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German Pages [228] Year 1998
VSR
Ernst Käsemann, dem Einundneunzig ährigen
PETR POKORNY
Theologie der lukanischen Schriften
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Wolfgang Schräge und Rudolf Smend 174. Heft der ganzen Reihe
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pokorny, Petr Theologie der lukanischen Schriften / Petr Pokorny. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1998 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments; H. 174) ISBN 3-525-53861-8 kart. ISBN 3-525-53857-X Gewebe NE: GT
© 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen.
Vorwort
Die lukanische Theologie habe ich während meines Studiums unter dem Einfluß Philipp Vielhauers, dem ich auch sonst für Vieles dankbar bin, kritisch gesehen. Trotzdem habe ich schon in den sechziger Jahren den Verfasser beider Schriften ad Theophilum zu schätzen gelernt. Damals haben mehrere atheistisch erzogene Studenten das christliche Erbe und die Bibel neu entdeckt. Die lukanischen Texte haben sich als besonders inspirierend erwiesen, und ich habe verstanden, daß Lukas mit seiner spezifischen theologischen und sozialen Verantwortung versucht hat, ältere christliche Zeugnisse neu zu interpretieren. Nach der demokratischen Revolution ist die neue (diesmal voll ökumenische) Deutung des christlichen Erbes wieder aktuell geworden und die lukanische Theologie könnte nach kritischer Untersuchung wieder inspirierend werden, und zwar sowohl für die theologische Bestimmung christlicher Gruppenidentität als auch als Beitrag zu einem neuen Weltethos. Die vorliegende Arbeit soll die Theologie dieses bedeutenden Teils der christlichen Bibel kritisch untersuchen und zusammenfassend interpretieren. Herrn Prof. Dr. Martin Hengel danke ich fur die Einladung nach Tübingen, wo ich nach dreißig Jahren akademischer Lehrtätigkeit mein erstes Sabbatical Year verbringe, die schöne theologische Bibliothek benutzen und mit meinen dortigen lieben Kollegen sprechen und streiten konnte. Der Humboldt Stiftung in Bonn danke ich für die Erteilung des Forschungspreises 1995, der mir den Abschluß dieser Arbeit ermöglichte, und last but not least danke ich Herrn Dr. Arndt Ruprecht, Herrn Dr. Wolfgang Schulz und Herrn Prof. Wolfgang Schräge ftir ihr Entgegenkommen bei der Veröffentlichung. Herr Michael Mertins hat sich um die sprachliche Korrektur verdient gemacht. Gewidmet habe ich diese Arbeit Ernst Käsemann. Ich habe nur drei seiner Vorlesungen gehört und doch halte ich ihn für meinen Lehrer, der mich durch seine Arbeiten und später auch Gespräche besonders beeinflußt hat. Prag, Ostern 1996
Inhalt Vorwort
5
1 Herkunft: und Bedeutung 1.1 Der Zweck dieser Studie 1.2 Zeugnis und Theologie 1.3 Der Verfasser 1.4 Vorgänger und Quellen 1.5 Die Bedeutung des Lukas 1.6 Die literarische Gattung 1.7 Die Gliederung
11 11 11 13 18 21 24 31
2 Das 2.1 2.2 2.3
Volk Gottes bei Lukas Das Problem von Israel und Kirche Jesus als Messias Israels Die Kirche, das Reich Gottes und die Hoffnung Israels
38 38 39 44
Exkurs: Reich Gottes bei Jesus
45
2.4 Die Kirche als Mittlerin zwischen Israel und Menschheit 2.5 „Jetzt entläßt du deinen Knecht, Herr ..."
49 52
2.5.1 Exegese von Lk 2 , 2 2 ^ 0 2.5.2 Exegetische Bemerkungen zu Lk 15,11-32
52 57
Exkurs zu der lukanischen Beziehung der Christen zu den Juden
58
2.6 Die Kirche und die jüdische Bibel 2.7 Der universale Auftrag der Kirche 2.7.1 2.7.2 2.7.3 2.7.4 2.7.5 2.7.6 2.7.7 2.7.8
Die Uberwindung der Unwissenheit Die Kirche und die Menschheit Das Zeugnis und die Vergegenwärtigung des Heils Die Taufe und der Geist Die Zeugen Das Herrenmahl Exegese von Lk 24,13-35 Bemerkungen zu Act 27
59 62 62 63 67 71 75 78 79 83
8
Inhalt
3 Das Heil und die Zeit 3.1 Das Wort Gottes und die Geschichte 3.1.1 Conzelmanns Bild der lukanischer Theologie 3.1.2 Lukanische Geschichtsschreibung 3.1.3 Die Vorsehung Gottes 3.2 Die verdoppelte Eschatologie 3.3 Die lukanische Lösung 3.4 Die Rolle der Kirche in der Heilsgeschichte 3.5 Persönliche Hoffnung im Tode 3.6 „... bis an das Ende der Welt" 3.7 Das Heil und die Welt
86 86 86 88 91 93 97 101 102 103 107
4 Gott, der Heiland (Christologie und Soteriologie) 4.1 Lukas zwischen Tradition und Neuinterpretation 4.1.1 Die christologischen Titel: Jesus als Messias 4.1.2 Jesus als der Menschensohn 4.1.3 Jesus als der Sohn Gottes 4.1.4 Jesus, der Herr (κύριος) 4.1.5 Der Prophet und der Lehrer 4.1.6 Der Heiland und das Heil 4.1.7 Die älteren Bekenntnisse 4.2 Sünde und Umkehr bei Lukas 4.2.1 Der Sünder als der auf die Vergebung Angewiesene 4.2.2 Sünde als Entfremdung 4.2.3 Das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner (Lk 18,9-14) 4.3 Gottes Heil bei Lukas 4.3.1 Gott als Vater aller Menschen 4.3.1.1 Zu Act 17,16-33 4.3.2 Der Heiland, der das Verlorene sucht 4.3.2.1 Defizit oder Neuinterpretation? 4.3.3 Die Heilsbedeutung der Geschichte Jesu 4.3.3.1 Die Verkündigung des Reiches Gottes und das Suchen des Verlorenen 4.3.3.2 Die Passion Jesu 4.3.3.3 Ostern als Jesu Rechtfertigung und Ratifizierung seiner Verkündigung des Reiches 4.4 Lk 1 5 , 1 1 - 3 2 - E x e g e s e 4.4.1 Tradition und Redaktion 4.4.2 Zur Parabeltheorie 4.4.3 Die Eröffnung des Gleichnisses und der erste Teil der Geschichte des jüngeren Sohnes
110 110 110 111 112 116 117 118 120 121 121 122 125 128 128 132 136 139 143
Exkurs: Das Bild des väterlichen Hauses
143 148 151 155 155 157 160 164
Inhalt 4.4.4 Der zweite Teil des Gleichnisses und seine Funktion 4.4.4.1 Tot und lebendig 4.4.4.2 Die Geschichte des älteren Bruders Exkurs: Zum lukanischen Hintergrund des Gleichnisses
9 169 169 172 172
5 Der handelnde Mensch 5.1 Die theologische Begründung 5.1.1 Eine politische Apologie? 5.1.2 Änderung der Welt durch Wort und Dienst 5.2 Das Modell des eschatologischen Ausgleichs 5.2.1 Das Motiv des Tausches 5.2.2 Der Ausgleich 5.2.3 Die Funktion des sozialen Modells 5.2.3.1 Die Paränese 5.2.3.2 Der universale Horizont 5.2.3.3 Das effektive Ideal 5.2.4 Die Bedeutung des Modells für die individuelle Ethik
177 177 177 180 181 181 182 185 187 188 190 193
Literaturverzeichnis
196
Bibelstellenregister
205
1. Herkunft und Bedeutung
1.1 Der Zweck dieser Studie Die beste Hilfe für das Verstehen eines alten Textes ist seine kontinuierliche Auslegung, ein Kommentar. Da jedoch die lukanischen Schriften umfangreich sind und mehr als ein Viertel des Neuen Testaments bilden, ist es günstig, sie auch als ein Ganzes nach den einzelnen typischen Merkmalen zu charakterisieren und die einzelnen Züge in ihren gegenseitigen Beziehungen kennenzulernen. Wir werden uns vor allem mit der Untersuchung der Kongruenz theologischer Aussagen, und der literarischen Gestalt lukanischer Schriften befassen, d.h. mit der denkerischen Leistung ihres gemeinsamen Verfassers. Selbstverständlich müssen wir ihn auch als Redaktor älterer Traditionen respektieren, aber konzentrieren werden wir uns auf das für sein Werk Typische.
1.2 Zeugnis und Theologie Für mehrere biblische Texte ist es bezeichnend, daß sie sich als Zeugnisse verstehen. Gott offenbart sich danach weder durch eine unmittelbare Begegnung mit den Menschen (Theophanie), noch durch die Natur und Geschichte als Ganzes (pantheistisch gedeutete Empirie), sondern durch gewisse Ereignisse, welche als seine Offenbarung von den primären oder sekundären Zeugen bezeugt sind. Der Begriff „Offenbarung", der vor allem eine theologische Kategorie ist, kann in diesem Sinne auch religionsphänomenologisch funktionieren, weil er wirklich das Gemeinsame der meisten neutestamentlichen Texte ausdrückt. In den lukanischen und anderen frühchristlichen Texten gibt es zwar auch Theophanien, aber das, was später die Kategorie Offenbarung ausdrücken konnte, ist in der Kommunikation mit Gott das Bedeutendste. Daß die lukanischen Schriften ein Zeugnis sind, gehört also sowohl zu den Grunddaten des Glaubens als auch zu den literarischen Kennzeichen des Lukasevangeliums und der kanonischen Apostelgeschichte, welche auch ein
12
Herkunft und Bedeutung
Nichtgläubiger respektieren muß. Unser Interesse an dem Denken des Evangelisten relativiert also nicht, wie schon gesagt, das Interesse an seinen Quellen. Er selbst nämlich begreift sein ganzes Werk als Zeugnis von Jesus und als interpretierende Wiedergabe seiner Worte und seiner Geschichte (s. auch § 1.6). Deswegen ist es berechtigt, Lukas auch als Historiker zu betrachten. 1 Das Zeugnis als Grunddatum der Orientierung im Leben und in der Geschichte kann von keiner Philosophie ignoriert werden, da der Zeuge schon durch seine Existenz die Wirkung des Bezeugten repräsentiert. 2 Und wo das Zeugnis mehrerer Zeugen übereinstimmt (d.h. intersubjektiv ist), wird es zu einem unübersehbaren Datum der Geschichte: Eine sichtbare Gruppe von Menschen versteht ihre ganze Existenz im Lichte des bezeugten Geschehens. Ein Zeugnis ist kein Beweis, sondern ruft zur Entscheidung und zum Glauben, aber die Zeugen sind darin einig, daß das von ihnen Bezeugte sich in ihrem neuen Selbstverständnis als Zeugen nicht erschöpft. Die Rezeption des Zeugnisses durch eine Gruppe von Menschen (in unserem Fall durch die Kirche) unterstreicht auch für die anderen die Bedeutung eines solchen Zeugnisses. Es handelt sich um einen Text, der eine einflußreiche Wirkungsgeschichte hat und den eine bedeutende, soziologisch greifbare Gruppe ernst nimmt. Das Zeugnis von Jesus als dem Repräsentanten Gottes hat den Christen ermöglicht, die Geschichte als ein Ganzes zu erfassen und in ihrer Komplexität die Harmonie von der absurden Entfremdung zu unterscheiden. Durch Begegnung mit dem bezeugten Konkreten (im christlichen Zeugnis ist es die Offenbarung Gottes in Jesus Christus) wird im hebräischen und christlichen Denken die Einsicht in das Ganze erreicht. Schon der Apostel 1 In den letzten zwei Jahrzehnten sind es vor allem die Arbeiten von Martin Hengel, die sich mit dieser Dimension der lukanischen Schriften, besonders der Apostelgeschichte, befassen (bes. Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, 1 9 7 9 und in gewisser Hinsicht auch das mir nur erst im Manuskript vorliegende Buch von M. Hengel und A.M. Schwemer, Die unbekannten Jahre des Apostels Paulus zwischen Damaskus und Antiochien, 1966). Wenn ich auch in manchem historischen Urteil von ihm abweiche, setze ich in dieser Arbeit sein Werk als die andere notwendige Sicht der Lukasforschung dankbar voraus. - Auf die historischen Quellen der Apostelgeschichte hat sich auch G.S. Lüdemann konzentriert (Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte, 1987), wohl mit einem anderen, in Bezug auf die historische Leistung von Lukas mehr kritischen Ergebnis. - Aus den neuesten Arbeiten ist das umfangreiche Werk von M.É. Boismard und A. Lamouille, Les Actes des deux Apostles II-III (EB NS 1 2 - 1 3 ) , Paris 1 9 9 0 und J. Taylor ( - M.É. Boismard) Les Actes des deux Apostles V (EB NE 23), Paris 1993, dessen Bd. III den Quellen gewidmet ist. - Mit dieser Diskussion werde ich mich nur gelegentlich, im Zusammenhang mit ihren Auswirkungen auf die Beurteilung lukanischer Theologie, befassen. - Von den älteren Arbeiten, welche die Apostelgeschichte als historische Quelle untersuchen, ist vor allem auf Foakes-Jackson - Lake, Beginnings of Christianity ( 1 9 2 0 - 1 9 2 3 ) , und auf H.J. Cadbury, The Making of Luke-Acts, London 1927, aufmerksam zu machen. 2
E Ricoeur, Toward a Hermeneutic of the Idea of Revelation, in: ders., Essays 105ff-
Der Verfasser
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Paulus hat es gewagt, Jesus als den Schöpfungsmittler zu bezeichnen, von dem das All seinem Sinn nach abhängig ist (IKor 8,6). Lukas war kein so scharfer Denker wie der Apostel Paulus. Er war ein synthetischer Geist, der mehrere Gegensätze harmonisieren wollte. Er war jedoch kein bloßer Eklektiker oder Sammler. Wir werden sehen, wie er fähig war, die verschiedenen christlichen Traditionen wahrzunehmen, in einem umfassenden Bild der Geschichte Jesu und der Anfänge der Kirche zusammenzufassen und für seine Zeitgenossen theologisch zu deuten. Besonders seine Interpretation der christlichen Auffassung des Heils (der Soteriologie) ist, wie wir sehen werden, schöpferisch, packend und in unserer postmodernen Gegenwart überraschend aktuell (s. § 4.3-4). Selbst das, was wir über das Zeugnis gesagt haben, gehört zum großen Teil zum aktuellen Erbe der lukanischen Theologie. Die gegenwärtige Philosophie des Zeugnisses (bes. Paul Ricoeur) hat vor allem bei ihm ihre Inspiration gefunden: Das, was der Zeuge bezeugt (Lk 24,48; Act 1,8), ist für Lukas im Grunde die Tatsache, daß die in seinem Kreuz, in seiner Auferweckung und Himmelfahrt gipfelnde Geschichte Jesu den Charakter des transzendenten Gottes als des Schöpfers (Act 7,48ff.) und endzeitlichen Richters offenbart (Act 17,22—31). Der Charakter des lukanischen Werkes als Zeugnis ist von den ersten Versen an deutlich, wo Lukas im Unterschied zu Markus in der ersten Person spricht,3 und kann schon durch die höhere Frequenz der Ausdrücke für Zeugnis, Zeugen und das (Be)zeugen (μάρτυς, μαρτυρείν, διαμαρτύρεσθαι, μαρτύρεσθαι, μαρτΰριον, (ούκ) άμάρτυρος, μαρτυρία 4 nachgewiesen werden.
1.3 Der Verfasser Sowohl das Lukasevangelium als auch die Apostelgeschichte sind einem Theophilus gewidmet (Lk 1,3; Act 1,1). Da sein griechischer Name „Gottlieb" heißt, hat man oft vermutet, daß es sich um eine Modellgestalt handelt, die einen idealen Leser (Hörer) der beiden Bücher verkörpert. Die höf3 Zum Zeugnischarakter der lukanischen Schriften und zum Begriff μάρτυς fur die Augenzeugen der ersten Generation (Act 2,32; 3,15; 13,31 u.a. vgl. Lk 1,1 f.) s. Brox, Zeuge und Märtyrer 4 6 f f ; Morgenthaler, Geschichtsschreibung I, 7ff.; Marshall, Luke: Historian and theologian 21ff. Flach ist dagegen das Ergebnis der Arbeit von S.M. Shelley, Narrative Asides in Luke-Acts (JSNT. S 72), Sheffield 1992, der die leserorientierte Wirkung des Textes verfolgend seinen Zeugnischarakter nicht erkennt (185). 4 Näheres bei Soards, Speeches 192f.; A J . B . Higgins, The Preface to Luke and the Kerygma of Acts, in: Apostolic History and the Gospel (FS F.F. Bruce), Exeter 1970, 7 8 - 9 1 , bes. 84f.
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Herkunft und Bedeutung
liehe Anrede (im Vokativ), die Lukas sonst für römische Beamte benutzt (Act 23,26; 24,3 u. 26,25), verrät jedoch, daß der Adressat, der vielleicht als Patron auch die Veröffentlichung und Verbreitung beider Schriften unterstützte, eine konkrete Person war.5 Ob er schon Christ geworden ist, wissen wir nicht. Das Zeitwort „unterrichten" in Lk 1,4 (κατηχεΐν) ist noch nicht als Fachausdruck fur kirchliche Katechese benutzt, aber jedenfalls warTheophilus ein Sympathisant, der vom christlichen Glauben schon etwas wußte. Für Lukas ist es bezeichnend, daß er durch die Widmung an Theophilus den öffentlichen Charakter seines Zeugnisses proklamiert. Sein Doppelwerk ist keine missionarische Schrift. Es ist wirklich zur Unterrichtung der Christen bestimmt, aber er wußte, daß dem Evangelium ein Öffentlichkeitsanspruch innewohnt und es keine Geheimlehre für Eingeweihte ist (vgl. Act 20,20; 26,26). Theophilus wird also auch als der Vertreter der Öffentlichkeit angeredet, als ein Mann, der ähnlich wie z.B. der Prokonsul Sergius Paulus auf Zypern (Act 13,7ff.) auf die Verkündigung des Reiches Gottes positiv reagiert und als ein „Hochgeehrter" die Lehre (gr. διδαχή) von dem wahren Herrn annimmt (Act 13,12). So wird er gleichzeitig zum Bild des idealen Lesers und Vertreters der Öffentlichkeit. Dadurch wird auch schon der Verfasser als derjenige charakterisiert, der zwar eine sozial niedrigere Stellung als die einflußreichen Beamten und Bürger hatte, aber doch mit ihnen kommunizieren konnte. 6 Sozial identifiziert er sich mit Paulus, der in Act 16,37f.; 22,25f. als römischer Bürger auftritt. Die Uberschrift mit dem Namen des Verfassers7 gehört nicht zum Text. Seine Identifizierung mit dem Lukas aus dem paulinischen Kreis (Phlm 24; 2Tim 4,11), der nach Kol 4,14 Arzt war, ist erst bei Irenaus von Lyon (Ende des II. Jh.s) belegt.8 Sie kann ein Ausdruck der Tendenz sein, die Autoren kanonisch werdender Schriften mit Gestalten aus apostolischer Zeit zu identifizieren. Ein direkter Paulusschüler und Mitarbeiter würde seinem Lehrer nie den Aposteltitel absprechen, wie es Lukas in der Apostelgeschichte tut (§ 2.7.5), besonders wenn Paulus seine Apostolizität so hervorgehoben hat (Gal 1,1; 2,8 u.a.), und wenn sie auch seine Schüler betont haben (Kol 1,1; Eph 1,1; 3,5; lTim 1,1; 2Tim 1,1; Tit 1,1). Nach Lukas mußte ein Apostel Jesusjünger sein (Act 1,22 s. § 2.9.3).9 Im Prolog zu seinem Werk (Lk 1,1—4) sieht Lukas auf die Generation der Augenzeugen und Autoren erster 5
Alexander, Preface 194-198. Vgl. Petzge, Sondergut 250. 7 Es handelt sich nicht um zwei Autoren, wie einige Forscher angenommen haben, s.u. Anm. 65. 8 Thornton behauptet, daß es bis in den Anfang des II. Jh.s reicht: Zeuge 62 vgl. 31ff. 9 Zur kritischen Beurteilung der Tradition, wonach Lukas ein Begleiter des Paulus war, s. bei Burchard, Zeuge 157ff.; Rese, Lukas-Evangelium 2260ff. oder Korn, Geschichte 8ff. Einige, wie Jervell oder Thornton halten sie dagegen für authentisch: Thornton, Zeuge 69-81. 196f. 366f. L. Aejmelzens, Die Rezeption der Paulusbriefe in der Miletrede (Apf 20: 19-35) (AASF B-232), Helsinksi 1987, 266f. 6
D e r Verfasser
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schriftlicher Zeugnisse als auf seine älteren Vorgänger zurück und muß darum selbst zu einer späteren Generation gehören. Die „Wir"-Abschnitte der Apostelgeschichte (16,11-17; 20,5-15; 21,1-18; 27,1-28,16) können zwar z.T. aus dem Bericht eines Augenzeugen stammen, 10 der jedoch als Begleiter von Paulus mit Lukas kaum identisch war. Lukas dürfte einen solchen Bericht literarisch bearbeitet haben, denn die erste Person Plural fungiert bei ihm vor allem als dramatisches Mittel und ist als solche in den Reiseerzählungen der ersten christlichen Jahrhunderte oft belegt (z.B. Petronius, Satirikon 144; Achilleus Tatios, Leukippe et Cleitophon 3,1 ; Vita Apollonii 3 , 5 2 58). 11 Wie treu und frei Lukas mit seinen Quellen umgeht, kann man an seiner Bearbeitung von Markus verfolgen. Lukas war also kaum ein direkter Mitarbeiter des Paulus. Da wir jedoch keine prominente Gestalt der Urkirche mit diesem Namen kennen und da die Evangelienüberschriften sehr alt (Anfang des zweiten Jahrhunderts) sind, 12 ist es nicht ausgeschlossen, daß der Verfasser der beiden Schriften ad Theophilum wirklich Lukas hieß und deswegen mit dem Lukas aus dem Philemonbrief identifiziert wurde. 13 Das Evangelium ist anonym verfaßt worden, wahrscheinlich um deutlich zu machen, daß der wahre Verfasser Jesus Christus selbst ist, wie es schon Markus getan hat. Man kann zwar vermuten, daß das Werk, das einer konkreten Person, dem Theophilus, dediziert war, von Anfang an den Namen des Verfassers tragen mußte. 14 Da jedoch das Lukasevangelium das anonym verfaßte Markusevangelium ersetzen wollte (Lk 1,1—4), ist es sehr wahrscheinlich, daß in den Schriften an Theophilus der Verfasser ebenfalls unerwähnt blieb, wenn er auch in seinem Bereich der Kirche als Verfasser gut bekannt sein konnte, ähnlich wie vorher Markus in seinem. Seit Ende des vorigen Jahrhunderts (W.K. Hobart, 1892) gab es Versuche, die Identifizierung des Autors lukanischer Schriften mit dem Arzt Lukas aus Kol 4,14, der mit dem Lukas aus Phlm 24 identisch sein soll, durch unab10 So z.B. E. Norden oder M. Dibelius (Paulus auf dem Areopag, zuletzt in ders., Aufsätze 2 9 - 7 0 , bes. 65). Eine Zusammenfassung der Argumente zugunsten des historischen Wertes der Wir-Stiicke s. bei Pesch, Apostelgeschichte I,47ff., in mehreren Arbeiten von J. Jervell (zusammenfassend in dem einleitenden Kapitel seines im Druck sich befindenden Kommentars zur Apostelgeschichte /KEK/) und bei J. Wehnen, Die W i r Passagen der Apostelgeschichte (GTA 40), Göttingen 1989, 1 8 6 u.a.
" Plümacher, Wirklichkeitserfahrung l l f . vgl. ders., Lukas als hellenistischer Schriftsteller 172fF.; RolofF, Apostelgeschichte 358f.; Schille, Apostelgeschichte 4 6 9 , aus literarischer Sicht Norden, Agnostos Theos 313ff.; V.K. Robbins, The We-Passages in Acts and Ancient Sea Voyages, Biblical Research 2 0 (1975), 5 - 1 8 , bes. 17; Pokorny, Romfahrt, 234; S.M. Praeder, The Problem of 1st Person Narrative in Acts, NovT 2 9 (1987), 193/217; W. Bindemann, Verkündigter und Verkündiger. Das Paulusbild der Wir-Stücke der Apostelgeschichte, ThLz 1 1 4 (1989), 7 0 5 - 7 2 0 , bes. 716f. 12 M. Hengel, Die Evangelienüberschriften (SHAW 1984/3), Heidelberg 1984, 16ffi 13 Kremer, Lukasevangelium 14. 14 Thornton, Zeuge, l 4 3 f .
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Herkunft und Bedeutung
hängige Beobachtungen zu unterstützen: Bei Lukas kommen einige medizinische Fachausdrücke vor, in Lk 8,43 streicht er das ungünstige Urteil über die Arzte aus Mk 5,26 usw. Aber die medizinischen Ausdrücke kommen bei Lukas nicht öfter als in den anderen vergleichbaren Texten vor,15 und die Streichung der Kritik der Arzte hängt mit der durchgehenden Kürzung der Markusvorlage bei Lukas zusammen.16 Von größerer Bedeutung ist fiir uns, daß Lukas besser als die meisten neutestamentlichen Autoren griechisch schreibt17 und in der hellenistischen Kultur des römischen Reiches zu Hause ist. Er übersetzt die hebräischen Namen und Titel ins Griechische (vgl. Lk 6,15 u. Act 1,13 mit Mk 3,18 oder Lk 9,33 mit Mk 9,5 u.a.), aber seine Kenntnisse über die Geographie Palästinas stammen offensichtlich aus zweiter Hand (er läßt Jesus aus Galiläa nach Jerusalem durch „Samarien und Galiläa" gehen - Lk 17,11),18 so daß er also in einem hellenistischen Gebiet gelebt haben muß. 19 Das Weltbild des Lukas war durch die Vorstellungen der hellenistischen Volksfrömmigkeit beeinflußt, die auch das damalige Diasporajudentum mitgeprägt haben. In der Apostelgeschichte wird von wunderhaften Befreiungen aus dem Gefängnis erzählt (5,18f.; 16,23-29), von Wunderheilungen (2,43; 3,1-11; 9,32-35.36-42; 16,16-18; 28,8), Totenerweckungen (9,36-44; 20,9-12), Immunität gegen Gift (28,3-6), von den Erscheinungen Jesu in verschiedener Gestalt (18,9f.; 23,11, 27,23) oder von magischer Übertragung der Macht (5,12; 19,12). Das alles verbindet die Apostelgeschichte mit den apokryphen Apostelakten.20 Im Zentrum steht jedoch das Evangelium vom barmherzigen Gott, und die zeitgenössischen Vorstellungen stehen in seinem Dienst als zeichenhafte Darstellungen der Herrschaft Gottes und der inneren Macht des zu ihm erhöhten Jesus, in dessen Namen (Act 3,6; 16,18) die Wunder als sichtbare Äußerungen des Glaubens (3,16) geschehen. Das Ganze des lukanischen Werkes unterscheidet sich also durch einige Züge von den hellenistischen Aretalogien, den Lebensgeschichten der antiken Gottmenschen. 21 15 S. die Belege in den Wörterbüchern, zur älteren Debatte s. Rese, Lukas-Evangelium 2280ff.; das Material bei Plummer xxxiiiff. 14 Cadbury, Style 50f. 17 Die Sprache des Lukasevangeliums hat J. Jeremias katenenartig kommentiert (s. Literaturverzeichnis). 18 S. Conzelmann, Mitte 60ff. Daß Lukas bei alledem bestrebt war, verläßliche Angaben anzubieten, hat mit Recht M. Hengel betont: Der Historiker Lukas und die Geographie Palästinas in der Apostelgeschichte, ZDPV 99 (1983), 147-183, bes. 151ff. 181f. 19 Anders Roloff, Kirche 192 (gute Kenntnisse palästinischer Geographie bei Lukas). 20 J.K. Elliott, The Apocryphal Acts, CV 25 (1993), 5-15, bes. I4f. vgl. M. Selvidge, The Acts of the Apostles: A Violent Aetiological Legend, in: SBL Seminar Papers 25, Atlanta GA 1986, 330-340, bes. 333. Zu dem magischen Elementen s. Garrett, Demise 19ff., zur lukanischen Theologie des Bösen ebd. 37ff. 21 Gegen M. Hadas/M. Smith, Heroes and Gods. Spiritual Biographies in Antiquity,
Der Verfasser
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Lange Zeit herrschte in der neutestamentlichen Forschung die Meinung, daß Lukas ein Heidenchrist war. In den letzten Jahrzehnten hat man jedoch seine guten Kenntnisse jüdischer Frömmigkeit betont: Im Unterschied zu Mt 23 unterscheidet er in Lk 11,37-53 sachlich zwischen den Pharisäern und Schriftgelehrten. Das bedeutet nicht, daß er ein Jude war, aber daß es sehr wahrscheinlich ist, daß er zumindest zu den Gottesftirchtigen gehört hat, die mit der Synagoge sympathisiert haben und in seinem Werk eine besondere Rolle spielen (Act 10,2; 13,43; 16,14; 17,4.17). 22 Sie verkörpern die neue Menschheit, die sich den Weg zu Gott nicht durch ihre Hartherzigkeit verbaut hat. Nach alldem, was wir über den Verfasser gesagt haben, und unter der Voraussetzung, daß er das Markusevangelium als eine seiner Quellen benutzt hat, müssen wir die Entstehung lukanischer Schriften in der Zeit nach dem Tod des Paulus ansetzen, den Lukas nach Act 20,25.38; 21,13 offensichtlich schon als bekannte Tradition voraussetzt. Es muß auch nach dem jüdischen Krieg sein und nachdem das Markusevangelium in mehreren christlichen Gemeinden (einschließlich der Gemeinde von Lukas) Widerhall und liturgische Autorität gewonnen hat, d.h. etwa in den achtziger Jahren des ersten Jahrhunderts. 23 Die Gemeinde, in welcher Lukas gelebt und gewirkt hat, war offensichtlich den in der Apostelgeschichte geschilderten Gemeinden ähnlich, in welchen die Judenchristen nur noch eine Minderheit bildeten. Wo Lukas gelebt und gewirkt hat, wissen wir nicht, doch muß es ein hellenistisches Gebiet mit jüdischer Diaspora gewesen sein. Die Meinung, daß es Rom war, ist von der Tradition abhängig, die Lukas mit dem Begleiter des Paulus identifiziert (vgl. Iren, adv.haer. 3,1,1 u.a.), der ihm nach 2Tim 4,11 auch im Gefängnis diente. Nach einer anderen Tradition wirkte Lukas auch in Ephesus, wo seit dem Mittelalter sein Grab gezeigt wird. Auch Antiochien am Orontes, wo Paulus seine Basis hatte, haben einige (bes. Theodor Zahn) für den Entstehungsort mindestens eines Teiles der Apostelgeschichte gehalten. 24 Wahrscheinlich ist dort jedoch nur eine Quelle der Apostelgeschichte entstanden (ein Bericht über die Kollektenreise Act Freeport, NY 1 9 7 0 (Nachdruck), 161f. Zur hellenistischen Rhetorik bei Lukas s. E. Güttgemanns, In welchen Sinne ist Lukas „Historiker"?, LingBibl 54 (1983), 9 - 2 6 , bes. l l f f . und M. Harding, On the Historicity of Acts, NTS 39 (1993), 5 1 8 - 5 3 8 (eine Polemik gegen Hemer, The Book of Acts), bes. 537. 22 S. Bovon, Luc: portrait 15. 23 Die Spätdatierungen, bis in die Mitte des II. Jahrhunderts, die als Hypothesen von Zeit zur Zeit in der Forschung auftauchen (z.B. O'Neill, Theology of Acts 18ff.) haben nur bei einigen einseitig radikalen Forschern Widerhall gefunden (siehe z.B. J.D. Crossan, Der historische Jesus, München 1 9 9 5 (2.Aufl. der deutschen Ubers.) 568. - Eine Frühdatierung in die sechziger Jahre befürwortet z.B. Bock, Luke 18. 24 Thornton, Zeuge 309ff.
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Herkunft und Bedeutung
20,3-21,17), die kaum von Lukas selbst stammt. 25 Nach den sog. monarchianischen Prologen und den antimarkionitischen Evangelienprologen (Prol. ad Luc.) hat Lukas das Evangelium in Griechenland geschrieben. Diese seit Anfang des IV. Jahrhunderts belegte Tradition 26 gewinnt an Bedeutung, wenn wir die Genauigkeit und Häufigkeit der geographischen und persönlichen Angaben in der Apostelgeschichte prüfen. Im Vergleich mit den Angaben über die Reisen in Palästina, Zypern und Kleinasien, wo die Route nur generell beschrieben wird (z.B. 13,4.13f.51; l4,21b.24-26; 15,41; 16,1), begegnen wir genaueren Angaben und mehreren Namen der Mitarbeiter, sobald Paulus Troas, Makedonien (Philippi) und Griechenland erreicht (16,11-14 /Wir-Abschnitt/; 17,1.5.l4-22a.34; 18,12.17-18/ 3. Person/; 20,4 /3. Person vor dem Ubergang in das Wir/). Nur der Bericht über die Kollektenreise (bes. 21,1-9) und die Reise nach Rom (Kap. 27) sind, was die Genauigkeit der Angaben betrifft, vergleichbar. In Beröa befindet sich auch die einzige christliche Gemeinde, in der Paulus keine Probleme hatte. Sie haben „das Wort" mit Freude aufgenommen und haben die jüdische Bibel richtig als das Buch der Verheißungen über Jesus als den Messias verstanden (17,10-12). Weder in den paulinischen Briefen noch in der späteren apokryphen Tradition über Paulus wird diese Gemeinde erwähnt. Lukas hat also die Traditionen über die Anfänge des Christentums in Griechenland gut gekannt und dort auch die Modellgemeinde situiert. Die Tradition über die Verbindung von Lukas mit Griechenland ist also ernst zu nehmen 27 , was aber nicht bedeutet, daß dort die beiden Schriften entstanden. 28 Da Lukas wahrscheinlich ein viel gereister Mann war, ist die Frage nach dem Entstehungsort weniger bedeutend als die Frage nach seiner Heimat, die offensichtlich doch in Griechenland zu suchen ist.
1.4 Vorgänger und Quellen Dem Prolog (Lk 1,1—4) können wir entnehmen, daß Lukas Vorgänger gehabt hat, die auch Erzählungen über dieselben Ereignisse geschrieben haben (Lk 1,1). Seit dem XIX. Jahrhundert wird dies meistens im Sinne der Zwei-
25 Das gibt auch Thornton zu, wenn er auch damit rechnet, daß der Verfasser der Apostelgeschichte dabei war: Zeuge 3 1 3 . 26 J. Regul, Die antimarcionitischen Evangelienprologe (VL 6), Freiburg 1969, 2 0 2 . 2 4 2 (der Text des Prologs zu Lukas: 16. 3 0 - 3 1 ; des „Lukasarguments": 45). 27 Bovon, Luc: portrait 24; ders., Evangelium 22. 28 H. Klein z.B. hält Cäsarea fur den möglichen Abfassungsort: Zur Frage nach dem Abfassungsort der Lukasschriften, EvTh 3 2 (1972), 4 6 7 - 4 7 7 . bes. 4 7 5 .
Vorgänger und Quellen
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quellentheorie erklärt,29 wonach Lukas das Markusevangelium und die Sammlung der Sprüche Jesu (Q) gekannt hat. Bis auf zwei Kapitel (Mk 6,45—8,26) ist das Markusevangelium mit wenigen Änderungen im Lukasevangelium enthalten. Das Markusevangelium könnte wohl auch ein Auszug aus den beiden längeren synoptischen Evangelien sein (die Hypothese von J J . Griesbach am Ende des XVIII. Jh.s), aber der Vergleich des Stils und der Theologie situiert es in frühere Zeit.30 Seine Sprache ist der mündlichen Erzählung näher (Matthäus und Lukas verbessern sie), und in der Theologie spiegeln die beiden „längeren" Evangelisten Probleme wider, die erst später aufgetaucht sind: Matthäus reagiert auf das Problem der formalen, nichtbekennenden Glieder der Kirche (Mt 13,24-30; 22,11-14; 28,17), Lukas setzt sich mit der ausgedehnten Zeitperspektive und beide mit der Trennung von Kirche und Judentum auseinander. Die Griesbachsche Hypothese kann zwar literarisch die Ubereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas in ihren mit Markus gemeinsamen Texten erklären, aber sie sind meistens dem Einfluß der mündlichen Tradition und z.T. auch den Ubereinstimmungen in der redaktionellen Arbeit des Lukas und Matthäus zuzuschreiben.31 Auch die eben erwähnte lukanische Auslassung kann man der redaktionellen Absicht des Lukas zuschreiben.32 Wenn man darüber hinaus die Unfähigkeit der Griesbachschen Hypothese erwägt, die Ubereinstimmungen in der Grundstruktur des Lukas- und des Matthäusevangeliums zu erklären, ist es berechtigt, bei der Deutung des Lukasevangeliums die Zweiquellentheorie vorauszusetzen. Ihr Vorteil ist, daß sie durch mehrere weitere Komponenten des literarischen Prozesses ergänzt werden kann, von denen für uns die vorausgesetzten lukanischen Sonderquellen von besonderer Bedeutung sind. Lukas hat seine Quellen auf eine andere Weise als Matthäus bearbeitet, der aus ihrem Material neue, thematisch geordnete Reden zusammengestellt hat, wie die Bergpredigt in Mt 5 - 7 oder die Gleichnisrede in Mt 13. Lukas hat mit großen Blöcken der Vorlagen gearbeitet, wobei der Anfang und das Ende aus den uns sonst nicht zugänglichen Quellen stammen, aber das Korpus des Lukasevangeliums (4,31-22,13) von der Struktur der markinischen Vorlage abhängt, die durch drei Einschübe (etwa 6,12-8,3; 9,51-18,14; 29
Näheres bei Rese, Lukas-Evangelium 2278ff. Eine alternative Lösung, welche die Existenz von Q eliminiert, hat u.a. M. Goulder vorgeschlagen: Luke - A New Paradigm 3-194, s.u. Anm. 34. 31 Siehe J.A. Fitzmyer, The Priority of Mark and the „Q" Source in Luke, in: Jesus and Mans Hope I, Pittsburgh 1970, 151-170, bes. 126f. 32 H. Schürmann hat nachgewiesen, daß Lukas den ausgelassenen Abschnitt des Markusevangeliums gelesen hat und einige Wörter und Wendungen sind als seine Reminiszenzen der ausgelassenen Abschnitte erkennbar: Vgl. Lk 9,10 (Bethsaida) mit Mk 6,45; 8,22, Lk 9,17 mit Mk 8,8, Lk 9,18 mit Mk 6,46; H. Schürmann, Sprachliche Reminiszenzen und abgeänderte oder ausgelassene Bestandteile der Redequelle im Lukas- und Matthäusevangelim, zuletzt in: ders., Traditionsgeschichdiche Untersuchungen 111-125. 30
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Herkunft und Bedeutung
19,1-28) unterbrochen ist. Sie enthalten den größeren Teil des Materials, das Lukas aus der Spruchquelle übernimmt. Markus und die Spruchquelle können allein kaum die „Vielen" aus Lk 1,1 repräsentieren.33 Lukas mußte aus mehreren Quellen gewählt haben und vielleicht auch einige unbenutzt lassen. So kann seine Absicht und theologische Tendenz der Auswahl der Quellen, ihrer Interpretation und seinen redaktionell formulierten Textabschnitten entnommen werden. In der letzten Zeit sind wieder Vermutungen aufgetaucht, daß Lukas auch mit dem Matthäusevangelium vertraut war.34 Ahnlich wie Matthäus setzt er sich mit der Trennung von Kirche und Judentum auseinander. Er tut es jedoch anders als Matthäus, wobei wir es aber nicht für eine Polemik gegen Matthäus halten können. 35 Zudem sind die Argumente gegen die Kenntnis des Matthäusevangelium bei Lukas schwerwiegend: Lukas und Matthäus kennen beide die entstehende Legende, wonach Jesus als der wahre Nachkomme Davids in Bethlehem geboren ist. Beide haben versucht, sie mit der Tatsache, daß Jesus aus Nazareth stammte, zu versöhnen. Nach Mt 2 muß Jesus wegen der Bedrohung Bethlehem verlassen, und aus Ägypten kommt er nach Nazareth. Nach Lukas kommt Maria für eine kurze Zeit nach Bethlehem, wo Jesus auf die Welt kommt. Würden die beiden Synoptiker voneinander wissen, müßten sie versucht haben, ihre Darstellungen zu harmonisieren - oder polemisch zu akzentuieren.36 Neben Markus, der Spruchquelle (in einer von der matthäischen etwas unterschiedlichen Fassung - Q L k ) und den lukanischen Sonderquellen 37 müssen wir mit den Aufzeichnungen christlicher Gemeinden rechnen,38 besonders mit einer antiochenischen Quelle, die schon Adolf von Harnack erkannt hat. Ihr Umfang ist strittig, aber in Act 2,1-15,35 hat sie Lukas offensichtlich öfter benutzt.39 Von der Wir-Quelle haben wir schon gesprochen (§ 1.3), und die Reden der Apostelgeschichte schöpfen eher aus Vorbil33 Vgl. Rigaux, Témoignage 24f. Dies gilt auch wenn wir damit rechnen müssen, das „Viele" eine rhetorische Hyperbole (vgl. Act 24,2.10) sein kann, s. J.B. Bauer, Πολλοί Luk 1,1, N o v T 4 (I960), 2 6 3 - 2 6 6 . 34 Nach Goulder, Luke: A New Paradigm 3ff. hat Lukas Markus und Matthäus bearbeitet; siehe dagegen F.G. Downing, A Paradigm Perplex: Luke, Matthew and Mark, N T S 38 (1992), 15-36. 35 Gegen E. Franklin, Luke. Interpreter of Paul, Critic of Matthew ( J S N T SS 92), Sheffield 1994. 36 Radi, Lukasevangelium 3 6 - 3 8 . 37 Daß es ein größeres literarisches Ganzes mit Passionsgeschichte war, kann nicht nachgewiesen werden und ist wenig wahrscheinlich, s. Wiefel, Lukas 12. 38 In einer schwer nachweisbaren Hypothese hat Schille die Voraussetzung mehrerer Lokalquellen entfaltet: Apostelgeschichte 5. 15fF-, näher ders., Die Leistung des Lukas in der Apostelgeschichte, T h V VII, Berlin 1976, 91-106. 39 M. Dibelius, Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung (1949), zuletzt in: ders., Aufsätze 120-162, bes. 162; Schneider, Apostelgeschichte 85ff.
Die Bedeutung des Lukas
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dern als aus historischen Quellen. 40 Ansonsten können wir nur mit unabhängiger mündlicher Überlieferung einiger Texte rechnen, die auch im Markusevangelium oder in der Spruchquelle enthalten sind. Aus dem umfangreichen Strom christlicher mündlicher Erzählungen hat Lukas in den zwei ersten Kapiteln des Evangeliums nach offensichlich kritischer Beurteilung mehrere Motive und Einzelerzählungen geschöpft, wobei seine gestaltende Rolle deutlich hervortritt. 41 In der letzten Zeit wird allerdings auch mit umfangreicheren Traditionskomplexen aus dem hellenistisch-jüdischen Milieu gerechnet, die Lukas vorgefunden hat. 42 Aramäische Quellen sind nicht nachweisbar. 43 O f t hat man nachzuweisen versucht, daß Lukas einige Briefe des Paulus kannte (vgl. II Kor 11 mit Act 9), wobei das Ergebnis jedoch nicht eindeutig ist. Er hat wahrscheinlich nur Traditionen über den Inhalt einiger Paulusbriefe gekannt. 44
1.5 Die Bedeutung des Lukas Dem Prolog (Lk 1,1-4) kann man entnehmen, daß Lukas die Berichte seiner Vorgänger kritisch gesehen hat: „Nachdem schon Viele versucht haben ,.."45 ( ε π ε χ ε ί ρ η σ α ν , vgl. die Verwendung dieses Verbums in Act 19,13) 46 das ist eine diskrete, aber deutliche Kritik an ihnen. Wäre er mit seinen Vorgängern zufrieden, hätte er nicht ein neues Buch schreiben müssen. 47 Offensichtlich wollte er ihre Schriften durch sein Werk ersetzen und hat also Ambitionen gehabt, die sich von seiner faktischen Stellung im Kanon unterscheiden. Nur die Logienquelle hat er, zusammen mit dem Verfasser des Matthäusevangeliums, als ein selbständiges Ganzes aus ihrer Stellung im Leben der christlichen Gemeinden herausgedrängt, während das Markusevangelium neben seinem Doppelwerk in der Kirche als gottesdienstliche 40 Bauernfeind, Kommentar und Studien 290f.; Morgen thaler,Geschichtsschreibung 11,73 (die Reden seien „geschichtlich", nicht „authentisch"). Ausfuhrlich hat sich mit den Reden der Apostelgeschichte U. Wilckens befaßt: Missionsreden, bes. 193ff., s. auch Schneider, Apostelgeschichte 85ff; C. Gempf, Public Speaking and Published Accounts, in: Winter/Clarke, Acts 259-303 (Reden repräsentieren den Sprecher, 299); S.E. Porter, Thycydides 1,22.1 and Speeches in Acts, NovT 32 (1990), 121-142, bes. 141. 41 So Brown, Birth 251f.; Fitzmyer, Luke 309. 42 Besonders Radi, Ursprung 52-55. 43 So Bovon, Lukas I, 47f.; Radi, Ursprung 54, Anm.2 gegen Sahlin, Messias 320f. u.a. siehe auch M. Wilcox, Semitisms of Acts, Oxford 1965, 1-19. Zu den Quellen der Apostelgeschichte s. auch Boismard/Lamouille II (s.o. Anm.l). 44 Lüdemann, Das frühe Christentum 16. 45 Ubersetzung von J. Emst, Lukas. 46 Klein, Lukas 1.1—4, 239f. 47 Bovon, Lukas.
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Herkunft und Bedeutung
Lesung geblieben ist und das Matthäus- und Johannesevangelium hinzugekommen sind. Erst Markion hat versucht, Lukas zur Norm zu machen, wenn er sich auch gegen den Hauptstrom der Kirche nicht durchzusetzen vermochte und darüber hinaus das Anliegen des Lukas nicht begriffen hat (vgl. § 2.6). Lukas war bestrebt, sich von seinen Vorgängern durch die ganze Struktur seines Werkes zu unterscheiden, indem er „allem von Anfang (άρχή) an mit Sorgfalt nachgegangen" sein und es dem Theophilus καθεξής, d.h. „der Reihe nach" (vgl. Act 3,24), erzählen will. Es handelt sich also um eine sukzessive Darstellung, die wirklich mit dem Anfang anfängt, was praktisch die Vorgeschichte in Lk 1 - 2 betrifft, in der Jesus als die Vollendung jüdischer Erwartungen dargestellt wird. „Von Anfang an" (¿χρχεσθαι), d.h. von Moses an, wird auch der Schriftbeweis von der Heilsbedeutung Jesu in Lk 24,27 (vgl. Act 2,17-36) entfaltet.48 Lukas erzählt sukzessiv, im Nacheinander, wobei er zugleich die Kontinuität einzelner Etappen der Wege Gottes mit den Menschen vor allem dadurch betont, daß er sie vom Wirken des einen, in der Schrift bezeugten Gottes ableitet, dessen Reich (βασιλεία το θεού) sowohl Jesus als auch Paulus verkündigen (Lk4,43; Act 19,8; 28,31, s. § 3.3 u. 3.6). Auch der Begriff Heil (σωτηρία und andere Substantiva von demselben Stamm) wird als gemeinsamer Nenner der vor- und nachösterlichen Verkündigung benutzt: Lk 1,69.71.77; 19,9; Act 4,12; 13,26.47 u.a. So will Lukas das Nacheinander und die innere Verbindung von Israel, Jesus und der Kirche als eines umfassenden Geschehens deuten. Auch die jüdische Vergangenheit der Kirche interpretiert er im Lichte der Geschichte Jesu und des Ostergeschehens. Die Forschung hat die eigenständige theologische Leistung des Lukas nicht gleich entdeckt,49 und erst in den letzten vier Jahrzehnten wird seine Bedeutung anerkannt, wenn auch oft mit negativen Vorzeichen. Eine besonders qualifizierte Orientierung über die Erforschung lukanischer Theologie bietet François Bovon in seinem Werk „Luc le théologien" (1978, 1988 2. Aufl.). Einer der ersten, welche die neuere Diskussion um Lukas eröffnet haben, Philipp Vielhauer, hat die lukanische Theologie negativ bewertet. Er hat sie für eine Verharmlosung der urchristlichen Botschaft durch ihre Historisierung gehalten, was sich schon in der Entscheidung des Lukas widerspiegele, neben dem Evangelium auch die Apostelgeschichte zu schreiben. Sein Werk 48 Vgl. É.Sémain, La notion de άρχή dans l'oeuvre lucanienne, in: Neirynck (ed.), Luc 2 9 9 - 3 2 8 , bes. 326f. Den Bezug auf die Verheißungen hat G. Schneider nachgewiesen: Zur Bedeutung von κ α θ ε ξ ή ς im lukanischen Doppelwerk (1977), zuletzt in: ders., Lukas, Theologe 131-134. bes. 133f. 49 Zu der Lukas-Interpretation im Altertum s. bes. J. Reuss (Hg.), Lukas-Kommentare aus der griechischen Kirche ( T U 130), Berlin 1984; zur modernen Forschung s. Rese, Lukas-Evangelium 2297f.
Die Bedeutung des Lukas
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gehöre eher zum Frühkatholizismus als zum Urchristentum. 50 Vielhauers kritische Meinung knüpft bewußt an das scharfe Urteil über Lukas an, das im vorigen Jahrhundert Franz Overbeck geäußert hat,51 wenn auch Overbeck nicht die Tatsache in Frage stellte, daß Lukas die Apostelgeschichte geschrieben hat, sondern wie er in ihr die Einmaligkeit Jesu relativierte (die Darstellung Johannes des Täufers fast als eines zweiten Messias, die Rolle der Apostel usw.).52 Sowohl Overbeck als auch Vielhauer haben jedoch das Neue gespürt, das in dem lukanischen Werk den Rahmen der ältesten christlichen Literatur sprengt. Nach Vielhauer ist die lukanische Christologie im Vergleich zu Paulus vorpaulinisch, die Eschatologie dagegen nachpaulinisch.53 Lukas, an Paulus gemessen, war also in seiner Theologie inkonsequent und inkonsistent. Ein solcher Vergleich ist jedoch methodisch nicht sauber. Lukas hat etwas von der Rechtfertigungslehre des Paulus gewußt (Act 13,39) und hat seine außerordentliche Bedeutung für die christliche Theologie erkannt. Er hat jedoch in späterer Zeit geschrieben, neue Probleme gelöst und die Bedeutung Jesu ftir das Heil der Menschen auf seine eigene Weise interpretiert. Der Wert seiner Theologie hängt also nicht davon ab, wie authentisch er die paulinische Theologie interpretiert und entfaltet. Im Jahre 1954 sind die Studien zur Theologie des Lukas von Hans Conzelmann unter dem Titel „Die Mitte der Zeit" erschienen. Es war die erste Arbeit, welche die redaktionsgeschichtliche Methode in bewußter Abgrenzung von der Formgeschichte angewandt hat. Nach Conzelmann hat sich Lukas vor allem mit dem Problem der Parusieverzögerung auseinandergesetzt. Im Unterschied zu den ältesten christlichen Texten, in denen Jesus das Ende der Geschichte bedeutet, rückt er bei Lukas in die Mitte der Geschichte.54 Seine (irdische) Zeit unterscheidet sich von der Vor- und Nachgeschichte als die Zeit der Heilsgegenwart, als der „Typos des Heils".55 Umgekehrt kann man sagen, daß nach Lukas die Bedeutung Jesu vor allem in seinem Verhältnis zur Geschichte aussagbar ist. Trotz seines Bemühens um ein unvoreingenommenes Urteil wird Lukas auch bei Conzelmann eher negativ beurteilt: Jesus sei bei ihm vor allem als eine historische Erscheinung, d.h. als der Vergangenheit zugehörig, betrachtet.56 Conzelmann hat sich die au50
Vielhauer, „Paulinismus" 26f. F. Overbeck, Christentum und Kultur, Basel 1919, 78f., zit. bei Vielhauer, „Paulinismus" 25, 52 M. Rese, Fruchtbare Mißverständnisse. Franz Overbeck und die neutestamentliche Wissenschaft, in: Franz Overbecks unerledigte Anfragen an das Christentum, München 1988, 2 1 1 - 2 2 6 , bes. 216ff. 53 Vielhauer, „Paulinismus" 26. 54 Conzelmann, Mitte 139ff.; 158f. 55 Conzelmann, Mitte 173. 56 Conzelmann, Mitte 6. S. Schulz hat Lukas aufgrund von Lk 1,1-4 sogar des Versuchs eines historischen Beweises des Heils beschuldigt: Stunde der Botschaft 249f. Um eine 51
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Herkunft und Bedeutung
thentische christliche Verkündigung als einen existentiellen Aufruf im Bultmannschen Sinne vorgestellt, der nur sekundär die gegenständliche Geschichte (Historie) betrifft. In der jüdischen und urchristlichen Tradition ist jedoch die Verkündigung meistens mit einer Orientierung in der Welt verbunden, die sich auf der semantischen Ebene auswirkt.57 Die Verteidiger von Lukas argumentieren nicht nur mit seiner Abwehr möglicher Häresien (so z.B. C.H. Talbert), welcher die Vergegenständlichung des Glaubens zuzurechnen sei,58 sondern machen auch auf die spezifischen Züge seiner Theologie, besonders auf die Auffassung der Kirche und des Heils, aufmerksam, die wir als eigenständige Interpretation der älteren christlichen Bekenntnisse begreifen müssen. 59 Lukas ist also kein bloßer Eklektiker und seine Theologie kann nicht an den Maßstäben gemessen werden, welche von den anderen theologischen Konzepten abgeleitet sind. Es war kein Zufall, daß Lukas das Kirchenjahr und die alten zusammenfassenden Äußerungen des Glaubens der Kirche beeinflußt hat (z.B. Himmelfahrt im Credo) und wir werden seine Theologie auch in ihrer inneren Struktur untersuchen müssen. Sind seine Soteriologie (Heilslehre) und Christologie wirklich vorpaulinisch? Sind sie nicht in ihrer Bezogenheit auf die umfassende Sicht der Geschichte als ein Versuch konzipiert, das „Wort" neu und aktuell zu interpretieren? Das werden wir ernst erwägen müssen, wenn wir im zweiten Kapitel seine Auffassung der Kirche, im dritten seine Sicht der Geschichte und ihres Ziels (Eschatologie), im vierten seine Christologie und Soteriologie und im fünften seine soziale Ethik besprechen.
1.6 Die literarische
Gattung
Die Literaturwissenschaft kann die Struktur eines literarischen Werkes als Ergebnis der Wechselwirkung zwischen dem literarischen Stoff (Nachrichten, Zeugnisse, Geschichten, Überlegungen usw.) und den möglichen literaHeilsgarantie handelt es sich dort jedoch nicht, s. E. Güttgemanns, Im welchem Sinne ist Lukas „Historiker"?, LingBibl Nr. 54 (1983), 9 - 2 6 , bes.lOf. Die Tradition und ihre Deutung soll der Orientierung des Glaubens in der Geschichte und nicht ihrer Begründung dienen. - Ähnlich kritisch hat auch E. Gräßer die lukanische Verlängerung der Perspektive der Kirche gesehen: Problem 215. 57 J.B. Soucek in der Besprechung von Conzelmann (Mitte der Zeit) in Theologická priloha Krestanské revue 23 (1956), 2 3 - 2 6 . 58 Talbert meint, Lukas habe sein Werk als Abwehr der doketischen Häresie des Gnostikers Kerinth geschrieben: Antidoketishe Frontstellung 377; Luke and the Gnostics 31ff. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dies einer der Gründe fiir die Abfassung seines Werkes war, aber es stand nicht im Vordergrund und es ist nicht eindeutig nachweisbar. 59 Siehe bes. Bovon, Luc le théologien 423ff.
D i e literarische G a t t u n g
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rischen Formen definieren, die für seine Einarbeitung in ein größeres Ganzes (Makrotext) zur Verfügung stehen. 60 Bei einer solchen Bearbeitung in ein größeres Ganzes gibt es meistens mehrere Möglichkeiten der Gestaltung und ihre Wahl hängt in hohem Maß von der Entscheidung des Endredaktors (Verfassers), in unserem Fall des „Lukas", ab. Für die Bestimmung der Gattung ist es wichtig, die Einheitlichkeit der Struktur des lukanischen Doppelwerkes vor Augen zu haben, 61 dessen Prolog in Lk 1,1—4 offensichtlich beiden Büchern gilt. 62 Sollte er sich nur auf das Lukasevangelium beziehen, könnte der Verfasser nicht sagen, daß es sich um Dinge handelt, „die unter uns zur Erfüllung gelangt sind" (1,1), d.h. vor allem um die Heidenmission. 6 3 Lukas hat also die beiden Bücher als eine Erzählung ( δ ι ή γ η σ ι ς - Lk 1,1) über die Worte und Taten Jesu konzipiert, und zwar unbeachtet dessen, daß er zur Abfassung der Apostelgeschichte erst nach einem Zeitabstand kam, und dies Buch mit erneuerter Widmung und mit einem ausdrücklichen Hinweis auf das erste Buch, das nur den Anfang der Tätigkeit Jesu schildert, eröffnen mußte (Act 1,1). 64 Für einen Zeitabstand in der Abfassung beider Bücher sprechen einige Unterschiede in der Sprache 65 und die unterschiedliche Darstellung der sich überdeckenden 60 Daß die Struktur nicht ein Ergebnis der Gliederung eines Ganzen ist, sondern vor allem ihr Prinzip, hat C.Lévi-Strauss demonstriert: Anthropologie structurale deux, Paris 1973, 83-102. 61 Zu diesem Problem s. Marshall, Former Treatise 163ff. und M.C. Parsons - R.I. Pervo, Rethinking the Unity of Luke and Acts, Minneapolis, M N 1993, bes.l 15ff. Den Einwand, daß es sich um zwei Schriften verschidener literarischer Gattungen handelt, entkräftigen sie mit Recht durch Hinweis auf Josephus, der Schriften verschiedener Art schrieb, in denen er sich unterschiedlicher narrativer Strategien bediente (116). 62 W. Schneemelcher hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die anderen (apokryphen) Schriften des urchristlichen Acta-Genres anders, d.h. nicht als Fortsetzung eines Evangeliums, konzipiert sind: Die Apostelgeschichte des Lukas und die Acta Pauli, in: Apophoreta (FS E. Haenchen), Berlin 1964, 236-250. 63 Die These, daß sich der Prolog in Lk 1,1-4 auf die beiden Schriften (ursprünglich zwei Rollen, zwei „Bücher") bezieht, hat in der Forschungsgeschichte breite (E. J. Goodspeed, K. Lake, E. Meyer, H. Sahlin, L. Cerfaux, J. Dupont, E. Trocmé, zuletzt Korn /Geschichte 20—31/), wenn auch nicht einstimmige Unterstützung gewonnen. Gegen die Annahme des gemeinsamen Prologs argumentieren: Haenchen, Apostelgeschichte 113.115; Kümmel, Einleitung 98ff.; Schweizer, Lukas 12 u.a. Haenchens Argument, wonach die historischen Werke keinen Prolog hatten, wurde öfter durch Hinweis auf den Prolog von Arrians Anabasis (1,1, praef.) in Frage gestellt. - Die Identität des Verfassers beider Teile wird von den meisten Forschem (s. z.B. Foakes-Jackson und Lake, Beginnings 2,207) bis zu den neuesten Kommentaren (z.B. Wiefel, Lukas 1) anerkannt. 64 Es ist wenig wahrscheinlich, daß die Apostelgeschichte früher als das Lukasevangelium geschrieben wurde und daß Act 1,1 f. später hinzukam. 65 Einige Forscher haben gerade diese Unterschiede als Beweis für die Abfassung der Bücher an Theophilus durch zwei verschiedene Autoren interpretiert, z.B. A.W. Argyle, The Greek of Luke and Acts, N T S 20 (1973-74), 441—445. Literarische Unterschiede hat auch J. Dawsey festgestellt (The Literary Unity of Luke - Acts. Questions of Style - a Task for Literary Critics, N T S 35 /1989/, 48-66). Die Unterschiede hängen jedoch mit der DifFe-
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Herkunft und Bedeutung
Zeitabschnitte (Lk 24,47-53 u. Act 1,4-11), besonders der Himmelfahrt Jesu (Lk 24,50ff. - 3.Tag; Act 1,3.9-11, vgl. 13,31 - später). Diese Unterschiede, die als Ergebnis einer narrativen Neuakzentuierung (die auch in mehrteiligen literarischen Werken der Neuzeit vorkommt) erklärbar sind, können auch als Argument gegen einen gemeinsamen Entwurf beider Bücher an Theophilus benutzt werden.66 In dem theologisch Entscheidenden sind jedoch die doppelt erzählten Abschnitte einig: Der Auferstandene bestätigt seine Identität mit dem irdischen Jesus (Lk 24,47; Act 1,3b), beruft die Jünger zu seinen Zeugen (Lk 24,48; Act 1,8b), verspricht ihnen die Gabe des Heiligen Geistes (Lk 24,49; Act 1,8a) und wird in den Himmel entrückt (Lk 24,51; Act l,2b.9). Seitdem ist Jesus nicht mehr auf der Erde zu finden, wenn auch im Ereignis des gemeinsamen Gebets und Brotbrechens, in der Diakonie und in der Mission die Zeit seiner Anwesenheit konkret aktualisiert wird (Lk 24,31; vgl. § 2.7.3). Vor allem die spezifisch lukanische Rolle der Zahl 40, die besonders in der Apostelgeschichte hervortritt, hat zur unterschiedlichen Gestaltung der Zeit zwischen Auferstehung und Himmelfahrt in der Apostelgeschichte beigetragen. Lukas erwähnt öfter die mit der Zahl 40 charakterisierten Perioden, um die ausreichende Möglichkeit der Verifizierung zu unterstreichen (Act 4,22; 7,23.30.36.42; 13,21; vgl. Lk 4,2), ähnlich wie die Zahl Vier bei ihm die Vollkommenheit oder Universalität betont (Act 10,11; 11,5; 12,4; 21,9.23; 27,29). Da das Lukasevangelium nur den Anfang der Worte und Taten Jesu schildert (Act 1,1), muß die Apostelgeschichte eine Schilderung dessen sein, was Jesus nach der Auferstehung als der im Himmel („oben") weilende Herr in der Kraft des Geistes (durch seine Zeugen) getan hat.67 Das lukanische Doppelwerk ist also wirklich als ein Ganzes konzipiert. Es ist ein spezifisches literarisches Gebilde68: Zwei Bücher verschiedener Gattung sind hier zu einem größeren Ganzen durch eine gemeinsame Schlüsselgestalt verbunden. In dem zweiten Buch ist sie zwar kein literarischer Protagonist. Das sind renz der literarischen Formen der beiden Teile zusammen und z.T. lassen sie sich durch die Zeitspanne erklären, nach welcher Lukas die Apostelgeschichte schreiben konnte. Vor der Kanonisierung müssen wir auch mit midraschartigen Redaktionen rechnen, wie sie im Kodex Bezae (D) belegt ist. 66 Siehe z.B. Kümmel, Einleitung 98ff., oder Fitzmyer, Luke - the Theologian 221. G. Lohfink hat die lukanische Herkunft beider Himmelfahrtserzählungen (Himmelfahrt 243f.) und ihre verschiedene Funktionen im Rahmen des Doppelwerkes (Himmelfahrt 25 IfF.) nachgewiesen. Die Spannung wird beseitigt, wenn wir in Luk. 24,51 die kürzere Lesung bevorzugen (κ, D usw.), die jedoch eine sekundäre Harmonisierung bedeuten kann. 67 Korn, Geschichte 13.31.213; zur Jesu Wirkung durch den Geist s. E.E. Ellis, The Role of the Christian Prophet in Acts, zuletzt in: ders., Prophecy and Hermeneutic in Early Christianity. Grand Rapids, MI 1980, 129-144, bes. 144. 68 Siehe I.H. Marshall, Former Treatise 180: „a new type of work, of which it is the only example". Daß Lk-Act ein einheitlich konzipiertes zweigliedriges Werk ist, belegt zuletzt T. Bergholz, Der Aufbau des lukanischen Doppelwerkes (EHS.T 545), Frankfurt/M. etc. 1995, bes. 61ff.
Die literarische Gattung
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Petrus und Paulus. Sie wirken jedoch im Namen Jesu, was theologisch durch seinen Tod und seine Himmelfahrt (nach der Auferstehung) bedingt ist. Jesus wirkt da als der himmlische Herr (κύριος) durch seine Zeugen, die einen weltumfassenden Missionsauftrag erhalten haben (Act 1,8), die seine ReichGottes-Verkündigung weiter tragen (Act 28,23.31), in seinem Namen Heilungen vollbringen (Act 3,6; 16,18 u.a.) und nach seinen Weisungen handeln (13,47 vgl. I6,9f.). Das „Wort" zieht in der Apostelgeschichte siegreich durch die bewohnte Erde, bis es Rom erobert, von wo nach der damaligen Propaganda die Welt regiert wurde (§ 3.6) und von wo der Weg an das „Ende der Welt" schon offen ist. Von dem Märtyrertod des Paulus wird schon nicht mehr berichtet, wenn er auch dem Verfasser bekannt sein mußte (Act 20,25, vgl. Piaton, Phaid. 117d). Wenn wir uns in die Erzählung über Paulus einlesen, scheint es ein abrupter Schluß zu sein. Sobald wir jedoch bedenken, daß es sich hier um die Geschichte von (dem auferstandenen) Jesus handelt, dessen Botschaft zuletzt auch in Rom frei erklingt (Act 28,31) und sich dadurch mächtiger als die Throne der Gewaltigen erweist (vgl. Lk 1,52), ist es logisch: Nicht Paulus, sondern Jesus ist die Hauptperson von Lk 1 bis Act 28. Die zwei Weisen der Wirkung Jesu sind für die Charakteristik der spezifischen Gattung des Doppelwerkes entscheidend. Interessant ist es, die Erzähltechnik (franz. mode narrative) der beiden Bücher zu untersuchen: wie sich die Zeit der Erzählung zur Zeit des Erzählten verhält,69 wie die Vergangenheit evoziert und die Zukunft vorweggenommen wird oder was von dem Verhältnis des Erzählers zu seinen „Helden" (narrative Perspektive)70 und zu seinen Lesern (engl, reader response criticism) gesagt werden kann, bzw. dazu, wie sich die prophetische Sprache der Jesustradition von der eher „liturgischen" Sprache (siehe δοξάζειν in Lk 2,20; 5,25.26; 7,16; 13,13; 17,15; 18,43; 23,47) des Erzählers unterscheidet. 71 Wir sehen z.B., daß die wiederholten Geschichten (z.B. die Bekehrung des Paulus) eine Schlüsselrolle spielen und dem Leser zum besseren Verständnis des Berichteten dienen.72 Eine ähnlich leserorientierte Funktion besitzen z.B. der innere Monolog (z.B. Lk 12,17—19, s. § 4.4.3), die meisterhafte Bildung bzw. Neugestaltung der aus den Quellen übernommenen anschaulichen Szenen (z.B. Lk 24,29), welche einige theologische GrundgeE. Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1968 (3. Aufl.), 22f. S. dazu G. Genette, Discours du récit. Figures III, Paris 1972, 203ff. 71 Dawsey, Lukan Voice 4Iff. vgl. Α. George, Études sur l'oeuvre de Luc, Paris 1978, 402ff. 72 Dauer, Beobachtungen I48f.; S. Sabugal, Analisis exegético sobre la conversión de San Pablo, Barcelona 1 9 7 6 (mir nur durch die Rez. von W. Wiefel i n T h L Z 103 ( 1 9 7 8 ) 1 8 5 - 1 8 8 zugänglich); Ch. Hedrick, Paul's Conversion/Call: A Comparative Analysis of the Three Reports in Acts, J B L 100 ( 1 9 8 1 ) , 4 1 5 ^ 3 2 , bes. 431f.; R.D. Witherup, Functional Redundancy in the Acts of the Apostels: A Case Study, J S N T Nr. 48 ( 1 9 9 2 ) , 6 7 - 8 6 . 69 70
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Herkunft und Bedeutung
danken des Lukas symbolisch oder auf „einer zweiten Ebene" mit künstlerischer Uberzeugungskraft ausdrücken oder andeuten (s. z.B. die §§ 2.5; 2.7.7; 3.5; 4.3.1; 4.4). Das alles reicht weit über die übliche Technik der rhetorischen Schulübungen (Chrien) hinaus und gehört zur lukanischen Erzählkunst. Die wiederholten Geschichten sind ein Teil der umfassenden literarischen Absicht, die u.a. in der Strukturierung des Textes mit Hilfe der wiederkehrenden Themen zu erkennen ist, so beginnt und endet z.B. das Lukasevangelium im Jerusalemer Tempel (l,9f.; 24,53). 73 Die Änderung dieses Schemas kann jedoch absichtlich die Offenheit des ganzen Geschehens andeuten: Die Apostelgeschichte fängt in Jerusalem an, endet aber in Rom (§ 3.6). Diese Fähigkeit, das Theologische mit relativ einfachen literarischen Mitteln auszudrücken, ist die starke Seite von Lukas, die man kaum überschätzen kann. Lukas bildet jedoch keine nur fiktiven Erzählungen. Durch die Bezeichnung seines Werkes als Erzählung (διήγησις) distanziert es sich von den Gattungen, die auf Nachahmung (μίμησις) gegründet sind (s. Piaton, rep. 392d fif.). Die Erzählungen wollen doch im Grunde Berichte sein, wenn sie auch immer eine pädagogische Stilisierung und Auswahl des Berichteten enthalten, wie es schon in Lk l,3f. angedeutet ist. So dient z.B. in Act 20,17-35 die Rede des Paulus der Ermahnung der ursprünglichen Leser der Apostelgeschichte (engl, authorial readers) und ihrer Warnung vor einer die Kirche spaltenden esoterischen Strömung. Eine zweite Ebene, auf der sich der Verfasser von den Lesern distanziert, um sie zur Änderung ihrer Meinung zu fuhren (so J.M. Dawsey),74 kann nicht nachgewiesen werden. Da der Erzähler ein „idealer Zeuge" sein will,75 soll seine Theologie die Leser direkt beeinflussen. Die literarischen Abhandlungen über Lukas unterschätzen leider seine theologische Leistung. Leider, denn die theologische Deutung der unterschiedlichen Rolle Jesu in den beiden Büchern ist auch fur die Deutung der literarischen Struktur entscheidend. Der Weg Jesu führt im lukanischen Doppelwerk über die Kreuzigung zur Eroberung der ganzen Welt durch das „Wort". Auch seine Eroberung der Welt trägt jedoch die Spuren seiner Kreuzigung: sie geschieht durch seine leidenden Zeugen. Das lukanische Doppelwerk unterscheidet sich also von den historischen Schriften seiner Zeit, mit denen es so vieles gemeinsam hat. Es unterscheidet sich schon rein äußerlich durch die merkwürdige Bindung
73 M.C. Parsons, Narrative Closure and Openness in the Plot of the Third Gospel: The Sense of an Ending in Luke 24:50-53, SBL Seminar Papers 25, Atlanta GA 1986, 201-223, bes. 206. 219. 74 Dawsey, Lukan Voice 147; zur Kritik J.A. Darr, Discerning the Lukan Voice: The Narrator as Character in Luke - Acts, SBL Seminar Papers 31, Atlanta GA 1992, 255-265, bes. 257. 75 Darr, Discerning (s. Anm. 74) 264.
Die literarische Gattung
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der Apostelgeschichte an die Geschichte Jesu, so daß wir Lukas wirklich fur den Historiker sui generis halten müssen.76 Wie in mehreren historischen Werken der Antike, lenken auch bei Lukas das „Muß" (δει) oder der Ratschluß Gottes (βουλή του θεού) die menschlichen Taten und dienen ihrer Interpretation (s.u. § 3.1.3, vgl. z.B. Polyb. hist. 7 , 9 , 1 2 - 1 4 ) . In der Antike war es jedoch nicht üblich, daß der Wille Gottes ein konkretes geschichtliches (kein mythisches, zeitloses) Urbild hat wie in der Apostelgeschichte, wo er mit der durch Jesus verkündigten Botschaft und Lehre identisch ist (Act 22,l4f.). Die unterschiedliche Rolle Jesu in den beiden Büchern wird auf dem Hintergrund des gemeinsamen Motivs des von Gott geplanten Weges, das das Evangelium und die Apostelgeschichte verbindet, 77 nur noch deutlicher. An dem abrupten Schluß der Apostelgeschichte haben wir schon demonstriert, daß Jesus der verborgene Hauptakteur der Apostelgeschichte ist. Das ist also der Rahmen, in den Lukas sein mit Bemühen um an antiken Maßstäben gemessene historische Verläßlichkeit gesammeltes Material gesetzt hat. 78 Das Werk des Lukas gehört kaum zur Gattung der Biographie,79 wenn es auch mit ihr viel Gemeinsames hat, einschließlich des Motivs der Parallelisierung der Geschichte von Jesus, Petrus, Stephanus und Paulus, welche an die beliebten Parallel-Biographien erinnert. 80 Ein Roman (so nennen wir die fiktiven abenteuerlichen Geschichten aus der Spätantike) ist das lukanische Werk auch nicht, wenn es auch einige Züge mit der Romanliteratur gemeinsam hat (§ 2.7.8). 8 1 76 Sázava, Lukas 29; Radi, Lukas-Evangelium 4 9 - 5 2 ; die Parallelen zur Geschichtsschreibung heben auch D.W. Palmer, Acts and the Ancient Historical Monograph, in: Winter Clarke, Acts 1 - 2 9 , und Β.S. Rosner, Acts and Biblical History, ebd. 6 5 - 8 2 (Apg. als Fortsetzung der LXX-Tradition), hervor. Johnson (Acts 3) macht auf die einheitliche Nacherzählung der Quellen aufmerksam.
Tannehill, Narrative Unity II, 23. W i e Lukas mit den Mitteln der antiken Historiographie arbeitete, hat van Unnik (Luke's second Book) geschildert, wobei er die rhetorischen Mittel unterstrichen hat (46f. 52fF.); s. auch Hemer, Acts 308ff. oder F. Veltman, T h e Defence Speeches o f Paul in Acts, S B L Seminar Papers 11 (1977), 2 3 5 - 3 3 9 , bes. 332f. Hengel, Geschichtsschreibung 55f., betont die relative Vertrauenswürdigkeit. 79 Zu den Parallelen mit der Biographie vgl. L. Alexander, Acts and Ancient Intellectual Biography, in Winter/Clarke, Acts 3 1 - 6 3 , bes. 34; R.A. Burridge, W h a t are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography ( S N T S M S 70), Cambridge 1991, passim; zu seiner Kritik: C h . H . Talbert in J B L 112 ( 1 9 9 3 ) 7 l 4 f . Noch weniger stimmen die Parallelen mit den sog. Aretalogien, wie sie M . Hadas und M . Smith suchen: Heroes and Gods. Spiritual Biographies in Antiquity, Freeport, NY, 1970 (2. Aufl.), 6 l f f . 77 78
80 Radi, Paulus und Jesus 352ff. Über die Verbindung des Werkes des Meisters und seiner einzelnen Schüler, wie wir es z.B. bei Diogenes Laertius (vitae) lesen, s. Talbert, Patterns 125ff. Dort handelt es sich jedoch nur um die Entfaltung der Lehre, nicht um das Wirken in der Macht des Lehrers wie in der Apostelgeschichte. 81 Zur Gattung Roman gehört die Apostelgeschichte nach R. Pervo, Profit with Delight:
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Herkunft und Bedeutung
Es ist klar, daß im Lukasevangelium, das die Grundlage des Doppelwerkes bildet, Lukas den Aufriß des Markusevangeliums übernommen hat, welches noch weniger zur Gattung Biographie paßt als das Lukasevangelium. Uber die Gestalt des lukanischen Werkes können wir also durch den Vergleich mit Markus viel lernen. Das Markusevangelium soll „der Anfang des Evangeliums" sein (Mk 1,1). Den Begriff εύαγγέλιον hat man damals noch nicht als Bezeichnung fur ein Buch benutzt, sondern ftir die christliche Verkündigung, besonders für die Auferstehungsbotschaft (s. das εύαγγέλιον in IThess 1,5-10; IKor 15,1-5; Rom 1,1—4). Das Markusevangelium wurde also entweder (a) als eine narrative Gestalt der Osterbotschaft aufgefaßt mit ihrer Vorgeschichte im Auftreten Johannes des Täufers, auf welche sich dann der Satz in Mk 1,1 bezieht, oder man hat (b) das ganze Buch als den ,.Anfang des Evangeliums" begriffen. 82 Gegen die zweite Möglichkeit sprechen die Belege aus der griechischen Literatur, wo sich die Worte vom Anfang als Eröffnung eines Buches meistens wirklich nur auf den ersten Abschnitt beziehen,83 für sie spricht jedoch die Tatsache, daß in den meisten alten Handschriften (Ν, Β u.a.) das Markusevangelium mit Mk 16,8 endet, d.h. praktisch mit dem Kerygma über die Auferstehung des gekreuzigten und ins Grab gelegten Jesus (16,6f. vgl. mit IKor 15,3b-5), wobei sogar die Zeugen, denen Jesus nach der Auferstehung erschienen ist, dieselben sind (Petrus und die Zwölf - vgl. IKor 15,5 mit Mk 16,7). Das Markusevangelium gipfelt also in der Osterbotschaft, die Paulus als das Evangelium kennt, und zwar in einer Gestalt, die der Pistisformel aus IKor 15,3b—5 verwandt sein mußte. Diese Theorie wird durch den ersten Vers der Apostelgeschichte unterstützt, wonach das erste dem Theophilus gewidmete Buch, d.h. das Lukasevangelium, dem .Anfang" der Tätigkeit Jesu gewidmet ist („was er begonnen hat /ήρξατο/ zu tun und zu lehren" Act 1,1), der danach das ganze irdische Leben Jesus umfaßt und bis zur Himmelfahrt reicht. Das Wort vom Anfang in M k 1,1 bezieht sich also eher auf das ganze Buch und Lukas ließ sich in der Auffassung seines ganzen Werkes durch Markus inspirieren.84 Die Apostelgeschichte müssen wir dann als eine den „ A n f a n g " sukzessiv („der Reihe nach" - Lk 1,3) entfaltende Fortsetzung begreifen,85 in der der T h e Literary Genre of the Acts of the Apostles, Philadelphia, PA, 1987, bes. 115ff., zur Kritik dieser Hypothese Wills, Depiction of Jews 648ff. 8 2 Ρ Pokorny, „Anfang des Evangeliums", in: Die Kirche des Anfangs (FS Η . Schürmann), Leipzig 1977, 1 1 5 - 1 2 9 vgl. D . Dormeyer ( - H . Frankenmölle), Evangelium als literarische Gattung und als theologischer Begriff, in: A N R W W 1,25,2, Berlin/New York 1984, 1 5 4 3 - 1 7 0 4 , bes,1582f. 83 G.Arnold, M k 1,1 und Eröffnungswendungen in griechischen und lateinischen Schriften, Z N W 68 (1977), 1 2 3 - 1 2 7 . 84 P. Pokorny, Zur Entstehung der Evangelien, N T S 32 (1986), 3 9 3 ^ 0 3 , bes. 400f. 85 S. Brown, T h e Prologue of Luke-Acts in Their Relation to the Purpose of the Author, S B L Seminar Papers II, Missoula/MT, 1975, 1 - 7 4 .
Die Gliederung
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Protagonist des ersten Buches als der Erhöhte auf neue Weise zu wirken beginnt. Das wird in Act 1,1 vorausgesetzt. Beide Teile dienen der Belehrung (κατηχεχν - Lk 1,4), wenn es auch noch keine institutionelle Katechese war. Die Gestalt des Prologs impliziert auch, daß die beiden Bücher nicht nur zum Vorlesen bei den gottesdienstlichen Versammlungen bestimmt waren, sondern auch zur privaten Lektüre.86
1.7 Die Gliederung Das lukanische Werk ist mit Hilfe des theologisch verwendeten Motivs des Weges gegliedert.87 Die Versuche, die lukanischen Schriften rein literarisch zu gliedern, haben zu divergierenden Ergebnissen geführt, 88 weshalb wir lieber nur von dem Motiv des Weges sprechen, dessen Funktion theologisch zu bestimmen ist. Wir gehen von der Zweiteilung des ganzen Werkes aus (Evangelium und Apostelgeschichte, s.o. § 1.5), die sich von der dreiteiligen Gliederung von Conzelmann 89 unterscheidet (§ 3.1.1). Wie wir sehen werden, konzentriert sich Lukas nur auf das Auftreten Jesu (= die Conzelmannsche „Mitte") als die Vollendung der Geschichte Israels und auf die erste, ideale Antwort in der Entstehung der Kirche. Anders gesagt: Die zwei Etappen sind der irdische Anfang des Wirkens Jesu und die Wirkung Jesu im Heiligen Geist, die ihren Anfang in Act 2 hat (§ 2.7.4). Das Lukasevangelium: Der erste Teil (I: 1 , 6 - 4 , 1 3 ) fängt nach dem Prolog (1,1-4) mit der Vorgeschichte an, die alles das zusammenfaßt, was vor dem öffentlichen Auftreten Jesu passierte: Zacharias geht nach Jerusalem und erfährt dort von der Geburt seines Sohnes, Maria geht nach Bethlehem, um Elisabeth, die Frau des Zacharias, zu begrüßen (1,39) und um nach drei Monaten zurückzukehren (1,56), um daraufhin bald wieder nach Bethlehem gehen zu müssen, diesmal um dort Jesus zu gebären (2,4f.). Sobald er 86 Zum Text des Lukas siehe vor allem die bisher unvollendete Ausgabe im Rahmen des International Greek New Testament Project, zur Textgeschichte der lukanischen Schriften Metzger, Textual Commentary. 87 Siehe F.V. Filson, The Journey Motif in Luke-Acts, in: Apostolic History and the Gospel (FS F.F. Bruce), Exeter 1979, 68-77, bes.74. 88 Vgl. R.Meynet, L'Évangile selon Saint Luc. Analyse rhétorique I-II, Paris 1988 mit J.N. Aletti, L'art de raconter Jesus Christ. L'ecriture narrative de l'évangile de Luc (Parole de Dieu), Paris 1989 und s. auch F. Bovon, Studies in Luke Acts: Retrospect and Prospect, H T R 85 (1992), 175-196, dort 186f. Aus den älteren Arbeiten ist vor allem die Studie von Q.M. Morton - G.H.C. Macgregor, The Structure of Luke and Acts, London 1964, von Bedeutung. 89 Conzelmann, Mitte 140. Eine dreiteilige Gliederung, nach der Lk 3,21-19,48 den mittleren Teil bildet, bietet Diefenbach, Komposition 47ff.
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Herkunft und Bedeutung
auf die Welt kommt, kommen die Hirten nach Bethlehem, weil sie von dem Engel wissen, wer das neugeborene Kind ist: der Messias Israels, der allen Menschen das Wohlgefallen Gottes vermittelt. Dann geht Maria nach Jerusalem, wo ihr Sohn im Tempel Gott, dem Herrn, dargestellt wird, und bald danach geht die heilige Familie nach Nazareth zurück. Als Zwölfjähriger geht Jesus mit seinen Eltern wieder nach Jerusalem (2,41 f.) und zurück (2,51), wobei die zwei Seiten seines Dienstes deutlich werden: Er ist seinen Eltern Untertan und doch muß er in der Welt seines himmlischen Vaters sein (2,49.51). Im dritten Kapitel taucht Johannes der Täufer auf. Er zieht durch das ganze Jordanland (3,3) und tauft auch Jesus, der dann in die Wüste geführt wird (4,1) und nach der Uberwindung der Versuchungen des Teufels nach Galiläa zurückkehrt. Damit endet die Vorgeschichte, in der Bethlehem und Jerusalem auf der einen und die Wüste um den Jordan auf der anderen Seite die zwei Brennpunkte der Bewegung sind. 90 Der erste Teil kann noch weiter gegliedert werden, und zwar in das, was vor der Geburt Jesu (1,5-80), in seiner Kindheit (2,1-52 - hier begegnen wir der ersten Synchronisierung mit der Weltgeschichte in 2,1-2) und vor seinem öffentlichen Auftreten passierte (3,1—4,13 - mit der zweiten Synchronisierung in 3,1-2). Da jedoch im ganzen ersten Teil Jesus nicht öffentlich redet und als Glied des jüdischen Volkes neben Propheten (Johannes der Täufer, Simeon und Hanna) und dem Priester Zacharias auftritt, was aus christlicher Sicht typische Personen des „alten Bundes" sind, scheint der erste Teil als ein Ganzes konzipiert zu sein. Die zur Psalmentradition gehörenden Hymnen und die zahlreichen alttestamentlichen Zitate, die in der Disputation mit dem Teufel eine entscheidende Rolle spielen, bestätigen diesen Schluß. Der Abschnitt endet mit der Taufe Jesu durch Johannes, bei der Jesus von Gott selbst als sein „geliebter Sohn" bezeichnet wird (3,22), und mit seiner Genealogie, wo er als der wahre Nachkomme vom „Adam Gottes" bezeichnet wird (3,38), während im Matthäusevangelium die Genealogie Jesu nur bis Abraham (Mt 1,2) geht. Es ist also klar, daß Lukas Jesus, den Sohn Gottes, nicht nur als den wahren Juden und als den Messias seines Volkes präsentieren will, sondern vor allem als den wahren Menschen überhaupt. Wegen der Verbindung mit dem „Adam Gottes" mußten die hellenistischen Leser Jesus als Heros mit göttlichen Urahnen vernehmen, für Lukas waren alle Menschen entfremdete und verlorene Kinder Gottes (Act 17,28f.; § 4.3.1). Die Gottessohnschaft Jesu wird vor allem durch die Erzählung über die Wirkung des Heiligen Geistes ausgedrückt, welcher die Schwangerschaft Marias herbeigeführt hat (1,35), was sich in dem Stammbaum Jesu in dem Satz „und er wurde gehalten (ένομίζετο) für einen Sohn Josefs" (3,23) widerspiegelt. Jesus hört die Botschaft von seiner Gottessohnschaft bei der Taufe (3,22) und als der Sohn Gottes wird er den Versuchungen ausgesetzt 50
Conzelmann, Mitte 12ff. 66ff.
Die Gliederung
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(4,3.9). So hängt der erste Teil theologisch zusammen. Die ganze Vorgeschichte Jesu, wie sie in der Zeit von Lukas in einigen Kreisen der Kirche schon verankert war, deutet an, daß in der wehrlosen Menschlichkeit Jesu die rettende Macht Gottes in die Geschichte eingreift. Das hat Lukas zum Vorzeichen der ganzen Geschichte Jesu gemacht. Symbolisch stellt dies das Bild der himmlischen Scharen dar, welche die Geburt des armen Kindes feiern (2,10-14). Der zweite Teil (II: 4,14 - 9 , 5 0 ) konzentriert sich vor allem auf die Frage der Messianität Jesu. Seine Tätigkeit wird zunächst allgemein als Predigen in den Synagogen charakterisiert, bei dem Jesus gepriesen wird (4,14—15), gleich danach jedoch, wenn er in Nazareth seine programmatische Predigt über Jes 6 l , l - 2 a vorträgt, versuchen die Bewohner seiner Heimatstadt, ihn zu ermorden (4,16-30). Sie sind zwar nicht fähig, ihn zu ergreifen, da ihn auf seinem Weg keine menschliche Macht aufhalten kann (vgl. 4,30), aber es wird schon jetzt deutlich, daß sein Weg mit dem Risiko des Todes verbunden ist. Das gilt auch für seine Zeugen, und das Motiv der tödlichen Bedrohung gehört, zusammen mit dem Motiv der Spaltung Israels, zu den Mitteln lukanischer biographisch-historiographisch übergreifender Komposition der beiden Bücher des Doppelwerkes. 91 Er wandert in Galiläa und Judäa (4,44) und die Frage nach seiner Identität (das Motiv des Anagnorismus) spitzt sich zu: Auf der einen Seite wird von seinen Machttaten und Wundern berichtet (7,1 beginnt ein Unterabschnitt), die in der Heilung des halbtoten Sklaven des Hauptmanns zu Kapharnaum (7,2), der Erweckung des toten Sohnes der Witwe aus Nain (7,12) und der toten Tochter des Jairus (8,42.53) gipfeln, auf der anderen Seite tritt seine Lehre hervor, die sich auf die Reich-Gottes-Verkündigung konzentriert und in der Verheißung des Reiches Gottes an die Armen in der Feldrede (6,20) gipfelt. Das alles wird in der Antwort auf die Frage der Jünger des Johannes des Täufers in Lk 7,22f. (Q) zusammengefaßt. Die Antwort begründet die Vollmacht Jesu, die Sünder anzunehmen und die Sünden zu vergeben, wie es in der Perikope über die Sünderin anschaulich dargestellt wird (7,36-50), die Lukas aus seiner Quelle in den markinischen Kontext eingeschoben hat. Im Lichte seiner Antwort an Johannes den Täufer wird auch seine Autorität zur Berufung der Jünger (5,1-11) und zu ihrer Aussendung (9,1-6 - Aussendung der Zwölf) begreiflich. Der Abschnitt gipfelt im Bekenntnis des Petrus, in dem die Messianität Jesu seitens der Jünger bestätigt wird (9,20). Im Unterschied zu Markus wird Petrus danach nicht als Teufel gerügt (s. M k 8,33), denn bei Lukas will er Jesus nicht vom Weg nach Jerusalem (und vom Leiden) abraten. Gleich danach folgt, wie bei Markus, eine ausdrückliche Leidensankündigung, wobei jetzt klar wird, daß auch der Weg seiner Jünger mit Leiden H.-J. Hauser hat auf die analogen Züge von Lk 4,14—44 und Act 2 8 , 1 6 - 3 1 aufmerksam gemacht: Strukturen der Abschlußerzählung der Apg (AB 86), Rom 1979, l 6 5 f . 91
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verbunden ist: „Wenn einer mir nachgehen will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (9,23 — § 2.7.3; § 4.3.3). Zudem wird auch klar, warum die Hoffnung der Menschen von ihrem Verhältnis zu Jesus abhängt (9,26 vgl. 12,8f.). Bei der nachfolgenden Verklärung wird das Bild des leidenden Messias (9,31) vom Himmel her bestätigt (9,35). Da sein Weg nach Jerusalem ans Kreuz und zur Himmelfahrt als Exodus (έξοδος - 9,31) bezeichnet wird, sehen hier mehrere Exegeten den Schlüssel zur Auffassung des Lukasevangeliums als des neuen Exodus.92 Die übrigen Perikopen sollen die Hauptaussagen dieses Abschnittes explizieren. Mit dem Spruch über den fremden Exorzisten (9,49-50) endet der zweite Teil und gleichzeitig ein großer Abschnitt, in welchem Lukas dem Markusstofif gefolgt ist (8,4-9,50). Die Geschichte vom fremden Exorzisten gewinnt dadurch eine neue, „lukanische" Funktion. Er gehört nicht zu denen, die Jesus nachfolgen und doch „mit ihm" sind. Es gibt also mehr Menschen, die an der Seite Jesu stehen, als seine direkten Jünger — ein Anzeichen der nachösterlichen Situation. Der dritte Teil (III: 9,51-19,27) ist der längste, er ist ungefähr mit dem großen lukanischen Einschub in die markinische Vorlage identisch und ist als der Weg nach Jerusalem konzipiert (9,51 vgl. 19,28). Wie der zweite Teil, so wird auch der dritte mit einer Ablehnung Jesu eröffnet, diesmal in einem samaritanischen Dorf (9,51—55). Jesus will die Ablehnung nicht bestrafen und geht weiter seinen Weg, der ein Weg des Leidens ist. Der Leser weiß jedoch auch, daß es gleichzeitig der Weg zur Himmelfahrt ist (9,51a - άνάλημψις). Seine Erhöhung wird bei Lukas nicht als die andere Seite der Kreuzigung konzipiert, wie es bei Johannes der Fall ist (erhöhen = an das Kreuz und in den Himmel, s. Joh 3,14; 8,28 u.a.), sondern die Himmelfahrt kommt erst einige Zeit nach dem Kreuz und nach der Auferstehung. Der Leser soll jedoch schon wissen, daß der Weg des Protagonisten mit seinem Tod nicht endet und daß er von „oben" her in die Geschichte weiter eingreifen kann. Die zweite Aussendung der Jünger, der Siebzig (10,1-12), die wahrscheinlich schon die Heidenmission vorwegnimmt, ist eng mit dem Bericht über die Rückkehr der Jünger verbunden: Im Namen Jesu überwinden sie Satan und die von ihm beeinflußten Mächte. Betont wird jedoch, daß sie schon jetzt auf der Liste der zum himmlischen Reich Gehörenden stehen und sich an der Hoffnung und Autorität ihres Herrn beteiligen (10,17-20). Der Heilandsruf Jesu (Q) bestätigt seine Verbindung mit dem himmlischen Vater, die auch für andere Menschen ihre Hoffnung bedeutet (10,21-24). Als Deutung des Doppelgebots der Liebe, besonders des Be92
J. Mánek, The New Exodus in th Books of Luke, NovT 2 (1955), 8-23; D.E Moessner, Lord of the Banquet: The Literary and Theological Significance of the Lucan Travel Narrative, Minneapolis, M N 1989, 260 u.a. Es ist wahrscheinlicher, daß έξοδος hier wirklich nur den Tod bedeutet, so Luz, Lukas z. St.
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griffs des Nächsten, erzählt dann Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, in dem Mitleid (10,33) und tätige Hilfe am Mitmenschen eine neue Beziehung — die Beziehung des Nächsten - schaffen (10,36f.; § 5.2.4). Aus dem Kontext ergibt sich (§ 4.4), daß es die Antwort auf die Gnade Gottes ist, die sich dadurch in den zwischenmenschlichen Beziehungen widerspiegelt. Lukas verbindet diese Perikope absichtlich mit der Geschichte von Maria und Martha, in welcher vor dem Aktivismus gewarnt wird, welcher vom Hören des Wortes Jesu nicht bestimmt ist (10,38-42). Das Motiv des Weges nach Jerusalem taucht wieder in 13,22 auf und in 13,31-33 wird der Weg nach Jerusalem neu kommentiert. Es scheint, als ob erst jetzt Jesus den Beschluß gefaßt hätte, nach Jerusalem zu gehen. Er erklärt, daß sein Weg dem göttlichen M u ß (δει) entspricht. In der Mitte des dritten Teiles und praktisch des ganzen Lukasevangeliums steht das 15. Kapitel mit den drei Gleichnissen über das Verlorene, von denen das Gleichnis vom verlorenen Sohn und seinem barmherzigen Vater von Lukas zu einer Zusammenfassung seiner Theologie ausgebaut worden ist (15,11—32; § 4.4). Es ist ein Gleichnis, das als eine Geschichte des Weges gestaltet ist - des Weges des Sohnes in die Welt und (nach einer bitteren Erfahrung) zurück in das väterliche Haus. Wir werden uns mit diesem Gleichnis noch befassen, aber schon jetzt müssen wir auf den Weg des barmherzigen Vaters aufmerksam machen, der dem verlorenen Sohn entgegenläuft (15,20). Die nachfolgenden Geschichten und Sprüche sind z.T. stichwortartig miteinander verbunden (z.B.Lk 16,1-13 93 oder 18,15-30), aber die Geschichten aus dem lukanischen Sondergut prägen den dritten Teil am deutlichsten und machen alle auf die neuen Maßstäbe aufmerksam, die dem Reich Gottes entsprechen und jetzt zur Demut vor Gott (18,9-14) und tätigen Solidarität mit dem Nächsten führen (16,19-31; 18,18-24 vgl. 14,12-23). Eine zusammenfassende Funktion hat auch die Geschichte von Zachäus (19,1—10). Mit dem Gleichnis von den anvertrauten Minen (19,11-27 - Q) wird der dritte Teil abgeschlossen. Das Gleichnis endet mit einer Gerichtsankündigung gegen die Feinde des Königs, wodurch die Rolle der Jerusalemer Gegner Jesu demaskiert wird. 94 Der auffälligste Einschnitt innerhalb des dritten Teiles ist der Neuanfang des Weges nach Jerusalem in 13,31. Deswegen rechnet die Gliederung des Lukasevangeliums manchmal mit fünf in etwa gleichmäßigen Teilen. Der Schlußteil (IV: 19,28-24,54) ist mit Jerusalem und seiner Umgebung verbunden. Er fängt mit Jesu Einzug in Jerusalem an und gipfelt in der Passion und Auferstehung. Einen Einschnitt innerhalb dieses Teiles bildet der Anfang der eigentlichen Leidensgeschichte Jesu in 22,1 und das 24. Ka93 M. Krämer, Der Rätsel der Parabel vom ungerechten Verwalter Luk 16,1-13, Zürich/ Rom 1972, 212ff. 94 Schneider, Lukas.
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Herkunft und Bedeutung
pitel, welches den Tag nach der Auferstehung schildert und als ein Übergang (transitas) zum geplanten zweiten Buch fungiert. Es deckt sich mit der Zeitperiode, mit welcher die Apostelgeschichte anfängt (s. § 1.6). Lk 24,13-35, die Emmausgeschichte, ist wieder eine Geschichte des Weges: Zwei Jünger begegnen dem auferstandenen Jesus, der die Richtung ihres Weges ändert, so daß sie nach Jerusalem zurückkehren. Der auferstandene Jesus wirkt also noch eine kurze Zeit auf der Erde und erst die Himmelfahrt ist seine Erhöhung. Seitdem, bis zur „Zeit der Vollendung", ist er nicht zu sehen und wirkt auf der Erde durch den Heiligen Geist und das apostolische Zeugnis. Die Apostelgeschichte als das zweite Buch an Theophilus besteht aus größeren Uberlieferungsstücken, die Lukas neu interpretiert und nach seinem besten historischen Gewissen zu einem Ganzen zusammengefaßt hat. In dem Aufriß spiegelt sich sowohl seine Theologie als auch seine Vorstellung von dem Verlauf der Ereignisse wider. Das gilt zwar in gewissem Grad auch für das Lukasevangelium, doch hat er dort den Aufriß des Markusevangeliums übernommen. Die literarische und theologische Gestaltung der Apostelgeschichte ist dagegen etwas Neues in der christlichen Literatur. Auch die Apostelgeschichte ist als eine Geschichte des Weges konzipiert, diesmal als die Geschichte des Weges des christlichen Zeugnisses (des „Wortes") von Jerusalem und Judäa her über Samarien bis an das „Ende der Erde" (Act 1,8) - praktisch nach Rom (Act 28). Wir werden noch darüber nachdenken müssen, wie sich das Ende der Erde zu Rom verhält (§ 3.6), aber schon jetzt können wir sagen, daß das Motiv des Weges vor allem theologisch motiviert ist. Historisch hat sich das Christentum in alle Richtungen ausgebreitet und Lukas weiß z.B. von Christen in Ägypten (Act 18,24 u.a. Apollos). Es ist deutlich, daß das Buch in zwei literarische Einheiten zerfällt - in die erste, wo Petrus der bedeutendste Zeuge ist (Act 1-12), und die zweite (1328), die eigentlich eine Paulusgeschichte ist.95 Wie wir jedoch schon gesehen haben (§ 1.6), ist der Weg des „Wortes" bedeutender als die einzelnen Protagonisten. 96 Es ist nämlich nicht nur geographisch, sondern auch theologisch ein Weg in die heidnische Welt, wobei Paulus, wenn er auch der Definition des Apostels nach Act 1,15-26 nicht entspricht, nach 13,47 den apostolischen Auftrag der Mission bis an das „Ende der Erde" übernommen hat. In dem einleitendem Abschnitt (1,1-26) werden zunächst in 1,1-14 noch einmal aus einer anderen Sicht die Ereignisse erzählt, die zwischen der Auferstehung Jesu und seiner Himmelfahrt liegen. Die Ausdehnung jener Zeitperiode auf vierzig Tage, die in Act 1,3 erwähnt sind (s. dazu in § 1.6),
95 56
S. Ph.H. Menoud, Le Plan des Actes des Apotres, NTS 51 (1954-55), 44-51. Roloff, Apostelgeschichte 12f.
Die Gliederung
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unterstreicht die Berechtigung der apostolischen Verkündigung vom Reich Gottes. Sie wird durch den auferstandenen Herrn bestätigt (1,3b). Der zweite Teil der Einleitung (1,15-26) erzählt von der Nachwahl des zwölften Apostels und proklamiert das lukanische Verständnis des Apostolats, das den apostolischen Auftrag so eng wie möglich mit dem irdischen Jesus verbindet. Nur ein Jünger Jesu kann Apostel sein. Dadurch wird auch die Zugehörigkeit der Apostelgeschichte als des „zweiten Berichts" (λόγος Act 1,1) zum Lukasevangelium unterstrichen. Der erste Teil (I: Act 2,1-8,3) schildert die Ausbreitung der Christen in Jerusalem, der zweite (II: 8,4—11,18) die Ausbreitung in Samarien und an der Meeresküste, unter den Samaritanern als Halbjuden und unter den Heiden, die zu den Gottesfürchtigen (äußerer Kreis der Synagoge) gehörten, wobei in beiden Fällen über die neue Geistesgabe fur jede dieser Gruppen berichtet wird: Samariter 8,14-17; gottesfürchtige Heiden 10,44, vgl. 11,15. Der dritte Teil (III: 11,19-15,35) schildert die Mission ausgehend von Antiochien, wobei die Befreiung von Petrus aus der jüdischen Haft den Wendepunkt und das Apostelkonzil in Jerusalem den Abschluß dieser Periode bilden. Sie erklärt die Geistausgießung im Hause des Kornelius als für alle Heiden gültig (15,8f.). Der nachfolgende Teil (IV: 15,36-19,20) schildert die Mission um das Ägäische Meer („das Wort breitete sich aus und wurde mächtig" - 19,20, vgl. 12,24) und der letzte Teil (V: 19,21-28,31) schildert den Weg des Wortes bis nach Rom, wobei Kap. 27 (über die Seereise und den Schiffbruch) eine zweite Ebene hat und den Weg der weltweiten christlichen Gemeinde (der Kirche) charakterisiert (s.u. § 2.7.8). Eine bedeutende Rolle spielt im letzten Teil der Aufenthalt in Jerusalem, wo Paulus in den Spuren Jesu geht. 97 Das Wort erreicht zuletzt sein Ziel (§ 3.6) und die Geschichte vom Weg des Zeugnisses vom Reich Gottes wird fur den Leser zum Zeugnis von der unaufhaltsamen Macht des auferstandenen Jesus, der sich auch im Leiden seiner Zeugen als der Herr der Welt erweist. Sein Wirken ist die eigentliche Mitte des Weltgeschehens, die Welt ist ihm als ihrem Richter verantwortlich und das Heil der Menschen ist in seiner Verkündigung enthalten.
97 R. Morgenthaler (Geschichtsschreibung 1,163) hat die Aufenthalte in Jerusalem und die dazwischenliegenden Reisen für zwei Grundelemente der Gliederung des lukanischen Doppelwerkes gehalten (Jerusalem: Lk 1 , 5 ^ , 1 3 ; 1 9 , 4 5 - 2 4 , 5 3 ; Act 1 , 4 - 7 , 6 0 ; 2 1 , 1 8 26,32; Reisen: Lk 4 , 1 4 - 1 9 , 4 4 ; Act 8 , 1 - 2 1 , 1 7 ; 2 7 , 1 - 2 8 , 3 1 ) .
2. Das Volk Gottes bei Lukas
Die Lukasforschung nach Hans Conzelmann hat immer deutlicher die bedeutende Rolle der lukanischen Ekklesiologie erkannt. Lukas, der in der Zeit der ausbleibenden Parusie gelebt hat und die Geschichte Jesu in einen größeren Zusammenhang setzen wollte, mußte intensiv über die Rolle der Kirche nachdenken, die schon aus der Synagoge herausgedrängt wurde und zumeist aus ehemaligen Heiden und ihren Nachkommen bestand. Lukas hat versucht, diese neue Wirklichkeit theologisch als das Gottgewollte darzustellen und gleichzeitig das Erbe Israels zu bewahren. Um das zu erreichen, mußte er ein neues Gesamtbild entwerfen, was ihm nur in Ansätzen, in einigen Grundtendenzen gelungen ist, die wir in diesem Kapitel interpretierend wiedergeben.
2.1 Das Problem von Israel und Kirche Das Lukasevangelium endet mit den Erscheinungen Jesu nach seiner Auferstehung. In der Art der Darstellung jener Ereignisse spiegelt sich schon die gottesdienstliche Erfahrung der christlichen Gemeinde mit dem auferstandenen Jesus wider. Gleichzeitig wird in der lukanischen Bearbeitung besonders deutlich, wie die Geschichte Jesu samt der Passion und Auferstehung der göttlichen Vorsehung entspricht (§ 3.1.3) und in der jüdischen Bibel (unserem Alten Testament) als die Geschichte des Messias (Christus) verankert ist (Lk 24,26f.). In der Petrusrede in Act 2,14-36 werden auch Verheißungen der Schrift zitiert, welche die Ausgießung des Geistes vorhersagen, und in Act 2,25-28 erfahren wir sogar, an welche Texte der auferstandene Jesus die zwei Jünger in Lk 24 erinnern konnte. Es ist vor allem Ps 16 (15 LXX),8-11 von der Macht Gottes, die den leidenden Gerechten auch im Tode nicht verläßt. Auch der Geist Gottes ist als solcher durch die Schrift: erkennbar. Bei der Deutung der Schrift ergreift nach Lk 24,32 das Feuer (des Geistes s.u. § 2.7.4) die Herzen der Jünger ähnlich wie an Pfingsten nach Act 2,3: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege, als er die Schrift öffnete?". Nach Lukas ist die Geschichte Jesu ohne
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die Schrift nicht verständlich und ohne die Geschichte Jesu wäre die Schrift nicht erfüllt. Die Apostelgeschichte endet mit dem Zeugnis des verhafteten Paulus vor den Vertretern der römischen Juden (28,16-28). Er argumentiert aus dem Gesetz und den Propheten, doch die jüdische Hörerschaft ist gespalten. Paulus macht sie darauf aufmerksam, daß auch ihr Ungehorsam in der Schrift schon vorgesehen ist (28,25fF./Jes 6,9f./vgl. 13,45; 18,6) und proklamiert, daß die Heilsbotschaft, d.h. die Botschaft vom Reich Gottes (28,31), zu den Heiden gesandt ist (28,28, vgl. 13,46; 18,6). Die Christen waren zur Zeit des Lukas aus Israel schon herausgedrängt und Lukas wollte diese ihre Verselbständigung nicht nur als etwas dem Willen Gottes Entsprechendes legitimieren, sondern auch betonen, daß sie in ihrer Sendung doch an Israel als ihre Vergangenheit gebunden sind. Paulus als Jude, der Christ geworden ist, hat die jüdische Auffassung des Gesetzes (der Torah) als Heilsweg abgelehnt und dadurch Voraussetzungen zur Überwindung des Schocks geschaffen, der später mit der Ausstoßung der Christen aus der Synagoge nach dem Jüdischen Krieg kam. Lukas betont die Bindung an Israel als die Wurzel der Kirche und will die Rolle Israels neu interpretieren.1 Diese doppelte Sicht Israels als des Volkes Gottes, dessen Rolle die Kirche übernehmen und zur Vollendung bringen muß und das jedoch gerade deswegen nicht vergessen werden darf, hat sich in der neueren Forschung in Deutungen der lukanischen Auffassung Israels verschieden widergespiegelt, je nachdem, wie die einzelnen Forscher die eine oder die andere Seite der Sache hervorgehoben haben.
2.2 Jesus als Messias Israels Das lukanische Doppelwerk ist für die Heidenchristen zu ihrer Erbauung und Katechese bestimmt und Lukas will ihnen klarmachen, daß das Israel in der von ihm geschilderten Zeit Jesu das legitime Volk Gottes war,2 und daß Jesus der endzeitliche Messias-Prophet aus Dtn 18,19 (Act 3,23) und gleichzeitig der Messias aus dem Hause Davids ist (Lk 1,32; 3 2,4.11.26fif. vgl. 24,21; Act 2,24ff. u.a.). Seine Geburt bedeutet große Freude, „die allem 1 Zur veränderten Perspektive bei Lukas s. Overbeck, Apostelgeschichte LXIV, vgl. Rese, Juden 6 7 u. Brawley. Luke-Acts 83. 97ff. 159 u.a. Brawley unterschätzt jedoch die Irreversibilität des Weges zur Kirche aus Heiden und Juden. 2 F. Bovon, Israel und die Völker im lukanischen Doppelwerk, in: ders., Lukas in neuer Sicht 1 2 0 - 1 3 4 . 3 Siehe Haenchen zu Act 3 , 2 3 und K. Berger, Das Canticum Simeonis (Lk 2 , 2 9 - 3 2 ) , NovT 2 7 (1985), 2 7 - 3 9 , bes. 30ff.
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Das Volk Gottes bei Lukas
Volk" (λαός), d.h. ganz Israel, gilt (Lk 2,10 vgl. 1,68.77; 2,32), und Jesus wird gemäß allen Vorschriften des Gesetzes im Tempel präsentiert (Lk 2,23.24.27.39; s.u. § 2.5). Diese Dimension der lukanischen Theologie wurde oft durch die Betonung eines lukanischen Antijudaismus verdeckt. Und doch erzählt Lukas, wie in den Anfängen der christlichen Mission Tausende von Juden getauft worden sind (Act 2,41; 4,4; 5,14; 6,7; 21,20). Bis zum Ende der Apostelgeschichte wendet sich die Verkündigung des „Wortes" zunächst an Israel4 und die Zeugen Jesu tun nichts gegen die Juden und ihre Sitten (Act 28,17). Paulus wird sogar noch nach seiner Bekehrung als treuer Pharisäer dargestellt (Act 23,6), der wegen der Hoffnung auf die Auferstehung leidet (Act 23,6; 24,15f.; 26,6; 28,20). Ähnlich wie Petrus betritt er in der Regel nur jüdische Häuser oder Häuser der Gottesfürchtigen (Act 9,11; 16,14; 18,2; 21,8.16) 5 , und wenn auch die Apostelgeschichte über die Bekehrung vieler Heiden im Rahmen der paulinischen Mission berichtet (Act 15,19; 21,19 u.a.), wird der Anfang der Heidenmission mit Petrus verbunden (Act 10,1-11,18), einem der Zwölf, welche offensichtlich die zwölf Stämme Israels repräsentieren sollten (Mt 19,28). Was nach Lukas als Erleichterung der jüdischen Pflichten für die Heiden erlaubt ist, sind die Regeln, nach denen die Gottesfürchtigen als der äußere Kreis um die Synagoge lebten (das Heiligkeitsgesetz Lev 17f.). In dieser Weise kann man das Aposteldekret (Act 15,20 u. 29; 21,25b) interpretieren,6 das z.B. das Koscher-Essen (ohne Blut, vgl. Lev 17,10—14) und die Vermeidung der „Unzucht", d.h. Heiraten in den nach Lev 18,6-18 verbotenen Verwandtschaftsgraden voraussetzt.7 In diesem Sinne ist auch das Zeitwort θύειν (töten, ursprünglich opfern) für schlachten bei Lukas als terminus technicus für kultisch (koscher) schlachten zu begreifen: Act 10,13; 11,7 vgl. Lk 22,7, vgl. 15,23.8 Die Vision des Petrus mit dem Befehl „Schlachte (θυσον) und iß!" (Act 10,13) entspricht dem Aposteldekret: Man darf auch das Unreine essen, wenn es koscher geschlachtet ist.9 Für Lukas war dies die konkrete Gestalt der Befreiung vom Gesetz (Act 15,19), die auch einen Schutz gegen den heidnischen Götzendienst bedeutete.10 Nach ihm hat auch Paulus das (zweifelsohne wirklich existierende) Aposteldekret anerkannt (Act 15,12.22. 25; 21,25f.). In Wirklichkeit war Paulus bei der Abfassung dieser Bestim4 E. Haenchen, Judentum und Christentum in der Apostelgeschichte, zuletzt in: ders., Die Bibel 338-374. 5 Zu den Unterschieden im Paulusbild der authentischen paulinischen Briefe und der Apostelgeschichte s. Vielhauer, Paulinismus I4ff. 6 Mánek, Aposteldekret 157; Pesch, Apostelgeschichte z.St.; Sellin, Gleichniserzähler II,54ff. vgl. W. Radi, Das Gesetz in Apg 15, in: K. Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament, Freiburg etc. 1986, 169-174. 7 Roloff, Apostelgeschichte 232. 8 Billerbeck, Kommentar 11,703. 9 Mánek, Aposteldekret 157. 10 Jervell, Aposteldekret 229.
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mung nicht anwesend und wußte nichts über eine solche Vereinbarung (Gal 2,6). Er hat grundsätzliche Gesetzesfreiheit verteidigt (Gal 2,11-21) und das Essen von (den Götzen) geopfertem Fleisch hat er nicht abgelehnt (I Kor 8).
Lukas hat sachlich betont und theologisch ausgenutzt, daß nur ein Teil der damaligen Jerusalemer Juden für die Hinrichtung Jesu verantwortlich war. Nach Lk 19,48; 20,19; 21,38 und 22,2 stand das Volk (λαός) auf der Seite Jesu (so auch ό χ λ ο ς in Lk 22,6) und erst in Lk 23,18 solidarisiert sich das Volk mit seinen Führern (Lukas sagt nicht, daß die Führer das Volk angestiftet haben, wie M k 15,11 par.) und fordert den Tod Jesu.11 Nach Act 3,17 taten sie es aus Unwissenheit. Wo Markus vom Todesbeschluß der jüdischen Gegner Jesu spricht (Mk 3,6), dort spricht Lukas von ihrer Unwissenheit (Lk 6,11). 12 Deswegen öffnet ihnen die daraufifolgende Erhöhung Jesu (Himmelfahrt) eine direkte Möglichkeit der Umkehr (Act 5,31). Israel wird also nicht verworfen, wenn auch seine Vertreter die Apostel verfolgen. Lukas benutzt den Begriff Israel nie negativ, so lehnt das Synedrion das Angebot der Umkehr nach der Intervention des Gamaliel nicht ab (Act 5,39) und Paulus selbst will das Buße tuende Israel repräsentieren (Act 28,20, vgl. 26,6f.). Die Zwölf, die offensichtlich ein neues Israel, einen neuen Zwölfstämmeverband repräsentierten (Lk 22,30 par.), werden nach Ostern zu Aposteln, zu Zeugen Jesu als des auferstandenen Herrn. Wie wir zeigen werden, gibt es bei Lukas eine Spannung zwischen dem durchaus positiven Bild der jüdischen Bibel, deren Autorität unangetastet ist, dem meistens positiven Bild des geschichtlichen Israel, dessen Sendung zu Ende kommt, und der Mehrheit der Juden zur Zeit Jesu, die in ihrem Verhältnis zu den Christen versagen. Diese Spannung bleibt vom Anfang bis zum Ende des Doppelwerkes bestehen. Man kann mit gewissem Vorbehalt sagen, daß die Kirche bei Lukas das regenerierte eschatologische Israel ist, in das die jüdischen Priester Zugang fanden (Act 6,7) und wo die ehemaligen Heiden die Rolle der Gottesftirchtigen spielen. 13 Jacob Jervell hat mit Recht auf einige Aussagen aufmerksam
" Das differenzierte Bild der Juden bei Lukas erklärt R.F. O'Toole aus der Uneinheitlichkeit der jüdischen Opposition gegen Jesus: Reflexions on Luke's Treatment of Jews in LukeActs, Biblica 4 (1993), 529-555. Dies ist jedoch nur eine Seite. Es ist gleichzeitig zu betonen, daß Lukas diese historische Tatsache mit theologischer Absicht hervorhebt; s. I.A. Weatherly, Jewish Responsibility for the Death of Jesus in Luke-Acts (JSNT Sup 106), Sheffield 1994. 12 Merkel, Israel 386. 13 Jervell, Luke and the People of God 41-74. 143. 188; Mánek, Aposteldekret 159f.; Lohfink, Sammlung 59-61; Brawley, Luke-Acts 159; J. Dupont, Un peuple d'entre les nations (Actes 15,14), NTS 31 (1985), 321-335, bes. 325f.; Klinghardt, Gesetz 123. 212. 267. Sahlin (Messias 332ff.) vermutet sogar, daß in einem aramäischen Proto-Lukas die Kirche ausdrücklich als das messianische Volk Gottes verstanden wurde. Anders Hübner, Das Ge-
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Das Volk Gottes bei Lukas
gemacht, wo Lukas in der Kirche das erneuerte eschatologische Israel sieht (Act 15,l4ff.)· Dies ist jedoch nur eine Seite des lukanischen Anliegens. Schon die Tatsache, daß die Kirche bei Lukas nie Israel genannt wird, deutet an, daß ihre Definition als des neuen Israel die Fülle ihrer eschatologischen Wirklichkeit und gleichzeitig ihre immer noch leidende äußere Gestalt nicht ausdrücken kann. Lukas hat nämlich die Vorstellung der Erneuerung Israels (vgl. Jer 23,5£; Ez 34, 23-31; Mi 5; PsSal 17,32; 18,5.7) H so tief umgedeutet, daß die Bezeichnung der Kirche als des neuen endzeitlichen Israel für einen Juden seiner Zeit höchstens als eine Metapher verständlich sein konnte. Lukas konnte nicht anders. Die Erfahrung des eschatologischen Heils in der Gemeinschaft mit dem auferstandenen Jesus war da, aber die Endzeit mit der sichtbaren Erneuerung der Welt kam nicht. Die Wirklichkeit der „gespaltenen" Eschatologie (s.u. § 3.2) hat zu seinem Versuch geführt, die Kirche als das neue eschatologische Volk Gottes zu definieren, dessen Existenz die Erwartungen Israels integriert, wenn auch das WIE ganz anders ist, als die Juden erwarten. Das Entscheidende ist für ihn, WER der Messias ist. Um das Neue auszudrücken, hebt er den Begriff Reich Gottes hervor, den er schon in der Tradition Jesu vorfand, wo er eine zentrale Rolle spielte (s.u. § 4.3). Die jüdische Erwartung der offenbaren Königsherrschaft Gottes (s.u.§ 2.3), an welche die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu z.T. recht kritisch anknüpft, hängt mit der damaligen Messiaserwartung nur gelegentlich zusammen (Mi 4-5, vgl. 4Esr 7,29ff.). Schon Jesus selbst hat sich offensichtlich gegen die vorherrschenden messianischen Erwartungen gewehrt (Mk 8,29-33 par., vgl. 15,18.26.31).15 Wenn die Christen bald nach Ostern mit ihm den Hoheitstitel Messias verbunden haben (IKor 15,3b), handelte sich um eine umgedeutete Messiasvorstellung. Jervell sagt mit Recht, daß die Aufnahme der Heiden in das Gottesvolk ein Teil der Verheißungen Gottes an Israel ist (Lk 2,29—32; Act 2,39 u.a.).16 Das neue Gebilde, das in Act 20,28 als Ganzes εκκλησία genannt wird, übertrifft jedoch die vorgegebenen Erwartungen. Nur in Act 15,14 wird die Kirche λαός genannt und nur in Act 3,23 wird sie indirekt als das neue Israel bezeichnet. Der Gedanke ist da, seine Schlüsselrolle kann jedoch kaum nachgewiesen werden. Wir sehen, wie Lukas die im Vers 16 zitierte Belegstelle aus Am 9,11-12 im Sinne der Septuaginta als spontane setz in der synoptischen Tradition 190f. H . Merkel, Das Gesetz im lukanischen Doppelwerk, in: Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Paderborn etc. 1996, 119-133, hier 120f. 14 J.H. Charlesworth, The Concept of the Messiah in Pseudepigrapha, in: ANRW 11,19,1, Berlin/New York 1979, 188-218; zu den Unterschieden zwischen jener Erwartung und dem christlichen Bild des Messias s. H. Hübner, Der „Messias Israels" und der Christus des Neuen Testaments, KuD 27 (1981), 217-240, bes. 226f. 15 Hübner, Messias Israels (s.o. Anm. 14) 226f. 16 Jervell, Gottes Treue 15ff.
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Eingliederung der Heiden, nicht als ihre Beherrschung begreifen mußte, wie es im masoretischen Text der Fall ist. Doch auch so bleibt es eine Metapher, denn die dort vorausgesetzte auf Israel bzw. Zion zentrierte Hoffnung hat sich in der Wirklichkeit der Kirche nicht erfüllt. Im Grunde ist der Unterschied zwischen den beiden Positionen heutiger Forschung letzten Endes nicht so tief, nur müssen wir deutlich hervorheben, daß die Restitution des Volkes Gottes, die in der Kirche geschieht, aus der Sicht der Kirche gesehen wird. Durch seine Darstellung der Anfänge der Kirche, die für seine Leser schon Vergangenheit waren, wollte Lukas nicht sagen, daß die Christen das neue Israel sind, 17 sondern daß der Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat, mit dem Herrn Israels identisch ist (Act 5,30f.). Entscheidend ist, daß der gekreuzigte Jesus der wirkliche Retter ist, d.h., daß er auch die eigentliche Rolle des Messias erfüllt haben muß. Seit dem Anfang tritt der christliche Messias als der Leidende und als der Gekreuzigte auf (Rom 5,6.8; lKor 8,11; Gal 2,21; 3,13; IPetr 3,18 u.a.) - eine Vorstellung, die in den jüdischen Erwartungen an eine nur schmale Tradition anknüpfen kann. Die Christen haben gewagt, Jesus als den Messias zu bekennen, wenn auch seine äußere Macht nicht sichtbar war und der neue Aon nicht kam (§ 3.2.1). Lukas hat dieses Bild übernommen und auf seine Weise entfaltet (Act 3,18f.; 17,3; 28,23). 18 Mit den soteriologischen Konsequenzen dieser Christologie werden wir uns noch befassen (§ 4.3.3.2), aber schon jetzt ist deutlich, daß hier die jüdische Erwartung aus neuer, christlicher Perspektive gedeutet wird. Das lukanische Bild von Jesus als dem Messias der Juden bedeutet eine Übernahme und gleichzeitig eine tiefe Korrektur der damaligen jüdischen Messiaserwartungen: Es handelt sich um einen von einem beträchtlichen Teil des jüdischen Volkes abgelehnten Messias.' 9 Die Bezeichnung Jesu als des Messias Israels hat also bei Lukas eine wesentlich neue Funktion: sie macht die zweite und dritte christliche Generation auf die geschichtliche Verankerung ihres Glaubens aufmerksam und interpretiert die jüdischen Erwartungen als seine Vorgeschichte. Aus jüdischer Sicht ist das eine Umbiegung der Hoffnungen Israels.
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Anders Jervell, Gottes Treue 18ff. Ahnliches behauptet er in seiner Monographie T h e Theology of Acts (mir nur aus der Rez. in ExT 108 [1966], 84 bekannt). Die Behauptung, daß Israel das Gottesvolk bleibt (S. 18), stimmt fur Petrus, nicht jedoch für die ganze lukanische Theologie. 18 Die letzten zwei Stellen sind mit den markinischen Leidensankündigungen identisch, nur daß anstelle von Menschensohn dort Messias steht. Es kann eine ältere Tradition sein (so Wilckens, Missionsreden 116f.) oder es waren beide Titel austauschbar. 19 Auch dies Motiv war schon in der älteren Tradition verankert, s. z.B. M k 12,1-11 par. Dies betonen mit Recht die Forscher, welche die Spannung zwischen Lukas und der damaligen jüdischen Auffassung vom Volk Gottes beschreiben.
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2.3 Die Kirche, das Reich Gottes und die Hoffnung Israels Die unbeschnittenen Christen (ehemalige Heiden) sind also nach Lukas keine zweitrangigen Glieder der Kirche, wie es mit den Gottesfurchtigen (φοβούμενοι, σεβόμενοι) in der Synagoge der Fall war, und die Kirche ist nach Lukas eine neues, von Israel verschiedenes eschatologisches Gebilde. Wie das eschatologische Volk Gottes umfaßt es auch die Heiden, wie das geschichtliche Israel lebt es noch innerhalb der Geschichte. Die Kirche steht also am Ende des Weges Israels und bedeutet gleichzeitig seine Aufhebung. Es reimt sich nicht mit den damaligen jüdischen Bildern der Endzeit, aber das lukanische Verständnis der Kirche ist auf der Erfahrung mit Jesus als dem erhöhten Herrn gegründet und mit einer neuen Sicht der Rolle Israels verbunden. 20 Wir haben zwar gezeigt, daß das Gesetz als Heilsweg nicht völlig abgelehnt ist (s. bes. Act 13,38f.) wie es bei Paulus der Fall war (Gal 3), aber das Heil ist ausdrücklich auch ohne die Einhaltung einiger für die Juden wesentlicher Vorschriften des mosaischen Gesetzes, wie der Beschneidung, erreichbar (Act 15, IfF. l