vgl. auch 2Tim 1,7; Apg 5,32; 15,8; 1Joh 3,24; 4,13)10 bzw. „Ihr habt den Geist empfangen“ (vgl. 1Kor 2,12; Gal 3,2.14; Röm 8,15; vgl. Joh 7,39; 14,17; 20,22; 1Joh 2,27; Apg 1,8; 2,33.38; 8,15.17.19; 10,47; 19,2).11 Die Entstehung der urchristlichen Überzeugung der Geistbegabung der Glaubenden verdankt sich einem komplexen Geflecht von Voraussetzungen. Ihnen gilt es, 5
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Es herrscht in der modernen neutestamentlichen Exegese ein breiter Forschungskonsens, dass die Pastoralbriefe pseudepigraphische Schreiben sind, die etwa um das Jahr 100 als aufeinanderbezogene Brieftrilogie verfasst wurden, vgl. dazu I. Broer, Einleitung in das Neue Testament Band II: Die Briefliteratur, die Offenbarung des Johannes und die Bildung des Kanons (NEB Ergänzungsband 2/II zum Neuen Testament), Würzburg 2001, 530–544. Dies verbieten schon die genannten grundlegenden Unterschiede (s. Anm. 3). Ausführlicher zum Folgenden vgl. Gielen, Geist (s. I.4.), 132–137. Dies ist nicht erstaunlich, handelt es sich doch bei den Paulusbriefen selbst um die ältesten schriftlichen Bestandteile des neutestamentlichen Kanons. Zu dieser sog. Formeltradition vgl. die grundlegenden und noch immer aktuellen Ergebnisse folgender Monographien: W. Kramer, Christos Kyrios Gottessohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden (AThANT), Zürich 1963; K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums (StNT 7), Gütersloh 1972. Vgl. F.W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie (FRLANT 154), Göttingen 1992, 62. Vgl. Horn, Angeld (s. Anm. 10) 64.
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III. Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext
zunächst mit Hilfe speziell der paulinischen Texte und ihrer alttestamentlich-frühjüdischen Wurzeln wenigstens in Grundzügen nachzuspüren. Als Initialzündung ist hier einmal mehr die Erfahrung der Osterzeugen zu nennen, die das Fundament der gesamten christlichen Verkündigung bildet. Diese Erfahrung wird in ihren ältesten literarischen Belegen in wiederum formelhaft-knappem Bekenntnisstil zur Sprache gebracht: „Gott hat ihn/Jesus von den Toten auferweckt.“12 Dieses Bekenntnis bedeutet nun im Horizont endzeitlicher Neuschöpfung:13 Jesus von Nazaret ist nicht in sein bisheriges, weiter vom Tod bedrohtes Leben zurückgekehrt. Gott hat ihm vielmehr eine Existenz in neuer, eschatologisch-endgültiger Qualität geschenkt. Damit bezeugt die urchristliche Verkündigung das bereits als an Jesus geschehen, was weite Teile des Frühjudentums als Gottes Handeln für die Endzeit erwarteten: die Auferweckung der Toten.14 Damit aber geht das Osterbekenntnis einher mit der Gewissheit, dass mit der Auferweckung Jesu Christi das Eschaton angebrochen ist. Entsprechend reflektierten die Glaubenden dieses Geschehen dann auch in seinen Konsequenzen für die eigene Existenz. Eine auf (wenngleich nahe) Zukunft ausgerichtete existentielle Implikation des endzeitlich-auferweckenden Handelns Gottes an Jesus für die Glaubenden war ihre Erwartung, Gott werde an ihnen ebenso auferweckend (vgl. 2Kor 4,14; Röm 8,11) bzw. verwandelnd (vgl. 1Kor 15,51f) wirken wie an Jesus (vgl. 1Kor 15,20). Eine weitere existentielle Implikation des Osterereignisses – die Geistbegabung – betraf dagegen nach urchristlicher Überzeugung bereits das gegenwärtige Leben der Glaubenden, qualifizierte doch die Auferweckung Jesu von den Toten die Gegenwart als Endzeit.15 Für diese Endzeit aber war durch den Propheten Joel die „Geistausgießung über alles Fleisch“ angesagt worden:
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Je nach Bedarf wird diese Aussage als Satz mit finitem Verb (Röm 10,9; 1Kor 6,14; 15,15; 1Thess 1,10; vgl. Apg 2,32; 3,15; 4,10; 13,34.37; ) oder als Partizipialkonstruktion (Röm 4,24; 8,11; 2Kor 4,14; Gal 1,1; vgl. Apg 13,33; 17,31; Kol 2,12; Hebr 13,20) in den Aussagekontext eingefügt, vgl. Wengst, Formeln (s. Anm. 9) 27–48; 92–104. Vgl. Röm 4,17: Totenauferweckung als endzeitliche Creatio ex nihilo. Tote lebendig zu machen, ist ein frühjüdisch geläufiges Gottesprädikat, vgl. C. Burchhard, Joseph und Aseneth (JSHRZ II/4) Gütersloh 1983, 694 A7b. Es findet sich etwa auch in der zweiten Bitte des sog. Achtzehngebets, die Gott lobpreist als den, „der die Toten auferweckt und den Geist wiederkehren und den Tau herunterkommen lässt“ (Zur Übersetzungsproblematik und zur Begründung der Bevorzugung dieser Übersetzung gegenüber der Variante „der die Toten auferstehen lässt, der den Wind wehen lässt und den Tau herniederfallen“ vgl. Horn, Angeld [s. Anm. 10] 92–94). Damit weist der Lobpreis in dieser zweiten Bitte des Achtzehngebets eine Verbindung auf zwischen der frühjüdischen Erwartung einer individuellen Totenauferweckung am Ende der Zeiten und der gleichfalls eschatologischen Wiederkehr des göttlichen Geistes. Entgegen den frühjüdischen Erwartungen ließen allerdings die allgemeine Totenauferweckung und die Vollendung der im Auferweckten begonnenen Neuschöpfung noch auf sich warten. Zu dieser signifikanten Abweichung und ihren Implikationen vgl. H. Merklein / M. Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (ÖTKB 7/3), Gütersloh 2005, 275.276.
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(1) Danach aber wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen. (2) Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen. (3) Ich werde wunderbare Zeichen wirken am Himmel und auf der Erde: Blut und Feuer und Rauchsäulen. (4) Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und schreckliche Tag. (5) Und es wird geschehen: Wer den Namen des Herrn anruft, wird gerettet. (Joel 3,1–5)
Diese Prophetenstelle ist zwar verglichen mit anderen neutestamentlich keineswegs intensiv bemüht worden.16 Doch ist der Befund der wenigen Stellen sehr aufschlussreich. Lukas zitiert Joel 3,1–5 ungekürzt gerade in der Pfingstpredigt des Petrus Apg 2,17–21. Zumindest in diesem traditionsgeschichtlich jungen, lukanisch gestalteten Kontext wird also eine ausdrückliche Verbindung hergestellt zwischen der Joelprophetie und der urchristlichen Erfahrung des Geistbesitzes. Doch dürfte diese Verbindung wesentlich älter sein. Ein Indiz dafür bietet Röm 10,12f, hält Paulus doch hier die Gleichstellung von Juden und Griechen im Glauben fest (V. 12) und bekräftigt dies, indem er Joel 3,5 zitiert (V. 13): (12) Darin gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen. Alle haben denselben Herrn; aus seinem Reichtum beschenkt er alle, die ihn anrufen. (13) Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.
Diese im Kontext des Joelzitats nur als endzeitlich zu qualifizierende religiöse Gleichstellung von Juden und Griechen in Röm 10 verweist ihrerseits auf Gal 3,28. Hier nämlich zitiert Paulus eine Tauftradition, die die Aufhebung fundamentaler Unterschiede zwischen Menschen durch die Taufe proklamiert: keine religiösen Unterschiede (nicht Jude noch Grieche), keine sozialen Unterschiede (nicht Sklave noch Freier), keine geschlechtlichen Unterschiede (nicht männlich und weiblich). An die Stelle dieser die Menschen trennenden Unterschiede tritt stattdessen die gemeinsame, neue Identität der Glaubenden in Christus: Denn ihr alle seid einer in Christus Jesus (Gal 3,28b). Die beiden letztgenannten Gegensätze geschlechtlicher und sozialer Art bzw. deren (funktionale) Negation begegnen nun auch in Joel 3: Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein (V. 1b); auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen (V. 2). Ihre Aufhebung steht hier im Zusammenhang mit dem unterschiedslos zugeteilten endzeitlichen Gottesgeist. So legt sich die berechtigte Vermutung nahe, dass hinter Gal 3,28 eine Reflexion von Joel 3 steht.17 Den Namen des Herrn (Joel 3,5) – in urchristlicher 16
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Unberücksichtigt bleiben können hier die Anspielungen auf die Schilderung der Endzeitereignisse Joel 3,3f in den synoptischen Endzeitreden und in der Offenbarung der Johannes, vgl. Mk 13,24; Mt 24,29; Lk 21,25; Offb 6,12.18; 8,7. So etwa u.a. auch F. Crüsemann, „… er aber soll dein Herr sein“ Genesis 3,16. Die Frau in der patriarchalischen Welt des Alten Testaments in: ders., Thyen, Hartwig, Als Mann und Frau geschaffen. Exegetische Studien zur Rolle der Frau, Gelnhausen, Berlin 1978, 17–106, hier: 92–94; G. Dautzenberg,
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Rezeption christologisch verstanden (vgl. 1Kor 1,2; Röm 10,12f u.ö.) – rufen die an, die auf Christus, d.h. auf den Namen Christi getauft worden sind (Gal 3,27). Sie sind zugleich diejenigen, denen in der Taufe die endzeitliche Geistausgießung zuteil wurde, die alle Gruppenbildungen zwischen Menschen aufhebt (Gal 3,28).18 Das urchristliche Bewusstsein, im Geistbesitz zu sein, erwächst also aus der Reflexion der Bedeutung des Ostergeschehens für die Gegenwart, und zwar im Horizont frühjüdischer Vorstellungen von endzeitlicher Totenauferweckung und Wiederkehr des Gottesgeistes. Katalytische Funktion kommt dabei der Prophetie Joel 3 zu. Sie dürfte vor allem bei der Ausbildung der hinter Gal 3,27f stehenden Tauftheologie eine wesentliche Rolle gespielt haben.
2. Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt (1Kor 12,7) Wie wirkt sich nun aber die urchristliche Überzeugung von der Geistbegabung aller Glaubenden ekklesiologisch aus? Entlässt sie aus sich praktische Konsequenzen für gemeindliche bzw. kirchliche Lebensvollzüge? Die aufschlussreichsten Informationen darüber bieten die Kapitel 12–14 des 1. Korintherbriefes, die Paulus wohl als Antwort auf eine Anfrage aus der korinthischen Gemeinde verfasst hat. Diese Anfrage „die Geistesäußerungen betreffend“ (peri. de. tw/n pneumatikw/n) (12,1) fand sich offenbar zusammen mit anderen Anfragen19 in einem Brief der korinthischen Gemeinde, der Paulus möglicherweise von Stephanas und seinen Begleitern (1Kor 16,17f) nach Ephesus (1Kor 16,8) überbracht wurde.20 Sie dürfte in sachlichem Zusammenhang stehen mit den rivalisieren-
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„Da ist nicht männlich und weiblich“. Zur Interpretation von Gal 3,28 in: Kairos 24 (1982), 181–206, hier: 197; H. Merklein, Im Spannungsfeld von Protologie und Eschatologie. Zur kurzen Geschichte der aktiven Beteiligung von Frauen in den paulinischen Gemeinden in: Evang, Martin, Merklein, Helmut, Wolter, Michael (Hg.), Eschatologie und Schöpfung. FS E. Gräßer zum 70. Geburtstag (BZNW 89), Berlin, New York 1997, 231–259, hier: 233. Unter dieser Prämisse sind die Geisterfüllten (Gal 6,1; 1Kor 2,13; 3,1) und die, die den Namen des Herrn anrufen (1Kor 1,2; Röm 10,12fin; Apg 2,21; 9,14,21; 22,16; 2Tim 2,22), als christliche Selbstbezeichnung der Sache nach austauschbar. So mit hoher Wahrscheinlichkeit 7,1: zur sexuellen Enthaltsamkeit unter christlichen Ehepaaren; 8,1: zum Verzehr von Götzenopferfleisch und 16,1: zur Durchführung der Jerusalemkollekte. Dagegen leitet 7,25 („Was die Jungfrauen [i.S. die unverheirateten jungen Leute] betrifft“) eher eine paulinische Folgeüberlegung ein, die aus der – pragmatisch primär auf Eheleute bezogenen – korinthischen Parole „Es ist gut für den Menschen, eine Frau nicht anzufassen“ abgeleitet wird, vgl. H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 5,1–11,1 (ÖTBK 7/2), Gütersloh, Würzburg 2000, hier: 97–98. Auch 16,12 („Was den Bruder Apollos [konkret: dessen potentiellen Besuch in der korinthischen Gemeinde] betrifft“) dürfte wahrscheinlicher von Paulus selbst thematisiert worden sein, vgl. Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 15) 431f. Vgl. H.-J. Klauck, 1. Korintherbrief (NEB.NT 7), Würzburg 1984, 10; C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 1996, 10; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 4. Teilband 1Kor 15,1–16,24 (EKK VII/4), Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 2001, 457.
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den Gruppenbildungen in der Gemeinde, von denen Paulus durch die Leute der Chloe erfuhr (1Kor 1,11f) und mit denen er sich in 1,10–4,21 auseinandersetzt. Primär konzentrierten sich die Gruppenstreitigkeiten wohl auf die Auseinandersetzungen zwischen Paulus- und Apollosanhängern.21 Apollos, ein aus Alexandria stammender Judenchrist (vgl. Apg 18,24–28), hatte nach dem Gemeindegründungsaufenthalt des Paulus in Korinth ebenfalls als Verkündiger in der jungen Gemeinde gewirkt (vgl. 1Kor 3,6–8.10; Apg 19,1). Dabei setzte er offenbar in der Christologie und Soteriologie Akzente, die durch das Werk seines älteren Mitbürgers, nämlich des jüdischen Religionsphilosophen und Theologen Philo von Alexandrien, bestimmt waren.22 So unterscheidet Philo in seiner Anthropologie, basierend auf einer harmonisierenden und zugleich platonisierenden Interpretation der beiden Erzählungen von der Erschaffung des Menschen in Gen 1 und Gen 2, zwischen dem durch das Wort erschaffenen urbildlich-pneumatischen Menschen und dem aus Erde erschaffenen irdisch-materiellen und damit vergänglichen Menschen (vgl. All I, 31–42; Op 134–135). Aufgrund der Einhauchung des göttlichen Lebensodems verfügt aber auch der irdische Mensch über eine Verbindung zum himmlisch-pneumatischen Bereich und damit über die Befähigung zu einem pneumatischen Leben entsprechend dem himmlischen Urbild, das die Gotteserkenntnis und die Teilhabe an der göttlichen Weisheit einschließt. Freilich muss er diese Befähigung nutzen, indem er alles Irdisch-Leibliche soweit als möglich hinter sich lässt, um so seiner Vergänglichkeit zu entkommen und Erlösung durch Anteilhabe an der pneumatischunvergänglichen Existenzweise zu erlangen (vgl. auch Her 67–70). Unter dem Eindruck dieser philonischen Anthropologie identifizierte Apollos in seiner Verkündigung den erhöhten Christus wohl mit dem urbildlich-pneumatischen Himmelsmenschen und definierte Erlösung als von Gott ermöglichte Erkenntnis dieser christologischen Identität verbunden mit der schon gegenwärtigen Orientierung der Glaubenden an der pneumatischen Existenzweise Christi. Parallel zum hohen Stellenwert der Erkenntnis (gnw/sij) innerhalb seines christologisch-soteriologischen Konzeptes stellte Apollos seine Verkündigung wohl auch unter das Vorzeichen der Weisheit (sofi,a),23 die bereits frühjüdisch „als Mittel und Inhalt heilsamer Erkenntnis“24 galt. Als rhetorisch geschulter Mann (vgl. Apg 18,24) dürfte Apollos seine weisheitlich akzentuierte Verkündigung nun auch formal-stilistisch als Weisheitsrede gestaltet haben. Der Form wie dem Inhalt nach musste diese Verkündigung vor allem Anklang bei der kleinen, aber einflussreichen Gruppe der gebildeten und vornehmen Gemeindemitglieder (vgl. 1Kor 1,26) 21
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Darauf deutet die Beobachtung hin, dass die paulinische Argumentation sich im Wesentlichen auf die beiden Protagonisten Paulus und Apollos bzw. deren Anhänger konzentriert (4,6 [!], vgl. 3,4.5–17) und die beiden Namen auch in 1,12 und 3,22 an den jeweils ersten Stellen der Aufzählung genannt werden, vgl. Merklein, 1Kor I (s. Anm. 2) 134–146. Vgl. zum Folgenden Merklein, 1Kor I (s. Anm. 2) 119–133. Zum philonischen Einfluss auf Apollos bzw. die Apollosanhänger in Korinth vgl. auch G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und exegetische Untersuchung von 1Kor 15 (FRLANT 138), Göttingen 1986, passim. Dafür spricht nicht zuletzt die auffällige Konzentration des Wortfeldes Weisheit/weise (sofi,a/sofo,j) in 1Kor (von insgesamt 34 Belegen in den authentischen Paulusbriefen finden sich 28 [!] Belege in 1Kor, ein Beleg in 2Kor und 5 Belege in Röm), die darauf hindeutet, dass die Weisheitsthematik keine spezifisch paulinische ist, sondern Paulus vonseiten der korinthischen Gemeinde aufgedrängt wurde (vgl. Merklein, 1Kor I [s. Anm. 2] 119). Hat Paulus aber die Gemeinde nicht mit der Weisheitsthematik vertraut gemacht, so dürfte sie von Apollos eingebracht worden sein, der nach Paulus in Korinth wirkte. Ähnlich, wenngleich nicht ganz so signifikant, ist der Befund zum Stichwort Erkenntnis (gnw/sij). Hier gibt es insgesamt 20 Belege in den echten Paulinen. Davon entfallen mit 10 Belegen exakt die Hälfte auf 1Kor. Fasst man die gesamte Korintherbriefkorrespondenz in den Blick, so kommen in 2 Kor noch 6 Belege hinzu (Röm: 3 Belege; Phil: 1 Beleg). Das heißt: Weisheit und Erkenntnis genossen in der theologischen Reflexion der korinthischen Gemeinde – angeregt durch das Wirken des Apollos – offenbar einen hohen Stellenwert. Merklein, 1Kor I (s. Anm. 2) 127.
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finden. Denn sie kam nicht nur ihren ästhetischen Bedürfnissen und intellektuellen Ansprüchen entgegen. Vor allem drängte sie den gesellschaftlich geächteten und religiös skandalösen Kreuzestod Jesu (vgl. 1Kor 1,23), der den gebildeten und gesellschaftlich höher stehenden Gemeindemitgliedern geradezu peinlich sein musste, an den Rand, indem sie ihn zu einer soteriologisch nebensächlichen Etappe auf dem Weg der Rückkehr Jesu in die allein heilsbedeutsame urbildlich-pneumatische Existenzweise abwertete. Mit der Zustimmung, die Apollos mit seiner spezifischen Verkündigung bei den Gebildeten in der korinthischen Gemeinde erfuhr, war nun zugleich eine Distanzierung dieser Gruppe vom Gemeindegründer Paulus verbunden. Denn Paulus hatte seine Verkündigung in Korinth ganz auf das anstößige Faktum des Kreuzes Jesu (1Kor 2,2) zentriert, und zwar unter bewusstem Verzicht auf die rhetorischen Finessen einer Weisheitsrede (1Kor 2,1), konnte doch nach seiner Überzeugung der Versuch, sich der paradoxen, nach weltlichem Maßstab als Torheit erscheinenden Weisheit Gottes mit den Mitteln menschlicher Weisheit zu nähern, nur zur Entleerung der soteriologischen Kraft des Kreuzes Christi führen (vgl. 1,18– 25 mit 1,17!). Angesichts dieser Differenzen waren die Voraussetzungen geschaffen für die Entstehung einer Gruppe von Apollosanhängern, die nicht nur inhaltlich den Akzent statt auf den Gekreuzigten auf die urbildlich-pneumatische Existenz des Erhöhten legten, sondern zugleich auch die Befähigung, dem nach Art der Weisheitsrede angemessenen Ausdruck zu verleihen, als entscheidendes Merkmal aller geistbegabten Glaubenden postulierten. Als Reaktion darauf dürften sich andere korinthische Christinnen und Christen unter Berufung auf das Wirken ihres Gemeindegründers zur Paulusgruppe zusammengeschlossen haben. Dabei handelte es sich vor allem wohl um die zahlenmäßig dominierenden Gemeindemitglieder einfacher Herkunft und niedriger Bildung (vgl. 1Kor 1,26). Denn diese waren mit der intellektuell anspruchsvollen Verkündigung des Apollos offenbar ebenso überfordert wie mit der Weisheitsrede, die seinen Anhängern nun als entscheidender Ausweis christlicher Identität galt. Gleichsam als Reaktion dürften die Paulusanhänger die Glossolalie als das Kriterium des Christlichen auf den Schild gehoben haben,25 hatte Paulus – selbst ein begnadeter Zungenredner (1Kor 14,18) – doch die korinthische Gemeinde mit dem Phänomen verzückten Sprechens als Ausdruck des eschatologischen Wirkens des Gottesgeistes in den Glaubenden bekannt gemacht (vgl. auch 1Kor 2,4). Glossolalie als psychodynamisches Geschehen aber ist unabhängig von bestimmten Bildungsstandards, was sie für die einfachen Gemeindemitglieder attraktiv erscheinen ließ,26 gerade bei den intellektuell Höherstehenden aber Vorbehalte oder gar Ablehnung provoziert haben dürfte.
Wenn sich nun also im Brief, den Paulus von der korinthischen Gemeinde erhält, auch eine Anfrage zu den Geistesäußerungen (pneumatika,) (12,1) findet, so bedeutet dies: Unabhängig von den unterschiedlichen Gruppierungen erwarten die Gemeindemitglieder vom Gründer ihrer Gemeinde eine Stellungnahme im Streit um die entscheidende Geistesäußerung: Weisheitsrede oder Glossolalie? Und Paulus bezieht Stellung, jedoch so, dass er die Alternative entweder Weisheits- oder Zungenrede ebenso aufbricht wie die individuelle Verengung. Stattdessen lenkt er den Blick auf die Pluralität der Geistesäußerungen, auf ihren Geschenkcharakter sowie auf ihren Gemeindebezug. So verdanken wir also den Gruppenstreitigkeiten innerhalb der korinthischen Gemeinde, die sich an den so unterschiedlichen Ver25
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Damit ist nicht gesagt, dass die Apollos- und die Paulusgruppe jeweils nur die Weisheits- bzw. nur die Zungenrede als Geistesäußerung hätten gelten lassen. Vielmehr betrachteten sie wohl Weisheits- bzw. Zungenrede als die konstitutive Geistesäußerung, zu der alle Getauften gleichermaßen fähig sein müssten. Auf dieser Basis kann es aber durchaus noch Raum für weitere Geistesäußerungen geben. Vgl. dazu G. Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983, 300.
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kündigerpersönlichkeiten eines Paulus und Apollos ebenso entzündeten wie an der unterschiedlichen Akzentuierung ihrer Verkündigung und an der daraus resultierenden Frage nach der für alle Glaubenden unverzichtbaren Geistesäußerung, dass Paulus in 1Kor 12–14 ausführlich eine charismatisch fundierte Struktur von Gemeinde vorstellt und begründet. Für die Thematik dieses Beitrags bietet 1Kor 12 bereits die wesentlichen Aspekte, so dass eine weitgehende Konzentration auf dieses Kapitel möglich ist. Basis der Argumentation in 1Kor 12 ist die Überzeugung vom Geistbesitz aller Glaubenden, die Paulus mit den korinthischen Christinnen und Christen selbstverständlich teilt. Bereits in V. 3 nennt er ein erstes Kriterium für diesen Geistbesitz, das er nach seiner negativen wie positiven Seite hin entfaltet. Der in den Glaubenden wirkende Geist Gottes verhindert eine Verfluchung Jesu27 ebenso wie nur er das – selbstverständlich nicht bloß verbale, sondern existentielle – Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn ermöglicht. In V. 7 greift Paulus das Motiv der allgemeinen Geistbegabung auf, indem er festhält, dass jedem (e`ka,stw|)28 die Offenbarung des Geistes gegeben wird. Schließlich variiert er das Motiv noch einmal in V. 13, indem er unverkennbar auf die in Gal 3,28 zitierte und offenbar auch in Korinth bekannte (vgl. 1Kor 7,17–24; 11,11)29 Tauftradition anspielt. Das „Einer-in-ChristusSein“ aus Gal 3,28 als neue und gemeinsame Identität der Getauften, die an die Stelle aller alten, trennenden Identitäten tritt, ruft Paulus hier gleich zwei Mal in Erinnerung: „Wir alle wurden denn auch in einem Geist zu einem Leib getauft (…), und alle wurden wir mit einem Geist getränkt.“ Das „Einer-in-Christus-Sein“ ist für Paulus somit die Existenzweise eines einzigen Leibes, die von dem einen, unteilbaren Geist bewirkt wird. Auch in der Betonung der Einheit und Unteilbarkeit des Geistes (vgl. auch V. 4b) kann Paulus im Übrigen mit der Zustimmung der korinthischen Gemeindemitglieder rechnen. Die Schlussfolgerungen freilich, die sie und er aus der Anteilgabe aller Glaubenden an dem einen Geist ziehen, sind sehr unterschiedlich. Für die Korinther folgt aus der Teilhabe aller an dem einen Geist auch die Befähigung aller zu der einen, christliche Existenz als solche qualifizierenden 27
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Die zunächst genannte negative Variante der Verfluchung Jesu, die Geisterfüllten unmöglich ist, dient wohl nur als theoretische Antithese zum geistgewirkten Bekenntnis. Wollte Paulus auf tatsächlich erfolgte Vorfälle einer Verfluchung Jesu durch Glaubende anspielen (vgl. die bei Wolff, 1Kor [s. Anm. 20] 99–102 und W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 3. Teilband 1Kor 11,17–14,40 [EKK VII/3], Zürich, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 1999, 115f vorgestellten Interpretationsvorschläge), gäben diese Leute sich ja nach seiner eigenen Kriteriologie gerade als Nichtglaubende (weil nicht vom Geist Erfüllte) zu erkennen. Kaum zufällig dürfte Paulus hier und in V. 11 nicht formulieren allen (pa/sin), denn es geht ihm nicht darum, die Glaubenden als Gesamtheit in den Blick zu nehmen. Mit dem distributiven e[kastoj unterstreicht er stattdessen den für ihn zentralen Aspekt, dass sich der allen gemeinsame Geistbesitz in jedem einzelnen Glaubenden je individuell äußert. Vgl. Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 15) 138.
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Geistesäußerung. Angesichts ihrer göttlichen Herkunft muss dieser Geistesäußerung auch ein gewisser spektakulärer Charakter eigen sein. Herrscht soweit Einigkeit in Korinth, geht der Streit darum, ob diese konstitutive Geistesäußerung nun die Glossolalie (Paulusanhänger) oder die Weisheitsrede (Apollosanhänger) ist. Paulus hält dem zunächst in V. 3 ein ganz unspektakuläres Kriterium für den Besitz des Geistes entgegen, insofern er sich in glaubensgemäßem, bekenntnishaftem Sprechen von Jesus äußert. Gleich anschließend nimmt er in V. 4 zwei weitere bemerkenswerte Korrekturen an der korinthischen Position vor. Aus der Einheit des Geistes folgt für Paulus gerade nicht eine Einheitsäußerung dieses Geistes. Vielmehr teilt der Geist unterschiedlich zu, und zwar jedem individuell in freier Entscheidung (vgl. V. 11). Beachtung verdient hierbei, dass Paulus den im korinthischen Fragebrief vorgegebenen Begriff der Geistesäußerungen (pneumatika,) (V. 1) jetzt in V. 4 durch den Begriff der Gnadengaben (cari,smata) ersetzt. Mit der Geistbegabung aller Getauften (V. 13) ist also nicht die unterschiedslose Befähigung zu einer ganz bestimmten Geistesäußerung verbunden, die sich erstreben oder gar einfordern ließe. Die je individuelle Zuteilung der einzelnen Geistesäußerungen verdankt sich vielmehr Gottes Gnade und hat daher Geschenkcharakter, was in der Bezeichnung als Charismen seinen angemessenen Ausdruck findet.30 Von diesem Geschenk, so hält Paulus dann in V. 7 fest, ist niemand ausgeschlossen. Allerdings erhält jedes Gemeindemitglied seine individuelle Zuteilung des Geistes weder zur Selbstprofilierung noch zur Selbsterbauung, sondern „zum Nutzen“ (pro.j to. sumfe,ron). Dass dieser Nutzen auf die Gemeinde zielt, stellt Paulus dann in den V. 12–27 sicher. Insofern er hier nämlich die neue, christologisch fundierte Identität des „Einer-in-Christus“ aus Gal 3,28, die alle Getauften gleichermaßen mit Christus verbindet und damit untereinander – unabhängig von anderweitig trennenden Identitäten religiös-ethnischer, sozialer oder geschlechtlicher Art – gleichstellt, als eine leibhafte Existenzweise beschreibt,31 interpretiert er die Wirkung der Taufe und des mit ihr verbundenen Geistempfangs ekklesiologisch. Die neue Existenzweise ist damit gemeindebezogene, ekklesiale Existenz, die als solche die Getauften nicht nur mit Christus, sondern – eben als Glieder eines einzigen Leibes – auch untereinander verbindet. Was dies konkret im Blick auf die Charismen bedeutet, veranschaulicht Paulus unter Rückgriff auf das in der Antike wohlbekannte Gleichnis vom Leib als eines differenzierten Organismus (V. 14–26). 30
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Vgl. U. Brockhaus, Charisma und Amt. Die paulinische Charismenlehre auf dem Hintergrund der frühchristlichen Gemeindefunktionen, Wuppertal 21975, 190f; F. Hahn, Charisma und Amt. Die Diskussion über das kirchliche Amt im Lichte der neutestamentlichen Charismenlehre, in: Ders., Exegetische Beiträge zum ökumenischen Gespräch. Gesammelte Aufsätze I, Göttingen 1986, 201–231, hier: 207f. V. 13a: „Wir alle wurden denn auch in einem Geist zu einem Leib getauft…“ V. 27: „Ihr aber seid Leib Christi …“
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Es sind vor allem zwei Aspekte des Leib-Seins, die Paulus mit diesem Gleichnis herausarbeitet: 1. Ohne eine Pluralität von Charismen kann die Gemeinde nicht existieren. Ebenso wie der Leib nicht nur aus einem einzigen Organ besteht, sondern seine Lebensfähigkeit auf dem Zusammenspiel verschiedener Organe beruht, so kann auch die Gemeinde nicht kraft einer einzigen Geistesäußerung bestehen (V. 14–20). 2. Charismen sind nicht beschränkt auf außergewöhnliche Begabungen. Sie schließen ebenso unspektakuläre Fähigkeiten ein, die für die Existenz der Gemeinde nicht weniger wichtig sind. Auch dies lässt sich mühelos an der Funktionsweise eines Leibes nachvollziehen. Denn auch hier gibt es Organe, die unscheinbar oder wenig angesehen, aber dennoch unentbehrlich sind (V. 21– 26). Anhand des Gleichnisses vom Leib und seinen Gliedern bringt Paulus in V. 14– 26 in metaphorischer Sprache das zum Ausdruck, was er auch anhand der beiden Charismenlisten in V. 8–10.28 den korinthischen Gemeindemitgliedern vermitteln möchte. Dabei steht die erste Charismenliste durch die Einleitung in V. 7, die als Zielsetzung der vielfältigen Charismen den Nutzen (nämlich der Gemeinde) nennt, der ersten Hälfte des Leib-Gleichnisses näher. Die zweite Charismenliste (V. 28) schließt – eingeleitet durch die Definition der Gemeinde als Leib Christi in V. 27 – unmittelbar an die zweite Hälfte des Leib-Gleichnisses an und steht ihr auch insofern näher, als hier etwa unmittelbar neben den außergewöhnlichen Gaben zu Wundertaten und Heilungen mit sozial-karitativen und organisatorisch-administrativen Tätigkeiten32 weniger Aufsehen erregende Charismen genannt sind.33 Eine ausführliche Diskussion der in V. 8–10.28 aufgelisteten Charismen würde hier zu weit führen. Besondere Aufmerksamkeit verdient jedoch die die zweite Liste eröffnende Trias „erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer“. Sie fällt 32
33
Die Bedeutung von avnti,lhmyij wird man, da es sich um ein neutestamentliches Hapaxlegomenon handelt, mit W. Schrage am besten von der Septuaginta her bestimmen. Hier bezeichnet das Nomen „meist die Hilfe Gottes, aber auch Hilfeleistung von Menschen. Der Plural wird auch an unserer Stelle am ehesten Hilfeleistungen für körperlich oder wirtschaftlich Schwache umschreiben. Oft wird dabei an (…) Kranken- und Armenpflege, aber auch an Unterstützung von Notleidenden, Witwen und Waisen, Fremden, Reisenden u.a. gedacht, die im Dienste der Liebe geschieht (vgl. Röm 12,8b.d)“ (Schrage, 1Kor III [s. Anm. 27] 237; vgl. Wolff, 1Kor [s. Anm. 20] 307f; Merklein/Gielen, 1Kor III [s. Anm. 15] 143). Kube,rnhsij ist ein Begriff aus der Schifffahrt, der das Steuern eines Schiffes bezeichnet und dann im übertragenen Sinn für das Regieren eines Staatswesens (vgl. Lenken des Staatsschiffes) verwendet wird. Dabei zielt der politische Gebrauch des Wortes stets auf die Leitung einer Gesamtheit (vgl. Merklein/M. Gielen, 1Kor III [s. Anm. 15] 143). Die paulinische Wahl des Begriffs und seine Verwendung im Plural zielt somit wohl auf Leitungsfunktionen für die Gesamtgemeinde. Schrage, 1Kor III (s. Anm. 27) 238 verweist in diesem Zusammenhang auf die in 1Thess 5,12 und Röm 12,8 genannten Vorsteher sowie auf die Episkopen und Diakone in Phil 1,1 (vgl. ergänzend Röm 16,1: Diakonin Phöbe aus Kenchreä). Aber auch in 1Kor selbst gibt es weitere Hinweise auf Personen, die solche Leitungsfunktionen für die Gemeinde wahrnehmen (s. Ziffer 3 zu 1Kor 16,15–18). Vgl. J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (NTD Ergänzungsreihe 10), Göttingen 1993, 137f; Hahn, Charisma (s. Anm. 30) 206 mit Anm. 21.
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sprachlich-stilistisch in zweifacher Hinsicht aus dem kontextuellen Rahmen. Zum einen nämlich verhindert die aufzählende Reihung prw/ton – deu,teron – tri,ton die konzinne Fortsetzung der mit kai. ou]j me.n … beginnenden Satzkonstruktion.34 Zum anderen formuliert die Trias personenbezogen, die Fortführung der Aufzählung jedoch – vergleichbar der ersten Charismenliste (V. 8–10) – funktionsbezogen. Dies hat zur berechtigten Annahme geführt, dass Paulus mit der Trias eine bereits traditionell geprägte Formulierung in die Feder geflossen sei, die unter Berücksichtigung von Apg 13,1–3; 14,4.14 in der Gemeinde in Antiochia beheimatet gewesen sein könnte.35 Vor dem Hintergrund der Apg fällt dann auch Licht auf das Verständnis des Apostelbegriffs, der die Trias eröffnet. Charakteristisch für das lk Doppelwerk ist es, dass es den Begriff Apostel auf die Mitglieder des Zwölferkreises eingrenzt. Davon bildet nun gerade Apg 14,4.14 die einzige Ausnahme. Hier nämlich werden im Kontext der Erzählung von der 1. Missionsreise Barnabas und Paulus als Apostel bezeichnet. Diese Erzählung wird aber in Apg 13,1–3 eingeleitet. Dabei werden Barnabas und Paulus zunächst innerhalb einer fünf Namen umfassenden Liste als Angehörige einer Personengruppe vorgestellt, die in der Gemeinde von Antiochia als Propheten und Lehrer wirken (V. 1). Aus dieser Gruppe werden sie dann durch die Gemeindemitglieder auf Anweisung des Heiligen Geistes für die Missionsarbeit ausgewählt (V. 2) und von der Gemeinde entsandt (V. 3). Obwohl Lukas hier für die beiden noch nicht die Bezeichnung als Apostel wählt, lässt der Kontext keinen Zweifel zu, dass sie beauftragt werden, die Funktion von Aposteln zu erfüllen, und zwar im Sinne missionarischer Tätigkeit als Gemeindegesandte. Damit begegnet also in Apg 13,1–3 der Sache nach die Trias Apostel – Propheten – Lehrer, wobei die beiden letzten Glieder auch dem Begriff nach genannt sind. Zudem wird sie explizit mit der Gemeinde in Antiochia in Verbindung gebracht, in der Paulus nicht nur nach Auskunft der Apg, sondern auch nach eigenem Bekunden gewirkt hat (Gal 1,22; 2,1 [vgl. Apg 15,1f].11–16). Es gibt also ernstzunehmende Indizien, die darauf hinweisen, dass Paulus in 1Kor 12,28 auf eine Tradition antiochenischer Herkunft zurückgreift. Dies vorausgesetzt, ist damit freilich nicht zwingend impliziert, dass er auch den Apostelbegriff im antiochenischen Verständnis als Gemeindegesandte rezipiert. Denn für Paulus ist, wie er nicht zuletzt in 1Kor wiederholt betont (1,1; 9,1; 15,5–11) die unmittelbar göttliche Berufung durch eine Begegnung mit dem auferweckten Christus konstitutiv für den Apostelstatus. Antiochenisches und paulinisches Verständnis des Apostolats treffen sich allerdings in der Aufgabenbeschreibung. Hier wie dort stehen die Apostel im Dienst der Evangeliumsverkündigung an (noch) Außenstehende, haben also einen missionarischen Auftrag (vgl. die Rahmung der 1. Missionsreise Apg 13,1–3; 14,26f; vgl. Gal 1,15f; 1Kor 15,10f).
Unter Rückgriff auf die schon traditionell vorgegebene Trias Apostel – Propheten – Lehrer eröffnet Paulus also die zweite Charismenliste in 1Kor 12,28. Wie die Apostel stehen auch die Propheten und Lehrer im Dienst der Wortverkündigung. Im Unterschied zu den Aposteln ist ihre Verkündigungstätigkeit allerdings nicht 34
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Wörtlich übersetzt heißt es in 12,28: „Und (zwar) hat Gott die einen (ou]j me.n) in der Gemeinde eingesetzt als erstens (prw/ton) Apostel, zweitens (deu,teron) Propheten, drittens (tri,ton) Lehrer, sodann…“ Zu erwarten wäre dagegen: „Und (zwar) hat Gott die einen (ou]j me.n)…eingesetzt als Apostel, die anderen (ou]j de.) als Propheten, die anderen (ou]j de) als Lehrer, sodann …“ Vgl. H. Merklein, Das kirchliche Amt nach dem Epheserbrief (StANT 33), München 1973, 245. Vgl. Merklein, Amt (s. Anm. 34) 240–242.
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gemeindeextern (missionarisch), sondern gemeindeintern (katechetisch) ausgerichtet.36 Dürften sich die Lehrer primär der Auslegung der vorgegebenen Überlieferungen für die je aktuelle Gemeinde(-situation) gewidmet haben, so war es wohl vor allem Aufgabe der Propheten, die erst durch neu auftretende Fragen und Probleme erkennbaren Leerstellen der Überlieferung durch gottgeschenkte, geistgewirkte Offenbarung aufzufüllen und diese zu erläutern. Doch ist eine scharfe Grenzziehung zwischen den Aufgaben der Propheten und Lehrer kaum möglich, wie sich nicht zuletzt an Paulus selbst zeigt. Gemeindeintern fungierte er einerseits als Lehrer, wovon seine Briefe als solche ein beredtes Zeugnis ablegen. Andererseits nahm er aber auch immer wieder prophetische Aufgaben wahr (vgl. 1Thess 4,15–18; 1Kor 2,6–16; 15,50–58; Röm 11,25–36).37 Darüber hinaus zeigt das Beispiel des Paulus aber auch, dass eine personale Verbindung zwischen den (gemeindeinternen) Aufgaben eines Propheten und Lehrers sowie der (gemeindeexternen) Aufgabe eines Apostels möglich war. Letztlich beruhen die Funktionen von Apostel, Propheten und Lehrer gleichermaßen auf einem kerygmatischen, d.h. zur Verkündigung des Evangeliums befähigenden Charisma38 und stellen verschiedene Facetten dieses einen Charismas dar. Eine „hierarchische“ Rangfolge ist daher durch die Reihung „erstens Apostel – zweitens Propheten – drittens Lehrer“ in 1Kor 12,28 nicht intendiert.39 Allerdings dürfte es kaum Zufall sein, dass das kerygmatische Charisma – durch die traditionsgebundene Formulierung zudem 36
37
38 39
Vgl. T. Schmeller, Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine (SBS 162), Stuttgart 1995, 76. Vgl. H. Merklein, Der Theologe als Prophet. Zur Funktion prophetischen Redens im theologischen Diskurs des Paulus, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus II (WUNT 105), Tübingen 1997, 377–404 passim. Die Funktion prophetischer Rede bei Paulus bestimmt Merklein so: „Die Prophetie bringt Erkenntnisse, die aus irgendwelchen Gründen notwendig sind, sich argumentativ aber nicht mehr aus dem Kerygma entwickeln lassen. Insofern ist die Prophetie ein wichtiges theologisches Erkenntnismittel“ (ebd. 402). Und ferner: „Die argumentativen Leerstellen, die sich im paulinischen Diskurs auftun, ergeben sich vielmehr aus der Konfrontation mit aktuellen Problemstellungen. Der diskursiven Leerstelle entspricht jeweils eine ‚Leerstelle‘ zwischen Kerygma und christlicher Praxis. So zielt denn auch die prophetische Einsicht nicht nur auf einen Zuwachs an theologischer Erkenntnis, sondern auf die Vermittlung neuer Perspektiven, die es ermöglichen, die Gegenwart zu bewältigen. Die Prophetie ist nicht nur Erkenntnismittel, sondern zugleich das Medium, das Theologie relevant sein läßt.“ (ebd. 403). So etwa auch Hahn, Charisma (s. Anm. 30) 219. Dagegen spricht auch folgende Beobachtung: In den beiden anderen paulinischen Charismenlisten (1Kor 12,8–10; Röm 12,6–8), die ausschließlich gemeindeintern orientiert sind, findet die missionarische Verkündigung der Apostel keinerlei Erwähnung. Dass Paulus in der ebenfalls gemeindeintern ausgerichteten Charismenliste 1Kor 12,28 Apostel nennt, verdankt sich ausschließlich seiner hier traditionsgebundenen Formulierung. Dass sie innerhalb dieser traditionellen Formulierung aber an erster Stelle genannt sind, dürfte nicht hierarchisch, sondern sachlich begründet sein: „Die apostolische Tätigkeit besitzt einmalig wichtige, da fundamentale Bedeutung, denn der Apostel bringt das Evangelium erst zu den Menschen, das dort seine gemeindegründende Kraft entfaltet; durch das Evangelium wird Gemeinde erst zur Gemeinde. Daher erscheint das Charisma des Apostels in der Charismenliste 1Kor 12.28 auch ausdrücklich an die erste Position gesetzt“ (S. Schreiber, Arbeit mit der Gemeinde [Röm 16.6,12]. Zur versunkenen Möglichkeit der Gemeindeleitung durch Frauen: NTS 46 [2000] 204–226, 214).
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eindrucksvoll dreifach entfaltet – die Charismenliste in V. 28 eröffnet. Denn Paulus weist diesem Kerygma – vor allem in der Facette der Prophetie – eine Schlüsselfunktion für den Aufbau der Gemeinde zu (vgl. 1Kor 14,1.4.5.12.17.26.31.39).40 Gerade mit Hilfe der Prophetie, die kraft Offenbarung neue, wegweisende Perspektiven nicht an der Tradition vorbei, wohl aber über die Tradition hinaus eröffnet, wird die Gemeinde auf ihrem Weg zu Gott vorangebracht.41 Dabei zeichnet die prophetische Rede vor allem das Merkmal unmittelbarer Verständlichkeit aus, das für die auferbauende Wirkung unerlässlich ist. Eben dieses Merkmal fehlt aber der von den Apollosanhängern favorisierten Weisheits- und Erkenntnisrede, überfordert sie doch intellektuell die die Mehrheit stellenden Gemeindemitglieder von einfacher Herkunft und von entsprechend niedrigem Bildungsniveau (vgl. 1Kor 1,26). Das Merkmal unmittelbarer Verständlichkeit fehlt jedoch ebenso der von den Paulusanhängern favorisierten Zungenrede, deren verborgener Sprachcode eigener Übersetzung bedarf. Trotz seiner Hochschätzung prophetischer Rede definiert Paulus sie – im Unterschied zur Weisheitsrede durch die Apollosgruppe und zur Zungenrede durch die Paulusgruppe – aber nicht als für jedes Gemeindemitglied unverzichtbare Geistesäußerung. Er vermeidet dies im Wissen um den gnadenhaften Charakter jeder Geistesäußerung als Gottes Geschenk (V. 6.11) und um die notwendige Pluralität der Charismen im Dienst einer lebensfähigen Gemeinde (V. 14– 20). Andererseits ergibt sich für ihn aus der gottgewollten Zielbestimmung der Charismen „zum Nutzen“ (V. 7) aber durchaus die Berechtigung einer relativen Bevorzugung der Prophetie als Facette des kerygmatischen Charismas, und zwar aufgrund ihrer auferbauenden Wirkung für die Gemeinde. Unter eben dieser Rücksicht der Auferbauung hat die Zungenrede jedoch im gemeindlichen Kontext42 nur dann ihre Berechtigung, sofern eine Übersetzung des verborgenen Sprachcodes in verständliche Rede sichergestellt ist.43 Darf man nun davon ausgehen, dass die Charismenliste 1Kor 12,8–10 in ihrem Grundbestand in Korinth hochgeschätzte Charismen aufzählt, so dürfte jedenfalls Paulus angesichts seiner Argumentation in 1Kor 12–14 mit der Gabe prophetischer Rede wie der Gabe der Übersetzung von Zungenrede die ihm wichtigen Akzente eingebracht haben. Wie gesehen, vertritt Paulus unter der Maßgabe der Gemeindeauferbauung eine relative Bevorzugung des kerygmatischen Charismas. Die personenbezogene For40
41 42
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Auch in der Charismenliste Röm 12,6–8 eröffnet im Übrigen die prophetische Rede die Aufzählung der Charismen, gefolgt vom Charisma des Dienens und des Lehrens. Vgl. Merklein, Theologe (s. Anm. 37) 403. Als angemessenen Ort der Glossolalie betrachtet Paulus offenbar das private Gebet (vgl. 1Kor 14,13– 19). Offen bleiben muss dabei letztlich, „ob der Übersetzer einer von den Glossolalen (vgl. 14,[4]5.15) oder ein anderer, speziell mit der Gabe der Übersetzung Ausgestatteter (vgl. 12,10) sein soll. Grundsätzlich dürfte beides möglich gewesen sein“ (Merklein/Gielen, 1Kor III [s. Anm. 15] 206).
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mulierung der antiochenischen Tradition 1Kor 12,28a deutet nun darauf hin, dass man dieses kerygmatische Charisma schon sehr früh als bestimmten Personen dauerhaft zugeordnetes Charisma betrachtete. Dieses Moment der Dauerhaftigkeit hat seine sachliche Berechtigung. Wer in der Verkündigung – sei es als Apostel, Prophet oder Lehrer – tätig ist, muss mit den Grundlagen der Verkündigung vertraut sein. Gefordert waren also Kenntnisse der Heiligen Schriften Israels ebenso wie der Jesusüberlieferung und der vorhandenen Gemeindetraditionen, die es sich anzueignen und aktuell zu halten galt. Das Charisma verkündigender Rede war also sachbedingt an den Erwerb dieser Kenntnisse gebunden, was seiner Ausübung durch stets wechselnde Personen entgegenstand. Dennoch handelte es sich bei der Gruppe der in der Verkündigung Tätigen nicht um einen geschlossenen oder gar elitären Zirkel. Dies lässt sich wiederum am Beispiel des Charismas prophetischer Rede aufzeigen. So unterscheidet Paulus in 1Kor 14,29–30 wohl zwischen vorbereiteter Prophetie und spontanem Offenbarungsempfang während des Gottesdienstes.44 Zur Vorbereitung prophetischen Sprechens im Gottesdienst gehört das Nachsinnen über die erhaltene Offenbarung ebenso wie ihre deutende Anwendung auf die konkreten Gemeindebelange. Doch schon der Offenbarungsempfang bedarf der Vorbereitung, und zwar vor allem durch ein Sich-Vertrautmachen mit den Traditionen der Glaubensgemeinschaft und durch das Gebet.45 Wenngleich die Prophetie also ein Charisma ist, d.h. gnadenhaften Charakter trägt, widerfährt sie dem Menschen nicht einfach. Vielmehr setzt sie seinen aktiven Einsatz voraus. Genau dies ist der Hintergrund, auf dem Paulus sinnvollerweise das Streben nach Prophetie einfordern kann (14,1c). Ja, Paulus geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er prophetisches Reden als Option prinzipiell für alle Gemeindemitglieder offen hält (14,31).46 Hintergrund dafür dürfte einmal mehr die urchristliche Überzeugung sein, dass mit der Auferweckung Jesu die Endzeit angebrochen und sich damit die Ankündigung von Joel 3 erfüllt habe. Dort aber heißt es gleich eingangs: „Danach wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein,…“ (Joel 3,1). Wie aufgezeigt (s. Ziffer 1), dürfte Joel 3 maßgeblich auch die Ausbildung der vorpaulinischen Tauftradition in Gal 3,28
44
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Vgl. G. Dautzenberg, Prophetie bei Paulus, in: Dassmann, Ernst, Schmidt, Werner H. (Hg.), Prophetie und Charisma (JBTh 14), Neukirchen-Vluyn 1999, 55–70, hier: 59: „Zwar ist nach 14,30 ein akutes Offenbarungsgeschehen während der Versammlung nicht außergewöhnlich, aber wenn zwei oder drei Propheten nacheinander reden (14,29), ist es schon dann, wenn man sich den Verlauf einer Versammlung vorzustellen sucht, wahrscheinlich, daß nicht nur in der Stunde der Versammlung erfahrene Offenbarungen mitgeteilt werden.“ Vgl. Dautzenberg, Prophetie (s. Anm. 44) 60. Vgl. H.-J. Klauck, Mit Engelszungen? Vom Charisma der verständlichen Rede in 1Kor 14, in: Ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien (WUNT 152), Tübingen 2003, 145–167, hier: 163.
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beeinflusst haben, auf die Paulus seinerseits wiederholt in 1Kor anspielt, so auch in 12,13. Die Geistausgießung „über alles Fleisch“ impliziert also grundsätzlich und geschlechtsunabhängig die Option prophetischen Redens aller Getauften. Dass dies in der korinthischen Gemeinde zumindest unter dem Aspekt der Aufhebung trennender geschlechtlicher Identitäten durch die Taufe (vgl. „nicht mehr männlich und weiblich“, Gal 3,28) keine bloße Theorie blieb, bestätigt Paulus in 1Kor 11,4.5. Hier nämlich bildet die Praxis prophetischen Redens und damit die Ausübung des kerygmatischen Charismas durch Männer und Frauen die von Paulus nicht in Frage gestellte Grundlage seiner Argumentation.47 Dies entspricht exakt seiner Überzeugung von der freien und gnadenhaften Zuteilung der Charismen durch den göttlichen Geist (1Kor 12,11). Eine solche Überzeugung aber lässt keinen Raum für Kritik an dieser Zuteilung und erst recht nicht für Bestimmungen, die die gottgewollte Ausübung der jeweiligen Charismen einschränken oder gar verhindern.48
3. „… dass auch ihr euch solchen Leuten unterordnet und jedem, der mitarbeitet und sich abmüht“ (1Kor 16,16) Die Existenz einer Vielfalt von Charismen innerhalb der Gemeinde, die es zu fördern und einzusetzen gilt, darf nun aber nach paulinischer Überzeugung nicht zu einem Wirrwarr unkoordinierter Aktivitäten führen. Dies nämlich konterkarierte ihre gottgewollte Zielsetzung „zum Nutzen anderer“ (1Kor 12,7). So lassen auch die Anweisungen des Paulus zum Ablauf der gottesdienstlichen Versammlung der Gemeinde (1Kor 14,26–33a.37–40) erkennen, dass gerade die verschiedenen, charismatisch fundierten Beiträge von Gemeindemitgliedern nach einem strukturierten, geordneten Ablauf des Gottesdienstes verlangen (V. 33a.40!). Um diesen aber sicherzustellen, bedurfte es leitender Funktionen auf Gemeindeebene. Kaum zufällig nennt Paulus dann auch in der Charismenliste 1Kor 12,28 die kubernh,seij als Gabe zu „Leitungen“49, d.h. zur ebenfalls charismatisch ermöglichten Wahrnehmung von Führungsaufgaben, die freilich nicht auf den gottesdienstlichen Bereich einzuschränken sind. Dass solche Leitungsfunktionen nicht nur aus der Perspektive des Paulus wünschenswert, ja notwendig waren, sondern in Korinth und anderenorts auch tatsächlich ausgeübt wurden, ist in den paulinischen Briefen verschiedentlich belegt. So 47 48
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Vgl. dazu Gielen, Beten (s. II.1.), 175f. Doch schon gegen Ende des 1. christlichen Jahrhunderts bieten die Pastoralbriefe vor allem im Blick auf die charismatisch fundierte Tätigkeit von Frauen in der Gemeindeöffentlichkeit solch restriktive Bestimmungen, vgl. dazu u. Ziffer 4. Vgl. dazu o. Anm. 32.
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lenkt Paulus kurz vor dem Ende von 1Kor die Aufmerksamkeit seiner korinthischen Adressaten auf das „Haus des Stephanas“ (V. 15). Der unmittelbare Anlass dafür dürfte aus V. 17–18a ersichtlich werden. So sind Stephanas und seine Begleiter Fortunatus und Achaikus50 bei Paulus in Ephesus (vgl. 16,8) eingetroffen und haben durch ihre Ankunft bei ihm Freude ausgelöst, und zwar, weil sie – wie Paulus etwas rätselhaft formuliert – „euren (d.h. der korinthischen Gemeinde) Mangel aufgefüllt haben“ (V. 17). Das damit Gemeinte erschließt sich am ehesten im Kontext der vorausgehenden Äußerungen.51 Demnach besteht kein Mangel der korinthischen Gemeinde Paulus gegenüber, sondern ein Mangel des Paulus an der korinthischen Gemeinde. Konkret schmerzt ihn wohl die Trennung von ihr, die nach seiner Reiseplanung (V. 5–9) noch eine Weile dauern wird. Daher freut er sich, dass der Besuch von Stephanas und seinen Begleitern bei ihm in Ephesus wieder einen unmittelbar persönlichen Kontakt zur Gemeinde ermöglicht hat. Die Reise der drei korinthischen Gemeindemitglieder steht also im Dienst der Kommunikationspflege zwischen Paulus und der Gemeinde in Korinth. Unter dieser Prämisse der Kommunikationspflege ist es auch durchaus plausibel, in der Gemeindedelegation die Überbringer des korinthischen Fragebriefs zu sehen.52 V. 18a spricht Paulus noch die positiven Wirkungen der Reise des Stephanas und seiner Begleiter an. Angesichts der zahlreichen Fragen und Probleme, die sich in der korinthischen Gemeinde entwickelt hatten und auf die Paulus durch den Brief der Sache nach reagiert, hat die durch den Besuch ermöglichte direkte Kommunikation bei Paulus und der Gemeinde emotional die Wogen geglättet.53 Konkret übten Stephanas und seine Begleiter wohl eine vermittelnde Funktion zwischen Paulus und der Gemeinde aus, wodurch eine Facette ihres Dienstes (diakoni,a) (V. 15) aktuell zum Zuge kommt.54
Diese Diakonia hatte Paulus in der mit den V. 15f vorgeschalteten Mahnung an die Gemeinde zu einem angemessenen Verhalten gegenüber Stephanas und seinem Haus bereits angesprochen. Nach der formellen Einleitung in V. 15a („ich ermahne euch aber, Brüder [und Schwestern]“) folgt in V. 15b zunächst noch in Form einer Parenthese eine inhaltliche Einleitung, bevor sich in V. 16 die Mahnung selbst an50
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Der Kontext der unmittelbar vorausgehenden Verse 15f lässt berechtigterweise vermuten, dass Fortunatus und Achaikus zum Haus des Stephanas (V. 15a) gehören. Eine genauere Bestimmung ihres Status innerhalb dieses Hauswesens (Söhne oder sonstiger Familienangehörige, Sklaven oder Freigelassene) ist schwierig, wenngleich die Namen eine Präferenz für einen Sklaven- bzw. Freigelassenenstatus andeuten, vgl. Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 15) 447. So etwa auch J. Weiß, Der erste Korintherbrief (KEK 5. Abteilung), Göttingen 1910, 386; Klauck, 1Kor (s. Anm. 20) 126f; J. Kremer, Der Erste Brief an die Korinther (RNT), Regensburg 1997, 377; Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 20) 457f. G. Theißen, Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde. Ein Beitrag zur Soziologie des hellenistischen Urchristentums, in: Ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen. 3. erweiterte Auflage 1989, 231–271, hier: 249 sieht den Mangel der korinthischen Gemeinde Paulus gegenüber dagegen in der ausbleibenden finanziellen Unterstützung des Gemeindegründers; W.-H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission (WMANT 50), Neukirchen-Vluyn 1979, 96–100 interpretiert diesen Mangel der Gemeinde stattdessen als bisher ausgebliebene Unterstützung bei der Missionsarbeit, die jetzt von Stephanas und seinen Begleitern geleistet wird. Zur Auseinandersetzung mit den Erklärungen von Theißen und Ollrog vgl. Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 15) 447–449. So u.a. Klauck, 1Kor (s. Anm. 20) 126; Kremer, 1Kor (s. Anm. 51) 376; Schrage, 1Kor IV (s. Anm. 20) 457; Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 15) 450. Vgl. A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/1), Tübingen 2000, 385. Vgl. Merklein/Gielen, 1Kor III (s. Anm. 15) 450.
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schließt. Intention dieser inhaltlichen Einleitung ist es, die Aufmerksamkeit der korinthischen Gemeinde auf das Haus des Stephanas zu lenken, und zwar zum einen unter dem Aspekt ihres Status und zum anderen unter dem Aspekt ihres Handelns. Bezeichnet Paulus Stephanas und seine Hausgemeinschaft als „Erstling Achaias“ (VAparch. th/j ~Acai