Gesammelte Werke. Band 7 Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung: Schriften zur Theologie I [Reprint 2021 ed.] 9783112466827, 9783112466810


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German Pages 277 [280] Year 1963

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Gesammelte Werke. Band 7 Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung: Schriften zur Theologie I [Reprint 2021 ed.]
 9783112466827, 9783112466810

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PAUL TILLICH • GESAMMELTE WERKE BAND V I I

PAUL

TILLICH

DER PROTESTANTISMUS ALS KRITIK UND GESTALTUNG Schriften zur T h e o l o g i e I

GESAMMELTE WERKE BAND VII

EVANGELISCHES VERLAGSWERK S T U T T G A R T

Herausgegeben von Renate Albredit

1. Auflage Erschienen 1962 im Evangelischen Verlagswerk G m b H , Stuttgart Gesamtherstellung: Union Druckerei G m b H Stuttgart

K U R T LEESE GEWIDMET

V O R B E M E R K U N G DES

HERAUSGEBERS

Der vorliegende Band ist der erste der beiden für die theologischen Aufsätze vorgesehenen Bände. Er enthält alle auf den Protestantismus und seine Probleme bezogenen Schriften. Sofern es sich um ursprünglich in Englisch geschriebene Aufsätze handelt, wurden die deutschen Übersetzungen vom Autor selbst überarbeitet und in der vorliegenden Form autorisiert. Abweichungen vom englischen T e x t sind von ihm selbst gewollte Neufassungen, so daß die deutschen Texte gegenüber den englischen als maßgebend anzusehen sind. Eine Ausnahme machen die Aufsätze, die zuerst (in den zwanziger Jahren) in Deutsch erschienen waren (Nr. 3, 4, 5 und 6). Sie wurden später ins Englische übersetzt und in das Buch „The Protestant Era" aufgenommen. Bei Übertragung dieses Buches ins Deutsche wurden sie rückübersetzt. D a der Autor bei der Übersetzung ins Englische oft Veränderungen an den Texten vorgenommen hatte, die dem Weiterschreiten seines Denkens entsprachen, war es sein Wunsch, daß nicht die alten deutschen Fassungen in die „Gesammelten Werke" aufgenommen würden, sondern die Übersetzungen der Aufsätze aus „The Protestant E r a " (deutsch „Der Protestantismus", Stuttgart 1950). Bibliographische Anmerkungen finden sich am Schluß des Buches. Für wertvolle Mithilfe an diesem Band sei gedankt: Herrn Dr. Manfred Hornschuh für die erste Durchsicht einiger Übersetzungsmanuskripte und viele wertvolle Verbesserungsvorschläge. Herrn Dr. Theodor Mahlmann für die Herstellung des Sachregisters. Frau Dr. Gertie Siemsen für die Hilfe beim Lesen der Korrekturen. Weiter sei dem Verlag Otto Reidil, Darmstadt, gedankt für die Erlaubnis des Wiederabdrucks von „Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip". Düren, im Mai 1962

Renate

Albrecbt

INHALT

Vorbemerkung des Herausgebers DIE PROTESTANTISCHE ÄRA DER PROTESTANTISMUS ALS KRITISCHES U N D GESTALTENDES PRINZIP

I. Der Protestantismus als kritisches Prinzip a) Die beiden Arten der Kritik b) Protestantische Kritik

II. Der Protestantismus als gestaltendes Prinzip a) Die beiden Arten der Gestaltung b) Protestantische Gestaltung PROTESTANTISCHE GESTALTUNG

1. II. III. IV. V. VI.

Das Problem Die Gestalt der Gnade Protestantische Profanität Protestantische Gestaltung und religiöse Erkenntnis Protestantische Gestaltung und religiöses Handeln Der Geist des Protestantismus und die autonome Kultur .. • •

DIE PROTESTANTISCHE VERKÜNDIGUNG U N D DER MENSCH DER GEGENWART

I. II. III. IV. V.

Der Mensch der Gegenwart Die katholische Kirche und der Mensch der Gegenwart Die menschliche Grenzsituation Die protestantische Kirche und die menschliche Grenzsituation Die protestantische Verkündigung

PROTESTANTISCHES PRINZIP U N D PROLETARISCHE SITUATION

I. Grundlegung II. Die Bestätigung des protestantischen Prinzips durch die proletarische Situation III. Das Versagen des historischen Protestantismus gegenüber der proletarischen Situation

6 11

29

29 29 33

36 36 45 54

54 57 61 64 66 68 70

70 72 73 77 80

84

84 88 99

NATUR U N D SAKRAMENT

105

I. II. III. IV. V. VI. VII.

106 107 109 110 114 119 120

Das Sakrament der Taufe Das Sakrament des Abendmahls Das Wort und das Sakrament Arten der Naturauffassung Beispiele der realistischen Naturauffassung Sakramentale Gegenstände Protestantismus und Sakrament

DIE BLEIBENDE BEDEUTUNG DER KATHOLISCHEN KIRCHE FÜR D E N PROTESTANTISMUS 124 PRINZIPIEN DES PROTESTANTISMUS

133

MARTIN BUBERS DREIFACHER BEITRAG ZUM PROTESTANTISMUS

141

ENDE DER PROTESTANTISCHEN ÄRA? I

151

ENDE DER PROTESTANTISCHEN ÄRA? II

159

DIE WIEDERENTDECKUNG DER PROPHETISCHEN TRADITION I N DER REFORMATION I. Die Gottheit

Gottes

171 171

Einleitung Die Gottesidee Calvins Kampf gegen den Götzendienst Luthers Prinzip des Gegensatzes Die treibende Kraft in allem Sein Gottes Allmacht

171 173 173 175 177 I79

Die Lehre von der Prädestination Zwei Quellen der Lehre Der absolute Wille Gottes

180 181 182

Die S p a n n u n g des Prophetischen Die orthodoxe Lösung Die pietistische und die deistische Lösung Eine neue Reformation?

183 184 184 185

II. Die menschliche Situation Die E n t f r e m d u n g u n d die Knechtschaft des Menschen Die Korrelation Gott —Mensch Der Zusammenbruch unseres Selbst Luthers Sündenbegriff Die Einheit von Leib und Seele

186 186 186 187 189 190

III.

D i e U n i v e r s a l i t ä t der Sünde Der göttliche Angriff Die Lehre von der Knechtschaft des Menschen

192 192 194

Die neue Wirklichkeit Glaube als Geschenk der Gnade Das Paradox des Glaubens Die Auffassung der menschlichen Existenz bei Luther und Calvin

195 196 197 199

Die neue Gemeinschaft

200

Die Auffassung der Kirche bei den R e f o r m a t o r e n

201

Geist und A u t o r i t ä t

203

Luthers „Zeugnis des Heiligen Geistes"

203

Calvins „Dokument der Wahrheit"

205

Glaube und Organisation

208

Das prophetische W o r t und das priesterliche Symbol

209

Das, w a s unbedingt angeht, und das Leben der Gesellschaft 2 1 0 Luthers Lehre vom Staat 210 Zwingiis Auffassung 212 Calvins theokratisdier Staatsbegriff 213 D i e dynamische P o l a r i t ä t des Protestantismus 215 K R I T I S C H E S U N D POSITIVES P A R A D O X E i n e Auseinandersetzung mit K a r l B a r t h und Friedrich G o g a r t e n

216

VON DER P A R A D O X I E DES „POSITIVEN PARADOXES" A n t w o r t e n und F r a g e n an P a u l Tillich. Von K a r l B a r t h

226

Antwort

240

ZUR GEISTESLAGE DES THEOLOGEN

244

N o c h eine A n t w o r t an P a u l Ullich. Von Friedrich G o g a r t e n

244

WAS I S T F A L S C H I N D E R „ D I A L E K T I S C H E N " T H E O L O G I E ? . .

247

I . 1. 2. 3. 4. II.

Gott als der Herr Gegen Mystik und Religionsphilosophie Gegen die „liberale" Theologie Folgerungen

247 249 251 252

1. Supranaturales und dialektisches Denken 254/55 2. Gegensätze und Übergänge 256 3. Gegen Barths Urteil über Religionsphilosophie und „liberale" Theologie 258 4. Ergebnisse 260

Bibliographische Anmerkungen

263

N a m e n - und Sachregister

265

Einleitung

DIE PROTESTANTISCHE

ÄRA

I. Seit meinen ersten Jahren als Student der protestantischen Theologie habe ich stets versucht, den Protestantismus sowohl von außen als auch von innen zu sehen. „Von außen" heißt in diesen frühen Jahren vom Standpunkt der leidenschaftlich geliebten und studierten Philosophie, in späteren Jahren vom Standpunkt der sich mächtig entwickelnden vergleichenden Religionsgeschichte, und schließlich vom Standpunkt der erfahrenen und gedeuteten allgemeinen Geschichte unserer Zeit. Diese Betrachtung des Protestantismus von außen her hat meine Betrachtung von innen her sehr stark beeinflußt. Sieht man den Protestantismus nur als eine besondere konfessionelle Form des Christentums, an die man durch Tradition und Glaube gebunden ist, so erhält man ein ganz anderes Bild, als wenn man ihn als einen Faktor innerhalb des weltgeschichtlichen Prozesses ansieht, der von allen anderen Faktoren beeinflußt wird und wiederum diese beeinflußt. Diese „Innenansicht" des Protestantismus, die auf einer existentiellen Erfahrung seines Sinnes und seiner Macht beruht, modifiziert sehr stark die Außenansicht. Keiner der in diesem Band enthaltenen Aufsätze betrachtet die Lage des Protestantismus rein faktenmäßig und statistisch, sondern jeder verrät das Anliegen des Autors und sein aktives Mitbetroffensein. Das wird nicht deswegen erwähnt, um Sachlichkeit im Sinne des Losgelöstseins von der Materie, von der gesprochen wird, und wissenschaftliche Objektivität ihr gegenüber herabzusetzen. Für eine solche H a l t u n g gibt es auch gegenüber der Religion einen Ort. Aber sie ber ü h r t nur die Oberfläche. Es gibt Objekte, denen gegenüber das sogenannte objektive Sichnähern am allerwenigsten objektiv ist, da es auf einem Mißverständnis über die N a t u r des Objektes beruht. Dies gilt insbesondere von der Religion. Die uninteressierte Betrachtungsweise in den Dingen der Religion bedeutet, wenn sie mehr ist als eine methodische Selbstbeschränkung, eine a priori Ablehnung der religiösen Forderung, der Forderung offen zu sein f ü r das, was uns un-

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bedingt angeht. Sie leugnet das Objekt, dem sie sich angeblich objektiv nähert. Die Innen- und Außenansicht des Protestantismus in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit ergaben eine Deutung seines Sinnes, der unmittelbar oder mittelbar in diesem Buch dargestellt wird. Der Protestantismus wird verstanden als eine besondere geschichtliche Verkörperung eines allgemein bedeutsamen Prinzips. Dieses Prinzip, in dem sich eine Seite der Beziehungen zwischen Gott und Mensch ausdrückt, ist wirksam in allen Perioden der Geschichte, es zeigt sich in den großen Religionen der Menschheit, es wurde durch die jüdischen Propheten machtvoll verkündet, es ist manifest im Bilde Jesu als des Christus. Immer wieder wurde es im Leben der Kirche entdeckt und bildete die alleinige Grundlage der Kirchen der Reformation, und immer wieder wird es diese Kirchen zum Kampf herausfordern, wann immer sie ihre Grundlage verlassen. Es wird nicht danach gefragt, ob wir uns jetzt dem Ende des protestantischen Prinzips nähern oder nicht. Dies Prinzip ist keine besondere religiöse oder kulturelle Idee, es ist nicht den geschichtlichen Wandlungen unterworfen. Es ist unabhängig vom Anwachsen oder Zurückgehen religiöser Erfahrung oder geistiger Kraft. Es ist das letzte Kriterium jeder religiösen und geistigen Erfahrung. Es liegt ihr zugrunde, ob sie dessen gewahr wird oder nicht. Die Art, in der dies Prinzip verwirklicht und ausgedrückt und angewandt und mit anderen Seiten der Beziehung Gott-Mensch verknüpft wird, ist in verschiedenen Zeiten, Orten, Gruppen und Individuen verschieden. Der Protestantismus als Prinzip ist ewig und ein ständiges Kriterium alles Zeitlichen. Der Protestantismus als das Charakteristikum einer geschichtlichen Epoche ist zeitlich und dem ewigen protestantischen Prinzip unterworfen. Er wird durch sein eigenes Prinzip gerichtet, und das Urteil kann negativ sein. Die protestantische Ära kann an ihr Ende gelangen. Aber gelangte sie auch an ihr Ende, so wäre das protestantische Prinzip damit doch nicht widerlegt. Im Gegenteil, das Ende der protestantischen Ära wäre wiederum eine neue Manifestation der Wahrheit und Mächtigkeit des protestantischen Prinzips. Geht die protestantische Ära ihrem Ende entgegen? Ist dies das Urteil des protestantischen Prinzips, wie es das Urteil der Propheten war, daß das Volk der Propheten vernichtet wurde? Diese Frage kann natürlich nicht durch geschichtliche Vorhersagen beantwortet werden, sondern durch eine Deutung des Protestantismus, seiner Gefahren und seiner Aussichten, seines Mißlingens und seiner schöpferischen Möglichkeiten.

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II. Die K r a f t des protestantischen Prinzips wurde mir zum erstenmal in den Übungen meines theologischen Lehrers, Martin Kahler, deutlich, eines Mannes, der in seiner Person und seiner Theologie die Tradition des Renaissance-Humanismus und der deutschen Klassik mit einem tiefen Verständnis der Reformation und mit starken Elementen der religiösen Erweckung in der Mitte des 19. Jahrhunderts vereine. Die Historiker der Theologie zählen ihn unter die „Vermittlungstheologen", oft im herabsetzenden Sinne. Aber die Aufgabe der Theologie ist Mittlerdienst. Mittlerdienst zwischen dem ewigen Kriterium der Wahrheit, wie sie im Bilde Jesu als des Christus anschaubar ist, und der wechselnden Erfahrungen von Individuen und Gruppen, ihrer sich ändernden Fragestellungen und ihrer Kategorien zur Wahrnehmung der Wirklichkeit. W i r d die Mittleraufgabe der Theologie abgelehnt, wird die Theologie selber abgelehnt. Denn das W o r t Theo-logie schließt als solches die Vermittlung ein, nämlich zwischen dem Mysterium, welches theos ist, und dem Verstehen, welches logos ist. Wenn einige Vertreter des Biblizismus und des Pietismus und christliche Laien sich in Gegensatz zur vermittelnden Funktion der Theologie stellen, so täuschen sie sich, da sie in Wirklichkeit von den Brosamen leben, die abfallen vom Tische der theologischen Tradition, geschaffen durch die großen Vermittler. Eine der Methoden der Vermittlung in der Theologie ist die dialektische. Dialektik ist die Weise der Wahrheitssuche durch Gespräch mit anderen von verschiedenen Standpunkten aus, durch J a und Nein, bis ein J a erreicht wird, das im Feuer vieler Nein gehärtet wurde und das in sich eint die Elemente der Wahrheit, die in der Diskussion zutage kommen. Unglücklicherweise wird der N a m e dialektische Theologie in der jüngsten Zeit f ü r eine Theologie verwendet, die jede Art der Dialektik und Vermittlung gerade bekämpft und die ständig das Ja zur eigenen und das Nein zu jeder anderen Stellung wiederholt. Das erschwerte die Verwendung des Begriffs „dialektisch" zur Kennzeichnung theologischer Bewegungen von echt dialektischem, das heißt vermittelndem Charakter. U n d es endete in der billigen und plumpen Art, alle Theologen einzuteilen in Naturalisten und Supranaturalisten oder in Liberale und Orthodoxe. Als ein Theologe, mit dem manches Mal nach dieser einfachen Methode, jemand zu etikettieren, verfahren wurde (so bin ich z. B. ein Neosupranaturalist genannt worden), möchte ich ganz eindeutig meine Überzeugung äußern, daß diese Abstempelungen vollkommen veraltet sind im Hinblick auf die wirkliche Ar13

beit, die heute von jedem Theologen geleistet wird, der die vermittelnde oder dialektische Aufgabe der Theologie ernst nimmt. Deshalb würde ich mich nicht schämen, als „Vermittlungstheologe" bezeichnet zu werden, was für mich einfach „Theo-loge" heißt. Natürlich liegen in aller Vermittlung, die von der Kirche geleistet wird, Gefahren, nicht nur in ihrer theologischen, sondern auch in ihrer praktischen Funktion. Die Kirche ist sich dieser Gefahr oft nicht bewußt und verfällt in eine Milieuanpassung, die Selbstaufgabe bedeutet. In solchen Situationen ist eine prophetische Kampfansage, wie sie von den neureformatorischen Theologen gegeben wird (wie man sie statt dialektischer Theologen nennen sollte), dringend notwendig. Aber trotz dieser Gefahren muß die Kirche als eine lebendige Wirklichkeit ständig vermitteln zwischen ihrer ewigen Grundlage und den Forderungen der geschichtlichen Situation. Die Kirche ist ihrem innersten Wesen nach dialektisch und muß immer wieder eine „Theologie" der Vermittlung wagen. Das Beispiel Martin Kühlers - der Anlaß gab zu diesem Exkurs über den Mittlercharakter meiner Theologie - zeigt deutlich, daß Vermittlung nicht ein Sichaufgeben bedeutet. Kühlers Kerngedanke war die Rechtfertigung durch den Glauben, der Gedanke, der den Protestantismus vom Katholizismus trennt und der das sogenannte materiale Prinzip der protestantischen Kirche wurde, wobei die biblische Norm das formale Prinzip bildet. Er konnte nicht nur diesen Gedanken mit seiner eigenen klassischen Bildung vereinen, sondern sie auch mit großer religiöser Kraft für Generationen humanistisch gebildeter Studenten deuten. Unter seinem Einfluß entwickelte eine Gruppe älterer Studenten und jüngerer Dozenten auf verschiedenen Wegen ein neues Verständnis des protestantischen Prinzips. Der Schritt, den ich selber in diesen Jahren tat, war die Einsicht, daß das Prinzip der Rechtfertigung durch den Glauben sich nicht nur auf das religiös-moralische, sondern auch auf das religiös-intellektuelle Leben bezieht. Nicht nur der, der in der Sünde ist, sondern auch der, der im Zweifel ist, wird durch den Glauben gerechtfertigt. Die Situation des Zweifeins, selbst des Zweifeins an Gott, braucht uns nicht von Gott zu trennen. In jedem tiefen Zweifel liegt ein Glaube, nämlich der Glaube an die Wahrheit als solche, sogar dann, wenn die einzige Wahrheit, die wir ausdrücken können, unser Mangel an Wahrheit ist. Aber wird dies in seiner Tiefe und als etwas, das uns unbedingt angeht, erlebt, dann ist das Göttliche gegenwärtig; und der, der in solch einer Haltung zweifelt, wird in seinem Denken „gerechtfertigt". So ergriff mich das Paradox, daß der, der Gott ernstlich leugnet, ihn bejaht. Ohne dies hätte ich nicht Theologe bleiben können. 14

Es gibt - das verstand ich bald - keinen Raum neben dem Göttlichen, es gibt keinen möglichen Atheismus, es gibt keine Mauer zwischen dem Religiösen und dem Nichtreligiösen. Das Heilige umfaßt sich selbst und das Profane. Religiös sein heißt unbedingt Ergriffensein, mag sich nun dies Ergriffensein in profanen Formen ausdrücken oder in Formen, die im engeren Sinne religiös sind. Die persönlichen und theologischen Konsequenzen dieser Gedanken waren für mich ungeheuer. Zur Zeit ihrer Entdeckung, und seitdem fortdauernd, vermittelten sie mir persönlich ein starkes Gefühl der Befreiung. Man kann Gott nicht durch die Arbeit des rechten Denkens oder durch ein sacrificium int.ellectus oder durch Unterwerfung unter fremde Autoritäten wie Lehren der Kirche und der Bibel erreichen. Man kann es nicht, und man wird auch nicht einmal aufgefordert, es zu versuchen. Weder Werke der Frömmigkeit, noch Werke der Moral, noch Werke des Intellekts stellen die Einheit mit Gott her. Sie fließen aus dieser Einheit, aber sie schaffen sie nicht. Sie verhindern sie sogar, wenn man sie auf diesem Wege zu erreichen sucht. Aber ebenso wie man als Sünder gerechtfertigt ist (obgleich ungerecht, bist du ein Gerechter), steht man im Zweifeln in der Wahrheit. Und kommt all dies zusammen, und verzweifelt man am Sinn des Lebens, dann ist gerade der Ernst dieses Zweifeins der Ausdruck des Sinnes, in dem man immer noch lebt. Dieser unbedingte Ernst ist der Ausdruck der Gegenwart des Göttlichen im Erlebnis des völlig von ihm Getrenntseins. Gerade diese radikale universale Deutung der Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben hat mich zu einem bewußten Protestanten gemacht. Streng theologische Argumente für diesen Gedanken sind in einem frühen deutschen Aufsatz enthalten, den ich hauptsächlich seines Titels wegen anführe: „Rechtfertigung und Zweifel" 1 . In diesem Aufsatz wird der Sieg über das Erleben der Sinnlosigkeit durch die Erfahrung der paradoxen Gegenwärtigkeit des Sinnes in der Sinnlosigkeit beschrieben. Auf diesen Gedanken wird überall da Bezug genommen, wo immer das protestantische Prinzip erwähnt wird, besonders in dem Aufsatz über „Protestantische Verkündigung und der Mensch der Gegenwart". Die radikale und universale Deutung der Rechtfertigung durch den Glauben hatte über das Persönliche hinaus wesentliche theologische Konsequenzen. Ist sie gültig, dann kann keine Sphäre des Lebens ohne Bezug auf etwas Unbedingtes bestehen, auf etwas, das unbedingt angeht. Die Religion ist wie Gott allgegenwärtig, ihre Gegenwart kann wie die Gottes vergessen, vernachlässigt, geleugnet werden. Aber sie ist immer wirksam, verleiht dem Leben unausschöpfliche Tiefe und 1

Gießen 1924. (Wird in Gesammelte Werke Band VIII aufgenommen.) 15

jedem kulturellen Schaffen unausschöpflichen Sinn. Einen ersten, etwas enthusiastischen Ausdruck fand dieser Gedanke in einem Vortrag „Über die Idee einer Theologie der Kultur" 1 . Kurz danach wurde derselbe Gedanke in einer stärker systematischen Form unter dem paradoxen Titel „Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie" 2 behandelt. Beide Aufsätze versuchen, den weiteren Begriff der Religion einzuführen, indem sie dem undialektischen Gebrauch der engeren Definition den Kampf ansagen. Natürlicherweise erforderte auf der Basis dieser Voraussetzung die Geschichte der Religion und des Christentums eine neue Deutung. Früh- und Hochmittelalter erhielten eine Wertung, die ihnen im klassischen Protestantismus nie zuteil geworden war. Ich nannte sie „theonome" Epochen, im Gegensatz zur Heteronomie des späten Mittelalters und der selbstsicheren Autonomie des modernen Humanismus. „Theonomie" wurde definiert als eine Kultur, in welcher der letzte Sinn der Existenz durch alle endlichen Formen des Denkens und H a n delns durchscheint. Die Kultur ist transparent, und ihre Schöpfungen sind Gefäße f ü r einen geistigen Inhalt. „Heteronomie", die o f t mit Theonomie verwechselt wird, ist im Gegensatz dazu der Versuch einer Religion, autonomes kulturelles Schöpfertum von außen zu beherrschen, wohingegen die selbstsichere Autonomie die Bindungen einer Kultur an ihren letzten Grund und ihr letztes Ziel zerschneidet, wobei in dem gleichen Maße, in dem dies gelingt, die Kultur sich erschöpft und geistig entleert wird. Das protestantische Prinzip, wie es aus der Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben abgeleitet ist, verwirft ebensowohl die selbstsichere Autonomie (vertreten durch den profanen Humanismus) wie die Heteronomie (vertreten durch die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes). Es fordert eine selbsttranszendierende Autonomie oder Theonomie. Diese Gedanken wurden in meiner „Religionsphilosophie" 2 entwickelt. Derselbe Gesichtsp u n k t kommt in den Aufsätzen „Philosophie und Schicksal" 3 , „Philosophie und Theologie" 4 und „Kairos" 4 zum Ausdruck. III. Am wichtigsten f ü r mein Denken und Leben war die Anwendung dieser Gedanken auf die Deutung der Geschichte. Die Geschichte wurde zum Zentralproblem meiner Theologie und Philosophie durch die ge1

In: In: 3 In: 4 In: 2

Religionsphilosophie der Kultur. Berlin 1919. Ges. Werke. Bd. 1. Stuttgart 1959. Ges. Werke. Bd. 4. Stuttgart 1961 Der Protestantismus. Stuttgart 1950.

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schiditliche Wirklichkeit, wie ich sie bei meiner Rückkehr aus dem ersten Weltkrieg v o r f a n d : ein chaotisches Deutschland und Europa, das Ende der Epoche des siegreichen Bürgertums und des Lebensstiles des 19. Jahrhunderts, der Riß zwischen den lutherischen Kirchen und dem Proletariat, die K l u f t zwischen der transzendenten Botschaft des traditionellen Christentums und den immanenten Hoffnungen der revolutionären Bewegungen. Die Situation forderte sowohl Deutung als auch Gestaltung. Beides wurde von der deutschen Bewegung der Religiösen Sozialisten versucht, die unmittelbar nach dem Kriege durch eine Gruppe, darunter ich selbst, gegründet wurde. Die erste Aufgabe, die vor uns stand, war eine Analyse der Weltsituation auf der Basis der zeitgenössischen Ereignisse, gesehen im Licht der umfassenden Kritik der bürgerlichen Kultur während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und mit H i l f e von Kategorien, die aus dem protestantischen Prinzip in seiner Anwendung auf Religion und Kultur abgeleitet waren. In dieser Analyse erwies der zentrale Satz meiner Religionsphilosophie seine Bedeutung: Religion ist die Substanz der Kultur, Kultur ist die Form der Religion. Ein großer Teil meiner veröffentlichten Schriften und unveröffentlichten Vorlesungen war einer solchen „theonomen" Deutung der Kultur gewidmet. Das kleine weitverbreitete Buch „Die religiöse Lage der Gegenwart" 1 versuchte, eine allumfassende Analyse der jüngsten Jahrzehnte unseres Zeitalters zu geben. Eine ähnliche, wenn auch kürzere Analyse ist als erster Teil eines Symposions 2 erschienen. Eine Analyse unserer Situation hätte ohne meine Teilnahme an der religiös-sozialistischen Bewegung nicht versucht werden können. Wenn ich darüber spreche, möchte ich zunächst einige Mißverständnisse bezüglich der N a t u r und des Zieles dieser Bewegung beseitigen. Dies ist besonders notwendig in einem Lande wie den Vereinigten Staaten, wo jede Kritik am Kapitalismus des 19. Jahrhunderts als „rot" verdächtigt und bewußt oder aus U n wissenheit mit dem Kommunismus sowjetischer Färbung verwechselt wird. Die unglückliche Folge dieser H a l t u n g ist, daß damit ein Hindernis errichtet wird gegen jedes wirkliche Verständnis dessen, was in unserer Welt, besonders in Europa und Asien, vorgeht, und der Wandlungen, die in allen Lebensbereichen vor sich gehen, in der Religion wie in der Wirtschaft, in der Wissenschaft wie in der Kunst, in der Moral wie in der Erziehung - im Ganzen der menschlichen Existenz. Der religiöse Sozialismus war immer am menschlichen Leben als 1 Berlin 1926. 2 The World Situation. In: The Christian Answer. Hrsg. v. H. P. van Düsen. New York 1945. 17

G a n z e m interessiert u n d niemals ausschließlich an seiner ökonomischen Basis. D a r i n unterscheidet er sich scharf sowohl v o m ökonomischen Materialismus als auch v o n allen F o r m e n des „ Ö k o n o m i s m u s " . E r betrachtet den ökonomischen F a k t o r nicht als einen unabhängigen, v o n dem jede gesellschaftliche Wirklichkeit a b h ä n g t . E r e r k a n n t e die A b hängigkeit der Wirtschaft selbst v o n allen anderen sozialen, intellektuellen u n d geistigen F a k t o r e n , u n d er schuf ein B i l d der gesamten untereinander abhängigen S t r u k t u r unserer g e g e n w ä r t i g e n E x i s t e n z . W i r verstanden den Sozialismus nicht als L o h n p r o b l e m , sondern als ein P r o b l e m einer neuen T h e o n o m i e , in der die F r a g e n des Lohnes, der gesellschaftlichen Sicherheit behandelt werden. Andererseits erfaßten wir stärker als es die meisten christlichen T h e o l o g e n je taten, d a ß es gesellschaftliche S t r u k t u r e n gibt, die unvermeidlich jeden geistigen A n ruf an die ihnen unterworfenen Menschen zunichte machen. Mein Eintritt in die religiös-sozialistische B e w e g u n g bedeutete f ü r mich den endgültigen Bruch mit dem philosophischen Idealismus u n d dem theologischen Transzendentalismus. E r öffnete mir die A u g e n f ü r die religiöse Bedeutung des politischen C a l v i n i s m u s und der sozialen Sekten gegenüber dem vorherrschend s a k r a m e n t a l e n C h a r a k t e r meiner eigenen lutherischen T r a d i t i o n . D e r religiöse Sozialismus ist keine politische Partei, sondern eine geistige K r a f t , die in so viel Parteien wie irgend möglich w i r k s a m zu sein versucht. E r hatte u n d h a t S y m p a t h i s i e r e n d e und Gegner auf der L i n k e n wie a u f der Rechten. A b e r er steht unzweideutig gegen jede F o r m der R e a k t i o n - sei es die h a l b f e u d a l e R e a k t i o n wie in Deutschland, sei es eine bürgerliche status-quo-Politik wie in den Vereinigten S t a a t e n , sei es die kirchliche R e a k t i o n , die sich in großen Teilen des N a c h k r i e g s e u r o p a zu entwickeln d r o h t . D e r religiöse Sozialismus ist nicht „ M a r x i s m u s " - w e d e r politischer M a r x i s mus im Sinne des K o m m u n i s m u s , noch „wissenschaftlicher" M a r x i s mus im Sinne der ökonomischen D o k t r i n e n . W i r haben freilich mehr aus Marx' dialektischer A n a l y s e der bürgerlichen Gesellschaft gelernt als aus jeder anderen A n a l y s e unseres Zeitalters. W i r f a n d e n darin ein V e r s t ä n d n i s der menschlichen N a t u r und Geschichte, d a s der klassischen christlichen Lehre viel näher ist mit seinem empirischen Pessimismus und seiner eschatologischen H o f f n u n g , als es d a s B i l d des Menschen in der idealistischen T h e o l o g i e ist. D i e wichtigste v o m religiösen Sozialismus geleistete theoretische A r beit w a r die Schaffung einer religiösen Geschichtsdeutung, der ersten, soweit ich sehen k a n n , v o n ausgesprochen protestantischem C h a i akter. E s gab in der frühen u n d mittelalterlichen Kirche christliche Geschichtsdeutungen, einen kirchlichen oder k o n s e r v a t i v e n T y p , wie ihn Augustin 18

darstellt, und einen schwärmerischen oder revolutionären Typ, wie ihn Joachim von Floris darstellt. Es gab und gibt profane Geschichtsdeutungen, konservativ-pessimistische oder evolutionär-optimistische oder revolutionär-utopische. Das Luthertum war dem ersten T y p verwandt, der Calvinismus dem zweiten und das Sektentum dem dritten. Aber eine echte protestantische Geschichtsdeutung fehlte. Die geschichtliche Situation selber, die Kluft zwischen dem konservativen Luthertum und dem sozialistischen Utopismus in Deutschland zwang uns die Frage einer protestantischen Deutung der Geschichte auf. Die Antwort, soweit sie bis jetzt gegeben wurde, gruppiert sich um drei Hauptbegriffe: Theonomie, Kairos und das Dämonische. Der erste dieser Begriffe und seine Beziehung zum protestantischen Prinzip ist bereits erklärt worden. Bezüglich des Kairos-Begriffes kann ich auf den Aufsatz „Kairos" 1 verweisen. Der Begriff des Dämonischen wird völlig erklärt in meinem Buch2. In dieser Einleitung verbleibt nur die Aufgabe, die Beziehung der Begriffe Kairos und des Dämonischen zum protestantischen Prinzip aufzuzeigen. Kairos, die „erfüllte Zeit" nach dem neutestamentlichen Gebrauch des Wortes, beschreibt den Augenblick, in welchem das Ewige in das Zeitliche einbricht und das Zeitliche bereitet ist, es zu empfangen. Was in dem einen einzigartigen Kairos geschah, die Erscheinung Jesu als des Christus, das heißt als der Mitte der Geschichte, kann in einer abgeleiteten Form immer wieder im Zeitprozeß geschehen, dabei Zentren von geringerer Bedeutung schaffend, von denen die Periodisierung der Geschichte abhängig ist. Die Gegenwärtigkeit eines solchen abhängigen Kairos wurde nach dem ersten Weltkrieg von vielen Menschen empfunden. Er gab uns den Impuls, die religiös-sozialistische Bewegung zu beginnen, deren Impetus groß genug war, ihre Zerstörung in Deutschland zu überleben und sich durch viele Länder zu verbreiten, wie die Arbeit und die Entscheidungen der Oxfordkonferenz überraschend bewiesen. Sie ist heute die grundlegende Richtung der europäischen Menschen, wie alle genauen Beobachter übereinstimmend sagen. Kairos ist ein biblischer Begriff, der vom Katholizismus wegen seiner konservativen hierarchischen Geschichtsdeutung nicht verwendet werden konnte. Und er wurde von den Sekten wegen ihrer Richtung auf das Ende hin nicht verwendet. Das protestantische Prinzip fordert eine Methode der Geschichtsdeutung, in welcher die kritische Transzendenz des Göttlichen gegenüber Konservatismus und Utopismus starken AusI n : D e r Protestantismus. S t u t t g a r t 1 9 5 0 . D a s Dämonische. E i n Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte. Tübingen 1926. 1

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druck findet und in dem zugleich die schöpferische Allgegenwart des Göttlichen im Laufe der Geschichte konkret aufgezeigt wird. Für beides ist der Kairosbegriff überaus adäquat. E r setzt die protestantische K r i tik des katholischen geschichtlichen Absolutismus fort, er verhindert die Annahme jedes utopischen Glaubens, sei es des fortschrittlichen oder des revolutionären, an eine vollkommene Zukunft. Er überwindet den lutherischen individualistischen Transzendentalismus. Er vermittelt ein dynamisches Geschichtsbewußtsein auf der Linie des früheren Christentums und der früheren Reformation. Er gibt eine theonome Grundlage ab für die Schaffung des Neuen in der Geschichte. Der Kairosgedanke vereint Kritik und Schöpfung. Und dies gerade ist das Problem des Protestantismus (vergleiche den Aufsatz „Protestantische Gestaltung"). Der dritte für meine Geschichtsdeutung entscheidende Begriff ist der des Dämonischen. E r ist einer der in Vergessenheit geratenen Begriffe des Neuen Testaments, der trotz seiner ungeheuren Bedeutung für Jesus und die Apostel in der modernen Theologie veraltet ist. Für diese Vernachlässigung verantwortlich war die Reaktion der Philosophen der Aufklärung auf den abergläubischen, verabscheuenswürdigen Gebrauch der Idee des Dämonischen im Mittelalter und im orthodoxen Protestantismus. Aber Mißbrauch verbietet nicht den rechten Gebrauch. Die Idee des Dämonischen ist der mythische Ausdruck einer Wirklichkeit, die im Zentrum von Luthers Erfahrung stand wie in der des Paulus, nämlich der strukturellen und daher unausweichlichen Macht des Bösen. Die Aufklärung, vorweggenommen durch den Streit des Erasmus mit Luther und durch den theologischen Humanismus, sah nur die individuellen Akte des Bösen, die von den freien Entscheidungen der bewußten Person abhängen. Sie glaubte an die Möglichkeit, die große Mehrheit der Individuen dazu führen zu können, den Forderungen eines integrierten persönlichen und gesellschaftlichen Lebens durch Erziehung, Überredung und angemessene Institutionen zu folgen. Aber dieser Glaube wurde nicht nur durch die „Stürme unserer Zeit" gebrochen, sondern auch durch die neue Erkenntnis der destruktiven Mechanismen, die die unbewußten Zielstrebungen von Individuen und Gruppen bestimmen. Die Theologen sollten die schlecht benannte, aber zutiefst wahre Lehre von der Erbsünde im Lichte der jüngsten wissenschaftlichen Entdeckungen interpretieren. Das machtvolle Symbol des Dämonischen wurde überall in dem Sinne akzeptiert, in dem wir es gebraucht hatten, nämlich als eine Struktur des Bösen jenseits der moralischen K r a f t des guten Willens, die gesellschaftliche und individuelle Tragik schafft gerade durch die untrennbare Mischung von Gut und 20

Böse in jedem menschlichen Akt. Keiner der in unserer Geschichtsdeutung verwendeten Begriffe hat soviel Widerhall in der religiösen und profanen Literatur gefunden wie der Begriff des Dämonischen. Dieser Widerhall kann gedeutet werden als ein Symptom des allgemeinen Empfindens für den strukturellen Charakter des Bösen in unserer Zeit. H a t das Böse dämonischen oder Strukturcharakter, der die individuelle Freiheit begrenzt, so kann seine Überwindung nur durch den Gegensatz, die göttliche Struktur, kommen, das heißt durch das, was wir eine Struktur oder Gestalt der Gnade genannt haben. Luthers Streit mit Erasmus ist charakteristisch für die protestantische Interpretation der Gnade. Wir werden allein durch die Gnade gerechtfertigt, weil wir in unserer Beziehung zu Gott von Gott abhängig sind, von Gott allein und in keiner Weise von uns selber. Wir werden von der Gnade ergriffen, und das heißt nichts anderes, als daß wir Glauben haben. Die Gnade schafft den Glauben, durch den sie empfangen wird. Der Mensch kann den Glauben nicht durch den Willen oder Intellekt oder durch emotionale Selbstaufgabe schaffen. Die Gnade kommt zu ihm, sie ist objektiv, und er kann fähig sein, sie zu empfangen, oder nicht. Das Interesse des frühen Protestantismus war indessen so stark um die individuelle Rechtfertigung zentriert, daß der Gedanke einer „Gestalt der Gnade" in unserer geschichtlichen Existenz sich nicht entwickeln konnte. Die Entwicklung wurde auch durch die Tatsache verhindert, daß die katholische Kirche sich selbst als den Leib der objektiven Gnade betrachtete und so den Gedanken einer Gestalt der Gnade für das protestantische Bewußtsein diskreditierte. Ganz offenbar kann das protestantische Prinzip keine Identifikation der Gnade mit einer sichtbaren Wirklichkeit zugestehen, sogar nicht mit der Kirche in ihrer sichtbaren Seite. Aber die Verneinung einer sichtbaren Gestalt der Gnade schließt nicht die Verneinung des Begriffs als solchen in sich. Die Kirche in ihrer geistigen Qualität, als ein Gegenstand des Glaubens, ist eine Gestalt der Gnade (vergleiche den Aufsatz über „Protestantische Gestaltung"). Und die Kirche als Gestalt der Gnade ist älter und größer als die christlichen Kirchen. Ohne Vorbereitung durch die ganze Geschichte, ohne das, was ich später die Kirche in ihrer Latenz - abgekürzt „latente Kirche" - nannte, hätte die „sichtbare" Kirche niemals zu einer besonderen Zeit erscheinen können. Daher ist Gnade in der ganzen Geschichte und geht ein beständiger Kampf vor sich zwischen den göttlichen und dämonischen Strukturen. Das Gefühl, in der Mitte eines solchen Kampfes zu leben, war der Grundimpuls des religiösen Sozialismus, der sich in einer religiösen und, wie mir scheint, wesentlich protestantischen Geschichtsdeutung ausdrückt. 21

IV. In all diesen Gedanken - Theonomie, Kairos, das Dämonische, Gestalt der Gnade, latente Kirche - erscheint das protestantische Prinzip in seiner enthüllenden und kritischen K r a f t . Aber das protestantische Prinzip ist nicht die protestantische Wirklichkeit, und es muß die Frage gestellt werden, wie sie miteinander in Beziehung stehen, wie das Leben der protestantischen Kirchen möglich ist unter dem Kriterium des protestantischen Prinzips und wie eine Kultur durch den Protestantismus beeinflußt und verwandelt werden kann. Diese Fragen werden auf die eine oder andere Weise in dem vorliegenden Buch gestellt. U n d in jeder vorgeschlagenen Antwort wird die Notwendigkeit einer tiefen Verwandlung des religiösen und kulturellen Protestantismus aufgezeigt. Es ist nicht unmöglich, daß in einiger Z u k u n f t die Menschen das Endergebnis dieser Verwandlungen das Ende der protestantischen Ära nennen werden. Aber das Ende der protestantischen Ära ist, gemäß der grundlegenden Unterscheidung zwischen protestantischem Prinzip und protestantischer Wirklichkeit, nicht das Ende des Protestantismus. Im Gegenteil, es ist vielleicht der Weg, auf dem das protestantische Prinzip sich in der gegenwärtigen Situation behaupten muß. Das Ende der protestantischen Ära ist nicht die Rückkehr zur katholischen Ära und sogar nicht, obwohl viel eher, die Rückkehr zum f r ü hen Christentum, noch ist es der Schritt zu einer neuen Form der Profanität. Es ist etwas jenseits all dieser Formen, eine neue Form des Christentums, die erwartet und vorbereitet werden muß, aber noch nicht benannt werden kann. Einzelne Elemente können beschrieben werden, aber nicht die neue Struktur, die wachsen muß und wird. Denn das Christentum ist nur insoweit entscheidend, als es die K r a f t der Kritik hat und die K r a f t , jede seiner geschichtlichen Manifestationen umzuwandeln, und gerade diese K r a f t ist das protestantische Prinzip. W e n n die Frage nach dem Protestantismus als Protest und als Gestaltung gestellt wird, taucht sofort eine Reihe von Fragen auf, die alle durch den geschichtlichen Protestantismus unzureichend beantwortet wurden und die alle auf radikale Umwandlungen hindrängen. Viele dieser Fragen werden in diesem Buch erörtert, einige an anderen Stellen durch mich, manche fast gar nicht. Ein kurzer Überblick über diese Probleme soll ihren Charakter und ihre Bedeutsamkeit zeigen. Der scharfe Unterschied zwischen dem Prinzip und der Wirklichkeit des Protestantismus f ü h r t zu folgender Frage: Aus der K r a f t welcher Wirklichkeit übt das protestantische Prinzip seine Kritik aus? Es muß eine solche Wirklichkeit geben, wenn das protestantische Prinzip keine 22

bloße Negation sein soll. Gibt es aber eine solche Wirklichkeit, wie kann sie dem protestantischen Protest entgehen? Mit anderen Worten: Wie kann eine geistige Gestalt leben, wenn ihr Prinzip der Protest gegen sich selbst ist? Wie können kritische und gestaltende Kraft in der Wirklichkeit des Protestantismus vereint werden? Die Antwort lautet: In der Kraft des neuen Seins, die offenbar ist in Jesus als dem Christus. Hier kommt das protestantische Prinzip zu seinem Ende. Hier ist der Felsen, auf dem es steht und der nicht der Kritik unterworfen ist. Hier liegt die sakramentale Begründung des Protestantismus, des protestantischen Prinzips und der protestantischen Wirklichkeit. Es erscheint mir notwendig, an dieser Stelle auch einige Überlegungen über das sakramentale Denken vorzutragen. Der Verfall des sakramentalen Denkens und Empfindens in den Kirchen der Reformation und in den amerikanischen Konfessionen ist erschreckend. Die Natur hat ihren religiösen Sinn verloren und ist von der Teilhabe an der erlösenden Kraft ausgeschlossen. Die Sakramente haben ihre geistige Macht verloren und verschwinden aus dem Bewußtsein der meisten Protestanten. Der Christus wird als eine religiöse Person gedeutet und nicht als die zugrunde liegende sakramentale Wirklichkeit, das „neue Sein". Der protestantische Protest hat zu Recht die magischen Elemente im katholischen Sakramentalismus zerstört, aber er hat zu Unrecht die sakramentale Grundlage des Christentums bis an den Rand des Verschwindens gebracht und damit die religiöse Grundlage des Prinzips selber. Es sollte die ständige Aufgabe der christlichen Theologie, der Predigt und der kirchlichen Führerschaft sein, die Grenze zu ziehen zwischen dem geistigen und dem magischen Gebrauch des sakramentalen Elements, denn dieses Element ist das eine Wesenselement in jeder Religion, nämlich die Gegenwart des Göttlichen vor all unserem Handeln und Streben in einer „Gestalt der Gnade" und in den Symbolen, die diese ausdrücken. C. G. Jung hat die Geschichte des Protestantismus eine Geschichte der fortgesetzten Bilderstürmerei genannt (das heißt der Zerstörung religiöser Symbole) und folglich der Trennung unseres Bewußtseins von den allgemein menschlichen „Archetypen", die im Unbewußten eines jeden gegenwärtig sind. Er hat Recht. Die Protestanten verwechseln häufig Wesenssymbole mit zufälligen Zeichen. Sie werden oft nicht der numinosen Kraft gewahr, die echten Symbolen, Worten, Handlungen, Personen, Dingen innewohnt. Sie ersetzten den großen Symbolreichtum, der in der christlichen Tradition erscheint, durch rationale Begriffe, Moralgesetze und subjektive Gefühle. Auch das war eine Folge des protestantischen Protests gegen den abergläubischen Gebrauch der traditionellen Symbole im Katholi23

zismus und im gesamten Heidentum. Aber auch hier gefährdet der Protest seine eigene Grundlage. Eine der frühesten Erfahrungen, die ich mit der protestantischen Predigt machte, war ihr moralischer Charakter oder genauer ihre Neigung, das persönliche Zentrum zu sehr zu belasten und das Verhältnis zu Gott von ständigen bewußten Entscheidungen und Erfahrungen abhängig zu machen. Die Wiederentdeckung des Unbewußten in der medizinischen Psychologie und die Einsicht in die unbewußten Strebungen der Massenpsyche gaben mir den Schlüssel zu diesem Grundproblem des protestantischen Kultes. Der Verlust der Sakramente und der Symbole entspricht der ausschließlichen Betonung des Zentrums der Person im Protestantismus, und diese beiden Tatsachen entsprechen dem Aufkommen des bürgerlichen Ideals der Persönlichkeit, f ü r das die Reformation und die Renaissance gleicherweise verantwortlich sind. Persönliche Erfahrung, genaue Beobachtung vieler Individuen, die Erkenntnisse, die von der Psychotherapie geliefert wurden, das Streben der jüngeren Generation in Europa zur vitalen und vorrationalen Seite des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens, das drängende Verlangen nach stärkerer Gemeinschaft und Autorität und nach mächtigen und beherrschenden Symbolen - alles dieses schien zugleich zu beweisen, daß das protestantisch-humanistische Ideal der Persönlichkeit untergraben ist und daß der protestantische Kult und seine persönliche und gesellschaftliche Ethik sich einer weitreichenden Verwandlung unterziehen müssen. Die allgemeine Entwicklung der westlichen K u l t u r zu stärker kollektivistischen Formen des politischen und wirtschaftlichen Lebens stützten und stützen diesen Eindruck. Die Forderung nach einer grundlegenden Sicherheit sowohl in gesellschaftlicher als auch in geistiger Hinsicht hat die liberale Forderung nach Freiheit überlagert, wenngleich nicht entfernt. U n d diese Forderung kann nicht länger unterdrückt werden, denn sie wurzelt in den tiefsten Schichten des Menschen von heute, der Personen und der Gruppen. Reaktionäre Maßnahmen mögen diese Entwicklung verzögern, aber sie können sie nicht aufhalten. Die Organisation der Sicherheit (gegen die Zerstörung, die von der Atombombe oder aus der ständigen Arbeitslosigkeit kommt) ist ohne kollektivistische Maßnahmen unmöglich. Die Frage, ob der Protestantismus als ein entscheidender Geschichtsfaktor überdauern wird, ist vor allem die Frage, ob er sich der neuen Situation anpassen wird. Es ist die Frage, ob der Protestantismus in der K r a f t seines Prinzips fähig sein wird, seine Verschmelzung mit der bürgerlichen Ideologie und Wirklichkeit zu lösen und in Kritik und Aufnahmebereitschaft eine Synthese der neuen K r ä f t e zu schaffen, die sich in dem gegenwär24

tigen Stadium einer revolutionären U m f o r m u n g des Menschen und seiner Welt erhoben haben. Es ist eine Unzulänglichkeit des Protestantismus, daß er den Ort der Liebe im Ganzen des Christentums niemals zureichend beschrieben hat. Das hängt zusammen mit der Entstehung und der Geschichte des Protestantismus. Die Reformation mußte gegen die teils magische, teils moralistische, teils relativistische Verzerrung des Liebesgedankens im späten Katholizismus ankämpfen. Dieser Kampf war aber nur eine Folge von Luthers Kampf gegen die katholische Glaubenslehre. U n d daher hat der Glaube und nicht die Liebe das Zentrum des protestantischen Denkens eingenommen. W ä h r e n d Zwingli und Calvin durch ihre humanistisch-biblische Betonung der Funktion des Gesetzes an der Entwicklung einer Lehre von der Liebe verhindert wurden, hinderte Luthers Lehre von der Liebe und dem Zorn (Gottes und der Obrigkeit) ihn daran, Liebe mit Gesetz und Gerechtigkeit zu verbinden. Das Ergebnis war der Puritanismus ohne Liebe in den calvinistischen Ländern und Romantik ohne Gerechtigkeit in den lutherischen Ländern. Eine neue Deutung der Liebe wird in allen Zweigen des Protestantismus gebraucht, eine Deutung, die zeigt, daß die Liebe im Grunde nicht eine emotionale, sondern eine ontologische Macht ist, daß sie das Wesen des Lebens selbst ist, nämlich die dynamische Wiedervereinigung dessen, was getrennt ist. Wird Liebe in diesem Sinn verstanden, dann ist sie das Prinzip, auf dem jede protestantische Sozialethik fußt, indem sie ein ewiges und ein dynamisches Element vereint, Macht mit Gerechtigkeit, Schöpfertum mit Form. Ich habe bis zu meiner gegenwärtigen theologischen Position einen weiten Weg zurückgelegt, einen Weg, der begann mit meinem ersten größeren Buch „Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden" 1 . In vieler Hinsicht haben die Gedanken, die in diesem Buch entwickelt wurden, mein Denken bis zum jetzigen Augenblick bestimmt, besonders die über Biologie, technische Wissenschaften, Geschichte und Metaphysik. Die Theologie wird definiert als theonome Metaphysik, eine Definition, die einen ersten und noch ziemlich ungenügenden Schritt auf das hin darstellte, was ich jetzt die „Methode der Korrelation" nenne. Diese Methode versucht, den Konflikt zwischen den naturalistischen und supranaturalistischen Methoden zu überwinden, der nicht nur jeden wirklichen Fortschritt in der Arbeit der systematischen Theologie gefährdet, sondern auch jede mögliche Wirkung der Theologie auf die profane Welt. Die Methode der Korrelation zeigt an jeder Stelle des christlichen Denkens die gegenseitige Abhängigkeit i In: Ges. Werke. Bd. 1. 25

zwischen den letzten Fragen, zu denen die Philosophie (ebenso wie das vorphilosophische Denken) getrieben wird, und den Antworten, die in der christlichen Botschaft gegeben werden. Die Philosophie kann nicht durch Philosophie die letzten oder existentiellen Fragen beantworten. Versucht der Philosoph, sie zu beantworten (und jeder schöpferische Philosoph hat das versucht), wird er ein Theologe. Und umgekehrt kann die Theologie diese Fragen nicht beantworten, ohne ihre Voraussetzungen und Implikationen zu akzeptieren. Frage und Antwort bedingen einander; werden sie getrennt, dann werden die traditionellen Antworten unverständlich, die eigentlichen Fragen bleiben unbeantwortet. Die Methode der Korrelation versucht, diese Situation zu überwinden. In diesem Zusammenhang möchte ich einige Worte über meine Verwandtschaft zu den zwei Hauptströmungen in der heutigen Theologie sagen, der einen, die in Europa „dialektisch", in Amerika „neu-orthodox" genannt wird, der anderen, die in Europa (und Amerika) „liberal" genannt wird und manchmal in Amerika „humanistisch". Meine Theologie kann verstanden werden als ein Versuch, den Konflikt zwischen diesen beiden Typen der Theologie zu überwinden. Sie will aufzeigen, daß die in diesen Bezeichnungen ausgedrückte Alternative nicht gültig ist, daß die meisten der einander entgegengesetzten Behauptungen der Ausdruck eines veralteten Stadiums des theologischen Denkens sind und daß neben vielen anderen Entwicklungen im Leben und der Deutung des Lebens das protestantische Prinzip selber alte und neue Orthodoxie, alten und neuen Liberalismus verbietet. D a der letztgenannte Punkt für dieses Buch besonders wichtig ist, möchte ich mich darüber in einigen Sätzen auslassen, die zugleich die Hauptlinien meiner theologischen Position zeigen. Es war das protestantische Prinzip, das der liberalen Theologie das Recht und das gute Gewissen verlieh, sich den Heiligen Schriften mit den kritischen Methoden der geschichtlichen Forschung zu nähern und mit vollkommener wissenschaftlicher Sauberkeit die mythischen und legendären Elemente in beiden Testamenten aufzuzeigen. Dies Ereignis, das keinerlei Parallele in anderen Religionen hat, ist eine eindrucksvolle und glorreiche Rechtfertigung der Wahrheit des protestantischen Prinzips. In dieser Beziehung muß die protestantische Theologie immer liberale Theologie sein. Es war das protestantische Prinzip, das die liberale Theologie befähigte, herauszustellen, daß das Christentum nicht isoliert von der allgemeinen religiösen und kulturellen, psychologischen und soziologischen Entwicklung der Menschheit betrachtet werden kann, daß das Christentum wie jeder Christ verwickelt ist in die allgemeinen Strukturen und

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Wandlungen des menschlichen Lebens, und daß es andererseits Vorwegnahmen des Christentums in der Gesamtgeschichte gibt. Diese Einsicht, die so tödlich ist f ü r kirchliche und theologische Arroganz, ist eine Stärkung des Christentums im Licht des protestantischen Prinzips. Auch in dieser Beziehung muß die protestantische Theologie liberale Theologie sein. Es war das protestantische Prinzip, das den Supranaturalismus des katholischen Systems zerstörte, den Dualismus zwischen N a t u r und Gnade, der letztlich wurzelt in einer metaphysischen Geringschätzung des Natürlichen als solchem. U n d es war das protestantische Prinzip, das der liberalen Theologie einen Weg zeigte, wie die antidualistische Haltung der Reformation mit dem ontologischen Universalismus und Humanismus der Renaissance zu vereinen sei, auf diese Weise heiligen Aberglauben und geheiligte Heteronomie vernichtend. In dieser Beziehung vor allem muß jede protestantische Theologie liberale Theologie sein und muß es bleiben, auch dann, wenn sie durch ein Zeitalter, das Sicherheit der Wahrheit vorzieht, angegriffen und unterdrückt wird. Aber es war auch das protestantische Prinzip, das den orthodoxen Theologen (sowohl den alten als auch den neuen) dazu führte, die Schrift als die Heilige Schrift zu betrachten, nämlich als ein ursprüngliches Dokument des Ereignisses, das „Jesus der Christus" genannt wird und das das Kriterium jeder Schrift und die Manifestation des protestantischen Prinzips ist. In dieser Beziehung muß die protestantische Theologie „ortho-dox" sein und muß stets den Boden behaupten, in dem die kritische K r a f t des protestantischen Prinzips wurzelt. Es war das protestantische Prinzip, das den orthodoxen Theologen (sowohl den alten als auch den neuen) dazu zwang, anzuerkennen, daß der Mensch gerade in seiner Existenz Gott entfremdet ist, daß eine verzerrte Menschlichkeit unser Erbteil ist und daß kein menschliches Bemühen und kein Gesetz des Fortschritts diese Situation überwinden kann, sondern nur der paradoxe und versöhnende A k t der göttlichen Selbsthingabe. In dieser Beziehung vor allem muß die protestantische Theologie zu allen Zeiten orthodox sein. Ist die Annahme dieser Sätze liberale, ist sie orthodoxe Theologie? Ich meine, sie ist weder das eine noch das andere. Ich meine, sie ist protestantisch und christlich, und wenn ein terminus technicus gewünscht wird, ist sie „neu-dialektisch". Diese Einleitung wurde in der verwirrenden Periode nach dem Ende des zweiten Weltkrieges geschrieben. Was sind die Chancen des geschichtlichen Protestantismus in dieser Ära? Was sein möglicher Beitrag zu dieser Ära? Wird die neue Ära in irgendeinem vorstellbaren Sinn

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eine protestantische Ära sein, so wie es gewiß die Ära zwischen der Reformation und dem ersten Weltkrieg war? Die Kriege und Revolutionen, die die erste H ä l f t e des 20. Jahrhunderts kennzeichnen, sind Symptome des Zerfalls von Leben und Denken des liberalen Bürgertums und einer radikalen U m w a n d l u n g der westlichen Kultur. Insoweit der Protestantismus ein Element in der sich wandelnden Struktur der westlichen Welt ist (und nichts als das), nimmt er teil an dem Zerfall und Umwandlungsprozeß. Er ist nicht unberührt von dem Drängen nach einer stärker kollektivistischen Lebensordnung, gesellschaftlich wie geistig. Er ist bedroht durch die Gefahren dieses Drängens, und er kann vielleicht an dessen Aussichten teilnehmen. Wir können noch kein Bild dieser kommenden Ä r a und der Situation des Christentums und des Protestantismus in ihr haben. W i r sehen Elemente dieses Bildes, die sicher darin erscheinen werden, aber wir sehen das Ganze nicht. Wir kennen nicht das Schicksal und den Charakter des Protestantismus in dieser Ära. Wir wissen sogar nicht, ob er den Namen Protestantismus wünscht und verdient. All das ist nicht bekannt. Aber wir wissen dreierlei: wir kennen das protestantische Prinzip, seine ewige Bedeutung und seine fortdauernde K r a f t in allen Geschichtsepochen. Wir wissen, wenn auch nur bruchstückweise, die nächsten Stufen, die der Protestantismus nehmen muß im Lichte seines Prinzips und im Blick auf die gegenwärtige Situation seiner selbst und der Welt. U n d wir wissen, daß er diese Stufen unwillig nehmen wird, mit vielen Mißtönen, Rückfällen und Fehlschlägen, aber getrieben von einer Macht, die nicht die seine ist. Darf ich mit einer persönlichen Bemerkung schließen? Es war das „ekstatische" Erlebnis des Glaubens an einen Kairos, der nach dem ersten Weltkrieg die meisten der Gedanken, die in diesem Buch erscheinen, schuf oder zumindest einleitete. Nach dem zweiten Weltkrieg gibt es kein derartiges ekstatisches Erlebnis, aber ein allgemeines Empfinden dafür, daß mehr Dunkelheit als Licht vor uns liegt. Heute herrscht ein Element des zynischen Realismus vor, wie zu jener früheren Zeit ein Element utopischer H o f f n u n g vorherrschte. Das protestantische Prinzip stellt beide unter das Gericht. Es rechtfertigt die Hoffnung, obgleich es ihre utopische Form zerstört, es rechtfertigt den Realismus, obgleich es seine zynische Form zerstört. Im Geiste eines solchen Realismus der H o f f n u n g muß der Protestantismus die neue Ära beginnen, mag diese Ära nun von den späteren Geschichtsforschern als eine nachprotestantische oder protestantische Ä r a beschrieben werden; denn nicht die protestantische Ära, sondern das protestantische Prinzip ist von ewiger Dauer. 28

DER PROTESTANTISMUS

ALS

UND GESTALTENDES

I. Der Protestantismus

KRITISCHES

PRINZIP

als kritisches

Prinzip

a) Die beiden Arten der K r i t i k K r i t i k geistiger und sozialer Gestalten kann von zwei Standorten ausgehen. Der eine ist der Standort des Ideals, an dem eine Gestaltung gemessen wird. D e r andere ist der Standort des Jenseits der Gestaltung, von dem aus die Gestaltung als solche in Frage gestellt wird. Die erste A r t der Kritik hat einen Maßstab und kann von ihm aus J a und Nein verteilen. Das ist ein rationales Unternehmen, auch wenn der Maßstab selbst nicht rational gewonnen ist. Die zweite Art der K r i t i k hat keinen Maßstab; denn das, was jenseits der Gestaltung liegt, ist keine verwendbare, zum Messen benutzbare Gestalt. Sie verteilt darum auch nicht das J a und Nein, sondern sie verbindet ein unbedingtes Nein mit einem unbedingten J a . Diese K r i t i k ist nicht rational, sondern prophetisch 1 . - So wird z. B . ein wissenschaftliches Ergebnis gemessen an dem Ideal wissenschaftlicher Evidenz, die für dieses Gegenstandsgebiet gilt. Die wissenschaftlichen Gebilde überhaupt aber werden in Frage gestellt - und vielleicht gerechtfertigt - von dem, was jenseits aller menschlichen Erkenntnis liegt, was „höher ist als alle V e r n u n f t " . Eine soziale Einrichtung wird gemessen an dem sozialen Ideal, etwa der Gerechtigkeit in seiner verschiedenartigen Fassung. Die soziale Gestalt überhaupt wird in Frage gestellt - und vielleicht gerechtfertigt - von dem, was jenseits aller sozialen Gestaltung liegt, was „überschwenglich" ist gegenüber dem Leben in der Gerechtigkeit. Die sittliche Reife eines Menschen wird gemessen an dem Ideal der sittlichen Persönlichkeit und dem G r a d der Annäherung an dieses. Die sittliche Persönlichkeit überhaupt in ihrer Reife und Unreife wird in 1 Das Wort „prophetisch' ist von der einmaligen Erscheinung der israelitischen Prophetie abstrahiert und bezeichnet die aus dem „Jenseits des Lebens" kommende Verkündigung der Krisis des Lebens. Das Recht zu einer solchen Abstraktion stände der Wissenschaft auch dann zu, wenn die israelitische Prophetie als einmalige Erscheinung im streng supranaturalistischen Sinne zu deuten wäre.

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Frage gestellt - und vielleicht gerechtfertigt - von dem „Heiligen", das jenseits aller persönlichen Gestaltung liegt. Das Jenseits der Gestalt, das die Gestalt als solche kritisiert, ist nicht etwa das Leben, das den Geist in Frage stellt. Das Leben ist selbst Gegenstand der Kritik, und zwar einer Kritik, die vom Ideal ausgeht, und einer Kritik, die vom Jenseits des Lebens ausgeht. Die Kritik am Leben, die vom Ideal ausgeht, mißt das Leben mit Maßstäben, wie Gesundheit, Macht, Reichtum, schöpferische K r a f t . Diese Ideale sind aber nicht selbst Leben, wie die „Philosophie des Vitalen 2 " meint, wenn sie das Leben gegen den Geist stellt. Denn im Leben sind auch K r a n k heit, Ohnmacht, Armut, Erschöpfung zu finden. Es ist der Geist, der das Ideal des Lebens aus der Zweideutigkeit des Lebens heraushebt und gelegentlich - in einem eigentümlichen Selbstvernichtungswillen 3 - als „Leben" gegen sich selbst stellt. - U n d wie das „Leben" nicht Standort der rationalen, so ist es auch nicht Standort der prophetischen Kritik. D a ß durch das Leben jede Gestalt des Lebens in Frage gestellt, zurückgenommen wird, ist ein Element des Lebens selbst. Dieses Setzen und Zurücknehmen ist das Leben. Die prophetische Kritik aber stellt gerade dieses Setzen und Zurücknehmen als Einheit des Lebens in Frage. Sie stellt sich nicht auf die Seite des Zurücknehmens gegen das Setzen, aber auch nicht umgekehrt. Sie schließt sich weder dem metaphysischen Pessimismus an, der den T o d gegen das Leben bejaht, noch dem metaphysischen Optimismus, der das Leben gegen den T o d bejaht. Sondern sie steht jenseits dieser Möglichkeiten; denn sie steht jenseits des Lebens. U n d vom Jenseits des Lebens stellt sie das Leben in Frage. Beide Arten von Kritik wurzeln in der Erhebung über das bloße Sein, auch über die Unmittelbarkeit dessen, was als Leben im Sinne der Vitalphilosophie gilt: die rationale Kritik in der Erhebung des Geistes über das Sein, die prophetische Kritik in dem Erschüttertsein des Lebens und des Geistes durch das, was jenseits beider liegt. Beide Arten von Kritik setzen also einen Bruch voraus mit der Unmittelbarkeit des Daseins. Der Sinn dieses Bruches ist freilich beide Male verschieden: das eine Mal wird das Sein nicht überschritten, sondern es wird das unmittelbare Sein gemessen an dem wahren Sein, das Gegebene an dem Gesuchten und dem Geforderten. Die Kritik geht vom Sein aus und wendet sich gegen das Sein. Ihre Voraussetzung ist die 2 So nenne ich die neueste von Klages und anderen vertretene Phase der Lebensphilosophie. 3 Diese „Misologie" (Hegel) des Geistes gegen sich selbst spielt zur Zeit auch in der Jugend eine erhebliche Rolle.

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Zerspaltung des Seins in eine Wesensschicht und eine dem Wesen entfremdete Schicht. - Die andere Art der Kritik beruht dagegen auf dem Überschreiten des Seins, des wesenhaften und des wesenswidrigen. Dieses Überschreiten ist der „Glaube". Es ist infolgedessen ein vollkommener Widerspruch, wenn von einer „Religion innerhalb" gesprochen wird 4 . Eine solche Religion wäre ein Überschreiten, das innerhalb des zu Überschreitenden bliebe. Wo diese Auffassung herrscht, wird naturgemäß die prophetische Kritik mit der rationalen gleichgesetzt, die unbedingte Transzendenz mit der bedingten Transzendenz des Geistes verwechselt. Die Möglichkeit solcher Verwechslung - das wesentliche Merkmal der in sich ruhenden autonomen Kultur - treibt zu der Frage: Wie weit gehen beide Arten der Kritik den gleichen Weg und wo trennen sie sich? - Entscheidend für die Beantwortung ist folgende Erwägung: Wenn die aus dem Jenseits von Sein und Geist kommende Kritik wirklich Kritik, d. h. Kraft der Scheidung sein soll, so darf sie nicht so ergehen, daß sie Sein und Geist in abstracto in Frage stellt; ein solches Infragestellen würde zu keiner Scheidung (Krisis) führen können, würde alles beim alten lassen oder vielmehr: würde die konkrete, also wirkende Kritik dem rationalen Weg überlassen. Es stehen dann auf der einen Seite radikal negative Urteile über das Sein als solches, auf der anderen Seite findet sich letzte Gleichgültigkeit gegen die kritische Lage innerhalb des Seinskreises. Es ist klar, daß diese Haltung als Gegenschlag gegen die in sich ruhende Autonomie ein sehr weitgehendes geschichtliches und sachliches Recht hatte. Es ist aber auch klar, daß auf diese Weise das Verhältnis der beiden Arten von Kritik nicht getroffen wird. - Man spricht zur Zeit häufig von dem „existentiellen" Charakter der prophetischen Kritik. Zweifellos war es richtig, sie aufzuzeigen und den Charakter des „unbedingten Angehens" zu betonen, der jeder wirklich religiösen Verkündigung zukommt. Aber die Konkretheit der prophetischen Kritik war durch diese Benennung als solche noch nicht gesichert. Denn es kommt darauf an, wie das „Existentielle" aufgefaßt wird. Nur dann kann die prophetische Kritik konkret werden, wenn das Existentielle die ganze Breite der wirklichen Existenz umfaßt, und zwar so, daß es in ihr zur Scheidung kommt. Es ist darum auch in der maßgebenden alttestamentlich-prophetischen Kritik immer konkret-rationale Kritik in die prophetische aufgenommen. Und wenn die sogenannte dialektische Theologie von unserer Zeit in irgendeinem Sinne als prophetisch empfunden wurde, so war das nur möglich, weil sie mit der entschlossenen 4

„Innerhalb der bloßen Vernunft" (Kant) oder „innerhalb der Humanität" (Natorp). 31

Verkündigung des „Jenseits von Sein und Geist" ganz konkrete, vom Ideal der Theologie aus rationale Kritik an der tatsächlichen Theologie, also am Geist, übte. Die Grenze ihrer Wirkungskraft war darin begründet, daß sie den unlöslichen Zusammenhang des theologischen Ideals mit allen übrigen und darum der theologischen Kritik mit aller anderen rationalen Kritik übersah und dadurch - ohne es zu wollen - das Theologische zum Sondergebiet der prophetischen Kritik machte. Die Wirkung war zum Teil die Ermächtigung der religiösen Kritik an den übrigen Kulturgebieten, wie sie z . B . im „religiösen Sozialismus" vorlag, und damit eine Ermächtigung der bestehenden Formen und Gewalten des profanen Lebens. Die abstrakt prophetische Kritik (abstrakt nicht in bezug auf die Theologie, aber in bezug auf Wissenschaft, Gesellschaft, Kunst usw.) wirkte konservativ, und zwar in eigentümlicher Sachdialektik schließlich auch in der Theologie selbst, denn ihr wurde nun die von den übrigen Kulturgebieten ausgehende rationale Kritik abgeschnitten. Das Auseinander beider Wege der K r i tik bewirkt also, wie diese Entwicklung zeigt, eine Abschwächung der kritischen Haltung überhaupt. Es besteht zwar keine Identität, wohl aber eine Angewiesenheit beider Wege aufeinander. Die vom Jenseits von Sein und Geist ausgehende Kritik wird konkret in der im Seinskreise selbst sich erhebenden Kritik des Geistes gegen das Sein. Die prophetische Kritik wird konkret in der rationalen 5 Kritik. Und die rationale Kritik bekommt durch die prophetische den Charakter der Unausweichlichkeit, Unbedingtheit. Darin wirkt sich der existentielle Charakter der prophetischen Kritik aus. Sie stellt die Existenzfrage im letzten, unbedingten Sinne. Die rationale Kritik kann das nicht, da sie das Sein als solches nicht in Frage stellen, sondern immer nur auf Annäherung des widerstrebenden an das wahre Sein dringen kann. Aber dieses Dringen hat nicht den Charakter der Unausweichlichkeit. Denn das Sein als solches ist ja nicht in Frage gestellt. Das bedeutet, daß alle autonome Kritik ihre letzte Ernsthaftigkeit von der dahinterstehenden prophetischen Kritik bekommt. Ein Blick auf die Geschichte z. B. der sozialen Kritik bestätigt diesen Satz mit überwältigender Deutlichkeit 6 . Die andere Seite aber ist die, daß die so zu ihrer eigenen Tiefe gebrachte rationale Kritik durch die prophetische zugleich in ihrer Begrenztheit erwiesen wird. Das, wo8 Rational bedeutet in dieser ganzen Auseinandersetzung: der Sphäre der Idealbildung angehörig, vernunftimmanent. Dabei kann das Ideal sehr irrational, z. B. intuitiv gewonnen sein. ® Die Abhängigkeit der sozialen Kritik des Abendlandes von der sozialen Kritik der alten Prophetie und der christlichen Sekte ist zur Genüge erhärtet.

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durch das Sein in Frage gestellt wird, ist nicht angewiesen auf die Erfüllung im Sein. Es enthält eine Erfüllung, die jenseits der kritischen Situation steht. Der Ausdruck dafür ist: „Gnade". In der Gnade wird die prophetisch vertiefte Kritik selbst wieder kritisiert. Ihr letztes Recht, das Sein aufzuheben, wird ihr bestritten. Aber es wird ihr bestritten, nachdem es bis zur unbedingten Ernsthaftigkeit durchgeführt ist. - Auf die Frage, inwieweit die Wege beider Kritiken zusammengehen, ist also zu antworten: In der rationalen Kritik wird die prophetische konkret. In der prophetischen Kritik erhält die rationale ihre Tiefe und ihre Grenze, ihre Tiefe durch die Unbedingtheit des Anspruchs, ihre Grenze durch die Gnade. b) Protestantische Kritik Die Kritik des Protestantismus ist prophetische Kritik. Sie enthält die Merkmale der prophetischen Kritik, die sich in der vorhergehenden Betrachtung ergeben haben: sie geht aus von dem Jenseits des Seins und des Geistes und stellt von dort aus beides in Frage. Sie ist zusammengeschlossen mit der rationalen Kritik und gibt ihr die unbedingte Ernsthaftigkeit. Sie setzt der rationalen Kritik die Grenze durch Verkündigung der Gnade. An dem Kampf um die Rechtfertigung, dem eigentlich kritischen Begriif des Protestantismus, wird das deutlich. Die Rechtfertigung geht aus von dem Jenseits von Sein und Geist. Sie stellt die Existenz als solche in Frage und berücksichtigt nicht die teilweise Annäherung des widerstrebenden Seins an das wahre Sein. Der Kampf Luthers gegen den Anspruch der Vernunft, von sich aus die Wahrheit erfassen und verwirklichen zu können, ist der Ausdruck f ü r den Seins- und Geisttranszendenten Charakter der von ihm gemeinten Wahrheit. U n d sein Kampf gegen das Recht des freien Willens in der Rechtfertigung ist der Ausdruck f ü r den Geist - und Freiheit - transzendierenden Charakter der Rechtfertigung. Es ist durchaus verfehlt, wenn Luthers Kampf gegen die Vernunft als Kampf gegen die Autonomie verstanden wird, etwa für die Heteronomie. Er muß vielmehr in aller prophetischen Verkündigung verstanden werden als Kampf gegen die Selbstgenügsamkeit der Autonomie oder als Kampf gegen die Verwechslung von Geist mit dem Jenseits von Sein und Geist. U n d es ist durchaus verfehlt, wenn Luthers Kampf gegen den freien Willen verstanden wird als Kampf gegen den Indeterminismus etwa f ü r den Determinismus. Er muß vielmehr in aller prophetischen Verkündigung verstanden werden als Kampf gegen die Verwechslung der Freiheit mit dem Jenseits 33

von Sein und Freiheit. Die Leidenschaft, mit der Luther den Kampf in dieser Richtung geführt hat, entspricht der Gefahr, daß die prophetische Kritik, die im Protest Luthers wirksam war, in rationale Kritik aufgelöst wurde. Diese Gefahr war um so größer, als dem Wesen der prophetischen Kritik entsprechend der Protestantismus die rationale Kritik an Kirche und Kultur teils aufnahm, teils erweiterte und verstärkte. Die „Riickwendung zu den Quellen", die Protestantismus und Humanismus verband, entsprang ja dem Willen, das Seiende in Kirche und Kultur am Ideal zu messen. In den Quellen der abendländischen Kultur, Schrift und Antike, sah man zugleich ihre Ideale. Die protestantische Kritik an der scholastischen Theologie ist immer auch eine Kritik aus dem biblisch-klassischen Ideal theologischer Arbeit. Die K r i t i k an der Kirche ist immer auch Kritik aus dem biblizistischen Ideal der mittelalterlichen Sekte. Die Kritik an den römischen Mißbräuchen ist immer auch Kritik aus dem nationalen Bewußtsein. U n d das war um so gewichtiger, als die Renaissance ihrerseits sich keineswegs als in sich ruhende autonome Kultur fühlte, sondern zunächst und bewußt als religiöse Wiedergeburt der christlichen Gesellschaft. Es ist nicht zweifelhaft, daß die Breite seiner geschichtlichen Wirkung unmöglich gewesen wäre, hätte Luther nicht in der umfassenden Gemeinschaft all dieser rationalkritischen Bewegungen gestanden. U n d es ist die Befürchtung kaum abzuweisen, daß die neu-protestantische Theologie dadurch, daß sie immer nachdrücklicher diese Gemeinschaft zerbrochen hat, den geschichtlichen Augenblick verpaßt, der ihr und mit ihr dem Protestantismus der Gegenwart gegeben ist 7 . Das Lutherbild, das auf diesem H i n tergrund entsteht, läßt jede Beziehung zu der rationalen Kritik der geschichtlichen Mächte vermissen 8 . Darin ist die Lutherauffassung der Holischen Schule weit überlegen 9 . Aber sie macht diese ihre Möglichkeit für die Gegenwart dadurch unwirksam, daß sie die geschichtlich bedingten Formen der rationalen Kritik in Luthers prophetischem W o r t unmittelbar an die Gegenwart heranbringt, anstatt sie aus der T i e f e der Gegenwart, aus dem Kairos neu hervorbrechen zu lassen 1 0 . 7 Das ist um so schmerzlicher, als sie ihrem Ursprung und ihrer ersten Wirkung nach einer konkret-kritischen Bewegung, dem religiösen Sozialismus, angehörte. 8 Vgl. die Urteile Gogartens über Luther besonders in seinem Nachwort zu De servo arbitrio. 9 Holl selbst hat vielerorts die rationale Kritik, die bei Luther vorliegt, zum Gegenstand seiner Darstellung gemacht. !0 So kommt es, daß Luther in den rein gegenwartsbezogenen Darstellungen mit seltenen Ausnahmen im ganzen negativ gewertet wird.

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Jedenfalls ist die Tatsache nicht zu bestreiten, daß in der ursprünglichen Verkündigung des Protestantismus die prophetische Kritik zusammengeschlossen war mit einer umfassenden rationalen Kritik, so allerdings, daß die rationale Kritik zu ihrer Tiefe und eben damit zu ihrer Grenze kam. Denn dieses ist das dritte im Kampf Luthers und sein entscheidendes Anliegen gegenüber der Kirche, daß er die Kritik überwand durch die Gnade. Die „Gerechtsprechung des Sünders", die „Gerechtigkeit allein durch den Glauben" ist Ausdruck für das, was die kritische Situation in ihrer unbedingten Tiefe überwindet. Die katholische Gnadenlehre hatte die rationale Kritik in den Gnadengedanken mitaufgenommen. Sie ließ die Gnade mitbedingt sein durch die Erhebung der Freiheit über das Sein, durch die Annäherung des widerstrebenden an das wahre Sein. Das war aber nur möglich, wenn gleichzeitig die unbedingte Ernsthaftigkeit der Kritik abgeschwächt wurde. Und so geschah es auch in der nominalistischen Theologie bewußt und entschlossen. Der Kampf um den „Glauben ohne Werke" ist nicht der Kampf eines Heilsweges gegen einen anderen, sondern es ist der Kampf um den unbedingten Ernst und die unbedingte Überwindung der Kritik. Im ursprünglichen Durchbruch der Reformation wurde das fast ausnahmslos verstanden; später, als die umstrittenen Stellungen gewonnen waren, ging in ihrer Sicherung und ihrem Ausbau der Sinn des Durchbruchs verloren. Die nachreformatorischen Streitigkeiten im Protestantismus beider Richtungen sind deswegen so unerfreulich, weil in ihnen die Transzendenz der Gnade durch Vergegenständlichung mißdeutet wurde, die Rechtfertigung wie die Prädestination. Beide Begriffe sind aber nur sinnvoll, wenn sie als Hinweise auf die Situation verstanden werden, in denen die prophetische Kritik zugleich ihre Erfüllung und ihre Überwindung erfährt. Beide Begriffe sind Korrektive gegen die Abschwächung von Kritik und Gnade. Und beide Begriffe bekommen eine verhängnisvolle Wendung, sobald sie Vorgänge bezeichnen sollen, die im gegenständlichmetaphysischen oder religiös-methodischen Sinne von der Theologie zu beschreiben wären. Fragen wie die nach der doppelten Prädestination als Vorgang und nach dem Nutzen oder Schaden der guten Werke für die Seligkeit setzen voraus, daß die echte Situation der prophetischen Kritik nicht mehr vorliegt 11 . 11 Die Voraussetzung solcher Fragen ist ein gegenständlicher Gottesbegriff, der es erlaubt, über Gott als metaphysisches Objekt Aussagen zu machen, die sich von dem alten Mythos nur dadurch zu ihrem Nachteil unterscheiden, daß sie rational gegenständlich gemeint sind. Der Protest gegen diesen Gottesbegriff gehört zu den vornehmsten Aufgaben protestantischer Kritik.

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Die protestantisdie Kritik ist prophetische Kritik, und zwar prophetische Kritik in dem vollen Sinne, daß sie die rationale Kritik enthält, zur Tiefe und zur Grenze treibt. Das Gewicht des Protestantismus liegt von Anfang an in dieser Kritik. Sie hat ein starkes Übergewicht über die Gestaltung. Und doch fehlt dem Protestantismus das gestaltende Prinzip nicht, kann ihm sowenig fehlen wie irgendeiner anderen Wirklichkeit. Denn die Gestalt ist das Prius der Krisis, die rationale Gestalt die Voraussetzung der rationalen Kritik, die Gestalt der Gnade die Voraussetzung der prophetischen Kritik.

II. Der Protestantismus

als gestaltendes

Prinzip

a) Die beiden Arten der Gestaltung Die Voraussetzung jeder rationalen Kritik ist die rationale Gestaltung. Denn die Kritik geht aus von dem Ideal. Das Ideal aber ist erschaubar nur auf Grund des Stehens in einer konkreten Gestalt. Das Inhaltliche jedes Ideals ist konkret; es entspricht der wirklichen Gestaltung, in der der Schauende steht. Nur das Formale des Ideals, das was seinen Charakter als Ideal bestimmt, ist abstrakt, ist gültig für jedes Ideal und darum unabhängig von jeder besonderen Gestalt. Aber freilich: Selbst die Tatsache, daß das Abstrakt-Formale des Ideals als solches erfaßt werden konnte, ist bedingt durch eine besondere Gestalt, durch diejenige nämlich, in der die Gestalt die Tendenz zu ihrer eigenen Auflösung hat. Dieser eigentümliche und seltene Fall darf aber nicht zur Norm gemacht werden. Die Erfassung des abstrakten Idealcharakters ohne Gestaltgrundlage, z. B. durch Kant, setzt eine geistige und soziale Gestalt voraus, deren Wesen die Gestaltauflösung ist 12 . Dabei ist es keineswegs nötig, daß die Auflösung sehr weit gediehen ist; nur die Tendenz muß da sein und die Gestalt charakterisieren. Dann kann die Erfassung dieser Tendenz selbst die Auflösung beschleunigen. Jedenfalls ist die kritizistische Form der rationalen Kritik nur ein Sonderfall. Und es ist durchaus unangemessen, sie mit der prophetischen Kritik des Protestantismus in eine besonders enge Beziehung zu bringen. Im Gegenteil: Es gibt im Grunde keine ohnmächtigere Art der Kritik als die kritizistische. Denn sie ist nicht getragen von der Macht einer werdenden Gestalt. Sie ist abstrakt und dazu verurteilt, Angelegenheit der Schule zu werden und höchstens die konkrete Kritik zu hindern. 1 2 Es ist die Eigentümlichkeit der bürgerlichen Gestalt der Gesellschaft, daß in ihr von vornherein die Tendenz auf Gestaltauflösung maßgebend ist.

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Als der Protestantismus sich mit der kritizistischen Kritik verband, verband er sich mit der Schule gegen das Leben, mit der in sich gestaltlosen Gesellschaft gegen die werdenden Gestalten, mit der Ohnmacht der Abstraktion gegen die Macht der konkreten Schau. Der Kritizismus ist Kritik; aber sein Ideal ist das Ideal einer alle konkreten Gestalten auflösenden abstrakten Gesellschaft. Es ist das abstrakte Ideal, in dem alle besonderen gestaltbegründeten Inhalte aufgehoben sind und nur noch das Formale des Ideals überhaupt übriggeblieben ist. Wenn die „dialektische" Theologie sich von neuem mit dem Kritizismus verbinden will 13 (die ältere Ritschlsche Verbindung hatte noch viele inhaltlich humanistische Elemente des Aufklärers Kant übernommen), so zeigt sie damit nur ihre Gleichgültigkeit gegen die wirkliche rationale Kritik. Sie wählt Kant als Schöpfer des Kritizismus, weil er sie nicht in die Verlegenheit bringt, innerhalb der rational-kritischen Sphäre sich wirklich entscheiden zu müssen. Denn wenn alles kritisiert ist, so ist im Grunde nichts kritisiert, und den Vorteil hat das Bestehende, das unangetastet bleibt. Dabei vergißt freilich diese Theologie, daß sie doch eine heimliche Entscheidung getroffen hat, nämlich für die zur Auflösung aller Gestalten treibende bürgerliche Gesellschaft, in der allein die abstrakte Kritik möglich ist. Diese Erörterung zeigt, daß alle rationale Kritik von einer gegebenen Gestalt ausgeht und selbst der Kritizismus noch von der gestaltzersetzenden Gestalt lebt. Das Verhältnis von Ideal und Gestalt darf nun freilich nicht so gedacht werden, daß das Ideal ein Abbild der tatsächlichen Gestalt ist. Dann würde es nicht über sie hinaustreiben, sie nicht unter Kritik stellen können. Sondern das Ideal ist der Ausdruck der aus den Spannungen einer gegenwärtigen Gestalt sich herausringenden werdenden Gestalt. Gestalt im geistig sozialen Sinne ist immer auch werdende Gestalt. Die fixiertesten gesellschaftlichen Gestaltungen haben in sich eine Kraft der Umbildung durch das Ideal, das immer einen Schritt weiter ist als sie selbst. Es handelt sich also nicht um die stets mangelhafte Angleichung der Wirklichkeit an das Ideal. Das Ideal einer Gesellschaft ist verwirklicht nicht in der Masse ihrer Glieder oder Verhaltungen, sondern in ihren symbolischen Einrichtungen, Vorgängen und Persönlichkeiten. In ihnen aber ist es auch wirklich erfüllt. Denn alle Erfüllung ist repräsentativ. Das ist das logische Verhältnis von Ideal und Erfüllung, nicht etwa eine mechanische Angeglichenheit. Bei 1 3 Vgl. Brunner und andere. Mir scheint dieser Vorgang symbolisch dafür zu sein, daß der Protestantismus sich wieder einmal außerhalb der konkreten Entscheidungen des Kairos stellt und sich damit tatsächlich für das Bestehende entscheidet.

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einer solchen ließe sich schon deswegen nichts denken, weil das Ideal nie anschaulich gegeben, sondern immer nur durdi Symbole hindurch gemeint ist. R a t i o n a l e K r i t i k ist K r i t i k der werdenden an der vergehenden Gestalt. Dieses ist ihre K o n k r e t h e i t und ihre Macht. Dieses scheint aber auch ihre Zufälligkeit und Gleichgültigkeit zu sein. D e n n das Sichablösen der Gestalten ist kein V o r g a n g , dessen Beobachtung oder Mitvollzug unbedingte Ernsthaftigkeit

verdiente. D i e rationale

Kritik

würde ihr innerstes Pathos verlieren, wenn sie nur im N a m e n der werdenden Gestalt spräche. In W a h r h e i t ist es auch nicht so. D i e rationale K r i t i k enthält in sich das abstrakte Moment des Ideals überhaupt. U n d dieses Element ist bei jedem Messen an einem konkreten Ideal wirksam. Freilich ist es nicht offenkundig und greifbar wirksam. Es ist der Irrtum des Kritizismus, daß er meint, das abstrakte Element des Ideals, das was das Ideal zum Ideal macht, herausarbeiten und zu wirklicher K r i tik benutzen zu können. A u f diese Weise aber entsteht die ohnmächtige kritizistische K r i t i k , der Ausdruck grundsätzlicher Auflösung. In der wirklich konkreten und darum vollmächtigen K r i t i k ist das abstrakte Moment des Ideals eingehüllt in das konkrete; es liegt in der T i e f e der konkreten K r i t i k und gibt ihr unbedingten Ernst. Aber es ist als solches nicht f a ß b a r . D e r Ernst der rationalen K r i t i k liegt in dem, was das Ideal zum Ideal macht, in der Q u a l i t ä t des Idealseins. Es ist aber nicht möglich, diese durch Abstraktion herauszuholen und an ihr die W i r k lichkeit zu messen. Es gibt kein allgemeines abstraktes Ideal des Staates, der Ehe, der Architektur, der Methode. Aber in jedem Ideal, das sich kritisch erhebt, steckt als verborgener Ernst das Idealsein als solches, das z w a r abstrakt formuliert, aber in dieser Abstraktheit nicht angewandt werden k a n n 1 4 . In jedem lebendigen Ideal ist das Allgemeine des Ideal-Seins eingebettet in eine K o n k r e t h e i t , die hinabreicht bis in die Vitalsphäre. D i e Q u a l i t ä t der lebendigen Substanz ist in jedem Wesen verschieden. D i e primitivsten R e a k t i o n e n auf die Außenwelt, selbst die Empfindung, sind mitbestimmt durch den gesamten vitalen Aufbau. Das gleiche gilt von der seelischen und sozialen K o n k r e t h e i t , die selbst wieder in Wechselwirkung steht mit der vitalen Gestalt. In jedes Ideal und damit in jede rationale K r i t i k gehen diese Wirklichkeiten ein. D e r I d e a l - C h a rakter ist eingeschlossen in die Tendenzen der lebendigen, seelischen, 1 4 Das edite Ideal ist das Erschaute einer werdenden Gestalt. Die Verwirklichung des Ideals ist das Gewordensein der neuen Gestalt. Daß eine neue Gestalt geworden ist, zeigt sich an den strukturell tragenden Elementen; erst durch sie werden allmählich auch die Einzelvorgänge bestimmt.

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sozialen Substanz. Durch sie hat das Ideal seine Macht, hat die Kritik ihre gestaltende Kraft. Darauf beruht das Recht aller Versuche, den Geist vom Leben her, die Idealbildung vom sozialen und seelischen Sein her zu verstehen 15 . Die philosophische Durchformung dieser Richtungen ist freilich durch den unfruchtbaren Gegensatz verhindert worden, in den sie sich zum Kritizismus gestellt haben. Sie sind in einer unvollkommenen und philosophisch leicht widerlegbaren Fassung in das allgemeine Bewußtsein übergegangen und haben trotzdem eine starke, oft verhängnisvolle kritische und kritikhemmende Wirkung gehabt 16 . Erst ihr Zusammenschluß mit dem gereinigten kritischen Bewußtsein kann zu einer angemessenen Theorie der Idealbildung sowie der rationalen Kritik und Gestaltung führen. Der Idealcharakter, der verborgen in der Idealbildung wirkt, gibt dem Ideal seine Ernsthaftigkeit und gibt der prophetischen Kritik die Möglichkeit, sich mit der rationalen zusammenzuschließen, das konkrete Ideal aufzunehmen. Das aber setzt voraus, daß auch die prophetische Kritik auf einem Sein, einer religiösen Gestalt ruht, von der aus ihre Kritik ergeht. Hier erhebt sich nun die Schwierigkeit, daß das Sein, von dem aus die prophetische Kritik spricht, das „Jenseits von Sein und Freiheit" ist. Das aber ist nicht konkret faßbar, wie die lebendige Gestalt. Es gehört auch nicht dem Werden an, sondern es trägt in jeder Beziehung den Charakter des „Jenseits" an sich. Es darf darum auch nicht mit den religiösen Gestalten und ihrem Wechsel gleichgesetzt werden. Die religiösen Gestalten gehören als solche durchaus der rationalen Sphäre an; und alles, was von dem Werden der Gestalt, von dem kritischen Ideal und von der Doppelseitigkeit des Ideals gesagt ist, gilt auch für sie. Auch die religiöse Wirklichkeit reicht nach der einen Seite bis ins Biologische 17 und hat nach der anderen Seite den verborgenen allgemeinen Idealcharakter in sich. Jede Religion, jede religiöse Idealbildung und Kritik kann von hier aus verstanden werden. Aber damit ist ihre Intention noch nicht verstanden. Ihre Intention geht ja gerade hinaus über diese Sphäre der Verwirklichung, über das ganze Ineinander und Gegeneinander von Sein und Geist. 15 In größtem F o r m a t v o m Sozialen her bei M a r x , v o m Seelischen her bei Nietzsche und der Tiefenpsychologie. Es ist nicht z u f ä l l i g , d a ß nur v o n hier aus die Philosophie des 19. J a h r h u n d e r t s geschiehtsbildend wurde. 16 M a n denke an den Fanatismus, mit dem der Begriff der Ideologie häufig v o n o r t h o d o x e n M a r x i s t e n zur E n t w u r z e l u n g gegnerischer geistiger G e b i l d e benutzt wird. 1 7 D i e Religionspsydiologie hat v o n jeher ( X e n o p h a n e s ) diese Beziehungen a u f s deutlichste herausgearbeitet.

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Wenn die prophetische Kritik aus einem Sein heraus spricht, so mul sie aus dem transzendenten Sein heraus sprechen, das als transzenden tes zugleich der Wirklichkeit angehören muß. Das transzendente Seil als gegenwärtiges aber ist das Sein der Gnade. Die prophetische Kritil muß hervorbrechen aus einer Wirklichkeit der Gnade oder - um in de Analogie zu bleiben - aus einer Gestalt der Gnade18. Gestalt de1 Gnade - in dieser Zusammenstellung ist das Problem der religiösen Ge staltung beschlossen. - Bei der Bestimmung des Begriffes, der in jener Worten zum Ausdruck kommen soll, sind zwei Abwege zu vermeiden Der eine ist begründet in der Tatsache des Zusammenschlusses der pro phetischen mit der rationalen Kritik, sofern dieses Zusammen aL Gleichheit gedeutet wird. Er sucht demgemäß die Gestalt der Gnade ii der vollkommenen rationalen Gestalt. Erschautes Ideal und Begnadunj werden verwechselt. Die Gnade wird hineingezogen in die Spannuni von Sein und Geist. Die Kraft, jene Spannung durch ihr Erscheinen zi überwinden, wird ihr genommen. Der Ort der prophetischen Kritil wird verlassen. Der andere Abweg ist begründet in dem Gegenwartscharakter der Gnade, sofern dieser umgedeutet wird in einen Gegensfizwi/icharakter. Die Gnade wird fixiert, greifbar, sie wird aufgefaßals eine Wirklichkeit höherer Art, aber ebenso faßbar wie die übrig< Wirklichkeit. Die Gestalt der Gnade wird zu einer Seins-Gestalt höherer Ordnung, z. B. zu einer Kirche, der die Verwaltung der Gnadensubstanz anvertraut ist 19 . Auf diese Weise wird die prophetische Kritil einer bestimmten Wirklichkeit gegenüber unmöglich gemacht. Untei dem Namen „Gestalt der Gnade" wird eine Seinsgestalt der Kritil entzogen. Ist aber die prophetische Kritik eingegrenzt, so ist auch dit Gnade in ihrer Unbedingtheit gebrochen. Denn nun sind geistige Akti erforderlich, damit die fixierte Gnadengestalt wirksam werde. In bezug auf die Gnade gibt es Gesetze, die selbst nicht wieder Gnade sind, z. B die sakralen Gesetze des Katholizismus, aber auch die Forderung dei protestantischen Orthodoxie, den Zweifel an der Schrift oder an dei reinen Lehre als schuldhaft zu unterdrücken. Die Gestalt der Gnade ist keine rationale Idealgestalt, aber sie isi auch keine Seinsgestalt höherer Ordnung. In beiden Fällen wird dei Gnadencharakter zerstört zugunsten des Gestaltcharakters. Darau: 1 8 Ich wähle dieses allseitigem Mißverständnis ausgesetzte Wort, um die Analogie zur rationalen Gestalt so plastisch wie möglich zum Ausdruck zx bringen. Der Sinn des Wortes kann nur aus allem Folgenden verstände! werden. 19 Dieses ist der eigentliche und scharf zu umgrenzende Begriff von „Supranaturalismus".

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kann die Konsequenz gezogen werden, daß es nötig ist, auf die Gestalt der Gnade zu verzichten. So will es z. B. die „dialektische" Theologie. Aber es bleibt bei der Forderung. Auch sie kann nicht umhin, das Sein zu nennen, aus dem ihre prophetische Kritik (oder mehr in ihrem Sinn gesprochen, ihre theologische Formulierung prophetischer Kritik) ergeht. N e n n t sie es aber, spricht sie z. B. vom „Heiligen Geist«, so ist der Gedanke „Gestalt der Gnade" eingeschlossen. Er ist unvermeidlich, denn er ist die Voraussetzung der in Vollmacht (als W o r t Gottes) gesprochenen Kritik. Die Gestalt der Gnade ist die Gestalt dessen, was jenseits von Sein und Freiheit liegt, sofern es in der Spannung von Sein und Freiheit erscheint. Sie ist; und als Seiendes ist sie anschaubar. Aber sie ist als Erscheinung des Jenseits des Seins, und als solche ist sie unfaßbar, unfixierbar, ungegenständlich. Die Gnade ist Gegenwart, aber nicht Gegenstand. Sie ist wirklich in Gegenständen, aber nicht als Gegenstand, sondern als transzendentes Bedeuten eines Gegenstandes. Die Gestalt der Gnade ist Bedeutungsgestalt. Die Gestalt eines Heiligen ist auf der einen Seite Seinsgestalt, all das eingeschlossen, was zum geistig-leiblichen Dasein auch in idealer Vollendung gehört. Auf der anderen Seite bedeutet er etwas, was nicht gegenständlich in ihm nachgewiesen werden kann, was Sein- und Geist-transzendent ist, und was doch den eigentlichen Sinn, die Bedeutung seiner Gestalt ausmacht. Die Wirklichkeit kann Träger werden einer sie unbedingt überschreitenden Bedeutung. W o sie das ist, da ist Gestalt der Gnade. Diese Möglichkeit ist die letzte, tragende und sinngebende Möglichkeit des Seins, und sie ist, wo sie wirklich geworden ist, anschaubar. Das Heilige ist nicht unanschaulich. Aber es ist nicht gegenständlich. Das Heilige wird ungegenständlich angeschaut; es wird als transzendentes Bedeuten angeschaut. Der katholisch-protestantische Streit um die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Kirche ist von hier aus zu entscheiden: die Kirche als Gestalt der Gnade ist anschaulich, aber sie ist nicht gegenständlich. In ihr kann das Jenseits von Sein und Freiheit geschaut werden als ihr transzendentes Bedeuten, aber nicht als ihre empirisch-übernatürliche Qualität. Eine „unsichtbare" Kirche wäre keine Gestalt der Gnade. Sie hätte auch keine Macht der prophetischen Kritik. N u r sofern sie Gestalt der Gnade ist, kann sie in Vollmacht die Krisis verkünden. Wir sagen also: Die sichtbare Kirche ist ihrem Wesen nach Gestalt der Gnade, aber sie ist es nicht in greifbar gegenständlicher Form. Sie hat die Gestalt der Gnade nicht zur Verfügung. Sie kann kein System und keinen hierarchischen Anspruch darauf gründen. Sie hat sie in der Form des Bedeutens. - Bedeuten ist mehr als Hinweis. Das Hinweisende kann 41

äußerlich bleiben zu dem, worauf es hinweist. Das Bedeutende ist geformt durch die Wirklichkeit dessen, was es bedeutet. Die Gesalt der Gnade ist mehr als Hinweis auf die Transzendenz. Sie ist Sihtbarwerden der „Herrlichkeit". Der Protest gegen die hierarchische Vergegenständlichung der Gestalt der Gnade in der Kirche durfte rieht zu einem Verbot werden, „die Herrlichkeit" der Kirche zu schauei20. Das Verhältnis von Anschaulichkeit und Ungegenständlichksit der Gestalt der Gnade kann auch als „Vorwegnahme" bestimmt werien. In Vorwegnahme liegt das zeitliche Bild einer kommenden völlijen Inbesitznahme. Dieses zeitliche Bild ist die notwendige Symbolform alles eschatologischen Denkens; es kann nicht aufgehoben, sondfrn nur in seiner Direktheit gebrochen werden. "Wird es aber - wenn auch als gebrochenes - benutzt, so kann die Gestalt der Gnade als Vorwegnähme dessen bezeichnet werden, was jenseits von Freiheit urd Sein liegt. In diesem Sinne ist alle Mystik Vorwegnahme - freilich lur solange sie nicht Technik der Vorwegnahme ist. Denn als Technik gehört sie in die Spannung von Freiheit und Sein 21 . In diesem Sinne snd Visionen Vorwegnahmen - freilich nur solange man sich ihre: nicht „rühmt", d. h. sie nicht zum Gegenstand des Besitzes macht22. Seist das sakramentale Sterben und Auferstehen, der Geistempfang, die „Erkenntnis Gottes" und die „Liebe" als Qualität der „neuen Kreatur" eine Vorwegnahme, ein Teilhaben an der Gestalt der Gnade, las nie den Charakter des Besitzes annehmen kann 23 . Denn das liegt ja im Begriff der Vorwegnahme, daß es noch nicht genommen werden kann, daß es ein uneigentliches, ein bedeutungstragendes Nehmen ist, aus dem sich keine Vergegenständlichung entwickeln darf. Es ist nun zu fragen, wie sich die Gestalt der Gnade zu den ntionalen Gestalten verhält. Darauf ist grundsätzlich zu antworten: Die Gestalt der Gnade ist wirklich nur in rationalen Gestalten, und zwar so, daß sie diesen einerseits eine Bedeutung verleiht, die über sie hinausgeht, andererseits sich mit der Eigenbedeutung der rationalen Gestalten 2® Analoge Tendenzen, zu einer Gestalt der Kirche zu kommet, s. im „Berneudiener Buch", herausgegeben von der Berneudiener Konferenz, H a m burg 1926; und im „Alter der Kirche", herausgegeben von Rosenst>dc und Wittig. 2 1 D e r Streit über die Mystik kann durch die Unterscheidung von Mystik als Technik und Mystik als Gestalt der Gnade grundsätzlich entichieden werden. 22 Vgl. 2. K o r . 12. 23 D a r i n stimme ich Barth in seiner eschatologischen Deutuig von l . K o r . 13 zu. Barth übersieht nur, daß alles Reden von der eschatologischen Erfüllung erst möglich wird durch „Vorwegnahme" in der Gestalt der Gnade.

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vereinigt. Es liegt also dasselbe Verhältnis vor, wie bei der prophetischen Kritik, die über die Situation der rationalen Kritik hinausgeht und sie doch gleichzeitig in sich aufnimmt. „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung", „der Geist führt in alle Wahrheit", d. h. die Gestalt der Gnade ist Erfüllung der rationalen Gestalten, aber nicht im empirisch erfaßbaren, sondern im vorwegnehmenden, bedeutungtragenden Sinne. Die Gerechtigkeit wird durch die Liebe, die Erkenntnis durch die Wahrheit nicht in ihrer eigenen Ebene verbessert oder vermehrt. Vielmehr erhalten sie eine neue Dimension, eine Dimension, die sich in den vorhandenen als ihr transzendentes Bedeuten darstellt. Die Gestalt der Gnade enthält die Gestalten der Gerechtigkeit und der Erkenntnis in sich. Aber sie steht nicht in der Spannung von Sein und Geist, in denen diese Gestalten wirklich sind. Sie steht jenseits dieser Spannung und zeigt - in Vorwegnahme - eine transzendente Gerechtigkeit, die nicht in dem Widerspruch erkämpft, eine transzendente Erkenntnis, die nicht dem Widerstrebenden abgerungen ist. Die Verschiedenheiten der Gestalt der Gnade gehören der „religiösen Kultur" an. Sie stehen unter der Kritik, der rationalen und der prophetischen. Ja, sie sind der eigentliche Gegenstand der prophetischen Kritik, denn gegen die Verwechslung von „Gestalt der Gnade" und „religiöser Kultur" zu kämpfen, ist das ständige Anliegen der prophetischen Kritik. Es ist die Vergegenständlichung der Gestalt der Gnade, die zu dieser Verwechslung treibt und die sich hier als der menschliche Versuch erweist, die Gnade zu benutzen, um der Kritik zu entgehen. Damit ist andererseits das Redit der religiösen Kultur zum Ausdruck gebracht. Sie ist der Inbegriff derjenigen Formen, in denen die rationale Gestalt ihr transzendentes Bedeuten ausdrückt, in denen sie durch Vorwegnahme den Charakter „Gestalt der Gnade" erhält. Die Existenzformen aller Kirchen und alles individuellen Frommseins haben diesen Sinn. Sie sind nicht für sich etwas. Sie sind nicht mehr als die rationalen Gestalten; aber sie sind der Ausdruck für das transzendente Bedeuten, das in den rationalen Gestalten stattfinden kann. Die Gefahr dieser Ausdrucksformen ist, daß sie unmittelbar die Gestalt der Gnade für sich in Anspruch nehmen. Die Gestalt der Gnade aber ist nicht an sie gebunden und kann erscheinen in rationalen Gestalten, die keine religiösen Ausdrucksformen tragen. Das Heilige kann erscheinen im Gewände der Profanität, obwohl dieses Gewand Verhüllung ist. Diese Möglichkeit ist durch ihr bloßes Vorhandensein Kritik des Anspruchs der religiösen Kultur, selbst Gestalt der Gnade zu sein. Das ist das Gewicht, die Bedrohlichkeit der Profanität für den religiösen Menschen. Sie zeigt ihm die Grenze der religiösen Kultur, sie zeigt 43

ihm die Freiheit der Gnade von der religiösen Kultur. Damit ist freilich der profanen Kultur kein Vorrecht gegeben, denn ihre Gefahr ist es, die Gestalt der Gnade zu verleugnen zugunsten einer bloßen in sich geschlossenen Seins-Gestalt, ihre Gefahr ist es, in dem Sinne autonom zu werden, daß sie sich dem transzendenten Bedeuten entzieht. - Es liegt nun im Verhältnis von Sein und Jenseits des Seins, daß eine Seinsgestalt, die grundsätzlich die Gestalt der Gnade verneint, mit dem Verlust ihrer eigenen Gestalt bedroht ist. Wie die prophetische Kritik der rationalen ihr unbedingtes also transzendentes Gewicht gibt, so gibt die Gnade jeder rationalen Gestalt die Macht zu sein, d. h. teilzuhaben am unbedingten oder transzendenten Sein. Was nur in der Bedrohtheit, nur in der Spannung von Sein und Freiheit stände, wäre schlechthin ohnmächtig. Nur durch die verborgene Gegenwart eines Tragenden aus dem Jenseits von Freiheit und Sein hat die lebendige Gestalt Anteil am Sein. Darum ist in jeder lebendigen Gestalt ein Verborgenes von Gnade, das eins ist mit seiner Macht zu sein. Freilich wird die lebendige Gestalt dadurch nicht zu einer Gestalt der Gnade. Denn sie bleibt in dem Widerstreit von Sein und Freiheit. Erst wo die Uberwindung des Widerstreites erscheint, ist Gestalt der Gnade. Darauf aber ist das Leben jeder Gestalt gerichtet, das ist ihr Sinn, der erfüllt und der verfehlt werden kann. Die sich abschließende Autonomie führt zu Gestaltverlust, weil sie die Gestalt der Gnade verfehlt und damit grundsätzlich die Macht zu sein preisgibt. - Die Tendenz der Gestaltauflösung, auf deren Boden das abstrakte Prinzip der rationalen Kritik erfaßt werden konnte, könnte also grundsätzlich gedeutet werden als ein Verfehlen und Vergeuden der Gnade. Die Verbindung des Protestantismus mit ihm ist der Konsequenz nach eine Verbindung mit Gnadenlosigkeit und Seinsohnmacht. In Wirklichkeit lebt natürlich auch diese Seinsgestalt von dem Erbe der Gestalt der Gnade, aus der sie hervorgegangen ist. Also der Kritizismus von der christlich-protestantischen Gestalt. Eine Frage ist im bisherigen unbeantwortet geblieben, die Frage nämlich, wie es zum Wechsel der Gestalt der Gnade kommt, also zur Erscheinung des Jenseits von Sein und Freiheit in verschiedenen Seinsgestalten. Die Antwort ist gegeben durch das Verhältnis von Kritik und Gestalt. Die Verwirklichung der Gnade ist gebunden an die Art ihrer Einigung mit der prophetischen Kritik. In dem Maße und in der Art, mit der die prophetische Kritik den Charakter einer Seinsgestalt bestimmt, kann sich die Gnade in ihr verwirklichen. Das ist natürlich kein zeitliches Nacheinander. Auch hier gilt, daß das Prius der Kritik die Gestalt ist. Aber das Verständnis einer Gestalt der Gnade ist gegeben 44

durch das Verhältnis von Gnade und Kritik in ihr. Zuletzt handelt es sich immer darum, inwieweit die Gnade benutzt wird, um sich der radikalen prophetischen Kritik zu entziehen. Oder mit einem anderen Begriff, inwieweit die Gestalt der Gnade dämonisiert ist. Der antidämonische Kampf der prophetischen Kritik ist maßgebend für die Gestalt der Gnade, f ü r die A r t des Erscheinens des Jenseits von Sein und Freiheit im Sein. Von hier aus ist es möglich, den Wandel der Gestalten der Gnade und dadurch indirekt den Wandel der historischen Gestalten überhaupt zu verstehen 24 . Von hier aus ist auch das Besondere des protestantischen Prinzips zu erfassen. b) Protestantische Gestaltung Die Gnade ist das Prius der Kritik. Aber jede Form, in der die Gnade erscheint, muß selbst unter der Kritik stehen, d. h. die Gnade darf nicht gegenständlich gemacht werden. Diese Beschreibung ist selbst der protestantischen Grundhaltung entnommen. Das gilt nun freilich auf den historischen Protestantismus gesehen, nur f ü r das Negative, die Ablehnung sowohl der katholischen Vergegenständlichung als auch der autonomen Profanisierung der Gnade. Das Positive, das im folgenden gegeben ist, soll ein Versuch sein, aus der gegenwärtigen Lage vom protestantischen Prinzip her das Problem neu zu sehen und zu lösen. Denn die positive Lösung des Protestantismus ist zerbrochen und hat den Protestantismus an die Grenze des Zerbrechens getrieben. Die Gestalt der Gnade, die der Protestantismus bestehen ließ nach Zerschlagen aller übrigen Gestalten, ist die Schrift. In ihr fand sich die Einheit von prophetischer Kritik und religiöser Gestalt in vollkommener Form. U n d die Berufung auf sie schien jede sakramentale Vergegenständlichung unmöglich zu machen. Es ist bekannt und hinlänglich kritisiert, wie dennoch an dieser Stelle eine neue Vergegenständlichung entstand und damit die Kirche vermittels der reinen Lehre die Gestalt der Gnade fixierte. Der reine Bedeutungscharakter, die Vorwegnahme der Gnadengestalt wurde nicht deutlich. Daraus folgte naturgemäß ein Besitzanspruch auf Wahrheit, der sich der prophetischen Kritik entzog und verhältnismäßig früh der rationalen Kritik zum Opfer fiel. Ein weiteres Problem ergab sich aus der Notwendigkeit der Vergegenwärtigung der Gestalt der Gnade. Denn nur als gegenwärtige ist die Gnade wirklich Gnade. U n d dieses Problem war das schwerste f ü r den Protestantismus. Er befand sich in einer sehr anderen Lage als das 24 Vgl. dazu meine Schrift: Das Dämonische, Versuch einer Sinndeutung der Geschichte. Tübingen 1926.

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erste Christentum. In der spätantiken Menschheit w a r e n religiöse F o r men v o r h a n d e n , an denen in und mit der prophetischen K r i t i k die neue Gestalt der G n a d e erscheinen konnte: der jüdische G e d a n k e des Gottesvolkes, d a s die Verheißung hat, und die hellenistischen S a k r a m e n t s religionen, die durchweg über die alten dämonisierten F o r m e n des H e i dentums hinausstrebten. D a s Christentum v o l l z o g schon im N e u e n T e s t a m e n t die V e r b i n d u n g der ursprünglichen V e r k ü n d i g u n g mit diesen F o r m e n zu der religiösen Gestalt, die sich im K a t h o l i z i s m u s d a r stellt. U n d z w a r v o l l z o g sie diese V e r b i n d u n g f a s t unbewußt mit ungebrochener Selbstverständlichkeit, wenn auch immer unter der K r a f t der r a d i k a l e n prophetischen K r i t i k . D e m Protestantismus stand ein derartiges A u f n a h m e f e l d f ü r die V e r k ü n d i g u n g der G n a d e nicht z u r V e r f ü g u n g . U n d die älteren F o r m e n w a r e n durch die Entwicklung der katholischen Kirche dämonisiert 2 5 . S o w ä r e der Protestantismus rein im Protest geblieben, d. h., er hätte sich als Wirklichkeit aufheben müssen, w ä r e nicht im K a t h o l i z i s m u s selbst eine neue Möglichkeit erwachsen. E s ist die Lai'sierung des mönchischen Ideals der Seelenformung, an das der Protestantismus a n k n ü p f t e . H i e r w a r unter Preisgabe der sakramentalen Vergegenständlichung des Heiligen die G e s t a l t der G n a d e in d a s Z e n t r u m der sittlich ringenden Persönlichkeit gestellt. A u s dieser H a l t u n g e n t s p r a n g der Protest Luthers gegen d a s g a n z e S y stem der hierarchischen Vergegenständlichung der G n a d e , d a s mönchisch-asketische Ideal als solches eingeschlossen. H e i l i g e G e s t a l t w ä r e , wenn es sie gäbe, die Gemeinschaft v o n Persönlichkeiten, die in vollkommener Liebe und W a h r h e i t stehen. Eine Heiligkeit, die an der unbedingten F o r d e r u n g vorbeigeht, ist dämonisch. D i e prophetische K r i t i k verbindet sich mit der sittlich-rationalen. E b e n d a m i t aber w i r d der G e s t a l t der G n a d e die G r u n d l a g e entzogen. D e r katholische H e i l i g e ist heilig abgesehen v o n seiner persönlich-sittlichen V o l l e n d u n g . E r repräsentiert als T r ä g e r eines Bedeutungsgehaltes d a s H e i l i g e , d a s „ J e n seits v o n Sein und Freiheit". D e r Protestant ist heilig, nicht weil er eine G e s t a l t der G n a d e bedeutet, sondern weil er die V e r g e b u n g der S ü n den e m p f ä n g t . E r ist heilig in der Unheiligkeit. H e i l i g k e i t auf die M e n schen a n g e w e n d e t w i r d z u einer P a r a d o x i e , a l s o zu keiner Gestalt. D i e G n a d e ist ein Urteil, keine anschauliche Wirklichkeit. D i e prophetische K r i t i k , in Einheit mit der sittlich-rationalen, läßt eine G e s t a l t der G n a d e nicht zu. E s entsteht aber eine andere G e s t a l t v o n unabsehbarer geschichtlicher W i r k s a m k e i t : die heroische, der G r e n z s i t u a t i o n des M e n schen bewußte, sich s t ä n d i g der prophetischen u n d sittlich-rationalen 2 5 Zur Schilderung dieser Entwicklung vgl. meinen Aufsatz: Rechtfertigung und Zweifel. Gießen 1924.

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Kritik unterstellende Persönlichkeit. Ihr Ernst, ihre Würde, ihre große Majestät - wie es von Calvin heißt - ist darin begründet, daß sie es verschmäht, sich die Tiefe der prophetischen Kritik durch eine gegenständliche Gestalt der Gnade verdecken zu lassen. Aber diese Größe ist zugleich ihre Gefahr. Denn es ist fast unvermeidlich, daß bei dem Fehlen einer heiligen Gestalt die rationale Gestalt der sittlichen Persönlichkeit an die entscheidende Stelle tritt und die rationale Kritik die prophetische in sich aufsaugt. Dann ergibt sich leicht eine Verbindung mit dem humanistischen Persönlichkeitsideal, und die Profanisierung ist vollendet. Es fehlt die Gegenkraft einer heiligen Gestalt anschaulicher, wenn auch nicht gegenständlicher Art. Damit verliert dann auch das Heroische seine Wurzel, und in der weiteren Entwicklung erfolgt ein allseitiger Zusammenbruch der Persönlichkeitsgestalt in Wirklichkeit und Ideal 2 6 . Die klare Konsequenz dieser Entwicklung wird ständig aufgehalten durch die Tatsache, daß auch auf protestantischem Boden die Gestalt der Gnade nicht ganz entschwunden war. Sie ist ja Voraussetzung der prophetischen Kritik, konnte also nicht wirklich fehlen, wo diese lebendig ist. Der Protestant ist heilig um des Urteils willen, das über ihn ergeht, aber doch nur, sofern er dieses Urteil auf sich bezieht, d. h., sofern er glaubt. Glauben aber ist nur möglich durch den „heiligen Geist", also in einer Gestalt der Gnade. Die Konsequenz dieses Gedankens zieht die Theologie der Frömmigkeit vom Vor-Pietismus der Reformationszeit bis zur Gemeinschaftsbewegung der Gegenwart. Zweifellos ist damit ein unentbehrliches Element jeder existierenden Religion gewahrt und wenigstens die Andeutung einer Gestalt der Gnade gegeben. Die Geschichte der protestantischen Frömmigkeit zeigt, wie stark selbst noch dieser Rest gewirkt hat, wenn auch fast durchweg neben der offiziellen Kirche und in vielfacher Analogie zum Katholizismus. Seine radikale Auflösung durch Ritsehl ist die andere Seite der Tatsache, daß in Ritsdll die Aufsaugung der prophetischen Kritik durch die rationale vollzogen und die Gestalt der Gnade durch die Idealgestalt eines Reiches sittlicher Persönlichkeiten verdrängt war. - Der entscheidende Unterschied zwischen der pietistischen und katholischen Idee der Heiligkeit ist der, daß bei der pietistischen in Einheit mit dem übrigen Protestantismus alles auf die Subjektivität der Frömmigkeit ankommt. Das objektive Sein des Heiligen in irgendeinem Sinne wird auch hier nicht erreicht. Die Frömmigkeit bleibt in der Spannung von Sein und 26 D i e Schilderung dieses Zusammenbruchs habe ich versucht in dem V o r t r a g : D i e U b e r w i n d u n g des Persönlichkeitsideals. I n : D e r Protestantismus. S t u t t g a r t 1950.

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Geist. Sie erscheint nicht aus dem Jenseits von beiden. Und darum ist auch sie geneigt, zu profanisieren, von einer rationalen Gestalt aufgesogen zu werden. Sie ist geneigt, überzugehen in ein ästhetisches Weltgefühl, das sidi der Sphäre des sittlichen Ringens überlegen weiß. Auch in dieser Form der Persönlichkeitskultur hat der Protestantismus gestaltende Wirkungen von größtem historischem Ausmaß gezeitigt 27 . Aber sie führen schließlich zu jener Entleerung der in sich schwingenden Subjektivität, die weithin das Kennzeichen ästhetisch gefärbten Weltgefühls wurde. Daraus ergibt sich ein Überblick über die gestaltenden Kräfte des Protestantismus. Sie werden vielfach unterschätzt, weil sie nicht so einfach zu fassen sind wie die des Katholizismus. Die Schwierigkeit, sie zu fassen, liegt in folgendem: Der Protestantismus kennt keine faßbare Gestalt der Gnade wie der Katholizismus. Er ist deswegen in der ständigen Gefahr zu profanisieren. Und es ist überaus schwierig, in der modernen autonomen Kultur die vom Protestantismus bestimmten Elemente von den übrigen zu scheiden. Und doch ist es möglich, sobald man erkennt, daß die Gestaltung des persönlichen Lebens, sei es im Sinne der sittlichen Persönlichkeit, sei es im Sinne frommen Erlebens, das eigentliche protestantische Gestaltprinzip ist. Dann wird sowohl die bürgerliche wie die romantische Persönlichkeit in ihrem protestantischen Charakter offenbar. - Der Protestantismus hätte nie Wirklichkeit sein können, wenn er nicht solche gestaltende K r a f t gezeigt hätte. Und er hätte nie an die Grenzen seiner Existenz getrieben werden können, wenn nicht diese seine Gestalten von innen her der Auflösung verfallen wären. Aber noch in dieser Auflösung zeigt sich die Größe und der Heroismus seines Gestaltprinzips. Deutlicher, aber weniger bedeutungsvoll ist die Kraft seiner Gestaltung in der spezifisch religiösen Sphäre, also in der Setzung von Formen, in denen sich die Gestalt der Gnade unmittelbar ausdrückt. Solche Formen hat er nicht geschaffen, denn ihm fehlte die Gestalt der Gnade, für die sie zu schaffen sinnvoll gewesen wäre. Seine Zurückhaltung auf diesem Gebiet ist seine Größe. Daß es zu keiner völligen Zurückhaltung kam und kommen konnte, ist in dem Gesetz begründet, daß die Gestalt das Prius der Kritik ist. Und so wurde aus dem katholischen Material 27 A m symbolkräftigsten Schleiermacher. Die katholische Romantik unterscheidet sich v o n der protestantischen dadurch, daß sie u m W i e d e r herstellung der greifbaren Gestalt der G n a d e ringt und darum sofort kirchlich hierarchische Auswirkungen hat. D i e protestantische R o m a n t i k w i r k t e auf Bewegungen der subjektiven F r ö m m i g k e i t , insonderheit die Erweckung, die kirchlich schließlich unfruchtbar blieb.

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das ausgewählt, was geeignet war, die prophetische Kritik und die Verkündigung der Gnade in der Schrift an den Einzelnen zu übermitteln. So entsteht die Gemeinde, die die in der Schrift gegebene „reine Lehre" an den Einzelnen weiterzugeben hat, die Gemeinde also, deren eigentliche Aufgabe die Predigt und die katechetisch-liturgische H i n f ü h r u n g zu dem Inhalt der Predigt ist. Die Gemeinde aber als anschaubare Gestalt der Gnade tritt kaum in das Bewußtsein des Protestantismus. U n d damit ist ihm die eigentliche K r a f t der religiös-kulturellen Gestaltung genommen. (Dennoch ist auch diese gebrochene Gestaltung als ständig aktuelle Gegenhaltung gegen die katholische Vergegenständlichung der Gnade von ungeheurer geschichtlicher Bedeutung gewesen.) Von hier aus wird die Abnahme seiner Anziehungskraft unmittelbar verständlich. Es ist der Einzelpersönlichkeit auch ohne Dazwischentreten der kirchlichen Verkündigung jederzeit möglich, den Schriftinhalt auf sich zu beziehen. U n d das gilt bedingungslos, sobald der Schriftinhalt selbst nur noch vom autonomen Standpunkt aus verstanden wird. Dann treten die Führer der autonomen Kultur, die schöpferischen Träger des Geisteslebens, an die Stelle der kirchlichen Verkündiger. W o aber das Bedürfnis geblieben ist, sich unter ein objektives W o r t der Schrift zu stellen, da erwartet man doch wieder das Entscheidende von der Subjektivität des Predigers und hebt damit den objektiven Sinn des Hörens auf. Es wäre aussichtslos und verfehlt, wollte man versuchen, durch Mittel, die der rationalen Gestaltung angehören, ästhetische oder gesellschaftliche, die protestantische Kirche neu aufzubauen. Entweder ist sie eine Gestalt der Gnade, dann hat sie ihren Sinn in sich, oder sie ist es nicht, dann kann sie durch fremde Sinngebung sich nicht stärken. Mit dieser Alternative ist nun die aktuelle Frage formuliert: K a n n der Protestantismus trotz der entschlossenen Durchführung der prophetischen Kritik, die er nicht abschwächen darf, ohne sich selbst aufzugeben, Wirklichkeit werden in einer Gestalt der Gnade? Die grundsätzliche A n t w o r t darauf ist schon gegeben durch die Herausarbeitung eines protestantischen Sinnes von „Gestalt der Gnade". U n d aus dieser grundsätzlichen A n t w o r t lassen sich weitere ableiten, die alle Gebiete der Theologie, namentlich der systematischen und praktischen, betreffen. N u r einiges kann an dieser Stelle angedeutet werden. - Die Gestalt der Gnade aus dem Geist des Protestantismus ist keine gegenständlich fixierbare Gestalt. Das hat zwei grundlegende Folgen. Einmal diese: Das Verhältnis der Gestalt der Gnade zu den profanen Gestalten kann nicht durch eine gegenständliche Abgrenzung vollzogen werden. Sie geht quer durch die Profanität hindurch. Die Formen der religiösen Kultur, in denen die Gestalt der Gnade lebt, sind Formen, in denen 49

die Profanität den Charakter des transzendenten Bedeutens, die Vorwegnahme des Jenseits von Sein und Freiheit, annnimmt. Diese Formen bleiben demgemäß in strenger Korrelation zur Profanität. Sie schaffen kein Sondergebiet, keine religiöse Sphäre, die gegenständlich abgegrenzt wäre, kein sanctum oder sanctissimum gegenüber dem profanum. Die Aufhebung des Gegensatzes von heilig und profan liegt im tiefsten Grunde des protestantischen Prinzips und ist die erste und entscheidende Folge, die sich aus dem prophetisdien Protest gegen die Vergegenständlichung der Gnade ergibt. Sie ist seine Größe und, wie gezeigt, seine Gefahr. - Die Aufhebung einer besonderen Sphäre des Heiligen ist nicht etwa aufzufassen als romantische Weihung der sich abschließenden autonomen Kultur. Der Protest gegen diese liegt in jeder religiösen Haltung, und er kann nicht anders zum Ausdruck kommen als dadurch, daß besondere Formen über und neben die Kultur gestellt werden. Die Gestalt der Gnade kann verhüllt sein, aber sie muß doch durchscheinen. Auf der anderen Seite müssen jene Formen zeigen, daß ihr „Über" und „Neben" ein Uber und Neben des Bedeutens, der Vorwegnahme, nicht des gegenständlichen Seins ist. Die religiösen Erkenntnisaussagen z. B. dürfen sich nicht geben als Aussagen über eine höhere Gegenstandswelt, sie sind vielmehr Aussagen, in denen das transzendente Bedeuten aller Gegenstände einen gesonderten Ausdruck findet. Die Gemeinde darf sich nicht auffassen als eine höhere soziologische Form über dem sonstigen gesellschaftlichen Leben, sondern als gesonderter Ausdruck des transzendenten Bedeutens der soziologischen Gebilde. Der gesonderte Ausdruck fordert freilich Setzung besonderer Gegenstände, besonderer soziologischer Gruppen. Das ist nicht zu vermeiden, wenn die Gestalt der Gnade wirklich Gestalt sein soll. Entscheidend aber ist, daß diese Sonderungen nicht vorgeben, selbst etwas zu sein im Unterschied von den profanen Seinsgestalten, daß sie vielmehr nur Träger von deren transzendenter Bedeutung sein wollen. Also nicht Auflösung der Kirche in die sozialen Gebilde, nicht Auflösung der religiösen in die profane Erkenntnis, sondern eine solche Kirche, in der die sozialen Gebilde die Darstellung ihres transzendenten Bedeutungsgehaltes, die Vorwegnahme ihres Stehens im Jenseits von Sein und Freiheit anschauen; und eine solche religiöse Erkenntnis, in der die profane Erkenntnishaltung den transzendenten Sinn ihrer im Kampf stehenden Wahrheit vorwegnehmend anschauen kann. In der Kirche erscheint die neue Dimension des Lebens, die Dimension ihrer Transzendenz, nicht ein unbedingten Anspruch erhebendes Gebilde der gleichen Dimension. Die Macht der Kirche ist die Macht dessen, durch das die Gestalten des Lebens zur Erkenntnis und Verwirklichung ihres 50

transzendenten Sinnes getrieben werden. Das geschieht durch prophetische K r i t i k , in der die rationale enthalten ist, und es geschieht durch vorwegnehmende Verwirklichung von Gestalten, geistigen und sozialen, in denen sich die transzendente Bedeutung des geistigen und sozialen Gestaltens ausdrückt. Aber weder durch die Kritik noch durch die Gestaltung darf die Kirche in die Auseinandersetzung der geistigen und sozialen Mächte auf die gleiche Ebene geraten. D i e Kirche ist nicht P a r tei, auch dann nicht, wenn sie das Anliegen einer Partei in ihre prophetische K r i t i k aufnimmt und in ihrer transzendenten Bedeutung offenbar macht, auch dann nicht, wenn sie in ihrer vorwegnehmenden Gestaltung einer rationalen Gestalt sich annähert. Ihr Konkretwerden, ihr Gestaltwerden ist nie eindeutig Entscheidung für eine konkrete Seinsgestalt. Sondern auch da, wo eine Entscheidung vorliegt, meint sie in der bejahten Seinsgestalt das transzendente Bedeuten, nicht die Seinsgestalt als solche 28 . D i e zweite grundlegende Folge, die sich aus der Vergegenständlichung der Gestalt der Gnade ergibt, ist ihr Verhältnis zum Werden der Gestalten, zur Geschichte. Eine Gestalt der Gnade, die gegenständlich fixiert ist, enthebt die Formen, in denen sie erscheint, die rationalen Gestalten, die sie in sich aufnimmt, dem Wechsel. Sie muß, wie es die katholische Kirche tut, ein bestimmtes rationales Ideal, etwa den Thomismus, mit der Gestalt der Gnade identifizieren. U m das zu können, muß sie die ideale Sphäre statisch denken, als System einmal zu erfassender Wesenheiten, deren prinzipielle Erfassung nicht überboten werden kann. Demgemäß bedeutet auf diesem Boden die Geschichte nichts Entscheidendes. Die Möglichkeit des Wesenhaft-Neuen schlummert nicht in ihr. Denn das Wesenhafte ist außergeschichtlich und überzeitlich. F ü r die protestantische Entgegenständlichung der Gnade ist die Wesens-Sphäre dynamisch; in ihr wird das Neue gesetzt. Die Geschichte ist der O r t der Wesenheiten. Die Idee steht im Historischen, nicht jenseits seiner. Die Gestalt der Gnade ringt ständig um Verwirklichung in den wechselnden historischen Gestalten. Sie ist auf den W e g angewiesen, der zwischen Fixierung und Preisgabe ihrer selbst mitten hindurchführt. Die Gestalt der Gnade ist lebendige, ringende Gestalt. U n d doch ist in jedem Augenblick ihrer Verwirklichung das anschaubar, was jen28 Dieses ist der Grund für die viel kritisierte Zweideutigkeit des religiösen Sozialismus, wie er z. B. in den „Blättern für religiösen Sozialismus" vertreten war. Diese Zweideutigkeit liegt schon im Namen. Sie ist nur verständlich aus dem Verhältnis der Gestalt der Gnade zu dem Werden der konkreten Gestalten. Von hier aus gesehen aber ist sie notwendig und entspricht der Zweideutigkeit, in der jede Verwirklichung steht vor dem Jenseits von Sein und Freiheit. 51

seits des Ringens steht. Die Vorwegnahme, das transzendente Bedeuten bleibt. Aber die rationale Gestalt, in der die Gestalt der Gnade erscheint, wechselt. D i e Gestalt der G n a d e als lebendige Gestalt und damit die Geschichte als O r t der Wesens Verwirklichung: das liegt im protestantischen Prinzip beschlossen und muß aus ihm herausgeholt werden. Die Idee des „ K a i r o s " als erfüllte Zeit oder Verwirklichung der Gestalt der G n a d e in einem neuen Wesen ist der Versuch, diese Seite des protestantischen Prinzips deutlich zu machen 2 9 . Ist der Gedanke einer Gestalt der G n a d e im Protestantismus aufgenommen und irgendwie zur Wirklichkeit gebracht, so ist damit gleichzeitig der protestantische Personalismus überwunden; und zwar gilt das sowohl nach der seelischen wie nach der gesellschaftlichen Seite. Die G n a d e als anschauliche Wirklichkeit ist nicht denkbar in der aktuellen Entscheidungssphäre des Persönlichkeitszentrums. Sie kann wirklich sein nur in dem schon Entschiedenen, in dem Sein, dem seelischen und sozialen, das die Persönlichkeit trägt und bestimmte Entscheidungen ermöglicht. D a s schon Entschiedene und Erfüllte, die Vorwegnahme des „Eschaton" im Sein ist der Ort, an dem die Gestalt der G n a d e erscheint. D a r a u s ergibt sich, daß die Gestaltung der sozialen, seelischen, ja biologischen Schicht des Daseins ein dringliches Anliegen der protestantischen Gestaltung wird; aber freilich so und nur so, daß das Persönlichkeitszentrum im religiösen Verhältnis niemals ausgeschaltet werden darf. Denn in ihm wird gehört die radikale, alle Sicherungen seelischer und sozialer A r t wegschlagende prophetische Kritik. N o t w e n d i g aber ist, daß die Isolierung der heroischen wie der frommen Persönlichkeit gegen die eigene seelische Schicht und gegen das Stehen im sozialen Schichtaufbau durchbrochen wird. Wie die Gestalt das Prius der K r i t i k ist, so ist die seelische und soziale Gestalt das Prius der personalen Entscheidung. Der religiöse Sozialismus, dem eine religiöse Tiefenpsychologie parallel gehen müßte und z. T . schon geht, bemüht sich in gleicher Weise um die Vorbereitung einer protestantischen Gestalt der Gnade. Die Umwälzungen, die hier notwendig und auf dem Wege sind, übertreffen alles weit, was in der gegenwärtigen L a g e gesagt werden kann. Denn ernsthaft kann nicht mehr gesagt werden, als das seelische und soziale Sein zuläßt. Wird nun gefragt, warum das protestantische Prinzip maßgebend sein soll für die Gestalt der Gnade, auf deren Werden wir vielleicht 2 9 Vgl. d a z u die ausführliche D a r l e g u n g in meinem A u f s a t z : K a i r o s und L o g o s in: G e s a m m e l t e Werke, B a n d IV, und in: Phänomenologie und G e schichte von T h . Siegfried in: K a i r o s . Zur Geisteslage und Geisteswendung. D a r m s t a d t 1926.

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schauen dürfen, so ist zu antworten: Die katholische Welt hat den Schritt nicht gemacht, den die protestantische gemacht hat, den Schritt zur Entgegenständlichung des Heiligen und den Schritt zur persönlichen Entscheidung. Diesen Schritt muß sie machen; sie kann an ihm nicht vorbei. Sie braucht nicht die Wege des Protestantismus mitzugehen; aber sie muß diesen Schritt machen, den entscheidenden des ganzen Weges. - Audi die autonome Kultur ist als solche dem Werden einer Gestalt der Gnade nicht geöffnet. Denn ihr fehlt die lebendige Beziehung zu der Sphäre des transzendenten Bedeutens. N u n gibt es freilich keine durchgeführte profane Wirklichkeit. Vielmehr sind allenthalben so starke Elemente der Erschütterung wirksam, daß vielleicht auf profanem Boden der Schritt zu einer neuen Erscheinung der Gestalt der Gnade eher vorbereitet ist als im kirchlichen Protestantismus, der noch immer weitgehend auf seiner vergangenen Gestalt ruht. Wäre es so, so müßte an den Protestantismus in gleicher Weise die Forderung gestellt werden, den Schritt zu machen, der über seine alte Form hinausführt, wie an den Katholizismus die Forderung gestellt ist, den Schritt zu machen, den der Protestantismus vorangegangen ist. Wegbereitung, d. h. vor allem Nichthinderung einer Gestalt der Gnade, die geeint ist mit der radikalen prophetischen und der konkreten rationalen Kritik, Wegbereitung aus dem Geist des „Kairos" und damit aus dem Prinzip des Protestantismus: das ist die Aufgabe, die vor uns steht und die in gleicher Weise gestellt ist der autonomen Kultur wie den christlichen Kirchen.

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PROTESTANTISCHE

I. Das

GESTALTUNG

Problem

Gestaltung ist die Macht, Form zu schaffen. Der Protestantismus ist Protest gegen Form. Wie ist beides vereinbar? D e r a r t abstrakt benannt, scheinen sie unvereinbar zu sein. Aber in der Wirklichkeit sind beide vereint, in der Wirklichkeit des geschichtlichen Protestantismus, in dem Leben seiner Kirchen, in dem Leben jedes protestantischen Menschen. Es muß also möglich sein, daß Protestantismus und Gestaltung vereint sind, denn ihre Einheit war einst geschichtliche Wirklichkeit und ist es noch. Aber es kann auch nicht verwunderlich sein, wenn diese Einheit gespannt, beunruhigt, ständig in ihrer Existenz bedroht ist. Von diesen Spannungen im geschichtlichen Protestantismus soll die Rede sein. Es soll gefragt werden, wie Gestaltung der Form und Protest gegen die Form zusammen in einer Kirche leben können, wie Form und der Protest gegen Form eine neue, darüber sich spannende Form schaffen können. Dem Satz entsprechend, daß das Negative nur am Positiven erscheinen kann, wie die Lüge nur durch das in ihr enthaltene Element der Wahrheit leben kann, ist es notwendig zu sagen, daß Protest nur an einer Gestalt erscheinen kann, zu der er gehört. Die Gestalt umf a ß t sich und den Protest gegen sich, sie umschließt Form und Verneinung der Form. Es gibt kein absolut Negatives, und es gibt keinen absoluten Protest, absolut, das heißt losgelöst von einer Position. Ist die Negation lebendig, so ist sie gebunden an eine Position, und ist der Protest lebendig, so ist er gebunden an Form. Das gilt auch vom Protestantismus. Sein Protest ist abhängig von seiner Gestalt, seine Negation der Form von seiner formschaffenden K r a f t , sein Nein - wie sehr es auch vorherrschen mag - von seinem Ja. Sein N e i n würde in Nichts zerfallen ohne das Schöpferische seines Ja. Diese Einheit von Protest und Gestaltung nennen wir die Gestalt der Gnade. In den letzten Jahren wurde der prophetische Protest des Protestantismus mit solcher K r a f t und aus solcher Tiefe heraus von Karl Barth und seinen Freunden verkündet, daß nicht nur die Aufmerksamkeit des Weltprotestantismus, sondern auch großer Gruppen außerhalb der Kirchen geweckt wurde. Ja, man hat vielleicht ein Recht zu 54

sagen, daß der Radikalismus dieses Protestes, der Nachdruck, mit dem er sich gleichzeitig und gleich machtvoll gegen Kultur und gegen Kirche richtete, den Protestantismus vor sektiererischer Abgeschlossenheit einerseits und vor Profanität und Bedeutungslosigkeit andererseits bewahrt hat. Es ist nicht verwunderlich, daß die K r a f t dieses Protestes diejenigen, die ihn erhoben, daran hinderte, die Frage nach der Gestalt zu stellen, aus der heraus der Protest sich erhebt. Das ist um so weniger verwunderlich, als der Protest noch keineswegs überflüssig geworden ist, nicht nur insofern er das eine unverlierbare Element des Protestantismus überhaupt ist, sondern auch insofern unsere Zeit, vor allem die Kirche, ihn noch nicht so gehört hat, wie sie ihn hören muß. Es ist noch immer die erste Aufgabe gegenwärtiger Theologie, den protestantischen Protest auszusprechen, grundsätzlich und eindringlich, in ihrem eigenen Arbeiten an der Lehre und in jeder einzelnen Äußerung des gegenwärtigen Lebens. Sie muß den Protest unbedingt aussprechen angesichts der Unbedingtheit des Göttlichen, und sie muß ihn konkret sagen angesichts des konkreten Charakters jeder geschichtlichen Situation. Eine Theologie, die nicht durch die Erschütterung der „Theologie der Krisis" hindurchgegangen ist, sondern deren prophetisches Nein mit höflicher Verbeugung oder mit einer leichten Kritik ihrer Methode und Form abgetan hat, kann nicht ernst genommen werden. Noch auf lange Zeit hinaus, und in gewisser Weise immer, muß der protestantische Protest das erste sein. Und doch geht es nicht mehr an, die Frage nach der protestantischen Gestalt zu übersehen. D a ß es durch die Theologie der Krisis so lange geschehen ist, hat sich schon gerächt. Die wichtigen liturgischen Bewegungen im Protestantismus sind durch den radikalen Charakter des kritischen Nein zurückgestoßen worden. Das gilt auch von den Versuchen, das Christentum mit dem Geist der Jugendbewegung und mit den Zielen des Sozialismus zu vereinen. Nach einer geraumen Zeit der Zusammenarbeit mußten sich diese neuen Bemühungen von der Theologie der Krisis lösen. Aber es besteht keinerlei Zweifel, daß sie dringend notwendig sind. Der Niedergang des liturgischen Stils (in Baukunst, Dichtkunst und Musik) während des 19. Jahrhunderts forderte eine schöpferische Gegenbewegung. Die expressionistische Kunst und deren Fähigkeit, die große kultische Kunst der Vergangenheit wiederzuentdecken, leistete eine unschätzbare Hilfe. Das gleiche gilt von der Sehnsucht der Jugend nach neuen Symbolen gegenüber dem Nützlichkeitsprinzip der bürgerlichen Kultur, und das gilt auch von den Bemühungen, Protestantismus und Sozialismus zu vereinen. Das alles ist notwendig. Aber die Bemühungen können ihren protestanti55

sehen Charakter nur dann bewahren und eine hoffnungslose Konkurrenz mit dem Katholizismus nur dann vermeiden, wenn sie durch das Feuer prophetischer Kritik gegangen sind. Die Theologie der Krisis hat dieses Feuer entzündet. Aber es brannte nur und wärmte nicht und erhellte nicht. Infolgedessen gingen diese Bewegungen ihre eigenen, oft sehr unprotestantischen Wege. Zugleich nahm die Theologie der Krisis selber eine gefährliche Wendung. Es sieht so aus, als seien Barth und seine Anhänger im guten orthodoxen Stil nur an der F o r m der Lehre im Protestantismus interessiert. Darüber hinaus ist die Weise, in der sie für die Lehre arbeiten, durchaus nicht durch das Nein des protestantischen Prinzips berührt, sie ist nicht durch das Feuer des eigenen Protestes gegangen. J a , manchmal scheint es, als habe die absolute religiöse Kritik der Theologie der Krisis die relative wissenschaftliche Kritik, wie sie sich in der liberalen Theologie vorfindet, erstickt. D a s ist ein sehr unglückliches Ergebnis, das von Barth gewiß nicht beabsichtigt ist, und noch weniger von einem so großen und radikalen Neutestamentler wie Bultmann, der höchste Kritik und Barthsche Theologie vereint. Aber wenn auch nicht beabsichtigt, so ist es doch geschehen; besonders in der jüngeren Generation der Theologen, die sich nicht mehr bewußt ist des heldenhaften K a m p f e s fast zweier Jahrhunderte, in denen wissenschaftliche Redlichkeit der historischen Forschung heiligen Aberglauben und kirchliche Kompromisse besiegte. Für die Zukunft des Protestantismus bedeutet es eine wirkliche G e f a h r , daß der prophetische Geist der ursprünglichen Theologie der Krisis mißbraucht wird zugunsten der Wiederherstellung einer Orthodoxie, die sich gegen den protestantischen Protest sicher fühlt. D a s ist die Folge, weil es die Theologie der Krisis unterlassen hat, die Frage nach der protestantischen Gestalt in ihrer Beziehung zum protestantischen Protest zu stellen. Aber die Frage ist unvermeidlich, und eine Antwort muß gefunden werden, wenn es für den Protestantismus eine Z u k u n f t geben soll. Wir fragen daher: Welches ist die Gestalt, aus der der protestantische Protest entspringen kann, ohne seine eigene Grundlage zu zerstören? Welches sind die Prinzipien der protestantischen Gestaltung? U n d wie kann K r i t i k und Gestaltung in den verschiedenen Richtungen seiner Selbstverwirklichung vereint werden? U m ein mögliches Mißverständnis auszuschließen, muß betont werden, daß wir nicht mit dem T y p u s des liberalen Protestantismus übereinstimmen, der den Protestantismus mit der H a l t u n g eines ewigen Protestes im Sinne einer negativen intellektuellen Kritik in eins setzt. Eine solche H a l t u n g wird v o m protestantischen Prinzip zurückgewiesen.

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II. Die Gestalt der Gnade K r a f t welcher Vollmacht erhebt der Protestantismus seinen Protest gegen jede heilige und profane Wirklichkeit? Es muß eine solche Vollmacht geben, die naturgemäß keine menschliche Vollmacht sein kann. Versucht aber nun der Protestantismus, die W ü r d e des Unbedingten gegen jeden Versuch einer endlichen Wirklichkeit, sich selbst als unbedingt zu setzen, zu schützen, muß er irgendwie am Unbedingten teilhaben. Ist protestantische Kritik nicht Kritik eines endlichen Seienden an einem anderen Seienden, sondern Kritik aus dem Jenseits der Endlichkeit, dann muß der Protestantismus am Unendlichen teilhaben. Aber Teilhabe am Unendlichen, Unbedingten, an außermenschlicher Autorität heißt, in der Wirklichkeit der Gnade leben, oder, um den bereits erklärten Begriff zu verwenden, in einer „Gestalt der Gnade", einer heiligen Wirklichkeitsstruktur. Voraussetzung alles protestantischen Protestes ist eine Gestalt der Gnade. Verkörperte Gnade, Wirklichkeit der Gnade, Gestalt der Gnade, das alles klingt einem Protestanten befremdlich und gefährlich. Denn Gnade gilt als etwas Unfaßbares und Ungegenständliches, während Verkörperung und Gestalt auf etwas zu deuten scheinen, das ergriffen und gefaßt werden kann. Eine verkörperte Gnade scheint den Charakter der Gnade zu verlieren und Gesetz im Sinne des katholischen Sakramentalismus zu werden. Der Kampf der Reformatoren gegen das römische System der gesetzlich gefaßten Gnade scheint umsonst gek ä m p f t zu sein, wenn Protestanten von einer heiligen Struktur der Wirklichkeit zu sprechen beginnen. Ein solcher Aspekt der Gnade, behaupteten die Reformatoren gegen den Papst, beraubt die Kirche ihres geistigen, unsichtbaren Charakters, teilt die eine unbedingte Gnade in viele bedingte „Gnaden", macht die Hierarchie zum Besitzer der Gnadenmacht und daher zur Autorität, der man sich um des Heiles willen beugen muß. Ein Begriff wie der der Gestalt der Gnade scheint das Ende des protestantischen Protestes und Roms Sieg zu bedeuten. An Stelle der Gnade als Vergebung der Sünden, die ein göttliches Gericht jeder menschlichen Tätigkeit und jeder anschaubaren Form ist, scheint eine bedingte immanente Struktur zu treten, die abhängig ist von menschlicher Verwirklichung. So könnten wir unseren Zweifel über die Gestaltungskraft des Protestantismus ausdrücken. W ä r e der Zweifel gerechtfertigt, müßte der Begriff einer Gestalt der Gnade verworfen werden. Besteht aber dieser Gegensatz zwischen dem Katholizismus auf der einen und einem gestaltlosen Protestantismus auf der anderen Seite, erschöpft er wirk57

lieh die Möglichkeiten? Anders als die Reformatoren stehen wir nicht mehr in einem Kampf auf Leben und T o d mit Rom. W i r können aus prinzipiellen Gründen entscheiden und nicht nur aus polemischen. Und wir sind in unserer Entscheidung nicht an eine klassische Epoche des Protestantismus gebunden. Es gehört zum Wesen des Protestantismus, daß er keine klassische Epoche hat. Jede Epoche steht unter dem protestantischen Protest, auch das Zeitalter der Reformation. An einer Stelle im Zentrum der protestantischen Lehre gibt es einen Ort, an dem sie das voraussetzt, was wir eine göttliche Struktur der Wirklichkeit nennen, nämlich den Glauben. Das göttliche Gericht, trotz seiner Transzendenz und Unabhängigkeit, hat nur dann Bedeutung und Macht, wenn es im Glauben erfahren wird, sowohl in der Kirche wie im einzelnen Christen. Glaube ist menschlicher Glaube. Er stammt nicht vom Menschen, aber er ist wirksam im Menschen. Und soweit Glaube in einer Gemeinschaft oder einer Persönlichkeit ist, sind sie Verkörperungen der Gnade. Der Glaube wird bewirkt durch das Hören des Wortes. Das W o r t wird uns vom Jenseits unseres Seins gesagt. Wird es aber empfangen, so ist es nicht mehr nur jenseitig. Es ist auch immanent und schafft eine göttliche Struktur der Wirklichkeit. So schafft es den Glauben als die gestaltende K r a f t eines persönlichen Lebens und einer Gemeinschaft. Das W o r t wird gesagt vom Jenseits des Menschen, aber es wird durch Menschen gesagt. Menschen müssen es sagen können, sie müssen davon ergriffen und verwandelt werden; und das muß sich immer schon ereignet haben, seit das W o r t in der Geschichte offenbar wurde. Gestalten der Gnade müssen immer in der Geschichte wirksam sein - obgleich sie nicht aus der Geschichte selbst stammen, wenn das Wort in jedem Augenblick der Geschichte verkündet werden soll. W i r können eine Theologie, die sich dem entziehen will, vor folgende Alternative stellen: entweder ist der Glaube selbst eine Gestalt der Gnade (des Heiligen Geistes), oder er ist die intellektuelle und willensmäßige Unterwerfung des Menschen unter einen Bericht über Gnade. Entweder ist die vollmächtige Verkündigung des neuen Seins (die niemand in der Hand hat) selbst neues Sein, oder sie ist die intellektuelle Kennzeichnung eines außer uns liegenden Gegenstandes. Entweder ist Glaube Ergriffensein vom Unbedingten oder gegenständliches Erkennen mit einem geringeren Grad der Evidenz. Ist er das zweite, so ist auf keine Weise zu ersehen, wie eine Persönlichkeit und eine Gemeinschaft ohne Gnade Gnade erkennen und verkündigen kann. Ist er das erste, so ist begreiflich, daß Gnade verkündigt und Glaube geschaffen wird. W i r entscheiden uns für diese Seite der Alter58

native und sagen, daß die Voraussetzung protestantischer Gestaltung die Einheit von Protest und Gestalt in einer Gestalt der Gnade ist. Es ist wichtig, die Realität der Gnade nachdrücklich zu betonen gleichgültig, welche Terminologie man benutzt - , da die protestantische Theologie (sogar schon bei Melanchthon) immer eine Neigung zeigte, die Religion zu intellektualisieren. Historisch ist das verständlich. Der Radikalismus des protestantischen Protestes gegen jede sichtbare Darstellung Gottes macht eine solche Intellektualisierung unvermeidlich. Aber sie kann nicht gerechtfertigt werden. Und die seit neuestem einflußreiche „Theologie des Wortes" sollte sich hüten, das göttliche „Wort", das als persönliches Leben und als Gestalt der Gnade erschienen ist, mit dem Schriftwort oder Predigtwort zu verwechseln. Für die christliche Theologie ist Jesus als der Christus das „Wort", das heißt die göttliche Selbstmitteilung, und dies umfaßt sein Sein in seiner Ganzheit; seine Taten und seine Leiden gehören dazu und nicht nur seine Worte. Daher hat „Wort Gottes" in der christlichen Theologie ganz offenkundig symbolischen Sinn. Wenn wir sagen, daß sein ganzes Sein und nicht nur seine Worte (oder die Worte über ihn) das „Wort Gottes" ist, so meinen wir, daß die Wirklichkeit der Gnade und nicht das Sprechen von der Gnade die Quelle des Christentums ist. Das Wort der Bibel und der Predigt erhebt zwar den Anspruch, nicht nur Reden von der Wirklichkeit der Gnade zu sein, sondern Ausdruck dieser Wirklichkeit, nicht unergriffenes Reden von dem neuen Sein, sondern ergriffenes Reden auf Grund des neuen Seins. Die Realität der Gnade ist das Prius alles Redens über die Gnade. Der Geistempfang ist das Prius des Glaubens, nicht umgekehrt. Geistempfang aber oder reines Ergriffensein bedeutet Hereingezogenwerden in die Wirklichkeit und das Leben einer Gestalt der Gnade. Diese Betonung der Realität der Gnade bewahrt die Theologie vor orthodoxem (und rationalistischem) Intellektualismus. Aber sie hat auch noch die Funktion, den Protestantismus vor einem neuen - oder sehr alten - Sakramentalismus zu bewahren. Jeder Theologie droht die Gefahr, daß die Wirklichkeit der Gnade im Sinne einer objektiven Realität gedeutet wird, das heißt, einer Wirklichkeit, die wie jeder andere Gegenstand gegeben ist, von jedermann erkannt und gebraucht werden kann, der sie erkennen und gebrauchen will. Aber die Gestalt der Gnade ist keine Gestalt neben anderen. Sie ist das Erscheinen des Seins-Jenseits jeder Gestalt in einer Seinsgestalt. Hier finden wir den tiefsten Unterschied zwischen der protestantischen und der katholischen Idee der Wirklichkeit der Gnade. Nach der katholischen Auffassung wird die endliche Form in eine göttliche Form verwandelt; das Mensch59

liehe im Christus ist in seine göttliche Natur aufgenommen (das monophysitische Element in jeder katholischen Christologie), die geschichtliche Wirklichkeit der Kirche ist durch ihren göttlichen Charakter geweiht (die Ausschließlichkeit der katholischen Kirche), die Materie des Sakraments ist als solche erfüllt mit Gnade (das Dogma der Transsubstantiation). In alledem wird die Gnade als eine greifbare besondere Wirklichkeit aufgefaßt - ein Gegenstand wie andere natürliche oder geschichtliche Gegenstände und das trotz ihres transzendenten und daher unbedingten Sinnes. Gegenüber dieser katholischen Auffassung von der Wirklichkeit der Gnade (die einen protestantischen Protest gegen Dogma, Kirche und Sakrament unmöglich macht), behauptet der Protestantismus, daß die Gnade an einer lebendigen Gestalt erscheint, die in sich das bleibt, was sie ist. Das Göttliche erscheint am Menschlichen in Christus, an der geschichtlichen Schwäche der Kirche, an der endlichen Materie des Sakraments. Das Göttliche erscheint an den endlichen Wirklichkeiten als deren transzendentes Bedeuten. Gestalten der Gnade sind endliche Gestalten, die etwas bedeuten, das über sie hinausgeht. Es sind Gestalten, die gleichsam von der Gnade erwählt sind, daß sie an ihnen erscheine; aber es sind nicht Gestalten, die von der Gnade verwandelt werden, so daß sie mit ihnen eins ist. Zwischen Erscheinen an ihnen und Einswerden mit ihnen steht der protestantische Protest. Er läßt das Einswerden nicht gelten. Er erachtet es für dämonische Hybris. Als Beispiele für solch dämonische Hybris können gelten: der hierarchische Besitz der sakramentalen Gnade, der orthodoxe Besitz des unfehlbaren Wortes Gottes und der „reinen Lehre" und der wissenschaftliche Besitz des „historischen Jesus" und seines neuen Gesetzes. Die Gestalt der Gnade ist nicht greifbar. Man kann Gnade nicht im persönlichen Leben oder im Leben einer Gemeinschaft sehen oder ergreifen. Aber vielleicht können wir sagen, daß eine Gestalt der Gnade ein möglicher Gegenstand „anschaulicher Intuition" sein kann. Der transzendente Sinn einer endlichen Wirklichkeit ist kein abstrakter Begriff, sondern etwas, das anschaulich wahrnehmbar ist. Das neutestamentliche Bild Jesu als des Christus steht einer unsinnlichen Intuition offen. Sein Charakter als die zentrale Gestalt der Gnade kann ergreifen vor jeder begrifflichen Deutung. Gnade ist selbstverständlich nicht wahrnehmbar, aber ihre Manifestation an einem endlichen Medium kann wahrgenommen werden. Eine Gestalt der Gnade ist eine „transparente" Gestalt. Durch sie scheint etwas hindurch, das mehr ist als sie. Die Kirche ist Kirche, weil sie als eine Gestalt der Gnade transparent ist. Der Heilige ist heilig, nicht, weil er „gut" ist, sondern 60

weil er für etwas transparent ist, das mehr ist als er selbst. Nur der Glaube kann die Gnade in einer Gestalt der Gnade wahrnehmen; denn der

Glaube

bedeutet

Ergriffensein

und Verwandeltwerden

durch

Gnade. III. Protestantische

Profanität

Eine solche Gestalt der Gnade ist ihrem Sinne nach die protestantische Kirche. Sie vereint Protest und Form. Sie soll dies verwirklichen, aber sie muß es nicht verwirklichen. Gegenüber dem Anspruch des Katholizismus muß die protestantische Kirche betonen, daß sie eine geschichtliche Erscheinung ist, soziologischen und psychologischen W a n d lungen unterworfen. Sie ist keine transsubstantiierte Gemeinschaft, aber sie kann eine transparente Gemeinschaft sein, eine Gestalt der Gnade. W i e ist das möglich? W i e kann die protestantische Kirche in sich den Protest gegen sich verkörpern? W i e kann sie Trägerin der Gnade sein ohne Ineinssetzung mit der Gnade? Der protestantische Protest gegen sich selbst darf nicht nur dialektisch bleiben. E r darf nicht - wie es die Lehre von der Rechtfertigung durch die Gnade oft wurde - ein T e i l ihres dogmatischen Besitzes werden. Dialektisch gegen sich selbst sprechen kann eine verfeinerte Form des Fürsichselbstsprechens sein (wie die fanatische Selbstbejahung unter dem Mantel der Selbstverneinung bei einigen sogenannten dialektischen Theologen). D e r protestantische Protest gegen sich selbst muß konkret werden, und er ist es auch in seiner Geschichte geworden, er ist konkret gerade in dem Vorhandensein der Profanität. Insoweit die Profanität ein Abkömmling des Protestantismus und ihm in Zusammenarbeit oder Feindschaft verbunden ist, können wir sie „protestantische P r o f a n i t ä t " nennen. Gemäß dem protestantischen Prinzip besteht die Möglichkeit, daß in der Profanität die Gnade wirkt, nicht ausdrücklich, sondern verhüllt, aber doch durchscheinend. Diese Möglichkeit bedeutet, daß Gnade nicht gebunden ist an irgendeine endliche Form, nicht einmal an eine religiöse Form. Sie ist souverän sogar im Hinblick auf solche Gestalten, die gerade ihrem Wesen nach als Träger der Gnade betrachtet werden, wie etwa die Kirchen. Die V ä t e r des europäischen religiösen Sozialismus (vertreten z. B. durch die Blumhardts) erkannten, daß G o t t zuzeiten stärker durch eine nichtreligiöse und sogar antichristliche Bewegung sprechen kann, wie z. B . durch die frühere Sozialdemokratie, als durch die christlichen Kirchen. Für ihre Zeit - die noch weitgehend unsere Zeit ist - brachten sie so den protestantischen Protest gegen jede kirchliche Überheblichkeit zum Ausdruck. Sie erkannten, daß die Kirche,

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deren Wesen es ist, Gestalt der Gnade zu sein, ihr wahres Wesen verlieren kann und daß eine profane Gruppe oder Bewegung aufgerufen sein kann, Träger der Gnade zu sein, wenn auch verhüllt. Daraus folgt, daß der Protestantismus eine einzigartige Verwandtschaft mit der Profanität besitzt. Der Protestantismus fordert gerade aus seinem Wesen heraus eine profane Wirklichkeit. Er fordert einen konkreten Protest gegen die sakrale Sphäre und gegen den kirchlichen Stolz, einen Protest, der in der Profanität verkörpert ist. Protestantische Profanität ist ein Wesenselement der protestantischen Gestaltung. Der Prüfstein für die gestaltende Kraft des Protestantismus ist immer seine Beziehung zur Profanität. Gibt sich der Protestantismus an die Profanität preis, so hört er auf, eine Gestalt der Gnade zu sein. Zieht er sich von der Profanität zurück, hört er auf, protestantisch, das heißt, eine Gestalt zu sein, die in sidi den Protest gegen sich einschließt. Diese Überlegungen führen zu dem ersten Prinzip der protestantischen Gestaltung: Protestantische Gestaltung ist eine Gestaltung, in der die ausdrücklich religiösen Formen bezogen sind auf eine sie in Frage stellende Profanität. Wie ist das möglich? Profane Gestalten sind die Gestalten, in denen eine endliche Struktur der Wirklichkeit zum Ausdruck kommt - dichterisch, wissenschaftlich, ethisch, politisch - und in denen die Beziehung jedes Endlichen zum Unendlichen nur mittelbar zum Ausdruck kommt. Die Profanität ist nicht irreligiös oder atheistisch (Atheismus ist eine Unmöglichkeit und Illusion), sondern sie drückt ihre latente Religion nicht in religiösen Formen aus. Und das ist gerade das, was der Protestantismus braucht als Korrektiv gegen die Versuchung jeder religiösen Sphäre und jedes kirchlichen Systems, sich mit dem Unbedingten zu identifizieren, auf das es hinweist. Profane Gestalten sind offen für eine beständige Wandlung durch autonome Produktivität. Nichts ist weniger protestantisch als die katholische Sanktionierung einer besonderen Philosophie, einer besonderen Kunst, einer besonderen Ethik. Das gerade ist der Weg, auf dem die römische Kirche versucht, die profane Kultur daran zu verhindern, sich im Protest gegen die kirchlichen Formen zu erheben. Aber das ist nicht der protestantische Weg. Der Protestantismus sieht die Profanität als beständige ewig wechselnde Aufgabe für seine Gestaltung. Es gibt keine feste, nicht einmal eine klassische Lösung. Es gibt vorläufige Setzungen, Konstruktionen, Lösungen, aber nichts ist endgültig. Die protestantische Gestalt der Gnade ist dynamisch. Das Jetzt entscheidet über die jeweilige Aufgabe. Dessen Probleme und Spannungen, dessen Richtungen und Schöpfungen bestimmen die Richtung, in der die protestantische Gestaltung arbeiten muß. Das führt zu dem zweiten Prinzip der 62

protestantischen Gestaltung: In jeder protestantischen Gestalt muß das ewige Element in bezug auf die gegenwärtige Situation zum Ausdruck kommen. Welche Art von Beziehung auf die Gegenwart wird in diesem Prinzip der Gegenwärtigkeit gefordert? Selbstverständlich kann es nicht Augenblicksgebundenheit bedeuten. Nicht die Erscheinung, sondern die Tiefe der Gegenwart ist entscheidend. Aber die Tiefe, die dynamische Struktur einer geschichtlichen Situation kann nicht durch eine pure Beschreibung so vieler Fakten als möglich verstanden werden. Die Tiefe jeder Gegenwart ist ihre Macht, die Vergangenheit in Z u k u n f t umzuwandeln. D a r u m ist es immer eine Entscheidung, ein Wagnis. Das gilt auch von der protestantischen Gegenwärtigkeit. Sie schließt das W a g nis ein, sie hat keine festen Maßstäbe, keine geistigen Sicherungen. Sie stößt vor, und es kann ihr geschehen, daß sie ins Leere gestoßen und ihr Ziel verfehlt hat. U n d doch kann sie nicht anders als wagen und vorstoßen. Der Protestantismus verneint die Sicherheit sakramentaler Systeme mit ihren unverletzlichen Formen, heiligen Gesetzen, ewigen Strukturen. Für ihn ist jeder Anspruch auf Absolutheit fragwürdig. Er bleibt dynamisch, auch wenn er konservativ zu werden versucht. All das bedeutet natürlich nicht, daß damit die Grundlage des Protestantismus aufgehoben wäre, die Gestalt der Gnade, und das ihn schützende protestantische Prinzip. Protestantische Gestaltung ist nicht die Macht der Selbstverneinung, die Auflösung der Form. Protestantische Gestaltung ist nicht Wagnis überhaupt, sondern ist Wagnis auf dem Boden und in den Grenzen der Wirklichkeit der Gnade. Sie überschreitet jede Form, die sie gestaltet, aber sie überschreitet nicht die Wirklichkeit der Gnade, die sich in diesen Formen ausdrückt. Wagnis überhaupt, Wagnis abgesehen von der Gestalt der Gnade bedeutet Sprung von einer endlichen Möglichkeit zu einer anderen. Das ist Relativismus, aber nicht protestantischer Protest. Daraus ergibt sich ein drittes Prinzip der protestantischen Gestaltung: Protestantische Gestaltung ist Gestaltung auf dem Boden der Wirklichkeit der Gnade und in der Form des Wagnisses. Das Wagnis der protestantischen Gestaltung ist nicht Willkür, denn es ist gehorsam einerseits dem protestantischen Prinzip, andererseits den Forderungen, die in der Wirklichkeit der Gegenwart liegen. Wagnis ohne Gehorsam gegen die Realität ist Willkür. Realität aber wird nur erfaßt durch Wagnis. Das w a h r h a f t Wirkliche kann nicht unter Sicherungen logischer oder methodischer Art erreicht werden. Ein A k t des Wagnisses wird gefordert, ein Akt, der in die tiefsten Schichten der Realität eindringt bis zu ihrem transzendenten Grund. Ein solcher Akt 63

ist das, was in der religiösen Tradition Glaube genannt wird und was wir gläubigen Realismus genannt haben. Nur „gläubiger Realismus" ist wirklicher Realismus. Nur er läßt sich von keiner vorläufigen Schicht des Seins und des Sinnes festhalten, er schneidet hindurch bis zu der letzten Schicht. Und so befreit der gläubige Realismus in gleicher Weise vom zynischen wie vom utopischen Realismus. Aber was ist das wahrhaft Wirkliche unter allen Dingen und Geschehnissen, die sich als Wirklichkeit darbieten? Das, was mir Widerstand leistet, so daß ich sein Nichtsein nicht behaupten kann. Das wahrhaft Wirkliche ist das, was mich begrenzt. Es gibt zwei Mächte in der Gesamtheit unserer Erfahrung, die jedem Versuch, sie zu entfernen, Widerstand leisten: das Unbedingte und der „Andere", das heißt, das andere menschliche Wesen. Sie sind eins in ihrem Widerstand gegen midi, in ihrer Manifestation als das wahrhaft Wirkliche. Das Unbedingte könnte eine Täuschung sein, wenn es nicht erschiene durch die unbedingte Forderung des Anderen, ihn als Person anzuerkennen. Und umgekehrt, der Andere, wenn er nicht eine unbedingte Anerkennung seiner persönlichen Würde forderte, könnte als Mittel für meine Zwecke gebraucht werden. Als Folge davon würde er seine Macht des Widerstandes und seine letzte Wirklichkeit verlieren. Die Einheit des Persönlichen und des Unbedingten oder des Ethischen und des Religiösen ist die Manifestation des wahrhaft Wirklichen, denn sie widersteht ganz und gar jedem Versuch, in Subjektivität aufgelöst zu werden. Daraus ergibt sich ein viertes Prinzip der protestantischen Gestaltung: In jeder protestantischen Gestalt muß die Haltung des gläubigen Realismus zum Ausdruck kommen. Jede protestantische Gestaltung muß die Wirklichkeit in ihrem unbedingten und unwiderstehlichen Ernst ergreifen und darf nicht an einem Ort vor oder jenseits des wahrhaft Wirklichen bauen. IV. Protestantische

Gestaltung und religiöse

Erkenntnis

Nachdem wir vier Prinzipien entwickelt haben, die jede protestantische Gestaltung bestimmen sollten, geben wir jetzt einige Beispiele dafür, wie diese Prinzipien angewendet werden können. Wir wenden uns zuerst der Sphäre religiöser Erkenntnis zu. Das Leben einer protestantischen Kirche schließt die Suche nach der Wahrheit und den Ausdruck der Wahrheit ein, aus der heraus sie lebt. Sie findet diese Wahrheit als etwas Gegebenes vor, vorgeformt in der Tradition, aber bedürftig der Erfahrung, der Interpretation und der Neuformung. Sie weiß um den protestantischen Protest gegen jede Tradition, und sie weiß, daß dieser 64

P r o t e s t real u n d k o n k r e t ist in der P r o f a n i t ä t , in deren E r k e n n t n i s v o m Menschen, d e r Geschichte u n d der N a t u r . D a m i t ist sie aber g e z w u n g e n , p r o f a n e E r k e n n t n i s als E l e m e n t ihrer eigenen S e l b s t d e u t u n g a u f z u n e h m e n . E s ist o f t m a l s gesagt w o r d e n , d a ß p r o f a n e s D e n k e n nicht in die protestantische T h e o l o g i e eindringen d ü r f e . A b e r P h i l o s o p h i e

und

T h e o l o g i e sind nicht a p r i o r i m i t e i n a n d e r im K o n f l i k t . O b es der F a l l ist o d e r nicht, h ä n g t v o n d e m besonderen C h a r a k t e r beider ab. A u f jeden F a l l sollte d i e protestantische T h e o l o g i e f r e i d a s tun, w a s j e d e T h e o l o g i e i m m e r tut, s o g a r w e n n sie leidenschaftlich j e d e V e r b i n d u n g mit der P h i l o s o p h i e verneint, sie sollte sich selbst mit der P h i l o s o p h i e in B e z i e h u n g setzen, u n d z w a r entschlossen, w e n n auch unter d e m K r i terium des protestantischen P r i n z i p s . D e n W e g , auf d e m dies g e t a n w e r d e n k a n n , n a n n t e n w i r g l ä u b i g e n R e a l i s m u s . R e l i g i ö s e E r k e n n t n i s ist E r k e n n t n i s der D i n g e u n d Geschehnisse in ihrer religiösen B e d e u t u n g , ihrer B e z i e h u n g z u m t r a n s z e n d e n ten G r u n d . R e l i g i ö s e E r k e n n t n i s ist die E r k e n n t n i s des w a h r h a f t W i r k lichen. S i e ist nicht d i e E n t f a l t u n g einer T r a d i t i o n , sie ist nicht die D i s k u s s i o n u n d W e i t e r f ü h r u n g tradierter P r o b l e m e , sie ist nicht die A n t w o r t a u f d a s F r a g e n nach Sinn u n d W a h r h e i t tradierter B e g r i f f e . R e ligiöse S e l b s t b e s i n n u n g k a n n in zweiter L i n i e dies auch alles sein. A b e r z u e r s t u n d v o r a l l e m ist sie H i n w e n d u n g z u r Wirklichkeit, B e f r a g e n d e r W i r k l i c h k e i t , S i c h - H i n e i n b o h r e n in die E x i s t e n z , V o r s t o ß e n auf d i e E b e n e , w o die W e l t über sich hinausweist a u f ihren G r u n d u n d u n b e d i n g t e n S i n n . W e n n d a n n aus einem solchen E i n d r i n g e n in die Wirklichkeit W o r t e und Begriffe hervorgehen, unmittelbar

geformt

durch d i e Sache selbst, so geben sie erst den Schlüssel z u m V e r s t ä n d n i s u n d z u r neuen D e u t u n g der T r a d i t i o n . S o ist es nicht A u f g a b e der p r o testantischen T h e o l o g i e , u m der T r a d i t i o n willen z u reden v o n einem S c h ö p f u n g s a k t u n d den P r o b l e m e n , die er der mythisch-dogmatischen B e g r i f f s b i l d u n g bietet, s o n d e r n die K r e a t ü r l i d i k e i t a l l e r D i n g e u n d ihre B e z i e h u n g z u m schöpferischen G r u n d z u beschreiben. D e r

religiös-

mythische Begriff „ S c h ö p f u n g " m u ß gedeutet w e r d e n durch den religiös-empirischen Begriff „ g e s c h ö p f l i c h " . U n d es ist nicht die A u f g a b e protestantischer T h e o l o g i e , die überlieferten christologischen o d e r soteriologischen P r o b l e m e weiterzutreiben, s o n d e r n d a s neue Sein z u beschreiben, d a s in J e s u s C h r i s t u s sichtbar w a r d in b e z u g auf N a t u r u n d Geschichte. Dieses Sein, d a s in der Geschichte ist u n d doch nicht aus der Geschichte, ist d a s g e g e n w ä r t i g e P r o b l e m der „ P e r s o n u n d des W e r kes des C h r i s t u s " . E s b e t r i f f t uns, unsere G e g e n w ä r t i g k e i t u n d W i r k lichkeit, in j e d e m A u g e n b l i c k . U n d unsere A n t w o r t k a n n ein W e g sein, u m A n t w o r t e n a u f ähnliche F r a g e n , die v o n früheren Epochen gegeben

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wurden, zu verstehen. Und es ist nicht Aufgabe protestantischer Theologie, den jüdisch-urchristlichen Endmythos zu verteidigen oder aufzulösen, sondern es ist ihre Aufgabe zu fragen: Welches ist der letzte Sinn, der allem geschichtlichen Handeln innewohnt? Wie deuten wir die Zeit im Lichte des Ewigen, das in sie einbricht? Das „Ende der Zeit" als ein Element der Zeit gilt es zu sehen, als Element der echten, nach vorn gerichteten, sinnerfüllenden, heilsgesdiichtlichen Zeit. Es ist nicht die Aufgabe protestantischer Theologie, an einer Lehre vom Wesen und von den Eigenschaften Gottes fortzuarbeiten und sie durch einige Wendungen zu bereichern oder zu beschneiden, sondern es ist ihre Aufgabe, die Wirklichkeit so zu schauen und zu beschreiben, daß ihr tragender Grund in ihr erscheint und durch sie hindurchscheint. Die tiefste aller Forderungen ist, daß wir lernen, von Gott so zu sprechen, daß er nicht als ein Gegenstand über allen anderen Gegenständen erscheint, nicht als ein bloßes Symbol, sondern als das wahrhaft Wirkliche in allem, das Wirklichkeit beansprucht. Es ist klar, daß das alles nur möglich ist auf dem Boden einer Gestalt der Gnade, das heißt im Glauben. Ob es geschieht und wo es geschieht, wissen wir nicht. Wir können es nicht willentlich und handelnd herbeiführen. Es geschieht oder es geschieht nicht. Geschieht es aber, dann ist es nicht nur enthüllend für unsere Zeit, sondern auch erhellend für die vergangene Zeit; die Begriffe und Worte der Tradition werden gegenwärtig, sie weisen hin auf ihre Tiefe und Wirklichkeit. Protestantische Gestaltung ist überall da am Werk, wo die Wirklichkeit angeschaut und beschrieben wird im Hinblick auf ihren Grund und letzten Sinn.

V. Protestantische

Gestaltung und religiöses

Handeln

Religiöses Handeln im Gegensatz zu ethischem Handeln ist „Kultus" (colere deum). Es steht in wechselseitiger Abhängigkeit zum religiösen Denken. Im Protestantismus gibt die Gestalt der Gnade dem Kultus neuen Sinn und neue Lebendigkeit. Kultus wird der Begriff für die anschauliche Gestalt der Gnade. Der protestantische Kultus, der traditionsgemäß die Predigt zum Mittelpunkt hatte, wird dadurch erweitert. Er wird von der Verwechslung des „Wortes Gottes" mit dem gesprochenen oder geschriebenen Wort der christlichen Predigt befreit. Das „Wort Gottes" ist Selbstmitteilung Gottes, die in vielen Formen geschehen kann und nicht an das menschliche Wort gebunden ist. Sie kann geschehen durch Handlungen, Gesten, Gestaltungen, natürlich nicht ex opere operato (bloß dadurch, daß solche Handlung vollzogen 66

wird), wohl aber ohne begleitendes Wort. Sakramente, sichtbare Symbolik, leibliche, musikalische, künstlerische Ausdrucksformen sind „ W o r t G o t t e s " , auch wenn nichts gesprochen wird, was nicht bedeutet: ohne Erfassung des geistigen Sinnes (wie das gesprochene Wort auch nur dann W o r t Gottes ist, wenn es geistig erfaßt wird). D e r protestantische Kultus in diesem weiteren Sinn stellt uns vor eine schwierige Aufgabe. Der Kultus verwendet besondere Formen, in denen sich die Gestalt der G n a d e ausdrückt. Aber gemäß dem protestantischen Prinzip stellen diese Formen durch ihre Schönheit und geheiligte T r a d i t i o n Versuchungen dar, die G n a d e mit irgendeinem besonderen Ausdrude der G n a d e in eins zu setzen. Deshalb ist ein K o r rektiv nötig, das aus den Prinzipien protestantischer Gestaltung abgeleitet werden muß. P r o f a n e Autonomie und Forderung der Gegenwärtigkeit sind die Prinzipien, die hier vor allem wichtig sind. Der Widerstand gegen den Kultus hat solche Dimensionen angenommen, daß die Mehrzahl der Menschen innerhalb der protestantischen Völker keinen irgendwie gearteten Zugang zum Kultus mehr hat. Das ist nicht nur in den durch das Übergewicht der Predigt hervorgerufenen verhängnisvollen Zuständen begründet, sondern vielmehr noch in dem G e f ü h l , daß die entscheidenden Elemente unseres gegenwärtigen Lebens v o m Kultus nicht getroffen werden. T r o t z aller Verbesserungen der liturgischen Form, die durch die Wiederentdeckung der Schätze der liturgischen Vergangenheit bewirkt wurde, hat die R e f o r m des Kultus dieses Gefühl nicht überwinden können. Sie brachte z w a r einen ästhetischen Fortschritt (im Gegensatz zu der ästhetischen A r m u t des späten 19. Jahrhunderts). Aber sie bewirkte keinen religiösen Impuls, der stark genug wäre, eine neue H a l t u n g gegenüber dem protestantischen Kultus hervorzurufen; denn ästhetisches Ergriffensein ist nicht Ergriffensein v o m Unbedingten. Religiöses H a n d e l n - Kultus - muß, wie religiöses Erkennen, seine Formen aus den Erfahrungen des alltäglichen Lebens und der gegenwärtigen Situation schaffen. Kultus soll dem Alltäglichen letzten Sinn geben. Nicht Schaffung neuer Liturgien ist wichtig, sondern Eindringen in die T i e f e dessen, was täglich geschieht, in der Arbeit, in der Wirtschaft, in der Ehe, in der Freundschaft, in der Geselligkeit, in der Erholung, in der Sammlung, in der Stille, im unbewußten und bewußten Leben. All dies in das Licht des Ewigen zu heben, ist die große Aufgabe des Kultus, und nicht, eine Tradition traditionell umzuformen. E s ist eine unendliche A u f g a b e , die Mut und K r a f t der Schau verlangt, besonders in einer Zeit radikaler Umwälzungen wie der unseren. In dem Maße, in dem der Protestantismus diese A u f g a b e erfolgreich auf67

nimmt, in dem Maße wird die liturgische Tradition gegenwärtig und dadurch innerlidi mächtig werden. Protestantische Gestaltung ist überall da am Werk, wo immer Wirklichkeit in einen unmittelbaren Ausdruck einer Gestalt der Gnade verwandelt wird.

VI. Der Geist des Protestantismus

und die autonome

Kultur

Protestantische Gestaltung drückt sich nicht nur in der religiösen Sphäre (im engeren Sinne) aus, sondern auch in der Ganzheit der persönlichen, sozialen und geistigen Existenz, im Ganzen einer Kultur. Nur einige Gedanken über Protestantismus und Kultur seien hier aus den oben entwickelten Prinzipien abgeleitet. In dem Maße, in dem der Protestantismus den Protest der Profanität gegen sich selbst aufnimmt, in dem Maße hat er ein Recht und eine Kraft, auch den Protest gegen die Profanität zu richten. Die profane Welt muß einer solchen Kritik dauernd unterzogen werden, da sie die Tendenz hat, sich von der Gestalt der Gnade trotz ihrer wesensmäßigen Beziehung zu ihr zu trennen. Die Profanität will prophetischem Gericht und prophetischer Verheißung entfliehen, die beide sie in ihrer profanen Autonomie zu bedrohen scheinen. Sie fürchtet den Machtwillen der organisierten Religion, von dem sie sich in einem furchtbaren Kampf befreit hat. Die profane Welt will nicht in die Heteronomie und die Knechtschaft der Kirche zurück. Der Protestantismus steht über dieser Alternative. Er erhebt keine kirchlichen Machtansprüche, sondern unterzieht sie, wo immer sie auftauchen, der gleichen Kritik, der er eine auf sich selbst gestellte Profanität unterzieht, sei sie wissenschaftlich, politisch oder moralisch. Er versucht, eine protestantische Profanität zu schaffen, eine Kultur, die zu einer Gestalt der Gnade als ihrem geistigen Zentrum in Beziehung steht. In dem Maße, in dem dieser Versuch gelingt, nähern sich die profanen Formen des Denkens und Handelns den spezifisch religiösen, ohne selber religiös zu werden. Sie bleiben profan, aber sie zeigen den geistigen Einfluß, der ständig aus einer Gestalt der Gnade fließt, selbst wenn sie so schwach erscheint, wie oft die protestantischen Kirchen. Durch diesen stillen Einfluß des Protestantismus auf die Kultur, zu der er gehört, wird das profane Denken zu der Frage nach seinem eigenen Grund und Sinn getrieben, das heißt zu der Frage der religiösen Erkenntnis. Und das profane Handeln wird zu der Frage nach seinem letzten Ziel und seiner Erfüllung getrieben, das heißt zu der Frage des religiösen Handelns, sei es individuell oder sozial. Für diese 68

dialektische Beziehung zwischen der profanen "Welt und der Gestalt der Gnade verwende ich gern das Wort „Theonomie", das besagt, daß weder kirchliche Heteronomie noch profane Autonomie für die menschliche Kultur das letzte Wort haben kann. Gegen den Begriff der Theonomie können Einwände erhoben werden, da er durch den katholischen Sprachgebraudi einen heteronomen Beiklang erhalten hat. Deshalb ist es vielleicht manchmal besser, von „protestantischer Profanität" zu sprechen, ein Begriff, der genau den zweideutigen Charakter der Beziehung zwischen der protestantischen Gestalt der Gnade und der profanen Welt aufweist. Gibt es aber eine protestantische profane Kultur - und sie hat eine sehr sichtbare und sehr mächtige Realität in den meisten protestantischen Ländern - , so hat die protestantische Gestaltung überragende Bedeutung. Nicht dadurch, daß sie die profanen Lebensformen bestimmt, aber dadurch, daß sie Formen schafft, die den geistigen Sinn des Lebens darstellen. Religiöses Denken und Handeln repräsentieren sichtbar das, was im profanen Denken und Handeln verborgen ist. Sie sind nicht etwas, das neben oder über dem Profanen steht, sie sind nicht gegen das Profane gerichtet und sind auch kein Teil von ihm. Sie sind der repräsentative Ausdruck seines Grundes und Zieles. Ohne einen solchen Ausdruck wird die Profanität leer und das Opfer dämonischer Selbstzerstörung. Protestantische Gestaltung ist notwendig in einer profanen Welt, und sie ist am Werk, wo immer die autonomen Formen Träger eines letzten Sinnes werden. Das Problem der protestantischen Gestaltung stellt uns vor eine weitreichende Entscheidung. Entweder entscheiden wir uns für eine bloße gestaltlose Wortverkündigung, die notwendig zu einem intellektuellen Bericht über die Gnade wird und neben sich eine von ihr unberührte Profanität läßt, oder wir entscheiden uns für protestantische Gestaltung als den Ausdruck einer Gestalt der Gnade im Handeln und Denken und damit für die Möglichkeit, den letzten Sinn der profanen Welt auszudrücken. Die allgemeine Lage und die Krisis des Protestantismus drängen uns zu der Entscheidung für die protestantische Gestaltung. Entweder werden die protestantischen Kirchen zwischen Katholizismus und Profanität zur Bedeutungslosigkeit herabgedrückt, oder sie überwinden beide durch die Macht des protestantischen Prinzips und der Wirklichkeit, für die es zeugt. Entweder wird der Protestantismus eine Sekte, abgeschnitten von den Hauptströmungen der Geschichte, oder er wird der Anfang einer neuen Gestalt christlichen Seins, in der dämonischer Sakramentalismus und profane Entleerung überwunden sind. 69

DIE PROTESTANTISCHE

VERKÜNDIGUNG

UND DER MENSCH DER

I. Der Mensch der

GEGENWART

Gegenwart

Der Mensch der Gegenwart, von dem hier die Rede sein soll, ist nidit einfach der gegenwärtig lebende Mensch, sondern der durch die Gegenwart bestimmte und seinerseits die Gegenwart bestimmende Mensch, der Mensch, der der Gegenwart ihr Gesicht gibt. Will man ihn ganz charakterisieren, so muß man ihn als den Menschen fassen, der auf dem Boden einer christlichen, durch den Protestantismus gebrodienen Geisteslage eine autonome Kultur aufgebaut hat und in ihr aufnehmend und mitschaffend steht. Es ist der Mensch, der Humanismus und Renaissance, Idealismus und Romantik, Realismus und Expressionismus als Elemente seiner geistigen Wirklichkeit bewußt oder unbewußt in sich trägt. Dieser Mensch ist, selbst wenn er zahlenmäßig in der Minderheit wäre, der maßgebende geistige Typus der Gegenwart. Die Spannungen seines Lebens sind die produktive Kraft auf allen Gebieten. Sehen wir näher zu, welche Merkmale den Menschen der unmittelbaren Gegenwart von innen her charakterisieren, so müssen wir sagen: Es ist der autonome Mensch, der in seiner Autonomie unsicher geworden ist. Bezeichnend für das Unsicherwerden der Autonomie ist die Tatsache, daß der Mensch der Gegenwart keine Weltanschauung mehr hat in dem Sinne einer Gesamtheit sicherer Überzeugungen über Gott, die Welt und sich selbst. Das Gefühl einer Sicherheit in einem System theoretischer und praktischer Ideen über den Sinn seines Lebens und des Lebens im allgemeinen ist geschwunden. Noch vor zwei Jahrzehnten war die Literatur voll von Auseinandersetzungen mit der modernen Weltanschauung oder zwischen den verschiedenen Richtungen der modernen Weltanschauung. Davon ist nichts mehr zu spüren. Nur weltanschauliche Restbestände liegen noch vor. Der Idealismus sammelt sich zum Beispiel besonders um die Bildungsfragen und sucht in der neuhumanistischen Bewegung eine gegenwärtige Ausdrucksform. Aber keiner der Neuhumanisten hat eine Philosophie entwickelt, die im Gegensatz zum deutschen Idealismus eine einheitliche Weltanschauung oder sogar eine überzeugende Deutung des menschlichen Lebens 70

darstellte. Der Neuhumanismus ist eine Forderung ohne Erfüllung geblieben. Während weder Marx noch die Hauptvertreter des Marxismus den metaphysischen Materialismus anerkannten (Marx griff ihn in seinen Thesen gegen Feuerbach als eine bürgerliche Ideologie an), hat der Populärmarxismus weitgehend den sogenannten historischen Materialismus mit einer materialistischen Weltanschauung vermengt. Aber niemand, der es verdient, ein Mensch der Gegenwart genannt zu werden, erkennt eine solche Metaphysik an. Es wäre nicht angebracht, wollte man einige andere Versuche, in das Rätsel der Existenz einzudringen, Weltanschauungen nennen. Ich meine die sogenannte Lebensphilosophie, deren glänzendster Vertreter Nietzsche war und die in Deutschland und Frankreich eine große Anhängerschaft hat; oder die Philosophie des Unbewußten, die von Freud ausging und deren Einfluß täglich wächst; oder die philosophischen und theologischen Bewegungen, die durch die Wiederentdeckung Kierkegaards bestimmt sind. Sie alle tragen mehr bei zur Zerstörung der alten Weltanschauungen als zum Aufbau einer neuen. Sie sind gerade deshalb so mächtig, weil sie keine Weltanschauung sind. Der moderne Mensch ist ohne Weltanschauung, und er hat das Bewußtsein, damit der Wirklichkeit gerechter zu werden, freilich auch in einer tieferen Fragwürdigkeit der Existenz zu stehen als der Mensch, der diese Fragwürdigkeit durch eine Weltanschauung verdeckt. Selbstverständlich steht der Mensch der Gegenwart den kirchlichen Verkündigungen in der gleichen Haltung gegenüber wie den autonomen Weltanschauungen. Er bekämpft sie nicht etwa als Träger einer Weltanschauung, der eine andere überwinden will, er sieht in ihnen Probleme und Lösungen, teils endgültig vergangene, teils auch gegenwärtig bedeutungsvolle. Er behandelt sie nicht schlechter und nicht besser als die Welt- und Lebensanschauungen, von denen er herkommt und die er hinter sich läßt; eher besser als schlechter, denn er findet in ihnen mehr Anerkennung des Lebensgeheimnisses als in den autonomen Weltanschauungsformen. Aber er verläßt darum nicht die Autonomie. Er steht immer noch in der autonomen Tradition der letzten Jahrhunderte. Darin aber unterscheidet er sich von der vergangenen Entwicklung, daß er in der Autonomie nicht mehr selbstsicher schaffend, sondern beunruhigt, zwiespältig, oft verzweifelnd steht. Es ist verständlich, daß die Kirchen aus dieser Lage die Folgerung ziehen und den Menschen der Gegenwart die Rückkehr zur Autorität und Tradition der Kirchen empfehlen. Das gilt insbesondere von der katholischen Kirche. Man fordert gleichsam als letztes Werk der Autonomie die Selbstaufhebung und Unterwerfung. 71

IL Die katholische Kirche und der Mensch der

Gegenwart

In dieser Lage ist naturgemäß die katholische Kirche bevorzugt. Denn nur sie hat eine konsequent durchgeführte Heteronomie. N u r sie hat eine ungebrochene Tradition und Autorität. Infolgedessen übt die katholische Kirche auf die Menschen der Gegenwart einen starken Zauber aus; wie sie auch selbst gegenüber der gebrochenen Autonomie ein starkes Siegesbewußtsein hat. Das gründet sich nicht nur auf die Tatsache, daß die Autonomie erschüttert ist, sondern auch auf die geistige Substanz, die in Tradition und Autorität enthalten ist. W o der Einzelne in freier Entscheidung über den Dingen und Gegebenheiten steht, ist er losgelöst von der unmittelbaren Verbundenheit mit ihrem Gehalt. Das Stehen in der Freiheit, auch der religiösen Freiheit, wird bezahlt mit Verlust an lebendiger Substanz. Der Substanzverlust seit Ausgang des Mittelalters, der geistige und der religiöse, ist außerordentlich und streift ständig an die Grenzen völliger Entleerung. N u r an wenigen Orten gibt es noch ein selbstverständlich quellendes Leben. Die Quellen der Vergangenheit sind fast erschöpft, die Substanz ist fast vergeudet. Die katholische Kirche aber hat offenbar Substanz bewahrt, auch in einer immer härter werdenden Verkrustung. U n d wenn die H ä r t e und Verkrustung einmal durchbrochen wird, wenn die Substanz durch sie hindurch sichtbar gemacht wird, bekommt sie eine eigentümliche Leuchtkraft: es erscheint, was einmal unser aller Lebenssubstanz und Erbgut war und was wir verloren haben, und es wird Sehnsucht wach nach der Völkerjugend unseres Kulturkreises. Es ist nicht besonders merkwürdig, daß die katholische Kirche einen mächtigen Einfluß auf den modernen Menschen ausübt, da sie ein Doppeltes gibt: die Befreiung von der Last autonomer Verantwortung und das Anerbieten uralter, einst eigener Lebenssubstanz. Merkwürdig ist vielmehr, daß das nicht in noch ganz anderem Ausmaße geschieht, daß das Siegesbewußtsein der Kirche nicht deutlicher recht behält, daß die Zahl der Ubertritte zum Protestantismus immer noch eher zunimmt als abnimmt. Vor allem aber ist merkwürdig, daß die W o r t führer des modernen Menschen im ganzen der Verlockung widerstehen, ihre, wenn auch noch so gebrochene und entleerte, Autonomie zu opfern. Man kann das nicht mit der Erklärung abtun, daß die Verkrustung der katholischen Kirche und die Mechanisierung ihres herrschaftlichen Apparates den Zugang zu ihr versperren. Verkrustete Gebilde, die als wahr und notwendig sich erweisen, locken gerade den schöpferischen Menschen zur Mitarbeit an der Entkrustung. U n d auch die Er72

klärung reicht nicht aus, daß die stark romanische Färbung des Katholizismus dem angelsächsischen, germanischen Norden den Zugang zu ihm unmöglich mache. In romanischen Ländern pflegt der Gegensatz zu ihm viel stärker zu sein als in den nördlichen Ländern. Es ist vielmehr so, daß der Mensch, der in der - wenn auch noch so gebrochenen und entleerten - Autonomie steht, etwas erfährt, was er nicht leicht preisgibt, auch wenn er dem Ruf der katholischen Kirche folgen wollte. Dieses Etwas, was den protestantischen und den in profaner Autonomie lebenden Menschen vereinigt, muß aufgesucht und verstanden werden. An ihm hängt die religiöse und damit auch die geistige Existenz der Gegenwart. III.

Die menschliche

Grenzsituation

Es ist das Erlebnis der menschlichen Grenzsituation oder der unbedingten Bedrohtheit des menschlichen Seins, das den modernen Menschen davor bewahrt, sich der Heteronomie zu ergeben. Das Protestantische am Protestantismus ist und muß immer sein die Verkündigung der menschlichen Grenzsituation, der unbedingten Bedrohtheit des menschlichen Seins. Und der moderne Mensch ist bereit, in der Gebrochenheit seiner Autonomie diese Botschaft zu vernehmen und sie zu bejahen gegenüber jeder Verlockung durch das Anerbieten religiöser oder nichtreligiöser Sicherungen. Wenn wir heute von dem Protestantischen im Protestantismus reden, drücken wir damit aus, daß dieses nicht das einzige am Protestantismus ist. Denn der Protestantismus ist nicht nur Protestantismus, er ist auch und zunächst Christentum. Er ist auch und zunächst Träger und Vermittler des neuen in Jesus Christus angeschauten Seins. Er ist auch erfüllt von jener geistigen Substanz, die spürbar ist für jeden, der wirkliche evangelische Frömmigkeit und ungebrochenes evangelisches Christentum kennt. Auch das ist Wirklichkeit, die durch alle Adern der protestantisch erzogenen Völker fließt, wenn auch vermischt mit anderem Blut. Wenn auch die Vorstellung einer Volkskirche (einer Kirche, die wirklich die Sitten und Weltanschauung eines ganzen V o l kes bestimmt) nur ein Wunsch oder ein leerer Anspruch ist, diese W i r kung auf die protestantischen Völker ist da und darf nicht übersehen werden, wie es so oft geschieht. Fast alle Schöpfungen der autonomen Kultur zeigen Spuren des protestantischen Geistes. Wie bereits gesagt, ist der Protestantismus auch und zunächst Christentum. Er hat nie etwas anderes sein wollen, und seine Kirchen nennen sich in Deutschland nicht protestantische, 73

sondern evangelische. Aber der Name Protestantismus ist ihm dodi geblieben; er ist aus einem staatspolitischen zu einem religiösen Begriff geworden. Er bezeichnet die eine Seite, das eine, entscheidende Element dieser Ausformung der christlichen Substanz. Das eigentlich Protestantische aber ist die radikale Verkündigung der menschlichen Grenzsituation und der Protest gegen alle Versuche, ihr mit religiösen Mitteln auszuweichen, und wäre es mit Hilfe der ganzen Fülle und Tiefe und Weite der mystischen und sakramentalen Frömmigkeit. Der Protestantismus ist geboren aus dem Kampf um die Rechtfertigungslehre. Dem Menschen der Gegenwart und selbst dem kirchlichen Protestanten ist dieser Begriff fremd, so fremd, daß es, wie ich immer wieder festzustellen Gelegenheit hatte, fast keinen Weg gibt, ihn verständlich zu machen. Und doch hat dieser Begriff die einheitliche Christenheit zerbrochen, Europa und besonders Deutschland zerrissen, zahllose Märtyrer gemacht, die blutigsten und grauenhaftesten Kriege der Vergangenheit entzündet, die gesamte europäische und damit menschheitliche Geschichte bestimmt. Was anderthalb Jahrhunderte lang einer gar nicht fernen Vergangenheit alle Häuser und Werkstätten, alle Märkte und Dorfschenken Deutschlands erfüllte, das ist jetzt selbst den Spitzen der geistigen Bildung kaum mehr zugänglich. Ein Abbruch der Tradition ohnegleichen liegt hier vor. Wir dürfen darum auch nicht annehmen, daß es möglich sei, über diesen Abgrund hinweg einfach wieder bei der Reformation anzuknüpfen. Es scheint mir, als ob die theologischen Versuche, die dahin zielen und die man unter dem Stichwort Luther-Renaissance zusammenfassen kann, mehr wissenschaftliche als gegenwartsmächtige religiöse Bedeutung haben. In den Bildungsschichten herrscht eine völlige Lutherfremdheit, im Proletariat eine entschlossene Lutherfeindschaft. Nur dieses bleibt uns übrig, daß wir die Wirklichkeit, die damals gemeint war und die heute die gleiche ist, von uns aus neu sehen und in neue Worte fassen für den Menschen der Gegenwart. Darum sprechen wir von der GrenzSituation des Menschen und meinen, daß jene, einen Erdteil zerreißenden Kämpfe nicht K ä m p f e um hinterwäldlerische Probleme waren, wie Nietzsche von Luther sagt, sondern daß es K ä m p f e waren um das menschliche Problem überhaupt, um das Problem' der menschlichen Grenzsituation. Die menschliche Grenzsituation ist da erreicht, wo die menschliche Möglichkeit schlechthin zu Ende, die menschliche Existenz unter eine unbedingte Bedrohung gestellt ist. Das ist nicht der Fall im Tode. Wohl kann der Tod hinweisen auf die Grenzsituation, aber er muß es nicht, 74

und er ist nicht sie selbst. Das ist der Grund, warum der Tod nicht aus der Verzweiflung befreien kann. Der in der Verzweiflung erfahrene Zwiespalt ist durch Aufhebung der leiblichen Existenz nicht mitaufgehoben. Die Grenzsituation, die sich in der Verzweiflung bemerkbar macht, bedroht den Menschen in einer anderen Ebene als der leiblichen Existenz. Wer die Bedrohung in seiner Wesenswurzel kennt, der weiß, daß der Todesgedanke keine Erleichterung bringt. Er weiß, daß er gleichsam die Verzweiflung mit in den T o d nehmen würde, ganz gleich, wie man sich dies „im T o d e " denkt oder nicht denkt. Denn die Grenzsituation des Menschen ist gerade darum möglich, weil er nicht eins ist mit seiner vitalen Existenz. Sie ist darum möglich, weil der Mensch als Mensch über seiner vitalen Existenz steht, weil er gebrochen ist in seinem unmittelbaren Dasein. Menschsein ist diese Erhebung über das bloße Dasein, ist dieses Stehen in der Freiheit, in der Freiheit nämlich, ja oder nein zu sagen zum Dasein. Mit dieser seiner Freiheit, die sein Wesen ist und der er sich nicht entziehen kann, ist auch seine Bedrohtheit gegeben. Der Mensch ist das eigentlich bedrohte Wesen, weil er nicht gebunden ist an seine vitale Existenz, weil er zu ihr ja und nein sagen kann. Das drückt sich darin aus, daß der Mensch nach dem wahren Sein fragen und daß er das richtige Sein fordern kann. W e r nach dem wahren Sein fragt, ist irgendwie los vom Sein, wer eine Forderung an die Wirklichkeit stellt, setzt voraus, daß sie nicht gegeben ist. Der Mensch aber muß fragen und muß fordern; er kann diesem seinem Schicksal, das heißt dem Schicksal, Mensch zu sein, nicht entgehen. Wollte er nicht fragen, so wäre sein Nichtfragen Antwort auf eine Frage. Wollte er nicht fordern, so wäre auch sein Nichtfordern Gehorsam gegen eine Forderung. Der Mensch handelt immer, auch wenn Nichthandeln der Inhalt seines Handelns ist. U n d der Mensch trifft immer Entscheidungen aus Freiheit, auch wenn der Versuch, der Freiheit zu entrinnen, Gegenstand der Entscheidung ist. Diese Unentrinnbarkeit der Freiheit, des Entscheidenmüssens, ist die tiefste Unruhe unseres Daseins, denn durch sie ist unser Sein bedroht. Das Unentrinnbare der Freiheit würde uns nicht bedrohen, wenn es f ü r unser Sein letztlich gleichgültig wäre, ob wir uns so oder so entscheiden. Das Stehen in der Freiheit bedeutet aber, daß es nicht gleichgültig ist, daß vielmehr der unbedingte Anspruch über uns steht, das wahre Sein zu erfassen, das Gute zu verwirklichen. Wird dieser Anspruch nicht erfüllt - und er wird ja nicht erfüllt - , so wird unsere Existenz in den Zwiespalt getrieben, in die verborgene Qual jedes Lebens, von der auch der T o d nicht befreien kann. W o diese Situation in ihrer Unbedingtheit, Unentrinnbarkeit erfahren wird, da ist die 75

menschliche Grenzsituation erfaßt. Der Ort, wo das Nicht-Sein im unbedingten Sinn droht, der Ort, wo unsere ganze Existenz vor dem Nicht-Sein steht, ist die menschliche Grenzsituation. Offenbar kann die Ernsthaftigkeit der menschlichen L a g e dadurch verhüllt oder abgeschwächt werden, daß man auf schon erreichte Wahrheit, auf schon erfüllte Forderung hinweist und sich so der unbedingten Bedrohung entzieht. Diese Möglichkeit ist da, und sie ist irgendwie unser aller Ausweg. Unbedingte Ernsthaftigkeit wäre allein einem Menschen zuzusprechen, der diese Möglichkeit verschmäht, der seine gesamte Existenz von der Grenzsituation her sieht und der d a r u m weiß, daß seine Existenz sich in keinem Augenblick und auf keinem Wege eine Sicherung geben k a n n : weder durch Eintauchen in den vitalen Lebensprozeß, noch durch geistige Schöpfung, noch durch S a k r a mente, noch durch Mystik und Askese, noch durch Rechtgläubigkeit oder intensive Frömmigkeit, noch durch irgend etwas, was zur religiösen Substanz, z u m unmittelbaren religiösen Leben gehört. Es ist die Ernsthaftigkeit und Wucht altprotestantischer H a l t u n g , daß sie sich auch nicht durch Priester und Kirche und Sakrament über die Bedrohtheit der gesamten menschlichen Lage, über die Unbedingtheit der Grenzsituation hinwegtragen läßt. D e m gegenüber wirkt die mystisch-sakramentale Religion leicht als unernsthaft, als menschliche Sicherung gegen die letzte Bedrohtheit des Menschlichen. Die geringere Wichtigkeit, die der Protestant der Kirche, dem Gottesdienst, der religiösen Sphäre überhaupt zuerteilt, ist zutiefst begründet in diesem Stehen in der Grenzsituation, die auch die Grenze der religiösen W a h r heit bedeutet. Weil die Religion, weil die Kirche an sich ihm keine Sicherung ist und sein darf, so steht er ihr mit der gleichen Souveränität gegenüber wie jeder menschlichen Möglichkeit, nicht mit der Souveränität des Überlegenen, der sich selbst mit seiner individuellen Überzeugung über alles andere stellt, sondern mit der Souveränität dessen, der in eine Situation geführt ist, in der er selbst mit allem Menschlichen, auch allem religiös Menschlichen, zusammengeschlossen und unter die D r o h u n g des Nicht-Seins gestellt ist. Hier geht es überhaupt nicht um Überzeugungen und um den Gegensatz individueller und gemeinschaftlicher Überzeugung, sondern hier geht es um Sein und NichtSein im Sinne der letzten Seinsschicht des Menschen. Vielleicht hat der Katholizismus recht, wenn er meint, daß die religiöse Substanz besser bewahrt sei in einer autoritativ getragenen Gemeinschaft. Aber sicher hat er unrecht, wenn er meint, daß es sich im Protestantismus nur um den Versuch des Einzelnen handelt, selbst T r ä g e r der religiösen Substanz zu werden. Vielmehr handelt es sich um die Situation der Grenze, 76

in der die religiöse Substanz mit all ihrer Fülle und Tiefe und Erbweisheit als unzulänglich erkannt wird, sofern sie gegen die letzte Bedrohung sichern soll. Auf dieser Ebene allein ist der Gegensatz der christlichen Konfessionen zu verstehen, nicht aus dem Gegensatz: Subjektivismus gegen kirchliche Bindung. Die Frage heißt: Radikales Sichstellenlassen in die Grenzsituation oder Sicherung gegen die unbedingte Bedrohung durch Kirche und Sakrament.

IV. Die protestantische Kirche und die menschliche

Grenzsituation

Es ist klar, daß eine Kirche, die an diesem Ort oder besser an dieser Grenze jedes Ortes steht, etwas völlig anderes bedeuten muß als die Kirchen, die sich im Besitz der religiösen Substanz nicht stören lassen. Sie muß sich einer radikalen Kritik unterwerfen und alles ausscheiden, was die Wucht der Grenzsituation abschwächt: das Sakrament, das magisch wirkt, also an der letzten Bedrohung vorbeiführt; die Mystik, die an der unbedingten Drohung vorbei zum wahren Sein führen soll; das Priestertum, das eine Sicherung vermitteln soll, die nicht mehr der Unsicherheit der menschlichen Existenz unterworfen ist; die kirchliche Autorität, die eine Wahrheit besitzen soll, die nicht mehr unter der Drohung des Irrtums steht; der Kultus, der eine rauschhafte Erfüllung gibt und hinwegtäuscht über die Unerfülltheit der letzten Forderung gegenüber. Es ist klar, daß eine Kirche, die dort steht, wo kein Fußbreit mehr gesicherten Bodens bleibt, arm werden mußte an Substanz, ohnmächtig in ihrer sozialen Wirklichkeit, profan in ihrer Preisgabe aller an sich heiligen Orte und Dinge und Menschen und Handlungen. Es ist klar, daß eine solche Kirdie die Tendenz in sich trägt, nichts mehr zu sein als eine fast gestaltlose Gruppe von Menschen, von profanen Menschen, ohne sakramentale Qualität, in denen von Geschlecht zu Geschlecht das Bewußtsein um die menschliche Grenzsituation sich fortpflanzt. Es ist klar, daß eine solche Kirche ihren eigenen Sinn verleugnen würde, wenn sie die Kirchen des Sakraments nachahmte in Kultus oder priesterlicher Autorität, in Sakrament oder Seelenleitung. Sie würde und wird, wenn sie sich dazu verführen ließe, immer nur eine schwache Nachahmung jener mächtigen Gestalten sein. Ihre Macht liegt anderswo. Es ist die Macht, deren Symbol einst das Kreuz wurde, weil an ihm die Menschheit wie nie zuvor und wie nie nachher die menschliche Grenzsituation erlebte. In dieser Macht, in dieser Ohnmacht und Armut steht die evangelische Kirche, so lange sie um den Sinn ihres Daseins weiß. 77

Auch die evangelische Kirche ist ständig in Gefahr, diesen ihren Sinn zu vergessen. Ihr größtes Vergessen war dieses, daß sie meinte, mit ihrer Verkündigung der „reinen Lehre" zur unerschütterlichen Besitzerin der Wahrheit geworden zu sein. Sie hatte nicht verstanden, daß in der Grenzsituation stehen nicht nur heißt, in der Ungerechtigkeit stehen, sondern auch in der Wahrheitslosigkeit. Sie aber meinte, sie hätte die Wahrheit wie einen Besitz, gefaßt in den Buchstaben der Bibel und verwaltet von der reinen Lehre der Kirche. Da sie den Anspruch erhob, unzweideutig die Wahrheit zu besitzen und die reine Lehre, verleugnete sie die Grenzsituation und damit ihren eigenen Sinn und ihre eigene Macht. U n d nun vollzog sich an ihr das Schicksal, daß sie da, wo sie sich selbst nicht mehr in Frage stellte, von außen her radikal und vernichtend in Frage gestellt wurde. Die autonome Kultur zerbrach Stück f ü r Stück ihres vermeintlichen Besitzes, ein Rückzugsgefecht begann, in dem alles preisgegeben werden mußte, was sicher erschien. U n d die gegenwärtige Lage der Kirche ist die, daß kein Stüde ihres alten Besitzes mehr gesichert in ihren Händen ist. Dies aber ist auch die Lage, in der sich einige in ihr darauf besannen, daß ihre Aufgabe nicht die Verteidigung des religiösen Gebietes, sondern die Verkündigung der Grenzsituation ist, an der jedes religiöse und profane Gebiet in Frage gestellt ist. Damit ist die Verteidigungshaltung aufgegeben. An Stelle der Verteidigung ist der Angriff getreten; aber nicht mit dem Ziel, den verlorenen Besitz wiederzugewinnen, wie es hierarchisdier Machtwille wünschte, der auch im Protestantismus nicht fehlt, sondern mit dem Ziel, alles, was einen unbedingten Anspruch erhebt, Kulturen wie Religionen, in Frage zu stellen. Die protestantische Kirche hat nicht die Aufgabe und das Recht, auf dem Felde der streitenden Weltanschauungen zu kämpfen, sondern sie muß vom Jenseits dieser Ebene her kämpfen und alles unter das Gericht und die Verheißung stellen. Wenn es wahr ist, was eingangs gesagt war, daß der Mensch der Gegenwart ein Verständnis hat f ü r die unbedingte Bedrohtheit der menschlichen Situation, so müßte der Mensch der Gegenwart die Botschaft der evangelischen Kirche vernehmen können, wenn sie so gesprochen wird, daß diese seine Lage getroffen ist. Das heißt aber nicht so wie im Zeitalter der Reformation und erst recht nicht so, wie es zur Zeit meistens in der evangelischen Kirche geschieht. Wohl können auch die alten biblischen Worte, so auch das W o r t der Rechtfertigung aus der Erfahrung der Grenzsituation ein Licht empfangen. Gerechtigkeit, das war das alttestamentliche W o r t , das Paulus, und nach ihm Luther, gebrauchte, um damit die unbedingte und u n 78

entrinnbare Forderung auszudrücken, die über dem Menschen als Menschen liegt. Gerechtigkeit ist das, wovon jeder, der in der Grenzsituation gestanden hat, weiß, daß er sie nicht hat, daß die menschliche Freiheit zugleich die menschliche Zweideutigkeit ist, das Gemisdi von Wahrheit und Unwahrheit, von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, das jedes menschliche Sein aufweist. In der Tiefe dieser Grenzsituation stand der Mönch Luther und wies alle Sicherungen ab, die ihm Frömmigkeit und Kirche reichen wollten. Er blieb in ihr und erfuhr in ihr, daß diese Situation nicht aufhebbar ist, daß aber gerade sie, und nur sie, die Situation ist, in der das unbedingte J a über das Menschliche ergehen kann, ein J a , das sich nicht gründet auf irgendeine menschliche Seinsschicht, sondern das als unbedingtes und freies und souveränes Urteil über uns ergeht von dem aus, was jenseits von Freiheit und Sein liegt. Mit rabbinischen und römischen und scholastischen Begriffen hat man versucht, diese Erfahrung an der Grenze alles Menschlichen auszudrükken. Die Rechtfertigung des Ungerechten oder Unfrommen, die Begnadigung des Schuldigen, die Lossprechung des Verurteilten, die Rechtfertigung ohne Werke allein durch den Glauben: das sind Bilder, zum Teil fragwürdige, zum Teil nicht mehr verständliche. Sie gehen uns als solche nichts an. Aber die Sache geht uns an, die damals gemeint war und die immer wirklich ist: die menschliche Bedrohtheit und das J a über den Menschen da, wo diese Bedrohtheit anerkannt wird. Audi der Mensch der Gegenwart - und gerade er - weiß um die menschliche Zweideutigkeit. Er kennt die Zerrüttung des Innenlebens, die Zerspaltung seines Handelns, die dämonische Besessenheit seiner seelischen und gesellschaftlichen Existenz. Und er weiß, daß mit seinem Sein auch sein Erkennen hineingerissen ist in das Chaos und die Wahrheitslosigkeit, ja in die dämonische Verzerrung und Verhinderung der Wahrheit und fast noch mehr im sozialen als im seelischen Leben. Und in dieser Situation, in der die meisten der traditionellen Werte und Formen zerbrechen, wird er oft bis an den Abgrund der völligen Sinnlosigkeit getrieben, der ihn einzusaugen droht mit seinem dämonischen und doch faszinierenden Antlitz. Und auch das weiß der Mensch der Gegenwart, daß diese seine Lage nicht das Ergebnis einer mechanischen Notwendigkeit ist, sondern ein Schicksal, das Freiheit und Schuld in sich begreift. Wo er das aber weiß, da steht er in der N ä h e der Grenzsituation, die der Protestantismus verkündet.

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V. Die protestantische

Verkündigung

U n d nun ist klar, welches diese Verkündigung dem Menschen der Gegenwart gegenüber sein muß, und welches sie nicht sein kann. Nicht sein kann sie eine direkte Verkündigung der religiösen Inhalte, wie sie in Bibel und Tradition gegeben sind. Denn dieses ist j a die Lage des Menschen der Gegenwart, daß er gerade all dies anzweifelt und die protestantische Kirche selber anzweifelt. Diese Inhalte, auch die zentralsten, G o t t und Christus und Kirche und Offenbarung sind das, was in der unbedingten Fragwürdigkeit steht, um das ständig gerungen wird unter Theologen wie unter Nichttheologen. Sie können nicht in dieser F o r m die Verkündigung der heutigen Kirche sein. S o lange die berufenen Vertreter der protestantischen Verkündigung dies nicht verstehen, ist ihre Arbeit gänzlich hoffnungslos in den weitesten Kreisen und besonders in den proletarischen Massen. Es wird nicht von dem Menschen der Gegenwart zu verlangen sein, daß er erst die religiösen Inhalte, und wären es G o t t und Christus, annähme. W o die kirchliche Verkündigung das tut, da nimmt sie die Lage des Menschen der Gegenwart nicht ernst und muß es sich gefallen lassen, von den ernsthaftesten unter ihnen als sie nichts angehend abgewiesen zu werden. Diese könnten in der Sprache der Kirche selbst zu ihr sagen: G o t t verlangt nicht, daß der Mensch, um das unbedingte Urteil, das N e i n und das J a über sich vernehmen zu können, den religiösen I n h a l t „ G o t t " angenommen, den Zweifel an ihn überwunden habe. Diese A r t der Gesetzlichkeit legt dem Menschen keine geringere Bürde auf als die moralische Gesetzlichkeit. D i e eine wie die andere sind durch die radikal gefaßte Lehre von der Rechtfertigung gebrochen. D a s ist die T i e f e der Rechtfertigung in unserer Lage und gegenüber dem Menschen

der

Gegenwart, daß wir gerade da G o t t vernehmen können, w o uns der I n h a l t „ G o t t " der religiösen Verkündigung entschwunden ist. Die Verkündigung der protestantischen Kirche muß dreifach sein: erstens muß sie auf das radikale Durchleben der Grenzsituation dringen. Sie muß dem Menschen der Gegenwart die heimlichen Vorbehalte nehmen, die ihn hindern, sich mit unbedingter Entschlossenheit an die Grenze seiner menschlichen Existenz zu stellen. S o die Reste der W e l t anschauungen, die eine Sicherung geben sollen, idealistische wie materialistische. Schon die Einsicht in den T a t b e s t a n d , der mit dem W o r t „Ideologie" bezeichnet wird, sollte eine genügende W a r n u n g sein v o r diesen zweifelhaften

Sicherungen. W i r

haben

gelernt, daß

philo-

sophische Systeme o f t das W i r k e n unterbewußter Mächte, psychologischer wie soziologischer darstellen, die in ganz anderer Richtung, 80

als der Bewußte meint, drängen. D a s gilt auch für den ungebrochenen Glauben an wissenschaftliche Methoden als dem sicheren Weg zur Erkenntnis - meist ist dies gerade nicht die H a l t u n g der großen Wissenschaftler, sondern der halbphilosophischen Geister, die sie popularisieren. ( D i e Wissenschaft selbst ist sich der Krise ihrer Grundlagen recht bewußt, in der Mathematik wie in der Physik, in der Biologie wie in der Psychologie.) D a s gilt auch f ü r den Anspruch der P ä d a g o g i k , die Gesellschaft zu wandeln und Persönlichkeiten zu formen. Es ist übergenug deutlich geworden, daß Bildung als Methode einen Inhalt voraussetzt, eine geistige Substanz, zu der hin sie die Menschen führt, die sie aber nicht schaffen kann. D a s gilt auch von den politischen Uberzeugungen, mögen sie nun eine vergangene T r a d i t i o n verherrlichen oder eine kommende Utopie, mögen sie an die Revolution glauben oder an Reaktion oder Fortschritt. D i e alten Traditionen sind zerbrochen, statt Fortschritt ereigneten sich schreckliche Rückfälle, und die Utopien schufen nur ständige Enttäuschungen f ü r die Massen. D a s gilt auch von den nationalistischen Ideologien, deren Dämonisierung immer sichtbarer wird, und das gilt auch von den kosmopolitischen Uberbauten, auf die sich pazifistischer Idealismus wie imperialistischer Machtwille richten. Das gilt von den jüngst vergangenen Versuchen aller Formen der Psychotherapie, die durch technische Methoden sichere Persönlichkeiten bilden wollten und die trotz ihrer T i e f e und revolutionären K r a f t nicht fähig sind, dem Leben ein geistiges Zentrum und einen letzten Sinn zu geben. D a s gilt für die weitverbreitete Flucht in Arbeit, Beruf, Wirtschaftskampf, karitative Tätigkeit als Mittel, der Bedrohung durch die Grenzsituation zu entgehen. D a s gilt auch von den neuen Formen der Mystik und des Okkultismus, der Willensschulung usw., die, was auch immer ihre Verdienste sein mögen, dazu neigen, den Ernst der Grenzsituation zu verhüllen und Fanatismus und Überheblichkeit zu züchten. U n d endlich soll die protestantische Verkündigung mit wegschlagen die letzte, feinste und geistvollste Sicherung des Menschen der Gegenwart, wenn er seinen erschütterten Zustand ästhetisch dramatisiert, wenn er, ein N a r z i ß , sich selbst in dieser L a g e wie in einem Spiegel betrachtet - manchmal tragisch - , wenn er so sich kunstreich aber selbstzerstörerisch vor der E r f a h r u n g der Grenzsituation schützt. D a s ist die eine Seite der protestantischen Verkündigung. Zweitens muß sie sprechen von dem J a , das in der unbedingt ernst genommenen Grenzsituation über den Menschen ergeht. Sie muß reden von dem Urteil, das uns sicher spricht, indem es uns jede Sicherung wegschlägt, das Urteil, das uns heil spricht gerade in der Zerrüttung und Heillosigkeit der Seele und des Gemeinschaftslebens, das Urteil, 81

das uns die Wahrheit zuspricht gerade in dem Chaos der Wahrheitslosigkeit, auch der religiösen Wahrheitslosigkeit, das Urteil, das von unserem Lebenssinn zeugt, gerade in der Bedrohtheit jedes Lebenssinnes. Dieses ist die Mitte, der Kern der christlichen Verkündigung, und er muß als Mitte und Kern gehütet werden; er darf nicht ein Schema werden, das in jeder Predigt benutzt wird; er darf nicht zu einer neuen und dann besonders bösartigen und verhängnisvollen Sicherung gemacht werden. Er muß die Tiefe, der Hintergrund aller Verkündigung bleiben; er muß das sein, was der Verkündigung den Klang und die Vollmacht gibt. Drittens endlich muß der Protestantismus zeugen von dem neuen Sein, aus dem heraus es allein möglich ist, jenes W o r t in Vollmacht zu sprechen, das heißt so zu sprechen, daß es nicht wieder zur Sicherung wird. Das neue Sein, das f ü r den christlichen Glauben anschaubar geworden ist in Jesus als dem Christus, ist wirksam im Leben der Einzelpersönlichkeit wie auch der Gemeinschaft, und nicht einmal die N a t u r ist, wie die Sakramente zeigen, davon ausgeschlossen. U n d wenn wir vorher von der Armut des Protestantismus sprechen mußten, so können wir nun von dem Reichtum sprechen: das Leben aus der K r a f t des neuen Seins. Denn eben weil das protestantische Prinzip, die Verkündigung der Grenzsituation alle absoluten Grenzen zerbricht vor dem Gericht, unter dem alles steht, k a n n der Protestantismus allem offen sein - dem Religiösen wie dem Profanen, der Vergangenheit wie der Z u k u n f t , dem Individuum wie der Gesellschaft. Alle Unterschiede werden transzendiert durch die K r a f t des neuen Seins, das in allem wirkt und dessen Ausschließlichkeit und Absonderung durchbricht. Die Kultur ist nicht der Religion unterworfen, noch ist die Religion aufgelöst in Kultur. Der Protestantismus entwertet die Kultur nicht, noch idealisiert er sie. Er versucht ihre religiöse Substanz zu verstehen, ihre geistige Fundierung, ihre theonome N a t u r . U n d der Protestantismus idealisiert die Religion nidit, noch entwertet er sie. Er versucht, die Religion als den unmittelbaren intentionalen Ausdruck der geistigen Substanz zu deuten, die in den kulturellen Formen mittelbar und ohne Intention sich darbietet. So spricht das protestantische Prinzip der Kirche eine heilige Sphäre als einen Sonderbezirk und der Kultur eine profane Sphäre ab, die dem Gericht der Grenzsituation entgehen könnte. In dieser Haltung des Protestantismus gegen Kirche und Kultur liegt die Antwort auf die Fragen einbeschlossen: W o finden wir den Protestantismus? W e r verkündigt das protestantische Prinzip? Die A n t w o r t lautet: Protestantismus ist, wo in der Vollmacht des neuen Seins die menschliche Grenzsituation in ihrem Nein und Ja verkündigt wird. 82

Da ist er und sonst nirgends. Das kann in der organisierten Kirche sein, aber es muß nicht in ihr sein; und sicher ist, daß man zur Zeit mehr von der Grenzsituation außer ihr als in ihr erfahren hat. Das protestantische Prinzip kann verkündigt werden von Bewegungen, die weder kirchlich noch profan sind, sondern beiden Sphären angehören, von Gruppen und Individuen, die mit oder ohne christliche und protestantische Symbole die wahre menschliche Situation ausdrücken angesichts des Letzten und Unbedingten. Tun sie dies besser und mit größerer Autorität als die offiziellen Kirchen, dann repräsentieren sie und nicht die Kirchen den Protestantismus für den Menschen der Gegenwart.

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PROTESTANTISCHES UND PROLETARISCHE

I.

PRINZIP SITUATION

Grundlegung

Daß Protestantismus und proletarische Situation nichts miteinander zu tun haben, erscheint von vielen Seiten her als selbstverständlich. Die Tatsachen sprechen fast unwiderleglich dafür: der bald hundertjährige leidenschaftliche Kampf zwischen den Wortführern des Protestantismus und denen, die aus der proletarischen Situation heraus dachten und Forderungen stellten; die soziologische Gebundenheit der evangelischen Kirchen in Mitteleuropa an Kleinbürgertum und Feudalität, in Westeuropa und Amerika an Großbürgertum und mittlere Unternehmerschichten; das innere Widerstreben der proletarischen Massen gegen Lebens- und Lehrform des Protestantismus; das politische Bündnis der proletarischen Parteien mit der katholischen Partei und der bedingungslose Gegensatz der von protestantischen Kreisen getragenen Parteien gegen die politische Vertretung der Arbeiterschaft. In diesen Tatsachen kommt ein grundsätzlicher Gegensatz zum Ausdruck: die proletarische Situation als Massenschicksal ist unzugänglich für einen Protestantismus, der mit seiner Botschaft den Einzelnen isoliert vor die religiöse Entscheidung stellt, in der gesellschaftlich-politischen Sphäre sich selbst überläßt und die herrschenden Gewalten als gottgewollt hinnimmt. Unüberbrückbar scheint der Gegensatz sowohl aus geschichtlichen als auch aus prinzipiellen Gründen. Man kann ihn auch nicht dadurch abschwächen, daß man Sozialismus und proletarische Situation unterscheidet und den Gegensatz daraus erklärt, daß die Deutung und Formung der proletarischen Situation vom Sozialismus geleistet sei (wenn auch mit falschen Mitteln), aber besser und erfolgreicher vom Protestantismus hätte geleistet werden können. Dabei bleibt die Tatsache völlig unerklärt, daß es eben nicht dazu gekommen ist, daß vielmehr die sozialistische Theorie und Praxis Schicksal des Proletariats wurde und der Protestantismus in Weltenferne vom Proletariat blieb. Sozialismus und proletarische Situation können nicht getrennt werden. Sie haben sich wechselseitig geschaffen. Nur soviel muß zugestanden werden: der zu einer theoretischen und praktischen Methode gefestigte So84

zialismus ist nicht einfach identisch mit der proletarischen Situation. Diese könnte sich durch andere geschichtliche Kräfte gewandelt haben. Das Verhältnis von Sozialismus und proletarischer Situation ist außerordentlich spannungsreich. Aber es ist darum nicht minder fest und schicksalhaft. Ist auch der Ausweg abgeschnitten, Sozialismus und proletarische Situation zu trennen, so erhebt sich die für den Protestantismus bedrohliche Konsequenz, daß eine menschliche Lage für ihn unzugänglich bleibt. Die Unbedingtheit und Allgemeinheit seiner Verkündigung wäre damit erledigt; er wäre aus einem prophetischen Wort an den Menschen überhaupt zu einer religiösen Möglichkeit für bestimmte Menschengruppen geworden. Daß fast die gesamte sozialistische Literatur und Agitation diese Überzeugung vertritt, bedarf keines Beweises. Wäre sie im Recht, so wäre das Ende des Protestantismus auch dann gekommen, wenn die protestantischen Kirchen durch die seelischen und politischen Kräfte der sie soziologisch tragenden Gruppen noch Zuwachs an Macht erringen würden. Darum ist die Frage Protestantismus und proletarische Situation die dringende Kernfrage des umfassenderen Problems Protestantismus und Sozialismus. Sofern der Sozialismus eine Weltanschauung ist, könnte sich der Protestantismus in eine mehr oder weniger aussichtsreiche apologetische Diskussion mit ihm einlassen. Sofern er Ausdruck der proletarischen Situation ist, stellt er den Protestantismus vor die Frage nach Sinn und Recht seines unbedingten und universalen Anspruchs. Eine positive Antwort auf diese Frage kann es angesichts der Unzugänglichkeit der proletarischen Situation für den Protestantismus nur dann geben, wenn er die Möglichkeit hat, sich von sich selbst loszusagen, ohne sich selbst zu verlieren. Nur wenn es protestantisch ist, denjenigen Protestantismus preiszugeben, für den die proletarische Situation unzugänglich bleibt, kann der unbedingte und universale Charakter der protestantischen Verkündigung behauptet werden. Diese Möglichkeit aber besteht. Sie ist die eigentlich protestantische Möglichkeit. Zum Wesen des Protestantismus gehört, daß er immer auch über seiner religiösen und konfessionellen Wirklichkeit stehen, daß er nicht völlig mit irgendeiner seiner geschichtlichen Teilformen identifiziert werden kann. Wenn darum zwischen Protestantismus in seiner gegenwärtigen Gestalt und der Situation des Proletariats eine völlige Unangemessenheit besteht, so folgt daraus noch nicht, daß diese Unangemessenheit dem Protestantismus wesentlich anhängt. Der Protestantismus hat ein Prinzip, das jenseits jeder seiner Verwirklichungen steht. Es ist der kritische und dynamische Quellgrund 85

aller protestantischen Verwirklichungen, aber es ist mit keiner von ihnen identisch. Es kann durch keine Definition festgelegt und durch keine historische Religion voll ausgeschöpft werden. Es ist weder mit der Reformation noch mit dem Urchristentum, noch mit irgendeiner religiösen Form überhaupt gleichzusetzen. Es transzendiert sie alle, wie es auch jede kulturelle Form transzendiert. Andererseits kann es aber in ihnen allen erscheinen, es ist die lebendige bewegende K r a f t in ihnen, und das ist es, von dem angenommen wird, daß es dem historischen Protestantismus in besonderer Weise innewohnt. Das protestantische Prinzip, dessen Name sich von dem Protest der Protestanten gegen die Entscheidungen der katholischen Mehrheit ableitet, enthält den göttlichen und menschlichen Protest gegen jeden absoluten Anspruch, der für eine bedingte Wirklichkeit erhoben wird, auch dann, wenn dieser Anspruch von der protestantischen Kirche selbst ausgeht. Das protestantische Prinzip ist der Richter jeder religiösen und kulturellen Wirklichkeit, einschließlich der Religion und der Kultur, die sich selbst protestantisch nennen. Das protestantische Prinzip schlechthin, der unfaßbare Grund im Protestantismus darf nicht mit dem „Absoluten" des deutschen Idealismus oder dem „Sein" der alten und neuen Philosophie verwechselt werden. Es ist nicht der höchste, aus der Analyse des gesamten Seins hervorgehende ontologische Begriff, sondern der theologische Ausdruck für die wahre Beziehung zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten, oder, religiös gesprochen, zwischen Gott und Mensch. Als solches bezieht es sich auf das, was die Theologie „Glaube" nennt, nämlich ein reines Ergriffensein, ein Getroffensein durch die Macht eines Unbedingten, das sich uns offenbart als der Grund und das Gericht unserer Existenz. Die Macht, die uns im Zustand des Glaubens ergreift, ist nicht ein Seiendes neben anderem Seienden, sei es auch das höchste, sie ist auch nicht ein Gegenstand unter Gegenständen, sei es auch der größte, sondern es ist eine Qualität aller Wesen und aller Gegenstände - die Qualität, die über sie und ihre endliche Existenz hinausweist zum Unendlichen, zur unendlichen, unerschöpflichen und unerreichbaren Tiefe ihres Seins und Sinnes. Das protestantische Prinzip ist der Ausdruck für diese Beziehung. Es ist der Wächter gegen die Versuche des Endlichen und Bedingten, sowohl im Denken als auch im Handeln, sich zur Würde des Unbedingten zu erheben. Es ist das prophetische Gericht über religiösen Stolz, kirchliche Arroganz und diesseitige Selbstgenügsamkeit mit ihren zerstörerischen Konsequenzen. In diesem Sinne ist das protestantische Prinzip der proletarischen Situation innerhalb der modernen Gesellschaft nicht fremd. Im Gegenteil, es ist der genaue Ausdrudk für die re86

ligiöse Bedeutung des Proletariats als eines hervorstechenden Beispiels der menschlichen Situation. Die Unangemessenheit des Protestantismus an die proletarische Situation muß demgemäß aus einem Widerspruch zwischen protestantischem Prinzip und protestantischer Wirklichkeit abgeleitet werden. Daraus ergibt sich eine doppelte Gliederung des Themas: 1. die Bestätigung des protestantischen Prinzips durch die proletarische Situation, 2. das Versagen des historischen Protestantismus gegenüber der proletarischen Situation. Die Forderungen, die sich an die protestantische Verwirklichung aus dem protestantischen Prinzip und der proletarischen Situation ergeben, folgen unmittelbar aus der Betrachtung selbst und bedürfen nur einer Zusammenfassung in einigen Schlußbemerkungen. In den bisherigen Erörterungen ist der Begriff der proletarischen Situation vorausgesetzt. Er bedarf, ehe das Thema selbst behandelt werden kann, näherer Bestimmung. Die proletarische Situation ist nicht zu verstehen als die Situation, in der sich alle Proletarier befinden. Das wäre zu eng und zu weit. Zu eng, weil sich nicht nur Proletarier, zu weit, weil nicht alle Proletarier sich in der proletarischen Situation befinden. Gemeint ist vielmehr die typische Situation einer bestimmten Gruppe in der kapitalistischen Gesellschaft, wobei als selbstverständlich vorausgesetzt wird, daß der Typus selten oder nie rein verwirklicht ist, daß er typische Modifikationen je nach den besonderen Umständen erfährt und daß er mit der Entwicklung des Kapitalismus selbst in Entwicklung begriffen ist. Aber diese Voraussetzungen, die für jeden soziologischen Begriff gelten, verbieten nicht die Aufstellung solcher Begriffe; sie bestimmen nur ihren methodischen Charakter. Die proletarische Situation ist danach zu verstehen als die Situation derjenigen Klasse innerhalb des kapitalistischen Systems, deren Angehörige ausschließlich auf den freien Verkauf ihrer physischen Arbeitskraft angewiesen sind und deren soziales Schicksal vollkommen abhängig ist von der Konjunktur des kapitalistischen Marktes. Diese Bestimmungen setzen ein reines kapitalistisches System, ein ausschließliches Angewiesensein auf den Verkauf der Arbeitskraft und eine völlige Abhängigkeit von der Konjunktur voraus. Werden diese Merkmale streng angewendet, so wird der rein typische Charakter dessen, was als proletarische Situation bezeichnet ist, offenbar. Denn nirgends gibt es ein durchgeführtes kapitalistisches System. Abgesehen von den Perioden des K a pitalismus selbst stehen seiner reinen Durchführung überall vor- und nachkapitalistische Hemmungen entgegen. Ebenso ist das ausschließliche Angewiesensein auf den Verkauf der physischen Arbeitskraft keineswegs die häufigste Erscheinung. Entweder ist sie noch nicht da --

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wenn auch im Begriff, sich immer mehr durchzusetzen - , wie bei den sich proletarisierenden Angehörigen des Mittelstandes und der Angestelltenschaft, oder sie ist es nicht mehr ausschließlich, wie bei den gehobenen Schichten des Proletariats und der Funktionäre. Audi die völlige Abhängigkeit von der Konjunktur trifft überall da noch nicht oder nicht mehr zu, wo Reste feudaler Sicherungen vorliegen oder die Sozialpolitik neue Sicherungen geschaffen hat. Logisch betrachtet ist also der Begriff der proletarischen Situation ein hervorragendes Beispiel f ü r den repräsentativen und idealtypischen Charakter historischer Begriffe. Sachlich aber und menschlich bedarf es f ü r seinen Gebrauch keiner Rechtfertigung in einer Zeit, wo das Schicksal Millionen Arbeitsloser, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können, sich immer mehr zum Schicksal eines Volkes, ja einer Kulturepoche auswächst.

II. Die Bestätigung des protestantischen Prinzips durch die proletarische Situation Das protestantische Prinzip enthält in jeder seiner Fassungen die Voraussetzung einer radikalen Negativität der menschlichen Situation. Der schwierige Begriff des peccatum originis (Ursprungsverfehlung) deutet auf eine mit der menschlichen Geschichte selbst gesetzte ursprüngliche Wesenswidrigkeit des menschlichen Daseins hin. Eine Wesenswidrigkeit, die nicht gedeutet und infolgedessen gerechtfertigt werden darf als notwendige Folge der Endlichkeit der kreatürlichen Existenz. Nicht die Endlichkeit als solche begründet das Verhängnis der menschlichen Situation, nicht sie begründet die Schuld und deren tragische Folgen, sondern beide - das Verhängnis und die Schuld der menschlichen Existenz - stammen vielmehr aus der Selbstbehauptung eines Endlichen mit seinem Stolz, seiner Begierde und seiner Trennung von dem tragenden Grund. Nicht Endlichkeit, sondern Bestimmungswidrigkeit ist das Negative der menschlichen Situation. N u r der Mensch ist in dieser Situation, weil nur in ihm das Seiende in die Lage kommt, sich selbst zu bestimmen und mit der Selbstbestimmung in die Möglichkeit, sich selbst seiner Bestimmung zuwider zu bestimmen und darin schuldig zu werden. Aber die Möglichkeit der Bestimmungswidrigkeit erklärt nicht die Wirklichkeit. Denn die Möglichkeit zur Wesenswidrigkeit wurzelt in der Selbstbestimmung des Menschen, deren Richtung aber nicht im voraus bestimmt ist. Diese grundlegende, unableitbare Gespaltenheit der menschlichen Existenz liegt aller menschlichen Geschichte zugrunde und macht sie zu dem, was sie ist. 88

Diese Seite des protestantischen Prinzips erfährt nun eine radikale Bestätigung und Vertiefung durch die proletarische Situation, und umgekehrt wird diese erst letztlich deutbar durch das aufgewiesene Element des protestantischen Prinzips: die Bestimmungswidrigkeit der menschlichen Situation bricht als soziales Schicksal auf in der proletarischen Situation. Diesem Satz kann theologisch nur da widersprochen werden, wo das Verhältnis von Gott und Welt ausschließlich als das Verhältnis von Gott und Seele gedeutet wird. Das liegt aber weder im Sinne der prophetischen Verkündigung noch des protestantischen Prinzips. Die Bestimmungswidrigkeit des menschlichen Daseins drückt sich im Sozialen ebenso stark und doch noch ursprünglicher aus als im Individuellen, und es gibt ebenso real und fühlbar eine Gesamtschuld wie eine Einzelschuld; beide sind nicht voneinander zu trennen. Das proletarische Bewußtsein ist sich von Anfang an über die Bestimmungswidrigkeit einer Gesellschaftsordnung klar gewesen, in der es so etwas wie proletarische Situation und Klassenspaltung geben kann. Die ethisch-pessimistische Beurteilung der tatsächlichen menschlichen Situation verbindet die sozialistische Wertung der proletarischen Situation und das protestantische Verständnis der allgemein menschlichen Lage. In dem Satz, daß in der proletarischen Situation die allgemein menschliche Situation aufbreche, sind beide Auffassungen vereinigt. Er verlangt von dem Theologen Anerkennung der Tatsache, daß es Lagen gibt, in denen die Bestimmungswidrigkeit des menschlichen D a seins sich primär als soziale Bestimmungswidrigkeit und soziale Schuld darstellt, und er verlangt von dem Philosophen die Anerkennung der Tatsache, daß die proletarische Lage nicht ein beliebiger historischer Zufall ist, sondern daß in ihr sich die Bestimmungswidrigkeit und dämonische Zerspaltenheit der Menschheit überhaupt darstellt. Diese U r teile, die aus dem protestantischen Prinzip und der proletarischen Situation abgeleitet worden sind, ergänzen sich wechselseitig. Das protestantische Urteil wird konkret, aktuell und zwingend, wenn es auf die heutige Klassensituation angewandt wird, und das sozialistische Urteil wird universal vertieft und religiös bedeutsam, wenn es auf die allgemein menschliche Situation bezogen wird. Das protestantische Prinzip richtet seine Beurteilung der menschlichen Situation gegen den ganzen Menschen. Es deutet die menschliche Bestimmungswidrigkeit nicht aus einem Dualismus zwischen Geist und Leib, sondern spricht sein Urteil in gleicher Weise über das geistige wie über das leibliche Dasein des Menschen. Der Leib ist kein „Kerker", sondern ein „Tempel", und nicht der Leib streitet wider den Geist, sondern „das Fleisch", das heißt ebensosehr der Hochmut des Geistes 89

wie die Begierde des Leibes. D a r a u s ergibt sich, daß der Mensch in seiner Ganzheit unter der religiösen Forderung und Erfüllung steht und daß die H i l f e des Menschen a m Menschen immer seine Ganzheit betreffen muß, also die leib-seelische Einheit. D a s protestantische Prinzip, das keine Seite des Menschlichen von dem Urteil der Bestimmungswidrigkeit ausnimmt, ermöglicht es ihm, den ganzen Menschen, den Menschen als Leib-Seele-Einheit, in die transzendente Beziehung aufzunehmen. Diese biblische Idee ist durch die Reformation grundsätzlich gegenüber den dualistischen Elementen des katholischen Systems herausgestellt worden. Aber dies ist im Protestantismus für die individuelle Ethik nur teilweise, für die Sozialethik noch gar nicht fruchtbar gemacht. D i e proletarische Situation bestätigt diese biblische Lehre. Denn in ihr findet sich eine Einheit von leiblicher und seelischer Bestimmungswidrigkeit, der gegenüber jeder Versuch, die Seele zu retten und den Leib dem Unheil zu überlassen, als Frivolität erscheinen muß. Leib ist hier zu verstehen als Inbegriff der vitalen Sphäre. D a ß er in einigen T y p e n des Christentums vom Heil ausgeschlossen wird, ist selbst Bestimmungswidrigkeit und Schuld. Die von Sinnentleerung bedrohte Existenz von Millionen und aber Millionen von Proletariern in der S t a d t und auf dem L a n d ist zu offensichtlich, als daß dies noch näher beschrieben werden müßte. In einem L a n d ist es schlimmer als im anderen. A m schlimmsten ist es in Zeiten der Arbeitslosigkeit, und es wird untragbar und führt zu Massenexplosionen, wenn sich jene über lange Zeiträume erstredet. Angesichts dieser Tatsache ist es unverantwortlich, wenn die instinktiv-materialistische Reaktion des Proletariats auf sein Schicksal zur Diskreditierung des proletarischen K a m p f e s benutzt wird. Es gibt einen Idealismus auf dem Boden bürgerlicher gesicherter Existenz, den zu rühmen der Protestantismus ebensowenig Anlaß hat, wie er Anlaß hat, den proletarischen Materialismus herabzuwürdigen. Der philosophische Ausdrude für den Materialismus der proletarischen Situation ist nur von sekundärer Bedeutung. In erster Linie wichtig ist der dem tatsächlichen Leben des Proletariats aufgezwungene Materialismus. Ernst zu nehmen ist jedoch der reale Materialismus der in der proletarischen Situation offenbar werdenden menschlichen Existenz, die materialistische Theorie nur insoweit, als sie diese Situation widerspiegelt. D a s protestantische Prinzip ist frei f ü r den proletarischen M a terialismus, weil es frei ist von dem bürgerlichen Idealismus. Die Wesenswidrigkeit der menschlichen L a g e schließt alle Menschen unter sich zusammen. Sie ist die negative Voraussetzung für die Idee einer einheitlichen Menschheit. Es ist niemandem möglich, sich dieser

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Lage zu entziehen. Jeder ist daran gebunden trotz seiner essentiellen Freiheit. Selbstverständlich gehört die Selbstbestimmung zum Menschen als Menschen, sie unterscheidet ihn von der N a t u r ; aber in der Macht seiner Freiheit kann sich der Mensch selbst widersprechen, er kann sich von sich selbst entfremden. U n d das ist nicht nur eine individuelle Möglichkeit, sondern eine universale Wirklichkeit. Die gesamte Menschheit ist in den Banden der Selbstentfremdung gefangen. Die Freiheit des Menschen wird durch seine Knechtschaft überdeckt. Das hat die Reformation gegenüber dem optimistischen Individualismus der Humanisten, wie Erasmus, stets betont. Es ist das grundlegende Element der prophetischen und biblischen Botschaft, und auf ihm baut sich das protestantische Prinzip auf. Diese realistische Deutung der menschlichen Existenz - in der Freiheit unfrei zu sein - hinderte jedoch die Urchristen ebensowenig wie die Reformatoren, jede konkrete Manifestation des Bösen, sei sie individuell oder sozial, unter Angriff zu stellen. Die Kategorie des Allgemein-Menschlichen führte nicht weg von dem besonderen Menschlichen einer bestimmten Gesellschaftslage. Die Kategorie des Allgemeinen und des Konkret-Historischen stehen nicht im Widerspruch zueinander. D a r u m kennt das Urchristentum die Dämonie des römischen Staates, der niemand sich entziehen kann, weil er zugleich die Gesellschaft trägt und zerstört, indem er für Ordnung sorgt und zum Götzendienst zwingt. D a r u m sah Luther die D ä monie des Antichrist (Rom), unter dessen Herrschaft die Christenheit steht, und griff ihn mit allem prophetischen Zorn an, obwohl er wußte, daß er dabei die Einheit des Christentums aufs Spiel setzte. Die proletarische Situation zwingt den Protestantismus, eine ähnliche H a l t u n g wieder zu suchen. Denn die proletarische Situation ist unentrinnbare Konsequenz der kapitalistischen Dämonie. Kein Einzelner, weder der Bürger noch der Proletarier, kann dem Zwang des Gegeneinander entrinnen, das mit dem Kapitalismus gesetzt ist und das sich als Verhängnis des Klassenkampfes von oben und von unten in jedem Augenblick darstellt. Niemand kann dem Klassenkampf ausweichen, solange das System des Kapitalismus Klassenkampf und Existenz aneinander gebunden hat. Das bedeutet aber nicht, daß man den Klassenkampf bejahen soll. Er ist eine Krankheitserscheinung oder, symbolisch gesprochen: er ist das Symptom f ü r eine dämonische Besessenheit, in deren Gewalt die moderne Gesellschaft lebt. Obwohl das Proletariat und seine Führer den Kampf gegen die herrschenden Klassen vorwärtstreiben, begünstigen sie doch nicht den Klassenkampf - der auch ohne sie weitergeht - , sondern sie versuchen, den Kampf für die Existenz des Proletariats zu führen. Außerdem versuchen sie noch et-

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was anderes: sie wollen das System als solches überwinden, weil es durch seine Struktur den Klassenkampf hervorbringt. Dieser Versuch gibt dem proletarischen Kampf seine universale Bedeutung und seine gefährliche Dialektik. Der Protestantismus sollte aus seinem Prinzip heraus diese Situation verstehen und sowohl ihr dämonisches Verhängnis als auch ihre göttliche Verheißung begreifen. Der reformatorische Protestantismus stand im Kampf gegen zwei Ideologien, das heißt zwei Verdeckungen der menschlichen Situation, die katholische und die humanistische. Im Katholizismus war es der Glaube an die Möglichkeit, durch eine objektiv sakramentale Sphäre und ihre soziologische Verwirklichung in der Kirche dem Mensdien einen unbedrohten, gesicherten Weg aus der Wesenswidrigkeit seiner Lage anzubieten. Im Humanismus war es der Versuch, den Verhängnis-Charakter der menschlichen Situation zu bestreiten und auf dem Boden der menschlichen Selbstbestimmung ein wesenhaftes Menschentum aufzubauen. Gegenüber beiden Ideologien, der religiösen und der profanen, zwingt das protestantische Prinzip zur radikalen, unverhüllten Anerkennung der bleibenden Situation des Menschen. Der historische Protestantismus freilich ist der Ideologisierung seines Prinzips nicht entgangen. Die protestantische Orthodoxie und der protestantische Idealismus entsprechen der sakramentalen und der humanistischen Form der alten Ideologie. In beiden ist an Stelle des wahren der „selbstgemachte G o t t " getreten, der Gott, der entweder Besitz der wahren Lehre oder Gegenstand menschlicher Selbstverwirklichung ist. Kraft seines protestantischen Prinzips muß der Protestantismus nicht nur gegen andere Ideologien, sondern auch gegen seine eigenen kämpfen. Er muß das „falsche Bewußtsein", wo immer es sich auch versteckt, enthüllen. Er muß zeigen, wie der „selbstgemachte G o t t " des mittelalterlichen Katholizismus im Interesse der Feudalordnung lag, von der die mittelalterliche Kirche selbst ein Teil war, und er muß zeigen, wie die Ideologie des Luthertums mit den Interessen der Patriarchalordnung übereinstimmte, mit der die lutherische Orthodoxie ebenso verhaftet war, wie die idealistische Religion des humanistischen Protestantismus mit den Interessen eines siegreichen Bürgertums. Die Schöpfung dieser Ideologien - religiös gesprochen dieser Götzen - stellt den menschlichen Willen zur Macht dar und geschieht unbewußt. Es ist nicht eine bewußte Fälschung oder eine politische Lüge; wenn das der Fall wäre, so wären die Ideologien nicht sehr gefährlich. Aber sie sind gerade deshalb gefährlich, weil sie unbewußt sind und dadurch Gegenstand des Glaubens und des Fanatismus. Die konkreten Ideologien aufzudecken, ist eine der wichtigsten Funktionen des protestan-

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tischen Prinzips, genauso wie die Angriffe der Propheten auf die religiösen und sozialen Ordnungen ihrer Zeit das prophetische H a u p t anliegen waren. Denn die Theologie sollte in erster Linie Einblick haben in den zwiespältigen Charakter der menschlichen N a t u r und in ihren H a n g zu Ideologien. Jedoch das genügt nicht. Eine religiöse Analyse der gegenwärtigen Situation muß die konkreten Ideologien enthüllen, wie es Luther und die Reformatoren taten, als sie die allmächtige römische Ideologie enthüllten. Die proletarische Situation ist objektiv gesehen ein besonders hervorragendes Beispiel f ü r eine Ideologien enthüllende Situation. Subjektiv ist das jedoch nicht immer der Fall. Der Proletarier als Mensch ist nicht frei von der menschlichen Tendenz, einen ideologischen Überbau über seine eigenen Interessen zu errichten. Er tut das immer, und ebenso strebt die sozialistische Theorie und Propaganda danach, einen fragwürdigen ideologischen Uberbau zu konstruieren, um den Kampf des Proletariats zu rechtfertigen. Hiergegen jedoch steht die objektive proletarische Situation, an der die Ideologie Schiffbruch erleiden muß. Die N ö t e des Menschen, die Nöte einer soziologisch gleichförmigen Mensdienmasse zerreißen die ideologischen Hüllen; denn sie allein haben den Maßstab f ü r Wirklichkeit und f ü r Ideologie. Was nicht aus der leibseelischen Bestimmungswidrigkeit retten kann, wird abgelehnt, ganz gleich, ob es die D ä monie des kapitalistischen Systems durch romantisch-konservative oder durch fortschrittlich-idealistische Gedanken überdeckt. Diese Angst vor der ideologischen Tarnung ist der Grund f ü r den Einfluß der Feuerbachschen Religionskritik auf den Sozialismus. Auf dieser Grundlage werden die Kirchen mit ihren theoretischen und praktischen Symbolen kritisiert. Sie werden als Ideologien empfunden, da sie an der proletarischen Situation vorbeigehen. U n d auch eine Theologie, die sich von dem konkret-proletarischen Kampf fernhält, bleibt Ideologie. Die proletarische Situation zwingt den Protestantismus, seinem eigenen Prinzip das kritische Element neu zu entnehmen, den konstanten Ideologieverdacht gegen sich selbst, den Verdacht gegen den selbstgemachten Gott. Eben darum aber bedeutet die proletarische Situation eine f u n d a mentale Bestätigung des protestantischen Prinzips und das ernsthafteste Gericht über den historischen Protestantismus. Das protestantische Prinzip nahm Gestalt an in Luthers Kampf f ü r die Rechtfertigung allein durch die Gnade und den Glauben. „Rechtfertigung" ist die Paradoxie, daß der Sünder gerechtfertigt, der U n gerechte gerecht, der Unheilige heilig ist, und zwar im Urteile Gottes, das nicht auf den guten Werken, sondern allein auf dem Geschenk der göttlichen Gnade gegründet ist. W o diese Paradoxie der Beziehung 93

zwischen Gott und Mensch verstanden und angenommen wird, gehen alle Ideologien zugrunde. Der Mensch braucht sich über sich selbst nichts vorzumachen, denn er ist angenommen so wie er ist, in der totalen Wesenswidrigkeit seiner Existenz. Aber von Gott angenommen sein bedeutet von Gott verwandelt sein - nicht im Sinne einer äußeren Veränderung, sondern im Sinne der „Erwartung". Erwartung ist weder Haben noch Nichthaben. Bei den greifbaren Gegenständen der Welt kann man freilich sagen, daß Erwarten schlechterdings Nichthaben und Vorwegnahme in der bloß ideellen Form der Vorstellung ist. Der Gegenstand der religiösen Erwartung jedoch ist nicht in diesem Sinne Gegenstand. Er kann niemals und nirgends in empirischer Weise besessen werden, sondern die Weise, ihn zu haben, und zwar die einzige Weise, ist hier die Erwartung selbst. Klassisch formuliert ist solche Erwartung in dem W o r t vom Reiche Gottes, das nahe herbeigekommen ist. Es ist da und es ist nicht da. Das Bild der Nähe enthält die gleiche Doppelseitigkeit wie das Bild der Erwartung, und zwar das erste von der objektiven, das zweite von der subjektiven Seite her. Das Paradoxe, das in diesen Gedankengängen liegt, ist vom protestantischen Prinzip und der Rechtfertigungsidee her gesehen ein treffender Ausdruck für die Beziehung zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen: Besitzen und Nichtbesitzen zur selben Zeit. Erwarten ohne zu besitzen ist religiös gesprochen ebenso unmöglich wie Nahesein ohne gegenwärtig zu sein. Denn niemand kann das, was für ihn letzte Bedeutung hat, erwarten, ohne von ihm schon berührt zu sein, und niemand kann sagen, das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen, f ü r den es nicht auch bereits da ist. Aber niemand darf von sich behaupten, er sei im Besitz des letzten Unbedingten, denn kein Bedingtes kann das Unbedingte besitzen, und niemand kann das Göttliche an einen bestimmten Ort binden, denn es überschreitet jeden Raum und jede Zeit. Es ist charakteristisch, daß die proletarische Situation, weil sie eminent anti-ideologisch, zugleich der O r t ausgeprägter Erwartung ist. Erwartung ist die Form, in der das Proletariat unmittelbar den „Sinn" seiner Existenz erlebt. Durch die Erwartung wird der innere Widerspruch der Gegenwart überhaupt erst offenbar, wie die urchristliche Erwartung den Blick öffnete f ü r die Dämonie des Weltzustandes, gegen den sie sich erhob. Als das Proletariat sich erhob aus frühkapitalistischer Dumpfheit und sich als Proletariat verstand, war das zugleich die Geburt neuer Erwartung, und eines geschah nicht ohne das andere. Positiv bedeutet die Erwartung des Proletariats, wie Erwartung in religiösem Sinne überhaupt, das doppelte: das Nichthaben des Er94

warteten, das Stehen in der proletarischen Situation und das vorwegnehmende Haben des Erwarteten, das Leben in der Spannung, in der das Gegenwärtige überwunden ist. Durch die Erwartung ist der Proletarier nicht mehr nur Proletarier. Er wird sich der Unhaltbarkeit seiner Situation bewußt, und dieses Bewußtwerden enthält schon ein Moment in sich, das Übel zu überwinden. Das ist der fundamentale Unterschied in der proletarischen Situation vor und nach ihrer Deutung und Formung durch den Marxismus, daß vorher die Bestimmungswidrigkeit nur objektiv war, während sie nachher durch die Erwartung auch subjektiv und eben dadurch in ihrer objektiven K r a f t gebrochen wurde. Das protestantische Prinzip hat die Möglichkeit, die paradoxe Erwartungssituation des Proletariats zu verstehen und mehr noch: sie vor einer Umbiegung zu bewahren, die jeder Erwartung droht, vor der Utopie. Aus der Erwartung wird Utopie, wenn die Erwartungshaltung ihren wesenhaft dialektischen Charakter verliert und aufgefaßt wird als ideelle Vorwegnahme, die möglichst bald durch ein greifbares, objektives Haben zu ersetzen ist. Aber das in jeder echten Erwartung Letztgemeinte bleibt transzendent, es geht über die konkrete Erfüllung menschlicher Bestimmung hinaus, sowohl über die Jenseits-Utopie religiöser End-Mythen als auch über die Diesseits-Utopie profaner Zielvorstellungen. Und doch bedeutet diese Transzendenz nicht, daß man die entstellte Wirklichkeit lassen sollte, wie sie ist, sondern sie drängt zur ständigen revolutionären Erschütterung und Umwandlung des Vorgefundenen. So ist die proletarische Erwartung reale Wandlung der proletarischen Existenz, reale Erschütterung und Überwindung des K a pitalismus. Aber sie ist nicht und kann nicht einen Zustand herbeiführen, in dem die menschliche Existenz von der immer vorhandenen Bedrohung befreit ist. Das Christentum bringt das göttliche Handeln in der Geschichte und im Leben des Einzelnen durch die Begriffe „Vorsehung" und „Prädestination" zum Ausdruck. Dadurch wird das menschliche Schicksal aus der Ungewißheit der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung in eine Sphäre „transzendenter Notwendigkeit" gehoben. D a der Mensch in den Fesseln der existentiellen Wesenswidrigkeit lebt, ist er nach christlicher und protestantischer Lehre unfähig, diese Situation von sich aus zu überwinden. Die Bindung an „dämonische Strukturen" kann nur durch eine Bindung an „göttliche Strukturen" gelöst werden. Diese Bindung jedoch, diese „transzendente" Notwendigkeit ist keine kausale, noch weniger eine mechanische Notwendigkeit. Sie ist eine Abhängigkeit, die, weit davon entfernt, dem Menschen seine Freiheit zu nehmen, sie vielmehr in ihrer wesenhaften Ganzheit wiederherstellt. 95

Der Mensch bleibt immer Mensch, ob er „besessen" oder „in der Gnade ist". Er wird niemals zum Ding, zum reinen Gegenstand, der psychologischen Freiheit beraubt. Die Einheit dieser beiden Elemente - empirische Freiheit und transzendente Notwendigkeit - charakterisiert alle Symbole f ü r die Beziehung zwischen dem Unbedingten und dem Bedingten. Weder Determinismus noch Indeterminismus sind ein adäquater Ausdruck dieser Beziehung, die von allen großen religiösen Männern in ihrer Tiefe erfahren wurde, so z. B. von Jesaja, Paulus, Augustin, Luther, Calvin, Mohammed. Ihr und ihrer Nachfolger wirkliches Verhalten beweist, daß der scheinbare Gegensatz von empirischer Freiheit und transzendenter Notwendigkeit kein wirklicher Widerspruch ist. Diejenigen, die die unbedingte Abhängigkeit vom Göttlichen am stärksten (und oft in deterministischer Verzerrung) betonten, wie Calvin und die Puritaner, haben einen Menschentyp von höchst gespannter Aktivität wie nirgends sonst in der Geschichte geschaffen. Dieselbe Spannung spiegelt sich wider in dem Bewußtsein des Proletariats um die Bewegung, in der es steht. Es verbindet sich darin die Gewißheit von dem Kommen des Erwarteten mit dem Gefühl der Verantwortung dafür, daß es kommt. Dieses innere Verhalten ist ursprünglicher als die Form, in die es die marxistische Dialektik gefaßt hat. Es ist das Verhalten, das in allen großen revolutionären Bewegungen wirksam ist: die Gewißheit, daß es mit Schicksalsnotwendigkeit gelingen muß, spornt zu höchster Aktivität an. Immerhin ist bedeutungsvoll, daß Marx diesem Urimpuls eine streng begriffliche Formung gegeben hat, die der Dialektik. Die historische Dialektik ist schon bei Hegel als Versuch zu verstehen, die scheinbar willkürlichen Akte menschlicher Selbstbestimmung als Ausdruck einer übergreifenden sinnhaften Notwendigkeit zu erfassen. Sie ist in dieser Beziehung rationalisierter Vorsehungsgedanke. Auch in der marxistischen Dialektik steckt noch etwas von der Paradoxie des Vorsehungsglaubens, jener Einheit von übergreifender Notwendigkeit und geschichtlicher Verantwortung. Der Gang des geschichtlichen (nach Marx vorgeschichtlichen) Prozesses f ü h r t mit dialektischer (nicht mechanisch berechenbarer) N o t wendigkeit zur Entstehung von Bürgertum und Proletariat, zum Sieg des Proletariats über das Bürgertum und damit zur Aufnebung der Klassengesellschaft. Diese Notwendigkeit gibt aber dem Proletariat nicht die Berechtigung, dem Prozeß zuzuschauen, sondern stellt die Forderung, durch vollen Einsatz die dialektische Notwendigkeit zu verwirklichen. Die Berufung des Proletariats zur Uberwindung der Klassengesellschaft ist kein unverlierbarer Charakter. Sie muß sich im Kampf be96

währen, und nach M a r x ist die Nichtgewährung des Proletariats und damit das gesellschaftliche Chaos Möglichkeit. Aber diese Möglichkeit widerspricht nicht der übergreifenden dialektischen Notwendigkeit, die zum Abschluß der Klassengeschichte der Menschheit drängt. Die Menschheit muß dann eben von vorne anfangen. Sogar, wenn das Proletariat durch ein anderes Werkzeug des Schicksals ersetzt werden sollte, würde sich der fundamental-dialektische Charakter der Geschichte nicht ändern. Im Judentum und im Christentum ist die Idee der Berufung ein sehr wichtiges Element des umfassenderen Begriffs des Prädestinationsglaubens. D a s V o l k Israel ist berufen, die Jünger sind berufen, jede Generation der Christenheit ist es, jede einzelne Kirche und ebenso der Protestantismus. Aber diese Berufung kann nicht gedacht werden, ohne daß auch die Verwerfungsmöglichkeit mitgedacht wird. E r f ü l l t der Protestantismus seine Berufung nicht, so wird er k r a f t seines eigenen Prinzips verworfen. U n d trägt das Proletariat seine Berufung zur Überwindung der kapitalistischen Dämonie nicht mehr, so wird es in K r a f t seiner eigenen Berufung verworfen. Aber damit ist weder das protestantische noch das antikapitalistische Prinzip verworfen. Es schafft sich neue T r ä g e r . H ä t t e der Protestantismus ein tieferes Wissen um die menschliche Geschichte gehabt, so hätte sich ihm der Zugang zur proletarischen Situation eröffnet und ihn zu einer besseren Deutung des proletarischen K a m p f e s befähigt, als sie der Sozialismus mit seiner hoffnungslosen Mischung von mechanistischer Berechnung der historischen Notwendigkeiten und kleinlicher T a k t i k geleistet hat. D a s protestantische Prinzip hat in sich die Überwindung des Gegensatzes von sakraler und profaner Sphäre, von Priestertum und Laientum. Protestantismus ist radikaler Laizismus. Es gibt im Protestantismus nur Laien; denn der Pfarrer ist ein Laie mit besonderem, die kirchliche Gemeinschaft betreffendem A u f t r a g , zu dessen Erfüllung außer einigen persönlichen Voraussetzungen eine geregelte Berufsausbildung befähigt. Nicht-Laie ist er ausschließlich durch diese Ausbildung. D a s bedeutet aber nicht nur die Verneinung des Priestertums, da jeder ein Laie und jeder Laie potentiell ein Priester ist, sondern es bedeutet auch die Verneinung einer religiösen Sondersphäre im H a n d e l n und Denken. Alles ist profan, und alles Profane ist potentiell religiös. Die Beziehung zum Unbedingten durchdringt jeden Augenblick des täglichen Lebens und heiligt ihn. D a s „Heilige" ist nicht ein Wert neben anderen Werten, sondern eine Q u a l i t ä t , die in allen Werten, in der Gesamtheit des Seienden erscheint. V o r der Radikalität dieses Gedankens, wie er oft bei Luther auftritt, schreckte und schreckt der Protestantismus immer wieder zurück. A u f protestantischem Boden entstand bald 97

nach Luthers Verkündigung des „allgemeinen Priestertums" ein QuasiPriestertum der reinen Lehre, oft so anspruchsvoll wie das sakramentale Priestertum der römischen Kirche, und oft haben protestantische Laien nicht nur diesen Anspruch unterstützt, sondern sich selbst zum Hüter veralteter Traditionen gemacht und mit pseudo-priesterlichem oder pseudo-theologischem Fanatismus Elemente der Vergangenheit verteidigt, die von der prophetischen oder einer wahrhaft theologischen Kritik längst verworfen waren. Das ist aber sicher nicht die Aufgabe des protestantischen Laien. Wirkliches Laientum wäre Infragestellen des Theologen als Theologen, der Theologie als einer Sondersphäre neben dem „profanen" Leben und „profanen" Tun. Der Laie ist berufen, die Einengung und Begrenzung beständig einzureißen. Die proletarische Situation hat radikal laienhaften Charakter. Das Proletariat hat nicht nur in sich selbst keine priesterliche Gruppe, sondern es hat sich in seinen radikalen Schichten auch von jeder Form kirchlichen Priestertums getrennt. Aus diesem Grunde haben die Vertreter der meisten christlichen Kirchen den Sozialismus als antichristlich, antireligiös und atheistisch bekämpft. Politische Bündnisse zwischen sozialistischen und zum Beispiel katholischen Parteien können nicht die tiefe Kluft zwischen dem katholischen System und den sozialistischen Bewegungen überbrücken. Das gilt auch für manche protestantischen Kirchen, zum Beispiel das deutsche Luthertum. Aber dem Protestantismus kommt es nicht zu, aus dem Fehlen einer ausdrücklich religiösen Haltung und aus der Bekundung einer ausgesprochenen Profanität auf Ablehnung des Religiösen im Sinne des protestantischen Prinzips zu schließen. Er hat zu fragen, ob der Sozialismus nicht in der Verhüllung einer profanen Theorie und Praxis einen besonderen religiösen T y p darstellt, den T y p , der in der jüdischen Prophetie entsprang und der die gegebene Welt in der Erwartung einer „neuen Erde" transzendiert - symbolisch ausgedrückt als „klassenlose Gesellschaft" oder als „Reich der Gerechtigkeit und des Friedens" oder als „Zeitalter der vollkommenen Vernunft". Es muß nun vom Standpunkt des protestantischen Prinzips aus auch gefragt werden, ob die proletarische Bewegung nicht eine Art Laienbewegung darstellt, die, obwohl fern jeder theologischen Form, dennoch von der menschlichen Lage, ihrer Entstellung und ihrer Verheißung Zeugnis ablegt. Diese Frage ist im Hinblick auf den quasi-religiösen Enthusiasmus, die Opferbereitschaft und die ungeheure gestaltende und einigende K r a f t der frühen proletarischen Bewegungen besonders ernsthaft zu stellen. In jedem Falle sollte der Protestantismus diese Fragen stellen und eine bejahende Antwort als Möglichkeit in Betracht ziehen. Er sollte für die propheti98

sehe Botschaft, die unter der proletarischen Profanitat verborgen liegt, offen sein, selbst bei dessen heftigen Angriffen auf die christlichen Kirchen im allgemeinen und den Protestantismus im besonderen. Der Protestantismus hat die Kraft, diesen Angriff aufzunehmen, gegen sich selbst zu richten und zu verwandeln gemäß seinem protestantischen Prinzip. Das sind die Hauptpunkte, in denen das protestantische Prinzip eine Bestätigung durch die proletarische Situation findet und die proletarische Situation in einer neuen Weise angesehen und verstanden werden kann in ihrer Bedeutung für den Protestantismus.

III. Das Versagen des historischen gegenüber der proletarischen

Protestantismus Situation

Es ist das historische Schicksal des Protestantismus, daß er in eine Richtung getrieben wurde, die, wenn auch historisch verständlich, nicht die Möglichkeiten des protestantischen Prinzips zum Ausdruck bringt und sich schließlich als verhängnisvoll erweist, vor allem für den Zugang zur proletarischen Situation. Es kommt an dieser Stelle nicht darauf an, den Ursachen der geschichtlichen Entwicklung nachzugehen, sondern darauf, diejenigen Momente aufzuweisen, in denen die antiproletarische Fixierung des Protestantismus offenkundig ist. An erster Stelle ist zu nennen die Objektivierung des protestantischen Prinzips zu einem Lehrsystem mit unbedingtem Wahrheitsanspruch: der Weg der Orthodoxie. Die Wirkungen, die diese im nachreformatorischen Zeitalter einsetzende Entwicklung für Charakter und Geschichte des Protestantismus bis heute gehabt hat, ist bekannt und vielfach untersucht. Es ist von unserem Verständnis des protestantischen Prinzips aus deutlich, daß damit entscheidende Momente des Prinzips preisgegeben sind. Die Menschheit ist in dem gegenständlichen Besitz einer Wahrheit, die mit dem Inhalt, später sogar mit dem Buchstaben einer inspirierten Schrift identisch ist und in allein richtiger Interpretation von der evangelischen Kirche gelehrt wird. Demgemäß gibt es eine im wesentlichen fixierte Lehrform, die zugleich Form der Wahrheit ist und von ihren Kennern und Verkündern weitergegeben wird. Die kritische Kraft des protestantischen Prinzips gegen jede päpstliche Autorität, ganz gleich, ob durch Menschen oder durch ein Schriftstück repräsentiert, war vergessen. Nicht nur der biblische Text erhielt eine quasisakramentale Würde, sondern ebenso die „reine Lehre", wie sie in den protestantischen Glaubensbekenntnissen niedergelegt und von der 99

Kirche offiziell vertreten wurde. Eine Wahrheit außerhalb der biblischen Wahrheit - wie zum Beispiel die Philosophie - ist unerwünscht. Die protestantische Lehre wird der Kritik des protestantischen Prinzips nicht unterworfen. Daraus ergibt sich nun die völlige Unzugänglichkeit der protestantischen Verkündigung f ü r das Proletariat. Schon das Bürgertum hatte sich innerlich von der kirchlichen Lehre losgelöst, o f t radikal, o f t kompromißhaft. Aber es hatte und hat wenigstens infolge seiner historischen Bildung die Möglichkeit zum Verstehen, zur Einfühlung, in manchen Fällen sogar zur Rückkehr. Es hatte fast immer wirkliche oder vorgegebene Achtung vor den Schöpfungen der Vergangenheit. Ganz anders das Proletariat: es hat die bürgerlich-aufklärerische Form des Denkens übernommen; es hat keine historische Bildung; es hat weder die Fähigkeit noch die Absicht zu verstehen und sich einzufühlen; es steht in der äußersten N o t und der Erwartung eines Neuen, und es hat einen Zugang nur zu den Begriffen, die einerseits der kapitalistischen Gesellschaftslage entsprechen, ihm andererseits seine N o t deuten und seine Erwartung begründen. D a nun der Protestantismus sich durch die orthodoxe Fixierung dieser Möglichkeiten beraubt hatte, stößt er im Proletariat auf eine Menschengruppe, der seine Verkündigung selbst dem einfachsten Wortsinn nach unverständlich bleibt. Eine W a n d l u n g ist hier nur möglich, wenn der Protestantismus unter Besinnung auf sein Prinzip sich befreit von der Bindung an eine als unbedingt fixierte Form, wenn er erkennt, daß die Wahrheit alle menschlichen Festlegungen transzendiert, selbst die in einem heiligen Buch. Für das Verhältnis von Protestantismus und Proletariat ist der Pietismus als ein weiterer Faktor von entscheidender Bedeutung. Die Frömmigkeit als Sache des rein innerlichen Lebens isoliert den Einzelnen, beschränkt die Beziehung Gott-Welt auf die Beziehung Gott-Seele. Das hat zur Folge, daß die Probleme der Weltgestaltung aus der religiösen Sphäre herausfallen und sich selbst überlassen bleiben. Die Innerlichkeit wird zum Schauplatz des Geschehens zwischen Gott und Mensch, nicht die soziale Sphäre. Von jedem Einzelnen geht gleichsam eine direkte Linie nach oben. Das Reich Gottes ist das Himmelreich, in das die einzelne Seele zu gelangen hofft. Die nach vorn gerichtete eschatologische Leidenschaft des Urchristentums ist gebrochen, die soziale, weltgestaltende Seite der Reich-Gottes-Idee unsichtbar geworden. Die soziale Sphäre ist Bewährungsort des Einzelnen. Aber ein selbständiges, sachgegründetes religiöses Gewicht hat das H a n d e l n in der Welt nicht. Es ist selbstverständlich, daß diese H a l t u n g den Gegensatz von Protestantismus und Proletariat außerordentlich vertiefen mußte. Denn es 100

ist charakteristisch f ü r das Proletariat, daß seine Leidenschaft ausschließlich nach vorn geht, daß sie getragen ist von weltgestaltendem Willen und sozialer Erwartung. U n d zwar ist das nicht eine zufällige wandelbare Tendenz, sondern eine mit der Klassenkampflage unmittelbar gegebene Notwendigkeit. Gegenüber der sozialen Situation des Proletariats erscheint die individuelle Frömmigkeit nur von untergeordneter Bedeutung. Das gilt sogar für solche Fragen wie: eigenes Schicksal, eigene Schuld und selbst eigenes Sterben. Es ist sehr schwer möglich, mit der noch so eindringlichen Verkündigung dieser Dinge den Blick des Proletariats aus der Richtung nach vorn in die Richtung nach oben zu lenken. Jeder Versuch dieser Art wird als Versuch der Ablenkung vom politischen Kampf empfunden und abgewehrt. Das liberale Verständnis des protestantischen Prinzips kommt dem proletarischen Bewußtsein insofern entgegen, als es von der grundsätzlich autonomen H a l t u n g ausgeht, die auch f ü r das proletarische Denken selbstverständliche Voraussetzung ist. Der Ernst des wissenschaftlichen Wahrheitssuchens, der die Größe der liberalen Theologie ausmacht, sichert dem Liberalismus, wie in der ganzen humanistischen Gesellschaftsschicht, so auch im Proletariat, soweit es überhaupt mit diesen Dingen in Berührung kommt, Anerkennung. U n d doch ist auch diese Form des Protestantismus nicht der Weg zu einer Verbindung von Protestantismus und Proletariat geworden. Das ist unmöglich, solange der Liberalismus an das humanistische Persönlichkeitsideal gebunden bleibt. Denn mit diesem Ideal ist die Ausschließung der Massen, ja, erst eigentlich die Entstehung der Masse als Masse gegeben. Das Ideal der religiösen Persönlichkeit ist f ü r das Denken des Proletariats völlig unannehmbar. Der Protestantismus hat in allen seinen Formen die bewußte religiöse Persönlichkeit betont, ihre intellektuellen Fähigkeiten und ihre moralischen Entscheidungen. Er wurde zu einer „Theologie des Bewußtseins" in Analogie zur cartesianischen „Philosophie des Bewußtseins". Sogar das religiöse Gefühl, auf das sich Pietismus und Romantik berufen, wurde in die Sphäre des Bewußtseins erhoben. Das hatte eine doppelte Konsequenz: die Persönlichkeit wurde von den vitalen und seelischen Schichten ihres Wesens abgeschnitten. Die Religion blieb auf die Bewußtseinssphäre beschränkt, die unbewußten Schichten blieben unberührt, leer oder unterdrückt, während die bewußten Schichten durch beständiges letztliches Sichentscheidenmüssen überbelastet waren. Es ist kein Zufall, d a ß in den protestantischen Ländern der Zusammenbruch der bewußten Persönlichkeit ein solches Ausmaß angenommen hat, daß die Psychoanalyse mit ihrer Rückwendung zum Unbewußten eine soziale Notwendigkeit wurde. 101

Eine Religion, die sich nicht an das Unbewußte wendet, das allen Entscheidungen zugrunde liegt, ist auf die Dauer unhaltbar und kann niemals eine Religion für die Massen werden. Die andere Konsequenz der Überbetonung der „religiösen Persönlichkeit" ist die Isolierung des religiösen Einzelmenschen. Es w a r besonders der calvinistische T y p des Protestantismus, der sich in dieser Richtung entwickelte und die Massen entfremdete, die überpersönliche Symbole und Institutionen brauchen. D e r Katholizismus war viel besser in der Lage, diesem Bedürfnis zu begegnen und daher die proletarischen Massen unter seinen Einfluß zu bringen. Aber weit erfolgreicher als die beiden christlichen Kirchen war hierin der Marxismus, dessen wichtigste Funktion es war, den verzweifelnden, chaotischen und entleerten Massen des Frühkapitalismus Symbole zu geben, die sie sowohl in ihrem Unbewußten als auch in ihrem Bewußtsein ergriffen. Er war in der Lage, ihnen Institutionen zu geben, die die atomistische Vereinzelung des Individuums innerhalb der Massen überwinden, und er konnte ihnen einen Mythos geben, der Glauben, H o f f n u n g und eine Kampfgemeinschaft schuf. Der Protestantismus muß, um in der künftigen Massengesellschaft diese Richtung fortzusetzen, sich in dieser Hinsicht mehr als in irgendeiner anderen wandeln. Durch den Wegfall der katholischen Hierarchie war der Protestantismus für seine Verwirklichung auf die weltlichen Hierarchien angewiesen. Die im Bauernkrieg getroffene Entscheidung Luthers bedeutete für das Luthertum eine Fixierung dieser Notwendigkeit auf den Absolutismus und die Ablehnung demokratisch-revolutionärer T e n denzen. Auf calvinistischem Boden entwickelten sich die Dinge anders, weil eine frühzeitige Verbindung des um seine Existenz kämpfenden Protestantismus mit dem um seine ökonomische Durchsetzung k ä m p fenden Bürgertum stattfand. S o entstand die Bindung des Protestantismus an die feudal-patriarchalische Gesellschaftsform auf lutherischem Boden und an die kapitalistisch-liberale Gesellschaftsform auf reformiertem Boden. D a s erste ist charakteristisch für Mitteleuropa, das zweite für Westeuropa und Amerika. In beiden Formen aber entwickelte sich eine Gegnerschaft zum Proletariat. D a s war die Folge davon, daß nach dem Zusammenbruch der bischöflichen Macht die Kirchen der Reformation abhängig wurden entweder von dem absoluten Staat oder den politischen Gruppen, die ihn beherrschten, oder von den herrschenden K r ä f t e n in der bürgerlichen Gesellschaft. D a s war unvermeidlich und machte jeden Versuch, innerhalb der protestantischen Kirchen einen Zugang zum revolutionären Proletariat zu bahnen, zu einer Unmöglichkeit. 102

Es wird den meisten Vertretern der protestantischen Kirchen außerordentlich schwer, diese ihre soziologische Gebundenheit zu durchschauen. Sie meinen, daß offizielle oder private Neutralitätserklärungen die wirkliche Neutralität der Kirche und der sie tragenden Schichten bewirken könnten; sie verkennen die Macht der gesellschaftlichen Wirklichkeiten, die gerade im Gegensatz zu dem, was gewußt und gewollt ist, sich durchsetzen, die unmittelbar sind und unmittelbar die Existenz gestalten, das H a n d e l n ebenso wie das Denken. S o war z u m Beispiel die Behauptung, daß die Kirchen den Landarbeitern gegenüber neutral seien, eine Ideologie, ein falsches Bewußtsein, das sich für den Landarbeiter in seinem Lebensschicksal jeden Augenblick als solches enthüllte. Der Sprung zur völligen Kirchenentfremdung war d a r u m nicht sehr groß, als der Landarbeiter zum städtischen Proletarier wurde und die Verbindung zur Kirche vollkommen zerriß. Die Chance, die dem deutschen Protestantismus nach dem ersten Weltkrieg durch die Loslösung v o m Staat gegeben war, hat er bisher nicht ausgenützt. D a s Luthertum hat seine alte Verbindung mit den Gruppen beibehalten, die im Vorkriegsstaat maßgebend waren, und es unterstützte die konservative Opposition gegen einen Staat, in dem das Proletariat gewisse Machtpositionen innehatte. Die einzige Wandlung, die in dieser Beziehung stattgefunden hat, ist die Tatsache, daß die religiösen Sozialisten vorhanden sind und von den protestantischen Kirchen im großen und ganzen, wenn auch mit mancherlei Anfeindungen, ertragen werden. D i e religiösen Sozialisten haben sich zum Ziel gesetzt, den Protestantismus aus den soziologischen Gebundenheiten seiner bisherigen antiproletarischen Vergangenheit zu befreien. D a z u gehört auch das mit dem Staatskirchentum verbundene fast völlige Eingehen des Protestantismus in die nationalistische Ideologie. Erst als in den letzten Jahren von verschiedenen Gruppen die heidnische Grundlage des Nationalismus offen ausgesprochen wurde, begann ein leises Abrücken von dem „nationalen M y t h o s " . Doch sind die alten Bindungen zwischen Kirche und N a t i o n a l s t a a t noch so stark, daß der Protestantismus fast durchweg auf Seiten derjenigen Parteien zu finden ist, die den N a m e n des „ N a t i o n a l e n " zum Parteischlagwort gemacht haben. N u r selten wird von protestantischer Seite durchschaut, in welchem Maße der N a m e „ n a t i o n a l " ideologisch ist, das heißt die bewußte oder unbewußte Verhüllung des Machtanspruchs bestimmter ökonomisch-politischer Gruppen. D i e fast restlose Unterstützung der nationalistischen Ideologie durch die protestantischen Kirchen verhindert die Verbindung von Kirche und Proletariat. Aus allem Gesagten folgt die eine grundlegende, für alles entschei103

dende Forderung an den Protestantismus: sich unter dem Gewicht der proletarischen Situation für das protestantische Prinzip gegen den historischen Protestantismus zu entscheiden. Nicht die Forderung soll gestellt werden, daß sich der Protestantismus bedingungslos dem Sozialismus verschreibt; sondern dies ist die Forderung, daß er sein H a n d e l n und Reden angesichts der beunruhigenden und sich wandelnden Wirklichkeit der proletarischen Situation unter die allgemeine Kritik seines Prinzips stellt. Keineswegs soll er die gegenwärtigen Formen unmittelbar übernehmen, mit denen der Sozialismus die proletarische Bewegung erfaßt und geformt hat, aber der Protestantismus soll den Sozialismus als Ausdruck und Gestaltung der proletarischen Situation ernst nehmen. Nicht jeder einzelne Protestant soll Sozialist werden, aber der einzelne Protestant soll wissen, daß er gegen seinen Willen Protestantismus, Christentum und Religion in Ideologie verwandelt, daß er dem „selbstgemachten G o t t " seiner gesellschaftlichen G r u p p e , seiner K l a s s e oder seines Volkes dient, wenn er nicht die Tatsache der proletarischen Situation für die Gestaltung des Protestantismus entscheidend wichtig werden läßt. Die proletarische Situation ist nicht eine beliebige Wirklichkeit, auf die auch Rücksicht genommen werden muß, sondern sie ist der Ort, von dem aus die Geschichte selbst den Protestantismus vor die Frage gestellt hat, ob er sein Prinzip mit bestimmten Formen seiner Verwirklichung gleichsetzen oder ob er mit seinem Prinzip sich unter die Forderung stellen will, die von der proletarischen Situation an ihn ergeht und die einen großen, ja den größten Teil seiner gegenwärtigen Verwirklichung in Frage stellt.

104

NATUR UND

SAKRAMENT

Keine andere Frage hat dem Protestantismus von Anfang an so viel Schwierigkeiten gemacht und ist in ihrer Beantwortung so unsicher gewesen wie die Frage nach den Sakramenten. Das ist nicht zufällig. Bedeutet doch der reformatorische Protest eine grundsätzliche K a m p f ansage an das sakramentale System des Katholizismus. (Alle Seiten der protestantischen Kritik können verstanden werden als Angriff des prophetischen Geistes auf sakramentale Vergegenständlichung und Dämonisierung.) Am konsequentesten verfuhr in dieser Beziehung die Lehre der reformierten Kirchen. Die berühmte Antwort des Heidelberger Katechismus, daß die Messe eine „vermaledeite Abgötterei" sei, läßt noch deutlich das antidämonische Pathos der reformierten Sakramentsbekämpfung vernehmen. Luther brach mit Zwingli, weil eine sakramentsfeindliche Haltung dem mystischen Element in Luthers Glauben unerträglich erschien, ohne daß es Luther gelang, aus seinen eigenen Voraussetzungen eine klare und konsequente Sakramentslehre zu entwickeln. Die gegenwärtige kirchliche Lage spiegelt diesen Sachverhalt wider. Von vielen Pfarrern, die imstande sind, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist, wird das „Sterben der Sakramente" mit Sorge beobachtet. Gegenkräfte aber sind nirgends sichtbar, an diesem Punkt auch nicht in der Theologie. U n d doch ist das Sakramentsproblem entscheidend f ü r die Frage nach der Möglichkeit protestantischer Verwirklichung. Ein völliges Verschwinden des sakramentalen Elementes (das nicht dasselbe ist wie die einzelnen Sakramente) würde zu einem Verschwinden des Kultus und schließlich zu einer Aufhebung der Existenz der sichtbaren Kirche führen. Aus diesem Grunde ist es notwendig, daß sich der Protestantismus ernsthaft mit dem gesamten Problem des Sakramentalen auseinandersetzt, einem Problem, das grundlegend ist f ü r ein Verständnis dafür, wie der Protestantismus eine feste geschichtliche Form gewinnen kann. Wir greifen hier ein besonderes Problem der Sakramentsfrage heraus, das trotz seiner Wichtigkeit o f t vernachlässigt wurde. Es ist das Problem des Verhältnisses von N a t u r und Sakrament. U n d zwar möchte ich mit Rücksicht auf die konkrete Situation, in der wir uns befinden, von einer Analyse der beiden tatsächlich im Protestantismus vorhandenen Sakramente sowie des f ü r ihn noch wichtigeren sakramentalen Wortes ausgehen.

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I. Das Sakrament

der Taufe

Wir beginnen mit der Taufe, nicht nur, weil sie das grundlegende, sondern auch weil sie das am leichtesten zu analysierende Sakrament ist. Das Sakrament der Taufe hat nur ein Element, und dieses ist selbst wieder einschichtig: das "Wasser. Durch das Wasser wird die Taufe zum Sakrament. Ohne Wasser keine Taufe. Zugleich aber gilt: „Ohne das Wort Gottes ist das Wasser schlecht Wasser und keine Taufe." In diesem Satze aus Luthers Katechismus stecken eine Reihe tiefer theologischer und religionsgeschichtlicher Probleme. Unter ihnen interessiert uns zunächst die Frage: Was heißt „schlecht" Wasser? Und wenn Wasser als solches nur „schledit" Wasser ist, warum überhaupt Wasser? Warum nicht „Wort Gottes" ohne Wasser, warum Sakrament? Es gibt drei mögliche Antworten auf diese Frage, auf die Frage also nach der Bedeutung des Naturelementes im Sakrament. Die erste Antwort gibt eine symbolistische Deutung. Sie betrachtet das Wasser als Symbol etwa für Reinigung oder für Ertrinken oder für beides gleichzeitig und spricht vom Sterben des Alten, Unreinen und dem Erstehen eines Neuen, Reinen. Die Besprengung oder das Untertauchen im Wasser hat unter Voraussetzung dieser Auffassung den Sinn, den gedanklichen Gehalt, der auch im Wort zum Ausdruck kommt, in einem anschaulichen Bild zu wiederholen. Der Taufakt wurde eine Veranschaulichung des Taufgedankens. Offenbar könnten zur Veranschaulichung des gleichen Gedankens auch andere bildhafte Handlungen vorgenommen werden, etwa ein Hindurchtragen durchs Feuer, ein Hinabsteigen in die Gruft und ähnliche Dinge, wie sie in Weihen und Mysterien vorkommen. Der Gebrauch des Wassers könnte entweder rational, aus seiner leichten Verwendbarkeit, oder traditionell, aus der bloßen Tatsache der Überlieferung, begründet werden. Ein notwendiges, sachbegründetes Verhältnis von Taufe und Wasser wäre auf diese Weise nicht gewonnen. Die zweite Antwort ist die ritualistische. Es wird anerkannt, daß das Verhältnis von Taufe und Wasser zufällig ist. Die Verbindung der beiden wird mit einem göttlichen Befehl begründet. Durch diesen Befehl wird das Wasser sakramentsfähig, sobald es in die rite vollzogene Taufhandlung eintritt. Diese Auffassung, deren grundsätzlich nominalistisdier Charakter offenbar ist, wirkt nach in der protestantischen Forderung, daß das Sakrament von Christus selbst eingesetzt sein muß gemäß den biblischen Berichten. Die ritualistische Auffassung deutet ein sachlich notwendiges Verhältnis von Taufe und Wasser nicht einmal an. 106

Die dritte Antwort ist die realistische. Sie besteht darin, daß die Frage nach einer sachlich notwendigen Verbindung von Wasser und Taufe gestellt wird. Luthers Begriff „schlecht Wasser" wird angezweifelt, sofern er mehr bedeuten soll als eine Abwehr der magisch-sakramentalen Aufassung. Dem Wasser an sich und für sich wird eine Güte, eine Qualität, eine Mächtigkeit zugesprochen. Durch diese seine natürliche Mächtigkeit ist es geeignet, Träger einer sakralen Mächtigkeit und damit Element eines Sakramentes zu werden. Es wäre eine sachlich notwendige Beziehung zwischen Taufe und Wasser gefunden. Diese realistische Auffassung scheint mir dem Wesen des Sakramentes angemessen zu sein. Sie verwirft den Gedanken, daß es nur eine willkürliche Verbindung von Sache und Naturelement gibt.

II. Das Sakrament

des

Abendmahls

Die Analyse des Abendmahls erweist sich als sehr viel schwieriger. Zunächst liegen statt eines zwei anschauliche Elemente vor: Brot und Wein. Zweitens sind beides keine reinen Naturelemente, sondern Ergebnisse technischer Bearbeitung der Natur. Drittens und vor allem stehen beide für den Leib Christi als das eigentliche Abendmahlselement. Viertens ist dieser als Leib zwar zur Natur gehörig, als transzendenter Leib aber transzendente Natur. Der Sinn des Abendmahls als Sakrament ist die sakramentale Aneignung des erhöhten Leibes Christi. Der Leib ist der alle anderen Naturgegenstände irgendwie in sich enthaltende und zugleich sie alle überbietende vollkommene Naturgegenstand. Nun ist das Genießen eines wirklichen Leibes ausgeschlossen. Der Anthropophagismus ältester Kulte ist schon durch den antidämonischen Kampf der Vorzeit überwunden. Auch ist der Leib als der einmalige historische Leib Jesu Christi selbstverständlich unzugänglich. Eben dieser Leib aber wird nun zugänglich dadurch, daß er in der Transzendenz steht. E r bleibt Leib, er wird nicht Geist, aber er wird pneumatischer Leib, das heißt von der Transzendenz ergriffener Leib. Als solcher ist er zugänglich. Aber als solchem fehlt ihm die Anschaulichkeit. Es fehlt das reale Naturelement, ohne das ein wirklicher Vollzug des Sakraments nicht möglich ist. Das Problem wird so gelöst, daß an die Stelle des Leibes die organischen Substanzen treten, die den Leib aufbauen, und zwar in der Form technisch zubereiteter Nahrungsmittel. An die Stelle des Leibes treten die Elemente, die ihn aufbauen. Gehen wir nun mit den aus der Analyse der Taufe gewonnenen mög-

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lidien Antworten an die Elemente des Abendmahls heran, und zwar zunächst an das eigentliche, letztgemeinte Element, den Leib Christi, so ist klar: der Leib Christi kann nur realistisch verstanden werden. Wofür sollte er Symbol sein? Etwa für den Geist Christi? Das hieße schwarz durch weiß symbolisieren wollen. Der Leib selbst ist gemeint. Eine Naturmächtigkeit wird erhöht zu transzendenter göttlicher Bedeutung. Die Teilnahme, das Ergriffensein von der transzendenten Mächtigkeit ist zugleich ein Teilnehmen, ein Ergriffensein von einem Element transzendenter Naturmächtigkeit. Es scheint mir, als ob Luthers logisch unmögliche Lehre von der Ubiquität des Leibes Christi ein Versuch war, diesem Gedanken Ausdruck zu geben. Schwieriger ist die Frage nach dem Sinn in bezug auf die sekundären Elemente Brot und Wein. Die einfachste Lösung gibt die katholische Wandlungslehre. Durch die Wandlung werden Brot und Wein, die sekundären Elemente, aufgehoben und ersetzt, es bleibt ein Element, der Leib Christi, der Brot und Wein durch die Wandlung sich zu eigen macht. Auf protestantischem Boden andererseits wird die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der sekundären Elemente gewahrt. Um so schwieriger wird die Frage nach ihrer Bedeutung, nach dem Grund der Auswahl gerade dieser Elemente. Die Erinnerung an die Einsetzungsworte könnte zu einer ritualistischen Auffassung führen, denn sie enthalten deutlich einen Befehl Jesu. Durch diesen Befehl würden beide Gruppen der Elemente, sekundäre wie primäre, zusammengeschlossen, und so könnte die Verbindung von Brot und Wein mit dem Leib Christi durch die Zufälligkeit der historischen Situation veranlaßt sein. Aber diese Deutung würde praktisch das primäre Element des Abendmahls ausschließen, den erhöhten Leib Christi; denn weder das Vergießen und Trinken des Weins noch das Brechen und Essen des Brotes haben irgendeine symbolische Beziehung zu dem transzendenten Christus, wenngleich wenigstens das Brotbrechen ein klares und adäquates Symbol für das Geschehen auf Golgatha ist. Darüber hinaus kann die ritualistische Deutung nicht gehen. Die realistische Deutung andererseits kann Brot und Wein als die Repräsentanten des Leibes und der in ihm zusammengefaßten Mächtigkeit der Natur überhaupt erklären. Sie deuten ebensosehr auf die Gegenwart der göttlichen Heilsmacht in der natürlichen Grundlage alles geistigen Lebens wie auf das geistige Leben selber hin.

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III. Das Wort und das Sakrament Die klassische Zusammenstellung W o r t und Sakrament bedeutet zunächst: „Sowohl W o r t als auch Sakrament". Sie bedeutet dann: „Durch das W o r t Sakrament", und sie ist schließlich oft, besonders im Protestantismus, gebraucht worden als „Wort ohne Sakrament". Diese Vielfalt von Implikationen ist unvermeidlich, solange beide Begriffe qualitativ entgegengesetzt verstanden werden, oder, konkret gesprochen, solange dem W o r t als solchem die Möglichkeit bestritten wird, selbst sakramentalen Charakter zu haben. Dazu besteht aber kein Recht. Auch das W o r t ist zunächst Naturgegenstand. Auch das W o r t kann als N a turgegenstand eingehen in einen ritualen Akt, in dem es zum Träger transzendenter Mächtigkeit wird: es kann sakramental werden. Das W o r t als Hauch, als Laut, als Gehörtes ist ein Naturding. Zugleich aber ist das W o r t seinem Wesen nach Träger eines Sinngehaltes. Es bestehen nun zwei Möglichkeiten, die Beziehung zwischen dem W o r t als Naturgegenstand und dem W o r t als Sinnträger zu verstehen. Es ist auf der einen Seite möglich, das W o r t der ihm innewohnenden Mächtigkeit zu berauben und jede Wesensbeziehung zwischen dem W o r t und dem Sinngehalt, den es trägt, zu leugnen. Alle Macht, alle Bedeutsamkeit, alle Durchschlagskraft wird dann dem Sinngehalt zugeschrieben, der auch von anderen Worten ausgedrückt werden könnte. Das W o r t wird als grundsätzlich vertauschbar gedacht. Auf der anderen Seite ist es möglich, anzunehmen, Laut und Sinngehalt seien so geeint, daß die Naturmächtigkeit des Wortes zum Träger der Sinnmächtigkeit wird, daß eins nicht ist ohne das andere. W o das anerkannt wird, hat das W o r t die Möglichkeit, mit seiner Naturmächtigkeit auch Träger transzendenter Mächtigkeit zu werden. Damit aber ist es selbst als sakramentsfähig anerkannt. Sakramentale Worte, die ausdrücklich diesen Charakter zeigen, finden sich im Protestantismus im Zusammenhang mit dem Vollzug der Sakramente auch im Sagen der Absolutionsworte. In diesen Fällen ist zu fragen: Sind die hier gesprochenen Worte nur Zeichen, die auf einen Sinngehalt hinweisen und diesen Sinngehalt mitteilen? Oder sind es Worte, in denen W o r t und Sinn so geeint sind, daß das Sprechen dieser Worte, also der Naturvorgang als solcher, eine Mächtigkeit hat, durch den sie zu Trägern transzendenter Mächtigkeit werden können? Wäre es so, so wäre damit ein sakramentaler Realismus des Wortes gegeben. Abgewiesen wäre sowohl der Ritualismus, der die Worte nur auf Befehle zurückführt, und der Symbolismus, der die Worte zu leeren Zeichen macht. 109

Wir haben also in der Analyse der beiden protestantischen Sakramente sowie des kultischen Wortes festgestellt, daß allein die realistische Auffassung imstande ist, dem Wesen der Sache gerecht zu werden. Es muß nun aber gefragt werden: Ist eine solche Auffassung zu denken und zu begründen, und welche Bedeutung würde ihre Durchführung für Sakramentslehre und kultische Gestaltung im Protestantismus haben? Es ist vor allem zu fragen: Welches ist die Naturauffassung, die einem solchen Realismus zugrunde liegt, und wie läßt sich die Notwendigkeit einer solchen Naturauffassung beweisen?

IV. Arten der

Naturauffassung

Der Naturbegriff hat je nach dem Gegensatz, in dem er steht, sehr verschiedene Bedeutungen. Der formale Naturbegriff stellt das Natürliche in Gegensatz zu allem Nichtnatürlichen (Wider- oder Übernatürlichen): Er umfaßt also Geist und Seele als Ergebnisse natürlichen Wachstums. Der materiale Naturbegriff stellt das Natürliche in Gegensatz zu allem, das mit Freiheit zu tun hat. Die Gegenbegriffe zum materialen Naturbegriff sind Geist und Geschichte. Der theologische Naturbegriff verbindet das Formal-Natürliche mit einem negativen Werturteil, das Natürliche wird als verderbt, sündig, abgefallen gesehen, im Gegensatz zum Übernatürlichen als dem Erlösten, Wiederhergestellten, Vollendeten. Gegenstand unserer Untersuchung ist die materiale Natur, als der Träger des sakramentalen Sinnes und der sakramentalen Mächtigkeit. So weit wir davon Kenntnis haben, ist der Naturbegriff, der am frühesten in der Geschichte auftaucht, die magisch-sakramentale Naturauffassung. Nach ihr ist jede Wirklichkeit erfüllt von einem Kraftstoff, der den Dingen und den Teilen der Dinge, auch dem Leib und den Gliedern des Leibes eine sakrale Mächtigkeit gibt. Sakral bedeutet hier aber nicht einen Gegensatz zu profan. Vielmehr ist auf dieser Stufe der Kulturentwicklung beides grundsätzlich ungeschieden. Die natürliche Macht der Dinge ist zugleich ihre sakrale Macht, und der Umgang mit ihnen ist immer zugleich technisch und rituell. Man könnte bei dieser primitiven Auffassung von einem Pan-Sakramentalismus sprechen, muß dann aber bedenken, daß das Sakramentale in unserem Sinne als getrennte religiöse Wirklichkeit für den Primitiven nicht existiert. Der primitive Mensch hält an der magischen Naturauffassung fest, die technische Beherrschung der Wirklichkeit wird in ihrem Vollzug ohne jede Beziehung auf das, was wir Naturgesetz nennen, 110

gedacht. Die technische Beherrschung der Wirklichkeit wird vollzogen durch die Wirkungen magischer Kraft, ohne daß die Umwegmethoden rationaler Formung gebraucht werden. Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß es niemals eine rein magische Beziehung zur Natur gegeben hat. Die technischen Notwendigkeiten machen sich immer irgendwie bemerkbar und schaffen in gewissen Gebieten eine Sphäre der „Alltäglichkeit" und technischen Sachlichkeit. Wo die rationale Tendenz sich durchsetzt, schwindet die magischsakramentale Naturauffassung und an ihre Stelle tritt die rationalgegenständliche. Erst auf ihrem Boden gibt es „Dinge" im eigentlichen Sinn, nämlich allseitig Bedingtes. Die mathematische Physik und die auf sie gegründete technische Naturbeherrschung sind der großartigste und konsequenteste Ausdruck dieser Naturauffassung. Die Natur ist unterworfen, verdinglicht, ihrer Qualitäten entblößt. Sakramentales Denken hat hier keine Wurzel. Die Natur kann niemals Träger, sondern höchstens Bild und Hinweis auf transzendente Mächtigkeit sein. Dodi gilt auch von der rational-gegenständlichen Naturbetrachtung, daß sie nie völlig durchführbar ist. Die Qualitäten der Dinge lassen sich nie ganz abstreifen. Selbst in der Struktur des Atoms findet sich Urgegebenes, Gestalt und Selbstmächtigkeit. Und die Technik schafft in ihren höchsten Gebilden Analogien zu den lebendigen Urgestalten; sie können eine neue magische Gewalt über die Seelen derer erlangen, die ihnen dienen. Im Gegensatz zu der technischen Haltung gegenüber der Natur und ihrer rein quantitativen Analyse steht seit der griechischen Philosophie die vitalistische Auffassung der Natur. Wieder wird den Dingen unmittelbare Mächtigkeit zugesprochen. Überall und vor allem im Ganzen wird Leben angeschaut, élan vital oder Wille zur Macht oder schöpferisches Leben oder wie immer die Symbole heißen mögen. Die moderne Gestalttheorie gab diesen Gedanken unerwartete wissenschaftliche Begründungen. Aber die vitalistische Philosophie geht über diesen berechtigten Protest hinaus. Sogar der Geist wird dem Prinzip der ungebrochenen Vitalität unterworfen und wird als eine Art Krankheit gebrandmarkt und als' eine degenerative Form des Lebens bekämpft. In dieser Philosophie des Vitalen wird der Natur ihre Mächtigkeit wiedergegeben, aber es ist eine Mächtigkeit ohne Form, eine Mächtigkeit ohne Sinn; eine Mächtigkeit aber, die nicht zur Form kommt, erweist sich als Ohnmacht. Sakramentale Bestrebungen auf dem Grunde dieser „vitalistischen" Naturphilosophie können in den Versuchen einiger halbheidnischer Bewegungen gesehen werden, die die Symbolwelt der Naturreligionen dadurch wieder einführen wollen, daß 111

sie Elemente und Formen der natürlichen Welt (Feuer, Wasser, Licht) als selbstmächtig, ohne Bezug auf Geist und Transzendenz verwenden. Die symbolisch-romantische Naturauffassung will der N a t u r die Qualitäten, die Tiefe, die Sinnhaftigkeit zurückgeben durch symbolische Deutung der N a t u r als Gleichnis des Geistes. Die Mächtigkeit der Dinge ist die Mächtigkeit der ihnen innewohnenden Seele oder ,ihres Geistes. Die Mächtigkeit, die sie den Naturdingen geben will, ist die Mächtigkeit des subjektiven Geistes. Es ist klar, daß auf diesem Boden die symbolische Auffassung des Sakraments reiche Möglichkeiten hat. An Stelle des Pansakramentalismus tritt ein Pansymbolismus. Es ist aber auch klar, wie wenig damit die wirkliche Naturmächtigkeit getroffen wird. Die Deutung der N a t u r vom subjektiven Geist her bleibt Willkür und Phantasie. Die quantitative „berechenbare „ N a t u r " der physikalischen Gegebenheiten wird dadurch gewiß nicht aufgehoben. Es wird nur die subjektive Deutung hinzugefügt. D a r u m kann auch diese Auffassung nicht Grundlage einer neuen Sakramentstheorie werden. Das Unbefriedigende all dieser Naturauffassungen treibt uns zu einer Anschauung, die wir „neuen Realismus" nennen können, ein Begriff, der Elemente des mittelalterlichen und modernen Gebrauchs des W o r tes Realismus vereint. Denker wie Schelling und Goethe und in unseren Tagen Rilke haben diesen Weg in die Tiefe der N a t u r vorgezeidi-' net. W i r müssen ihnen mit den Mitteln unseres gegenwärtigen Wissens von der N a t u r und vom Menschen folgen. Die Mächtigkeit und der Sinn der N a t u r müssen in ihr und durch ihre gegenständlichen physikalischen Strukturen gesucht werden. Mächtigkeit und Sachlichkeit, Sinn und gegenständliche Struktur fallen nicht auseinander. W i r können nicht das W o r t der mathematischen Naturwissenschaften als das letzte W o r t über die N a t u r anerkennen, wenn wir auch nicht ableugnen, daß sie das erste W o r t haben. Erreichbar ist die Sachmächtigkeit nur in derjenigen Schicht des Seins, die vor der Spaltung in Gegenständlichkeit und Geistigkeit liegt. Leben entspringt einer Schicht, die „tiefer" liegt als der cartesianische Dualismus von cogitatio und extensio (Denken und Ausdehnung). Die vitalistische Auffassung wollte diese Schicht erreichen. Aber eine Lebensphilosophie, die die V e r n u n f t und den Geist leugnet, hat das Leben seiner stärksten Mächtigkeit und des letzten Sinnes beraubt, was sogar Nietzsche wußte, als er sagte: „Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet." Das schwierigste Problem f ü r alle Versuche, die ungespaltene Schicht der Wirklichkeit zu erreichen, ist die Notwendigkeit, in etwas Nichtsubjektives mit Kategorien des subjektiven Geistes 112

und in etwas Nichtgegenständliches mit Kategorien der Gegenständlichkeit einzudringen. Notwendigerweise wird dadurch das Bild verfälscht, das nur korrigiert werden kann durch ein genaues Verständnis der indirekten symbolischen Qualität der Begriffe, die zur Beschreibung der Mächtigkeit und des Sinnes der N a t u r verwendet werden. Eine realistische Naturauffassung, wie wir sie umrissen haben, kann die Grundlage f ü r eine neue protestantische Theorie der Sakramente abgeben. Aber das allein genügt nicht. Auf christlichem Boden kann es kein Sakrament geben, das losgelöst ist von dem neuen Sein in Jesus als dem Christus, und daher kann kein Sakrament ohne Beziehung zur Geschichte verstanden werden. Die N a t u r , die zur Ausübung des Sakraments im Christentum und insbesondere im Protestantismus einbezogen wird, muß geschichtlich verstanden werden und im Zusammenhang mit der Heilsgeschichte. Ganz deutlich sind in der N a t u r geschichtliche Elemente enthalten. Die N a t u r nimmt teil an der geschichtlichen Zeit, das heißt an der Zeit, die in unwiederholbarer und unumkehrbarer Richtung verläuft. Die Struktur des Kosmos, der Atome, der Sterne, der biologischen Substanz wandelt sich in unbekannter Richtung. Wenn auch in der N a t u r das geschichtliche Element durch das ungeschichtliche aufgewogen wird (der Kreis von Entstehen und Vergehen, die Wiederholung in der N a t u r , die Kreisbewegung, die im griechischen Denken vorherrschte), so entschied sich das Christentum - und folgte hierbei alten mythologischen Anschauungen Persiens und Israels - f ü r das geschichtliche Element und bezog die N a t u r in die Heilsgeschichte mit ein. Wird die N a t u r in dieser realistischen und zugleich geschichtlichen Weise aufgefaßt, können die Naturgegenstände zu Trägern transzendenter Mächtigkeit und transzendenten Sinnes werden, sie können sakramentale Elemente werden. Die protestantische Kritik gegen jeden unmittelbaren magischen oder mythologischen Gebrauch der N a t u r als Träger des Heiligen wird dabei gewahrt. Durch die Beziehung zur Heilsgeschichte wird die N a t u r von ihrer Zweideutigkeit befreit. Ihre dämonische Qualität wird in dem neuen Sein in Christus überwunden. Die N a t u r ist nicht der Feind des Heils, sie muß nicht wissenschaftlich, technisch oder moralisch beherrscht oder jeder ihr innewohnenden Mächtigkeit beraubt werden, damit sie dem Reich Gottes dienen könne — zu welcher Anschauung der Calvinismus neigt - , vielmehr ist die N a t u r Träger und Gegenstand des Heils. Das ist der Boden f ü r eine protestantische Wiederentdeckung des Sakramentalen.

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V. Beispiele der realistischen

Naturauffassung

Es sollen nun Beispiele für die realistische Naturauffassung gegeben werden. Das ist deswegen so schwer, weil die Erfassung der Naturmächtigkeiten sich nicht in der rationalen Sphäre vollzieht. Es müssen andere Zugänge eröffnet werden, und das kann nur durch Hinweis geschehen, also niemals zwingend. Eine Hilfe ist die unbestreitbare T a t sache, daß trotz aller Rationalisierung sich in uns, bewußt, aber auch unterbewußt, auch jetzt noch Elemente realistischer, ja sogar magischer Naturauffassung finden. Von einer erstaunlichen Macht ist zu allen Zeiten auch auf christlichem Boden die Qualität der Zahl gewesen. An erster Stelle die Dreizahl, deren mystische' Qualität sicherlich mehr als irgendein sachlicher und logischer Zwang von Origenes bis Hegel den trinitarischen Gedanken getragen hat. Unmittelbar verständlich ist für uns auch die ganz andere Bedeutung der Vierzahl mit ihrer klassischen Gerundetheit. Ahnen können wir noch etwas von dem spannungsvollen Reichtum der Zwölf. Die Zweideutigkeit der ungebrochenen Naturdinge kommt zum Ausdruck in der zwiefachen Beurteilung der Siebenzahl, die teilweise als heilig, teilweise als böse gilt. Für die christliche Auffassung kann freilich niemals ein Gegebenes als solches dämonische Qualität haben, da das Sein als Sein gut ist - eine "Wertung, die Augustin folgerichtig aus dem Schöpfungsgedanken ableitet. Dies gilt in gleicher Weise für die Zahlen wie für alle anderen Naturgegenstände, gleichgültig, ob sie im gegenwärtigen Stadium der Welt nützlich oder gefährlich für den Menschen sind. Sie werden böse durch den Zusammenhang, in den sie eintreten können und der von der endlichen Freiheit abhängt. Aber all dieses sind Restbestände, und kein Versuch, sie durch okkulte Mittel in ihrer Mächtigkeit wiederzuerobern, kann erfolgreich sein. Wahrscheinlich liegt für uns die eigentliche Macht der Zahlen an einem ganz anderen Punkt, sie hat zu tun mit dem Geheimnis der unendlichen Zahlen und ihrer Beziehung zum Unendlichen. Weithin zugänglich sind für unser Bewußtsein auch jetzt noch gewisse Elemente und Gestaltungen der anorganischen Natur. D i e v i e r Elemente der alte» mythischen Naturphilosophie, von denen das Wasser infolge seines Auftretens in der Taufe besonders wichtig für uns ist, hatten immer große Macht über die Menschen, sogar dann, wenn wir eine bewußte Anstrengung machen, uns ihrer zu erwehren. Den Grund dafür kann zum Teil die Tiefenpsychologie angeben. So zeigt sie zum Beispiel, daß das Wasser Ausdruck ist für den Ursprung im Mutterleib 114

und insofern für den schöpferischen Ursprung überhaupt, zugleich aber Ausdruck des Todes im Sinne der Rückkehr in den Ursprung. Ein Restbestand unmittelbaren Bewußtseins um Naturmächtigkeit findet sich im Begriff des „Edel-Steines", wobei der Begriff „edel" weder ästhetisch (schön), noch technisch-ökonomisch gedeutet werden kann. (Vergleiche die Zaubermärchen über die Macht edler Steine sowie ihre entdämonisierte Verwendung in der Apokalypse.) Die Lichtmystik der mittelalterlichen Philosophie zeigt eine überraschende Einheit von Naturerkenntnis und mystischer Schau. In dieser Theorie, cjie Resultate der modernen elektrodynamischen Analyse der Materie vorweggenommen hat, ist das Licht das Symbol der göttlichen Form, wie sie sich in allen Dingen manifestiert. Die romantische Naturphilosophie versuchte, in die qualitative Mächtigkeit und den geistigen Sinn des Lichtes einzudringen, aber, vermochte es nicht, die Kluft zwischen der dichterischen Phantasie und der wissenschaftlichen Forschung zu überbrücken. In seiner Farbenlehre und in seinem Kampf gegen Newtons quantitativ-dynamische Licht- und Farbentheorie war Goethe in dieser Hinsicht erfolgreicher. In diesem Streit, der noch nicht entschieden ist, sogar nicht auf der Ebene der Physik, traf die quantitativ-technische Naturauffassung, die durch Newton vertreten wurde, mit der qualitativintuitiven Haltung gegenüber der Natur zusammen, wie sie von Goethe vertreten wurde. Goethe war leidenschaftlich ari dem interessiert, was wir die Mächtigkeit der Farben nennen, ihrem geistigen Sinn und ihrer Wirkung. Die Theologie sollte dies Problem ernsthaft durchdenken. Die Entwicklung des Christentums aus dem byzantinischen durch das Hochmittelalter bis zum protestantischen Zeitalter spiegelt sich in der Verwendung der Farben in Gemälden und Kirchen wider. Das Gold der byzantinischen Basiliken und der frühgotischen Gemälde drückt das mystisch-transzendente Gefühl dieser Zeit aus. Denn „ G o l d " ist keine Farbe in der Skala der natürlichen Farben, es ist gleichsam die transzendente Farbe und daher der adäquate Ausdruck für die Transzend e n t als solche. Im Gegensatz hierzu lassen die farbigen Kathedralfenster das natürliche Licht einfallen, aber nur gebrochen und in den intensivsten Farben. Die Lichtmystik und die bemalten Glasfenster entsprechen einander. In den protestantischen Kirchen - soweit sie echt und nicht nur gotische oder byzantinische Imitationen sind - strömt das Tageslicht durch unbemalte Fenster und trägt so zu der intellektuellen Atmosphäre bei - läßt aber den Unterschied zwischen Schule und Kirche oft nur schwer erkennen. Die Macht der Pflanze klingt nach im Paradiesesmythos, in dem sie 115

durch die Bäume und deren Bedeutung für Adam repräsentiert wird. Sie sind Träger gottheitlicher Kräfte wie des ewigen Lebens und des Wissens um gute und böse Mächte in allen Dingen. Nach der Apokalypse wird es in der transzendenten Erfüllung einen Lebensbaum geben, durch dessen Blätter die Völker geheilt werden. Die Macht des Tieres kann in vierfacher Beziehung gesehen werden. Zuerst im Sinne intensivierter K r a f t (vergleiche die Bedeutung von Löwe, Stier und Adler in der religiösen Symbolik), zweitens als schärfster Ausdruck des Dämonischen in der Natur, wie es in der Schlange und den dämonischen Tierfiguren und Wasserspeiern der gotischen Plastik zum Ausdruck kommt. Die dämonische Macht der Tiere erscheint erschreckend in dem Erlebnis des Hüters der Schwelle im Okkultismus, ein Phänomen, das als Selbstanschauung des Menschen in abstoßender tierischer Gestalt charakterisiert werden kann. Von hier aus kann vielleicht verständlich werden die beleidigende K r a f t von Schimpfnamen, die Tiernamen entstammen. Die starke Reaktion gegen solche Namen kann als eine unbewußte Anerkennung der Realität solcher Benennungen und zugleich aus dem heftigen inneren Sichsträuben gegen diese Anerkennung erklärt werden. Eine dritte im Tier angeschaute Mächtigkeit ist seine Opferqualität. Tiere ersetzen und vertreten das Menschenopfer, das die Götter oder Gott mit Recht fordern. Und daher kann ein Tier, das Lamm, das große Opfer von Golgatha in der ganzen christlichen Kunst und Literatur symbolisieren. Und viertens zeigt sich im Tier die tragische Grenze seiner Mächtigkeit. Die Mystiker und die Romantiker entdeckten, daß etwas wie „Schwermut im Angesicht der Tiere" ausgedrückt ist, ein Gefühl der Gebundenheit und Knechtschaft im Dienst des vergänglichen Wesens, wie es Paulus nannte. Nach dieser dichterisch-philosophischen Schau hat die Natur im allgemeinen und haben die Tiere im besonderen es verfehlt, die Freiheit und Geistigkeit zu erreichen, die das Erbteil des Menschen ist. Niemals verlorengegangen, wenn auch stark zurückgedrängt durch die mechanistische Biologie und Medizin, ist das Bewußtsein um die Naturmächtigkeit des menschlichen Leibes. In ihm sind anschaubar zusammengefaßt alle Naturpotenzen, aber so, daß sie über sich hinauskommen, über ihre niederen Formen, und sich zu einer Schicht der Freiheit erheben. Im menschlichen Leib geht die Natur unmittelbar in die Geschichte ein. Das Kommen des Reiches Gottes ist von der Heilung des menschlichen Leibes begleitet. Wie Jesus dem Rufer erwidert, wird der Christus an seiner K r a f t zu heilen erkannt werden. Die Jünger empfangen die Gabe des Heilens, weil sie zum neuen Sein gehört. Im Leib Christi ist die Natur mit Geschichte geeint. In der „Mitte der Ge116

schichte" erreicht die Natur ihre Erfüllung im Leib, welcher das vollkommene Organ und Erlebnis des Geistes ist. Dies bildet die Grundlage für das Abendmahl als Sakrament. Die bisher gegebenen Beispiele betreffen die Mächtigkeit der Naturdinge. Im Prinzip ist kein Bereich derartiger Gegenstände von einer sakramentalen Betrachtung ausgeschlossen. Es gibt aber auch eine Mächtigkeit der Naturlage, der Konstellationen der Naturdinge. Wir beziehen uns auf den alten und auch auf den neuen Glauben daran, daß derartige Konstellationen etwas ausdrücken, das aus ihnen herausgelesen werden könnte. Das berühmteste Beispiel eines solchen Glaubens ist die astrologische Naturauffassung. Wir müssen bei ihrer Beurteilung zweierlei unterscheiden: die allgemeine Voraussetzung der gegenseitigen Abhängigkeit aller Teile des Universums und der kosmischen Determiniertheit des Einzelwesens einerseits und die Methode, besondere Formen dieser Abhängigkeit zu entziffern und zu berechnen andererseits. Während letztere keine überzeugende methodische Grundlage aufweist, liegt jene mit eingeschlossen in der Konzeption des Kosmos oder Universums selbst und sowohl in der philosophischen als auch in der theologischen Voraussetzung, daß alles am Grund und an der Struktur des Seins teilhat und folglich in Einheit mit dem Ganzen verstanden werden kann und muß. Situationsmächtigkeit liegt auch vor bei den Rhythmen des Naturgeschehens wie Tag und Nacht, Sommer und Winter, Säen und Ernten, bei den natürlichen Rhythmen des menschlichen Lebens wie Geburt, Geschlechtsreife, Arbeit und Ruhe, Reife und Tod. Die Mächtigkeit dieser Natursituationen hat jederzeit Anlaß gegeben, sie zu Trägern sakraler Mächtigkeit werden zu lassen. Die meisten Weihen und Feste haben hier ihren Ursprung. Ein Wissen um die Mächtigkeit in diesen Naturrhythmen spielt noch im jüdischen und christlichen Geschichtsdenken und seiner heilsgeschichtlichen Idee eine wesentliche Rolle. Das Verschmelzen der heidnischen Feste mit den größten christlichen Festen hat seine Wurzeln in der historisch-realistischen Naturauffassung des Christentums. Diese Beispiele, die beinahe beliebig vermehrt werden könnten, mögen genügen. Aber einem Naturgeschehen - dem wichtigsten für die protestantische Haltung zur Natur - muß beträchtliche Aufmerksamkeit gewidmet werden, nämlich dem Wort. Wie jeder andere Naturgegenstand und Naturkomplex hat das Wort ursprünglich magische Bedeutung. Es hat eine Mächtigkeit an sich wie z. B. das heilige Wort Om in Indien, die Anrufungen und Zauberformeln in der ganzen Welt und die Reste dieses Grundgefühls in den liturgischen Formeln der 117

christlichen Kirche. Tatsächlich ist das Gefühl für diese Mächtigkeit immer so groß gewesen, daß jeder Vorschlag einer Änderung einiger dieser Worte dem fanatischsten religiösen Widerstand begegnen würde. Diese Tatsache beweist, daß es nicht der Sinn als solcher ist, der auf verschiedene Weise ausgedrückt werden könnte, sondern daß eine innewohnende magische oder pseudomagische Mächtigkeit entscheidend ist. In geradem Gegensatz zum magischen steht das technische Wort, wie es z. B. in handelsüblichen Schützmarken verwendet wird. Die besten Beispiele für diesen T y p finden wir in künstlichen Worten wie z . B . H A P A G oder A E G oder dem Versuch des Esperanto, eine rein technische Umgangssprache zu schaffen. Der gleiche Sinn könnte durch ein völlig anderes Zeichen ausgedrückt werden. Und doch kann nicht übersehen werden, daß ein geschickt gewähltes technisches Wort eine eigentümliche Suggestivkraft und damit wieder eine neue Mächtigkeit hat. Das ästhetische oder schöne Wort überschreitet sowohl das magische als auch das technische Wort, obwohl es letztlich im magischen Gebrauch des Wortes wurzelt - wir sprechen immer noch vom Zauber der Poesie. Aber der Zauber eines Gedichtes wird durch die ästhetische Form vermittelt, in welcher Klang, Rhythmus und Sinn geeint sind. Ende des 19. Jahrhunderts wurde gegen die Banalisierung des ästhetischen Wortes in Poesie und Prosa gekämpft. „Banal" ist eine Kennzeichnung für Wörter, die ihre ursprüngliche Mächtigkeit durch den täglichen Gebrauch und Mißbrauch verloren haben oder durch das Verschwinden eines ursprünglichen mächtigen Sinnes, der in ihnen sich verkörperte. Nietzsche, Stefan George, Rainer Maria Rilke und viele andere versuchten, die Sprache vor dieser Art der Degeneration zu retten. Sie kämpften einen verzweifelten und nicht immer erfolgreichen Kampf gegen die Zersetzung der Sprache als einer geistigen Mächtigkeit in einer Welt der Massenverständigung und des ständigen Absinkens des geistigen Niveaus. Im Katholizismus wie im Protestantismus haben die Bewegungen der Kultreform in der gleichen Weise gearbeitet. Aber es genügt nicht, die Sprache von solchen Zeiten, die größere Mächtigkeit des geistigen Ausdrucks als unsere Zeit besaßen, wieder zu entdecken und zu gebrauchen. Es ist notwendig, Ausdrucksformen zu finden, die unserer eigenen Situation angemessen sind, Worte, in denen der transzendente Sinn der Wirklichkeit durch eine vollkommen realistische und konkrete Sprache hindurchscheint, die Sprache des gläubigen Realismus. Nur auf diesem Boden kann der Protestantismus ein neues sakramentales Wort schaffen. Es gibt noch viele andere Bereiche und Elemente der Natur, deren Beziehung zum sakramentalen Denken erörtert werden könnte. Die ge118

gebenen Beispiele sollen einen Weg zeigen, auf dem der Protestantismus sowohl in seinem Kultus als auch in seinem Ethos eine stärker bejahende Haltung zur Natur erreichen könnte. Das Fehlen einer solchen Haltung hat vor allem zum Aufstieg eines antichristlichen Naturalismus beigetragen, der nicht nur wissenschaftliche, sondern viel stärker noch gefühlsmäßige Wurzeln hat: die religiöse Abwertung der Natur wurde mit einer naturalistischen Abwertung der Religion beantwortet.

VI. Sakramentale

Gegenstände

Sakramental sind alle Gegenstände und Vorgänge, in denen das Seinsjenseitige in einem Seienden gegenwärtig angeschaut wird. Sakramentale Gegenstände sind heilige Gegenstände, geladen mit göttlicher Mächtigkeit. Auf dem Boden der magischen Naturauffassung ist grundsätzlich jedes Wirkliche heilig, wobei eine Differenzierung von göttlicher und dämonisdier, reiner und unreiner Heiligkeit noch nicht gegeben ist. Das Unreine und das Heilige können auf dieser Stufe noch identisch sein. Die Bedeutung der prophetischen Kritik liegt darin, daß sie die unmittelbare Verbindung von heilig und gegenwärtig löst. Für die Propheten ist das Heilige in erster Linie das Geforderte. Es gibt keine Heiligkeit ohne Erfüllung des Gesetzes. Heiligkeit und Reinheit verbinden sich. Das Unreine wird aus dem Heiligkeitsbegriff ausgeschieden. In dem Maße, in dem das geschieht, zerbricht die ursprüngliche sakramentale Naturauffassung. Die Natur als solche wird ihres heiligen Charakters entkleidet und wird profan. Der unmittelbare Umgang mit ihr hat keine religiöse Bedeutung. Die rituellen Forderungen verwandeln sich in sittliche (und technische). Aber das sakramentale Denken verliert seine Macht nicht. Es kann nie ganz aus dem Bewußtsein schwinden. Ohne gegenwärtiges Heiliges wird das geforderte Heilige abstrakt und ohnmächtig. Noch in Hegels Satz, daß die Idee nicht so ohnmächtig sei, sich nicht verwirklichen zu können, klingt sakramentales Bewußtsein nach und wendet sich gegen die antisakramentale, nur kritische, nur moralische Haltung der Aufklärung. Gilt das sogar für die profane Sphäre, so um so mehr für die religiöse. Keine Kirche ist ohne sakramentale Elemente möglich. Mag die prophetische Kritik auch noch so sehr jedes Ruhen auf dem gegenwärtigen Heiligen unmöglich machen, mag sie noch so sehr jede Fixierung, jede Vergegenständlichung der Sakramente bestreiten, sie kann den sakramentalen Hintergrund nicht auflösen, von dem aus sie selbst überhaupt erst möglich wird. Wie die alttestamentliche Prophe-

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tie in ihrem gewaltigen Kampfe gegen den dämonischen Sakramentalismus, in den die Jahwe-Religion geraten war, immer gebunden blieb an den sakramentalen Gedanken des Bundes zwischen Gott und Volk, so blieb die protestantische Kritik an dem römischen Sakramentalismus immer gebunden an die Schrift als unmittelbaren Ausdruck der Gegenwart des Göttlichen in Jesus Christus. Alle sakramentale Wirklichkeit auf christlichem und auf protestantischem Boden geht auf dieses neue Sein in Christus zurück, und keine protestantische Kritik wäre denkbar, in der dieses Sein selbst aufgelöst würde. Ist aber die Gegenwärtigkeit des Heiligen Voraussetzung jeder religiösen Wirklichkeit und jeder Kirche, einschließlich der protestantischen, so gehört auch die Aufnahme der Natur in die sakramentale Sphäre zur Voraussetzung des Protestantismus; denn es gibt nichts Seiendes ohne Naturbasis. Das gilt sogar von der Persönlichkeit. W o Heiliges in einer Persönlichkeit als gegenwärtig angeschaut wird, wenn die Persönlichkeit jene Transparenz für das Göttliche aufweist, die den Heiligen zum Heiligen macht, dann drückt sich dies nicht nur in ihrem geistigen Leben aus, sondern in ihrer ganzen leibseelischen Wirklichkeit. Die Bilder und Bildwerke der Heiligen wären bedeutungslos ohne die Voraussetzung, daß ihre Heiligkeit in ihren Leibern und insbesondere in ihren Gesichtern sich ausdrückt. Heiligkeit ist nicht sittlicher Gehorsam, sondern „heiliges Sein" - eine Substanz, aus der Sittlichkeit und andere Konsequenzen folgen. Der „gute Baum" geht den „guten Früchten" voraus. W o aber das „heilige Sein" als das prius der heiligen T a t angenommen wird, da wird auch das Grundgesetz jeden sakramentalen Denkens angenommen: die Gegenwart des Göttlichen, seine Transparenz in Natur und Geschichte.

VII. Protestantismus und

Sakrament

Das protestantische sakramentale Denken kann nicht zu einem magischen Sakramentalismus, wie ihn die katholische Lehre bis in die Gegenwart bewahrt hat, zurückkehren. Auf protestantischem Boden darf es keinen Rückfall in eine vorprophetische oder vorprotestantische Haltung geben. Das bedeutet zuerst und vor allem: es gibt keinen sakramentalen Gegenstand, abgesehen von dem Glauben, der ihn ergreift, weil er von ihm ergriffen ist. Abgesehen von der Korrelation Glaube - Sakrament gibt es kein Sakrament. Daraus folgt weiter, daß ein Sakrament niemals zu einem Ding gemacht werden kann, einem Gegenstand unter 120

anderen Gegenständen. Die Naturmächtigkeit als solche schafft kein Sakrament. Sie kann nur Träger sakramentaler Mächtigkeit werden. Freilich, ohne einen solchen Träger gibt es keine sakramentale Mächtigkeit, gibt es keine Gegenwärtigkeit des Heiligen. Aber der Träger an und für sich macht nicht das Sakrament. Auf christlichem Boden ist weiter zu beachten, daß ein reines Natursakrament überhaupt nicht möglich ist. Wo die Beziehung zur Heilsgeschichte fehlt, bleibt die Natur in der Zweideutigkeit. Erst durch die Beziehung zur Heilsgeschichte wird sie entdämonisiert und damit im christlichen Sinne sakramentsfähig. Sie wird nicht etwa entmächtigt. Das würde bedeuten, daß sie in ihrer Existenz aufgehoben würde, denn die Mächtigkeit der Dinge ist ihre Seinsmächtigkeit, ihre Ohnmacht wäre Seinsohnmacht. Wo Sein mehr ist als eine logische Kategorie, bedeutet es Macht oder Mächtigkeit. Die Welt schaffen heißt, der Welt Mächtigkeit geben. Diese ihre Mächtigkeit bleibt ihr, auch wenn sie dämonisch verzerrt ist. Nicht wegen der angeblichen Ohnmacht der Natur kann es auf christlichem Boden kein endlicher Vorgang wäre ausgeschlossen, sofern er Träger transzendenter Mächtigkeit würde und einbezogen in die Heilsgeschichte, ist sie entdämonisiert und sakramentsfähig. Aus diesen Voraussetzungen könnte nun gefolgert werden, daß die protestantische Naturauffassung grundsätzlich jeder Wirklichkeit sakramentale Qualitäten geben dürfte. Kein endlicher Gegenstand und kein endlicher Vorgang wäre ausgeschlossen, sofern er Träger würde transzendenter Mächtigkeit und einbezogen in die Heilsgeschichte. Grundsätzlich trifft das in der Tat zu, tatsächlich nicht. Unsere Existenz wird nicht nur durch die Allgegenwart des Göttlichen bestimmt, sondern auch durch unsere Trennung von ihm. Könnten wir das Heilige in jeder Wirklichkeit sehen, lebten wir im Reich Gottes. Aber das trifft nicht zu. Das Heilige erscheint nur an besonderem Ort, in besonderen Zusammenhängen. Die Konzentration des Sakramentalen an bestimmten Orten, in bestimmten Riten ist der Ausdruck für die zweideutige Situation des Menschen. Das Heilige ist allgegenwärtig insoweit, als der Seinsgrund nicht weit von jedem Seienden ist; das Heilige ist dämonisiert wegen der Trennung des unendlichen Seinsgrundes von jeder endlichen Wirklichkeit. Und schließlich ist das Heilige manifest in seiner Macht, das Dämonische zu überwinden an gesonderten Orten, letztlich an einem Ort, in Jesus als dem Christus. Das Gefährliche dieser Situation liegt darin, daß die „gesonderten Orte", die eigentümlichen Materialien, die rituellen Handlungen, die mit einem Sakrament verbunden sind, für sich selber Heiligkeit beanspruchen. Aber ihre Heiligkeit ist nur repräsentativ für das, was wesensmäßig möglich

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ist in jedem und an jedem Ort. Das Brot des Sakraments steht für alles Brot und letztlich für die ganze Natur. Dies Brot an sich ist kein Gegenstand sakramentaler Erfahrung, wohl aber das, für das es steht. Im Protestantismus hat jedes Sakrament repräsentativen Charakter, der auf die Universalität des Sakramentsprinzips hinweist. Der repräsentative Charakter der sakramentalen Gegenstände oder Vorgänge bedeutet nun nicht etwa, daß es willkürlich möglich ist, Sakramente zu schaffen und beliebig auszutauschen. Sakramente entstehen, wenn die Mächtigkeit eines Natürlichen für den Glauben zum Träger sakramentaler Mächtigkeit wird. Sakramente können nicht wilkürlidi geschaffen werden, das ist vielmehr Sache des historischen Schicksals. Alle sakramentale Wirklichkeit beruht auf einer Tradition, die niemals willkürlich verlassen oder vertauscht werden kann. Aber sie kann durch prophetische Kritik zerstört werden. Von der protestantischen Kritik sind die weitaus meisten sakramentalen Elemente der katholischen Tradition in Frage gestellt und auf protestantischem Boden beseitigt worden. Dabei ist es aber nicht geblieben. Die weitere Entwicklung des Protestantismus war dem Sakrament so ungünstig, daß auch die beiden übriggebliebenen Sakramente ihre Bedeutung verloren und allein das Wort mit echt sakramentalem Charakter übrigblieb. Auch in der gegenwärtigen Erneuerung der reformatorischen Theologie spielt das Wort eine große, die eigentlichen Sakramente gar keine Rolle. Das Absterben der protestantischen Sakramente ist schwer zu verkennen. Natürlich können sie bei dem Konservatismus aller sakralen Form noch eine sehr lange Dauer haben. Auch Erneuerungen in der einen oder anderen Form sind keineswegs ausgeschlossen. Entscheidend aber ist, daß auf protestantischem Boden die Stellung zum Sakramentalen überhaupt verändert wird. Von oberster Bedeutung für eine solche Entwicklung ist ein neues Verständnis für die Naturmächtigkeiten, die in das Sakrament eingehen. Dazu gehört ferner die Einsicht, daß auch das Wort eine Naturgrundlage hat und damit der übliche Gegensatz von Wort und Sakrament hinfällig wird. Wir müssen das Inadäquate des „protestantischen Personalismus" erkennen und die Tendenz überwinden, unsere ganze Aufmerksamkeit auf die sogenannte Persönlichkeit Jesu zu richten statt auf das neue Sein, das er in seiner Person ausdrückt. Wir müssen die unbewußten und unterbewußten Schichten unserer Existenz berücksichtigen, damit unser ganzes Sein ergriffen, erschüttert und umgewendet werden kann. Sonst verbleiben diese Schichten in einem Zustand religiöser Verkümmerung. Die Persönlichkeit wird intellektuell und verliert die Beziehung zu ihrer eigenen vitalen Basis. Das ungeheure Aus122

maß der Profanierung auf protestantischem Boden ist teilweise zu verstehen durch das Zerbrechen seiner sakramentalen Grundlagen. Darum ist die Lösung des Problems „Natur und Sakrament" gegenwärtig eine Schicksalsfrage des Protestantismus. Lösbar ist diese Frage aber nur im Zusammenhang einer Naturanschauung, die den Mächtigkeiten der Natur gerecht wird. Wird die Natur entmäditigt, so wird das Sakrament willkürlich und bedeutungslos. Selbstverständlich kann nidit die Naturmächtigkeit allein ein christliches Sakrament schaffen. Sie muß aus ihrer dämonischen Gebundenheit gelöst werden. Und das geschieht, wenn die Natur ein sakramentales Element wird.

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DIE

BLEIBENDE

BEDEUTUNG DER KATHOLISCHEN FÜR D E N

KIRCHE

PROTESTANTISMUS

Auf zweifadie Weise erfährt der Mensch das Heilige: als Gabe und als Forderung. Die „Heiligkeit des Seins" und die „Heiligkeit des Sollens" sind Elemente jeder Religion. Das Vorherrschen des einen oder des anderen Elements bestimmt den besonderen Typus einer jeden Religion. Wird das Heilige vornehmlich als Gabe oder als Heiligkeit des Seins verstanden, haben wir den sakramentalen Religionstypus. Wird aber das Heilige als Forderung oder als Heiligkeit des Sollens verstanden, so sprechen wir vom eschatologischen Religionstypus. Der sakramentale Typus wird durch den Priester, der eschatologische durch den Propheten repräsentiert. Das führt zu den Hauptthesen der folgenden Abhandlung: Der Katholizismus gehört zum priesterlichen Typus des Christentums, obwohl es ihm an eschatologischen Elementen nicht fehlt; und der Protestantismus gehört zum prophetischen Typus des Christentums, obwohl ihm sakramentale Elemente nicht fehlen. Die bleibende Bedeutung der katholischen Kirche für den Protestantismus liegt nun darin, daß sie das priesterliche und sakramentale Element in großer Mächtigkeit repräsentiert, während es im Protestantismus nur schwach zum Ausdruck kommt. Diese Schwäche ist die spezifische Gefahr des Protestantismus. Seit den frühsten Tagen der Christenheit hat der Katholizismus Schritt für Schritt die ungeheure Spannung der apostolischen Zeit ausgeschaltet, nämlich das Gefühl, daß wir in dem kurzen, aber entscheidenden Zeitraum zwischen dem ersten und zweiten Kommen des Christus leben. Die Kirche etablierte sich als die Verkörperung des gegenwärtigen Heiligen, des Heiligen, das gegeben ist zuerst im Christus, dann in der Gemeinschaft des Geistes, dann in jedem Einzelnen, der mittels der Hierarchie die sakramentalen Gnaden empfängt. Der Priester, der das Heilige verwaltet, hat sakramentale Macht besonders in der Messe, wenn er die irdischen Elemente in heilige Substanz verwandelt. Die Hierarchie ist die sichtbare und unfehlbare Verkörperung des Heiligen als Gabe. Prophetische Kritik am System selbst ist unmöglich. Die Kir124

die kann weder durch endgerichtete Forderungen noch durch eschatologische Erwartungen transzendiert werden. Nicht nur im eigenen Bereich, auch auf den verschiedensten Gebieten des profanen Lebens hat sie letztgültige Autorität. Denn das Heilige ist Kriterium und Richter des Profanen. Wo das Heilige sichtbar gegenwärtig ist, da ist es die Quelle und das Maß alles Menschlichen. Dieser Anspruch ist kein gewöhnlicher Machtwille, sondern die logische Folge der sakramentalen und priesterlichen Grundlage des katholischen Systems. Der römische Katholizismus ist ein totalitäres, das gesamte Leben umfassendes System, das das Leben des Einzelnen in jeder Hinsicht von der Geburt bis zum Tod bestimmt, das die letzte Beherrschung der öffentlichen Meinung in allen sozialen und kulturellen Gruppen beansprucht. Wenn das Heilige in irgendeiner Gruppe gegenwärtig und sichtbar verkörpert ist, dann hat diese Gruppe göttlichen, universalen und unbedingten Autoritätsanspruch. Selbst die mystische Erhebung des Einzelnen über die Kirche ist von seinem Teilhaben an der heiligen Gemeinschaft abhängig. Nur die sakramentale Vereinigung ermöglicht eine persönliche, direkte und unmittelbare Beziehung zum Göttlichen. Auch die prophetische Kritik an der Kirche hat kein Fundament, wenn sie sich gegen ihre strukturellen und dogmatischen Grundlagen richtet. Der Protestantismus ist der prophetische Protest gegen die sakramentale Interpretation des Evangeliums. Er ist die prophetische Kampfansage an die priesterliche Umwandlung der ursprünglichen „Gemeinde Gottes". Er ist die revolutionäre Wiederherstellung der eschatologischen Haltung in bezug auf die christliche Existenz in Zeit und Geschichte. Aus dieser Haltung heraus muß der Protestantismus zunächst die sichtbare Gegenwart des Heiligen in einer sozialen Gruppe, und sei es die Kirche, verneinen. Nur für den Glauben ist die Kirche die Verkörperung des Heiligen, die Manifestation des Göttlichen; die organisierten, sichtbaren Kirchen haben keine göttliche Autorität und können keine Gnaden vermitteln. Sie können nur die eine Gnade verkündigen, in deren Mittelpunkt die Sündenvergebung steht; und diese müssen sie nicht nur ihrer Gemeinde, sondern auch sich, selbst predigen. „Die Reformation geht noch fort" (Schleiermacher), und nur soweit hat die Kirche Autoritätsanspruch, wie sie die prophetische Kritik ständig gegen sich selbst richtet. Es gibt weder Priester noch Hierarchie, noch sakramentale Macht als solche. Jeder ist Laie, und jeder ist zum Priester berufen. Die Kirche als solche besitzt keine Autorität über die profane Kultur. Staat, Wissenschaft, Wirtschaft, Gesetzgebung sind autonom und unterstehen nur der gleichen prophetischen Kritik, die die Kirche gegen sich selbst richtet. Der einzelne Christ steht in einer un125

mittelbaren Beziehung zum Göttlichen, das nicht in sakramentalen Institutionen, sondern im Wort von der Vergebung und Erwartung manifest wird. Es gibt weder Heilige noch Mönche, weder Heiligkeitsgrade noch geheiligte Mächte. Jeder untersteht ständig dem Gericht und steht in der gleichen Entfernung zum Göttlichen, das allein Majestät, Autorität und Heiligkeit hat. Der Unterschied zwischen den beiden Typen ist nicht zu übersehen. Er bezieht sich auf jedes ihrer Elemente, auch auf die, die ähnlich zu sein scheinen. Ebensowenig aber ist zu übersehen, daß beide das Christentum in einer geschichtlich gewordenen Gestalt verkörpern, die seine umfassende Bedeutung nicht ausschöpft: Der Protestantismus verdankt seinen machtvollen Aufstieg der Verzerrung und „Dämonisierung" der sakramentalen und priesterlichen Struktur der katholischen Kirche. Die machtvolle Existenz des Katholizismus ist eine Folge der Entleerung und Säkularisierung der eschatologischen und prophetischen Struktur des Protestantismus. Der Protestantismus braucht das ständige Korrektiv des Katholizismus und den immerwährenden Zustrom seiner sakramentalen Elemente, um am Leben zu bleiben. Der Katholizismus mahnt durch seine bloße Existenz den Protestantismus an seine sakramentale Grundlage, ohne die seine prophetisdi-eschatologische Haltung weder Fundament noch Substanz, noch schöpferische K r a f t hat. Der Katholizismus repräsentiert die Wahrheit des Faktums, daß die „Heiligkeit des Seins" der „Heiligkeit des Sollens" vorangehen muß, und daß ohne die „Mutter", die priesterlich-sakramentale Kirche, der „Vater", die prophetischeschatologische Bewegung, wurzellos wäre. Sonst artet er leicht in kulturellen Aktivismus und moralischen Utopismus aus. Er hört auf, prophetisch zu sein und gleitet ab ins Politische oder Pädagogische oder Wissenschaftliche. Er verliert seinen religiösen Charakter und wird zu einer profanen, von weltlichen Gruppen getragenen Bewegung. Gerade in Amerika steht der Protestantismus seiner Denominationen wegen in dieser Gefahr. Mit der Fülle seiner Erscheinungsformen bedeutet der Katholizismus für den Protestantismus eine ständige Bedrohung, die ihn vor dem Absinken in einen oberflächlichen, mit religiöser Phraseologie durchsetzten Säkularismus bewahrt. Dies trifft mehr noch auf den frühen und mittelalterlichen Katholizismus als auf seine gegenreformatorische und heutige Form zu. Es bezieht sich auf den griechischen Katholizismus mehr als auf den römischen und verleiht dem anglikanischen „Mittel-Weg" große Bedeutung. In all diesen Formen des Katholizismus wird der sakramentale Charakter der Kirche - und infolgedessen der Kirche als Kirche - betont. 126

D a dem modernen Protestantismus das Verständnis für Wesen und Bedeutung der Kirche in großem Maße fehlt, muß versucht werden, es mit Hilfe dieser katholischen Erscheinungsformen des Christentums wieder zu gewinnen. Die Kirche ist die Ursache, nicht die Folge der persönlichen Frömmigkeit. Sie ist nicht ein Werk der Frommen, sondern die Frommen sind das Produkt der Kirche. Nicht die moralische Vollkommenheit der Gemeinde verursacht die Heiligkeit der Kirche, sondern die Heiligkeit der Kirche heiligt die Gemeinde durch die Verkündigung der Sündenvergebung und die Hinführung zum „Neuen Sein", auf dem die Kirche ruht. Nicht die religiöse Erfahrung der Christen schafft die Lehre der Kirche, sondern die Wahrheit, die das Fundament der Kirche bildet, ist die Quelle vielfältiger religiöser Erfahrungen, deren keine sie ausschöpfen kann. Immer mehr wird sowohl im europäischen wie im amerikanischen Protestantismus die Wichtigkeit einer Lehre von der Kirche hervorgehoben. Diese Einsicht ist teilweise der Zusammenarbeit der calvinistisch beeinflußten Form des Protestantismus mit der griechisch-orthodoxen, anglikanischen und lutherischen Kirche in der ökumenischen Bewegung zu verdanken; teilweise hängt sie mit dem Zusammengehen von Protestantismus und römischen Katholizismus in ihrem Widerstand gegen den säkularen Totalitarismus zusammen. Eine weitere Ursache ist die innere Schwäche aller protestantischen Kirchen und die brennende Frage nach einem neuen Grund ihres Lebens und Denkens nach dem Vorbild des frühen katholischen Christentums. Die erste und grundlegende Bedeutung des Katholizismus für die protestantischen Kirchen liegt in dem Faktum, daß der Katholizismus den sakramentalen Gedanken der Kirche aufrechterhalten hat, nämlich jene Auffassung, daß die Kirche die Gegenwart des Göttlichen repräsentiere, die gegeben ist, noch ehe der Einzelne das Göttliche erfährt im persönlichen Erleben und Handeln. Damit ist natürlich nicht gemeint, daß der Protestantismus die römisch-katholische Verzerrung und Dämonisierung der sakramentalen Idee der Kirche anerkennen müsse, d.h. die Identifizierung von organisierter Kirche mit der Gegenwart des Göttlichen in der Geschichte und dem daraus folgenden Absolutheitsanspruch dieser Kirche. Der Protestantismus würde sich selbst, seine prophetische Haltung und seinen eschatologischen Charakter aufgeben, wenn er jemals diesen Anspruch anerkennen würde. Doch muß der Protestantismus der Notwendigkeit eines neuen Verständnisses für die sakramentale Grundlage der Kirche zustimmen, wie sie ja in der gesamten katholischen Tradition stets aufrechterhalten wurde und bei der Mehrzahl der protestantischen, vor allem der lutherischen Kirchen, 127

nie völlig verlorengegangen war. Das Wichtigste ist die Bereitschaft der Kirche, erst zu empfangen und dann zu handeln, und nicht umgekehrt, die Bereitschaft, das „Neue Sein" anzunehmen, auf das sie gegründet ist, nämlich die entscheidende Offenbarung des Göttlichen in Jesus als dem Christus, und dann nach seinen aus dem „Neuen Sein" abgeleiteten Geboten zu handeln. Die sorgfältige Ausarbeitung dieses Gedankens kann nur im Zusammenhang mit einer umfassenden Lehre von der Kirche geschehen - eine der dringendsten Aufgaben des Protestantismus. Aus der hier dargestellten grundlegenden Bedeutung des Katholizismus für die protestantischen Kirchen, die im Hinweis auf das sakramentale Fundament der Kirche liegt, ergeben sich weitere wesentliche Gesichtspunkte. Unsere gegenwärtige geschichtliche Situation läßt das Wiederaufgreifen des kirchlichen Autoritätsgedankens als besonders wichtig erscheinen. Im Kampf der autoritären politischen Systeme repräsentiert nur die katholische Kirche ein entsprechendes religiöses Autoritätssystem. Einerseits liegt dies am sakramentalen Charakter der katholischen Hierarchie, andererseits an der legalistischen Struktur des hierarchischen Systems. Das letztere unterscheidet die katholische Kirche von den anderen Erscheinungsformen des Katholizismus. Keine protestantische Kirche hat es je übernommen und wird es in Zukunft übernehmen können. Das kanonische Gesetz als Konkurrent des Staatsgesetzes bringt die kirchliche Autorität auf die Ebene der politischen Autorität und schafft jene Art von politischem Katholizismus, dessen katastrophale Folgen sich in der gesamten Kirchengeschichte bis zum diplomatischen Verhalten des Vatikans in der heutigen Weltsituation bemerkbar machen. Auf diese Weise können jedenfalls die protestantischen Kirchen ihre Autorität nicht wiedererlangen. Sie müssen aber einen Weg finden und zu einer neuen Autorität gelangen, um unserer gegenwärtigen revolutionären Geschichtsperiode gewachsen zu sein. Nicht die legale, sondern die sakramentale Seite der katholischen Autorität muß heute vom Protestantismus aufgenommen und neu interpretiert werden. Sogar die prophetische Botschaft muß von einer Autorität getragen sein, damit die Menschen aufhorchen. In Israel konnten die Propheten wenn auch nur von einer kleinen Minderheit des Volkes - verstanden werden, weil sie die Autorität des sakramentalen Bundes zwischen Gott und dem Volk für sich in Anspruch nehmen konnten; außerhalb Israels aber konnte man sie nicht verstehen. Jesus legte das Gesetz auf der Grundlage des Gesetzes neu aus, obwohl er darüber hinausging. N u r ein Volk, das seit Jahrhunderten nach diesem Gesetz und dessen Hütern 128

erzogen war, konnte ihn begreifen. Die Sektenbewegungen waren abhängig von der durch die Großkirche bewahrten christlichen Substanz, obwohl sie sich von ihr lösten. Luthers neue Auslegung der Rechtfertigung durch den Glauben konnte nur den Menschen etwas bedeuten, die nach dem kirchlichen Gesetz erzogen waren - die germanischen und romanischen Völker. Die sakramentale und priesterliche Autorität der Kirche war die Voraussetzung für die gegen sie gerichteten eschatologischen und prophetischen Bewegungen. F ü r die protestantischen Kirchen ist das Autoritätsproblem ein höchst schwieriges und dringendes. D i e durch das industrielle Zeitalter geschaffenen Massen, die ohne Gesichertheit, ohne Symbole, ohne einleuchtenden Lebenssinn dahinleben, haben ein Verlangen nach neuen Autoritäten, und sie ergreifen sie, wo immer sie sie finden können. Hier liegt eine Chance für alle autoritären Systeme, den römischen Katholizismus eingeschlossen. Es fragt sich nun, ob in diesem Zeitalter revolutionärer Umwälzungen der nicht-autoritäre Protestantismus jede Chance verloren habe. Diese Frage fordert eine Antwort. Es muß gezeigt werden, ob eine solche Chance besteht und wie sie auf protestantische Weise gebraucht werden kann. Nach dem so langen Vorherrschen der kritisierenden und trennenden G e w a l t des protestantischen Prinzips muß man seine aufbauende und einigende K r a f t wieder herausarbeiten. U n d bei dieser A u f g a b e kann der Katholizismus die mahnende und hinweisende, wenn auch nicht die führende Rolle übernehmen, d a der Protestantismus nie die unfehlbare Autorität einer Hierarchie anerkennen kann. Er muß ernsthaft von der Geschichte lernen und fähig sein, sich in der Geschichte zu wandeln. Gleichzeitig aber muß er seine unwandelbare Grundlage, das „ N e u e Sein", so in Symbolen und in Persönlichkeiten repräsentieren können, daß er für die Massen wie f ü r den Einzelnen zu einer neuen Autorität wird. D i e Desintegration der Massen in unserer Periode wird in dem F a k tum deutlich, daß es keine verpflichtenden und einigenden Symbole mehr gibt. V o n Jahrzehnt zu Jahrzehnt verminderte sich die Symbolk r a f t der christlichen Symbole. Beide Kirchen sind d a f ü r verantwortlich: die katholische Kirche, weil sie die Symbole magisch interpretierte, die protestantische Kirche, weil sie sowohl in der orthodoxen wie in der liberalen Theologie sie ihres Geheimnisses beraubte. Außerdem hat der Protestantismus noch den größten Teil der Symbole, in denen der Katholizismus lebt, entwertet und ausgemerzt. Bei einigen Formen des Protestantismus hat dieser Anti-Symbolismus die Kirche in eine Art Schule oder in ein humanitäres Unternehmen verwandelt. Wenn der Protestantismus auch nicht den Versuch machen soll, ab129

genutzte Symbole wieder einzusetzen, so sollte er doch den eigentlichen Sinn der Symbole wieder herausstellen, ihre falsche Interpretation als bloße Zeichen ablehnen und versuchen, die K e i m e eines neuen Symbolismus f ü r unsere Zeit aufzufinden. Dies gilt nicht nur für Kultus und Lehre, sondern für das gesamte praktische Leben der Kirche. Vielleicht kann man, ohne zu übertreiben, die Behauptung wagen, daß im Protestantismus schon eine derartige Bewegung angefangen hat. Man versucht, die großen Symbole der frühen Kirche neu zu verstehen, und z w a r sowohl die rituellen wie die lehrhaften, und hat dabei die katholische Tradition, in der sie bewahrt sind, als Unterstützung. Für den Protestantismus ist es außerordentlich bedeutsam, daß der bestehende Kultus und das Symbolsystem der römisch-katholischen Kirche immer noch - trotz der abstoßend magischen, abergläubischen und hierarchischen Züge - das Gemüt unzähliger Menschen stark bewegt, die eben hier den sakramentalen Geist erleben, der in den meisten protestantischen Kirchen, z. B. bei ihrer Art, die ihnen noch gebliebenen Sakramente zu behandeln, verlorengegangen ist. Die Gegenwart des Heiligen im katholischen Kultus läßt direkt und indirekt in den Protestantismus und Humanismus unaufhörlich priesterliche Substanz einströmen. D i e K u n s t und Literatur der vergangenen Jahrhunderte sind die Hauptzeugen für diesen so wichtigen Prozeß. In enger Beziehung zum katholischen Symbolismus steht die katholische Mystik. D a s Prinzip der Mystik ist ein Erlebnis des Göttlichen jenseits der speziellen religiösen Symbole. Nicht zufällig geschah es, daß das moralistische Verständnis des Christentums durch die theologischen Kantianer sich mit einem heftigen Angriff gegen jede Art von Mystik verband, und ebensowenig zufällig ist es, daß in den angelsächsischen Ländern die Verbindung von Protestantismus und Empirismus dem wachsenden Aktivismus der technisierten Welt Vorschub leistete und die mystischen Elemente des Christentums verbannte. Selbst in der neu-orthodoxen Richtung der sogenannten dialektischen Theologie kommen starke antimystische Züge zum Ausdruck. Der Protestantismus wird wegen seines prophetisch-eschatologischen Charakters antimystisch, sobald er mit dem Rationalismus in Berührung kommt. Doch ist er an sich nicht antimystisch. E r ist es deshalb nicht, weil das „Mystische" eine wesentliche und allgemeine Kategorie der Religion als solcher ist, die von der großen Mystik als einer speziellen Ausformung des Religiösen unterschieden werden muß. Es gibt sogar eine charakteristische protestantische Mystik. U n d in allen Arten des Protestantismus, die ihren religiösen Charakter bewahrt haben, w a r und ist d a s mystische Element vorhanden. In beiderlei Hinsicht ist es falsch und 130

gefährlich, die Mystik als unprotestantisch zu bezeichnen. Keine Religion kann auf die Dauer lebendig bleiben, wenn die Gegenwart des Göttlichen völlig geleugnet wird, wie es häufig geschieht, damit die D i s t a n z zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen betont wird. Selbst wenn diese Distanz religiös verkündigt wird - wie bei den Propheten - , ist die göttliche Gegenwart vorausgesetzt. Man kann nicht von der Majestät Gottes sprechen, ohne von dieser Majestät ergriffen zu sein und ihre unausweichliche Gegenwart erfahren zu haben. U n d das ist Mystik im Sinne der allgemeinen religiösen Kategorie. Darüber hinaus ist Mystik ein spezieller methodischer Weg, um zur Vereinigung mit dem Göttlichen zu gelangen. In diesem Sinne ist Mystik „ W e r k " und widerspricht der Grundlehre des Protestantismus, der Rechtfertigung durch den Glauben. Doch nicht jede mystische H a l t u n g ist Methode und Werk. Ein Protestantismus, in dem Meditation und Kontemplation, Ekstase und „mystische Vereinigung" keinen R a u m mehr haben, hat aufgehört, Religion zu sein; er ist zu einem intellektuellen und moralischen System in traditionellen religiösen Begriffen geworden. Daher ist es zu begrüßen, daß die mystische „Stille" des Gottesdienstes der Q u ä k e r in weite Kreise des Protestantismus, wenigstens als rituelle Form, eingedrungen ist. U m religiös fruchtbar zu sein, muß aber diese Stille mit mystischem Inhalt gefüllt werden, und d a f ü r muß das unerschöpfliche Reservoir der katholischen Mystik den Protestanten erschlossen werden, die unter dem Druck von Aktivismus und Moralismus den Weg zur T i e f e ihrer Seele verloren haben und sie nun mit H i l f e psychoanalytischer und therapeutischer Methoden wiederzugewinnen suchen. Dadurch ist deutlich geworden, woran es der protestantischen Seelsorge mangelt. A u s allem Gesagten scheint hervorzugehen, daß die Bedeutung des Katholizismus für die protestantischen Kirchen in den nicht-rationalen Elementen der Religion liegt. Doch ist dieser Eindruck falsch. Obwohl der Protestantismus fundamentalere Beziehungen zu den humanistischen und autonomen Richtungen der modernen Zivilisation hat als der Katholizismus, repräsentiert der letztere theoretisch und praktisch eine Rationalität, die man in der protestantischen D o g m a t i k und Ethik sehr o f t vermißt. Als erstes sollte die protestantische Theologie mit ihrer Neigung zur Unbestimmtheit, Volkstümlichkeit und Willkür sehr viel von der formalen Klarheit, Folgerichtigkeit und philosophischen Genauigkeit der katholischen systematischen Theologie lernen. Zweitens - und das ist noch viel wichtiger - sollte die protestantische Theologie in der Apologetik wie in der Ethik den Versuch des katholischen Denkens, Offenbarung und Vernunft in Korrelation zu bringen, eben131

so ernst nehmen, wie es einst die alte Kirche getan hat. Verständlicherweise kann der Protestantismus die heteronome Lösung des späteren Katholizismus nicht annehmen, wonach die römische Kirche letztgültige Instanz für Metaphysik und philosophische Ethik ist. Diese Lösung ist eine notwendige Folge des sakramentalen Absolutismus des römischen Katholizismus, und ihre Zurückweisung durch die protestantischen Kirchen ist wiederum eine notwendige Folge ihrer eschatologischen Selbstkritik. D e r Protestantismus jedoch hat niemals eine eigene Lösung entwickelt. Er hat entweder die Offenbarung von der Vernunft abgetrennt und so auf der einen Seite eine in falscher Sicherheit ruhende Orthodoxie, auf der anderen Seite eine in falscher Sicherheit ruhende autonome Zivilisation; oder er hat durch die vollständige Auflösung der Offenbarung in der V e r n u n f t einen religiösen Idealismus und Humanismus geschaffen, in denen die inneren Widersprüche der menschlichen Existenz ganz außer acht gelassen werden. Dies hat viel zu der Schwäche des Protestantismus angesichts der theoretischen und praktischen Probleme einer profanen Welt beigetragen. Nicht in der Lösung des Problems, nur im rechten Verständnis für dessen Wichtigkeit erwies sich der Katholizismus als stärker. D i e protestantischen Kirchen müssen eine Methode finden, die Theologie und Philosophie in die rechte Beziehung zueinander bringt. Sonst werden sie der heutigen Welt nichts mehr zu sagen haben. Sie müssen das Problem, nicht dessen Lösung von der katholischen Kirche übernehmen. Es kann weder der prophetische T y p u s des Christentums auf die Dauer ohne den priesterlichen T y p u s , noch der eschatologische ohne den sakramentalen leben: dies ist kurz gefaßt die Antwort auf die Frage nach der bleibenden Bedeutung der katholischen Kirche für den Protestantismus.

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P R I N Z I P I E N DES

PROTESTANTISMUS1

Religion, Christentum und Protestantismus haben eines gemeinsam, eine Zweideutigkeit, die im Wesen der Gottesidee begründet ist. Religion hat zu tun mit Gott, was immer „Gott" f ü r eine spezielle Religion bedeuten mag. Wie die Religion verkündet, übersteigt aber Gott jegliche menschliche Möglichkeit und damit auch die Religion. Um von Gott handeln zu können, muß sich die Religion daher im Namen des Gottes, den sie bejaht, immer selbst verneinen. Die Religion muß begreifen, daß all ihre Symbole, Riten, Handlungen und Gebote unendlich weit von der Wirklichkeit des Unendlichen, auf das sie hinweist, entfernt sind. Begreift die Religion das nicht, so verfällt sie in Aberglauben und Hybris. Die gesamte Geschichte der Religion ist ein ständiger Kampf zwischen dem wahren, nämlich zweideutigen Anspruch der Religion und ihrer falschen, nämlich unzweideutigen Selbstbejahung. Eine Religion, die sich - um dies mißbrauchte W o r t zu gebrauchen - ihres gebrochenen „dialektischen" Charakters bewußt ist, kann anerkennen, daß es nichtreligiöse Sphären gibt - wie Kunst, Politik, Wissenschaft - , zu denen Gott ebenso wie zu den ausdrücklich religiösen Sphären in Beziehung steht. Steht er aber in Beziehung zu ihnen, ist er durch sie und in ihnen sichtbar, dann haben auch sie religiöse Qualität, und die Unterscheidung zwischen einer religiösen und einer nicht-religiösen Sphäre wird zweifelhaft. Statt diese traditionelle Unterscheidung zu gebrauchen, erscheint es zutreffender, von Religion in einem doppelten Sinne zu sprechen; der weitere umfaßt jegliche menschliche Haltung, die implizit die Beziehung zum Unendlichen enthält, der engere bezeichnet die besondere Haltung, die nichts als die Beziehung zum Unendlichen will. Die Religion im engeren Sinne findet in Symbolen Ausdruck, die sich von den Ausdrucksformen anderer Sphären unterscheiden. Die Religion im weiteren Sinne bedarf keiner besonderen Ausdrucksformen, sie kann jede Form benutzen, in der sich Sinn verkörpert. Gemäß diesem 1 Dieser Aufsatz nimmt Bezug auf eine Veröffentlichung „Protestant Principles" in der amerikanischen Zeitschrift „The Protestant". Jg. 4, Nr. 5 1942,

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weiteren Gebrauch des Wortes kann eine politische Idee religiös sein, obwohl sie gemäß dem engeren Wortgebrauch nichts mit Religion zu tun hat. Das gleiche gilt f ü r Gedichte, philosophische Gedanken, wissenschaftliche Untersuchungen. Weisen sie auf etwas Unendliches und Letztes in Sinn und Sein hin, so weisen sie auf die gleiche Wirklichkeit hin, f ü r die von der Religion im engeren Sinne das Symbol „Gott" verwendet wird. W o immer etwas, das uns letztlich angeht, Ausdruck findet, findet Religion Ausdruck. W a n n immer uns etwas letztlich und unbedingt angeht, haben wir es mit Religion zu tun. Dieser zweideutige Sinn des Wortes „Religion" wird vor allem vom Christentum vertreten. Die christliche Botschaft ist die Botschaft vom Ende der Religion, sie gehört als Botschaft jedoch selbst zur Religion. Jesus verkündete nicht das Kommen einer neuen Religion, sondern das Reich Gottes, das heißt, er verkündete, daß eine allumfassende W i r k lichkeit nahe ist. Er führte k r a f t des in seiner Person gegenwärtigen Reiches Gottes die Gesetze der Religion auf ein Mindestmaß zurück. Gegenüber den Pflichten des Ritus hob Jesus die Pflichten des täglichen Lebens hervor. Er sah das Ende des Tempels und seines Kultes. Er richtete sich gegen die offiziellen Vertreter der Religion und berief Laien zu seinen Schülern. Er lehrte einen Gott, der zu jedem T u n unseres täglichen Lebens, dem inneren wie dem äußeren, in Beziehung steht, und er entwertete die besonderen Akte der Religion im engeren Sinne; da Gott sein einziges Anliegen war, hatte er nicht eine Religion, die neben seinem täglichen Leben einen Platz hatte. Die christliche Botschaft vom Ende der Religion, vom Ende des Gesetzes, wie es Paulus nennt, wurde zum Fundament einer neuen Religion, die so gewaltig, aber auch häufig so eng ist wie keine andere Religion. Die katholische Kirche wurde immer mehr zum Vertreter eines zweideutigen Anspruchs, einer ungebrochenen religiösen Selbstbejahung und schloß damit Religion im weiteren Sinne aus. Der Katholizismus ist diejenige Form des Christentums, in der die dialektische N a t u r der Religion im allgemeinen und des Christentums im besonderen unterdrückt ist. Der Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche verneint den Doppelbegriff der Religion, der in der christlichen Botschaft liegt und in dem unbedingten und universalen Charakter des Göttlichen gründet. Im Katholizismus ist die Verkündigung vom Ende der Religion verstummt. Hier nun erhebt der Protestantismus seinen Protest. Der Protestantismus ist die Wiederentdeckung des zweideutigen Charakters der Religion, ist die erneute Verkündigung vom Ende der Religion. Die besondere Form, in der dies geschah, war bedingt durch die geschicht134

liehe Situation der Reformatoren. Luthers Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben und Calvins Lehre von der Prädestination sind begrenzte Ausdrucksformen der universalen Wahrheit, auf die sie hinweisen: die absolute Transzendenz, Hoheit und Majestät des Göttlichen, die kein menschliches Tun, sei es religiös oder profan, erreichen kann. In dem Protest gegen das hierarchische System der katholischen Kirche erhoben die Reformatoren ihren Protest gegen die heidnische Selbstbejahung einer Religion als ungebrochener Vertretung des Göttlichen und jeder religiösen Möglichkeit. Der zweideutige Charakter des Christentums als Religion wird in dem protestantischen Protest stärker als je zuvor bewußt. Die Botschaft vom Christentum als dem Ende der Religion, die in der frühen Kirche in Vergessenheit geriet, ist wiederentdeckt. Das prophetisch-protestantische Prinzip, das im Urchristentum latent vorhanden, im Laufe der Kirchengeschichte aber verlorengegangen war, wurde durch die Reformation wieder sichtbar. All dies liegt in dem ersten Prinzip des „Protestant": „Der Protestantismus bejaht die absolute Majestät Gottes und erhebt prophetischen Protest gegen jeden menschlichen - kirchlichen wie profanen Anspruch auf absolute Wahrheit und Autorität." Die protestantische H a l t u n g ist zweifach von Gefahr bedroht. Der Protestantismus nimmt an der Doppelheit jeder Religion teil, insofern er sich selbst zugleich bejahen und verneinen muß. Die protestantischen Kirchen legen den Nachdruck, wie es natürlich und unvermeidlich ist, stärker auf die Bejahung. Aus dem protestantischen Protest entwickelte sich eine neue Religion, die Religion der evangelischen - der lutherischen und reformierten - Kirchen und die Religion der amerikanischen Denominationen und der protestantisch-episkopalen Kirche. Die Religion all dieser Kirchen der Reformation ist keineswegs sicher vor katholischer Selbstbejahung, vor Aberglauben und Hybris, vor dem absoluten Anspruch, das Göttliche zu besitzen. In jeder dieser Kirchen setzt sich der ewige Kampf zwischen Gott und Religion fort. In jeder von ihnen begegnet die christliche Botschaft vom Ende der Religion kirchlichem, rituellem, ethischem oder dogmatischem Widerstand. Der protestantische Protest muß sich gegen die protestantischen Kirchen richten, sofern sie f ü r sich den Absolutheitsanspruch erheben. Die Institutionen und die ethischen und dogmatischen Traditionen müssen ständig der Kritik des protestantischen Prinzips unterworfen werden; dieses stellt den bewußtesten Ausdruck der prophetischchristlichen Botschaft vom Ende der Religion dar. Das enthält das dritte Prinzip des „Protestant": „Der Protestantismus bejaht die göttliche Souveränität gegenüber den Institutionen und Dogmen der christ-

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liehen Kirchen und protestiert gegen alle Versuche, die christliche Botschaft an die Lebensformen und Ordnungen irgendeiner geschichtlichen Kirche zu binden." In der protestantischen Haltung liegt aber noch eine zweite Gefahr, daß nämlich ausschließlich die Verneinung des eigenen religiösen Charakters betont wird. Selbstkritik kann zu völliger Leere führen. Der ewige Protest kann dazu führen, daß jeder konkrete Inhalt beseitigt wird. Es kann geschehen und ist geschehen, daß durch die nachdrückliche Betonung der Distanz zwischen Gott und Religion die Religion verlorengeht. In den protestantischen Kirchen ist in Ritus und Dogma ungeheuer viel an Symbolen und Traditionen verlorengegangen, vielleicht nicht in ihrem offiziellen Tun, aber sicherlich unter den Massen ihrer Mitglieder. Das protestantische Prinzip wurde als Freiheit des Einzelnen gedeutet. Die christliche Botschaft wurde durdi persönliches Gewissen und subjektives Erlebnis ersetzt. Die kritische Haltung gegenüber der Religion endete mit dem völligen Sieg der nicht-religiösen Sphären und der völligen Profanisierung dieser Sphären und der Religion selbst. Autonome Ethik ersetzte die christliche Lehre von der Liebe, und die Philosophie beseitigte die Symbole des Christentums. Das liberale Christentum versuchte, aus dieser Situation das Beste herauszuholen. Es versuchte eine neue Interpretation der christlichen Überlieferung im Lichte der gegenwärtigen profanen und religiösen Erfahrung. Es versuchte, so etwas wie eine rationale humanistische Religion zu schaffen, die dem allgemeinen Zuge der Geistesgeschichte folgt. Bei diesem Versuche wurde jedoch die prophetische Kritik des protestantischen Prinzips durch die rationale Kritik der wissenschaftlichen Methode ersetzt. Das liberale Christentum hat nicht nur Kritik an der Religion geübt, es hat die Religion aufgelöst. Andererseits geht dessen Kritik nicht weit genug. Das liberale Christentum hält an der absoluten Gültigkeit eines selbstgeschaffenen religiösen Humanismus fest und stellt ihn nicht mehr unter das prophetische Wort vom Ende der Religion. Es zeigt eine Hybris, die wohl profanen Charakter hat, aber darum nicht weniger Hybris ist. Diese Entwicklung macht deutlich, daß das Fundament des protestantischen Prinzips eine religiöse Wirklichkeit ist, nämlich die christliche Botschaft, und daß das protestantische Prinzip Macht und Sinn verliert, wenn diese Botschaft verlorengeht. Prophetische Kritik ist nur möglich kraft einer priesterlichen Substanz und Wirklichkeit. Das enthält das zweite Prinzip des „Protestant": „Der Protestantismus bejaht die christliche Botschaft als den letztgültigen Ausdruck des Göttlichen und protestiert gegen alle Versuche, diese Botschaft in einen Komplex reli136

giöser Erfahrungen, sittlicher Forderungen und philosophischer Lehren aufzulösen." Uber die „christliche Botschaft", die in diesem Satz genannt wird, gibt die Erklärung der Prinzipien keine nähere Erläuterung. Eine solche Erläuterung ginge über Rahmen und Ziel dieser Zeitschrift weit hinaus. Sie ist eine theologische Aufgabe, und sie hängt von kirchlichen und theologischen Voraussetzungen ab, die nicht unmittelbar das Anliegen dieser Zeitschrift sind, wenngleich sie mittelbar in jedem Aufsatz erscheinen. N u r so viel sei gesagt: die christliche Botschaft, auf die sich das zweite Prinzip bezieht, ist die Botschaft von Christus als der Mitte der Geschichte, die im Laufe der gesamten Geschichte der Religion vorbereitet wird - vor allem durch die jüdische Prophetie — und in der gesamten Geschichte der Kirche empfangen wird. Diese Botschaft ist letzter Ausdruck des Göttlichen, weil sie den ganzen Reichtum der religiösen Erfahrung mit der kritischen K r a f t des prophetisch-protestantischen Prinzips vereint. Sie vereint konkrete Universalität - sie vermag jede religiöse Möglichkeit zu umfassen - mit absoluter Gültigkeit - sie vermag jede religiöse Möglichkeit im Lichte der göttlichen Transzendenz zu verneinen. Die christliche Botschaft ist absolut, weil sie die prophetische Verneinung jeder christlichen und religiösen Wirklichkeit in sich schließt, weil sie die Botschaft vom „Ende der Religion" enthält. IL Da der Protestantismus den zweideutigen oder dialektischen C h a rakter der christlichen Botschaft und der Religion im allgemeinen bewußt macht, öffnet er einen neuen Weg zu den profanen Sphären. Wenn immer Religion einen absoluten Anspruch erhebt, trennt sie sich von den profanen Sphären und versucht, sie von außen zu beherrschen. Die Kirche versucht, den Staat zu unterwerfen, die Theologie will die Philosophie zu ihrer Magd machen, die Handlungen des Ritus neigen dazu, den Vorrang vor sittlichem Handeln zu erlangen, der Kultus strebt danach, die Künste zu lenken. Die profanen Sphären ihrerseits leisten diesen Versuchen Widerstand und verlieren dadurch ihren letzten Sinn, ihren religiösen Charakter im weiteren Sinne von Religion. Diese gefährliche und schließlich zerstörerische Situation wird von dem protestantischen Prinzip in Frage gestellt. Die Selbstverneinung der Religion, die in ihm liegt, stellt von neuem die W ü r d e und den religiösen Sinn der profanen Sphären her. Für den Protestantismus ist Gott im Staat gegenwärtig als Träger der Gerechtigkeit, nicht weil der Staat dadurch, daß wir der Kirche unterworfen sind, geheiligt ist, son137

dern weil der Staat an sich eine göttliche Ordnung ist, die unmittelbar Bezug hat auf das, was unsere Existenz letztlich angeht. Auf die gleiche Art stehen Philosophie und Wissenschaft infolge ihrer Eigenstruktur zur Wahrheit in Beziehung als einem Ausdruck dessen, was den Menschen letztlich angeht. Die profanen Sphären bedürfen keiner kirchlichen Vermittlung oder Leitung. Sie sind profan nicht im Gegensatz zur Theologie als dem „heiligen Wissen". Und die Künste haben in ihrer Form und ihrem Stil ohne jedes Eingreifen des Ritus, ohne daß sie es mit sogenannten religiösen Inhalten zu tun haben, die Macht, auf den letzten unendlichen Sinn zu weisen innerhalb und mit Hilfe des vorläufigen endlichen Sinnes, den sie ausdrücken. Wenn die profanen Sphären zu ihrem eigenen Grund und Ziel durchstoßen, sind sie nicht mehr profan. Sie haben die Dimension des Heiligen in sich selbst und bedürfen keiner kirchlichen Genehmigung. Und andererseits wird unter der negativen Kritik des protestantischen Prinzips die Religion in ihren profanen Elementen sichtbar: in ihrer Abhängigkeit von der besonderen kulturellen Situation, in der sie erschienen ist, von der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft, zu der sie gehört, von der Sprache einer Gruppe und der Philosophie und Dichtkunst, die sie geformt haben, von den technischen Möglichkeiten der Architektur und der Kommunikation, von dem National- und Individualcharakter ihrer Anhänger, von den besonderen Tendenzen der Sozial- und Individualpsychologie und so weiter. Auf diese Weise erscheint die Religion selber profan, und die Unterscheidung der beiden Sphären verliert ihre Bedeutung: das Religiöse wird profan, und das Profane wird religiös, das ist die Wirkung des protestantischen Prinzips. Und das besagt das vierte Prinzip des „Protestant": „Der Protestantismus bejaht die unmittelbare Beziehung des Göttlichen zu jedem Element der Wirklichkeit und protestiert gegen hierarchische Mittlerschaft wie gegen die Absonderung einer heiligen von einer profanen Sphäre." Wenn das Profane heilig genannt wird, hat dies zwei Folgen, auf die wir bereits hingewiesen haben, die aber noch näher erläutert werden müssen. Die erste Folge ist die Anerkennung der Autonomie der kulturellen Strukturen. Von Anfang an hat der Protestantismus die Autonomie der politischen und sozialen Sphäre betont, er hat die Autonomie wissenschaftlichen und künstlerischen Schaffens - wenn auch zögernd - anerkannt, und schließlich auch die Autonomie der Philosophie und Ethik. Er tat das infolge des antikirchlichen Elements des protestantischen Prinzips, und er muß es tun, obwohl die kollektivistischen und autoritären Tendenzen unserer Zeit für die protestan138

tische Kirche eine Versuchung darstellen, eine neue heteronome Herrschaft über die Kultur zu errichten. Gegen derartige Tendenzen, die von kirchlichen wie von politischen Gruppen ausgehen, heißt es im fünften Prinzip: „Der Protestantismus bejaht die Unabhängigkeit der verschiedenen Sphären des kulturellen Lebens und protestiert gegen kirchliche und staatliche Eingriffe in deren Autonomie." Die Betonung der profanen Sphäre durch den Protestantismus hat aber noch eine andere Folge. Wenn gemäß dem protestantischen Prinzip Gott zu jeder Lebenssphäre unmittelbar in Beziehung steht, läßt sich eine kulturelle Schöpfung nicht von dieser Beziehung abschneiden, ohne des letzten Sinnes, Grundes und Zieles verlustig zu gehen. Eine Wissenschaft, der es nicht mehr um die Wahrheit selbst geht, ein technischer Fortschritt, der nicht dem letzten Ziel menschlicher Existenz dienen will, eine Politik, die nicht mehr auf die Idee der Gerechtigkeit als solcher hinweist, eine Kunst und Dichtung, die nicht durch ihre endliche Form ewigen Sinn vermitteln, eine Philosophie, die dem ausweicht, was letztlich und unbedingt angeht, sie alle werden leer, sinnlos, sind technische Mittel ohne geistiges Ziel. Aber da es wie in der Natur im Leben der Seele kein Vakuum gibt, brechen in diese Leere gegengöttliche Mächte ein und bedienen sich der kulturellen Formen für ihre zerstörerischen Zwecke. (Das geschieht in unseren Tagen in einem weltumfassenden Maße. Ein leerer Säkularismus bildet den Nährboden, aus dem die Kräfte für die Selbstvernichtung einer ganzen Kultur wachsen. Eine autonome Kultur ohne religiöse Grundlage muß in gegengöttliche Heteronomie verfallen.) Deshalb sagt unser sechstes Prinzip: „Der Protestantismus bejaht die Abhängigkeit des geistigen Sinnes jeden kulturellen Handelns von seiner religiösen Grundlage und protestiert gegen die Trennung der religiösen Transzendenz von der kulturellen Immanenz." Es muß nochmals betont werden: nicht die autonome Form des kulturellen Handelns soll von einer besonderen Religion abhängig sein, sondern der geistige Sinn dieses Handelns ist abhängig von seiner Beziehung zum letzten Sinn der Existenz. All dies liefert das Fundament für die Haltung des Protestantismus zur gegenwärtigen Weltlage. Der Protestantismus kann dieser Lage nicht wie der Katholizismus mit einem festgelegten System politischer Ethik und kultureller Formen begegnen. Die prophetische Kritik, die im protestantischen Prinzip enthalten ist, läßt eine solche Lösung nicht zu. Es gibt nicht so etwas wie protestantische Philosophie, protestantische Politik, protestantische Sozialethik, protestantische Kunst. Gegen die autonome Entwicklung all dieser Sphären gibt es keinen Widerstand, der von einem Herrschaftssystem einer protestantischen Kul139

tur ausginge, weil es ein derartiges System nicht gibt. Das widerspräche dem Geist des Protestantismus. Das heißt nun nicht, daß der Protestantismus seine Botschaft nicht auf jede geschichtliche Situation anwenden könnte. Im Gegenteil, gerade weil er von deren früheren Verkörperungen frei ist, ist er frei f ü r jede künftige Verwirklichung. Der Protestantismus ist nicht an seine Vergangenheit gebunden, er ist daher frei für seine Zukunft, sogar dann, wenn diese Zukunft mit Recht als das „nachprotestantische Zeitalter" bezeichnet werden müßte. Das liegt in dem siebenten Prinzip: „Der Protestantismus verwirft jedes bestimmte oder endgültige System einer christlichen Ethik und Politik, sondern bezieht die christliche Botschaft als das kritische und gestaltende Prinzip auf jede geschichtliche Situation."

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MARTIN BUBERS DREIFACHER ZUM

BEITRAG

PROTESTANTISMUS

In diesem Aufsatz will ich nicht das Gesamtwerk Martin Bubers würdigen - das geschah von zuständiger Seite, und es wird auch künftig geschehen - , vielmehr möchte ich das herausarbeiten, was die protestantische Theologie von seiner religiösen Botschaft und von seinen theologischen Gedanken aufgenommen hat und aufnehmen sollte; und das ist nicht wenig, eine Uberzeugung, die mit meiner eigenen theologischen Schau zusammenhängt und von dem starken Einfluß abhängt, den Buber direkt und mehr noch indirekt auf mein Denken gehabt hat. Daher kann ich nicht für die gesamte protestantische Theologie, sondern nur für mich selbst und von meinem Verständnis seines Denkens sprechen. Ich weiß jedoch, daß viele christliche Theologen und Laien in den hier zu behandelnden Gesichtspunkten mit mir übereinstimmen und gleich mir die außerordentliche Bedeutung Bubers für den Protestantismus zu würdigen wissen. Seine Bedeutung liegt für midi auf dreifachem Gebiet: 1. In Bubers existentialistisdier Interpretation der prophetischen Religion, 2. in seiner Wiederentdeckung der Mystik als einem Element innerhalb der prophetischen Religion, 3. in seinem Verständnis für die Beziehung von prophetischer Religion und Kultur, besonders im Bereich des Sozialen und des Politischen. Audi in bezug auf diese drei Punkte möchte ich mich nicht auf Bubers Gesamtposition beziehen oder auf Entwicklungszusammenhänge eingehen, sondern ich möchte die Situation der protestantisdien Theologie in ihrer Aufnahmebereitschaft für seine zentralen Ideen beschreiben.

Mein erster Gesichtspunkt ist in der Entwicklung Bubers der letzte. Eine systematische Auseinandersetzung darüber gibt er in seinem Buch „Ich und D u " , einer außerordentlich wichtigen und einflußreichen Religionsphilosophie, wenn man das von einem so kleinen Buch sagen 141

kann, das ebensosehr religiöse Verkündigung wie erkenntnistheoretische Analyse ist. Bubers Interpretation der Religion kann man als „existentialistisdi" bezeichnen. Eine Interpretation der Religion ist dann existentialistisch, wenn sie den Doppelcharakter jeder echten religiösen Erfahrung betont: das Einbezogensein des ganzen Menschen in die religiöse Situation und die Unmöglichkeit, Gott außerhalb dieser Situation zu erfassen. Der Ausdruck „und D u " hat die Funktion, diesen religiösen Erfahrungscharakter ganz radikal und konkret zum Ausdruck zu bringen. Buber unterscheidet die „Ich-Du"-Beziehung von der „Ich-Es ,< -Beziehung. Diese Unterscheidung umfaßt das Hauptproblem des Existentialismus, die Frage nämlich, wie man ein „Ich" statt ein „Es", wie man eine Person statt ein Ding und wie man frei statt determiniert werden und sein kann. Schon lange vor Beginn des modernen existentialistischen Denkens hatte Buber diese Frage gestellt und sie auf Grund und k r a f t der prophetischen Religion beantwortet: Es gibt keinen anderen Weg, ein „Ich" zu werden als daß man einem „Du" begegnet und es als ein „Du" bejaht. U n d es gibt keinen anderen Weg, einem „Du" zu begegnen und es zu bejahen, als daß man dem „ewigen D u " im endlichen Du begegnet und es bejaht. Diese Beziehung aber unterliegt dem tragischen Schicksal der ständigen Verkehrung in eine „Ich-Es"-Beziehung. Das „Du" wird zu einem Ding, das wir unter die Bedingungen von R a u m und Zeit und unter das Gesetz der Kausalität stellen. Aus der Beziehung, an der beide Seiten ganz teilhaben, ist eine Beziehung des Gegenüber geworden. Gott nidit weniger als Mensch, Mensch nicht weniger als Baum werden zu Objekten, und das „Ich" wird zu einem erkenntnistheoretischen Subjekt, das sie von außen anblickt, aber in keiner existentiellen Beziehung zu ihnen steht. Denn nur eine Seite des menschlichen Seins - das Erkennen oder das praktische Interesse - ist beteiligt. D a ß dies von Anbeginn der Menschheitsgeschichte geschah und daß es so lange geschehen wird, als ein bewußtes Leben existiert, ist unser „melancholisches Schicksal". Die protestantischen Theologen waren von diesem religiösen Existentialismus tief beeindruckt, obwohl er vielleicht weniger originell und machtvoll, d a f ü r aber auch weniger paradox und gewaltsam ist als Kierkegaards Existentialismus. Leider aber hatte die orthodoxe wie die liberale Tradition im Protestantismus ein so starkes Übergewicht, d a ß Bubers Gedanken nicht zu dem ihnen gebührenden Einfluß gelangten. Seit dem Aufkommen des Deismus bemühte sich die liberale protestantische Theologie, zwischen dem durch die moderne Wissenschaft 142

geprägten Weltbild und dem biblisdien Gottesgedanken zu vermitteln, Dies ist ureigene Aufgabe der Theologie, und in diesem Sinne sind Kierkegaard und Buber nicht weniger Vermittlungs-Theologen als Ritsdll und Rauschenbusch. Es geht um die Frage, in welcher Weise man vermitteln soll. Und wenn diese Frage gestellt wird, muß man entgegnen: der liberale Protestantismus paßte den Gott der Bibel der „Es"-Welt einer modernen technischen Zivilisation an. Diese „Es"Welt, dieser Bereich beziehungsloser Objektivität und reiner Dinglichkeit erstreckt sich in gleicher Weise auf Natur und Mensch, den Einzelnen und die Gemeinschaft. Nach der klassischen Newtonschen Mechanik ist die Natur eine Totalität völlig determinierter Körper, die sich nach quantitativ meßbaren Gesetzen bewegen. Bei einem solchen W e l t bild ist eine „Ich-Du"-Beziehung zu einem Naturgegenstand unmöglich, da der Mensch die Natur für seine eigenen Zwecke dienstbar macht. Hier macht man auch Gott zu einem „Grenzbegriff", d. h., man drängt ihn an die äußersten Grenzen der Natur, von wo er unfähig wird, in sie einzugreifen. In zunehmendem Maße wandte die wissenschaftliche Psychologie und Soziologie die gleichen Prinzipien auf Mensch und Gesellschaft an. Der Einzelne wurde der großen Maschinerie von Produktion und Konsumtion unterworfen und selbst zu einer Maschine, die unter dem Gesetz des Reiz-Reaktionsmechanismus steht. Die „IchDu"-Beziehung blieb dem Gefühl und dem subjektiven Empfinden überlassen. Wohl sah der Liberalismus die große Gefahr dieser Situation für Religion und Kultur, war aber unfähig, mit ihr fertig zu werden. Die protestantische Apologetik z. B. suchte den Beweis zu erbringen, daß inmitten der Ganzheit aller Dinge Raum sei für ein göttliches Wesen, dem Personhaftigkeit und eine aktive wechselseitige Beziehung zur Welt zuerkannt werden müsse: Die „empirische Theologie" suchte zu beweisen, daß dieses Wesen durch allgemeine wissenschaftliche Forschungsmethoden erreichbar sei; die historische Forschung sollte die Grundlage für den Glauben schaffen, und die Religion sollte die sittliche Persönlichkeit über die Natur in uns und außer uns erheben. Der Sinn der Geschichte schien in dem fortschreitenden Aufbau einer von Frieden und Gerechtigkeit erfüllten Gesellschaft zu liegen. Doch blieben alle diese Gedanken innerhalb dessen, was Buber „Ich-Es"-Beziehung nennt. Der Versuch, die „Es"-Welt zu transzendieren, mußte daran scheitern, daß sie zunächst bejaht wurde. Die letzten Voraussetzungen dieser „es"-bezogenen modernen Weltsicht werden nicht durchstoßen, und es erweist sich als unmöglich, die göttlich-menschliche Beziehung überzeugend zu deuten. Bubers existentialistische „Ich-Du"-Philosophie hin143

gegen erfaßt die wirkliche Tiefe der Situation und kann wirksam dabei helfen, den Sieg des „Es" über das „Du" und das „Ich" in der modernen Zivilisation rückgängig zu machen. Eine solche Hilfe kann weder von der alten noch von der neuen Orthodoxie erwartet werden. Es ist leicht, die Proteste Kierkegaards und anderer Existentialisten gegen die „es"-bestimmte Haltung unserer Zeit zu benutzen, um religiöse und kulturelle Restauration zu unterstützen. Audi Bubers Gedanken ließen sich so benutzen. Er selbst ist aber ständig um den Nachweis bemüht, daß die Orthodoxie (oder der liturgische Traditionalismus) letztlich dasselbe tut wie die liberale Theologie, nämlidi die „Ich-Du"-Beziehung in eine „Ich-Es"-Beziehung zu verkehren. Wenn immer man mit dem „Ewigen Du" wie mit einer Sache umgeht - sei es, daß man sich ihm mit rationalen oder irrationalen Erkenntnismethoden zu nähern versucht, sei es, daß man es sich durch Moral, Dogma oder Kultus verfügbar machen möchte - stets wird aus dem „Du" ein „Es", das seine Göttlichkeit verloren hat. So weist Martin Bubers „Idi-Du"-Philosophie durch die Zurückweisung der orthodoxen wie der liberalen Theologie auf einen Weg, der jenseits dieser Alternative liegt. IL Buber war tief beeinflußt durch mystische Überlieferungen innerhalb und außerhalb des Judentums, und er selbst hat in vieler Beziehung zur Interpretation mystischer Gedanken und Bewegungen beigetragen. Entscheidend für seine Entwicklung war seine Würdigung des Chassidismus. Sie hat im Zusammenhang mit anderen mystischen und mystisch-ästhetischen Bewegungen die allgemeine religiöse und theologische Atmosphäre im ersten Viertel unseres Jahrhunderts beeinflußt. Während der Katholizismus gemäß seiner Eigenart die mystische Tradition von seinen Anfängen an bis heute in sich einbeziehen konnte, haben Protestantismus und Judentum naturgemäß eine zwiespältige Beziehung zur Mystik. Beide gehören dem prophetisch-personalistischen Religionstypus an, und beide mußten sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder gegen Magie, Sakramentalismus und entpersönlichende Ekstase wehren. Andererseits aber gibt es keine lebendige Religion, in der das Mystische als Prinzip, nämlich die unmittelbare Gegenwart des Göttlichen und die Möglichkeit der Vereinigung mit ihm, nicht als unveräußerliches Element vorhanden wäre. So war das prophetische Schrifttum und die orthodoxe jüdische Lehre an ekstatischen und visionären Erlebnissen sehr reich. Und auch der orthodoxe 144

Protestantismus kannte die Lehre von der „mystischen Vereinigung" (unio mystica) und brachte von Anfang an pietistische Bewegungen hervor. Ob dabei mehr das doktrinelle, das ethische oder das mystische Element in den Vordergrund trat, war durch die persönlichen und historischen Umstände bedingt, war aber keine Folge des religiösen Prinzips. Doch genügt diese Betrachtung noch nicht. Judaismus und Protestantismus haben eine Art von Mystik in sich entwickelt, die nach Ansicht ihrer jeweils orthodoxen beziehungsweise liberalen Theologen die Grenzen des auf der Basis des Prophetismus Möglichen weit überschreitet. So entfaltete der Protestantismus des neunzehnten Jahrhunderts in Verbindung mit seiner Kapitulation vor dem „es"-bezogenen modernen Weltbild ein besonders stark ausgeprägtes antimystisches Empfinden. U n d f ü r die Kant-Ritschl-Schule, die in der protestantischen Theologie der zweiten H ä l f t e des vorigen Jahrhunderts in Europa wie in Amerika vorherrschte, war die Mystik sogar der Erzfeind des wahren Protestantismus. Der Pietismus galt als katholischer Restbestand, die „mystische Vereinigung" wurde als unprotestantisch abgelehnt, und es wurde sogar versucht, die Metaphysik von den mystischen Elementen zu befreien, die implizit in ihr enthalten sind. Die christliche Botschaft wurde mit moralischen Maßstäben gemessen und den Forderungen einer rationalen und nüchternen Beherrschung der N a t u r und einer ihr entsprechenden Gesellschaft angepaßt. Gerade diese antimystische Tendenz der liberalen Theologie wurde im Gegensatz zu vielen anderen Elementen von den sogenannten neuorthodoxen Führern der heutigen protestantischen Theologie übernommen. Doch gab es im Protestantismus des zwanzigsten Jahrhunderts auch Verteidiger der Mystik und Strömungen, die sie begünstigten: Rudolf Otto mit seiner Wiederentdeckung der Idee des Heiligen, der Einfluß des griechisch-orthodoxen Christentums, wie es von Dostojewski und den russischen Emigranten nach dem ersten Weltkrieg vermittelt wurde, das rege Interesse für die großen westlichen und östlichen Mystiker, die liturgischen Bewegungen, das neue Verständnis f ü r Sakramente und Symbole, das Wiederaufleben des metaphysischen Denkens und die damit zusammenhängenden künstlerischen Ausdrucksformen dies alles bewog die protestantische Theologie, die Frage der Mystik viel ernster zu nehmen und sich viel intensiver mit ihr zu befassen als in den vergangenen hundert Jahren. In dieser Situation ist Bubers Neu-Interpretation des Chassidismus von außerordentlicher Wichtigkeit, denn sie weist die Möglichkeit einer Mystik auf, die der prophetischen Religion nicht widerspricht, 145

sondern sie vertieft. Der ursprüngliche Chassidismus entwickelte sich im polnischen Judentum des achtzehnten Jahrhunderts und hielt sich streng im Rahmen der jüdischen Tradition; er wollte nicht reformieren, sondern vertiefen. Die jüdische Mystik der Kabbala wurde in den Chassidismus in starkem Maße hineingenommen, wenngleich in der Weise, daß die neu-platonischen Elemente der Kabbala, die hohe Bewertung der Ekstase und der religiösen Metaphysik stark verringert wurden. Sie verschwanden zwar nicht ganz: ekstatisches Erleben und das völlige Einssein mit Gott wurden nicht abgelehnt. Doch da sie auf seltene Augenblicke beschränkt blieben, galten der Alltag und seine Arbeit als der Ort, wo dem Menschen das Göttliche begegnete. Der Mensch - so wurde behauptet - müsse in der Begegnung mit dem „göttlichen Einen" selbst zu einer Einheit werden. Doch kann er nicht mit dem „göttlichen Einen" verschmelzen, denn nie, jedenfalls nicht in diesem Leben, kann die „Ich-Du"-Beziehung zwischen Mensch und „ewigem D u " transzendiert werden. Deshalb ist die mystische Vereinigung Einswerden des Menschen mit sich selbst und mit Gott, und zwar nicht, um sich aus der Welt in Kontemplation zurückzuziehen, sondern um in der Welt zu handeln, zu leben und zugleich den ewigen Grund in allem zu erkennen. Religion bedeutet also für den Chassidismus wie für Buber Heiligung der Welt. Religion ist weder Annahme der Welt, wie sie ist, noch ist sie ein auf ein transzendentes Göttliches ausgerichtetes Beiseitelassen dieser Welt, sondern sie ist Heiligung der Welt in dem Sinne, daß in allem und jedem das Göttliche sichtbar werden kann. Eine solche Haltung räumt den Dualismus einer säkularen und einer sakralen Sphäre aus dem Wege. Trotz strenger Beachtung von Lehre und Kultus, trotz starker Betonung des ständigen Gesprächs der Einzelseele mit Gott in Gebet und Meditation liegt das entscheidend Charakteristische des Chassidismus in seiner besonderen Art der Weltbetrachtung und in seiner besonderen Art, in dieser Welt zu wirken. Denn nicht nur für den Menschen selbst, auch für Gott ist das Wirken des Menschen in der Welt voll Bedeutung, da der Mensch auch für das Schicksal Gottes verantwortlich ist, insofern Gott in der Welt ist. Der Mensch ist dazu berufen, die zerbrochene Einheit in sich selbst und in der Welt wiederherzustellen; Gott wartet auf ihn, und die Antwort auf des Menschen Wirken ist göttliche Gnade. Dieses Wirken besteht nicht in Askese oder in einem außergewöhnlichen Tun. Hier geht es allein um die Heiligung des Augenblicks, um die schlichte Tat, die von einem bestimmten Menschen in einem bestimmten Augenblick gefordert wird, es handelt sich um das Tun der Unbekannten, der Einfältigen, 146

der Kinder. Geschieht solches Tun mit dem Bewußtsein um das Heilige, dann ist es ein Vorbereiten des zukünftigen Gottesreiches, dann ist es messianisches Tun. Immer mehr erkannte Buber, den zunächst die rein mystische Seite des Chassidismus sehr angezogen hatte, die Bedeutung dieser aktiven Seite. Während er noch in der Einführung zu seiner Sammlung mystischer Reden „Ekstatische Konfessionen" die Vereinigung mit Gott stark betonte, in der die Gegensätze zwischen Gott, Welt und Selbst verschwinden, kritisierte er später diese „Absorptionslehre" sehr scharf: sie sei keine lebendige Wirklichkeit, sondern nur ein äußerst raffinierter Ausdruck für das „Es". Die Absorptionslehre sei der Versuch, sich des „Du" und damit konsequenterweise auch des „Ich" zu entledigen. Sie vernichte die Welt und verliere damit auch das „ewige D u " . Daß sie eine Wirklichkeit am Rande des Daseins sei, hat Buber nie bestritten, ihre letztgültige Bedeutung aber erkannte er nicht an. Ausschlaggebend sei das tägliche Leben, die Einigung, die das „Ich" in der Begegnung mit dem „ewigen D u " erlangt und die Ausstrahlung in die Welt durch einen Menschen, der mit sich selbst eins ist. Erwöge die protestantische Theologie diese Methode der Lösung des Problems „Mystik und prophetische Religion" ernsthafter, würde manche unfruchtbare Diskussion und die Hervorkehrung falscher Gegensätze vermieden. Denn es ist nicht wahr, daß Mystik und prophetische Religion einander widersprechen. Dafür zeugen Bubers Sein und Denken. III. Nie hätte Buber sidi der Bewegung der Religiösen Sozialisten anschließen können, wenn seine Mystik ihn von seiner prophetischen T r a dition getrennt hätte. Verständlicherweise wurde er kein aktives Mitglied dieser kleinen Schar von Männern und Frauen im NachkriegsDeutschland, die sich „Religiöse Sozialisten" nannten, immer aber war er ihr Freund und Ratgeber. Und seine Gedanken über die Beziehung der Begegnungen des „Ich" und des „ewigen D u " zu den kulturellen Begegnungen zwischen „Ich" und menschlichem „Du" sind es wert, von den protestantischen Theologen beachtet zu werden. Eins der schwierigsten Probleme für die protestantische Theologie ist die Sozialethik (einschließlich innere und äußere Politik, Wirtschaft, Erziehung). Der römische Katholizismus besitzt ein autoritatives sozialethisches System, und das orthodoxe Judentum hat ein solches aus der Thora entwickelt. Der Protestantismus aber hat weder ein klassisches 147

ethisches System im katholischen Sinne noch eine Thora im jüdischen Sinne; sondern er ist, vor allem in seiner lutherischen Form, spiritualistischer als die beiden und glaubt, daß das Innere aller menschlichen Beziehungen vom Geist der Liebe bestimmt werden könne, während das Äußere von der Macht des Staates bestimmt sein müsse. Der Protestantismus betrachtet die Funktion des Staates nicht als im Gegensatz zum Geist der Liebe, denn nach ihm dient das Schwert letztlich dem Reich Gottes dadurch, daß es die Gesetzesbrecher niederhält; aber dieses T u n ist das „fremde, uneigentliche" Werk der Liebe. Man könne daher unmöglich aus der religiösen Sphäre Gesetze ableiten, denen sich der Staat unterwerfen müsse, ebensowenig wie die Kirche an den Staat Forderungen stellen könne. Dieser Sachverhalt mache den Staat unabhängig von der Beziehung zu Gott. U n d man schulde dem Staat auch dann Gehorsam, wenn er schlechte Führer und Einrichtungen habe. Eine Revolution aber müsse unter allen Umständen verneint werden. D a ß diese Haltung eine so revolutionäre Gruppe wie die deutsche Arbeiterschaft der Kirche und Religion völlig entfremdete und zwischen den Massen der Arbeiter und der religiösen Tradition - auch in ihrer liberalen Form - eine K l u f t entstehen ließ, ist nur zu begreiflich. Viele Menschen waren von dieser Situation zutiefst betroffen, und als nach dem ersten Weltkrieg die Arbeiterschaft die Regierung mit übernahm, bemühte sich der Religiöse Sozialismus darum, diese schicksalhafte K l u f t zu überbrücken. Doch bevor es gelingen konnte, nahmen die reaktionären und faschistischen K r ä f t e überhand und zerstörten die Bewegung, indem sie ihre Repräsentanten vertrieben, unterdrückten oder töteten. Die Religiösen Sozialisten sahen sich vor die Frage gestellt, auf Grund welcher theologischen Basis die Religion den Sozialismus oder irgendeine andere politische oder soziale Ideologie zu ihrer Sache machen könne. Für jeden, der nur die geringste Ahnung von der Entstehungsgeschichte des Christentums hat, war es natürlich unmöglich, Jesus zu einem Sozialisten zu machen oder die prophetische Botschaft mit einem ökonomischen Programm zu verwechseln. Ebenso unmöglich ist es, konkrete politische Gesetze aus biblischen Grundsätzen abzuleiten. Die Bibel, vor allem das Neue Testament, gibt weder institutionelle Gebote noch Ratschläge. W o sie es doch tut oder wo es so scheint, da geschieht es aus der jeweiligen geschichtlichen Situation heraus. Deshalb betont der Religiöse Sozialismus ausdrücklich, daß der Sozialismus die Forderung einer konkreten Situation sei, nämlich der der späten industriellen Gesellschaft, sofern sie unter den Prinzipien der Liebe und Gerechtigkeit beurteilt wird. Das zu beurteilen ist Sache der einzelnen 148

Christen. Es kann nicht zum Gegenstand kirchlicher Lehre werden. Die Aufgabe der Kirche ist es, Prinzipien aufzustellen und nach diesen Prinzipien die gegebene Wirklichkeit kritisch zu beurteilen. Sie kann sie aber nicht in concreto anwenden, jedenfalls nicht die protestantische Kirche. Das muß sie dem Mut, der Intuition und dem Wagnis derer überlassen, die sich in freier Entscheidung dafür einsetzen. Niemand wird bestreiten, daß dies von Buber, vor allem von seiner „Ich-Du"-Philosophie her gesehen, die einzig mögliche Haltung konkreten kulturellen und sozialen Problemen gegenüber ist. Wie alle Religiösen Sozialisten bejaht Buber zwar die Marxsche Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, steht aber der antireligiösen Haltung des Marxismus ablehnend gegenüber. Ebenso bejaht er mit allen Religiösen Sozialisten die Marxsche Lehre von der Selbstentfremdung des Menschen, von seiner Verdinglichung und von seiner Herabwürdigung zu einem Stück berechenbarer Arbeitskraft im modernen Kapitalismus. Doch wie alle Religiösen Sozialisten lehnte er den Glauben des Marxismus ab, daß sich das Wesen des Menschen durch eine bestimmte Gruppe - in diesem Fall durch das Proletariat - und durch dessen revolutionären Sieg sowie durch die daraus entstehenden Neuerungen ändern würde. Das wäre ein Denken in „Ich-Es"-Kategorien und würde zum Verlust des „ D u " führen. Buber jedoch mußte von seinen Voraussetzungen aus mit der einzelnen „Ich-Du"-Beziehung beginnen, dem, was im Deutschen als „Gemeinschaft'' bezeichnet wird. Mit „Gemeinschaft" ist die lebendige Einheit einer Gruppe von Menschen gemeint, die eine gemeinsame geistige Basis und eine „Ich-Du"-Beziehung zueinander haben. Der Sozialismus kann nur durch solche Gemeinschaft Wirklichkeit werden. Er kann nicht vom Staat geschaffen werden, sondern nur von verhältnismäßig kleinen Gruppen, die den Sozialismus aus der K r a f t ihres gemeinsamen Zentrums, der Beziehung zum „ewigen D u " , in sich verwirklichen und ihr persönliches Leben auf ihn ausrichten. „Gemeinschaft" ist eine messianische Kategorie, und der Sozialismus handelt in Richtung auf die messianische Erfüllung; deshalb ist jedermann zum messianischen Tun berufen. Dies ist nun allerdings eine überaus spiritualistische Auslegung des Religiösen Sozialismus, die in hohem Maße mit der spiritualistischen Haltung des frühen Protestantismus gegenüber der Sozialethik übereinstimmt. Man sollte deshalb in der protestantischen Theologie nicht fragen, ob solche Auslegung verkehrt sei - was sie sicherlich nicht ist - , sondern ob sie ausreichend sei. - Und auch da würde ich sagen: sie ist es nicht. Denn sie überläßt den Staat und die politische Macht den „Dämonen", einer reinen „Ich-Es"-Beziehung. Eine solche Preisgabe ist un149

berechtigt. Audi im Staat gibt es Möglichkeiten f ü r Entwicklungen von „Ich-Du"-Beziehungen. M a n könnte ihn als eines jener geistigen Gebilde ansehen, das für Buber zum dritten T y p u s der „Ich-Du"-Beziehung gehört. U n d es ist nicht einzusehen, w a r u m dies nicht der Fall sein sollte, da doch alles Erschaffene in das Göttliche einbezogen und geheiligt werden kann. Doch in diesem Punkt stimmen die Religiösen Sozialisten nicht mit Buber überein, und aus diesem Grunde hielt er sich selbst mehr am R a n d e der Bewegung. Der gleichen Ursache entsprang Bubers Zurückhaltung gegenüber der zionistischen Bewegung. Er bejahte sie als einen messianischen Versuch, „Gemeinschaft" zu stiften, aber als politischen Versuch, einen S t a a t zu gründen, lehnte er sie ab. Die Geschichte scheint jedoch zu beweisen, daß eine Gemeinschaft ohne die schützende Hülle des Staates nicht bestehen kann. A n Bubers Ausführungen über das „ W o r t " , über Mythos und S y m bol und über den Sinn der K u n s t wird deutlich, daß sich seine Bedeutung für die protestantische Theologie noch auf weitere Gebiete erstreckt. Doch scheinen mir die in diesem Artikel behandelten drei Punkte am wichtigsten und umfassendsten zu sein. Sie zeigen, daß die wechselseitige Beziehung und das Gespräch, eben die „Ich-Du"-Begegnung von Judentum und Christentum, noch nicht zu Ende gekommen sind und niemals zu einem Ende kommen sollten.

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E N D E D E R P R O T E S T A N T I S C H E N ÄRA?

I

Das Ende der protestantischen Ära bedeutet nicht das Ende des Protestantismus. Es bedeutet das Ende der Verwirklichung des Protestantismus in Massenkirchen und einer vom Protestantismus durchdrungenen Kultur. Aber der Protestantismus ist nicht gebunden an diese Art seiner Verwirklichung. Es ist vielleicht nicht einmal seine wesensmäßige Verwirklichung. Wäre das der Fall, so könnte das Ende der protestantischen Ära zugleich das Ende einer kirchlich-kulturellen Gefangensdiaft des Protestantismus bedeuten. Wir haben also nicht nur zu fragen, aus welchen Gründen von einem Ende der protestantischen Ära gesprochen werden muß, sondern auch, was Protestantismus in einer nachprotestantischen Ära der Kirchengeschichte bedeuten könnte. Eine geschichtliche Periode kommt zu ihrem Ende, wenn die Kräfte, aus denen sie gelebt hat, sich erschöpft haben. Da jede geschichtliche Kraft endlich ist, so muß sie sich irgendwann erschöpfen, und die Periode, für die sie bestimmend war, muß zu Ende gehen. Die Grenzen einer geschichtlichen Kraft werden schon in ihrer Entstehung sichtbar. Die Weise ihres Entstehens ist zugleich die Weise ihrer Begrenzung und die Ursache ihrer späteren Erschöpfung. Die spezielle Begrenzung und damit Erschöpflichkeit historischer Mächte zeigt sich vor allem in den Negationen, die bei ihrer Entstehung eine Rolle gespielt haben. Je weniger grundsätzliche Negationen eine Bewegung enthält, je umfassender sie ist, ohne uneinheitlich zu werden, desto weniger ist sie dem Schicksal der Erschöpfung unterworfen. Das ist der große Vorzug, den der Katholizismus gegenüber dem Protestantismus hat. Die im Katholizismus geleistete complexio oppositorum hilft ihm zu einer Unabhängigkeit von den Besonderheiten der geschichtlichen Perioden, die im Protestantismus fehlt. Gäbe es in der Geschichte eine Macht, die keine anderen Negationen hätte als das Negative selbst, eine Macht, die das Prinzip alles in der Geschichte möglichen Positiven wäre, so wäre diese Macht unerschöpflich, weil durch keine Negation begrenzt. Das Christentum behauptet, auf einem solchen Prinzip zu beruhen. Der Protestantismus fügt den Satz hinzu, daß keine geschichtliche Erscheinung des Christentums dieses Prinzip ganz ausdrücke und daß darum jede spezielle Erscheinung des Christentums erschöpflich sei. Das Rech151

nen mit der Möglichkeit eines Endes der protestantischen Ära ist darum eine protestantische Haltung, die nicht nur möglich, sondern von der protestantischen Interpretation der christlichen Botschaft aus wieder und wieder notwendig ist. Die gegenwärtige geschichtliche Lage zwingt zu der Frage nach dem Ende der protestantischen Ära schon durch die Tatsache, daß die allgemeinen Kräfte, die in der Reformationsperiode zur Durdisetzung des Protestantismus geführt haben, zur Zeit geschwächt, äußerlich unterdrückt und innerlich entleert sind. Die Negationen, mit denen der Protestantismus angetreten ist, haben keine Durchschlagskraft mehr, weil die Positionen, gegen die sie gerichtet waren, innerlich gebrochen sind. Es ist geradezu so, daß das, was der Protestantismus in seiner Entstehung verneint hat, heute - wenn auch in veränderter Form - die Forderung des Zeitalters ist. Diese Forderung ist ein autoritatives und symbolkräftiges Prinzip der Massenreintegration; ein solches aber freilich in verzerrter Form - war gerade das, wogegen der Protestantismus protestierte. Die Forderung ist ein neuer Katholizismus - wenn Katholizismus ein System hierarchischer Autorität und sakramentaler Symbolik bedeutet. Die Forderung ist nicht etwa römischer Katholizismus, auch nicht griechischer; das Ende der protestantischen Ära ist nicht die Wiederkehr der mittelalterlich-katholischen Ära, ist doch der römische Katholizismus in seiner gegenwärtigen Form selbst ein Produkt des protestantischen Protestes; er ist Gegen-Reformation und darum ebenso negativ bestimmt und ebenso erschöpft wie die Reformation. Der griechisch-orthodoxe Katholizismus aber liegt vor beiden Negationen. Er hat sie nicht als überwunden, sondern als noch nicht entwickelt in sich. Auch er steht nicht am Ende der protestantischen Ära. Der „Katholizismus", der auf die protestantische Ära folgt, k a n n nur nadiprotestantisch und nachhumanistisch sein, d. h. er muß beides in sich haben und über beides hinaus sein. Der Protestantismus ist geboren aus dem prophetischen Protest gegen ein hierarchisches System, das sich mit dämonischem Absolutheitsanspruch zwischen Gott und Mensch stellte. Träger dieses Protestes war ein einzelnes Gewissen, das auf dem kirchlich vorgeschriebenen "Wege nicht zur Ruhe gekommen war und in seinem eigenen Scheitern das Scheitern des kirchlichen Heilsweges überhaupt erkannte. Obgleidi der Protest nicht im Namen einer individuellen Erfahrung erhoben war, sondern sich auf das Fundament des kirchlichen Systems selbst, die Offenbarungsurkunde, stützte, bedeutete er den grundsätzlichen Bruch mit der kirchlichen Autorität. An ihre Stelle trat die gewissensmäßig gebundene individuelle Schriftauslegung, f ü r die es keine 152

Autorität gibt. Die Ersetzung der kirchlichen Autorität durch die Schriftautorität bedeutete praktisch die Ersetzung des Systems hierarchischer Vermittlungen durch das unmittelbar auf Gott bezogene Gewissen des Individuums. Diese Konsequenz konnte verborgen bleiben, solange zwei Voraussetzungen erfüllt waren: das Bestehen einer religiösen und einer exegetischen opinio communis von kirchenbildender Kraft. Die Geschichte des Protestantismus hat gezeigt, daß dieser gemeinsame Glaube der Reformatoren und Humanisten keine Illusion war: Es entstanden protestantische Kirchen, die den schwersten geschichtlichen Stürmen gewachsen waren, und es entwickelte sich eine Lehre, die einen neuen Typus christlichen Denkens und Handelns begründete. Die Überzeugung der protestantischen Orthodoxie, daß die Schrift sich selbst mit hinlänglicher Klarheit interpretiere und die Überzeugung der Humanisten, daß durch philologische Arbeit der Sinn der Quellen klargelegt werden könne, bestätigte sich. Und es ist auch heute noch so, daß das Maß gemeinsamer Überzeugungen im Protestantismus erstaunlich groß ist, gemessen an der völligen Freiheit von Predigt, Forschung und Lehre in ihm. Trotz des Fehlens autoritativer Instanzen hat sich eine entscheidende Harmonie immer wieder automatisch hergestellt. Darum bedeutete die Zerspaltung des Protestantismus in zahlreiche miteinander kämpfende Kirchen, Sekten, Demoninationen und Bewegungen keine Gefahr, solange die gemeinsame Grundhaltung positiv und negativ unerschüttert war. Das aber ist nicht mehr der Fall. Zwar hat der Protestantismus allen katholisch-hierarchischen Ansprüchen Widerstand geleistet. Aber er hat in sich selbst einen Gegner aufgenommen, dem er nicht gewachsen war, mit dem er sich aber um jenes Widerstandes willen von Anfang an verbünden mußte: den Humanismus. Ohne die humanistische Quellenforschung hätte der Protestantismus die Mauern der heiligen Legende, mit denen sich die katholische Kirche umgeben hatte, nicht durchbrechen können. Ohne die humanistische Staatslehre hätte er die Hierarchie nicht stürzen können. Ohne die humanistische Bildungsarbeit hätte er keine protestantische Kultur, keine protestantische Ära herbeiführen können. Damit aber hatte sich der Protestantismus in die Hände eines Verbündeten gegeben, der ihn mehr und mehr in sich selbst hineinzuziehen und dadurch aufzulösen versuchte. Der Protestantismus wurde der religiöse Sektor einer autonomen Welt, auf die er angewiesen war. An Stelle der Hierarchie trat die landesfürstliche Bürokratie in den lutherischen, die feudal-bürgerliche Gesellschaft in den reformierten Ländern. An Stelle der Scholastik trat die autonome Wissenschaft, zu der sich erst als führendes, dann als geführtes Glied 153

die protestantische Theologie rechnet. An Stelle der kirchlich bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftssitte trat die bürgerliche Sitte, mit der sich die protestantische Ethik weithin identifizierte, trat die liberale Wirtschaft, an denen protestantische und humanistische Kräfte in gleicher Weise mitwirkten. Das gilt in allem Entscheidenden schon von der orthodoxen Periode, es wird offenbar in seinen den Protestantismus bedrohenden Konsequenzen erst in Aufklärung und Liberalismus. Freilich gilt auch hier, daß die Bedrohung ungefährlich war, solange die autonome Kultur schöpferisch und integriert blieb. Auch sie lebte von dem Glauben, daß eine Harmonie sich herstellen würde, wenn jeder einzelne die Freiheit hätte, seiner Uberzeugung und seinem Interesse zu folgen: der Glaube, daß trotz der Toleranz eine geistige Konformität sich herstellen, trotz der Freiheit der Forschung gemeinsame wissenschaftliche Uberzeugungen, trotz der öffentlichen Diskussion ein common sense, trotz der demokratischen Wahlform ein volonté genérale, trotz der Entfesselung des wirtschaftlichen Einzelinteresses ein allgemeiner Wohlstand sich herstellen würde. Das alles ist liberaler Harmonieglaube und steht auf dem gleichen Boden wie der Glaube an die autoritätfreie kirchliche Konformität. Und der liberale Harmonieglaube des Humanismus wurde durch die Geschichte zunächst nicht weniger bestätigt als der religiöse Harmonieglaube des Protestantismus. Die Leistungen des humanistisch-bürgerlichen Zeitalters sind das Experiment, durch das der liberale Harmonieglaube gerechtfertigt wurde, wie die großkirchliche Entfaltung des Protestantismus das E x periment war, durch das der protestantische Harmonieglaube bestätigt wurde. Aber dieses Experiment war wie jedes andere an bestimmte Vorbedingungen, an eine bestimmte geschichtliche Konstellation gebunden. Bedingungen für das Gelingen von Experimenten können in der Natur willkürlich herbeigeführt werden, in der Geschichte sind sie Schicksal. Sie waren Schicksal für eine bestimmte Epoche der abendländischen Geschichte. Sie sind es nicht mehr. Und damit fällt das Experiment und das, was bewiesen werden sollte, das Harmoniegesetz in seiner Allgemeingültigkeit. Es ist bedingt gültig, und sein Anspruch, unbedingt gültig zu sein, ist durch die Geschichte selbst widerlegt. Das aber bedeutet das Ende der protestantisch-humanistischen Ära. Der Glaube an die gleichsam naturgesetzlich sich herstellende H a r monie und mit ihm die liberale Weltanschauung ist an den Widersprüchen der spätkapitalistischen Massengesellschaft gescheitert. Durch die Gegensätze der Klassen und imperialistischen Nationen ist die wirtschaftliche Harmonie zerstört, durch die Parteien mit totalitärem An154

spruch ist die demokratische Konformität aufgelöst, durch die agitatorischen Methoden der Massenbehandlung haben Toleranz und freie Diskussion sich selbst ausgeschaltet, die Unfähigkeit der autonomen Wissenschaft, eine einheitliche, für die Massen maßgebende Weltanschauung zu schaffen, hat die Wissenschaft diskreditiert und den Glauben ihrer Träger an sie gebrochen. Die Folge dieser Widersprüche ist die Entstehung desintegrierter Massen, die, des Lebenssinns beraubt, nach neuen Autoritäten und sinngebenden Symbolen verlangen und bereit sind, dafür politische, wirtschaftliche und geistige Autonomie zu opfern. Die Erfüllung dieser Forderung durch autoritäre und totalitäre Systeme in Praxis und Theorie ist die Art, in der sich das Ende der protestantisch-humanistischen Ära vollzieht. Denn mit dem Humanismus ist auch der Protestantismus in die Desintegration der spätkapitalistischen Massengesellschaft hineingezogen. Die autonome Kulturentwicklung hat den religiösen Sektor in seiner Bedeutung immer mehr eingeschränkt und zugleich von innen her seiner relativen Selbständigkeit beraubt. Große Gruppen der Gesellschaft haben die Kirche ganz beiseitegestellt, andere sie der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung so eingeordnet, daß ihre K r a f t zur Kritik und Reintegration verschwunden ist, viele einzelne, ja fast die ganze jüngere Generation, ertragen die religiöse Verantwortung für sich nicht mehr und opfern ihre religiöse Autonomie, um vielleicht auf dem Wege der Autorität einen neuen Lebenssinn, neue Symbole und Lebensformen zu finden. Es gibt kaum mehr jemand, weder außerhalb noch innerhalb der Kirche, der im Ernst daran glaubt, daß die reintegrierenden Prinzipien der kommenden Gesellschaft dem großkirdilidien Protestantismus entspringen werden. Die Vorgänge in und außerhalb der protestantischen Kirchen bestätigen diese Diagnose. Massenreintegration im großen Maßstab ist wenigstens vorläufig - gelungen auf dem Boden zweier politischer Weltanschauungen, und zwar mit Hilfe eines leidenschaftlichen Glaubens, einer dogmatisch-fixierten Lehre, einer politisch-weltanschaulichen Hierarchie, einer Fülle neuer Symbole und sakramentartiger Weihen, eines radikalen Anspruchs auf die gesamte Existenz und einer unantastbaren Autorität - alles Dinge, die dem Protestantismus fehlen. Es ist symptomatisch für die Lage im Protestantismus, ja des ganzen Christentums, daß es diesen Mächten gelungen ist, den Protestantismus von innen her zu zerspalten und seine Jugend mit fremden Ideen zu erfüllen, die griechisch-orthodoxe Kirche in Stücke zu schlagen und ihre Religion aus dem Bewußtsein der aufwachsenden Generation zu tilgen, die römische Kirche, die ihnen ähnlichste und darum wider155

standsfähigste Form des Christentums, diplomatisch bis zur Grenze der Aktionsfähigkeit zu entwaffnen. Es ist weiter symptomatisch und für die Zukunft entscheidend, daß die protestantische Abwehr sidi in drei Richtungen vollzieht, die sämtlich aus der protestantischen Ä r a herausführen: Ablösung v o m Humanismus, Rekatholisierung, Verbindung mit den außerkirchlichen reintegrierenden Mächten. Die erste H a l t u n g ist das Prinzip der sogenannten dialektischen Theologie und durch sie der deutschen Bekenntniskirche. Es w a r irrig, den Abwehrk a m p f der Bekenntniskirche gegen die eingedrungenen nationalistischen und rassistischen Häresien als Wiedergeburt des kirchlichen Protestantismus zu bewerten. E r war das eindrucksvolle Rückzugsgefecht des deutschen Protestantismus aus der protestantischen Ä r a in die enge antihumanistische Orthodoxie verbunden mit autoritativen Elementen vorprotestantischen Charakters. Diejenigen kirchlichen Kreise, die sich dieser Entwicklung entgegenstellten, k ä m p f t e n , ohne es zu wissen, f ü r die Fortführung der protestantischen Ära, so z. B. die im lutherischen R a t vereinigten deutsch-lutherischen Kirchen und die v o m Reichskirchenministerium eingesetzten Ausschüsse; oder sie entschieden sich für die beiden anderen Wege, den Protestantismus umzubilden. Der eine dieser beiden Wege ist die Rekatholisierung des Protestantismus. T e n denzen solcher Art finden sich in wachsendem Maße in allen protestantischen Gruppen. Sie bedeuten niemals Rückkehr zur römischen Kirche, wohl aber Übernahme katholischer Elemente: Sakramente, Riten, bischöfliche Autorität, Meditation, Ordensgründungen, Mystik usw. Sie zeigen vielfach eine hohe Einschätzung des Anglikanismus, der als Symbol einer zu erstrebenden evangelischen Katholizität erscheint. In all diesen Formen aber führen sie aus der protestantischen Ä r a heraus und werden darum von deren Verteidigern als katholische Imitationen abgelehnt. Der andere Weg, den Protestantismus als maßgebendes geschichtliches Prinzip aufzugeben, ohne doch aufzuhören, protestantisch zu sein, ist seine Verbindung mit den großen politisch-weltanschaulichen Systemen der Autorität, dem faschistisch-nationalistischen oder dem kommunistisch-sozialistischen. D e r Versuch, sich mit dem ersten zu verbinden, ist vor allem in Deutschland gemacht worden, hat aber lediglich zu einer religiösen Glorifizierung des Systems neu-heidnischer Katholizität geführt, als das der Nationalsozialismus weltanschaulich betrachtet werden muß. Von der K r a f t protestantischer K r i t i k ist wenig übrig geblieben. Der Versuch, den Protestantismus mit dem zweiten System zu verbinden, hat an verschiedenen Stellen, z. B. in den Vereinigten Staaten, zu ähnlichen Identifizierungen geführt, bei denen vom Protestantismus wenig oder gar nichts übrig geblieben ist. I m 156

großen und ganzen aber ist der protestantische Sozialismus sehr viel vorsichtiger verfahren, hat seinen Protest ohne Abschwächung auch gegen den Sozialismus und Kommunismus gerichtet, hat aber eine geschichtlich wichtige Verbindung mit beiden nicht erreicht. Aber ob erfolgreich oder nicht, die Tendenz, einen Weg aus der protestantischen Ära heraus zu suchen, ist in allen genannten Bewegungen deutlich, und sie sind nicht die einzigen! Ihnen gegenüber haben die Versuche, die protestantische Ära fortzuführen, nichts als das Schwergewicht einer großen Tradition einzusetzen. Das ist nicht wenig und wird dem Protestantismus, namentlich in den anglikanischen Ländern, noch längere Zeit vor Katastrophen schützen. Aber es ist zu wenig, um der protestantischen Ära neue K r a f t einzuflößen. Die weltgeschichtliche Konstellation schließt das aus, und die jüngere Generation in und außerhalb der Kirche fühlt diese Unmöglichkeit als einen Teil ihres eigenen Schicksals: Die protestantische Ära ist zu Ende, nachdem ihr fast alle geschichtlichen Voraussetzungen, auf denen sie ruhte, entzogen sind. Aber das protestantische Prinzip und die christliche Verkündigung, auf der es ruht, sind nicht zu Ende - weil sie nicht endlich, nicht erschöpflich sind. Es könnte sich nun die Frage erheben: Was kann das protestantische Prinzip in der nachprotestantischen Ära bedeuten? Eine wirkliche Antwort kann erst gegeben werden, wenn die Strukturen der neuen Ära sichtbar geworden sind. Das ist in dem Chaos der gegenwärtigen Transformation nicht der Fall. Zur Zeit kann nur von Postulaten an die Z u k u n f t gesprochen werden. Es sind die folgenden: 1. In der nachprotestantischen Verwirklichung des Christentums muß das prophetisch-protestantische Prinzip, nämlich die Uberordnung der christlichen Verkündigung über jede Art kirchlicher Verwirklichung, bewahrt werden, aber in der Form eines Korrektivs, nicht eines kirchengründenden Konstitutivs. 2. Die nachprotestantische Verwirklichung des Christentums muß „evangelischer Katholizismus" sein, d. h. eine Kirche mit der K r a f t , Massen zu integrieren durch anerkannte Autorität, wirkungskräftige Symbole und sakramentales Handeln - alles aber unter der Kritik des protestantischen Prinzips. 3. Die nachprotestantische Verwirklichung des Christentums muß den Humanismus als esoterisches Mittel der Selbstkritik und Selbstdarstellung in sich aufnehmen, darf sich aber nicht in Abhängigkeit von ihm und seiner exoterischen Verwirklichung begeben. 4. Die nachprotestantische Verwirklichung des Christentums muß die politisch-soziale und geistig-sittliche Gestaltung der nachliberalen 157

Gesellschaft unter die Kritik der christlichen Verkündigung, des protestantischen Prinzips und der humanistisdien Idee stellen, ohne sich mit politischen oder weltanschaulichen Machtgruppen zu identifizieren. 5. D i e nachprotestantische Verwirklichung des Christentums muß von einer G r u p p e getragen werden, die sich von der großkirchlichen Verwirklichung des Protestantismus relativ zurückzieht und in der soziologischen Form einer gesdilossenen Bewegung, eines Bundes oder Ordens die Struktur des Kommenden religiös, politisch und geistig vorbereitet. Mit der Verwirklichung dieser Forderungen würde eine neue Ä r a des Christentums beginnen, die nicht unprotestantisch aber nachprotestantisch wäre. Auf dieses Ziel muß protestantisches Denken und H a n deln sich heute richten.

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ENDE DER PROTESTANTISCHEN

ÄRA?

II

D e r Protestantismus k ä m p f t in der gegenwärtigen Weltlage von allen abendländischen Religionen und Kirchen augenblicklich den schwersten K a m p f . Er war zugleich mit jener Ä r a entstanden, die heute entweder zu Ende geht oder aber in einer grundlegenden Strukturwandlung begriffen ist. Deshalb ist die Frage unvermeidlich, ob der Protestantismus der augenblicklichen Situation so begegnen kann, daß es ihm möglich wird, die gegenwärtige historische Periode zu überleben. Es ist natürlich klar, daß alle Religionen durch Profanierung und Heidentum bedroht sind. Aber diese Bedrohung, soweit sie die reine Profanität betrifft, hat vielleicht schon ihren Höhepunkt erreicht. Die Unsicherheit, die in wachsendem Maße von Völkern und Einzelnen erlebt wird, die Erwartung von Katastrophen in allen Kulturländern, der dahinschwindende Glaube an den Fortschritt - das alles hat ein neues Suchen nach transzendenter Sicherheit und Geborgenheit hervorgerufen. Gewiß ist die Religion heute machtvoller als vor dem ersten Weltkrieg, zum mindesten im Fühlen und Sehnen der Menschen. Der individualistische Atheismus der Freidenker zum Beispiel ist seit dem Beginn dieses Jahrhunderts in den westlichen Ländern im Abnehmen begriffen, und der Konflikt zwischen den Naturwissenschaften und der Religion ist in allen ernst zu nehmenden Philosophien überwunden. Aber die Frage, ob der Protestantismus im besonderen machtvoller geworden ist, muß verneint werden, obwohl man manchmal das Gegenteil glauben möchte, wenn man das allgemeine Anwachsen des religiösen Interesses betrachtet und die besondere L a g e des Protestantismus übersieht. Es ist die Grundvoraussetzung dieser Darlegungen, daß die traditionelle F o r m des Protestantismus die Epoche der „Desintegration der Massen" und des Kollektivismus nicht überdauern kann - daß das Ende der protestantischen Ä r a eine Möglichkeit geworden ist. Z u m Beweis dieser Behauptung müßte erstens gezeigt werden, daß eine solche Tendenz zum Kollektivismus besteht, und zweitens, inwiefern das protestantische Prinzip zu den neu auftauchenden Prinzipien sozialer Gestaltung in Widerspruch steht. Schließlich muß gefragt werden, ob f ü r den Protestantismus überhaupt eine Möglichkeit besteht, sich der 159

neuen Lage anzupassen, ohne seinen eigentlichen Charakter aufzugeben. Wenn wir von der Tatsache der „Desintegration der Massen" sprechen, beziehen wir uns hauptsächlich auf die Situation in Europa. Aber da die Ursache dieser Desintegration in den Vereinigten Staaten die gleiche ist wie in Europa - nämlich die geistige und soziale Lage des Spätkapitalismus - , so ist das Problem der Desintegration der Massen f ü r Amerika ebenso bedeutsam, wenn auch mehr im Sinne einer Bedrohung als einer existierenden Wirklichkeit. Mit „Desintegration der Massen" ist die Situation gemeint, in der die ständische Ordnung, die im Feudalismus und frühen Kapitalismus groß wurde, zusammenbrach und amorphen Massen Platz machte, für die die Gesetze der Massenpsychologie Geltung haben. In dieser Situation werden die individuellen Unterschiede und ständischen Gliederungen durch eine gleichförmige Massenhaltung verdrängt. Die ursprünglichen Traditionen sind vergessen, die alten Symbole haben ihre Macht verloren, und ein sinnvolles persönliches Leben, besonders für die Massen der Industriearbeiter, ist unmöglich geworden. Desintegration in dieser Bedeutung f ü h r t zur Sinnlosigkeit, ebenso in der wirtschaftlichen wie in der gesellschaftlichen und geistigen Sphäre. Der Sinnverlust des Daseins ist vielleicht das charakteristischste Kennzeichen der spätkapitalistischen Periode. Das läßt sich leicht erklären. Die technischen Erfindungen und die kapitalistische Wirtschaft haben die ungeheuren Massen geschaffen, die die großen Städte aller Kulturländer bevölkern. Die große Zahl als solche konstituiert noch keine Masse, „Masse" entsteht erst in dem Augenblick, in dem alle diese Menschen unter dem gleichen Schicksal stehen - unter dem Schicksal, das praktisch unentrinnbar ist f ü r jeden Einzelnen, ebenso f ü r die Arbeiterschaft wie f ü r den kleinen Mittelstand. Seitdem die Menschen in Massen in den großen Fabriken arbeiten, seitdem sie als Masse denselben geringen Lohn erhalten, seitdem sie als Masse in denselben heruntergekommenen Häusern und armseligen Straßen leben, seitdem sie als Masse dieselben geringen Möglichkeiten geistiger und körperlicher Erholung haben, bewirkt die Vermassung mehr und mehr eine Unterdrückung jeder Individualität und ihre Unterwerfung unter die Gesetze des Massenfühlens und -wollens. D a mit ist die Masse jedem Appell eines Verführers preisgegeben, der es versteht, die Gesetze der Massenpsychologie zu brauchen und zu mißbrauchen. Es ist charakteristisch f ü r das Verhalten der Massen, daß jeder Einzelne in seinem Handeln von Motiven bestimmt wird, die auch die Motive der anderen sind und nicht von jenen, durch die er eine unabhängige, einmalige Persönlichkeit ist. D a r u m wenden sich Agitatoren notwendigerweise an die weniger geformten und weniger disziplinier-

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ten Elemente in jedem Teil der Massen und gebrauchen sie für ihre Zwecke. Alle diese Dinge sind nicht sehr gefährlich und können an sich keinen Grund für revolutionäre Veränderungen in der Struktur einer Epoche abgeben, solange sich Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen wachsender Expansion befinden. Tatsächlich verleiht diese Tendenz zur E x pansion allen ein Gefühl für die Möglichkeit, ihre Lebensweise zu verbessern, und führt sogar dazu, unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung im Wirtschaftlichen und Sozialen den ganzen Bereich des Lebens zu gestalten. Aber sobald die inneren Widersprüche des Gesamtgefüges im Leben des Einzelnen offenbar werden und die Möglichkeiten eigenen Vorankommens schwinden, beginnt die Auflösung des persönlichen Lebens. Oder genauer gesagt, die latente und potentielle Auflösung, die schon von A n f a n g an in der modernen kapitalistischen Gesellschaft vorhanden ist, wird zur schreckensvollen Wirklichkeit. Diese Gegensätze in der sozialen Ordnung sind für jeden in der gegenwärtigen Krise sichtbar geworden. Grundsätzlich sind es die folgenden: 1. der Gegensatz zwischen der Schnelligkeit des technischen Fortschrittes und der Abhängigkeit des Menschen von seiner Arbeit, das heißt die Tatsache damit verbundener unvermeidlicher Arbeitslosigkeit; 2. der Gegensatz zwischen den Produktionskräften und der K a u f k r a f t der Massen, das heißt die Tatsache der wachsenden Armut der Massen neben dem Anwachsen unproduktiven K a p i t a l s in den Banken, wodurch die Notwendigkeit einer imperialistischen Außenpolitik und zunehmende Kriegsgefahr entsteht; und 3. der Gegensatz zwischen der angeblichen Freiheit jedes Einzelnen und der vollständigen Abhängigkeit der Massen von den Marktgesetzen, mit anderen Worten, die T a t sache, daß der Mensch, nachdem er das Schicksal, das ihm früher in den Naturmächten drohte, überwunden hatte, jetzt dem Schicksal unterworfen ist, das ihm aus der ökonomischen Entwicklung droht. Im Spätkapitalismus wird die Unsicherheit, die schon im Wesen des Liberalismus liegt, zur beständigen Drohung für Individuum und Masse. Sie bedroht immer mehr jede Klasse in der Gesellschaft: den kleinen Mittelstand, die Angestellten, die Bauern und schließlich sogar die herrschenden Klassen. N e u e Massen gehen aus dem Zusammenbruch der alten Stände hervor, und das Individuum, das seine Z u k u n f t verloren hat, wird jedem Einfluß zugänglich. Ständige Arbeitslosigkeit schafft eine neue Seelenhaltung der Massen voll Hoffnungslosigkeit und Sinnentleerung. D i e alten Traditionen sind im Massendasein untergegangen, und neue können in diesem Zustand beständigen Wechsels nicht geschaffen werden. Der transzendente Lebenssinn, der in den Religionen 161

und ihren Symbolen sich manifestiert, verschwindet mit der Profanierung aller Lebensbereiche, und der Konkurrenzkampf aller gegen alle diese Grundsituation der modernen industriellen Gesellschaft — nimmt unter Einzelnen, Klassen und Nationen in einem so ausgesprochenen Maße zu wie nie zuvor und treibt zu Rassenhaß, Revolution und Krieg. Die neue Generation, die unter diesen Umständen aufwächst, ist noch verzweifelter und richtungsloser als die ältere Generation und ersehnt als letztes Mittel und einzige Hoffnung Veränderung, Revolution und Krieg. Diese Beschreibung kennzeichnet die Nachkriegssituation in Mitteleuropa. Es ist natürlich keine Beschreibung einer Wirklichkeit, die überall in der westlichen Welt in dieser Art bestünde, und es würde eine Übertreibung sein, wenn man es so auffassen wollte. Jedoch beschreibt es die Haupttendenz der spätkapitalistischen Gesellschaft, und in der Geschichte entscheidet die stärkste Tendenz. In solch einer Situation taucht natürlich eine Frage vor allen anderen auf: Wie ist eine Erneuerung möglich? Und die allgemeine Antwort darauf lautet: Durch eine Organisation der Masse in einem zentralistischen und kollektivistischen System. Es gibt keinen anderen Ausweg; denn Massenorganisation bedeutet im wirtschaftlichen Bereich die Garantie einer gewissen Sicherheit. Im politischen Bereich bedeutet sie die Ausschaltung endloser Diskussionen zwischen streitenden Parteien und Klassen, und im geistigen Bereich bedeutet sie die Bildung einer allgemeingültigen Ideologie mit allgemeingültigen Symbolen und einer dogmatischen Grundlage für die Erziehung und alle geistige Tätigkeit. All dieses setzt eine zentralistische Macht und Autorität voraus, nicht allein im Hinblick auf die wirtschaftliche und politische Ordnung, sondern auch in bezug auf die Erziehung und die Religion. Die gegenwärtigen autoritären und totalitären Tendenzen in Europa haben ihre Wurzel in dieser inneren Notwendigkeit, die Massen neu zu ordnen. Sie würden sich niemals durchgesetzt haben, wenn nicht ein ausgesprochenes Gefühl dafür in großen Teilen der Masse lebendig gewesen wäre, besonders in der jungen Generation. Man will die Dinge nicht mehr selber entscheiden, man will nicht mehr selbst über seinen politischen Glauben entscheiden, nicht mehr über Religion und Moral. Man sehnt sich nach einem Führer, nach Symbolen, nach Ideen, die über aller Kritik stehen. Man sehnt sich nach der Möglichkeit, sich zu begeistern, sich zu opfern und sich gemeinsamen Ideen und Aktionen hinzugeben. Autonomes Denken und Handeln wird als liberalistisch abgelehnt und daher als die Ursache der Sinnlosigkeit und Verzweiflung in jedem Lebensbereich betrachtet. Diese strukturellen Tendenzen sind am stärksten in Mitteleuropa, besonders in Deutschland, aber da sie in der all162

gemeinen Weltlage ihren Ursprung haben, finden sie sich überall auch in der westlichen Welt. D e r Protestantismus steht in vollkommenem Widerspruch zu dieser Entwicklung. D a s zeigt sich zunächst auf dem religiösen Gebiet und in den geistigen und praktischen Auswirkungen der protestantischen H a l tung. D a s zentrale Prinzip des Protestantismus ist die Lehre von der Rechtfertigung allein durch die G n a d e ; das bedeutet, daß weder ein Einzelner noch eine Gemeinschaft für ihre sittlichen Taten, für ihre sakramentale Mächtigkeit, für ihre Heiligkeit oder für ihre Lehre göttliche Unbedingtheit beanspruchen kann. Wenn bewußt oder unbewußt solch ein Anspruch erhoben wird, stellt sich der Protestantismus dagegen mit seinem prophetischen Protest, der Gott allein Unbedingtheit und Heiligkeit zuerkennt und jeden Anspruch menschlicher Überheblichkeit verwirft. Dieser Protest, auch gegen sich selbst, dem das Erlebnis von Gottes unbedingter Majestät zugrunde liegt, konstituiert das protestantische Prinzip. Dieses Prinzip gilt sowohl für das Luthertum als auch für den Calvinismus und ebenso f ü r die modernen protestantischen Bewegungen. Es ist das Prinzip, das die zufällige Bezeichnung „Protestant" zu einem wesentlichen und symbolhaften N a m e n machte. Es schließt in sich, daß es keine geheiligte Sphäre geben kann, weder kirchlich noch politisch, daß es keine geheiligte Wahrheit geben kann, die göttliche Wahrheit an sich ist. D a r u m muß der prophetische Geist immer alle geheiligten Autoritäten, Lehren und alle geheiligte Moral der K r i t i k unterziehen, angreifen und verurteilen. U n d jeder echte Protestant ist aufgerufen, d a f ü r die persönliche Verantwortung zu übernehmen. J e d e r Protestant, sowohl Laie als auch Geistlicher (der Geistliche ist im Protestantismus nur ein besonders vorgebildeter Laie und nichts anderes), muß f ü r sich selbst entscheiden, ob eine Lehre wahr ist oder nicht, ob ein Prophet ein wahrer oder ein falscher Prophet ist und ob eine Macht dämonisch oder göttlich ist. Sogar die Bibel kann ihn nicht von dieser Verantwortung freisprechen, denn auch die Bibel ist der Auslegung unterworfen: es gibt keine Lehre, keinen Propheten, keinen Priester und keine Macht, die nicht ihre Rechtfertigung aus der Bibel herleiteten. Der persönlichen Entscheidung kann der Protestant nicht entrinnen. Wenn wir die Situation der ihres Lebenssinnes beraubten Massen betrachten, die völlig unfähig sind, solch eine Entscheidung zu treffen, und wenn wir ebenso die Situation der jungen Generation betrachten, die sich weigert, die Verantwortung f ü r solch eine Entscheidung auf sich zu nehmen, können wir k a u m einen W e g sehen, wie der Protestantismus diese schwierige Weltlage überwinden soll. Der Protestantismus 163

scheint selbst an der immer mehr um sich greifenden Auflösung teilzuhaben. Soweit es den liberalen Protestantismus betrifft, entsteht daher die Frage: Wie kann er ein Fundament der Erneuerung schaffen, wenn seine eigenen Prinzipien über die profane Welt nicht hinausgreifen? Das gilt von seinem Denken, das abhängig ist von der wachsenden Grundlosigkeit des geistigen Lebens im allgemeinen, und das gilt von seinem Tun, das ihn in die zunehmenden Widersprüche des sozialen Lebens verwickelt, sowohl innerhalb der Völker als auch in ihren Beziehungen zueinander. D a r u m wählen die Menschen, die durch die Sinnlosigkeit ihrer Existenz bedrängt sind, im allgemeinen die entgegengesetzte Richtung: Fundamentalismus, Barthianismus, Buchmanismus und manche andere Bewegungen, die den Liberalismus gänzlich verwerfen. Alle diese Menschen möchten ein Prinzip haben, das ihrem zerstörten Dasein im Persönlichen und Sozialen einen transzendenten Sinn gibt. Aber bei all diesen Bewegungen besteht die Schwierigkeit, daß sie unverständliche Symbole benutzen, die für die Gegenwart ohnmächtig geworden sind. Der Barthianismus z. B. hat seine K r a f t in der Rettung der deutschen Kirche vor dem Neuheidentum bewiesen, da er einer Gruppe im Kampf stehender Geistlicher theologischen H a l t gab, aber er war nicht imstande, die junge Generation oder die Massen des Proletariats oder selbst den Mittelstand religiös zu erneuern. Er ist Protestantismus nur im Sinne des Protestes und der Abwehr. Daher muß der Protestantismus immer noch Mittel und Wege suchen, die ihn in den Stand setzen, der Weltlage zu begegnen. Seine Fortdauer in dem kommenden Zeitalter hängt von seiner Rolle in der Gegenwart und nahen Z u k u n f t ab. Die Auswirkungen des protestantischen Prinzips f ü r das geistige, moralische und soziale Leben sind klar. Der Protestantismus ist eine höchst intellektualisierte Religion. Der T a l a r des Geistlichen heute ist das Professorengewand des Mittelalters. Er symbolisiert die Tatsache, daß die theologischen Fakultäten durch ihre Bibelauslegung die letzte Autorität innerhalb der protestantischen Kirche geworden sind. Aber Professoren sind in erster Linie geistige Autoritäten, das heißt Autoritäten auf Grund ihrer Fähigkeit zu logischer und wissenschaftlicher Beweisführung. Diese Art von Autorität ist das genaue Gegenteil derjenigen, die von den aufgelösten Massen gesucht wird, deren Verlorenheit in gewisser Weise ein Echo ist auf die endlosen Argumente und Gegenargumente ihrer Führer. Bischöfe, Priester und Könige haben eine sakramentale Autorität, die ihnen durch Argumente nicht genommen werden kann und die von den geistigen und moralischen Qualitäten ihrer Träger unabhängig ist, eine Autorität also, die auf keine Weise 164

verlorengehen kann. Diese sakramentale Basis wird durch den protestantischen Protest verneint. Der Geistliche ist Prediger, nicht Priester, und Predigten wenden sich zunächst an den Intellekt. Aber die aufgelösten Massen brauchen Symbole, die unmittelbar verständlich sind, ohne Umweg über den Intellekt. Sie brauchen heilige Wirklichkeiten, die von der subjektiven Eignung des Geistlichen unabhängig sind. Die Bibel, das Dogma, die Heiligenlegende, der Ritus der Feiertage und des Alltags, alle Symbole, die unserem Dasein im allgemeinen und im besonderen von Geburt an bis zum Tode Sinn geben, sowie die Kirche selbst und ihre Vertreter in Vergangenheit und Gegenwart waren solche Wirklichkeiten. Aber sehr wenige dieser Wirklichkeiten sind in den protestantischen Kirchen übriggeblieben. Statt dessen begann durch den Einfluß der protestantischen Laien eine Rationalisierung der Lehre, ein Versuch zu vernünftigem Verstehen, und das religiöse Mysterium schwand mehr und mehr. Die protestantische Erziehung mit ihrer rationalen und moralistischen Grundhaltung war zwar fähig, Einzelpersönlichkeiten heranzubilden, versagte aber völlig bei der Erziehung der Massen. In wachsendem Maße konnten die Menschen die furchtbare Verantwortung nicht mehr ertragen, sich ständig geistig und moralisch selbst entscheiden zu müssen. Das Gewicht dieser Verantwortung wurde so schwer, daß man es nicht mehr aushalten konnte, und Geisteskrankheiten wurden sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa geradezu epidemisch. In dieser Lage bedeutete die Psychoanalyse den gebildeten Menschen mehr als die Religion, besonders die protestantische Religion. In den katholischen Ländern war die Lage anders, weil die Beichte imstande war, viele Tendenzen zur persönlichen Auflösung aufzufangen. Schließlich müssen wir die sozialen und politischen Seiten der protestantischen H a l t u n g betrachten. Der wichtigste Punkt ist das Fehlen einer unabhängigen Hierarchie im Protestantismus. Während die katholische Hierarchie f ü r die Kirche eine soziale und politische Unabhängigkeit garantiert, ist der Protestantismus immer abhängig, entweder vom Staat oder von bestimmten sozialen Gruppen. Es ist für ihn fast unmöglich, vom Staat unabhängig zu sein, weil die ganze soziale Existenz der Kirche auf staatliche H i l f e angewiesen ist. Seit die Landesherren in der lutherischen Reformation plötzlich die Stelle der Bischöfe einnahmen, haben wir keine wirklichen Bischöfe im deutschen Protestantismus gehabt, sondern nur Generalsuperintendenten, die in manchen Ländern den Titel „Bischof" erhielten. In den Vereinigten Staaten sind es die sogenannten „outstanding members" einer Gemeinde, die dort eine ähnliche Rolle wie die Fürsten oder Patrone in Mitteleuropa spielen. 165

D a s Gefährliche in dieser Situation ist die Identifizierung der kirchlichen Gesichtspunkte mit den Interessen bestimmter sozialer Gruppen und die praktische Ausschaltung der Opposition vom Einfluß auf den Geist der Kirchen. In Perioden sozialer Auflösung bedeutet das die Auflösung der Kirche selbst. Sie kann dann gegen destruktive Tendenzen nur geringen Widerstand leisten und hat sehr wenig Macht, ein unabhängiges Prinzip für eine Erneuerung zu schaffen. Außerdem könnte sie es auch dann nicht, wenn sie die Macht dazu hätte, d a der Protestantismus kein autonomes System sozialer und politischer Ethik hat, das ihm als Maßstab für jede Sozialordnung dienen könnte, wie es der Katholizismus im Thomismus hat. Deshalb überwiegen heute in den ungeheuren Bemühungen zur N e u ordnung der Massen niditprotestantische K r ä f t e , wie sie sich in den drei großen zentralistischen, autoritären Systemen, Kommunismus, F a schismus und römischem Katholizismus, vorfinden. Der Protestantismus steht nur in der Verteidigung. Die Möglichkeiten, die dem Protestantismus in der gegenwärtigen L a g e noch übrigbleiben, könnten so formuliert werden: 1. Der Protestantismus als Kirche für die Massen kann nur weiterbestehen, wenn es ihm gelingt, sich einem fundamentalen Wandel zu unterziehen. D a f ü r müßte er ein neues Verständnis der Symbole und all der Dinge gewinnen, die wir „heilige Wirklichkeiten" genannt haben. U m weiterzuleben, müßte er seine Botschaft neu formulieren, so daß sie von einer aus den Fugen geratenen Welt, die Heilung sucht, angenommen werden könnte. Er müßte seine Lebensform, seine Verfassung, seinen Ritus und seine Individual- und Sozialethik umgestalten. Aber es ist die Voraussetzung für eine solche Umgestaltung, daß seine Führer den Ernst der Situation erfassen. Der Protestantismus ist heute noch in einer Lage, wo er ein Wort in den N ö t e n der Gegenwart mitsprechen kann, aber vielleicht wird die Welt bald nicht mehr warten, sondern zu irgendeiner A r t von Katholizismus übergehen: sei es mehr christlich, wie der römische Katholizismus, oder mehr heidnisdi, wie der Nationalsozialismus, oder mehr profan, wie der K o m m u n i s mus - alle diese Bewegungen haben mehr Macht, der Auflösung der Massen entgegenzuwirken, als der Protestantismus. 2. Jedoch kann der Protestantismus bei seiner Bemühung um eine Erneuerung aus Quellen schöpfen, die jeder Form des Katholizismus unzugänglich sind, das heißt, er hat die Möglichkeit, sich mit der profanen Welt auf eine intensivere und unmittelbarere Weise einzulassen, als jede andere Religion es kann. Der Protestantismus verneint im Prinzip die Trennung zwischen einer heiligen und einer profanen 166

Sphäre. D a für ihn nur Gott allein heilig ist und da keine Kirche, keine Lehre, kein Heiliger, keine Institution und kein Ritus heilig an sich ist, ist auch jeder Mensch, jedes Ding und jede Gruppe an sich profan und heilig nur insoweit, als sie zum Symbol werden für die Heiligkeit Gottes. Diese Haltung, die die Gefahr einer völligen Profanierung in sich schließt, ist von den protestantischen Kirchen Amerikas bereits verstanden und verwirklicht worden. Der Gedanke, daß das Reich Gottes nicht nur die Einzelseele, sondern auch das soziale, kulturelle und politische Leben meint, ist eine jener Ideen des Weltprotestantismus, die sich in Amerika zuerst entwickelt haben. Aber auch in Europa hat der Protestantismus manche Möglichkeiten, die für den Katholizismus nicht existieren. Der Religiöse Sozialismus konnte im Protestantismus Europas entstehen trotz der konservativen Haltung der Kirchen, während der Versuch, solch eine Bewegung im Katholizismus zu erwecken, gescheitert ist, trotz seiner Verbindung mit sozialistischen Parteien. Dieselbe Situation haben wir im Bereich der Philosophie, der Kunst, der Psychologie und der Erziehung. Während der Katholizismus in diese Gebiete eingreift von der Voraussetzung aus, die ganze Wahrheit und die vollkommene Lebensordnung zu haben, ist der Protestantismus immer im Werden, ohne daß er den Anspruch erhebt, selbst das Reich Gottes darzustellen. 3. Der wichtigste Beitrag des Protestantismus für die Welt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist das Prinzip des prophetischen Protestes gegen jede Macht, die göttlichen Charakter für sich beansprucht, sei es nun Kirche oder Staat, Partei oder Führer. Natürlich ist es unmöglich, eine Kirche zu bilden allein auf der Basis des Protestes; das zu versuchen ist der Fehler des Protestantismus zu jeder Zeit gewesen, aber der prophetische Protest ist notwendig für jede Kirche und für jede profane Bewegung, wenn Zerfall vermieden werden soll. Er muß in jeder Situation zum Ausdruck gebracht werden als Widerspruch zu den Versuchen des Menschen, seinem eigenen Denken und Tun absolute Gültigkeit zu verleihen. Und dieser prophetische protestantische Protest ist heute nötiger als je seit den Tagen der Reformation als der Protest gegen den dämonischen Mißbrauch aller Autoritäten und Mächte, die sich unter dem Druck des neuen Kollektivismus entfalten. In diesem protestantischen Protest wurzelt der immer gültige Wert des Liberalismus. Ohne diese prophetische Kritik werden die neuen Autoritäten und Mächte notwendig zu einem neuen und immer weitergehenden Zerfall führen. Diese Kritik fordert Zeugen und Märtyrer: ohne sie war der prophetische und protestantische Protest nicht lebendig und wird es auch in Zukunft nicht sein. 167

Was nun die drei Gesichtspunkte betrifft (das katholische oder sakramentale Element, das p r o f a n e oder gegenwartsbezogene, das prophetische oder kritische Element), so muß gefragt werden, ob der Protestantismus in der L a g e sein wird, diese drei Elemente miteinander zu vereinen, oder ob sie durch verschiedene Gruppen verwirklicht werden sollen; das erste durch die katholische Kirche, das zweite durch eine eigenständige profane Welt, das dritte durch Einzelpersönlichkeiten oder sektenartige Gruppen. In letzterem Falle würde der Protestantismus, soweit er in den Kirchen verkörpert ist, zu Ende gehen, das „ E n d e der protestantischen Ä r a " würde gekommen sein. Müßten wir dann eine abendländische Welt erwarten, die zwischen christlichem Katholizismus, nationalistischem Neuheidentum und kommunistischem Humanismus aufgeteilt ist, das heißt also, zwischen drei autoritäre Systeme als Mittel für eine neue Sinngebung für die Massen? D a s braucht nicht notwendigerweise durch eine formale Auflösung der bestehenden protestantischen Kirchen zu geschehen. D a s ist sogar wenig wahrscheinlich. Aber diese U m w a n d l u n g könnte sich vollziehen und vollzieht sich in der T a t schon als ein langsamer oder vielleicht nicht einmal so langsamer Wechsel in der Geisteshaltung der jüngeren Generation, ein Wechsel von einer autonomen zu einer heteronomen H a l t u n g , bei einigen die Hinwendung zum Katholizismus und bei der großen Überzahl zum nationalistischen Neuheidentum oder kommunistischen Humanismus. Wenn man Glied einer protestantischen Kirche bleibt, braucht man deshalb doch noch kein wirklicher Protestant zu bleiben. Wer an die göttliche Berufung eines nationalistischen Führers glaubt, kann zwar Glied einer protestantischen Kirche bleiben, hat aber aufgehört, Protestant zu sein. Wer an das Reich Gottes glaubt und für möglich hält, daß es in einem kommenden Zeitalter sozialer Gerechtigkeit und Vollkommenheit endgültig verwirklicht wird, braucht darum niemals die protestantische Kirche zu verlassen, ist aber kein Protestant mehr im wahren Sinne des Wortes. Wenn wir diesen kritischen Maßstab anlegen, so müssen wir fragen: W o gibt es Protestanten? W o sind die, für die der Glaube der Reformatoren das höchste Symbol ist, das ihnen Einheit und Sinn gibt? Es gibt einige Menschen dieser H a l t u n g in allen protestantischen Kirchen; es gibt Geistliche und Laien, Professoren und Studenten in allen Denominationen, die an ihrem Protestantismus festhalten als der einzigen Form, in der sie wirklich Christen sein können. Aber obgleich sie auch noch nicht selbst der Verzweiflung und Sinnlosigkeit anheimgefallen sind, so kennen sie diese doch als Wirklichkeit bei der großen Masse und als Bedrohung ihrer selbst, und damit geraten sie in Gefahr, ihren un168

gebrochenen protestantischen Glauben zu verlieren. Verständlicherweise suchen sie ihn zu stärken durch Schaffung eines religiösen Eigenbezirks jenseits der zeitlichen Mächte der Zersetzung, des Zerfalls und der Sinnlosigkeit. Sie klammern sich an die alten Dogmen, oder an die Rettung ihrer eigenen Seele, oder an einen Glauben an eine rein jenseitige Offenbarung, die keinerlei Beziehung zum Zeitlichen hat. D a s ist ein Protestantismus des Rückzuges und der Verteidigung, und obwohl es o f t eine sehr kraftvolle Verteidigung ist, wie der deutsche Kirchenkampf gezeigt hat, ist es trotzdem Verteidigung und kein Angriff. Wird also das Weiterbestehen des Protestantismus die Form eines Rückzuges auf einen Eigenbezirk annehmen, etwa so, wie sich die Indianer in den Vereinigten Staaten am Leben erhalten haben? Der Protestantismus könnte auf diese Weise überdauern, aber er würde damit aufhören, einen formenden Einfluß auf die seit dem ersten Weltkriege sich vollziehende Strukturwandlung der Welt auszuüben. Oder besteht die Hoffnung, daß die heutigen protestantischen K i r chen sich so verwandeln, daß sie imstande sind, der gegenwärtigen Welt einen W e g zur Erneuerung zu zeigen? Es gibt eine Reihe von Bewegungen in den protestantischen Kirchen, die gewisse Elemente des Katholizismus einzuführen versuchen, wie zum Beispiel die bischöfliche Autorität, eine neue A u f f a s s u n g der Sakramente oder eine Bereicherung des Ritus, neue Formen der Meditation und neue Symbole. Aber allen diesen Versuchen steht entgegen, daß sie nicht im traditionellen protestantischen Empfinden begründet sind. Deshalb machen sie o f t mehr den Eindruck von Nachahmungen als von originalen Schöpfungen und daher fehlt ihnen die Überzeugungskraft. D a r a u s f o l g t : wenn der Protestantismus seine Stellung behaupten will, muß er aus der Geschichte des Katholizismus lernen, das heißt aber nicht, daß er ihn nur nachahmen und wiederholen soll. Er muß neue Fundamente suchen, wenn er überhaupt in seinen wesentlichen Elementen überleben will. U n d damit entsteht die F r a g e : Gibt es die Möglichkeit eines dritten Weges? Wenn die U m w a n d l u n g der protestantischen Kirchen insgesamt unmöglich ist und wenn der Weg des Rückzuges auf einen Eigenbezirk das Ende des Protestantismus als einer lebendigen K r a f t der Gegenwart bedeuten würde, und damit entsteht die Frage nach einem dritten Weg, durch den der Protestantismus in Z u k u n f t weiterbestehen könnte? Wenn es solch einen Weg gibt, so kann er sich nicht lösen von der Forderung, sich auf das prophetische Prinzip im Protestantismus zu gründen und dessen Fähigkeit, unmittelbar in der profanen Welt zu wirken. Wenn er das nicht täte, wäre er nicht der Protestantismus, von dem wir sprechen. Dieser dritte W e g erfordert, daß der Prote169

stantismus als der prophetische Geist erscheint, der weht, wo er will, ohne kirchlidie Vorschriften, Organisation und Überlieferung. Auf diese Weise kann er wirken durch den Katholizismus hindurch, ebenso wie durch die Orthodoxie; durch den Faschismus hindurch, ebenso wie durch den Kommunismus, und in all diesen Bewegungen wird er die Form des Widerstandes annehmen - des Widerstandes gegen die Verzerrung des Menschlichen und des Göttlichen, die notwendig mit dem Entstehen der neuen autoritären Systeme verbunden ist. Aber die Forderung würde ein sehr idealistischer Wunsch bleiben, wenn es keine lebendige Gruppe gäbe, die Träger dieses Geistes sein könnte. Solch eine Gruppe dürfte nicht den Charakter einer Sekte haben, sondern müßte mehr eine Art Orden oder Bund sein. Sie müßte in jedem Falle eine aktive Gruppe darstellen mit dem Ziel, zunächst bei sich selbst diese U m w a n d l u n g des Protestantismus zu vollziehen, zu der weder die heutigen Kirchen noch die Rückzugs- und Verteidigungsbewegungen imstande sind. Es müßte also eine Gruppe sein, in der die christliche Botschaft verstanden wird als das neuordnende Prinzip in den Wirren der Gegenwart. Das würde die folgenden Bedingungen f ü r ihre Mitglieder in sich schließen: 1. eine Entscheidung f ü r das protestantische Prinzip bei der Deutung der menschlichen Existenz ohne die Notwendigkeit, zu einer protestantischen oder sogar christlichen Kirche zu gehören; 2. eine Entscheidung f ü r die Anwendung dieses Prinzips auf die gegenwärtige Situation als der neuordnenden Macht, ohne die Notwendigkeit, zu einer bestimmten philosophischen oder politischen Partei zu gehören; 3. eine Entscheidung f ü r ein allgemeines Programm, wonach die Gruppe auf das protestantische Prinzip gegründet werden soll (das würde die Kritik an dieser Grundlage selbst ausschließen); 4. eine Entscheidung f ü r einzelne Programmpunkte, die die Anwendung des allgemeinen Programms auf die Bedürfnisse bestimmter Gruppen innerhalb der Denominationen und Kirchen, Nationen, Parteien, Rassen, Klassen und Kontinente enthielte - Programmpunkte, die der Aufgabe jeder einzelnen dieser speziellen Gruppen entsprechen, von denen aber alles ausgeschlossen ist, was dem allgemeinen Programm widerspricht. Ohne Zweifel lassen sich viele Bedenken geltend machen gegen die Möglichkeit, ob überhaupt eine solche Gruppe entstehen könnte; aber im ersten A n f a n g erscheinen alle Bewegungen und ihre Ideen so, als ob ihre Verwirklichung unmöglich sei. Die Frage ist vielmehr, ob ihre Wurzeln tief genug liegen und ob sie der werdenden, historischen Wirklichkeit angemessen sind. Wenn es eine solche Bewegung gäbe, würde das Ende der protestantischen Ära noch nicht gekommen sein. 170

DIE

WIEDERENTDECKUNG

DER PROPHETISCHEN IN DER

TRADITION

REFORMATIONi

I . D I E GOTTHEIT GOTTES

Einleitung Das Thema dieses Aufsatzes setzt den Verlust der prophetischen Tradition voraus. Es gehört zu den Tragödien in der Geschichte der christlichen Kirche, daß diese Tradition tatsächlich weithin verlorenging, nämlich so weit die offizielle Kirche die Vorherrschaft besaß. Wir finden in dem Buch der Offenbarung zwei Symbole für das Ende - Ende verstanden als Abschluß und zugleich als „Ziel der Geschichte". Das eine ist die Eschatologie, die besagt, daß die letzten Dinge hinter der Geschidite kommen werden, in dem erfüllten Reich Gottes, das jenseits von Zeit und Raum liegt. In demselben Buch finden wir aber auch den Gedanken einer Herrschaft Christi, die innerhalb der Geschichte sein wird, im Symbol der „Tausend Jahre". Der Widerstreit dieser beiden Gedanken - ob das Ziel der Geschidite jenseits oder innerhalb der Geschichte liege - hat unsere Kirchengeschichte ständig bewegt und immer wieder die Problematik des prophetischen Elementes in der Geschidite der Kirche gezeigt. Es hat einige Lösungsversuche gegeben, die das tausendjährige Reich Christi innerhalb der Geschichte betonen - das Reich, das wir erwarten, das gewißlich kommen wird, dessen Kommen vielleicht nahe bevorsteht; eine Bewegung dieser Art war zum Beispiel der Montanismus. Die klassisdie Lösung hat jedoch Augustin gegeben: die Tausend Jahre sind bereits angebrochen, sie sind hier und jetzt, in der Kirche 1 Diese drei Vorlesungen wurden ursprünglich an der Washington Cathedral Library im Jahre 1950 gehalten als Teil einer Vorlesungsreihe mit dem Titel „Die religiöse Forderung an die Gesellschaft, eine Studie über die prophetische Tradition". Die anderen Vortragenden in dieser Reihe waren Rev. Robert O. Kevin, Ph. D., und Rev. Clifford L. Stanley, Th. D., beide Professoren des Protestant Episcopal Theological Seminary in Alexandria, Virginia, USA. Da Nachschriften der gesamten Vorlesungsreihe vergriffen sind, wurde eine beschränkte Anzahl der Vorlesung von Paul Tillich mit Genehmigung des Vortragenden gesondert veröffentlicht durch den Organisationsausschuß „Cbristianity and Modern Man Lectures".

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und deren Herrschaft vermittels ihrer Hierarchie. U n d das hieß: Dieses Zeitalter ist bereits die Endzeit der Geschichte, eine revolutionäre oder prophetische Kritik ist nicht mehr möglich oder nötig, alles Wesentliche ist erreicht, und z w a r erreicht in der Hierarchie der Kirche. Mit dieser Lösung hat Augustin, dessen Persönlichkeit soviel des prophetischen Geistes besaß, selbst weithin den prophetischen Geist aus der offiziellen Kirche ausgeschlossen. Wenn die Geschichte sich erfüllt hat, ist eine radikale prophetische Kritik nicht mehr nötig. Immer wieder entstanden jedoch Bewegungen, die sich dagegen wandten; wir bezeichnen sie gewöhnlich als Sekten. D a s Charakteristische einer Sekte ist nicht, daß ihr eine besondere Idee eigen ist, aus der sie lebt und derentwegen sie sich von der Kirche trennt; eine Sekte ist vielmehr eine revolutionäre Bewegung, die der Kirche einen Aspekt vorhält, worin die Kirche konservativ und starr geworden ist. Der Mann, der die Sektenbewegungen vom Mittelalter bis in die Neuzeit hinein stärker als jeder andere beeinflußt hat, ist der Mönch Joachim von Floris, der dem Gedanken Augustins, daß die Endzeit der Geschichte bereits gekommen sei, den Gedanken entgegenstellte, daß die Endzeit erst noch kommen muß. Die Endzeit nannte man gewöhnlich „das dritte Zeitalter". Die große Streitfrage zwischen der Kirche und dem Radikalismus der Sekten ist nun: Ist das dritte Zeitalter schon da, oder können wir diese dritte Stufe noch erwarten? D i e Franziskaner waren gewillt, gegen Augustin für Joachims Gedanken zu streiten, zumindest die radikalen Mitglieder dieses Ordens. V o n diesem großen K a m p f der sogenannten „Franziskaner-Spiritualen" gegen die offizielle Kirche gingen im Mittelalter viele Impulse zur Sektenbildung aus, und zahlreiche Sekten dieser Zeit waren d a v o n abhängig. Während der Reformationszeit erwachten sie wieder zum Leben, und ihr Einfluß auf die amerikanischen Kirchen und auf die radikalen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit war groß. Es gibt gleichsam einen Rhythmus zwischen Kirche und Sekte, zwischen Priester und Prophet. U n d diesen Rhythmus gibt es nicht nur in der Religion, sondern auch in der Politik. Wenn eine revolutionäre Bewegung den Sieg errungen hat, verliert sie alsbald den Sektencharakter, sie wird Kirche, samt Hierarchie, Autorität und U n t e r drückung. D i e Reformation kann nun verstanden werden als ein Versuch, sowohl den priesterlichen T y p wie den Sektentyp zu vermeiden, und deshalb wurde sie zur Zeit ihres Ursprungs und wird sie noch heute von beiden Seiten angegriffen - von der Kirche und von den Sekten. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Reformation verhält172

nismäßig unbekannt, weil es dort einerseits verschiedene Typen der ekklesiastischen Religion, der Priesterreligion, gibt und andererseits die großen Kirchen, die aus dem Sektentyp emporwuchsen. Ich will hier nicht (wie an anderer Stelle) versuchen, den Geist des Protestantismus oder seine Problematik zu zeigen, meine Analyse bezieht sich vielmehr auf den Versuch der Reformation, prophetischen und priesterlichen Geist zu vereinen: in der K r a f t des prophetischen Geistes sich gegen die römische Kirche zu wenden und dann in der K r a f t jener priesterlichen Elemente, ohne die das Prophetische nicht leben kann, eine Kirche zu bauen - daher die Reaktion gegen die Sektenbewegungen.

Die

Gottesidee

Calvins Kampf gegen den Götzendienst Als erstes behandele ich die Gottesvorstellung Calvins und insbesondere seinen Kampf gegen den Götzendienst. Das Prophetische ist vornehmlich ein Angriff gegen die Verzerrungen der priesterlichen Religion, und das Kernstück jeder theologischen Verzerrung ist immer die Gottesvorstellung. Theologie ist „logos von Gott". Wenn immer Theologie verzerrt wird, beginnt die Verzerrung daher bei der Gottesvorstellung, stets ist diese das Zentrum. Unter den Reformatoren war Calvin in dieser Hinsicht am empfindlichsten. Man könnte sagen, er hatte eine geradezu pathologische Angst, wieder in Polytheismus zu verfallen. Diese Angst hat in der Geschichte mehrmals Ausdruck gefunden: im frühen Judentum, im Islam, im Protestantismus. Sie bildet ein interessantes Thema nicht nur f ü r die theologische Forschung, sondern auch f ü r die Geschichte der Kunst, da eine der Nebenwirkungen eines solchen prophetischen Angriffs die Zerstörung von Kunstwerken ist, eine gegenkünstlerische Haltung, die als Bilderstürmerei bekannt ist. Das gilt für das Judentum ebenso wie f ü r den Islam und den Protestantismus. Calvins Gedanken in seinem Kampf gegen den Götzendienst sind außerordentlich interessant; sie sind im Laufe der Geschichte f ü r das Leben ungezählter Millionen Menschen von großer Tragweite gewesen, und sie sind es noch heute. Calvin unterscheidet die Essenz Gottes, sein Wesen an sich, von seinem Verhältnis zu uns. Einen Zugang zur Essenz Gottes gibt es nicht, sie ist die Gottheit Gottes. Sie ist Calvin hat schon lange vor den modernen Theologen dies W o r t verwendet - numinos. Sie ist ein Mysterium, und sie hört niemals auf, 173

Mysterium zu sein, selbst als Offenbarung. Calvin sagt: „Gottes Wesen ist unbegreiflich, so daß seine Gottheit allem Verstehen der Menschen völlig unerreichbar ist." 2 Das „numen", wie der lateinische Text sagt, entzieht sich jedem menschlichen Erkenntnismittel. Dieser Gott ist numinos, ist Grund oder, genauer, Abgrund der Gottheit. Für Calvin ist dieser Gott so völlig transzendent, daß jede sichtbare Verleiblichung abgelehnt werden muß. Calvin sagt, daß wir nicht wagen dürfen, uns von Gott irgendeine fleischliche Vorstellung zu machen. Diese „fleischlichen Vorstellungen" sind die polytheistischen Verzerrungen, aber sie sind auch die Bilder und Symbole Gottes im Christentum. W o immer sie sich in der Bibel finden (und Calvin konnte nicht leugnen, daß sie dort zu finden sind), zeigt sich ihr Symbolcharakter darin, daß sie Gottes Gegenwart und Gottes Unbegreiflichkeit zugleich offenbaren. Von den wahren Symbolen sagt Calvin weiterhin - und das ist höchst moderne Theologie - , daß sie als wahre Symbole über sich hinaus weisen. Alle Zeichen, die Gott zum Zeugnis seiner Gegenwart gegeben hat, sind Anzeichen seiner unbegreiflichen Essenz. Deshalb, sagt Calvin, sind diese Symbole vergänglich, flüchtig, widersprüchlich. Zum Ausdruck der Gegenwart des Numinosen - der Gottheit - macht sie nicht nur das, was sie sind, sondern mehr noch das, was sie nicht sind. Das Symbol treibt den Geist über sich hinaus, das ist seine Wahrheit; das göttliche Sein wird am reinsten angeschaut, wenn der Geist über sich hinausgetragen wird. All das f ü h r t zu einer äußerst scharfen Unterscheidung zwischen wahrem Gott und Götzen. Was Götzendienst ist, hat wohl kein Theologe je tiefer und umfassender erörtert als Calvin. In seinem Kampf gegen die falsche Religion wird das Kernmotiv des Calvinismus sichtbar. Das ist nicht ein Interesse Calvins an der Religionsgeschichte, d. h. an der Geschichte der nichtbiblischen Religion (diese Geschichte verwirft er vielmehr als ganze), das ist auch nicht sein Angriff auf den Katholizismus, Kernmotiv ist vielmehr seine Einsicht, daß ein götzendienerisches Element im Wesen jeder Religion enthalten ist. Calvin hat nichts von der Toleranz, wie wir sie bei den Philosophen der Renaissance finden, die auch heidnische Gottheiten in ihr Denken aufnehmen. Calvin hat, anders als Luther, kein Verständnis 2 Inst. I, 5 , 1 . Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion (Institutio Christianae Religionis). Übersetzt und herausgegeben von Otto Weber. Buchhandlung des Erziehungsvereins Neukirchen, Kr. Moers, 1936-1938. 2itiert als „Inst.".

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f ü r die Hochschätzung der S a k r a m e n t e , die er A b e r g l a u b e n nennt 3 . E r b e k ä m p f t die Bilder in den Kirchen, weil sie als G ö t z e n mißbraucht w e r d e n könnten - daher die Leere und Nüchternheit der calvinistischen Kirchen. Diese Leere w i r d erzwungen durch die unbewußte Furcht v o r d e m Götzendienst u n d den bewußten Angriff auf die A b götterei, d e r dadurch ausgelöst wird. E s ist einleuchtend, d a ß C a l v i n v o n dieser G r u n d l a g e aus den schärfstmöglichen Bruch zwischen Religion und O f f e n b a r u n g f o r d e r n muß. J e d e R e l i g i o n ist wesensmäßig götzendienerisch, sagt C a l v i n , weil d e r Mensch versucht, G o t t z u m Bildnis seiner selbst zu machen. D e r Mensch will Schöpfer seines Gottes sein. E s gibt niemanden, der nicht versuchte, nach seinem Fassungsvermögen G o t t z u ergreifen u n d sich solch einen G o t t z u formen, den er nach seinem M a ß verstehen k a n n . D i e s e Vermessenheit ist uns angeboren, sie ist d a , sobald wir ins Leben treten. D i e klassische F o r m u l i e r u n g C a l v i n s lautet - und jeder, der heute in d e r Politik v o n Ideologien und in der Psychologie v o n Rationalisierungen spricht, k a n n diese F o r m u l i e r u n g übernehmen - : „ D e r Menschengeist ist z u allen Zeiten sozusagen eine W e r k s t a t t v o n G ö t z e n bildern gewesen . . . A b e r er erfaßt in Wirklichkeit an Gottes S t a t t ein nichtiges D i n g , j a ein eitles Gespenst . . . D i e alltägliche E r f a h r u n g bezeugt, d a ß d a s Fleisch stets unruhig ist, bis es ein G e b i l d seinesgleichen erhascht hat, dessen es sich als eines Bildes Gottes töricht getrösten k ö n n e . . . A b e r alle Arten der Gottesverehrung, die Menschen sich ausdenken, sind ein G r e u e l . " 4 D a s heißt: d a s Schöpferische im Menschen d r ä n g t zur E r s c h a f f u n g Gottes, und deshalb muß religiöse Bildnerei v ö l l i g verneint werden. Einen radikaleren Ausdruck f ü r Gottes E r habenheit über jegliche G ö t z e n gibt es nicht. Luthers P r i n z i p des Gegensatzes N u n m e h r k o m m e ich z u dem anderen A s p e k t dieses Problems, zu Luthers G e d a n k e n v o m „ v e r b o r g e n e n G o t t " . Dieser G e d a n k e trat zunächst nicht als Angriff hervor, sondern als Beschreibung und A u s druck. E r w i r d v o n L u t h e r in einer Weise ausgeführt, d a ß ich ihn als d a s „ P r i n z i p des P a r a d o x e s " oder das „ P r i n z i p des G e g e n s a t z e s " bezeichnen k a n n . W e n n G o t t jenseits aller menschlichen Möglichkeiten ist, d a n n muß sein W i r k e n über alles Menschliche, über menschliche E r w a r t u n g hinausgehen. » Inst. IV, 14, 4. * Inst. I, 11, 8 und I, 11, 4. 175

jegliche

Immer wieder hat Luther dies Prinzip des Gegensatzes beschrieben. Das Paradoxe der Gotteserfahrung, sagt er, ist die Erfahrung durch den vollkommenen Gegensatz, „e contrario". Gottes Wirken in der Welt ist „alles wider menschliche Erfahrung" 5 . Es ist verborgen oder „geistlich"; es ist das völlige Widerspiel unserer Gedanken: „Was vor Gott verborgen ist, ist klar vor der Welt und umgekehrt." 6 Worin zeigt sich Gottes Wirken? In Schwachheit, Leiden, Kreuz, Verfolgung - sie sind die Waffen Gottes. Das Entscheidende ist die Erfahrung der absoluten Distanz von Gott und Mensch: die Macht des Menschen ist dahin vor dem Kreuz, das in seiner Schwachheit die göttliche Macht darstellt. „Unverstand ist der rechte Verstand, nicht wissen, wohin du gehest, das ist recht wissen, wohin du gehest." 7 Das Paradoxe des göttlichen Wirkens hat zur Folge, daß „was aus Gott ist, muß in der Welt gekreuziget werden". „Wer Menschenruhm noch nicht aus dem Wege gegangen ist und bei seinem Handeln noch nicht Schande, Tadel und Verfolgung geduldig hingenommen hat", sagt Luther, „der hat den Stand vollkommener Gerechtigkeit noch nicht erreicht." 8 Deshalb treibt Gott den Menschen in noch größere Sünde, damit er vom Menschen „e contrario", aus dem Gegensatz, erkannt werde. „Gottes Wille ist zuvörderst, alles zu zerstören, was in uns ist, und zunichte zu machen, was wir sind, ehe er das Seine bauen kann" 9 - „damit sein Sein unser Sein ersetze". Das Prinzip des Gegensatzes beherrscht sogar den Gedanken des Gebets. „Wir bitten um Heil", sagt Luther, „und Gott führt uns, um uns selig zu machen, noch tiefer in die Verdammnis hinein und ver5 Luther, Weimar, 5, S. 274. Luthers Schriften zitiert nach: Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers. Hrsg. v. Kurt Aland, Band 3: Der neue Glaube. Berlin 1949. Zitiert als „Luther, Berlin". D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar. Zitiert als „Luther, Weimar". Martin Luther. Ausgewählte Werke. München 1938 bis 1960. Zitiert als „Luther, München". Martin Luthers Deutsche Schriften. Sonderausgabe der Evangelischen Buchgemeinschaft. Zitiert als „Luther, Freiheit". Martin Luther. Ausgewählte Werke. Calwer Ausgabe. Band 1. Stuttgart 1930. Zitiert als „Luther, Stuttgart". Klotz. Luther deutsch. Luther-Lexikon. Stuttgart 1957. Zitiert als „Luther, Lexikon". 6 Luther, Weimar, 3, 112. 7 Luther, Weimar, 18, 459. 8

Luther, München, Erg.-Bd. 2, S. 56 und 77. » Luther, Weimar, 3, 330. 176

birgt unter solchem Unwetter seine Erhörung.* 10 Gott muß daher verstanden werden in der Finsternis, in Öde und Leere des menschlichen Geistes. Die Erfüllung des Prinzips des Gegensatzes ist das Kreuz Christi. Im Kreuz hat Christus den Tod überwunden durch das Leben und hat ein neues Leben geschaffen. Deshalb ist das Prinzip des Gegensatzes nirgends sichtbarer als in ihm. Wir können seine Niedrigkeit nur erfassen, wenn uns Gott hilft, das Göttliche in ihm zu begreifen. Und was von Christus gilt, gilt auch für die Kirche: die wahre Kirche ist zu allen Zeiten der Geschichte verborgen; ihre Manifestation ist nur eine Manifestation des Fleisches, dem Geiste nach ist die Kirche verborgen. Zeugen Gottes sind daher in der Geschichte der Kirche diejenigen, die von der offiziellen Kirche verfolgt wurden. Das Prinzip des Gegensatzes gilt sogar für Liebe und Zorn. Gott ist wesenhaft Liebe, aber seine Liebe ist verborgen in seinem Zorn. Die Liebe Gottes ist das eigene Werk, der Zorn Gottes das fremde Werk Gottes. Gott bedient sich aber ständig des Zornes, um seine Liebe zu verwirklichen. So lehrt Luther, und diese Lehre vom Gegensatz steht hinter allen Paradoxen des protestantischen Denkens. Wir finden sie in der protestantischen Theologie bei Kierkegaard, bei Barth und wohin wir auch immer blicken mögen. Die treibende Kraft in allem Sein Was folgt nun aus dieser Gottesvorstellung für das Problem „Gott und Welt"? Wieder ist der Gottesbegriff beider Reformatoren von so überwältigender Kraft, daß es heutzutage schwerfällt, ihn zu vermitteln - selbst Studenten der Theologie. Beide Reformatoren haben die Vorstellung von einem Wirken Gottes, das alles in allem ist, und den dynamischsten Ausdruck findet diese Vorstellung bei Luther. Zunächst bestreitet Luther, daß Gott etwa ein Gegenstand unter anderen Gegenständen, ein Ding unter Dingen, eine Person unter anderen Personen sei. Gott ist die treibende Kraft des Seins in allem Seienden. Er ist Seinsgrund und Seinsmächtigkeit. „Nichts ist so klein", sagt daher Luther, „Gott ist noch kleiner, nichts ist so groß, Gott ist nodi größer . . . Ist's ein unaussprechlich Wesen über und außer allem, das man nennen oder denken kann." 11 „Wer weiß, was ist, das Gott heißt? Es ist über Leib, über Geist, über alles, was man sagen, hören »o Luther, München, Erg.-Bd. 2, S. 287. 1 1 Luther, Weimar, 26, 339 f.

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und denken kann." 1 2 Daraus folgt: „Gott ist seinen Geschöpfen näher, als sie sich selbst sind." 13 „ H a t er nun die Weise gefunden, daß sein eigen göttlich Wesen kann ganz und gar in allen Kreaturen und in einer jeglichen besondern sein, tiefer, innerlicher, gegenwärtiger, denn die Kreatur ihr selbst ist . . . daß er wohl alle Ding umfasset und drinnen ist, aber keines ihn umfasset und in ihm ist." 14 Die essentielle Gegenwart Gottes ist nicht die Gegenwart einer statischen oder physischen Substanz, sie ist vielmehr dynamisch und persönlich. U m es mit modernen Begriffen auszudrücken: Luther überwindet die K l u f t zwischen dem pantheistischen und dem theistischen Element, er hat das sogar selbst gesagt. Gott ist „zugleich in einem jeglichen Körnlein ganz und gar und dennoch in allen und über allen und außer allen Kreaturen" 1 5 . Der nicht-gegenständliche Charakter des Göttlichen drückt sidi in seiner Willkür aus. Luther sagt - und diese Sätze sind echt Luther —: „Dem Willen des Schöpfers ist kein Maß und Ziel gesetzt. Er ist Gott, für dessen Willen es keine Ursache noch Grund gibt. Denn was er will, ist nicht darum recht, weil er es hat sollen oder müssen also wollen, sondern im Gegenteil: was er will, ist darum recht, weil er es so will." 1 6 Dahinter steht die Lehre von der absoluten Gewalt Gottes, die Luther gewissen scholastischen Theologen entnommen hat. Gottes „absolute Gewalt" (potentia absoluta) ist unterschieden von seiner „geordneten Gewalt" (potentia ordinata). Absolute Gewalt heißt, d a ß nichts sicher ist, und das führt zu einem absoluten Positivismus. Alles Gegebene ist gegeben, weil es gegeben ist, es gibt keinen Grund f ü r dessen Gegebensein. Diese Auffassung der Reformatoren ist eine der Hauptwurzeln des modernen Positivismus; der voluntaristischen Auffassung von Gott entsprang die Auffassung von Gott als dem unberechenbaren Seinsgrund. Der Weltlauf selber ist seine „geordnete Gewalt", allwo er sich herabgelassen hat, einige Satzungen zu geben. Keine dieser Satzungen aber, weder die sittlichen noch die kirchlichen, sind völlig sicher. G o t t hat sie gegeben, aber der Gedanke von der absoluten Gewalt steht als Drohung hinter ihnen gleich einem Abgrund, der sie in jedem Augenblick zu verschlingen droht. Was Gottes Wille letztlich ist, bleibt uns ungewiß. 12

14 15 18

Luther, Luther, Luther, Luther, Luther,

Weimar, 23, 137. Weimar, 9, 105. Weimar, 23, 137. Weimar, 26, 339. Berlin, S. 201 und 215. 178

Gottes Allmacht Daraus ergibt sich ein hoher Begriff von Omnipotenz, von Gottes Allmächtigkeit, der die lächerlichen und absurden Begriffe überwindet, von denen das populäre Denken völlig beherrscht wird. Gottes Allmacht ist f ü r Luther das unablässige unwiderstehliche Wirken Gottes. Luther beschreibt sie mit folgenden Worten: „Die Allmacht Gottes nenne ich jedoch nicht jene Macht, durch die er vieles nicht tut, was er vermag" (das ist ein kindischer Gedanke), „sondern jene Macht, die ein Wirken ist, durch die er mächtig alles in allen tut, so wie die Schrift ihn allmächtig nennt." „Diese Allmacht und Präszienz Gottes" sind daher ein und dasselbe. Gott wirkt „in allem und durch alles." 17 Von hier aus gibt Luther eine Interpretation der N a t u r und der Geschichte. „Alle Kreaturen", sagt er, „sind Gottes Larven und Mummereien, die er will lassen mit ihm wirken und helfen allerlei schaffen." 18 Daher ist Gott gegenwärtig in allen natürlichen Ordnungen und Institutionen und auch im Lauf der Geschichte. Große Männer wie H a n n i bal und Alexander sind ebenfalls Masken Gottes. Gott treibt die Goten, die Vandalen, die Türken (und - so könnten wir heute sagen - die Nationalsozialisten) zum Angriff und zur Zerstörung. In diesem Sinne spricht Gott durch sie zu uns. Obgleich sie zerstören, sind sie Gottes Wort. Vor allem hat Gott den Helden, die die üblichen Regeln des Lebens durchbrechen, die Waffen gegeben. Er beruft sie, er zwingt sie voran, aber nur, wenn ihre Stunde, ihr kairos gekommen ist. Ohne diese „rechte Stunde" kann niemand, weder Held noch Volk etwas tun; ist aber die rechte Stunde gekommen, kann niemand widerstehen. Aber obwohl Gott in der Geschichte in allem wirkt, ist die Geschichte zugleich der Kampf Gottes und seiner Ziele gegen den Teufel und dessen Ziele. U n d Luther verbindet diese Gedanken, wenn er sagt, daß Gott selbst im Teufel substantiell wirkt, und er sagt es mit Recht, denn wie k a n n der Teufel Sein haben ohne Gott, wenn Gott die Macht des Seins in allem Seienden ist? Daraus ergibt sich, daß die Lehre von der Schöpfung und die Lehre von der Erhaltung der Welt nicht mehr voneinander unterschieden werden. Gott wirkt immerdar in allem als Schöpfer. Ein Ausdruck dieser Gedanken Luthers - und historisch von ihnen abhängig - ist die moderne Prozeßphilosophie, die lehrt, daß der Prozeß in jedem Augenblick schöpferisch ist (so Whitehead in seiner Philosophie und Bergson mit seinem Begriff der évolution créatrice). " Luther, München, Erg.-Bd. 1, S. 153. w Luther, Weimar, S. 192.

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Die Lehre von der

Prädestination

In dieser Darstellung möchte ich immer wieder den Punkt klar herausheben, von dem die Reformation ausgeht: die Gottheit Gottes, die Letztlichkeit des Letzten, die Unbedingtheit des Unbedingten. Ich kehre nunmehr zu Calvin zurück. Calvins Lehre von der Vorherbestimmung ist insofern recht prophetisch, als er etwas voraussah, was erst sehr viel später aufgetreten ist, nämlich die deistische Gottesvorstellung. Das ist die Vorstellung von einem Gott, der neben der Welt sitzt und sie ihren Lauf nehmen läßt, der zuläßt, daß die Welt vom Menschen regiert, beherrscht, gemessen und umgeformt wird, ein Gott, der nicht eingreift und die Menschen tun läßt, was sie wollen. Gott wird an den Rand der Wirklichkeit geschoben - und noch entschiedener in den folgenden Jahrhunderten - , wo er nun sitzt und auf die Welt schaut, die in unserer Hand ist. Es ist bemerkenswert, daß Calvin zu einer Zeit, als sich die moderne industrielle Gesellschaft in den frühesten Anfängen befand, deren Entwicklung vorausgesehen und bekämpft hat. Ein solcher Gott, der neben der Welt sitzt, ist für Calvin ebenso unerträglich wie für Luther. Diesem Bild hält Calvin entgegen, daß die Wissenschaft mit ihren Kausalitätsbegriffen lediglich sekundäre Ursachen erklären kann, die wahre Ursache alles Seienden aber Gott ist. So kommt es schließlich zu der berühmten Lehre von der Prädestination. Diese Lehre ist so sehr mißverstanden worden, daß ich es für zweckmäßig halte, unsere Betrachtung von dem Gesichtspunkt aus vorzunehmen, den ich hier darzulegen versuche: die Unbedingtheit des Unbedingten, die Majestät Gottes. Die Lehre von der Prädestination wurzelt in dem Wunsche nach Gewißheit über das eigene Heil. Dies Motiv führt sowohl bei Paulus und Augustin wie bei Luther und Calvin zu der Prädestinationslehre. Wenn mein Heil von mir abhängig ist, dann kann ich seiner niemals gewiß sein, weil ich weiß, daß all mein Tun verderbt und unvollkommen ist. Infolgedessen muß meine Erlösung nicht von mir, sondern von etwas anderem abhängen, und dieser Überlegung ist die Lehre von der Prädestination entsprungen. Calvins Lehre war in ihrer ursprünglichen Form keineswegs das, wozu sie nach ihm, vor allem im späten Calvinismus geworden ist: die Beschreibung von Menschen, die auf ihren Stühlen sitzen und zusehen, wie Gott die Welt regiert. Das ist die nichtexistentielle Auslegung dieser Lehre. In dieser Umformung ist sie zu einer Unmöglichkeit, ich würde sogar sagen: zu einer dämonischen Blasphemie geworden. Ursprünglich war die Prädestinationslehre nichts als ein unmittelbarer 180

Ausdruck des Wunsches, absolute Gewißheit über die eigene Erlösung zu erlangen. Es ist interessant, daß diese Lehre immer wieder bei den Männern auftaucht, die uns innerhalb der Menschheit als höchster Ausdruck religiöser K r a f t erscheinen - die großen Propheten Israels, Jesus, Paulus, Thomas von Aquin, Augustin, Luther, Calvin, die Jansenisten - , während die gegnerische Seite, die wider diese Lehre von der Prädestination Protest erhebt, der Lehre die Schärfe nimmt - so die Pharisäer, das frühe griechische Christentum, Origenes, Pelagius, Papst Gregor, die Franziskaner, die Nominalisten, die Humanisten, die Arminianer, die Sozinianer und selbstverständlich die modernen Deisten und Rationalisten und das „liberale Christentum". Wir bezeichnen die erste Gruppe als Höhepunkte der Religion. Sind wir dazu berechtigt? Ist die Prädestinationslehre, die eine Lehre nicht vom Menschen, sondern von Gott ist, Ausdruck der rechten Idee von Gott in seinem Verhältnis zum Menschen? Zwei Quellen der Lehre Zunächst wollen wir sehen, in welchem Zusammenhang diese Lehre auftritt. Sie hat zwei Quellen. Eine Quelle ist die Frage, die wir alle stellen: Warum sind einige Menschen von einer vollen menschlichen Entwicklung ausgeschlossen? Jene, die psychisch oder sonstwie verkrüppelt sind, die in wirtschaftlicher oder anderer Hinsicht enterbt sind, oder, in engerer christlicher Bedeutung, diejenigen, die niemals wirklich oder psychisch dem Christentum begegnet sind, auch wenn sie in einem christlichen Land leben? Was ist der Grund für diese Ungleichheit? Das sind Fragen, die jeder stellt. Ich kann mir nicht denken, daß jemand diese Fragen wirklich unterdrücken kann, und ich stimme Calvin zu, wenn er sagt, daß man natürliche Fragen nicht im Namen einer falschen Zurückhaltung unterdrücken kann. Und ebensowenig kann man sie im Namen eines moralischen Pharisäertums unterdrücken und behaupten, daß all diese Menschen schlechter, wir hingegen besser sind wir wenigen Menschen, die wir den rechten calvinistischen Glauben haben, sind die guten Menschen, und die Milliarden und Abermilliarden auf der ganzen Welt, die mit dieser wahren Lehre nie in Berührung gerieten, sind schlechtere Menschen. Wer würde so etwas zu behaupten wagen? Aber hinter der Lehre von der Prädestination liegt noch eine andere Frage, nämlich die Frage nach dem Heil des Einzelnen. Calvin sagt hierzu: „Wer nicht weiß, daß er Gottes besonderes Eigentum ist, der 181

muß jämmerlich daran sein und aus dem Zittern nicht herauskommen." 1 9 Das heißt: die Lehre von der Prädestination ist der Garant für die Gewißheit der Erlösung, denn sie macht uns von den Schwankungen unseres Seins unabhängig. Das ist der gleiche Gedanke, der auch Paulus, Augustin und Luther geleitet hat. Sie sahen sich vor die Alternative gestellt: Entweder bin ich durch meine eigenen guten Werke, den Glauben inbegriffen, fragmentarisch erlöst - dann kann ich niemals Gewißheit über meine Erlösung erlangen, so wie die Katholiken ihrer niemals gewiß sind, oder ich bin allein durch die Gnade Gottes erlöst, und dann muß der besondere und konkrete Charakter dieser Gnade besonders sichtbar werden in der Wahl, die mich erwählt. Der absolute Wille Gottes Diese Alternative ist es, um die es hier geht und die den Ursprung der Lehre bildet, und von ihr aus müssen wir die Lehre verstehen. Wie lautet nun die Definition der Prädestination? „Unter Vorherbestimmung (Prädestination)", sagt Calvin, „verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich selbst beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte. Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. Wie also nun der einzelne zu dem einen oder anderen Zweck geschaffen ist, so - sagen wir - ist er zum Leben oder zum Tode .vorbestimmt' (prädestiniert)." 2 0 „Es fragt sich nun, aus was für einem Ursprung und was für einem Grund heraus das geschieht. Nur aus dem einen Grunde, daß es Gott eben so wohlgefalle. Gott schafft sich die zu seinen Kindern, die er als solche haben will; die Ursache dazu trägt er in sich selbst." 2 1 Es ist der absolute Wille Gottes, der durch nichts bestimmt wird. Sein Urteil ist unbegreiflich. „Weil Gott, indem er einige Menschen nach seinem Ermessen erwählt, bestimmte andere übergeht, darum wollen sie mit ihm hadern. Aber wenn doch die Sache selbst wohlbekannt ist - was wollen sie dann mit ihrem Rechtsstreit gegen Gott ausrichten? W i r lehren nichts, was nicht die Erfahrung selbst ergibt, nämlich daß es Gott stets freigestanden hat, seine Gnade zu gewähren, wem er will. Wir können also dafür, daß er den Seinen Barmherzigkeit zuteil werden läßt, nur einen Grund anführen: weil es ihm so wohlgefällt; - aber ebenso haben wir auch für die Verwerfung anderer keine Ursache als i» Inst. III, 21, 1. 2» Inst. III, 21, 5. « Inst. III, 22, 4. 182

seinen W i l l e n . " 2 2 Der irrationale W i l l e Gottes ist die einzige Ursache der Erwählung und Verwerfung. Das ist die Lehre vom grundlosen Willen Gottes, wie sie seit Duns Scotus gelehrt wird. „Und es ist audi ein seltsamer W a h n des Menschen", sagt Calvin, „wenn sie das, was doch unermeßlich ist, dem M a ß ihrer Vernunft zu unterwerfen trachten." 2 3 F ü r Erwählung und Verwerfung gibt es kein Vernunftkriterium. Weshalb Calvin diese Seite so stark betont, sagt er selbst in den folgenden W o r t e n : „ H a t Gottes Wille nämlich irgendeine Ursache, so muß es etwas geben, das ihm voraufgeht, und an das er gewissermaßen gebunden ist; es ist aber ein Frevel, sich so etwas einzubilden. Denn Gottes W i l l e ist die höchste Richtschnur der Gerechtigkeit: wenn er also etwas will, so ist es eben darum, weil er es will, für gerecht zu halten." „Geht man aber weiter und fragt, warum er es denn gewollt habe, so sucht man etwas Größeres, Erhabeneres als Gottes Willen - und das kann man eben nicht finden."24 Nach etwas suchen, das jenseits seines Willens liegt, hieße, Gottes Willen abhängig machen. Das ist wiederum eine Lehre von G o t t und unserem Verhältnis zu Gott, und von dort her müssen wir die Reformation verstehen. Es ist die Absolutheit des Absoluten, die einen so scharfen Ausdruck findet in Calvins K a m p f gegen das Götzentum, in der Vorstellung von dem allgegenwärtigen Wirken Gottes bei Luther und Calvin, in dem Gedanken, nach dem Gott ohne Richtschnur und willkürlich handelt, und in der Prädestinationslehre, die Calvin selber den „furchtbaren R a t schluß" 2 5 nennt, den er aber trotzdem annimmt.

Die Spannung des Prophetischen W a s geht hier vor? Irgendwie fühlen wir uns gepackt von der Gewalt dieser Gottesvorstellung, die weit jenseits alles dessen ist, was uns heute in Predigten, Lehrbüchern und in fast jeder religiösen Äußerung von G o t t gesagt wird. W i r wissen einfach nicht mehr, was Allmacht Gottes heißt, wenn wir uns nicht dem Eindruck dieser W o r t e aussetzen, die ich absichtlich so zahlreich wiedergegeben habe. W a s bedeutet es aber andererseits, daß wir das Gefühl haben, dies könne nicht die ganze religiöse Wahrheit sein? Dies Gefühl besagt: Das Element des Unbedingten, dem die Reformatoren so mächtig Ausdruck gaben, so prophetisch im radikalen Sinne des Wortes, dieses Element 22 Inst. 28 Inst. 24 Inst. 28 Inst.

III, III, III, III,

22, 23, 23, 23,

1 und 11. 4. 2. 7.

183

des Unbedingten muß in einer bedingten Gestalt erscheinen und sich durch sie hindurch manifestieren. Ohne die endlichen Träger des Heiligen würde das Heilige unerfahrbar bleiben. Darum fühlen wir alle ebenso wie die Reformatoren: erhalten bleiben müssen Wirklichkeiten wie die Freiheit (die Verantwortlichkeit schafft), die Botschaft von der Vergebung (die von den Gläubigen empfangen werden muß), die moralischen Urteile (die zwischen gut und böse unterscheiden), die Institutionen (in denen all dies zum Ausdruck kommt) und die Dogmen (die all dies beschreiben). Dies alles ist endlich und steht in der prophetischen Religion in einer ungeheuren Spannung zur prophetischen Botschaft. Die orthodoxe Lösung Das zeigt sich auch bei der weiteren Entwicklung der Reformation. Wiederum wird Gott in Institutionen und Dogmen eingeschlossen: beim Calvinismus stärker in Institutionen, beim Luthertum stärker in Dogmen. Es beginnt das Zeitalter der Orthodoxie. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß das prophetische Zeugnis von der Gottheit Gottes, das wir samt allem, was es in sich schließt, vernommen haben, plötzlich zu etwas wird, über das man verfügt und das man organisiert: Wir haben es, da ist es. Und eben das, was dem ungeheuren Angriff auf die Verkörperung Gottes in den Institutionen der katholischen Kirche gedient hatte, wird nun in die Institutionen der protestantischen Kirche gefaßt. Die pietistische und die deistische Lösung Gott muß, damit er in diesen Begriffen gefaßt werden kann, überdies Inhalt einer Erfahrung sein. Von den europäischen Pietisten und den amerikanischen Evangelisten wird daher auf die religiöse Erfahrung besonderer Nachdruck gelegt, darauf, daß sich Gott in der religiösen Erfahrung zeigt. Aber die religiöse Erfahrung ließ sich von der allgemeinen menschlichen Erfahrung, vom Lichte der Vernunft im Menschen kaum unterscheiden, und daher fand Gott für das Zeitalter der Aufklärung Gestalt in der „Aufklärung". Der deistische Gott, den die Reformatoren mit aller, nicht nur religiöser Leidenschaft bekämpft hatten, trug den Sieg davon. Gott ist in unserer Gesellschaft entweder eine Wirklichkeit an der Grenze - und wir wachen eifrig darüber, daß er nicht in unser tätiges Leben eingreift oder er ist zu einem Seienden neben anderem Seienden geworden. Wird Gott aber zu einem Seienden neben anderem Seienden, hat er aufgehört, Gott zu sein, und die einzige und wohlverdiente Antwort auf diese 184

Art, Gott zu verkündigen, ist die atheistische Antwort des modernen Existentialismus. Das Gottesdogma der Reformation ist daher kein Dogma neben anderen Dogmen, sondern Ausdruck für den innersten Kern des prophetischen Prinzips, und dieser Kern ist immer die Lehre von Gott, einem Gott, für den es kein Maß gibt, der in allem gegenwärtig ist und der alles, das Gute und das Böse, vorwärts treibt. Einen solchen Gott können wir kaum mehr ertragen. Er ist ein Gott, der unserem Verlangen nach eigenem Schöpfertum allzusehr widerspricht. Instinktiv versuchen wir alle, Gott wieder an den Rand der Wirklichkeit, an die Grenze zu drängen oder ihn zu einem Seienden neben anderem Seienden zu machen, mit dem wir mehr oder weniger in säkularen oder religiösen Begriffen umgehen können. Und das Ende dieses Gottes wird durch Nietzsches berühmten und wohl wichtigsten Satz bezeichnet: „Gott ist tot." Hier ist eine Entwicklung an ihr Ende gelangt, dieser Gott ist tatsächlich tot. Und es ist gut, daß einer den Mut der Verzweiflung hatte, ihn für tot zu erklären. Eine neue Reformation? Nun entsteht die Frage: Kann der Gott der Reformation wiederentdeckt werden? Manche Anzeichen und Symptome scheinen auf eine Wiederentdeckung des verborgenen Gottes zu deuten, jenes Gottes, der paradox, „e contrario" handelt, der der Grund des Seins selbst ist, die Macht des Seins in allem Seienden. Und das ist das Entscheidende. Wenn dieser Gott wiederentdeckt werden könnte, dann hätten wir eine neue Reformation, die aber gänzlich anders aussähe als die frühere. Die großen und gewaltigen Worte Luthers und Calvins können wir auf unsere Situation nicht unmittelbar anwenden, aber wir können sie interpretieren und sehen, was diese Menschen wirklich getrieben hat. Und ich glaube, was auch uns heute treiben sollte, das ist diese Suche nach dem Gott jenseits dessen, was wir gewöhnlich „Gott" nennen, die Suche nach dem Gott, der als Grund alles besondere Seiende trägt und damit auch einen Gott tragen würde, der ein besonderes Seiendes wäre. Wenn wir wieder verstehen könnten, was das prophetische Zeugnis der Reformation gemeint hat, dann handelte es sich weniger um einen Kampf mit dem Ekklesiasmus als vielmehr um einen Kampf mit dem wohlausgewogenen Säkularismus von heute, der zwar auch religiöse Elemente in sich birgt und sich selbst theistisch nennt, der aber keine Ahnung hat von dem, was Gott einst zu Zeiten des Neuen Testaments und dann wieder für die Menschen im Zeitalter der Reformation bedeutet hat. 185

I I . D I E MENSCHLICHE SITUATION

Bisher wurde das Thema dieses Aufsatzes in Zusammenhang mit dem Gottesgedanken behandelt. Dabei hat sich gezeigt: wenn immer prophetische Angriffe gegen Gesellschaft oder Kirche erfolgt sind, geschahen sie im Namen Gottes und standen in Zusammenhang mit der Verzerrung der Gottesvorstellung, sei es im Säkularismus, sei es in der Kirche. Die Entfremdung

und die Knechtschaft

des Menschen

Die Korrelation Gott-Mensch Wenn immer eine Gottesvorstellung ausgesprochen wird, geschieht dies jeweils in Korrelation mit einer Vorstellung vom Menschen und umgekehrt. Nur dann, wenn Gott ein Gegenstand neben anderen wäre, könnte man von Gott sprechen, ohne zugleich vom Menschen zu sprechen, aber gerade das wird von jeder prophetischen Religion bestritten. Von Gott sprechen kann man einzig und allein in der Situation der Korrelation zu Gott. Calvin hat das eindringlich ausgedrückt in der Einleitung zu seinem großen dogmatischen Werk, der „Institutio christianae religionis" (in mandier Hinsicht das größte Werk, das der Protestantismus je hervorgebracht hat), wo er sagt, daß der Inhalt aller Weisheit aus zweierlei besteht, der Gotteserkenntnis und der Selbsterkenntnis. Aber diese Selbsterkenntnis ist keine theoretische Lehre vom Menschen; sie ist keine Lehre vom Menschen, die gestattet, in unverbindlicher Weise vom Menschen mit Begriffen der üblichen Psychologie oder Soziologie zu sprechen, wobei der Mensch zu einem Gegenstand neben anderen Gegenständen wird. Wenn die Reformatoren, wenn sämtliche Propheten vom Menschen, vom menschlichen Elend sprechen, dann ist die Korrelation von Gotteserkenntnis und Erkenntnis des Menschen nichts anderes als die Korrelation von Gottes Majestät und menschlichem Elend. Es handelt sich weder um eine theoretische Lehre von Gott noch um eine theoretische Lehre vom Menschen, es ist vielmehr die Doppelerfahrung von Gottes Majestät und menschlidiem Elend. Calvin sagt: „Besonders zwingt uns der jämmerliche Zerfall, in den uns der Abfall des ersten Menschen hineingestürzt hat, unsere Augen emporzurichten: hungrig und verschmachtend sollen wir von Gott erflehen, was uns fehlt, aber zugleich auch in Furcht und Erschrecken lernen, demütig zu sein." 26 Mit anderen Worten, Calvin sagt: wir suchen 2« Inst. I, 1, 1. 186

Gott nicht nur im Verlangen nach Erfüllung, im Verlangen, die Begierden unserer Endlichkeit zu überwinden, unser Verhältnis zu Gott schließt vielmehr Furcht und Demut in sich. Gott wird von Calvin und der gesamten prophetischen Tradition nicht gedacht als Korrelat unserer Begierden, sondern als Gegenstand unserer Demut. Gott wird nicht von uns hergeleitet, sondern steht uns gegenüber. Damit wird Kritik geübt an sämtlichen Versuchen der Psychologen und Soziologen, die den Gottesgedanken auf menschliche Begierden zurückführen wollen. Der Zusammenbruch unseres Selbst Aber Calvin schildert es bei seiner Beschreibung der menschlichen Situation auch umgekehrt. „Der Mensch kann auf keinen Fall dazu kommen, sich selbst w a h r h a f t zu erkennen, wenn er nicht zuvor Gottes Angesicht geschaut hat und dann von dieser Schau dazu übergeht, sich selbst anzusehen." 2 7 Niemand, auch Luther nicht, hat die menschliche Situation schärfer, radikaler und pessimistischer ausgedrückt als Calvin. Der Renaissance-Gedanke vom schöpferischen Menschen ist völlig verschwunden. Wenn wir Gott mit uns vergleichen, muß er unser Richter sein, sagt Calvin. Der Mensch versucht dem Gericht zu entgehen, und das kann er nur tun, falls er nichts als die Welt anblickt. „Lenken wir den Blick nicht über die Erde hinaus, so sind wir mit der eigenen Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend reichlich zufrieden und schmeicheln uns mächtig - es fehlte, daß wir uns f ü r Halbgötter hielten! Aber wenn wir einmal anfangen, unsere Gedanken auf Gott emporzurichten,... so wird uns das, was uns zuvor unter dem trügerischen V o r w a n d der Gerechtigkeit anglänzte, zur fürchterlichsten Ungerechtigkeit; was uns als Weisheit wundersam Eindruck machte, wird grausig als schlimmste Narrheit offenbar, was die Maske der Tugend an sich trug, wird als jämmerlichste Untüchtigkeit erfunden." 2 8 Das Erscheinen des Göttlichen bedeutet den Zusammenbruch unseres Selbstbewußtseins. U n d diesen Zusammenbruch unseres Selbstbewußtseins haben alle Reformatoren verkündet. Vor Gottes Klarheit kann auch das Glänzendste nicht bestehen. Das können wir nicht ertragen, weil uns infolge unserer natürlichen Neigung zur Heuchelei jeglicher leere Schein der Rechtschaffenheit anstelle der Wirklichkeit reichlich befriedigt. Der Mensch ist unrealistisch (so lautet der Beweisgang der Reformatoren, und hierin sind sich alle einig), weil er seine Wirklichkeit nicht aushalten kann. Der Mensch, das wurde bereits gesagt, erzeugt fortwährend Götzen - Ideologien oder Rationalisierungen, wie 27 Inst. I, 1, 2. 28 Jnst. I, 1, 2. 187

wir es heute nennen. Der Mensch kann seine eigene Wirklichkeit nicht aushalten, er muß von ihr wegblicken. 29 N u n erhebt sich die Frage: W a r u m ist der Mensch in diesem Zustand? Es ist gewiß nicht sein ursprünglicher Zustand, denn er ist ursprünglich gut geschaffen. Aber der Mensch wurde zur „elenden Trümmerstätte", zur „tristis ruina", wie Calvin sagt. 30 Er kann sich nicht seiner essentiellen Vollkommenheit rühmen, wie es der Mensch der Renaissance tut, denn nach Calvin muß gefragt werden, was denn jener Urzustand ist, von dem wir abgefallen sind. Es ist die Würde des Menschen, die wir verloren haben. U n d das sagt Calvin in eben der Zeit, aus der wir auch die Lobpreisungen der Menschenwürde von den Philosophen der Renaissance kennen. Diese Verderbnis durchdringt alle Teile und Funktionen des Menschen. „Der Mensch birgt in jeder Hinsicht eine Welt von Elend in sich", sagt Calvin 3 1 , und dieser Welt des Elends können wir nicht dadurch entrinnen, daß wir sagen, sie betreffe allein unser Fleisch und nicht Seele oder Geist: „Der ganze Mensch, Verstand und Wille, Seele und Fleisch ist befleckt, deshalb ist es abgeschmackt und töricht, die daraus entstandene Verderbnis bloß auf die sogenannten ,sinnlichen Regungen' zu beschränken." 32 Gegen die katholische Lehre von der Verneinung des Fleisches spricht Calvin von der Totalität der Verderbnis. Alles T u n und Trachten der Menschen, sagt er, ist nichts als Eitelkeit, ist verzerrt und verworren, und das menschliche H e r z ist ein Abgrund schrecklichster Verwirrung. U n d dann spricht er die Worte, die wohl jeden erschrecken werden, wie sie mich erschreckt haben, und die dennoch einen großen Teil der Welt erobert haben: „Die Wahrheit aber, die kein Anlauf erschüttern kann, soll uns ohne Zweifel stehen bleiben: der Menschengeist ist von Gottes Gerechtigkeit so vollständig abgekommen, daß all sein Wollen, Begehren und Tun nur gottlos, verrucht, befleckt, unrein und lästerlich ist; sein H e r z ist dermaßen vom 28 Angesichts der Geschichte des Realismus in der modernen Welt ist recht interessant, daß im Gegensatz zum Idealismus der Realismus größtenteils aus dem Widerstand der Reformatoren gegen jegliche falsche Ideologie stammt. Nicht zufällig gebraucht daher die heutige neureformatorische Theologie, wie sie neben anderen von Karl Barth vertreten wird, den Ausdruck „Realismus", und nicht zufällig bekämpft sie den Idealismus noch stärker als den Materialismus und den Atheismus. Für die Reformatoren war der Idealismus der wahre Feind, denn sie empfanden, daß der Mensch von Natur aus in bezug auf sich selbst idealistisch ist und Ideologien und damit Götzen schafft. »» Inst. I, 15, 1 u. a. « Inst. I, 1, 1.

« Inst. II, 1, 8 und 9. 188

Gift der Sünde durchdrungen, daß es nur noch verweslichen Gestank von sich geben kann. Und wenn auch zuweilen ein Schein des Guten sichtbar wird, so bleibt doch das .Gemüt* mit Heuchelei und Trug umhüllt, und der Geist liegt innerlich in den Fesseln der Verderbnis." 33 Diese Worte sind wahrlich das Ende jeglicher Menschenwürde, das Ende der Vorstellung vom schöpferischen Menschen, das Ende der menschlichen Natur als Mitte der Natur und der erlösenden Macht in und über der Natur. Luthers Sündenbegriff Zu den tiefsten Wurzeln der reformatorischen Lehre vom Menschen führt uns jedoch wiederum Luther, denn bei ihm wird der religiöse Standpunkt am entschiedensten und klarsten dargelegt. Als erstes fragt Luther: Wie können wir erkennen, was Sünde ist? Hierbei offenbart er wie auch sonst seine tiefe psychoanalytische Auffassung des Menschen, er besitzt echte analytische Erkenntnis (wenn nämlich Analyse Eindringen in die Tiefenschichten bedeutet). Wir können die Sünde nicht unmittelbar erkennen, sagt er, denn um das Negative zu erkennen, müssen wir zuvor das Positive kennen. Und das ist die Gemeinschaft mit Gott zufolge Gottes rechtfertigenden Tuns und unseres empfangenden Glaubens. Die wahre Sünde ist daher die Ablehnung der Gabe Gottes oder, wie Luther es nennt, der Unglaube. Luther sagt: Unglaube ist die Sünde schlechthin. Wenn wir das Wort vom Unglauben als der Sünde schlechthin richtig verstehen, ist es eines der revolutionärsten Worte, die je gesagt worden sind. Es bedeutet nicht, daß wir sündig seien, falls wir nidit an unglaubliche Dinge glauben, sondern, daß die Trennung von Gott Sünde ist, und zwar Sünde als Singular, nicht als Plural gesetzt. Es gibt nur eine Sünde, nämlich den Unglauben im Sinne der Trennung von Gott, Sünde ist daher nicht ein besonderes sittliches Versagen. Letztlich gibt es keine „Sünden", sondern nur diese eine Sünde, nämlich Trennung. Und diese Sünde nennt Luther Unglauben. So können wir sagen: Nichts rechtfertigt denn der Glaube, und nichts macht sündig denn der Unglaube, die „Hauptgerechtigkeit" ist Glaube, und das Unrechte überhaupt ist Unglaube. 3 4 „Darum ist alles Sünde, was außer dem Glauben oder im Unglauben geschieht" 35 alles, was wir „außer dem Glauben" leben oder tun. Wird Sünde derart definiert, dann fallen die quantitativen und relativen Unterschiede zwischen Todsünden und läßlichen Sünden, zwiInst. II, 5, 19. Luther, München, 2, S . 2 7 8 . 55 Luther, München, 6, S. 90. 33

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sehen schweren und leichten Sünden. Sie sind freilich Unterschiede vom Standpunkt der Moral, des Naturgesetzes, sie haben jedoch nichts mit Gott zu tun. Jegliches, das uns von Gott trennt, hat gleiches Gewicht, ist gleicher Art. Unsere Natur und unsere Substanz, unser Leben als Ganzes ist deshalb verderbt; von der Sünde bestimmt ist unser ganzes Sein, nicht nur ein Teil. Luther lehrt, daß jene besonderen Akte, die wir Sünde nennen, Frucht der einen radikalen und verborgenen Macht der Sünde sind. Er nennt sie der Tradition folgend Erbsünde oder auch Wurzelsünde, Hauptsünde, Quelle aller anderen Sünden. Man nannte sie damals auch „concupiscentia"; diesem Begriff kommt heute am nächsten vielleicht das, was Freud „libido" genannt hat. Sie ist die Hinwendung des menschlichen Willens auf sich selbst, und sie ist immer eine wirkende und treibende Kraft. Sie wirkt niemals ohne unseren eigenen Willen, da nach Luther der Mensch wesensmäßig Wille ist. Sie ist ein Tyrann in uns und kann von uns niemals überwunden werden, obgleich sie nicht aus unserer Geschöpflichkeit stammt. Die Einheit von Leib und Seele Und das geht unsere ganze Natur an. Luther sagt: „So ist der ganze Mensch selbst alles beides, Geist und Fleisch" 36 , das heißt, der Mensch besteht nicht aus zwei Teilen, jede Zelle unseres Leibes ist Geist, und jeder Gedanke unserer Seele ist Fleisch. „Fleisch" bezieht sich nicht auf irgendeinen besonderen Teil des Menschen, sondern bezeichnet die Abkehr von Gott, während „Geist" die Hinwendung zu Gott bezeichnet. In diesem Sinne kann Luther sogar von zwei ganzen Menschen sprechen: von dem Menschen, der ganz Fleisch ist, und das umfaßt auch dessen Gemüt und Geist (womit etwa sein kulturelles Leben bezeichnet wird) - ganz Fleisch, das heißt, er ist den Strukturen des Bösen unterworfen; und weiter von dem anderen Menschen, der ganz Geist ist, und das umfaßt auch dessen Leib und Seele und Gemüt - ganz Geist, das heißt, er wendet sich Gott zu. Luther kämpft, um es mit einem Fachausdruck zu bezeichnen, gegen eine dualistische Anthropologie — eine Lehre vom Menschen, der zufolge sich der Mensch aus verschiedenen Teilen aufbaut. Für Luther gibt es keine rationale Stellung außerhalb unserer existentiellen Situation des Unglaubens und der Konkupiszenz; die Abkehr von Gott ist zugleich die Hinwendung zur Welt und zum Selbst. Dies bezieht sich nicht allein auf den Willen, sondern ebensosehr auf die »«Luther, München, 6, S. 96.

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Erkenntnis. Wir haben nicht die Freiheit, uns Gott zuzuwenden und ihn zu erkennen. Unsere natürlichen Kräfte sind in bezug auf Gott vollkommen verderbt, sagt Luther. Keine T a t ist in bezug auf Gott neutral, auch die besten Werke sind böse, weil Maßstab für menschliche Vollkommenheit nicht der Gehorsam gegenüber dem Sittengesetz ist, sondern der Gehorsam einem einzigen Gesetz gegenüber, und das heißt: volle freiwillige Liebe zu Gott. Auch wer die Gnade empfangen hat, ist nicht frei von der Macht dieser Verderbnis, die nur schrittweise überwunden werden kann und ein ganzes Leben voller Reue und Buße erfordert. Selbst der Christ kann nicht von sich selber sagen, er liebe Gott so mit voller Liebe, daß er nach eigenem Willen, in Freiheit und mit Freuden tue, was Gott freiwillig tut. Und das ist das Kriterium: Erfüllung von Gottes Gesetz ist nicht der erzwungene Gehorsam, sondern nur die freiwillige Annahme von Gottes Willen. Das ist das letzte Kriterium. Ein Gehorsam gegenüber dem Gesetz, der erzwungen ist, gründet nicht auf dem Glauben (der als „Gemeinschaft mit Gott" aufgefaßt wird), er ist daher Ausdruck unserer Sünde und sonst nichts. Ich nenne dies einen transmoralischen ekstatischen Sündenbegriff. Wohl niemand, Paulus vielleicht ausgenommen, hat so umfassend und machtvoll den Gedanken ausgedrückt, daß die Sünde kein moralischer Begriff, kein Gesetzesbegriff, sondern ein religiöser Begriff ist - nämlich Mangel an Gemeinschaft mit der Quelle unseres Seins. Nach Luther reicht deshalb die Sünde bis in den Bereich der Natur, und wenn er dies vielleidit auch in halb-mythologischen Worten ausdrückt, so ist er in dieser Hinsicht moderner als jeder idealistische Philosoph seit damals bis zum heutigen Tag. Wie Luther sagt, sind auch die natürlichen Sinne, ist der Leib samt Sinnen, Blut und Nerven verderbt. Nach Luther besaß Adam vor dem Fall eine andere sinnliche Anschauung, und die Natur des Menschen, so wie ihn Luther physiologisch und psychologisch vorfindet, ist nicht bedingt durch seine Geschöpflichkeit oder das Naturgesetz, sondern durch die Verderbnis des ursprünglichen Gesetzes der Natur und Schöpfung. Diese Einheit von Leib und Seele in bezug auf die Sünde ist ein außerordentlich wichtiger Begriff aus der Reformation, den wir wiederentdecken sollten. Er macht die Bewußtseinsethik zunichte, so wie die Entwicklung der Psychologie in den letzten fünfzig Jahren durch die Wiederentdeckung des Unbewußten die Bewußtseinspsychologie zunichte gemacht hat. In völlig gleicher Weise ist es für Luther immer der ganze Mensch, der im Stande der Sünde oder Erlösung ist.

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Die Universalität

der Sünde

Da die lebendige Substanz verderbt ist, sind nach Luther alle Menschen infolge ihrer Abstammung von der lebendigen Substanz der menschlichen Spezies sündig. Wieder wird hier mit religiösen, teilweise legendenhaften und mythologischen Worten ein sehr moderner Gedanke ausgedrückt, nämlich der Gedanke, daß Sünde und Erlösung nicht die isolierte Einzelperson allein angehen, sondern daß wir alle aneinander gebunden sind. Der Gedanke vom „kollektiven Unbewußten" (oder wie immer der psychologische Fachausdruck dafür lauten mag) steht der reformatorischen Theologie sehr viel näher als jede Bewußtseinsphilosophie, Bewußtseinspsychologie oder -ethik. Luther sagt (und folgt hierbei Augustin): Die Menschheit ist eine „massa peccatrix"37 - eine sündige Masse, ein sündiges Ganzes. Und dies nicht wegen des Geschlechtsaktes - denn der Akt als solcher ist nicht sündig, wengleich auch er verderbt ist, wie alle menschlichen Akte es sind sondern eben weil die menschliche Natur in jedem Menschen verderbt ist. In diesem Sinne ist Sünde universal. Es ist ein göttlicher Beschluß, aber ein Beschluß, den wir willig annehmen - vermittels unseres Willens. Über dies höchst schwierige Problem sagt Luther: „Ich bin in Sünden empfangen worden und habe noch nicht drein gewilligt, aber jetzt sind sie mein eigen geworden, denn nun merke ich, daß ich böse handele und wider das Gesetz . . . und so ist die Sünde auch jetzt mein eigen geworden, d. h. durch meinen Willen gebilligt und durch meine Zustimmung angenommen." 38 Das bedeutet: Luther sieht, daß die zwei Elemente in all diesen Betrachtungen die universale Struktur menschlicher Existenz einerseits und verantwortliche Freiheit andererseits sein müssen. Das ist die Wirklichkeit, in der wir leben, und wenn ein Rationalist dagegen einwenden wollte, dies sei widersprüchlich, würde ich ihn nur auffordern, die griechischen Tragiker zu lesen. Er sähe dann, daß auch diese Menschen die völlig gleiche Situation kennen: Flucht einerseits und Verantwortung andererseits, und beide vereint in einer Weise, die sich mit den Begriffen unserer alltäglichen Sprache nicht ausdrücken läßt. Der göttliche Angriff Luther geht aber darüber hinaus. Er hat seine eigene Mythologie, die er natürlicherweise der Tradition entnimmt, der er aber sehr viel kraftvoller Ausdruck und Stärke gibt. Er holt sich seine Symbole aus dem 3'Luther, München, Erg.-Bd. 2, S. 314. 38 Luther, München, Erg.-Bd. 2, S. 165.

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Gedanken von einem Reich des Teufels einerseits und aus dem Gedanken vom Zorn Gottes andererseits. In diesem Gedanken ist (außer abergläubischen Elementen, die es zu jener Zeit im Protestantismus ebenso wie im Katholizismus gab) der Teufel die dynamische und strukturelle Einheit des Bösen. Diese Lehre vom Teufel sollte man nicht mit der Behauptung abtun, daß es ein solches Wesen nicht gibt - darüber läßt sich überhaupt nicht diskutieren - , sondern sie sollte mit solchen Begriffen interpretiert werden wie den Strukturen des Bösen, die wir seit dem Jahre 1914, wenn nicht schon früher recht genau kennengelernt haben. Diese Strukturen des Bösen, die dämonischen und satanischen Strukturen sind es, die hinter diesem Gedanken stehen. Mögen sie auch der Form nach mythologische Bilder sein, so sind sie dennoch keine mythologischen Phantasien und bedeuten etwas ganz anderes. Luther weiß von der über-individuellen Macht, die in den individuellen Bewegungen am Werke ist, die nicht aus dem Individuum kommt, die ihm fremd ist und es zu zerstören sucht. Aber andererseits ist diese teuflische Zerstörung (und hier spricht wieder das Genie) der Zorn Gottes, jene Macht Gottes nämlich, die uns in die Selbstzerstörung führt. Es kommt daher häufig vor, daß Luther in seinen Worten keinen Unterschied macht zwischen dämonischem und göttlichem Angriff. Gott greift an, aber er greift durch seinen Zorn an, und Werkzeug seines Zornes ist der Teufel; es ist ein und derselbe Akt. Manchmal sieht es so aus, als ob der dunkle Wille Gottes, sein Zorn, und der teuflische Wille ein und dasselbe seien, der Teufel ist das W e r k zeug f ü r Gottes Zorn und manchmal der Zorn Gottes selbst. Die Mystik und die Lebensauffassung des Luthertums haben diesen Gedanken sehr stark weitergeführt. Wenn wir heute auf die Entwicklung der Philosophie in den letzten drei-, vierhundert Jahren zurückblicken, müssen wir feststellen, daß diese Gedankenlinie (die in Europa teils als Lebensphilosophie und teils als Existentialismus, in den Vereinigten Staaten Amerikas heute teils als Prozeßphilosophie, teils als Pragmatismus vorkommt) geschichtlich und systematisch auf diese Gedanken Luthers zurückgeführt werden kann über Männer wie Jakob Böhme, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche, Bergson und so weiter; das ist eine einheitliche Gedankenlinie. Diese Linie - ich kann dies leider nicht weiter ausführen - geht aus von Luthers Schau der Lebensprozesse, in denen Gott allgegenwärtig ist. Er ist in ihnen o f t gegenwärtig, oder irgendwie immer gegenwärtig als zorniger Gott oder als Dämon.

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Die Lehre von der Knechtschaft des Menschen Natürlich kann ich es nicht dabei belassen, denn wenn Luther solche Worte sagt, fügt er immer etwas hinzu. All dies, sagt er, ist aber nur das fremde Werk Gottes, das Ziel all seines Handelns ist das Reich der Liebe. Der wahre Sinn dieser negativen Kräfte ist die Verwirklichung der Liebe. Diese aber kann allein der erkennen, der das Äußerliche durchschaut. Wie schon anfangs gesagt wurde, ist alles eine Maske Gottes, und wir müssen sie durchschauen. Das Wirken Gottes, wie ich es beschrieben habe, ist eben die Maske Gottes, doch dahinter steht der liebende Wille Gottes. Aber Gott braucht diese Art des Wirkens. Er überläßt die Sünde der Selbstzerstörung und rüttelt so die Trägen und Selbstzufriedenen auf. Der Teufel ist der Diener der Liebe Gottes, weil er jene aufrüttelt, die in sich selbst ruhen. Dies alles führt zu der Lehre von der Knechtschaft des Menschen, die zu einem wesentlichen Kennzeichen des protestantischen Denkens wurde. Hier stehen wir wieder in der prophetischen Tradition. Das göttliche Wirken beginnt alles und erfüllt alles, mit Gott auf gleicher Ebene zusammenzuwirken ist nicht möglich. Weil die moderne liberale Theologie, vor allem in Amerika, eine Theologie vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen ist, war die neureformatorische Theologie ein Schock - ein ungeheurer therapeutischer Schock und als solcher außerordentlich gesund. Das Problem der Freiheit - das möchte ich hier deutlich wiederholen - ist nicht das Problem der psychologischen Freiheit. Der Mensch ist immer Mensch, und er unterscheidet sich von der Natur durch seine Freiheit. Das ist weder von Augustin noch von einem der Reformatoren je bezweifelt worden. Die Freiheit, von der sie reden, ist aber die Freiheit der Hinwendung zu Gott - und da gibt es keine Freiheit. Luther sagt: Das ist gut so. Lassen wir ihn sprechen: „Wenn es irgendwie geschehen könnte, möchte ich nicht, daß mir ein freier Wille gegeben werde, oder daß etwas in meiner Hand gelassen werde, womit ich nach dem Heil streben könnte . . . weil ich, auch wenn keine Gefahren, keine Widerwärtigkeiten, keine Teufel existierten, dennoch gezwungen wäre, fortwährend im Ungewissen zu arbeiten . . . Denn mein Gewissen würde, wenn ich auch ewig lebte und wirkte, niemals gewiß und sicher, wieviel ich tun müßte, damit es Gott genug tue. Denn welches Werk auch immer vollbracht wäre, immer bliebe der beunruhigende Zweifel zurück..., wie ich. es zu meinem großen Leidwesen so viele Jahre hindurch zur Genüge gelernt habe." 89 39

Luther, Berlin, S. 246. 194

H i e r e r k l ä r t L u t h e r , w a r u m die prophetische T r a d i t i o n stets von der „ K n e c h t s c h a f t des menschlichen W i l l e n s " spricht. N ä m l i c h weil w i r , wenn w i r allein von uns a b h ä n g i g sind, niemals unseres H e i l e s g e w i ß sein k ö n n e n . Andererseits l ä ß t L u t h e r keinen Z w e i f e l d a r a n , d a ß dies keinerlei philosophischen D e t e r m i n i s m u s bedeutet. M i t N o t w e n d i g k e i t meine er, wie er sagt, nicht Z w a n g . D a s h e i ß t : ein Mensch, der b a r des Geistes G o t t e s ist, handelt nicht gegen seinen W i l l e n , also unter Z w a n g schlecht, sondern h a n d e l t s p o n t a n und bereitwillig. D i e s e B e r e i t w i l l i g k e i t und diese Begierde, Böses zu tun, k a n n der Mensch w e d e r aufgeben noch in S c h r a n k e n h a l t e n oder durch eigene K r a f t ändern. D i e E r f a h rung zeigt, wie sich alle, deren N e i g u n g e n auf irgendetwas fixiert sind, gegen jeglichen E i n w a n d v e r h ä r t e n . „ U m g e k e h r t , wenn G o t t in uns w i r k t , will und h a n d e l t andererseits der durch den Geist G o t t e s g e w a n d e l t e und freundlich eingeblasene W i l l e w i e d e r u m aus reiner L u s t und N e i g u n g , so d a ß er durch nichts Entgegengesetztes in etwas anderes v e r w a n d e l t werden k a n n . . . U n d das tun w i r willig und gern, entsprechend der N a t u r des W i l l e n s , der kein W i l l e m e h r w ä r e , wenn er gezwungen würde. D e n n Z w a n g ist v i e l m e h r - um das so auszudrücken - N i c h t w i l l e . " 4 0 „ S o ist der menschliche W i l l e in die M i t t e gestellt wie ein Z u g t i e r . W e n n G o t t sich d a r a u f gesetzt h a t , will er u n d geht, w o h i n G o t t w i l l . . . . W e n n S a t a n sich d a r a u f gesetzt h a t , will und geht er, w o h i n S a t a n will. U n d es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem v o n b e i den R e i t e r n zu laufen oder ihn sich zu verschaffen suchen, sondern die R e i t e r selbst k ä m p f e n m i t e i n a n d e r , ihn zu erlangen und zu b e s i t z e n . " 4 1 D a s ist eine V i s i o n v o m göttlich-dämonischen K a m p f in der Seele jedes menschlichen W e s e n s ü b e r h a u p t . Es ist ein v ö l l i g anderes B i l d v o m Menschen als das B i l d v o m Einzelmenschen, der, getrennt v o n j e dem a n d e r e n Menschen, sich moralisch a u t o n o m f ü r gut oder böse e n t scheidet. D a s eine B i l d von der menschlichen S i t u a t i o n ist prophetische T r a d i t i o n , das andere ist letztlich ethischer H u m a n i s m u s , auch w e n n dieser m i t theologischen Begriffen ausgedrückt w i r d .

Die neue

Wirklichkeit

U n s e r e B e t r a c h t u n g , die sich a u f die negative S e i t e der menschlichen S i t u a t i o n bezieht, ist d a m i t zu E n d e . W i e zu e r w a r t e n ist, w u r d e i n n e r h a l b der reformatorischen T h e o l o g i e diese Seite a m stärksten b e t o n t im 4

» Luther, Berlin, S. 184. Luther, Berlin, S. 185.

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Gegensatz zu dem katholischen Versuch, alles weniger ernst erscheinen zu lassen. Die menschliche Situation wird aber nicht nur mit den Begriffen Trennung und Knechtschaft umschrieben. Die Theologie - reformatorisdie wie prophetische - ist auch Beschreibung der neuen Wirklichlichkeit. Eine solche Beschreibung hat aber immer ein Element der Erwartung, der Esdiatologie, des Hinblickens auf das, was noch nicht ist und kommen wird. Von diesem „Noch nicht" her müssen wir die positive Beschreibung des Menschen verstehen. Die Reformatoren sagten nicht: Hier haben wir den geheiligten Menschen, den Heiligen, die neue Wirklichkeit, wir können sie greifen, hier ist sie - sondern sie sagten: Hier ist sie, aber sie ist, als wäre sie noch nicht, und ihre Erfüllung wird nodi erwartet. Audi dieses eschatologische Element in der Lehre vom Menschen ist etwas, was immer und überall zu prophetischer Tradition gehört. Glaube als Geschenk der Gnade Wenn die Situation so ist, wie ich sie mit den Worten der Reformatoren beschrieben habe, dann gibt es nur einen einzigen Ausweg, und dieser wird zusammengefaßt mit dem Begriff der Gnade. Gnade schafft den Glauben, nicht umgekehrt. Es war eine der größten Verkehrungen protestantischer Predigt, als man den Menschen sagte: Du mußt glauben, und dann wirst du der Gnade teilhaftig. Das ist vielmehr gerade das Gegenteil dessen, was jeder Reformator immer wieder gesagt hat daß nämlich der Glaube das erste und wichtigste Gnadengeschenk Gottes ist. Glaube heißt allein dies: das Geschenk Gottes, die Wiedervereinigung mit Gott annehmen. Das ist das erste, dies geht allem anderen voraus. Und nur wenn dies gesdiieht und nur in dem Akt, in dem es geschieht, ist Glaube möglich. Der Begriff des Glaubens kann in zweifacher Weise verzerrt werden, und das Ziel meiner Darlegungen ist es, diese Verzerrungen aus dem theologischen Denken zu beseitigen. Der unverzerrte Begriff des Glaubens, das ist das erste, heißt nicht: an Unglaubliches glauben, sondern heißt: Ergriffensein von der göttlichen Wirklichkeit und wieder mit ihr Vereintsein. Weder der Glaube noch irgendein Tun unsererseits, das ist das zweite, geht der Gnade voraus, sondern allem anderen voraus geht die Gnade, nämlich Gottes Gegenwart. Diese Gedanken sind es, die von den Reformatoren ausgesprochen wurden, und es ist wahrlich ein Zeichen für die tragische Situation der Menschheit, daß sie so stark in ihr Gegenteil verkehrt worden sind. Die prophetische Tradition leitet alles von Gott ab. Der Glaubensbegriff umfaßt bei Luther die gesamte subjektive Seite 196

der Religion, das gesamte Verhältnis von Gott und Mensch. Glaube ist Empfangen des Gottes, der sich gibt, gegenwärtig macht, klein macht in Christus, Glaube ist Empfangen des Gottes, der Sünden vergibt (oder wie immer die Formel lauten mag). Glaube ist immer Empfangen oder Annehmen. Für Luther hat das nichts zu tun mit der „fides acquisita", es ist nicht die Bereitwilligkeit, auf der Basis einer allgemeinen christlichen Tradition an bestimmte Gottesvorstellungen zu glauben. Glaube bedeutet nicht „fides histórica", d. h. Anerkennung eines geschichtlichen Faktums (daß zu einer bestimmten Zeit ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat). Glaube ist, sagt Luther, das Geschenk Gottes, durch das wir Gottes Gnade erlangen, die Sünde getilgt wird und wir erlöst und gewiß gemacht werden nicht durch unser Werk, sondern durch Christi Werk. Glaube im religiösen Sinne ist das Werk des göttlichen Geistes, und dieser bedeutet wiederum Gottes Gegenwart. Glaube ist eine dynamische Erschütterung der Seele, die empfängt, was unbedingt und letztlich ist, und die sich mit Gott und seinem Willen eint. Die Hemmungen gegenüber dem Glauben sind infolgedessen nicht theoretischen Charakters, sondern wurzeln in der Selbstbezogenheit des Menschen und in der sich daraus ergebenden Unwilligkeit, die Gemeinschaft mit Gott zu empfangen, weil das eine Verneinung der menschlichen Selbstliebe wäre. Diesen rezeptiven Charakter des Glaubens - daß nichts getan, nur empfangen wird - betont Luther immer wieder. Das Gesetz fordert ein Tun, der Glaube fordert, daß empfangen wird. Im Glauben werden alle Güter des ewigen Lebens empfangen: die Vergebung der Sünde, die uns ein ruhiges Gewissen verleiht, und die Macht der Liebe, die unser geistiges Leben zu Gott und den Menschen um-wendet. Deshalb ist Glauben etwas Lebendiges und Rastloses, der wahre lebendige Glaube kann keineswegs träge sein. Das Paradox des Glaubens Da der Glaube mit dem Wirken Gottes zu tun hat, ist sein Charakter paradox, denn für die menschliche Vernunft ist Gottes Wirken paradox, es widerspricht den menschlichen Erwartungen. Das gilt als erstes für Christus: er wird im Glauben „mein Christus". „Wie du ihn glaubst, so hast du ihn", sagt Luther 42 , „der Glaube vereinigt . . . die Seele mit Christus . . . , so . . . daß, was Christus hat, das ist eigen der gläubigen Seele, was die Seele hat, wird eigen Christus. — An Christus glauben, 42

Luther, Weimar, 18, 769.

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heißt ihn anziehen, eins mit ihm w e r d e n . " 4 3 D a m i t ist nichts anderes gemeint als d a s W a g n i s des G l a u b e n s . N o c h augenfälliger ist dieser p a r a d o x e C h a r a k t e r bei der Betrachtung des K r e u z e s Christi. G l a u b e ist G l a u b e gegen allen äußeren Anschein. „ W e r an C h r i s t u m glaubt, der muß Reichtum unter A r m u t , Ehre unter Schmach, F r e u d e unter Betrübnis, Leben unter dem T o d erk e n n e n . " 4 4 V o m S t a n d p u n k t der N a t u r aus ist wegen dieser P a r a d o x a der G l ä u b i g e ein N a r r und ein T o r , denn er g l a u b t an das K r e u z Christi, in dem jede menschliche Möglichkeit verneint ist. D a h e r ist dies die äußerste F o r m des Glaubens, die nichts mehr v o n menschlicher E r f a h rung oder V e r n u n f t übrigläßt. Gleichwohl fühlen wir seine Wahrheit. G l a u b e ist eine wirkliche U m w a n d l u n g in dynamische A k t u a l i t ä t , und Luther drückt dies mit psychologischen Begriffen a u s : D e r G l a u b e schafft die Person, und die Person schafft die W e r k e , nicht aber die W e r k e die Person. D e s h a l b sind die W e r k e z w a r die natürlichen Folgen, haben aber keine erlösende Macht. „ D e n n w o der G l a u b e recht ist, d a folget auch die T a t , und je größer der G l a u b e , je mehr der T a t . E s ist gar ein k r ä f t i g , mächtig, tätig D i n g u m einen rechten G l a u b e n . Nichts ist ihm unmöglich, er ruhet u n d feiert auch n i c h t . " 4 5 D e r G l a u b e ist (wie die E r b s ü n d e , aber ihr entgegengesetzt) eine f o r m e n d e K r a f t der Seele. D a s bedeutet die U m k e h r u n g v o n E t h i k und Religion. In zahllosen Schriften setzt Luther das Sittengesetz gleich T o d , T e u f e l u n d S ü n d e . F ü r Luther ist d a s Gesetz die größte D r o h u n g , weil das G e s e t z unser eigenes Sein, v o n dem wir getrennt sind, uns gegenüberstellt. D a s G e setz v e r d a m m t uns. N a c h Luthers Beschreibung f ü g t uns nichts einen so großen Schmerz zu wie d a s unruhige Gewissen und die V e r z w e i f lung. D e r g a n z e moderne Existentialismus einschließlich P a s c a l und K i e r k e g a a r d w i r d v o n ihm v o r w e g g e n o m m e n , wenn er d a s Gewissen beschreibt als die A n g s t , die ausgelöst werden k a n n v o m Rauschen eines trockenen Blattes a m B a u m , oder wenn er die Zeiten seiner eigenen V e r z w e i f l u n g schildert, die ihn bis in seinen T o d v e r f o l g t haben. E r nannte sie „ A n f e c h t u n g e n " und meinte d a m i t dämonische A n g r i f f e , in denen jeglicher Sinn zunichte wurde. U n d Luther beschreibt, wie aus diesen Erlebnissen sich Feindschaft gegen G o t t , W i l l e z u r Flucht v o r G o t t u n d sogar H a ß gegen G o t t erhebt. H i e r liegen tiefe psychologische P r o b l e m e . Ich k a n n nicht näher d a r auf eingehen, möchte aber eines d a z u bemerken. Manche P s y c h o a n a l y 3 Luther, Lexikon, S. 62 und Luther, Freiheit, S. 131. Luther, München, Erg.-Bd. 4, S. 21. 4 5 Luther, München, Erg.-Bd. 5, S. 166. 4

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tiker könnten vielleicht sagen: Das Schlimme am Protestantismus und einem Manne wie Luther ist, daß er soldi absolute Kategorien aufstellt, denen man nicht entrinnen kann, es sei denn dadurch, daß man die Vergebung annimmt. Wenn ich Karen Horneys letztes Buch richtig verstanden habe, meint sie eben dies: der Protestantismus besitze ein Ideal, das so hoch ist, daß es das Gewissen zermalmen muß, daß es den Menschen notwendigerweise in Verzweiflung stürzt und in Neurose enden läßt. Folgen wir hingegen der Weisheit der katholischen Kirche, gegen die all dies gesagt worden ist, dann haben wir Differenzierungen - abgestufte Pflichten und Verpflichtungen. H a n d e l t jeder gemäß seiner Fähigkeit, seinen besonderen psychologischen und soziologischen Bedingungen, dann geht darüber die absolute Forderung verloren. U n d hier liegt nun nach meiner Meinung ein fundamentales Problem vor uns. Katholizismus und moderne Psychologie bilden eine Art Bündnis gegen die absoluten Kategorien der protestantischen prophetischen Botschaft, und die Frage nach der Lösung dieses Problems ist eine sehr schwere Frage, vielleicht die Grundfrage unserer Zeit. Die Auffassung der menschlichen Existenz bei Luther und Calvin Lassen Sie mich zum Schluß dieses Abschnittes berichten, wie Luther und Calvin die Existenz des Menschen auffassen, des Menschen, der teilhat am neuen Sein, der neuen Wirklichkeit, die obzwar immer zukünftig, dennoch paradoxerweise immer irgendwie gegenwärtig ist. Luthers Auffassung der menschlichen Existenz im christlichen Bereich ist eine Vision vom Menschen, der sich mutig erhebt gegen Gesetz, T o d und Teufel - gegen alle Formen des Nichtseins samt T o d und Sünde, um ihnen ins Antlitz zu blicken mit dem absoluten Mut dessen, der von Gott angenommen ist. Das ist Partizipation an dem, was in jeglicher Hinsicht über jede dieser Formen des Nichtseins hinausgeht. Aber es gibt auch den Rückfall in die Situation der äußersten Verzweiflung. Diese ist, wie Luther seine Erfahrung beschreibt, furchtbarer als es irgendeine Vorstellung von der Hölle sein kann, und die Hölle kann dem, der solche Angriffe erlebt hat, nichts mehr anhaben. Luthers Selbstbewußtsein steigt und fällt gleichsam in diesen Erlebnissen, und die Linie nach oben ist fast unsichtbar. Bei Calvin finden wir eine ganz andere Haltung. Es ist die H a l t u n g dessen, der zwar von der gleichen Grundlage ausgeht wie Luther, dann jedoch das neue Leben a u f f a ß t als ein stetiges Aufsteigen ohne grauen-

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volle Erschütterungen, ohne die schwankende Linie Luthers, die in die Irre geht und immerfort steigt und sinkt. Das calvinistische Leben ist ein Weg, der durch Selbstbeherrschung, Selbsterziehung und Vervollkommnung seiner selbst immer näher an die Form des Göttlichen führt. Beide Auffassungen haben weithin das Schicksal der Welt bestimmt. Aus Luthers Lehre vom Menschen entwickelten sich die Tiefen philosophischer Einsicht und die dämonische Macht der Angriffe gegen Gott und Vernunft. Aus der calvinistischen Form hingegen entwickelte sich jene harte puritanische selbstbeherrschte Existenz, die heute so stark der psychoanalytischen Hilfe bedarf, weil in ihr die dynamischen Kräfte des Lebens unterdrückt werden. Luthers Auffassung von der Liebe und vom christlichen Leben heißt Reue und ekstatische Liebe, Calvins Auffassung vom Leben heißt Selbstaufgabe und Selbstbeherrschung und von dieser Grundlage aus Tätigsein im Dienst des Reiches Gottes. Hinter beiden Gedanken steht die gleiche negative Lehre von der menschlichen Existenz. Luther und Calvin stimmen darin überein, daß nur die Gegenwart Gottes den Mut zur Uberwindung alles dieses Negativen geben kann. Dann aber gehen sie getrennte Wege und schaffen zwei Typen des Lebens, von denen die Welt des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Weise bewegt worden ist, die von ihnen selber niemals vorausgesehen werden konnte und die wir erst langsam zu verstehen versuchen.

I I I . D I E NEUE GEMEINSCHAFT

Dieser dritte Abschnitt handelt von der neuen Gemeinschaft. Das ist der Punkt, an dem die Reformation und wahrscheinlich jede prophetische Bewegung, jede Wiederentdeckung des prophetischen Geistes in große Schwierigkeiten gerät, weil sich hier die Frage erhebt: Wie kann die prophetische Botschaft lebendige Gemeinschaft schaffen? Diese Frage ist die Grundfrage des Protestantismus. Die Probleme, die mit dieser Frage zusammenhängen, sind nicht nur für die Reformatoren, sondern auch für uns recht mannigfaltig und sehr verwirrend. In gewissem Sinne stellt diese Frage den „wunden Punkt" der ganzen Geschichte des Protestantismus dar. Anstatt recht ekstatische Behauptungen über die Gottheit Gottes und düstere Feststellungen über die Natur des Menschen wiederzugeben, wie im ersten und zweiten Abschnitt, werde ich jetzt das Ringen des prophetischen Geistes mit den Problemen der Verkörperung, der Entstehung einer geschichtlichen Wirklichkeit behandeln. 200

Vier Hauptprobleme sind es, auf die ich hier nachdrücklich hinweisen möchte. Das erste kann „Geist und Autorität" genannt werden; es ist vornehmlich das Problem der Autorität der Bibel. Das zweite heißt „Glauben und Organisation", es ist das Problem der Beziehung zwischen dem persönlichen Glauben, der die prophetische Botschaft empfängt, und kirchlicher Organisation. Das dritte heißt „Prophetisches Wort und priesterliches Symbol", es ist das Problem, wie das Wort Gottes, das der priesterlichen Wirklichkeit entgegengestellt wird, selbst wieder priesterliche Wirklichkeit werden kann. Und das vierte Problem, von dem bereits eingangs die Rede war und das von den Reformatoren, vor allem in ihrer Gotteslehre, so gewaltig ausgedrückt worden ist, heißt: „Das, was unbedingt angeht, und das Leben der Gesellschaft." Die Auffassung der Kirche bei den

Reformatoren

Die gemeinsame Wurzel dieser vier Probleme besteht darin, daß „Kirche" von allen Reformatoren in einer Weise definiert und interpretiert wurde, die wir nur als „spirituell" bezeichnen können (und das gilt von jedem der Reformatoren trotz der großen Unterschiede, die wir noch behandeln werden). Wie in den vorigen Abschnitten möchte ich die Worte der Reformatoren selbst wiedergeben. Für Luther ist die Kirche eine Versammlung all derer auf Erden, die an Christus glauben, eine Sammlung der Herzen in einem Glauben - die Gemeinde der Heiligen. Weder Rom, noch der Papst, noch rituelle Handlungen oder kirchliche Ordnungen stellen die Einheit dieser Menschen dar, die Einheit ist Christus. Christus gibt den Gemeinden Sinn, Leben und Willen. Nicht der Wille der einzelnen Mitglieder, sondern das objektive Geschenk Gottes, Christus, schafft die Kirche. Daher kann Luther sie auch „die Versammlung der Gläubigen", „eine christliche Gemeinde der Gläubigen", „eine christliche Gemeinde der Heiligen", „ein heiliges Häuflein" nennen. Sie ist heilig, weil Christus ihr Haupt ist und der Heilige Geist in ihr wirkt. Sie ist verborgen im Geist oder unsichtbar (d. h., sie ist ein Gegenstand des Glaubens und nicht ein Gegenstand, der ergriffen und betastet werden kann). Als eine spirituelle Wirklichkeit ist sie verborgen, wie Christus verborgen ist, Gott verborgen ist, das menschliche Herz verborgen ist. Hier ist sofort der volle spirituelle Charakter dieses Kirchengedankens zu erkennen. Wir finden ihn auch bei Zwingli, dem Schweizer Reformator, den ich hier zum ersten Male nenne, weil er für die Probleme, die mit diesem Abschnitt zusammenhängen, sehr wichtig ist. Nach Zwingli ist die Kirche die Gemeinde der Heiligen, das heißt die Ge201

meinde aller Gläubigen. Die unsichtbare Kirche ist für ihn (und das ist ein sehr wichtiger und wirksamer Gedanke) die Gesamtheit, der „Leib" all derer, die von Gott erwählt sind zu allen Zeiten innerhalb und außerhalb der historischen Kirche. Diese Gesamtheit ist unsichtbar, sie wird vom Heiligen Geist geschaffen, sie bedarf keines Führers und keines Trägers. Deshalb sollte die unsichtbare Kirdhe niemals den Versuch machen, zwischen denen, die wahre Christen sind, und denen, die es nicht sind, zu unterscheiden, weil die wahren Christen in einer unsichtbaren Gemeinschaft durch alle Zeiten stehen. Dies wird von Calvin scharf formuliert. Die Grundbedeutung des Wortes Kirche, „jene Kirche, die in Wahrheit vor Gott Kirche ist", sagt Calvin, ist die Kirche als unsichtbare Gemeinschaft aller Auserwählten, „und zwar umfaßt die Kirche dann nicht allein die Heiligen, die auf Erden wohnen, sondern alle Auserwählten, die seit Anbeginn der Welt gewesen sind." 46 Auserwähltsein und sichtbare Kirche fallen durchaus nicht zusammen, denn es gibt ein spirituelles Wirken Gottes, abgesehen von Predigt und Sakramenten. Gewiß sind Predigt und Sakramente der gewöhnliche Weg, aber Gott stehen ebenso auch andere Wege offen. Wenn der Apostel die Quelle des Glaubens zu Gehör bringt, sagt daher Calvin, dann beschreibt er nur die gewöhnliche Verwaltung und Verkündung des Gesetzes, die Gott im allgemeinen innehält, wenn er sein Volk ruft. Aber er schreibt Gott keine unwandelbare Regel vor, der zufolge kein anderes Verfahren angewandt werden dürfte. Gott hat sicherlich viele berufen, indem er ihnen auf innerliche Weise wahre Erkenntnis seiner selbst gewährte vermittels der Erleuchtung durch den Heiligen Geist ohne das Medium einer Predigt. Das heißt: auch wenn Gott nicht an den gewöhnlichen Weg zur Verwirklichung seines Zieles gebunden ist - an Predigt und Sakramente - , so bedient er sich dennoch gewöhnlich dieses Weges. Aber er steht immer über seinem eigenen Handeln, und er kann jeden innerlich ergreifen, wann immer er will. Diese spirituelle Auffassung der Kirche entwertet offensichtlich die empirische Kirche. Die Kirche ist daher nach Calvin eine Notlösung, eine Anpassung Gottes an unsere Endlichkeit, sie ist nicht die geschichtliche Wirklichkeit des neuen Seins. Sie ist durch Zwecke bestimmt, nicht durch Sein. Das wahre Sein der Kirche ist die Körperschaft derer, die erwählt sind, und der Zweck der sichtbaren Kirche ist nur, Glauben zu schaffen und Menschen zu finden, die prädestiniert oder auserwählt sind. « Inst. IV, 1, 7.

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Das Fundament für die spirituelle Kirche, die ich nach den Worten der Reformatoren beschrieben habe, bildet die Botschaft Christi oder die Botschaft von der Rechtfertigung durch den Glauben (wie auch immer sie ausgedrückt werden mag). An zweiter Stelle folgen die Sakramente, an erster Stelle steht jedoch die Botschaft. Die R e f o r m a toren glaubten, daß die Botschaft Christi, wo auch immer sie verkündet wird, nicht unwirksam bleiben kann; das heißt, wo die Botschaft gegenwärtig ist, da sind Christen. Das ist ein ekstatisches Vertrauen in die spirituelle Macht des Wortes, es bedarf keiner Organisation die Botschaft allein genügt. Geist und

Autorität

Aber auch so blieb die Frage: W o kann ich das W o r t finden? Und die Antwort lautete: in der Bibel. Die Uberlieferung ist verzerrt, die Kirche in Ketzerei verfallen, und der Papst ist der Antichrist, daher, so sagen die Reformatoren, ist der einzige O r t , an dem Gottes W o r t gefunden werden kann, die Bibel. Nun ergab sich die Problematik der Autorität der Bibel: W a r u m die Bibel? Und, falls es die Bibel ist, in welchem Sinne? U n d weiterhin: Falls es die Bibel ist, wie soll sie spirituell ausgelegt werden? U n d wie steht es mit der Tradition, der wir die Bibel verdanken? Luthers „Zeugnis des Heiligen Geistes" Blicken wir nun im Lichte dieser Fragen zunächst auf Luthers Lehre von der Bibel. I m Mittelalter und in der Renaissance gab es eine Lehre von der Bibel, die von den sogenannten Nominalisten, Theologen des späten Mittelalters, vertreten wurde. Nach dieser Lehre stand die Bibel dem Kirchengesetz als Gottes Gesetz gegenüber. In der Renaissance lehrten die Humanisten, daß man auf die „Quellen" zurückgehen muß, und eine von ihnen ist der originale T e x t der Bibel. U n d später gab es im Katholizismus ein Dogma von der Autorität der Bibel, das sowohl in säkularen wie in theologischen Begriffen gefaßt war, und die Reformatoren haben oft nichts anderes getan, als diese A r t des Biblizismus zu wiederholen. Aber Luther geht darüber hinaus. E r verbindet die Lehre von der heiligen Schrift mit seiner neuen Auffassung der Religion als einer persönlichen Beziehung zu Gott. E r spricht davon, daß der Geist, der sie geschaffen hat, in unseren Herzen ihre Wahrheit bezeugt und daß wir nur durch dieses Zeugnis dessen, der die Bibel geschaffen hat, ihr glauben können. Jeder ist des Evangeliums gewiß, der in sich das Zeugnis 203

des Heiligen Geistes trägt, welches das Evangelium ist. Der Gläubige erlangt Gewißheit, der Ungläubige verharrt in der Ungewißheit. Was ist nun der Gegenstand dieses „Zeugnisses des Heiligen Geistes"? Es ist das W o r t Gottes in der Bibel, die Botschaft des Evangeliums und seiner Glaubenssätze. Vor der Bibel bestand nach Luther die Botschaft in der Predigt der Apostel, und die Niederschrift der Bibel ist ein Notbehelf. Deshalb ist nur der religiöse Gehalt wichtig, nicht aber die Niederschrift selber. Gegenstand der Erfahrung ist für die Reformatoren eben diese Botschaft. In diesem Sinne sind die berühmten W o r t e über den Maßstab f ü r die apostolische Wahrheit der Schrift und den Wertmaßstab f ü r die verschiedenen Fassungen zu verstehen: „Und darin stimmen alle rechtschaffenen heiligen Bücher übereins, d a ß sie allesamt Christum predigen und treiben, auch ist das der rechte Prüfestein, alle Bücher zu tadeln, wenn man siehet, ob sie Christum treiben oder nicht." 47 Nach Luther entsprechen diesem Maßstab insbesondere das vierte Evangelium, die Paulusbriefe und der erste Petrusbrief. Und von dieser Grundlage aus stellt Luther eine Reihe sehr kühner Behauptungen auf, z. B., daß Judas und Pilatus als Apostel anzusehen seien, wenn sie die Botschaft Christi vermitteln, nicht dagegen Petrus und Paulus, wenn sie es nicht tun; oder daß heutzutage jeder, der ebenso gewaltig wie die Propheten und Apostel vom Heiligen Geist erfüllt ist, einen neuen Dekalog und ein zweites Neues Testament schaffen könne. N u r weil dem nicht so ist, sagt Luther, müssen wir aus ihrer Quelle trinken. Die antilegalistische, antinominalistische und antihumanistische Auffassung von der Autorität der Bibel hat nie wieder einen so radikalen Ausdruck gefunden wie in diesen Worten. Von diesem Standpunkt aus konnte Luther an den Büchern der Bibel strenge Kritik üben. Es ist f ü r ihn ohne jede Bedeutung, ob die fünf Bücher Mose von Moses stammen oder nicht - er weiß, die Texte der Propheten stehen nicht in der rechten Ordnung und die späteren sind von den früheren abhängig. Er weiß, ihre konkreten Prophezeiungen haben sich o f t als Irrtümer herausgestellt, das Buch Esther und die Apokalypse des Johannes gehören nicht zur wahren Schrift, er weiß, das vierte Evangelium übertrifft die Synoptiker an W e r t und K r a f t , und der Jakobusbrief ist „eine rechte stroherne Epistel und hat kein evangelisch Art an sich." 48 Das war alles außerordentlich kühn und geistesmächtig und konnte 47

Luther, München, 6, S. 110. « Luther, München, 6, S. 84.

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nicht standhalten. Keine Kirche kann, da sie auch Bildung vermitteln und Politik treiben muß, dem Element des Legalismus entgehen; und die Art, in der sich der Protestantismus der Bibel bediente, war legalistisch. Auf diese Weise ging Luthers Geistesfreiheit verloren, aber sie ging nicht völlig verloren. D a ß der Protestantismus in unserer Geschichtsepoche imstande war, die kritische Bewegung in der geschichtlichen Erforschung der biblischen Schriften aufzunehmen, beruht nach meiner Ansicht darauf, daß Luthers prophetischer Geist den legalistisdien Biblizismus des späten Mittelalters abgeschnitten hat - jenen legalistischen Biblizismus, der nach ihm in seinen eigenen Kirchen einen so schrecklichen Ausdruck gefunden hat. Luther selbst stand weit über den lutherischen Kirchen, und eben den mutigen Behauptungen, die Luther über die Autorität der Bibel aufgestellt hat, verdanken wir, daß der Protestantismus imstande war, auszuhalten, was meines Wissens noch keine andere Religion je ausgehalten hat, nämlich die Kritik ihrer heiligen Schriften mit aller Ehrlichkeit historischer Forschung. Calvins „Dokument der Wahrheit" Wenden wir uns Calvin zu, dann wird das Problem unmittelbar aktuell. Hier spricht bereits die zweite Generation, und der völlig legalistische Geist drückt trotz seiner ungeheueren religiösen und sittlichen K r a f t die Autorität der Bibel in Formen aus, die völlig verschieden sind von Luthers Geistesfreiheit (bei diesem Vergleich läßt sich freilich nicht verhehlen, daß Luther keineswegs immer auf dieser H ö h e blieb). Calvin sagt: „Damit dann ferner die Wahrheit der Lehre durch alle J a h r hunderte in dauerndem Fortschreiten erhalten bliebe, wollte Gott, daß die nämlichen Offenbarungsworte, die er den Vätern geschenkt hatte, sozusagen auf öffentlich aufgestellten Tafeln schriftlich niedergelegt würden. Aus solchem Ratschluß hat Gott das Gesetz gegeben, dem dann später, nach der öffentlichen Kundmachung des Gesetzes, als Kommentar die Propheten beigegeben wurden." 4 8 Welch charakteristische Wortwahl! „Niedergelegt - öffentliche Kundmachung - das Gesetz gegeben - Kommentar" - jedes W o r t verrät legalistisches Denken. Gemäß Calvin muß daher der Bibel gehorcht werden: „Da liegt der Ursprung wahren Erkennens: wenn wir mit Ehrfurcht annehmen, was Gott hier von sich selbst hat bezeugen wollen. Denn nicht bloß ein echter und vollkommener Glaube, sondern alle rechte Gotteserkenntnis entsteht aus dem Gehorsam." 5 0 Der Gehorsam gegenüber dem « Inst. I, 6, 2 und IV, 8, 6. so Inst. I, 6, 2.

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Dokument der Wahrheit setzt voraus, daß dieses niedergeschrieben ist und das himmlische Dogma nicht verloren oder verderbt werden kann. „So bringt die Schrift unser sonst so verworrenes Wissen um Gott in die richtige Ordnung, zerstreut das Dunkel und zeigt uns deutlich den wahren Gott. Das ist gewißlich ein einzigartiges Geschenk Gottes, er braucht zur Unterweisung seiner Kirche nicht bloß stumme Lehrmeister, sondern öffnet selbst seinen heiligen Mund!" 5 1 Gott ist vermittels der Bibel ein Lehrer, so haben wir beides - den Lehrer, der uns vor Schwachheit in der Gotteslehre bewahrt, und die Autorität, der wir gehorsam sein müssen. Mit anderen Worten, wir haben statt der Unmittelbarkeit der religiösen Erfahrung Verstand und Willen. Das zeigt sich in der Wichtigkeit, die Calvin der Niederschrift des göttlichen Wortes in der Bibel beimißt. Calvin sagt: „Wenn wir die starke Neigung des Menschen bedenken, Gott zu vergessen, wenn wir seinen Hang zu allerlei Irrtümern sehen und wenn wir gewahr werden, wie gierig er sich immer neue, falsche Religionen erdenkt, dann können wir ermessen, wie nötig solche schriftliche Aufzeichnung der himmlischen Lehre war, damit sie nicht durch Vergessenheit entstellt, im Irrtum der Eitelkeit preisgegeben oder durch menschliche Vermessenheit verdorben würde. Es läßt sich auch nicht verkennen, daß Gott bei allen, die er fruchtbringend unterweisen wollte, das Mittel seines Wortes angewandt hat." 5 2 Im gleichen Sinne spricht Calvin von der „eigentümlichen Schule der Kinder Gottes". In welcher Weise dies geschehen ist, wird deutlich, wenn wir sehen, was Calvin mit dem „Zeugnis des Heiligen Geistes" meint: „Denn wie Gott selbst in seinem W o r t der einzige vollgültige Zeuge von sich selber ist, so wird auch dies W o r t nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt ist. Denn derselbe Geist, der durch den Mund der Propheten gesprochen hat, der muß in unser Herz dringen, um uns die Gewißheit zu schenken, daß sie treulich verkündet haben, was ihnen von Gott aufgetragen war." 5 3 Das heißt, das Zeugnis bezeugt nicht, daß Christus mein Erlöser ist, sondern es bezeugt, daß die biblischen Worte als ganzes getreu überlieferte göttliche Offenbarungsworte sind. „Wer innerlich vom Heiligen Geiste gelehrt ist, der verharrt fest bei der Schrift, und diese trägt ihre Beglaubigung in sich selbst . . . Gewiß verschafft sich die Schrift ganz 5i Inst. I, 6, 1. M Inst. I , 6, 3. ss Inst. I, 7, 4.

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von selbst durch ihre eigene Majestät Ehrfurcht, aber sie ergreift uns erst dann recht und ernstlich, wenn sie durch den Geist in unserem Herzen versiegelt ist. D a ß die Schrift von Gott kommt, das glauben wir, weil die K r a f t des Geistes uns erleuchtet." 5 4 D a s genügt, um zu zeigen, daß der gleiche Begriff „Zeugnis des Heiligen Geistes" zweierlei und völlig verschiedenes bedeuten kann. Einmal bedeutet er die unmittelbare Überzeugung, daß die Botschaft G o t tes mir gilt, zum anderen die Überzeugung, daß die Bibel die ursprüngliche beglaubigte Aussage Gottes ist. Diese Uberzeugung drückt sich auch darin aus, wie Calvin den göttlichen U r s p r u n g der Bibel beschreibt. Er spricht vom „ D i k t a t des Heiligen Geistes", dem „ D i k t a t des Geistes Christi" und nennt die Apostel die „Feder des Heiligen Geistes". Er verwirft Luthers Kritik an den Büchern der Bibel, denn diese können nicht, wie er sagt, auf Grund innerer Merkmale widerlegt werden. S o hat der Protestantismus ein „Gesetzbuch der Wahrheit" eingeführt. In der Geschichte des Protestantismus hat C a l v i n völlig über Luther gesiegt, jedenfalls soweit es die Einsetzung der Bibel als geschriebene Autorität betrifft. In welchem Sinne kann nun die Bibel innerhalb der Kirche Autorität sein? D i e Antwort lautet: Die Bibel gibt ihre Auslegung selber, jeder, der sie liest, versteht ihren Sinn. D a s ist wiederum ein nicht-legalistisches geistliches Vertrauen in die Macht des prophetischen Wortes, und es ist bemerkenswert, daß dies tatsächlich so vor sich gegangen ist: ohne Zweifel gibt es einen gemeinsamen protestantischen Geist. K o m m t man von außen her in die protestantische Welt, dann erkennt man - trotz der 270 Denominationen in den Vereinigten Staaten Amerikas - , daß der Protestantismus eine Wirklichkeit gemeinsamen Geistes und gemeinsamer Art ist. Ein Verhältnis zur Uberlieferung konnte von den Reformatoren nicht hergestellt werden, d a sie durch ihre Kritik die Verbindung zur Vergangenheit (die Bibel ausgenommen) abgeschnitten hatten. Es entwickelte sich eine Theorie, die Kierkegaard später nannte „gleichzeitig-werden mit der Bibel" - ich nenne sie, etwas weniger freundlich, die Sprungtheorie des Protestantismus: nämlich den Sprung über zweitausend J a h r e hinweg, den Sprung v o m Heute in jenes Zeitalter, in dem die Bibel geschrieben wurde. D i e Tradition wurde nicht anerkannt. Natürlich war sie wirksam, aber sie wurde nicht in Betracht gezogen, und ein wirkliches Verhältnis von Bibel und Tradition, von christlicher Gegenwart und biblischer Vergangenheit war nicht vorhan" Inst. I, 7, 5. 207

den. Alles Dazwischenliegende wurde nur als menschlich angesehen 55 . W i r sehen hier im Hinblick auf die Bibel deutlich den großen spirituellen Beginn bei Luther, wie es dann aber nicht möglich ist, diesen Beginn aufrechtzuhalten, nicht einmal im Luthertum und erst recht nicht im Calvinismus, und wie darauf ein Sicheinrichten unter einer neuen Autorität folgt, die so, wie sie formuliert wurde (als Diktat des Heiligen Geistes), zu einer größeren Despotie wurde, als es der Katholizismus je gewesen ist. Glaube

und

Organisation

Nun komme ich zu dem zweiten Problem „Glaube und Organisation". Die spirituelle Kirche, die ich beschrieben habe, besaß keine bestimmte Organisation. Aber hier besteht zwischen Luther und Calvin ein großer Unterschied infolge ihrer verschiedenen Bewertung des Gesetzes. Eine Organisation der sichtbaren Kirche konnte für Luther natürlich keinerlei göttliche Autorität besitzen. Selbst die Berufung eines Geistlichen ist nur eine Notmaßnahme, und alles andere desgleichen. Die Reformatoren sprechen vom allgemeinen Priestertum jedes Gläubigen. Jeder Gläubige kann Geistlicher sein, wenn er die Gaben besitzt und von einer Gemeinde berufen wird, und wenn der R u f endet, verliert er seine Funktion und ist, was er vorher war, ein Laie auch im technischen Sinne des Wortes. Calvin steht dieser völlig spirituellen Auffassung der Organisation wiederum ferner. E r führt Kirchenämter ein und schildert die Kirche in einer Weise, die einen anderen Geist atmet. Für Calvin ist Kirche kraft göttlichen Gesetzes eingesetzt. Drei Kennzeichen und vier Ämter bilden ihre Merkmale. Die drei Kennzeidien der Kirche sind Dogma, Sakramente und Zucht. Auch für Luther und für alle Protestanten sind Dogma und Sakramente die Zeichen der Kirche, die Zucht als Kennzeidien aber ist nur dem Calvinismus eigentümlich. H i e r geschieht das gleiche wie bei dem vorigen Problem: die spirituelle Freiheit, wie sie anfangs bei Luther da ist, findet ihre Verkörperung in einer organisierten Form, in der die Zucht die Existenz der Gemeinde geschichtlich möglich macht. Calvin sagt: „Es gibt nun aber 6 5 Daß Karl Barth die Disziplin der Kirchengeschichte eine „Hilfswissenschaft für die Theologie" genannt hat, sei bemerkt, weil es hierauf ein bezeichnendes Licht wirft. Diese Bezeichnung besagt: die Kirchengeschichte erinnert uns daran, daß sich in der Zwischenzeit zwar allerlei Menschliches ereignet hat, dies aber keinerlei grundlegende Bedeutung hat - sie ist daher keine theologische Disziplin, sondern nur eine Hilfsdisziplin. Das ist eine Konsequenz aus dem Bruch mit der Tradition.

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Leute, denen vor lauter H a ß gegen die Zucht auch der N a m e schon widerwärtig ist. Die sollen nun folgendes wissen: . . . Wie die heilbringende Lehre Christi die Seele der Kirche ist, so steht die Zucht in der Kirche an der Stelle der Sehnen: sie bewirkt, daß die Glieder des Leibes, jedes an seinen Platz, miteinander verbunden leben." 58 Es gibt weiterhin vier Ämter der Kirche, die von der Bibel gefordert werden. U n d diese vier Ämter, die nach Calvin von Christus zum Kirchenregiment eingesetzt wurden, sind erstens die Hirten oder Pastoren, dann die Lehrer, die Ältesten und endlich die Diakone (die Tatsache, daß es gerade diese und keine anderen sind, soll uns hier nicht beschäftigen). Diese vier Ämter lassen sich weder soziologisch noch geschichtlich ableiten, sie sind Gottesgesetz. So dringt wiederum ein Element des kanonischen Gesetzes, des Gottesgesetzes in den Protestantismus ein, um ihm zu ermöglichen, sich selbst als organisierte Macht aufrechtzuerhalten. Dieser zweite Punkt (über den ich noch viel mehr sagen könnte, aber hier nicht will) hat zahllose Konsequenzen. So wurden in Europa die lutherischen Kirchen, die keine Organisation ihrer selbst besaßen, zu Unterabteilungen der staatlichen Verwaltung; die calvinistischen Gemeinden indes, in denen der Geist durch das Gesetz modifiziert wurde - die spirituelle Ekstase durch die tägliche harte Arbeit der Zucht erzeugten nicht nur die mächtigsten Formen des geschichtlichen Protestantismus, sondern retteten eben deshalb historisch den Protestantismus in den Kämpfen mit der Gegenreformation. Es ist sehr interessant, diese Situation zu betrachten und zu sehen, wie der prophetische Geist um seiner Verwirklichung willen in den Geist des Gesetzes umgeformt werden mußte.

Das prophetische

Wort und das priesterliche

Symbol

Das dritte Problem, das ich nun behandeln will, hatte ich genannt „Prophetisches W o r t und priesterliches Symbol". Luther kennt in der Religion letztlich nur eines, das W o r t der Vergebung. Alles andere ist zweiten Ranges. W o immer dies W o r t der Vergebung gesprochen und gehört wird, ist Gott. Grundsätzlich ist daher ein besonderer Gottesdienst an Sonntagen oder bei anderen Gelegenheiten unnötig, das ist lediglich Anpassung an die armen Leute, die nicht lesen können und daher keine andere Möglichkeit haben, die Botschaft zu hören. Für Calvin indes gehört die Teilnahme am Gottesdienst zur Zucht. Das bedeutet, daß die innere Notwendigkeit der Teilnahme an kirch58

Inst. IV, 12, I.

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lidien Gottesdiensten verschwunden ist; zwei Zweckformen haben sie ersetzt. Der Katholik geht zur Messe, weil die Anwesenheit bei der Messe zur Erlösung gehört. Der Protestant muß teilnehmen, entweder weil er nur auf diese Weise das W o r t hören kann oder weil es zur Zucht gehört. Es ist daher nicht das Zentrum des Christentums, von dem aus die Teilnahme am Gottesdienst, am Kult begründet wird. Das ist natürlich eine der Ursachen dafür, daß jahrhundertelang so viele protestantische Kirchen leer waren - hinter dem Kirchgang stand keine religiöse Forderung. Daraus ergaben sich auch Folgen für das Verhältnis von Wort und Sakrament. Wenn das W o r t alles ist, ist das Sakrament nur eine sichtbare Bestätigung, die man haben kann oder auch nicht. Indem Luther die mystische Gegenwart des Leibes Christi im Sakrament des Abendmahls betonte, versuchte er, zu retten, was zu retten war. Zwingli löste (in humanistischer Art) das Sakrament auf in eine Gelegenheit, des Todes Christi zu gedenken. Calvin vermittelte zwischen ihnen. Aber weil sie absoluten Nachdruck auf das prophetische Wort legten, auf die Botschaft von Gott und Vergebung, von Gericht und Verheißung, ging ihnen allen jegliche letzte Notwendigkeit für das Sakrament verloren. Innerhalb des Protestantismus starben deshalb weithin die Sakramente ab. Aufrechterhalten wurden sie nur durch die große Gewalt dessen, was wir Sitte nennen - kirchliche Sitte, Erinnerungen an unsere eigene Kindheit. Aber es war schwer, für die Sakramente eine theologische Begründung von der Systematik her zu geben. Wenn aber alles auf dem W o r t gründet, dann wird dem Bewußtsein, das es aufnimmt, zuviel aufgebürdet. Heute haben wir daher eine Reaktion auf den protestantischen Intellektualismus des Wortes. W i r versuchen, wieder einen Weg für Symbole zu entdecken, für offenbarende Symbole, für Symbole, die unmittelbar offenbaren, die etwas von Gott und zugleich von der Seele aufschließen, so daß sie einander begegnen können. Wie können wir aber solche Symbole finden? Können wir sie finden, wenn wir nicht wirklich an sie glauben? Und wie kann der protestantische Geist, der prophetische Geist an die Notwendigkeit von Symbolen glauben? Das ist eine weitere Grundfrage des Protestantismus. Das, was unbedingt

angeht, und das Leben der

Gesellschaft

Luthers Lehre vom Staat Und nun zum letzten: „Das, was unbedingt angeht, und das Leben der Gesellschaft." Luthers Lehre vom Staat ist einer jener Punkte, derentwegen oft jeglicher Protestantismus, vor allem aber jedes Luther210

tum verworfen wird. Jemand, der sehr gebildet ist, hat mir einmal gesagt, er wisse von Luther nur eines, nämlich daß Luther gegen den Bauernaufstand gewesen sei. Das ist gewiß nicht der Beginn der Reformation, und es zeigt deutlich, wie das Bild der Reformatoren völlig mißverstanden und verzerrt wurde, eben weil es unendlich schwierig ist, das, was letztlich angeht, die letzte Botschaft vom Göttlichen als dem Göttlichen zu den alltäglichen Problemen unserer sozialen und politischen Existenz in Beziehung zu setzen. Luther versuchte, den ursprünglichen Radikalismus des Urchristentums zu erneuern, und das Urchristentum hatte keinerlei Verhältnis zum Staat. Luther erneuerte die Ethik der Liebe, des Leidens, der Demut, er legte die Zehn Gebote so aus, daß die zweite Tafel im Lichte der ersten verstanden werden muß, nämlich als Liebe zu Gott. Diese aber, sagte er, war nur im Paradiese möglich. Sie ist die essentielle Natur des Menschen, nicht aber, was der Mensch heute, in der Existenz ist. Denn hier, heute, in unserer Geschichtsepoche, in Zeit und Raum brauchen wir all das, was gegen die Liebe ist - Macht und Eigentum und Gewalt. Sie lassen sich nicht vermeiden. Wie kann nun dieser Widerspruch überwunden werden? Für den Katholizismus ergab sich als Lösung: einige Menschen, die Mönche und zum Teil auch der Klerus, vertreten völlig die spirituelle Idee, und auf der anderen Seite vertreten andere Menschen, nämlich die Laien, völlig die Bedürfnisse dieser Welt. Im Protestantismus gibt es keine derartige Teilung von Funktion und Sinn. Wie wir in den vorigen Abschnitten sahen, richtet sich die Forderung Gottes, richten sich sein Gericht und seine Verheißung ganz und gar und auf gleiche Weise an jedermann. Jeder steht unter der unbedingten Forderung, zugleich aber jeder in seiner sündigen Existenz in einem besonderen Amt. Hier in diesem Amt, in dieser Funktion, in diesem Beruf oder was es auch sein möge, muß der Mensch als Christ lieben und leiden. Und dennoch muß er als Bürger befehlen und strafen. Das bedeutet: Der Protestantismus hat das Problem der zweifachen Moral, das es in der mittelalterlichen Kirche gibt, in die Tiefen der eigenen Persönlichkeit verlegt. Niemand kann dieser Situation entrinnen. Aber wir können auch nicht der Haltung der Sekten folgen, die jedes positive Gesetz, jede Partizipation am Staat negiert. Wir müssen beides tun: den Staat bejahen und uns frei von ihm halten. Luther gibt nun als Lösung: Das eine ist das eigene Werk der Liebe und das andere das fremde Werk der Liebe. Das eigene Werk der Liebe ist Selbstaufgabe und Leiden, das fremde Werk der Liebe ist Gewalt und Strafen, das Ergreifen der Waffen und so weiter. Aber, so 211

sagt Luther, scheint das fremde Werk der Liebe auch gegen die Liebe zu sein, so steht es dennoch im Dienste der Liebe, denn es gäbe keine Liebe, wenn es nicht Ordnung, G e w a l t und Leben des Staates gäbe. D a s ist Luthers Lösung. Ich finde, dieser G e d a n k e von Gottes eigenem Werk und Gottes fremdem Werk ist eine Lösung von erstaunlicher Tiefe. N u r auf diese Weise kann, glaube ich, der absolute Dualismus beider Reiche, des Reiches der Liebe und des Reiches der Gewalt, in der Tiefe des Einzelmenschen überwunden werden. Es ist verständlich, daß Luther auf G r u n d dieser A u f f a s s u n g in seinen Forderungen nach Gebrauch des Schwertes recht radikal war. Irgend jemand hat gesagt, daß Luther die Macht um der Macht willen verherrlicht habe. Aber das ist nicht wahr. Er erkannte die Notwendigkeit der Macht unter den Bedingungen der Sünde an und verband dies mit einer tiefen Resignation und einer geheimen H o f f n u n g auf Erlösung aus dem ganzen Mächtespiel samt seinen Folgen des Krieges und der Zerstörung. Mehr noch, Luther ersetzt das Element der radikalen Kritik durdi einen starken historischen Positivismus: Die herrschenden Mächte sind im Recht, auch wenn sie böse sind, weil sie durch Gottes Vorsehung zustandegekommen sind. Auflehnung gegen sie ist nicht erlaubt, denn das ist Verneinung des Prinzips der O r d n u n g und in sich widersprüchlich. Selbst im Paradiese - dem Symbol dessen, was wir essentiell sind - gab es Stufen der Macht und Autorität, und im Stande der Sünde bedarf die Autorität der Gewalt. Luther hat die Massen verachtet, er hatte das Gefühl, daß weise Menschen ebenso selten sind wie echte Christen. D a s V o l k muß gezwungen werden. V o m Bildungsoptimismus ist das, was er glaubte, recht weit entfernt. Man hat gesagt, daß vor allem der lutherische Protestantismus den Nährboden f ü r den Nationalsozialismus gebildet hat. D a s ist natürlich unendlich primitiv und ungeschichtlich geurteilt, aber ein winziges Stüdt Wahrheit liegt dennoch in dieser Behauptung - daß nämlich auf dieser Grundlage das deutsche V o l k nicht imstande war, Widerstand zu leisten, weil es durch Jahrhunderte lutherischer Ethik z u m Positivismus, zur Unterordnung unter die gegebene Autorität erzogen worden war. Widerstand war f ü r die Deutschen dasselbe wie Aufruhr, und A u f r u h r mußte von vornherein als Auflehnung gegen die göttliche Vorsehung verworfen werden. Zwingiis A u f f a s s u n g Bei Zwingli und C a l v i n ist all dies völlig anders. Fast alle entscheidenden Gedanken für eine theokratische Landeskirche hat Zwingli ent212

wickelt. D e m Staat muß das Wort Gottes als Grundlage gegeben werden, die höchsten Quellen des bürgerlichen Gesetzes sind die Zehn Gebote. F ü r Christen muß daher die Regierung christlich sein, und die Regierung muß die Predigt der reinen Lehre gewährleisten. Die Reformation wurde in Zürich auf der Basis von Verordnungen Christi eingeführt, der beste Staat ist jener, in dessen Bereich das Gotteswort am stärksten regiert. Daher muß eine Regierung, die diesen Verordnungen widerspricht, „mit G o t t entsetzt" werden 5 7 . D a s ist die Sprache der Revolution: mit Gott entsetzt. U n d das gilt nicht nur f ü r ein bestimmtes L a n d , vielmehr ist jedes L a n d f ü r alle christlichen Länder verantwortlich. Daher versuchte Zwingli, was Cromwell später so erfolgreich getan hat, internationale Bündnisse zur Festigung christlicher S t a a ten zu schaffen. Zwingli selbst hat den T o d in einem Krieg gefunden, der sich aus dieser Theologie ergeben hatte; der gleiche Gedanke bei C r o m well hat dagegen den Weltprotestantismus gerettet und den Geist hinter den beiden Kreuzzügen geschaffen, die die angelsächsischen Länder um der christlichen und humanistischen Politik willen geführt haben, den Geist, der gerade dabei ist, einen dritten K r e u z z u g um des gleichen Zieles willen zu beginnen. (Hier kann man sehen, wie wichtig die Ideen armer kleiner Theologen f ü r die Weltgeschichte werden können, manchmal erst lange nach ihrem T o d . ) Calvins theokratischer Staatsbegriff C a l v i n preist die Bedeutung des Staates viel stärker, als es Luther je getan hat. Er hatte das als H u m a n i s t gelernt, nicht nur v o m negativen S t a n d p u n k t der Unterdrückung der Sünden aus (hierin w a r er sich mit Luther einig), sondern auch von einem positiven rationalen Standpunkt aus. Als die Form, die dem Ideal des Führertums am nächsten stehe, begünstigt er eine Aristokratie und greift die radikalen Sektenanhänger an, die die ganze Welt in eine neue F o r m umpressen wollen ohne Gerichte und Obrigkeiten oder staatliche Autoritäten: „Wer dagegen zwischen Leib und Seele, zwischen diesem gegenwärtigen, vergänglichen Leben und jenem kommenden, ewigen zu unterscheiden weiß, der wird auch ohne Schwierigkeit begreifen, daß Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung zwei völlig verschiedene Dinge sind, d a es also ein jüdischer Wahn ist, Christi Reich unter 5 7 Zwingli, 42. Artikel der 67 Schlußreden. „ S o sy aber untrülidi und usser der schnür Christi faren w u r d i n d , m ö g e n d sy mit G o t entsetzt w e r d e n . " S y = weltlich stat. U n t r ü l i d i = treulos, perfide. Usser der schnür Christi = außer der Richtschnur Christi. M ö g e n d = können, mit einem Einschlag des Sinnes von „sollen". C o r p u s R e f o r m a t o r u m , B a n d I, S. 463 und B a n d II, S. 342.

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den Elementen dieser Welt zu suchen und darin einzuschließen." 58 (Weite Teile der amerikanischen liberalen Theologie und die Entwicklung der Denominationen werden damit schon vorweg verworfen.) In dem Zitat, das ich nun anführen will, beschreibt Calvin sehr klar den Unterschied und zugleich die Verbindung von Gottesreich und Staat sowie das Verhältnis beider zur Lehre vom Menschen. Diese Sätze Calvins kann man als die Charta der calvinistischen Theokratie ansehen. „Denn das geistliche Reich läßt zwar gewisse Anfänge des himmlischen Reiches sdion jetzt auf Erden in uns beginnen und läßt in diesem sterblichen, vergänglichen Leben gewissermaßen die unsterbliche, unvergängliche Seligkeit anfangen. Das bürgerliche Regiment aber hat die Aufgabe, solange wir unter Menschen leben, die äußere Verehrung Gottes zu fördern und zu schützen, die gesunde Lehre der Frömmigkeit und den (guten) Stand der Kirche zu verteidigen, unser Leben auf die Gemeinschaft der Menschen hin zu gestalten, unsere Sitten zur bürgerlichen Gerechtigkeit heranzubilden, uns miteinander zusammenzubringen und den gemeinen Frieden wie die öffentliche Ruhe zu erhalten. Ich gebe zu: dies alles ist überflüssig, wenn das Reich Gottes, wie es jetzt in uns beschaffen ist, das gegenwärtige Leben auslöscht. Wenn es aber Gottes Wille ist, daß wir, während wir der wahren Heimat zustreben, auf Erden wallen, und wenn unsere Pilgrimschaft ihrem Laufe nach solcher Hilfsmittel bedarf, so gilt, daß die, die sie dem Menschen wegnehmen, ihm sein Menschsein rauben." 5 9 Diese Worte sprechen von der theokratischen Aufgabe des Staates: er hat die wahre Religion zu garantieren. Sie zeigen ein pessimistisches Weltgefühl. Besonders wichtig ist die Formulierung des theokratischen Staatsbegriffes. Theokratie bedeutet nicht Hierokratie (die katholische Kirche ist nicht Theokratie, sie ist Hierokratie - die Hierarchie herrscht), es handelt sich vielmehr um Theokratie, wenn Gottes Wille unmittelbar durch die Gesetze des Staates regiert. Diese beiden Begriffe müssen voneinander unterschieden werden. So war der Puritanismus theokratisdi, die römische und die griechische Kirche dagegen nicht. Das Fundament dieser Obrigkeit bilden für Calvin beide Tafeln des Gesetzes; das zeigt deutlich das Alte Testament. Dann fährt er fort: „Christliche Fürsten und Obrigkeiten sollten sich ihrer Trägheit schämen, wenn sie sich dieser Fürsorge nicht mit Eifer widmen wollten. . . . Sie müssen ihre Mühe daran wenden, die Ehre Gottes zu schützen und zu verteidigen. . . . Von da aus wird auch . . . w i d e r l e g t . . . , die Obrigkeit sollte unter Vernachlässigung der Sorge für Gott allein darin tätig ss Inst. IV, 20, 1. «• Inst. IV, 20, 2.

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sein, unter den Menschen Redit zu sprechen . . . dabei aber ausgelassen hätte, was doch von weit ernsterer Bedeutung ist, nämlich d a ß G o t t . . . rein verehrt werde." 0 0 Von dieser G r u n d l a g e aus löste Calvin auch das Problem der Revolution anders als Luther. Zunächst stimmt er mit L u t h e r überein: der einzelne Bürger k a n n nur dulden. Aber es gibt eine niedere Obrigkeit, „Volksbehörden" (wie z. B. die E p h o r e n bei den Lakedämoniern, die Volkstribunen bei den Römern, die D e m a r chen bei den Athenern), u n d diese niedere Obrigkeit k a n n gegen die höchsten Ämter, gegen Fürsten und Könige handeln, sofern Gottes Gesetz auf dem Spiele steht. Die dynamische Polarität

des

Protestantismus

Unsere Betrachtung hat eines deutlich gemacht: je stärker sich der Protestantismus verwirklicht, desto stärker n i m m t der protestantische Geist die Gestalt einer Organisation an, u n d eine solche Organisation zeigt antiprophetische Züge, sie zeigt die Kennzeichen des Gesetzes. Je spiritueller sie hingegen bleibt, desto stärker schafft sie ein V a k u u m f ü r andere K r ä f t e , die nun in unser tägliches Leben eindringen. D e r calvinistische Protestantismus hat z w a r die K r a f t , derartigen eindringenden K r ä f t e n W i d e r s t a n d zu leisten, ist aber dem Gesetz u n t e r w o r f e n . U n d der lutherische Protestantismus hat den anderen Mächten ein V a k u u m hinterlassen, u n d sie sind n u n darin eingedrungen und haben die Krisis des 20. J a h r h u n d e r t s geschaffen. Für die Lösung dieses Problems gibt es nach meiner Meinung keinerlei Formel. Die S p a n n u n g zwischen dem prophetischen P r i n z i p und seiner Verwirklichung ist ein ewiges P r o b l e m der Religion, denn es wurzelt in dem Grundverhältnis von G o t t u n d Mensch: G o t t , der den Menschen unendlich übersteigt, w i r d dem Menschen offenbar u n d erscheint unter den Menschen. N e h m e n ihn die Menschen auf, so machen sie aus ihm unvermeidlich einen Götzen, u n d sie schaffen tagaus tagein Götzen, u n d der prophetische Geist m u ß wieder aufstehen u n d Protest erheben. Das ist die dynamische Polarität, in der Religion immer steht. U n d als letztes möchte ich z u m P r o b l e m des Protestantismus sagen: W i e arm und schwach auch äußerlich der Protestantismus sein mag, er ist in der Geschichte der Religion u n d des Christentums die stärkste innere d y namische Macht, solange er sich seiner F u n k t i o n b e w u ß t ist, die Spannung zwischen diesen beiden Elementen zu zeigen, die nichts ist als ein Ausdruck f ü r die S p a n n u n g der menschlichen Existenz ü b e r h a u p t . 60

Inst. IV, 20, 9.

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KRITISCHES

Eine Auseinandersetzung

UND POSITIVES

PARADOX

mit Karl Barth und Friedrich

Gogarten

Der Aufforderung der Schriftleitung der Theologischen Blätter, eine Auseinandersetzung mit den Gedanken von Karl Barth, Friedrich Gogarten und ihren Freunden zu geben, komme ich nur ungern nach. Denn jede Kritik ihrer Kritik steht in Gefahr, die Beunruhigung, die durch sie entstanden ist, zu schwächen und den Anschein zu erwecken, als sollte der Stachel ihrer radikalen Kritik abgestumpft werden. Nichts aber wäre verhängnisvoller als das. Vielmehr muß alles getan werden, um den Stachel dieser Kritik in weiten Kreisen innerhalb und außerhalb der Kirche fühlbar zu machen. Aber gerade darum muß verhindert werden, daß Gegner etwaige Schwächen ihres Standpunktes ausnutzen, um das an ihnen, was mehr ist als Standpunkt, unsichtbar und unschädlich zu machen. Und diese Gefahr besteht schon. Mit der Bemerkung, daß man „nicht immer im Negativen und Paradoxen schweben könne", macht man sich ein gutes Gewissen für alle die Dinge, die mit Recht unter das Gericht der Krisis und des Paradox gestellt werden; und der wirklich besser zu vermeidende Ketzername tut ein Übriges. Darum möchte ich den Versuch einer Auseinandersetzung wagen, die unter Anerkennung der kritischen Negation die Position aufzuweisen sucht, auf deren Boden die Negation überhaupt erst möglich ist. Einer Dialektik gegenüber, wie sie von Barth und namentlich von Gogarten ausgeübt wird, ist es notwendig, selbst ins Dialektische zu gehen. Die Ablehnung ihrer Gedanken, weil sie dialektisch sind, steht unterhalb des dialektischen Niveaus und kommt als ernsthafter "Widerspruch nicht in Betracht. W e r das Verhältnis von Unbedingtem und Bedingtem undialektisch sieht, der sieht es überhaupt nicht, der hat von der Gewalt dessen, was im Begriff des Unbedingten gemeint ist, keine Vorstellung. Darum müssen wir uns entschlossen auf die Seite von Barth, und das heißt in dieser Beziehung auf die Seite von Kierkegaard und Pascal, von Luther und Augustin, von Johannes und Paulus stellen. Ein unmittelbares, unparadoxes, nicht durch das ständige radikale Nein hindurchgehendes Verhältnis zum Unbedingten ist kein V e r 216

hältnis zum Unbedingten, sondern zu einem Bedingten, das den Anspruch macht, unbedingt zu sein, das heißt zu einem Götzen. Und gerade diejenigen Dinge und Worte, die das Paradox ausdrücken sollen, wie Religion und Bibel, Christus und Gott - und gerade Gott sind in dauernder Gefahr, diesen götzenhaft-undialektischen Charakter zu erhalten, gegenständlich und damit bedingt zu werden. Nicht ein einmaliger, sondern ein ständiger Durchgang ist darum die Krisis, die vom Unbedingten ergeht. Und es ist zum mindesten irreführend, die Theologie der Krisis zum zeitlichen Durchgangspunkt zu machen und über sie hinausführen zu wollen. Wohin? Jedenfalls nicht zu einer „Theologie der Synthese zwischen Absolutem und Relativem", wie Arnold Hein 1 will. Denn diese Synthese ist eine Verbindung zweier Bedingter, von denen das eine Illusion ist. Wohl aber muß gefragt werden, ob in der Theologie der Krisis nicht eine Voraussetzung steckt, die selbst nicht wieder Krisis ist. Barth und Gogarten betonen häufig, daß auch ihre eigene Position unter der Krisis steht, daß sie der undialektischen Haltung nur insoweit Bedeutung zusprechen, als sie ein Hinweis ist auf etwas anderes. Das ist konsequent; aber es werden nicht die Konsequenzen daraus gezogen. Die dialektische Aufhebung der Dialektik bleibt Dialektik; und wenn diese dialektisch aufgehobene Dialektik wieder aufgehoben würde, so bliebe auch das Dialektik ins Unendliche. Die ganze unendliche Reihe der Selbstaufhebungen aber wird nicht aufgehoben. Sie ist die Position, auf der der Dialektiker steht, die aber selbst nicht mehr dialektisch ist. - Das gleiche kann an dem für Barth so charakteristischen Begriff des Humors gegenüber aller innerweltlichen theoretischen und praktischen Problematik aufgewiesen werden. Auch hier wird der Humor gegen die eigene Position des Humors zugestanden; aber es wird nicht daran gedacht, daß diese unendliche Reihe des Humors gegen den Humor ein Element des Ernstes voraussetzt, das nicht wieder unter dem Humor steht. Und auf diesem Punkte ruht der Humor, der nur dadurch Humor und nicht Spiel ist, genau wie die Dialektik. Es gibt also ein Positives, ein Ernsthaftes, das Kritik und Humor erst ermöglicht. Auf die Bestimmung dieses Punktes aber kommt alles an; hier entscheidet es sich, ob die Theologie der Krisis doch noch eine von ihr verbotene Absolutheit kennt, oder ob sie gewillt ist, die in der kritischen vorausgesetzte positive Fassung des Paradox anzuerkennen. Es könnte die Meinung sein - und gewisse Bemerkungen der Gogartenschen Offenbarungslehre unterstützen dieses Verständnis (ich i Theol. Blätter. 1923. N r . 10. Sp. 246 ff.

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denke Mißverständnis) - als sollte die Position der sich selbst ins Unendliche aufhebenden Dialektik absolut gesetzt werden, als sollte die konstante Krisis, die konstante Einspannung auf den „Unterschied von Gott und Mensch" zum Gesetz, zur absoluten Religion gemacht werden. Soll das aber nicht der Fall sein - und es wäre die Zerstörung der ganzen Position, wenn es der Fall wäre - , so muß eine nicht innerdialektische, sondern reale Aufhebung der dialektischen Position vom Unbedingten her gesucht werden. Der Dialektiker muß einsehen, daß er als Dialektiker eine Position unter anderen hat, die durch keine dialektische Selbstaufhebung aufhört, Position zu sein, und er muß, wie er bereit ist, sich trotz der Überzeugung von der Wahrheit seiner Position unter das Nein zu stellen, bereit sein, den anderen Positionen trotz des Nein, das er an ihnen vollstreckt, das gleiche J a wie sich selbst zuzugestehen. Er muß sich mit ihnen unter der Einheit von Nein und Ja zusammenschließen. Das ist kein Relativismus; die Überzeugung von der Überlegenheit der dialektischen Position unter dem Ja und Nein braucht darum nicht aufgegeben zu werden, aber es ist die Bewußtmachung der unaufhebbaren Position, die auch in der Verkündigung der Krisis stcckt, es ist die Erfassung des Ja, das die Voraussetzung des Nein ist, es ist der Rückgang vom kritischen zum positiven Paradox. Ist aber diese Voraussetzung der kritischen Position, daß sie Position ist, einmal erkannt, so ist der Blick frei geworden f ü r alle Position, f ü r diesen Kosmos und diese Erde und dieses Volk, f ü r diese Geistesformen und diese Geschichte und diese Religion, f ü r diesen Menschen an diesem O r t und am heutigen Tag. All das sind ja Elemente der dialektischen Position; ohne sie gäbe es keinen Dialektiker und keinen Gläubigen. D a r u m aber nehmen sie alle teil an dem Nein und dem Ja, das über der dialektischen Position steht. Sie alle stehen unter der Einheit von Gericht und Gnade, wie der Dialektiker, wenn anders er W a h r heit f ü r seine Verkündigung beansprucht. U n d an der Wahrheit teilhaben — nicht die Wahrheit haben, das wäre unparadox, götzendienerisch - heißt doch: unter der Gnade stehen. Freilich, die Gnade ist nicht anschaulich, nicht gegeben; man kann nicht von ihr sagen: Hier und dort ist sie oder ist sie nicht; man kann es von ihr ebensowenig sagen wie vom Gericht. Beide, Gnade und Gericht, sind ungegenständlich, nur dem Glauben zugänglich; und keines kann vom anderen isoliert werden. Es geht nicht an, das Gericht dem Diesseits, die Gnade dem Jenseits zuzuweisen. D a n n wäre keine Position, auch nicht die des Glaubenden, möglich. N u n aber ist sie möglich, wenn auch als unfixierbare, „unanschauliche", „unmögliche Möglichkeit". U n d nur weil sie 218

möglich und wirklich ist, darum ist das Gericht möglich. N u r durch die G n a d e wird das Gericht zum Gericht. N u r da, wo Liebe offenbar ist, wird der Zorn als Zorn offenbar. Ohne die Einheit mit der G n a d e ist das Gericht Naturprozeß. Diese Grundgedanken sind nun in dreifacher Hinsicht zu prüfen: im Verhältnis von G o t t und N a t u r , von G o t t und Geist, von Gott und Geschichte. Barth und Gogarten bekunden eine deutliche Abneigung gegen die religiöse Verwendung des Schöpfungsgedankens. Von der Schöpfungsordnung sei es besser nicht zu reden; sie sei durch die Sünde unkenntlich geworden; was die Heiden aus der N a t u r an Gotteserkenntnis hätten gewinnen können, sei die Erkenntnis des Gerichtes; und auch die Naturwissenschaft dringe immer tiefer in die Irrationalität des Geschaffenen ein. - Hier ist nun zunächst dialektisch zu sagen, daß, sobald von Welt oder N a t u r oder Leben gesprochen wird, an denen sich Gericht oder Irrationalität oder T o d offenbaren, die entsprechenden Positionen, nämlich die Welt als Formeinheit, die N a t u r als Gestaltungseinheit, das Leben als Wirklichkeit, vorausgesetzt sind. Denn das N e g a t i v e kann sich nur am Positiven, nicht am N e g a tiven offenbaren. Weiter ist zu sagen, daß die Irrationalität der N a t u r , wie sie unerreichbar gewaltig im Buche H i o b zum Ausdruck gebracht ist, keineswegs nur die verzweifelte L a g e der Welt, sondern ebensosehr die anzubetende unendliche Majestät Gottes, den Abgrund im Schöpfergott offenbart. Endlich ist zu sagen, daß der Blick auf „die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde" keineswegs bloß das Gericht, sondern auch die lebenschaffende G n a d e sieht und daß der 104. P s a l m und der Gesang der Engel im Prolog von Goethes Faust diesem Blick näher stehen als dem Blick, der das Gericht ohne die G n a d e sieht. Freilich beide, Gericht und Gnade, sind p a r a d o x und öffnen sich nur dem Auge des Glaubens, und z w a r in ihrer p a r a d o x e n Einheit. Es ist vergottender Idealismus, die G n a d e ohne Gericht sehen zu wollen, die Einheit des Unbedingten und Bedingten in der N a t u r unmittelbar, u n p a r a d o x zu fassen; und es ist dämonischer Realismus, die Zerstörung des Bedingten in der N a t u r als N a t u r p r o z e ß ohne p a r a doxe Einheit mit der G n a d e zu sehn. Eins ist so unmöglich wie das andere, und der dämonische Realismus steht der Offenbarung um nichts näher als der vergottende Idealismus. - D i e christliche D o g m a t i k hat den S a t z aufgestellt, daß die Werke der Trinität nach außen ungeteilt sind, daß sie immer zugleich v o m Vater, Sohn und Geist ausgehen, und das N e u e Testament hat den Sohn als Schöpfungsmittler angesehen. D a s bedeutet aber, daß Schöpfungsordnung und Erlösungsordnung zusammengehören, daß es der eine, unteilbare A k t der G n a d e ist, der in 219

Schöpfung und Erlösung sich darstellt, daß die Schöpfung auf die Erlösung hin geordnet, daß die Erlösung in der Schöpfung angelegt ist. Beides ist kein gegenständliches, anschauliches, sondern ein paradoxes, unansdiauliches Urteil. Beides kann nur erfaßt werden im Glauben. Z u r Schöpfung gehört auch der menschliche Geist und seine Form. Es ist infolgedessen konsequent, wenn namentlich Gogarten die negative Krisis auch an dem Geist radikal vollzieht. In seiner Auseinandersetzung mit Emanuel Hirsch über die Ethik und in seinem ständigen K a m p f gegen die Autonomie 2 wird seine Stellung sehr deutlich. Nicht nur die gewöhnliche Werkgerechtigkeit, sondern auch die Absolutsetzung des Gewissens, wie sie bei Hirsch erscheint, wird b e k ä m p f t und der (leider nicht mit dem nötigen Verstehenwollen geführte) Angriff steigert sich bis zu dem Satz, daß nicht das Gewissen, sondern Christus der O r t der Offenbarung sei. N u n ist zweifellos, daß Hirsch in undialektischer und unparadoxer Weise die ethisch-personalistische Frömmigkeit absolut setzt und d a r u m für die dialektische Position kein Verständnis hat. Aber es ist ebenso zweifellos, daß die dialektische Position als Position sich in gleicher Weise absolut setzen kann und in dem Streit Gogarten-Hirsch mit der Geste der Absolutheit auftritt. Wieder ist zu fragen: Welches ist die Position, die der Krisis zugrunde liegt? U n d die Antwort muß lauten: der Glaube an die Einheit von Gericht und Offenbarung audi im menschlichen Geist. Entweder ist die dialektische Position Wahrheit, dann ist der Geist, der diese Wahrheit verkünden kann, Stätte der Offenbarung, unanschaulich freilich, nicht gegeben, nicht fixierbar, unter dem Gericht und darum auch gerecht gegen Wahrheiten, die nicht dialektisch formuliert sind. Oder die dialektische Position steht nur unter dem Gericht, ist nur Ausdruck menschlicher Verlogenheit, dann ist das Pathos des K a m p f e s gegen andere menschliche Verlogenheiten zum mindesten überflüssig. - Auch der Begriff der Autonomie erhält von hier aus ein anderes Licht; wäre die Autonomie an und für sich das Gegengöttliche, der A b f a l l und die Empörung, so w ü r d e jedes W o r t und jeder Begriff, den Gogarten in seiner Dialektik verwendet, A b f a l l und E m p ö r u n g sein, denn diese Worte und Begriffe sind Schöpfungen des autonomen Geistprozesses. Nicht die Autonomie an sich ist gegengöttlich, sondern die dämonisch erfüllte und mißbrauchte Autonomie; die Autonomie an sich ist Gehorsam gegen die ewige Forderung im Theoretischen wie im Praktischen und steht gegen Willkür und Dämonie, geweihte und ungeweihte. Aber freilich: Autonomie ist leer, und wenn nicht der Gehalt der Offenbarung sie erfüllt, 2 V g l . die Zeitschrift: Zwischen den Zeiten. Chr. K a i s e r . München. J g . 1. 1923. H e f t 2 und 3.

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so wird sie zur Beute des Dämonischen. Darum ist nicht die Autonomie zu bekämpfen, sondern die dämonisch verzerrte Autonomie. Das Gesetz aber, dem die Autonomie gehorcht, ist gut, ist Wahrheit und Gerechtigkeit. Auch das Geistesleben ist getragen von der Einheit von Gnade und Gericht. Es gibt keine losgelöste Autonomie; es ist immer Offenbarung und immer Verhüllung, immer Göttliches und immer Dämonisches in ihr; und der Kampf des Göttlichen und Dämonischen, des heiligen und des unheiligen Geistes, des schöpferischen und des zerstörerischen Prinzips ist der tiefste, verborgene Inhalt der Geistesgeschichte, die eben dadurch einen Ernst erhält, der den Humor jedenfalls nur als eine relative Oberflächenbetrachtung zuläßt und dazu zwingt, in jedem Augenblick und bei jeder Sache Partei zu ergreifen für das Göttliche oder für das Dämonische. Neutralität gibt es nicht, sie ist schon Parteinahme — und nicht für das Göttliche. Nicht nur das Gewissen ist die Stätte dieses Widerspruchs, die Stätte der Offenbarung — und des Gerichtes, und nicht nur die Dialektik und mit ihr alle Philosophie ist Stätte des Gerichtes - und der Offenbarung, sondern auch die Kunst und die historisch-kritische Wissenschaft, die Gemeinsthaft und das Recht und der Staat und sogar — die Religion. Es ist das größte Verdienst der Theologie der Krisis, den Kampf gegen den unparadoxen Absolutheitsanspruch der Religion mit größter Energie geführt zu haben, und jedes Wort darüber, namentlich im Römerbrief-Kommentar Karl Barths, ist Götzenzertrümmerung. Aber wieder ist vergessen, daß keine dialektische Selbstaufhebung die religiöse Position, die dieser Negation zu Grunde liegt, aufheben kann. Auch die Glaubensreligion ist Religion, wie die dialektische Autonomie Autonomie ist. Und wieder wird mit dieser Einsicht die Bahn frei für die Religion mit ihrem „Tiefsinn und ihrer Herrlichkeit". Barth will mit den zitierten Worten nicht karikieren. Er bezeugt seine Ehrfurcht vor den Höhen und Tiefen des Geistes. Aber er will sie im Letzten entwerten. „Tiefsinn" ist nicht Offenbarung, also nicht Wahrheit. Nun aber gibt es keinen Tiefsinn, der nicht in die Tiefen des ewigen Ursprungs der Dinge schaute, d. h. es gibt keinen Tiefsinn, der nicht Glaube wäre. Alles, was nicht diese Tiefe meint, ist Flachheit, und es wird dann doch zur Karikatur, wenn sie Tiefsinn genannt wird. Es gibt in aller religiösen und aller profanen Kultur Erscheinungen, die den Ursprung, auf dem sie ruhen, die Offenbarung der Gnade und des Gerichts, im Auge des Glaubens sichtbar machen. Es gibt symbolkräftige Erscheinungen in Religion und Kultur, die deswegen nicht weniger unter dem Nein stehen, deren Betrachtung und Zusammenhang aber dennoch eine Metaphysik der Ge221

schichte, eine symbolische, paradoxe Heilsgeschichte ermöglicht. Das ist der Tiefen-Sinn und, wo er zum Bewußtsein gekommen ist, der Tiefsinn von Kultur und Religion. Nicht gegenständlich, nicht unmittelbar ist dieser Tiefen-Sinn zu schauen, aber paradox, gläubig in Einheit von J a und Nein. Und das gilt sogar von der Mystik, einem Hauptziel Gogartenscher Polemik. Es ist völlig richtig, daß das Heilersche Wort von dem „gesunden Maß der Mystik" zurückgewiesen wird. Denn in dem Verhältnis zum Unbedingten gilt die Kategorie des Maßes nicht, und am allerwenigsten die des „gesunden Maßes". Eine Mystik, von der es ein gesundes und ungesundes Maß gibt, ist in der Tat etwas Bedingtes, das mit Unrecht den Anspruch macht, Offenbarung des Unbedingten zu sein. Aber der wirklichen Mystik kann man so nicht gerecht werden. Sie hat die Spur der Unbedingtheit, die „Maßlosigkeit", die ihrem Gegenstande entspricht. Sie weiß von der Paradoxie des Ursprunges zu reden. Sie kennt den Abgrund der Gnade und des Gerichtes, und darin ist sie gläubig. Es ist ein Zeichen von Hybris des Glaubensstandpunktes, wenn er die Glaubenswurzel des mystischen Standpunktes übersieht. Er wird dadurch auch taub für den mystischen Klang, der in jedem, auch dialektischem Glaubenswort mitschwingt und den z. B. in Rom. 8 zu verhüllen keiner Dialektik gelingen wird. Denn das Wort der Mystik heißt: Gott ist gegenwärtig. Und dieses Wort kann der Glaubensstandpunkt nur anfechten, wenn es unmittelbar, gegenständlich, als bloßes Gefühl oder künstlicher Rausch gemeint ist und nicht paradox, durch das Gericht hindurchgegangen, gläubig. Aber ist der Glaubensstandpunkt vor dieser Vergegenständlichung geschützt? Kann nicht auch er mit all seiner wahren Dialektik unmittelbar, unparadox, ungläubig werden, in ein Werk des Intellekts ausarten? Es ist hier nicht der Ort, von dem Gegensatz der Standpunkte und der zweifellosen Überlegenheit des Glaubensstandpunktes zu reden. Aber es war nötig zu zeigen, daß auch die Mystik in ihrem Wesen (nicht in ihrer technischen Verhärtung) gläubig ist und von der Offenbarung lebt, von der Einheit von Gnade und Gericht. Es mußte das gezeigt werden, damit ein „Rühmen" auf Grund des Glaubensstandpunktes nicht nur dialektisch, sondern auch real unmöglich würde. Damit sind wir zu dem letzten der Probleme gekommen, an dem sich die positive Wurzel des kritischen Paradox zeigen muß, die Geschichte. Es widerspricht dem Sinn des Paradox, eine geschichtliche Wirklichkeit unbedingt zu setzen, eine gegenständliche, anschauliche Geschichtsmetaphysik oder Heilsgeschichte zuzulassen. Dieser Grundsatz wird von Barth und Gogarten sowohl der supranaturalistischen wie der historisch-kri222

tischen Auffassung der Heilsgeschichte gegenüber mit großem Nachdruck und vollem Recht durchgeführt. Das kritische Paradox macht in gleicher Weise die Auflösung der Heilsgeschichte in Profangeschichte wie in Wundergeschichte unmöglich. Die gesamte Geschichte erhält ein negatives Vorzeichen. Aber dieses negative Vorzeichen bleibt das einzige. Geschichte ist die Stätte verlogener menschlicher Gottähnlichkeit und steht unter dem Zorn wie N a t u r und Geist. - Auch dieses Urteil der Krisis ist nur auf dem Boden einer Position möglich, die selbst nicht nur unter diesem Urteil steht. Nirgends ist die positive Wurzel des negativen Paradox offenbarer als hier; denn die Verkündigung der Krisis ist Geschichte, und ihr Inhalt ist geschichtlicher Inhalt. W o diese Botschaft verkündigt wird, ist eine Stätte der Offenbarung mitten in der Geschichte. Nicht ein O r t der Geschichte ist herausgeschnitten und gegenständlich erfaßt. Die Offenbarung, die in der Geschichte sich vollzieht und die Geschichte trägt, ist unanschaulich; aber sie ist nicht unwirklich. Barth und Gogarten lehnen diesen Gedanken ab. Sie übersehen die positive Wurzel ihrer Theologie der Krisis, sind nun aber gezwungen, doch eine Position in der Geschichte zu suchen, auf die sich die Verkündigung der Krisis gründet. Dieser Ort der Offenbarung ist Christus. In der Christologie kommt der Gegensatz von positivem und kritischem Paradox zu entscheidendem Austrag. Die Formulierungen von Gogarten sind hier besonders lehrreich. Sie grenzen in der Geschichte ein einmaliges historisches Ereignis ab, in dem die Geschichte aufgehoben und ein schlechthin Neues gesetzt ist. Was in Christus geschah, geschah durchaus jenseits des Menschentums; aber es geschah in dem historischen Menschen Jesus von N a z a r e t h ; es geschah als „bloß objektive historische Tatsache", es geschah einmal, und es geschah ein für alle Mal. „Nur hier gilt das Nein nicht dem, an dem es erscheint". „O, Widersinn für alle menschliche Gotteserkenntnis." Diese Sätze bekunden, daß die Theologie des kritischen Paradox in der Suche nach einem Fundament ihrer Kritik zu einer Theologie des positiven Absurdum kommt. Damit aber hat sie ihre eigene Voraussetzung aufgegeben. Der unanschauliche, ungegenständliche Charakter des Glaubens ist durchbrochen. An einem P u n k t ist die Glaubensrichtung gebunden durch ein objektiv historisches Faktum. In den Glaubensakt ist die Anerkennung einer empirischen Tatsache aufgenommen. In diese Öffnung aber brechen ungehemmt Heteronomie, Gesetz und absolute Religion ein. Heteronomie; denn z. B. die historisch-kritische Wissenschaft, die möglicherweise - dialektisch gesprochen - die Nichtexistenz dieses Faktums wahrscheinlich machen, oder „jede T a t , jedes W o r t , jede Gebärde" Jesu von Nazareth anzweifeln oder nach entgegengesetzten 223

Richtungen deuten könnte, wäre in dieser ihrer autonomen, d. h. der Wahrheit gehorsamen Arbeit gebrochen. U n d Gesetz; denn wenn durch die absolute Krisis des Menschlichen jede Voraussetzung f ü r den Glaubensakt genommen ist, so ist dieser A k t eine T a t intellektueller Askese, die nicht weniger Werk und Gesetz ist als die praktische Askese des Mystikers. U n d die absolute Religion; denn die Gemeinschaft derer, die dieses Werk verkünden und ausüben, würde gegenüber allen anderen Gemeinschaften die gleiche Absolutheit tragen wie das absolute Endliche, an das sie glauben gegenüber allem anderen Endlichen. Will Gogarten diesen Konsequenzen entgehen, so muß er die Unanschaulichkeit auch der Offenbarung in Christus anerkennen. Er muß anerkennen, daß das empirische Faktum Hinweis ist auf das Unbedingte, das in ihm ungegenständlich offenbar wird. D a n n aber ist der Gegensatz des absoluten Relativen und der relativen Relativitäten aufgehoben und mit ihm Heteronomie, Gesetz und absolute Religion. Die historische Kritik z. B. kann ohne Antastung der unanschaulichen Offenbarung in Christus die anschaulichen Relationen kenntlich machen bis zur möglichen Aufhebung der Gegebenheit als solcher. Der Glaube ist nicht ein Werk der Bejahung des Absurden, sondern er ist erwachsen auf dem Boden der unanschaulichen Offenbarungsgeschichte, die durch die Geschichte verborgen hindurchgeht und in Christus ihren vollkommenen Ausdruck gefunden iiat. U n d die Gemeinde der Gläubigen ist unanschaulich und durchschneidet alle Gemeinschaften der Kultur- und Religionsgeschichte. In alledem ist nicht die Rede davon, daß etwas Menschliches göttlich gesetzt wird. Jeder Pantheismus, jeder Idealismus, jede Synthese von Relativem und Absolutem ist überwunden durch die Verkündigung des Gerichts, dif im positiven sowie im kritischen P a r a d o x enthalten ist. Die Theologie der Krisis hat Recht, uneingeschränktes Recht in ihrem Kampf gegen jede unparadoxe, unmittelbare, gegenständliche Fassung des Unbedingten. Sie ist kein Übergang, sondern etwas Bleibendes, ein Wesenselement der Theologie. Aber sie hat eine Voraussetzung, die selbst nicht mehr Krisis ist, sondern Schöpfung und Gnade. N u r durch die Krisis hindurch, nur paradox darf von ihr geredet werden; so aber muß von ihr geredet werden, allenthalben, in N a t u r und Geist, in Kultur und Religion. U n d in dreifacher Weise k a n n von ihr geredet werden: als von dem ewigen Ursprung, dem Grunde und Abgrunde, der unanschaulich und ungegeben durch alles Wirkliche in J a und Nein dem Glauben offenbar wird. U n d als von der ewigen Erlösung, die unanschaulidi und ungegeben, nur dem Glauben offenbar, durch die Geschichte und ihre Schöpfungen hindurchgeht als verborgene, in Christus mit vollkommener Symbolkraft sich darstellende Heils224

geschichte. U n d als ewige Vollendung, als unanschauliche Verheißung, in der die Zweideutigkeit des Ursprungs und der Kampf des Göttlichen und Dämonischen aufgehoben ist in der ewigen Einheit in Gott. In Schöpfung, Erlösung und Vollendung stellt sich der Sinn des Paradox dem Glauben dar. Die Theologie des kritischen Paradox, die sich nicht nur dialektisch, sondern real unter das Paradox stellt, wird eben damit zur Theologie des positiven Paradox.

225

VON DER

PARADOXIE

DES „ P O S I T I V E N

Antworten

und Fragen

PARADOXES"

an Paul

Tillich

Es geht mir wie Tillich: auch ich lasse mich nur ungern zu der von der verehrl. Schriftleitung der Theol. Bl. gewünschten öffentlichen Zwiesprache heranholen. Einmal geht sein Artikel jedenfalls seinem Wortlaut nach mehr meinen Freund Gogarten an als midi, wartet auch seinem Inhalt nach mehr auf eine Antwort von ihm als von mir. 1 Sodann freut es mich wenig, meine Differenzen mit einem mir über allerlei nicht kleine Gräben hinweg immerhin so nahestehenden Mann wie Tillich auszubreiten vor den Augen gewisser an unsren gemeinsamen Sorgen unbeteiligter sicherer Leute, denen ich dieses Schauspiel durchaus nicht gönne. Ferner ist mir, offengestanden, der belehrende und erbauliche Wert eines solchen gedruckten Kugelwechsels (nicht umsonst „Aus-Einander-Setzung" genannt) nach den gemachten Erfahrungen überhaupt etwas zweifelhaft. Und endlich (zweites offenes Geständnis) fühle ich mich in der Tillichsdien Gedankenwelt schon rein technisch so fremd, daß ich, indem ich mich auf seine Aufstellungen einlasse und ihnen gegenüber die meinigen sichtbar mache, sicher Gefahr laufe, an dem, was er eigentlich von „uns" will, mehr als es unter uns Theologen ohnehin üblich ist, vorbeizusehen und vorbeizureden; ich hätte es, bis ich ihn vielleicht einmal besser verstehe, gerne bei der nicht näher erörterten Feststellung einer „irgendwie" vorhandenen unterirdischen Arbeitsgemeinschaft gelassen. Aber da er nun einmal, obwohl „ungern", über und an, für und gegen uns geschrieben hat, da meine Äußerung dazu eingefordert ist, und da ich keinen zwingenden Grund habe, um die Erlaubnis zu bitten, schweigen zu dürfen, so sei es denn. Tillichs Absicht ist, eine „Position" aufzuweisen, auf deren Boden die „kritische Negation" überhaupt erst möglich ist, ein „Element des Ernstes", ohne das der „Humor" nicht sein könnte, eine Voraussetzung der „Krisis", die selbst nicht Krisis ist, sondern vielmehr die „Aufhebung der dialektischen Position". - Ich meine zu verstehen, was Tillich meint. Aber dann stehe ich sofort befremdet vor der Tatsache, 1 der ich denn auch, um dies gleich zu bemerken, nicht vorgreifen möchte, auch wenn ich im Folgenden des öfteren in der 1. Pers Plur. rede.

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daß Tillich offenbar der Meinung ist, uns damit auf etwas aufmerksam zu machen, von dem wir bis jetzt noch so wenig gehört, wie jene J o hannesjünger, ob ein heiliger Geist sei. Ist es ihm mit dieser Meinung ernst ( und der ganze Tenor seines Aufsatzes läßt ja nicht daran zweifeln), dann ist zur Klärung der Situation zunächst festzustellen: Tillich geht grundsätzlich mit jenem Urteil eines quantitativ nicht unbeträchtlichen Teils des theologischen Publikums über „uns" einig, wonach das, was wir treiben, mit den Worten „Dialektik", „Krisis", „Paradoxie" (alles erstaunlicherweise mit dem Vorzeichen „negativ" versehen), wesentlich und erschöpfend verstanden sei. Muß ich Zitate oder Seitenzahlen oder Rezensentenstimmen anführen als Beleg dafür, daß uns das, was uns Tillich da als unerhörtes N o v u m vor Augen stellt, wirklich seit Jahren wenigstens dem Begriff nach auch nicht ganz unbekannt ist? Wie stellt er sich eigentlich unsern seelischen und geistigen Zustand vor, wenn er etwas anderes denkt? Wohlverstanden, ich bin auch der Meinung, daß auf die genaue und gründliche Bestimmung des positiven Punktes, der da in Frage steht, nicht weniger als Alles ankommt, und ich bin nicht der Meinung, als ob die Bestimmungen, die wir jetzt gegeben haben oder auch heute geben können, auch nur von ferne genügend seien. Es war Tillichs gutes Recht, unsre bisherigen Versuche in dieser Richtung unter die Lupe zu nehmen, zu kritisieren und zu korrigieren; aber er durfte unmöglich von der Voraussetzung ausgehen: „sie übersehen die positive Wurzel ihrer Theologie der Krisis", als ob wir auf seine Aufklärung hätten warten müssen, um nun endlich überhaupt erst dahinter zu kommen, daß wir die ganze Zeit von etwas geredet, daß sich unser theologisches Denken nicht um nichts gedreht hat. Zu der solennen Anfrage, ob die „Theologie der Krisis" gewillt sei, die in der kritischen vorausgesetzte positive Fassung des Paradox „anzuerkennen", finde ich also, und das ist das erste, was ich zu bemerken habe, den Anlaß nicht gegeben. - Oder sollte ich midi täuschen, wenn ich zu verstehen meine, was Tillich meint? Sollte er vielleicht an dem bewußten positiven Punkte etwas so ganz anderes sehen als ich, daß er, optisch irregeführt, bei mir an derselben Stelle einen leeren Fleck wahrzunehmen glaubt? Ich muß im Hinbiidt auf diese Möglichkeit meine erste Antwort („dialektisch!") auch noch so variieren: Ja, sie haben ganz recht, Tillich und die andern, wenn sie offenbar an dem Punkt, auf dessen Bestimmung alles ankommt, bei uns nur ein Loch wahrzunehmen vermögen: es geht uns auch so, unsre ganze „Theologie der Krisis" erscheint uns auch nur als Zwickmühle von „Negationen", als Ergebnis eines sehr unangebrachten „Humors", als leerlaufende „Dialektik", als ein System von Beziehungen, die sich auf nichts be227

ziehen, sobald wir sie auch nur f ü r einen Augenblick als ein Stüde und wohl gar noch als das Glanzstück einer Kulturphilosophie auffassen, sobald wir nicht streng bei der Sache bleiben und Theologie Theologie sein lassen: mit dem ganzen damit unvermeidlich verbundenen Wagnis (ohne Präjudiz gegen die Philosophie, vielleicht gerade in ihrem wohlverstandenen Sinn), |uop(a insofern cjotpia nennen zu müssen, als unsre „Wissenschaft" weder eine negative noch eine positive, sondern überhaupt keine „Wurzel" hat. Kommt Tillichs und der andern Urteil über das, was uns fehle, von daher, nicht von der Fragestellung der Theologie, sondern von der als solcher sehr berechtigten Fragestellung einer Kulturphilosophie her, dann ist mein vorhin erhobener Protest natürlich gegenstandslos. Tillich meint dann offenbar etwas anderes als wir, wenn er von der „dialektischen Position", und erst recht etwas anderes, wenn er von ihrem Jenseits, von ihrer „Aufhebung" redet. Wir können ihm dann sehr wohl den Gefallen tun, uns an seine Seite zu stellen mit der berechtigten Verwunderung des Nicht-Theologen angesichts jenes „Lochs", können mit ihm und den andern das „Positive" an unsrer Lehre vermissen und Vorschläge über die Behebung dieses offenkundigen Übelstandes in Erwägung ziehen, wobei ja dann sogar die „ethische Gewissensreligion" u. dgl. nicht undiskutierbare Möglichkeiten sein müßten! Wir sind ja wirklich weithin selber auch Nicht-Theologen und der von außen jeden Augenblick gegen die Theologie zu erhebende Einwand ist auch unser Einwand, sofern wir jeden Augenblick auch draußen stehen. Tillich kann meinen Protest gegen die Voraussetzung, mit der er seinen Artikel geschrieben, ablehnen - aber nur unter der Bedingung, daß er zugibt, daß seine Voraussetzung die charakteristisch nicht-theologische Voraussetzung ist, gegen die zu protestieren mir denn auch nicht einfällt, weil sie selbstverständlich möglich ist. Versuche ich es nun, den Tillichschen Aufsatz besser zu verstehen, als er sich selbst versteht, weniger anspruchsvoll, sondern ganz schlicht als das Unternehmen, unsre bisherigen Bestimmungen des (uns wirklich auch nicht erst seit heute bekannten) „positiven Paradoxes" einer Durchsicht und Verbesserung zu unterziehen, ein Unternehmen, bei dem er sofort mein ganzes Ohr hat, so stoße ich zunächst auf seinen Einwand, daß „wir" wohl auch etwas wüßten von einer „Aufhebung der Dialektik", daß diese Aufhebung aber (er wird ja auch in dem vorhin Gesagten ein neues Beispiel dieser unsrer Art gefunden haben!) bei uns selber wieder nur Dialektik sei, was sich daran erweise, daß sie bei uns in eine unendliche Reihe von „Selbstaufhebungen" auslaufe, u n d diese unendliche Reihe sei nun die selbst nicht mehr dialektische Position, auf der der Dialektiker „stehe", die verbotene Absolutheit, der er, 228

der wir heimlich oder offen frönten. - Zu diesem Gedankengang (habe idi richtig verstanden?) möchte ich folgendes bemerken: Ich habe Tillichs Aufsatz zunächst abgesucht nach Erläuterungen dieses Vorwurfs einer „verbotenen" Absolutsetzung unserer „dialektischen Position", habe aber nidits anderes finden können als die Beschwerde über die „Geste der Absolutheit", mit der Gogarten in seinem Konflikt mit Hirsch aufgetreten sei. Ich darf also wohl annehmen, daß Tillichs Einwand sich letztlich auf Beobachtungen dieser Art gründet: Er sieht uns gelegentlich auf dem Papier oder gar in Lebensgröße jetzt nach rechts, jetzt nach links kategorisch bis zum Verdacht der Unbußfertigkeit in ein entschiedenes Ja oder Nein ausbrechen, als ob wir nicht mit allen andern „Positionen" unter der Einheit von Nein und J a zusammengeschlossen wären. In solchen Augenblicken glaubt er dann dem Krebsschaden der „Theologie der Krisis" auf der Spur zu sein. Worauf ich frage: Mit weldiem dialektischen Recht kommt Tillich dazu, ausgerechnet die „Geste der Absolutheit" verbieten zu wollen? Welch unendlich langweiligen, wahrhaft Schleiermacherschen Friedenshimmel stellt er uns mit solchem Verbot in Aussicht? Sollte diese „Geste" nicht im Lichte des „positiven Paradox" zur rechten Stunde erlaubt, ja gefordert, „von theonomem Gehalt" erfüllt sein können, um in Tillichs Sprache zu reden? Wie, wenn Gogartens Streit mit Hirsch „Kairos" gewesen wäre und die „Geste der Absolutheit" gerade da sehr wohl am Platz? Ich supponiere nur, aber woher weiß Tillich, daß es nicht so war? Mag uns Tillich oder wer es ist, in solchen Augenblicken zurufen, daß das kritische Augenblicke sind, daß wir so wenig wie sonst jemand in solcher „Geste" verharren können, ohne uns aufs Gefährlichste bloßzustellen, daß man ein solches (fast!) „absolutes" Ja oder Nein nur eben aussprechen kann, um dann in Erinnerung an die Gebrechlichkeit aller irdischen Dinge wieder ebenso beredt (und unter derselben Krisis!) zu schweigen. Aber „Krisis" heißt doch nicht an sich Negation und also „Verbot", sondern Warnung allerdings, aber vielleicht auch Mahnung. Warum soll sie nicht gegebenenfalls Position und Gebot bedeuten können, für den „Dialektiker" wie für andere Sterbliche, die eben, und das ist der eindeutige Sinn der Krisis, unter der sie stehen, gegebenenfalls wissen sollen, was sie tun? Wie kann Tillich auf Grund von Beobachtungen dieser Art (über die wir die Diskussion im einzelnen gewiß nicht ablehnen wollen) auf den Verdacht kommen, wir „stünden" auf unsrer Dialektik, auf - ein schrecklicher Gedanke! - auf der unendlichen Reihe unsrer Selbstaufhebungen? Gewiß ist und bleibt die dialektische Aufhebung der Dialektik (als Position) dialektisch. Sie läuft in der Tat aus in jene unendliche Reihe des Humors, der um so humori229

stischer wird, je humoristischer er sich selbst nimmt. Ich stelle den Ausblick auf diese Seeschlange, die sich zum Uberfluß noch in den Schwanz beißt, nicht in Abrede. Aber das Bangemachen mit diesem Untier würde doch nur dann gelten, wenn Tillich uns nachweisen könnte, erstens daß wir unsre dialektische Haltung überhaupt als Position geltend machen und verteidigen, zweitens, daß wir das durch Handhabung dieser (der dialektischen) Aufhebung zu tun versuchen. Mir scheint nun: wer Ohren hat zu hören, der müßte uns das Zeugnis geben, daß wir mit dieser in der Tat dialektischen „Aufhebung" doch nichts anderes wollten und wollen, als zum Aufsehen mahnen vor einem Vergessen der Krisis, unter der sich auch unsre, die dialektische Haltung befindet. In welcher andern Form läßt sich diese (bes. Neulingen gegenüber sicher nicht unangebrachte) Absicht ausführen, wenn nicht (als ultima ratio der Dialektik) in Form solcher „Selbstaufhebung" des Dialektikers? Wobei dann vielleicht, wenn alles nichts geholfen, gerade der schreckliche Anblick der Seeschlange, der sich hier auftut, dem noch immer nicht Belehrten sagt, welche Aufhebung mit dieser Selbstaufhebung und allen andern vorangehenden Aufhebungen - nicht vollzogen, aber gemeint ist, auch das nur vielleicht freilich, denn wie sollte selbst der schreckliche Anblick der Seeschlange den belehren, der nicht schon darüber belehrt ist, daß die durch unsre ultima ratio bedeutete „Aufhebung" nicht nur nicht dialektisch, sondern überhaupt nie und nimmer als Geistesakt vollziehbar ist? Damit wären wir denn zu Füßen des Berges angelangt, den ich, in Tillichs Sprache redend, die „reale Aufhebung" nennen würde. Zum Abschluß der vorliegenden Quaestio sage ich also: Warum soll die „dialektische Aufhebung der Dialektik", die Tillich bei uns wahrnimmt, durchaus die „Position", auf der wir „stehen", sein müssen? Warum soll sie Hinweis (nicht auf ein anderes, sondern auf das andere) auf die „reale Aufhebung" durchaus nicht sein könnent Bevor Tillich dieses müssen und dieses nicht können bewiesen hat, sehe ich nicht recht ein, inwiefern ich durch seinen Versuch, uns von diesem doch eigentlich nicht eben zentralen Punkt aus aufzurollen, eines Bessern belehrt sein soll. Von Tillichs „positivem Paradox" ist nun zu reden, dessen Nachweis ja der Sinn seines ganzen Aufsatzes ist. Ob ich der einzige seiner Leser bin, der den Wunsch empfunden hat, er möchte hier, bei seiner Bestimmung des Punktes, auf den alles ankommt, etwas ausführlicher nachgewiesen haben, was das ist, und vor allem, wie er zu dem kommt (von „Bewußtmachung" redet er ja verheißungsvoll), was er an dieser Stelle unsrer angeblichen „Verkündigung der Krisis" entgegen - oder vielmehr als ihren nun erst offenbar werdenden Sinn in sie hineinstellen 230

will? Allzu rasch geht er mir hier („Ist aber die Voraussetzung . . . einmal erkannt") über den kritischen Punkt hinweg und zu seiner Tagesordnung über, auf die wir uns, so verlockend sie ist, nicht werden einlassen können, bevor er uns über den Punkt, auf den alles ankommt, weitere Aufschlüsse gegeben hat. Verständlich in sich ist mir zunächst nur der Begriff „reale Aufhebung vom Unbedingten her". Aber gerade um diesen Begriff sammeln sich für midi die Fragezeichen, die mich bei den folgenden Ausführungen Tillichs beunruhigen. Also „Aufhebung". Wer hebt hier auf? Ist das ein Geistesakt der philosophischen Theologen? Wenn Ja, in was besteht sie dann? wie komme ich dazu, irgend etwas „real" und nun gar noch „vom Unbedingten her" aufzuheben? Sollte hier nicht eine philosophische Münchhauseniade vorliegen? Wenn Nein (also „Aufhebung" durch irgendeines Gottes Akt), wie erkenne ich eine solche anderweitig begründete Aufhebung? Inwiefern ist meine Erkenntnis davon nicht etwa doch wieder dialektisch? Sollte der Begriff „Aufhebung" nicht doch etwa unglücklich gewählt sein für die versprochene Größe jenseits von J a und Nein? „Real". Ich verstehe das Wort nach alter Vätersitte bis auf bessere Belehrung im Gegensatz zu „ideal". Es würde mich aber interessieren, zu erfahren, ob nicht auch nach Tillichs Meinung das Merkmal des Einmaligen, Kontingenten zur Bestimmung des Begriffs des Realen unentbehrlich sein sollte? Und wieder stutze ich vor der Tatsache, daß jedenfalls die Erkenntnis dieses „Realen" die versprochene „Bewußtmachung" einer unaufhebbaren gegen alle Dialektik gesicherten Position kaum sein kann. Ob sich nicht der Begriff des „Existentiellen" in dem von Kierkegaard geprägten Sinn für das, was Tillich vermutlich hier sagen wollte, verhältnismäßig besser geeignet hätte? „Vom Unbedingten her." Du sprichst ein großes W o r t . . . ! Von Gott scheint hier die Rede zu sein? Warum dieses Versteckspiel mit dem frostigen Ungeheuer „das Unbedingte"? Ist denn die Voraussetzung des „positiven Paradoxes" (die ja auch nach Tillich auch der Religion zugute kommt) „einmal erkannt", die Furcht vor der möglichen „Götzenhaftigkeit" des Wortes „Gott" als begründet, aber auch als nichtig durchschaut, warum dann nicht mit allen guten und schlechten Christen Gott Gott nennen? Oder sollte etwa auch hier ein „Verbot" bestehen? Ein Verbot, das nicht vielmehr für den Theologen Gebot wäre? Sollte nicht der alte schlichte „liebe Gott" im Mund eines Theologen, der nichts sein will als nur Theologe, am Ende sogar gesicherter sein gegen die Dialektik, der gegenüber ich „das Unbedingte" eben auch nicht für wetterfest halte? Aber viel mehr bedrückt mich hier eine andere Frage: Mittels welcher philosophischen Überlegung kommt Tillich eigentlich dazu, dieses „vom Unbedingten her" aufzustellen, 231

N a t u r , Geist, Geschichte von dort her in Anspruch zu nehmen, zuletzt nicht nur eine Wissenschaftslehre, sondern eine ganze Trinitätslehre von dort her zu entrollen? Ich meine wohl zu verstehen, was mit diesem x, in dem wir offenbar das Tillichsche „positive P a r a d o x " zu erkennen haben, bezeichnet sein soll; aber ich verstehe den Griff nicht, er kommt mir so empörerisch vor, mit dem sich Tillich (in allen seinen mir bekannten Äußerungen spätestens auf der zweiten Seite oder Spalte, so auch hier) zum H e r r n der Situation macht durch eine kecke Setzung, eine Grundlegung, die doch wohl der Sache nach mit dem identisch ist, was man früher Metaphysik nannte, nur daß die alten Metaphysiker unter den Theologen solches meines Wissens mehr sozusagen im Nebenamt trieben, während sich die Sache bei Tillich, wenn mich nicht alles täuscht, umkehrt. Sollte die Beantwortung der Frage nach der Voraussetzung der Krisis, die selbst nicht Krisis ist, so einfach, nämlich durch die Aufstellung eines neuen alles oder nichts sagenden Begriffs oder eines alten in neuem Gewand zu vollziehen sein? Wie kommt man dazu, möchte ich meinen verehrten H e r r n Unterredner fragen, mit Dingen wie „theonome Geisteslage", „prophetische H a l t u n g " , „kairosbewußtes H a n d e l n " u. dgl. und nun also hier: „Aufhebung vom U n bedingten her" seine theologischen Darbietungen nur so mir nichts dir nichts anzufangen, als ob sich das, d. h. als ob sich die Überwindung der menschlichen Gottlosigkeit von selbst verstünde? W o bleibt die Paradoxie des „positiven Paradoxes", wenn es möglich ist, diese Größe in jede beliebige Rechnung an der entscheidenden Stelle als gegeben einzusetzen und auf dem so gelegten Grunde — nun beileibe nicht mehr dialektisch gebrochen, sondern höchst ungebrochen, geradlinig und sicher das Gebäude der wahren Gnosis den Wolken entgegenzutürmen? Ist das verheißene überkritische „Element des Ernstes" wirklich das positive Paradox, wenn sein „Aufweis" (statt in einem Fragen und Antworten, Suchen und Finden, Fallen und Wiederaufstehen, statt in der Darstellung einer Geschichte zwischen Erkanntem und Erkennendem, zwischen Mensch und Gott) in der (ohne die W ü r d e des Dogmas) dogmatischen Setzung eines ersten Prinzips besteht, zu dessen Erfassung die Kirche und der heilige Geist, die Schrift und Christus grundsätzlich überflüssig sind, sondern höchstens nachträglich als Symbole dessen, was ohne sie ist, in Betracht kommen) und bei dessen Auswickelung sich nachher nach berühmtesten Mustern alles von selbst ergibt, wenn man nur logisch genug zu denken vermag, um sich in den mannigfaltigen Verfügungen des Entdeckers zurechtzufinden. Diese Methode ist es vor allem, die mir immer wieder beim ersten Schritt in den Tillichschen Gedankentempeln fremd und unbegreiflich ist und die

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mir durch ihren Ansatz auch seine Folgerungen, so o f t ich midi der sachlichen Übereinstimmung mit ihm freue, als Ganzes jedenfalls als Theologie so unglaubwürdig macht. N a c h diesen Offenheiten wird es Tillich nicht wundern, daß ich auch bei der Abwandlung seines Gottesbegriffs durch N a t u r , Geist und Geschichte durchaus nicht mitgehen kann. Alle (Kosmos, Erde, Volk, Geistesformen, Geschichte usf.) nehmen teil an dem Ja und dem Nein. „Sie alle stehen unter der Einheit von Gericht und Gnade." Gleich wahr sind Gericht und Gnade in der N a t u r , gleich wahr beide audi im menschlichen Geist. „Autonomie an sich ist Gehorsam", „der Kampf des Göttlichen und D ä m o n i s c h e n . . . ist der . . . Inhalt der Geistesgeschichte", Gewissen, Dialektik, Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Gemeinschaft, Recht, Staat, Religion ist Stätte des Gerichts und der Offenbarung, der Offenbarung und des Gerichts, „es gibt keinen Tiefsinn, . . . der nicht Glaube wäre", „es gibt ... Erscheinungen . . . die . . . die Offenbarung . . . sichtbar machen", „es gibt symbolkräftige Erscheinungen . . . " , Mystik kennt den Abgrund der Gnade und des Gerichts, sie ist „in ihrem Wesen" (!) gläubig und lebt von Offenbarung. „ W o diese Botschaft verkündigt wird, ist eine Stätte der Offenbarung, mitten in der Geschichte", „die unanschauliche Offenbarungsgeschichte hat in Christus ihren vollkommenen Ausdruck gefunden". Ich lehne an diesen Ausführungen dreierlei ab: Erstlich die sämtlichen Indikative, die auf ebens o v i e l anparadoxe Bestimmungen des Verhältnisses von Gott und Welt bzw. Mensch hinweisen, wenn anders, wie es meine Meinung ist, der Begriff des theologisdi verstandenen Paradoxen durch das Merkmal der „Unanschaulichkeit" usf. noch keineswegs erschöpfend charakterisiert ist. Wer von jenem Verhältnis wirklich im Blick auf das „positive P a r a d o x " redete, dem würden die vielen „es ist" und „es gibt" und „sie stehen" unmöglich so leicht aus der Feder fließen und am allerwenigsten mit der gelegentlich gegebenen verräterischen Erläuterung, daß „Tiefen-Sinn" da zum wirklichen „Tiefsinn" werde, „wo er zum Bewußtsein gekommen ist"! Er würde wissen, daß es sich beim Glauben um einen Tiefsinn, den „es gibt", auf alle Fälle nicht handeln kann! Zweitens das fortwährende getroste Umkehren der Begriffe Gericht und Gnade bzw. Offenbarung, in dem, wie mir scheint, eine Verwilderung des christlichen Denkens und Redens sich äußert, die mir nachgerade mindestens ebenso schlimm vorkommt, wie der von Tillich verpönte götzenhafte Gebrauch des Wortes „Gott". W e r im Blick auf das „positive P a r a d o x " von Gericht und Gnade redete, der würde sich darüber klar sein, daß er es dabei mit Dingen zu tun hat, über die man nicht mit dieser taghellen Selbstverständlichkeit jetzt so, jetzt so dispo233

nieren darf, weil man die logische Möglichkeit dazu den Wehrlosen gegenüber natürlich jeden Augenblick in der Hand hat. Und drittens: das von Tillich so großzügig geübte Generalisieren, dieses Beziehungen-Behaupten zwischen Gott und allem und jedem zwischen Himmel und Erde, diese breite allgemeine Glaubens- und Offenbarungswalze, die ich, ich kann mir nicht helfen, beim Lesen von Tillich alles und nichts ausrichtend über Häuser, Menschen und Tiere gehen sehe, als ob es sich wiederum von selbst verstünde, daß überall, überall Gericht und Gnade waltet, alles, einfach alles einbezogen „ist" in den Streit und Frieden des „positiven Paradoxes", das, so gehandhabt, bei aller „Unanschaulichkeit" doch wirklich ein Paradox mehr ist, das mit dem Gotte Luthers und Kierkegaards keine, dafür aber mit dem Gotte Schleiermachers und Hegels eine ganz auffallende Ähnlichkeit hat. Ist es Tillich ernst mit der Paradoxie des positiven Paradoxes, so kann es ihm nicht ernst sein weder mit der Direktheit der von ihm behaupteten Beziehungen von Gott und Welt, noch mit der logischen Leichtigkeit, mit der er über die positive und negative Seite dieser Beziehungen verfügen zu können meint, noch mit der Freigebigkeit, mit der er solche Beziehungen an die verschiedenen hohen und niedern Würdenträger dieses Äons glaubt austeilen zu dürfen. So redet man nicht vom „positiven Paradox", wenn man weiß, daß man es als Theologe mit dem göttlichen Paradox zu tun hat, d. h. nicht nur mit dem „Unanschaulichen", sondern mit dem ganz und gar nur auf Grund seines eigenen freien Willens, nur als Entäußerung der Majestät oder, was dasselbe ist, nur aus Liebe und in Liebe in der Welt und für den Menschen Wirklichen und Erkennbaren, mit der Offenbarung, die keineswegs eine mit einem allgemeinen „es ist" und „es gibt" zu bestimmende und vom Menschen bloß noch zu entdeckende Relation, keine heimliche Gegebenheit ist, sondern ein speziellstes, nur von Gott aus eröffnetes und nur, indem wir von ihm erkannt werden, zu erkennendes Geschehen, ein Ereignis von Person zu Person, eine Mitteilung, eine Gabe im strengsten Sinn des Wortes, beides, die Sache und das Wissen darum. — Hier ist's, wo Tillichs und „unsre" Wege, wenn ich recht sehe, ernstlich auseinander gehen: also nach meinem Eindruck nicht sowohl in der mehr oder weniger positiven oder negativen Beleuchtung, in der wir die irdischen Dinge sehen (eine Frage, über die wir uns, als innerhalb der Dialektik befindlich, sicher verständigen könnten) als vielmehr in dem Verständnis gerade dessen, was er und wir jenseits alles J a und Nein zu sehen meinen. Ich vermisse an Tillichs „positivem Paradox" das, was es erst zum göttlichen Paradox und damit zum Objekt (die Alten hätten hier tiefsinniger Subjekt gesagt!) der theologischen Wissenschaft 234

machen würde: seine Bestimmung als freies, persönliches Handeln, seinen unzweideutigen Pneuma-Charakter, durch den es ebenso jenem planen intellektualistischen Zugriff, der mit ihm rechnen will wie mit einem Guthaben, wie jener hemmungslos seine „unanschauliche" Präsenz verkündigenden Direktheit, wie jener allzu gewandt mit seinen Abgründen operierenden Fertigkeit, wie jenem allzu billigen Universalismus, durch den es eins wird mit der Paradoxie, die das Prädikat des Weltganzen ist — entzogen würde. Es könnte doch wohl so sein, wie ich anfangs zur Erwägung stellte, daß Tillich und „wir" tatsächlich an dem Punkte, auf den alles ankommt, etwas Anderes sehen, 50 sehr etwas Anderes, daß er mit Recht auf die Meinung kommen konnte, uns belehren zu müssen, daß dort kein - Loch sei. U n d nun wird der Ort, wo dieser Gegensatz zum Austrag kommt, in der Tat die Christologie sein. Für „uns" ist Christus die Heilsgeschichte, die Heilsgeschichte selbst - Christus ist das „positive Paradox" - , f ü r Tillich ist er die Darstellung einer mehr oder weniger immer und überall sich ereignenden Heilsgeschichte in vollkommener Symbolkraft. Das ist, wie Tillich selbst feststellt, zweierlei. Er erhebt gegen den Weg, den er uns hier einschlagen sieht, den Einwand, daß durch solches „Herausschneiden" und „gegenständliche Erfassen" eines „Orts in der Geschichte" der unanschauliche ungegenständliche Charakter des Glaubens „durchbrochen" werde. Ich antworte darauf: Eben dieser Einwand zeigt, wie Tillichs unvollständige Bestimmung der Paradoxie des „positiven Paradoxes" sich rächt: starr auf das freilich sehr ernste Merkmal der „Unanschaulichkeit" gerichtet, verliert er die göttliche Freiheit und Liebe aus den Augen und läuft so schwerste Gefahr, die berechtigte Polemik gegen den „Menschgott" wie einst Kierkegaard und Dostojewski sie führten, in ihr Gegenteil, die Polemik gegen den Gottmenschen umschlagen zu lassen. Im einzelnen ist Folgendes zu sagen: W o von der Offenbarung die Rede ist, da kann es sich in keinem Sinn um empörerische geistige Operationen wie das bewußte „Herausschneiden" und „Erfassen" handeln. Solches Unternehmen wäre vielmehr identisch mit Leugnung der Offenbarung. Wohl aber um die Feststellung, daß wir keineswegs verloren im Weltenraum schwebende geistige Monaden, in der Bestimmtheit unsres Gottesverhältnisses und seiner Deutung keineswegs mit der Befugnis freier Spekulation auf uns selbst gestellt, sondern getaufte Christen sind, und daß es f ü r uns als solche (und damit doch wohl auch f ü r uns als christliche Theologen!) nach dem Zeugnis der Schrift und dem Bekenntnis der Kirche eine als die Stätte der Heilsgeschichte qualifizierte Geschichte „gibt" (jawohl: „es gibt" - „positiv paradox", d. h. unan235

schaulich, aber nicht nur unanschaulich, sondern vor allem) als Gottes spezielle, persönliche, reale (nicht ohne das Merkmal der Einmaligkeit und Kontingenz zu verstehende!) Freiheits- und Liebestat. Weil Gottes Freiheit und Liebe darum „unanschaulich" sagen wir - , weil Gottes Freiheit und Liebe darum dieses spezielle damalige (untrennbar an ein damaliges Anschauliches geknüpfte) Unanschauliche. Und das wäre dann nach uns das „positive Paradox". Also selbstverständlich ist die Offenbarung in Christus „unanschaulich" und „ungegenständlich" in dem Sinn, daß die Qualifikation dieser Geschichte als /Zeitgeschichte (als Geschichte von der Menschwerdung Gottes) auf der ganzen Linie verhüllt ist durch den Aspekt anschaulicher historischer Relationen, die an sich nichts anderes „sind" als Möglichkeiten des Ärgernisses. Keine „empirische Tatsache" ist an sich die Offenbarung. Keine „Anerkennung" einer solchen ist an sich der Glaube. Das ganze historische „Leben Jesu" z. B., losgelöst von dem Zeugnis derer, denen in dieser Erniedrigung die Majestät begegnete, ist an sich nichts anderes als Möglichkeit, höchste Wahrscheinlichkeit des Ärgernisses, und die hypothetische „Nichtexistenz dieses Faktums" möchte, ohne von besonderem prinzipiellen Belang zu sein, diese Wahrscheinlichkeit noch auf die Spitze treiben. Aber nun knüpft sich das Zeugnis der Apostel zweifellos an jene „empirische Tatsache" und, wenn alles Mythos ist, so beschreibt jedenfalls auch der Mythos die Offenbarung als unzertrennlich verbunden mit einer „empirischen Tatsache". Und wenn die christliche Kirche das Zeugnis der Apostel aufnehmend, von der Offenbarung in Christus und vom Glauben an ihn redet, so kann und will auch sie von jenem verhüllenden, ärgerniserregenden „ist" nicht abstrahieren: auf die Gefahr des Mißverständnisses, als ob die Offenbarung direkt identisch wäre mit dem empirischen Faktum, mit dem damaligen Anschaulichen (was sie doch nicht ist!). Sie kann und will nicht davon abstrahieren, nicht weil sie ohne Symbole nicht reden kann, sondern weil die Offenbarung wohl die Offenbarung der Majestät, aber durchaus die Offenbarung der Majestät in der Niedrigkeit dieses Empirischen, dieses Damaligen, dieses Mißverständlichen ist und nur als solche das „positive Paradox" im ernsten Sinn dieses Begriffes. Und so bleibt das christliche Reden von Christus, so bleibt alle Christologie notwendig dialektisch: sie muß, um das „positive Paradox" zu hüten, dauernd mit der durch das Historische im apostolischen Zeugnis gegebenen Möglichkeit des Ärgernisses rechnen. Ja, sie muß so sehr dialektisch sein und bleiben, daß sie, wenn sie den Christus in Jesus und in Jesus den Christus erkennt, durch dauernde Erinnerung daran, daß das zweierlei ist (man wird bemerken, daß ich hier beiläufig der 236

reformierten Christologie das Wort rede) auf die Möglichkeit des Ärgernisses geradezu aufmerksam macht, das Wissen, daß es hier um Geist, Glauben und Offenbarung geht, wach erhält. Sie darf aber nicht — und nun kehre ich zu meinem Gesprächspartner zurück - sich selbst mit ihrem Gegenstand verwechseln. Sie darf das durch das Zeugnis Jesus Christus gegebene „positive Paradox" nicht sabotieren, indem sie die „ewige Erlösung" und „Jesus von Nazareth" mit Hilfe der Symboltheorie nicht nur unterscheidet, sondern trennt. Sie kann den Historikern alle Konzessionen machen; es kann ihr, wenn sie sich selbst ernst nimmt, nur erwünscht sein, wenn durch die historische Zerfaserung der „empirischen Tatsache" ihre eigene Frage und Antwort: Dieser ist Gottes Sohn gewesen! in ihrem Charakter als göttliche Frage und Antwort um so schärfer ans Licht gestellt wird. Sie darf aber nicht den Rückzug antreten vor einem Gegner, der ihr auf ihrem eigenen Feld gar nicht als solcher begegnen kann; sie darf sich nicht dazu hinreißen lassen, die singuläre Qualifikation dieser Geschichte durch die Offenbarung zu bestreiten, oder, was auf dasselbe herauskommt: die Qualifikation aller Geschichte durch die Offenbarung zu behaupten. Das christliche, das theologische „Absurdum" liegt nicht in dem, was Tillidi so bezeichnet, in dem „einmal und ein für allemal", das auszusagen vielmehr schlichte theologische Pflichterfüllung ist, wohl aber in allem unbedachten, unklassischen, unehrerbietigen Abspringen von der Formel des Concils von Chalcedon, an die in aller Stille sich zu halten mutatis mutandis noch heute Einsicht verraten würde. - Zu der von Tillich als Folge solcher Christologie signalisierten, die historischkritische Wissenschaft bedrohenden „Heteronomie" kann ich nur immer wieder bemerken, daß man den Historikern das Recht unter keinen Umständen absprechen darf, auch auf dem Gebiet, das der Christenheit „heiliges Land" ist, zu treiben, was sie wollen und müssen, und daß wir als Theologen sogar ein Interesse daran haben, daß dies wirklich geschieht. Aber daß darüber die Autonomie der theologischen Wissenschaft überhaupt nicht bedacht wird, daß so und so viele als Historiker sehr achtbare „Theologen" in besten Treuen von einer Aufgabe der Theologie als solcher keine blasse Ahnung haben, daß ihre Beschäftigung mit der Bibel heute fast restlos eine Beschäftigung mit der Möglichkeit, Ärgernis zu nehmen, ist, das halte ich darum doch für einen unhaltbaren Zustand. Wenn sich, was allerdings nicht sicher ist, die protestantische Theologie noch einmal von ihrem Marasmus erholen wird, dann werden unsre Alt- und Neutestamentier, unbeschadet dessen, was sie als Historiker (im Nebenamt!) leisten, theologische Exegeten sein und als solche wirklich auch „der Wahrheit ge237

horsame Arbeit" tun. - Fürchtet Tillich ferner das Hereinbrechen des „Gesetzes", so antworte ich ihm, daß es meines Erachtens ein Gericht über Theologie und Kirche ist, wenn sie heute vor lauter Gesetzlosigkeit ohne Erkenntnis und ohne Willen dastehen in einer Zeit, wo sie und alles Volk beides sehr nötig hätten, und daß ein bißchen „intellektueller Askese" („Werk und Gesetz" hin und her, es handelt sich nicht darum!) unsrem schon bedenklich fellachisierten Geistesleben keinen Eintrag tun würde. - U n d wenn sich Tillich endlich als vor dem Dritten und Schrecklichsten, vor dem Einbruch einer „absoluten Religion" fürchtet, so kann ich ihn wirklich nur erstaunt fragen, was er sich eigentlich bei dieser W a r n u n g gedacht hat. Es ist doch eine neraßaai? ei? &\\o -[¿voq (ich würde das von den drei Drohungen Tillichs überhaupt sagen!), in einem ernsthaften Gespräch über Christus das Christentum plötzlich als eine Religion unter andern zu behandeln, von Kirche und Theologie (die solche Mahnung wahrhaftig nicht nötig haben!) zu verlangen, sie dürften sich selber nur ja nicht etwa so ernst nehmen, daß sie meinten, andern Gemeinschaften gegenüber die W a h r heit zu vertreten. Was soll das? Gerade wenn die Kirche ist, was sie sein soll, Verkündigerin des positiven Paradoxes, gerade wenn sie sich unter und in diese schwerste Krisis stellt, wird sie den Mut nicht verlieren, sondern bekommen, mit: So spricht der Herr! ein reales Quos ego! auf den Plan zu stellen. Sollte Tillich hier nicht etwa noch einmal die fatale Verwechslung von „Krisis" mit „Verbot" unterlaufen sein? Ich muß jedenfalls von mir sagen, daß ich, wenn ich von der „Krisis" redete, unter der alles Menschliche und das Christentum nicht zuletzt stehe, nie daran gedacht habe, solche (mich so pedantisch anschauenden!) Verbottafeln aufzurichten und damit die Geschäfte des modernen Relativismus zu besorgen. Im Gegenteil!! Ich eile zum Schluß und stelle noch einmal fest, daß Tillich als Theologe und darum auch seine Kritik an „uns" mir ein Rätsel ist. V o r läufig erkläre ich es mir durch die Vermutung, daß er wohl immer noch (ohne die Dialektik dieser Sache einzusehen) im Frontalangriff des modernen Menschen gegen den „Großinquisitor" begriffen ist. Wie das endigen muß, kann nicht zweifelhaft sein. Verharrend in seinem antiorthodoxen Ressentiment, kann er dem „positiven Paradox", das die christliche Theologie zu hüten hat, und darum dann, auf der untern Ebene, auch „unsern" Bemühungen unmöglich gerecht werden. Er hat ja im Ganzen freundlich und anerkennend von uns geschrieben, und ich wollte, ich hätte ihm Gleiches mit Gleichem vergelten können. Aber die Korrektur, die er an der sogenannten „Theologie der Krisis" anbringen will, ist der Angriff auf das Entscheidende, was wir sagen möchten. Der 238

Ersatz dessen, was wir an dem Punkt, auf den alles ankommt, zu sehen meinen, durch das, was er dort sieht, würde „unsre" Absicht, so verw a n d t seine Methode zunächst der unsrigen zu sein scheint, in ihr Gegenteil verkehren. Mit einer Theologie des babylonischen T u r m baus wünsche ich nichts zu tun zu haben. Wir wollen gerade keine voraussetzungslose Theologie, bei der jeder nach freier seliger protestantischen Willkür und Erfindung drauflos denkt und redet, wie es ihm sein Geist eingibt - und wenn es unter der Fahne der „Theonomie" geschähe! Nicht nur Gott, nidit nur das Christentum, auch die Kirche, ich meine die „eine heilige allgemeine Kirche", aber in abgestuftem Grade auch die Partikularkirche, der wir angehören, ist die Voraussetzung der Theologie. Das „positive P a r a d o x " darf man auch in dieser Form nicht auflösen und eskamotieren, so wenig wie in der der skandalösen Historizität und Faktizität der Offenbarung. Nicht daß wir den „Glaubensstandpunkt" einnehmen, nicht „Gogartens Offenbarungslehre", nicht die „Theologie der Krisis" ist der Punkt, an dem wir mit Tillich zusammenstoßen, sondern unser Hinweis auf die unauflösliche Korrelation des theologischen Wahrheitsbegriffs mit den Begriffen Kirdie, Kanon, heiliger Geist. Wieviel ich selber noch zu lernen habe nicht nur in dieser, aber auch in dieser Hinsicht, das ist mir nicht zweifelhaft. Die Altäre, vor denen Tillich anbetet, sind mir wirklich auch nicht ganz unbekannt. Vielleicht mußte gerade darum meine AntiKritik zu seinen Ausführungen etwas lebhaft ausfallen. Er versteht vielleicht die Paradoxie des positiven Paradox, die ich meine, wenigstens auf eines Augenblickes Länge (oder wird er den Weheruf erheben, ich sei offenbar in vollem Rüdezug in der Richtung nach den finstersten Orten?), wenn ich zum Schluß Augustine zitiere - er kann und soll es wirklich auch als Friedens^ort auffassen - : „In ecclesia non valet: hoc ego dico, hoc tu dicis, hoc ille dicit, sed: haec dicit Dominus." Karl

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Barth

ANTWORT Meine Antwort soll schnell und kurz sein. Darum muß ich es mir nicht nur versagen, in eine sachliche Einzeldiskussion einzutreten, sondern auch, auf mancherlei Wendungen Barths einzugehen, in denen Temperament und Kampfeseifer ihn über die Grenzen gerechter Abwägung hinausführen. Die Freude an unserem Gesprädi, dessen Ziel für mich durchaus das Miteinander und nicht das Auseinander ist, überwiegt weit die kleinen Abwehrimpulse gegen ironisch oder pädagogisch überlegene Formulierungen. Dagegen möchte ich Barth folgen, wenn er gegen Schluß die Frage nach der Geisteslage stellt, aus der heraus meine Gedanken zu verstehen sind. Es ist in der T a t so, daß ich einen ganz engen Zusammenhang zwischen meiner philosophisch-theologischen Arbeit, auch meiner positiven und negativen Kritik an Barth und Gogarten, und unserer gegenwärtigen Zeit- und Geisteslage sehe. Der Begriff des ,Kairos' bedeutet für mich, daß man nicht zu jeder Zeit jedes sagen und tun kann, sondern daß jede Zeit die Aufgabe hat, den ewigen Sinn aller Zeit aus ihrem Leben und in ihren Worten neu zu schöpfen. Barth fragt nicht mit Unrecht, ob der Abwehrkampf gegen den ,Großinquisitor' mit seinen Insignien: Heteronomie und Gesetz meine Haltung wesentlich mitbestimme. So ist es und so muß es sein. Die Befreiung von der Alternative: Verlust des Heils oder Zerbrechen der Wahrhaftigkeit, in die Orthodoxie und Pietismus, ja selbst die liberale Theologie jede neue Generation von Neuem hereingestoßen hat, mußte durch einen letzten Radikalismus, der jede, aber auch jede religiöse Heteronomie des Erkennens im Namen der Religion aufhebt, vollzogen werden. Aber weil es im Namen der Religion geschah, war es keine Negation, sondern die Position des Unbedingten auch gegenüber jedem Werk des Erkennens. Es war der Durchbruch der Gewißheit, daß es auch eine Rechtfertigung des „Unreligiösen" und des „Atheisten" und des „Lästerers des Menschensohnes" geben kann, wenn nur der Geist der Wahrheit nicht gelästert wird. Es war die Durchführung der protestantischen Krisis des Werks auch gegenüber dem theoretischen Werk der Setzung bestimmter Glaubensinhalte als Vorbedingung des Heils (und hießen sie Gott oder Christus oder Jesus). Und dieser Durchbruch hatte, wo er erfahren und verkündigt wurde, befreiende Wirkung, befreiend nicht nur von der Last des intellektuellen Gesetzes, sondern auch von dem Ressentiment dagegen. Und er hatte die Wirkung, die eben Wirkung der echten Krisis ist, daß sie das gegenständlich Gewordene, Verhärtete, Gesetzliche und darum Feindschaft Er240

regende in seinem symbolischen, hinweisenden, fragwürdigen und zugleich offenbarerisdien Charakter sichtbar machte. Es ist nicht erstaunlich, d a ß jeder, der diese Entwicklung mit durchgemacht hat, eifersüchtig über der Reinheit des Glaubens vor jeder neuen intellektuellen Werkgeredi tigkeit wacht. U n d nicht nur gegen das orthodoxe, sondern noch mehr gegen das liberale Werk des Intellekts richtet sich diese Wachsamkeit, aber auch gegen das kritisch-dialektische, dessen wahres Ziel es doch gerade ist, selbst die Paradoxie zu verkündigen. Dieses ist die eine Seite der Geisteslage, aus der heraus ich zu verstehen wäre. U n d nun die andere. Barth sagt, daß die Voraussetzung der Theologie und ihres Wahrheitsbegriffes Kanon, Kirche und heiliger Geist sind. Das ist als allgemeiner Satz zweifellos richtig. Aber die Frage ist ja gerade, was dieser allgemeine Satz f ü r unsere Geisteslage bedeuten könne. U n d da sehe ich vor allem dieses: Es ist unmöglich, gegenwärtig so zu reden, als ob die Worte, in denen Schrift und Kirche auf das Unbedingte hinweisen, unmittelbar das leisten könnten, was ihr Wesenssinn ist. Das ist Schuld des „Großinquisitors", des Gesetzes, der Heteronomie und der Vergegenständlichung. U n d unter diesem Verhängnis stehen wir alle, Theologen und Nichttheologen. Unmöglich ist es z. B. f ü r den, der dieser Lage bewußt ist, von Gott so zu reden, als ob dieses W o r t die ihm wesenhafte Mächtigkeit unmittelbar vermitteln könnte. D a r u m muß man vom Unbedingten reden. Nicht als wäre dies ein Ersatzbegriff, sondern es ist ein Schlüssel, um die verschlossene T ü r zu dem Sanktissimum des Namens „Gott" sich und anderen zu öffnen, und dann den Schlüssel fortzuwerfen. Gerade hier scheint mir der direkte Zugriff und die Selbstverständlichkeit der Aussage verwehrt zu sein. Ebenso unmöglich ist es, so direkt und unmittelbar von Jesus Christus als dem positiven Paradox zu reden, wie es Gogartens Offenbarungslehre tut. Nicht um das echte Ärgernis zu vermeiden, muß hier anders gesprochen werden, sondern um das Ärgernis zu vermeiden, das nicht den Nehmenden, sondern den Gebenden schuldig macht. U n d auch der N a m e Jesu Christi kann zu diesem falschen Ärgernis mißbraucht werden. W ä r e der Christusgeist eins mit dem Namen Jesu Christi, so wäre der Lästerer des Namens verdammt und der Großinquisitor im Recht. N u n aber erschöpft sich der Christusgeist, das positive Paradox, nicht in der empirischen Erscheinung. Selbst die Theologie hat niemals die absolute Kontingenz des positiven Paradox behauptet. Sie hat vielmehr von dem Logos gesprochen, der in jüdischer und heidnischer Geschichte sich offenbarend auf die vollkommene Offenbarung hinführt. Es d ü r f t e der Theologie nicht verwehrt sein, 241

diesen Weg nachzugehen und sichtbar zu machen, was auch gegenwärtig unter Heiden und Juden, d. h. in den Schöpfungen und Krisen der autonomen Kultur, vom Logos offenbar wird. Es ist wahrlich kein Knien vor falschen Altären und kein Turmbau zu Babel, wenn das positive Paradox so verkündigt wird, daß in den Schöpfungen und Trümmern der Kultur die Spuren des göttlichen J a und Nein unanschaulich-anschaulich gemacht werden und so der Blick durch all diese Hinweise dahin geführt wird, wo nur nodi Hinweis ist, wo das J a und Nein in vollkommener Helle leuchtet. Mag man das Kulturphilosophie nennen, weil der Hinweis auf dieses Letzte dabei nicht in den Worten der Schrift und der Kirche ausgesprochen wird. Nun, so zwingt unsere Lage dazu, als Theologe nicht Theologe, sondern Kulturphilosoph zu sein. Mag man dem Geist, der in diesen Hinweisen auf den letzten Hinweis wirksam ist, nicht heiligen Geist nennen, nun, so muß die Theologie um des Geistes der Wahrheit und der Liebe willen auf den heiligen Geist warten oder besser, sie muß erklären, daß der heilige Geist weht, wo er will, und daß der Christusgeist, der Geist des konkreten Paradox, aus der Herrlichkeit und dem Sterben der Blumen auf dem Felde, aus der Schöpferkraft und der Verzweiflung eines Kunstwerkes, aus dem Tiefsinn und der Selbstaufhebung einer Logik, uns stärker anwehen kann - auch als Ärgernis im echten Sinne des Wortes - als aus Worten, Erzählungen und Bildern, die für unser Bewußtsein noch immer das Siegel des Großinquisitors tragen. Das ist die Lage, aus der heraus ich zu verstehen wäre. Das ist die Lage, die wir als Theologen auf uns nehmen müssen, der wir nicht untreu werden dürfen. Es gibt aber ein Sprechen von der Kultur und ein Springen in die absolute Kontingenz, das Untreue gegen unsere Lage ist, das sich vor allem dadurch richtet, daß es die Gemeinschaft mit denen zerbricht, die in allen Kulturgebieten um Offenbarung des positiven Paradox, um Anschauung des Christusgeistes, ringen, und daß es die Kluft zu denen unüberbrückbar macht, die von Kultur und Religion entleert, im Kampfe stehen gegen die Formen von Kultur und Religion, denen sie ihr Schicksal verdanken, Masse und nichts als Masse geworden zu sein. Audi hier entscheidet der Geist der Wahrheit und der Liebe gegen den „heiligen" Geist, der an Kanon und Kirche im konkreten Sinne gebunden ist. Es wäre verhängnisvoll, wenn eine direkte, unmittelbare Verkündigung des konkreten Paradox, wie sie bei Kierkegaard und Gogarten vorliegt, uns allen, die wir in der gekennzeichneten Lage sind, — den Weg zu der vollkommenen Anschauung des Paradox in Christus - , wenn auch nicht versperren, so ihn doch aufs 242

äußerste erschweren und die Gemeinschaft im Tragen und Durchleiden unmöglich machen würde. Dieses zum Verständnis der Geisteshaltung, aus der heraus ich denke und arbeite und die Begriffe bilde, die vielleicht fremdartig erscheinen, wenn sie nicht von hier aus gesehen werden. Und nun noch zwei Worte an Barth: Es ist meine Furcht, daß die Art, wie er und Gogarten die Dialektik verwenden, die dialektische Position ungewollt hinüberführt in einen sehr positiven und sehr undialektischen Supranaturalismus, daß aus dem J a und Nein des Verhältnisses von Gott und Welt, das jeder Dialektik wesentlich ist, ein einfaches Nein gegenüber der Welt werde, dessen Schicksal es freilich immer ist, undurchführbar zu bleiben und an einem Punkte unvermutet in ein um so positiveres, undialektisches J a umzuschlagen. Diesen Punkt glaube ich an der Offenbarungslehre, an der Lehre von der absoluten Kontingenz usw. zu sehen. Darum kam es mir darauf an, zu zeigen, daß das radikale Nein immer nur in Einheit mit dem J a auch der Welt gegenüber durchführbar ist. Das bedeutet nicht Relativismus bezüglich der Überzeugung. Ich hoffe, daß die Darstellung meiner eigenen Überzeugung nirgends relativistisch klingt; sondern es bedeutet Krisis bezüglich der unbedingten, der Heils-Gewißheit, die sich allerdings an nichts Empirisches, auch nicht an die eigene schöpferische Überzeugung hängen darf. Und das zweite: Barth beruft sich mit Recht auf die reformierte Theologie. Der Dualismus zwischen profaner und heiliger Sphäre ist unter der Auswirkung der reformierten Theologie zu weltgeschichtlicher Bedeutung gelangt. Die Profanisierung und Entleerung des gesamten kulturellen Lebens auf der einen Seite, die Primitivisierung des religiösen Lebens auf der anderen Seite ist eine sichtbare Folge dieser Haltung, die zweifellos den ursprünglich-reformatorischen Intentionen gänzlich fern liegt. Ich kann es nicht für einen Gewinn halten, empfinde es vielmehr als einen Widerspruch zu unserer Lage, wenn die Profanisierung der Kultur als unaufhebbar festgelegt wird. Demgegenüber stelle ich mich bewußt in die deutsch-lutherische Tradition, deren geistesgeschichtliche Bedeutung gerade darin besteht, daß immer neue Versuche zur Überwindung der profanen Autonomie durch eine gefüllte, theonome hervorgegangen sind. In dieser Linie stehen Schleiermacher und Hegel. So deutlich ich mich von ihnen unterscheide, sofern sie versuchen, die Paradoxie zugunsten der dialektischen Identität zu verwischen, so nachdrücklich trete ich auf ihre Seite, wenn es sich darum handelt, in den Formen des Logischen und Ethischen den Hinweis auf das Paradox erschaubar zu machen, die profane Autonomie aufzuheben in Theonomie. 243

ZUR G E I S T E S L A G E DES

THEOLOGEN

Noch eine Antwort an Paul Tillich Da es schon einmal zum öffentlichen Gespräch gekommen ist, so glaube ich meinerseits auch kein Recht zu haben zu schweigen. Freilich kann ich die Antwort, die Karl Barth Tillich gegeben hat, ganz zur meinen machen, und ich hätte ihr nichts hinzuzufügen. Aber es sei mir ein kurzes Wort zu Tillichs Antwort erlaubt, nicht, wie ich ausdrücklich bemerken möchte, um mich mit ihm aus-einander-zu-setzen, zwar auch nicht, um mich in dem Sinne mit ihm zu verständigen, daß ich zeigen wollte, daß wir im Grunde das Gleiche meinen - wie mir scheint, tun wir das, trotz sehr großer Nähe zueinander, nicht - sondern um ihm mein Anliegen womöglich zu derselben Deutlichkeit zu bringen, zu der er mir in seiner Antwort an Barth sein Anliegen gebracht hat. Ich glaube der Geisteslage, aus der heraus Tillich verstanden werden möchte, ziemlich nahe zu stehen und das Verständnis für sie zu haben, das einem die eigene sehr ähnliche Situation gibt. Aber ich ziehe einen anderen Schluß aus dieser Lage als Tillich tut. Ich würde nicht sagen können wie Tillich, daß diese Lage uns zwingen könnte, als Theologe nicht Theologe zu sein, sondern Kulturphilosoph. Ich wäre mit ihm einverstanden, trotz des Bedenkens, das ich dagegen habe und von dem ich gleich sprechen werde, wenn er sagte, daß unsere Lage uns zwingen könnte, unter keinen Umständen mehr Theologe zu sein, sondern Kulturphilosoph. Und zwar ein Kulturphilosoph, der auf das peinlichste bemüht wäre, die Philosophie von den sie an ihrer besonderen Aufgabe doch immer nur hindernden Spuren jeder Theologie zu säubern. Und wie wenig ich damit auf eine bloße Möglichkeit hinweise, mag die Erinnerung an Nietzsche zeigen. Aber diese Erinnerung zeigt auch zugleich, welchen Gefahren ein solches Unternehmen gerade in unserer geistigen Lage - deren gefährlichster Mangel, wie mir scheint, der Mangel einer rechtschaffenen, mit ihrem und nur mit ihrem Gegenstand beschäftigten Theologie ist - ausgesetzt ist. Immerhin, ich verstünde es, wenn einer entschlossen aller Theologie den Rücken kehrte, aber dann auch und erst recht aller in Philosophie oder Kulturphilosophie verkleideten. Es scheint mir darum eine Halbheit und mehr als das: ein verhängnisvoller Irrtum zu sein, wenn Tillich meint, die Direktheit des Zugriffs und die Selbstverständlichkeit der Aussage, die 244

er mit allem Recht f ü r den Namen ,Gott' abwehrt, dadurch entscheidend vermeiden zu können, daß er statt von Gott vom Unbedingten redet. Hier hilft einem doch auf keine Weise eine andere Vokabel f ü r dieselbe Sache, sondern allein, daß man sich resolut entschließt, von einer anderen ,Sache' zu reden. Denn es handelt sich ja nicht darum, das W o r t vor der Direktheit des Zugriffs und der Selbstverständlichkeit der Aussage zu behüten, sondern die .Sache'; sie allein ist vor der Vergegenständlichung zu bewahren. U n d dieser Entschluß, sich resolut mit einer anderen ,Sache' zu befassen, schiene mir da gegeben, wo man entschlossen aller Theologie, auch der verheimlichten einer vom U n bedingten redenden Philosophie, den Rücken kehrte. Diese andere ,Sache', mit der man sich dann zu befassen hätte, kann allein die Wirklichkeit unseres Lebens, die Wirklichkeit des Menschen sein. U m sie ginge es, sie zu erforschen, sie zu gestalten, und das alles mit leidenschaftlich-nüchterner Ablehnung jedes Gedankens an Gott oder ein gottähnliches Unbedingtes oder Absolutes oder welche Vokabel man sonst verwendet. Und hier erst ginge es um den blutigernsten Versuch einer Rechtfertigung nicht des „Unreligiösen", sondern des tatsächlich Unreligiösen, des Atheisten und des Lästerers des Menschensohnes. Ich erinnere, um weitere Ausführungen hier vermeiden zu können, noch einmal an Nietzsche, der wohl auch den einzigen ernst zu nehmenden Versuch dieser Art gemacht hat. Damit hört man natürlich auf, Theologe zu sein; auf diese Weise kann man nicht als Theologe nicht Theologe sein. Es ist nun allerdings meine Uberzeugung, daß jeder Versuch dieser Art mißglücken muß. U n d zwar deshalb, weil es f ü r uns keine Wirklichkeit gibt außer der des in dem Menschen Jesus Christus geoffenbarten Gottes. Ich sage ausdrücklich so, sage als Theologe so und sehe keine Möglichkeit, das, was hier gesagt werden soll, anders zu sagen. Vor der Direktheit und Unmittelbarkeit der Aussage, die Tillich mit Recht abwehrt, weiß ich mich gerade bei dieser direkten und unmittelbaren Aussage gesichert. Denn durch diese Aussage werde ich, wenn anders ich weiß, was ich sage, und ich sollte denken der aufmerksame H ö r e r ebenso, direkt und unmittelbar auf die Wirklichkeit meines Lebens, auf mein ,Existentielles' gewiesen. U n d hier ist ja wohl die höchste Direktheit und Unmittelbarkeit Gebot. Andererseits aber, scheint mir, ist nirgends sonst als hier, in der so verstandenen direkten und unmittelbaren Rede von Jesus Christus, dieser wegen seiner Direktheit unausweichliche Hinweis auf das ,Existentielle' vorhanden. J a , mehr als Hinweis. Denn eine solche direkte Rede schließt gerade allen symbolischen, hinweisenden, offenbarerischen (in dem Sinne, in 245

dem Tillich dieses Wort gebraucht) Charakter der Offenbarung aus. Dann erst, wenn das Symbolhafte bis auf den Grund zerstört ist also gerade das, was Tillich an unseren entscheidenden Aussagen vermißt - , ist einerseits jede Vergegenständlichung der Offenbarung, auch ihre Vergegenständlichung zur Dialektik unmöglich gemacht. Und andererseits ist dann auch die Gefahr beschworen, daß unser eigenes Leben und die Wirklichkeit der Welt sich zum Symbol, zum Hinweis auflöst. Wie Tillich dem entgehen will, wenn er aus der Offenbarung den ,Christusgeist' macht, sehe ich nicht. Soweit ich verstehe, was er vom Kairos sagt, fürchte ich, daß er mit dieser Auflösung beschäftigt ist. Ich weiß wohl und empfinde es bitter, daß wir in der Tat, wenigstens weithin, wie Tillich sagt, „die Gemeinschaft mit denen zerbrechen, die in allen Kulturgebieten um Offenbarung des Paradox, um Anschauung des Christusgeistes ringen". Aber ich kann ihm durchaus nicht zugeben, daß das eine Untreue gegen unsere Lage ist. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß wir gerade aus Treue gegen unsere Lage als Theologen - und ich will Tillich gerne gestehen, daß meine Heimut dort ist und ich die Heimat verließ und in die Fremde ging, als ich nadh langem Zögern zum ersten Mal einen theologischen Hörsaal betrat, und seine Rede mir in die Ohren dringt wie Heimatsruf - den schmerzhaften Verzicht auf diese Gemeinschaft auf uns nehmen müssen, um ihnen den Dienst zu tun, den wir ihnen als Theologen zu tun haben. Ich brauche Tillich nicht zu versichern, daß ich nicht anders meine, als im ersten Anfang dieser Arbeit zu stehen. Ich weiß sehr wohl, daß die Rede von der Offenbarung Gottes in jenem Menschen Jesus Christus noch von viel schärferer Direktheit sein sollte, so daß sie in noch ganz anderer Härte Sprecher und Hörer vor ihr eigenes Menschentum und ihre eigene .existentielle* Wirklichkeit stellte und ihnen in noch ganz anderer Aktualität Erkenntnis ihres eigenen Seins und des Seins dieser Welt gäbe. Doch darüber meine ich im Fortgang meiner Arbeit alles zu sagen, was ich darüber sagen kann, und so deutlich, wie ich es sagen kann. Es geht ja auch hier nicht darum, die einzelnen Ergebnisse meiner Arbeit Tillich gegenüber zu verteidigen, sondern nur ihren Ausgangspunkt und ihre der seinigen wohl stracks entgegengesetzte Richtung aufzuzeigen. Und um das auf eine kurze Formulierung zu bringen, würde ich sagen, daß ich - und ich glaube hier auch im Namen Barths sprechen zu dürfen - die Wirklichkeit der Welt und des Lebens und ihre Erkenntnis von Jesus Christus her, ja, genauer: in Jesus Christus suche, während Tillich die Erkenntnis Jesu Christi oder wie er bezeichnend sagt: des Christusgeistes in der Erkenntnis der Welt und des Lebens sucht. Friedrich Gogarten 246

WAS IST FALSCH IN DER „DIALEKTISCHEN"

THEOLOGIE?

I. Wenn ich gefragt werde: Was ist falsch in der dialektischen Theologie?, so antworte ich: daß sie nicht dialektisch ist. Dialektisch ist eine Theologie, in der Ja und Nein untrennbar zusammengehören. In der sogenannten dialektischen Theologie sind sie unvereinbar auseinandergerissen; darum ist sie nicht dialektisch. Sie ist paradox, das ist ihre Größe; und sie ist supranatural, das ist ihre Schwäche. Dem Beweis dieser beiden Sätze ist alles Folgende gewidmet. Die Frage: Was ist falsch in der „dialektischen" Theologie? setzt die Überzeugung voraus, daß etwas in ihr richtig ist. Nur weil das vorausgesetzt ist, konnte ich die mir gestellte Frage annehmen; denn meine Uberzeugung ist, daß nicht nur etwas, sondern etwas ganz Entscheidendes, für Theologie und Kirche gleich Grundlegendes in der „dialektischen" Theologie richtig ist. Erst wenn das festgestellt und herausgearbeitet ist, wird eine Kritik möglich und sinnvoll. 1. Gott als der Herr Vielleicht ist eine historische Erinnerung an die Entstehung der „dialektischen" Theologie an dieser Stelle nicht nutzlos. Karl Barth, ihr theologischer Begründer und Führer, an den wir uns in Darstellung und Kritik im wesentlichen halten, kommt aus der Schweizer religiössozialistischen Bewegung. Die wichtigsten Vertreter dieser Bewegung, Ragaz und Kutter, und ihre württembergischen Vorläufer, Blumhardt, der Ältere und Jüngere, haben einen entscheidenden Gedanken herausgearbeitet, der trotz aller Wandlungen, die er durchgemacht hat, auch für Barth maßgebend geblieben ist: der Gedanke, daß Gott nicht nur der Welt, sondern auch der Kirche und der Frömmigkeit gegenüber souverän ist, daß er infolgedessen die Macht hat, durch eine profane, ja atheistische Bewegung, wie es die sozialdemokratische Bewegung war, mehr von seinem Willen kundzutun, als durch das meiste kirchliche Handeln und die meiste kirchliche Frömmigkeit der gleichen Periode. Soweit Kirche und Frömmigkeit Welt sind - und sie sind immer 247

auch Welt - , haben sie keinerlei Vorrang vor den übrigen Formen weltlichen Daseins. Im Gegenteil: Sie sind fragwürdiger und gefährdeter als diese, weil sie eigentlich etwas anderes sein sollten als ein Stück weltlichen Daseins. Gottes Wille geht, so lehren beide Blumhardt und die religiösen Sozialisten, nicht zuerst auf subjektive Frömmigkeit und Rettung einzelner Seelen, sondern auf Verwandlung der Welt, Uberwindung der dämonischen Kräfte in ihr, Kommen des Reiches Gottes. Und zu diesem Zwecke kann sich Gott auch solcher Werkzeuge bedienen, die scheinbar am wenigsten seine Werkzeuge sind, der Feinde von Kirche und Christentum, z. B. der revolutionären Arbeiterbewegung. Um die Bedeutung dieses Gedankens zu verstehen, muß man bedenken, daß einerseits die sozialistische Arbeiterbewegung für die kirchliche Theorie und Praxis als eine Stätte der Gottlosigkeit, der Verhetzung und des Materialismus galt, daß es infolgedessen für einen Pfarrer unmöglich war, sich ihr anzuschließen; daß andererseits die Führer der sozialistischen Arbeiterbewegung (und große Massen in ihr) Kirche und Theologie und vielfach auch Religion als ihren gefährlichsten Gegner bekämpften. Auf diesem Hintergrund gewann die religiös-sozialistische Bewegung trotz ihres politischen Scheiterns starke theologische Bedeutung. Sie schuf ein Bewußtsein um die Grenzen von Kirchlichkeit und Frömmigkeit; sie durchbrach den kirchlichen Pharisäismus gegenüber den unkirchlichen Massen. Aber auch der religiöse Sozialismus barg eine Gefahr in sich: wie vorher mit der Kirche und ihrer weltlichen Wirklichkeit, so konnte jetzt Gottes Wille mit politischer und sozialer Gestaltung gleichgesetzt werden. Das Reich Gottes konnte als irdische, soziale Wirklichkeit verstanden werden, der Kampf für das Reich Gottes als politischer Kampf für soziale Gerechtigkeit. Damit aber war die Souveränität Gottes, die der Kirche gegenüber verteidigt war, einer politischen Bewegung gegenüber preisgegeben. Der Schweizer religiöse Sozialismus war dieser Gefahr nicht entgangen. Darum trennte sich Barth von ihm und behielt allein den Gedanken der unbedingten Souveränität Gottes gegenüber Kirche und Welt. Diesen Gedanken ergriff er mit der ganzen K r a f t seines theologischen Denkens und Wollens. Im Grunde ist der Inhalt seiner ganzen Theologie das erste Gebot: Ich bin der Herr, Dein Gott, Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Jeder einzelne Satz seiner Schriften kann als die Anwendung dieses Gedankens auf eine besondere Seite der Beziehung zwischen Gott und Welt verstanden werden. Jede Lehre, in der Gott in den Bereich der menschlichen Möglichkeit hereingezogen 248

wird, ist Auflehnung gegen das erste Gebot; das ist das Thema seines Römerbriefkommentars, dieses seines radikalsten, stoßkräftigsten, am meisten mit prophetischem Geist erfüllten Buches. Gott ist „unmögliche Möglichkeit", d. h., er ist jenseits der menschlichen Möglichkeiten. Jede Aussage über ihn ist menschlich gesehen ein Paradox, eine Aussage über das, was nicht ausgesagt werden kann. Worte wie dieses von der „unmöglichen Möglichkeit" haben fälschlicherweise zu dem Namen „dialektische Theologie" Anlaß gegeben. Aber solche Worte sind nicht dialektisch, sondern paradox. Sie ergeben keine Gedankenbewegung, in der J a und Nein sich ineinanderflechten, sondern erlauben nur eine ständige Wiederholung der in ihnen ausgedrückten Paradoxie in anderen Worten. In welchen, ist abhängig von dem besonderen Gebiet, auf das die Grundparadoxie angewandt werden soll. Das Verhältnis von Gott und Mensch wird in dem Satz gefaßt: „Gott ist im Himmel und du bist auf der Erde." Ein Hohlraum ist zwisdien Gott und Mensch, durch den der Mensch von sich aus nicht durchstoßen kann. Könnte er es von sich aus, so hätte er Macht über sein Verhältnis zu Gott, und damit über Gott selbst. Keine Kreatur aber hat solche Macht. Die Behauptung, sie hätte es, ist Götzendienst. Der Anspruch, von sich aus zu Gott kommen zu können, kann auf verschiedene Weise von Theologie und Kirche erhoben werden. D a ß außerhalb des Christentums in Judaismus, Humanismus und Heidentum dieser Anspruch erhoben wird, ist christlich gesehen selbstverständlich. Daß aber die christliche Theologie und die christliche Praxis solche Tendenzen in sich aufnimmt und damit das erste Gebot übertritt, ist das theologische und kirchliche Ärgernis, das den Zorn Barths hervorruft und ihn bis zur Leidenschaft steigert. Es sind zwei Grundgedanken, die solches Ärgernis geben: einerseits die Ineinssetzung von göttlichem und menschlichem Geist, andererseits die Ineinssetzung von göttlichem und menschlichem Reich. Das erste ist der Götzendienst aller mystischen und humanistischen Theologie; das letztere ist der Götzendienst des Katholizismus einerseits, des sozialen und politischen Protestantismus andererseits. 2. Gegen Mystik und

Religionsphilosophie

Von dieser Voraussetzung aus ist die Schärfe zu verstehen, mit der Barth und mit ihm die ganze ihm folgende Theologie die Mystik angreift. Mystik setzt die Identität des menschlichen und göttlichen Geistes voraus. Selbstverständlich ist diese Identität weder in der sinnlichen noch in der rationalen Schicht des menschlichen Geistes zu suchen.

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Das Göttliche im menschlichen Geist, auf dem seine Identität mit dem Göttlichen überhaupt beruht, liegt in einer tieferen Schicht; dem „Fünklein", dem „Abgrund", der „Ekstase", in der der Unterschied von Subjekt und Objekt, von Sinnlichkeit und Verstand, von Bedingtem und Unbedingtem aufgehoben ist. Alle Mystik sudit Gott in der Tiefe menschlichen Geistes. Sie sucht die tiefste Schicht des Menschen, um Gott zu haben; da, wo das Wort aufhört, fängt das Göttliche im Menschen an. Christlich aber ist es, Gott im Wort, allein im Wort zu sudien. Das Wort steht uns gegenüber. Es ist von einem anderen zu uns gesprochen. Es ist außer uns und fordert Glaube und Gehorsam, nicht Versenkung und Ekstase. Das mystische Prinzip erscheint in der Theologie überall da, wo eine natürliche Theologie gelehrt wird, wo also behauptet wird, daß der Mensch von Natur Gott erkennen könne. Die radikale Ablehnung der natürlichen Theologie hat Barth sogar in Gegensatz zu seinem Anhänger Brunner gebracht. Für Barth gibt es hier nur ein EntwederOder: Ist der Mensch von Natur imstande, Gott irgendwie als Gott zu erkennen, so ist im Akt des Glaubens menschliche Aktivität mitenthalten; ist aber der Glaubensakt reine Wirkung Gottes, so kann im Mensdien keine vorgängige Möglichkeit, Gott zu erkennen, gegeben sein. Alle natürliche Theologie bedeutet darum zum mindesten eine Tendenz zur Vergottung des Menschen. Besonders die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen birgt diese Gefahr in sich. Für Barth ist das Ebenbild Gottes im Menschen etwas Gesolltes, ein Ziel der Erlösung und Vollendung, aber keine Gegebenheit, keine natürliche Ausrüstung, mit deren Hilfe er etwas von Gott wissen könnte. Von Gott wissen können wir nur durch Gott selbst, d. h. durch seinen Geist, der in uns, aber nicht von uns ist. Er allein schafft Gottesebenbildlidikeit des Menschen. Es ist offenbar, daß von da aus alle Religionsphilosophie unter ein vernichtendes Urteil fällt. Religionsphilosophie, sofern sie mehr sein will als Beschreibung psychologischer und ethnologischer Phänomene (sofern sie sich also von Religionspsychologie und Religionsgeschichte unterscheidet), versucht, über die Wahrheit der Religion, losgelöst vom Glauben, etwas auszusagen. Sie spricht über Gott, ohne daß der Heilige Geist in ihr spricht, wie im echten Glaubenszeugnis. Sie sucht Gotteserkenntnis und Gottesdienst in allen Menschen und Völkern, sie macht die Verbindung mit Gott zu einem Faktum der Religionsgeschichte, anstatt zu einer unmöglichen Möglichkeit, d. h. einem einmaligen Akt der Offenbarung und des Glaubens an sie. Mit der Religionsphilosophie fällt jede Art von Natur- und Kultur250

theologie, d. h. jeder Versuch, aus der N a t u r einerseits, aus Philosophie, Wissenschaft, K u n s t und Geschichte andererseits unmittelbar Gotteserkenntnis zu gewinnen oder K u l t u r u n d Geschichte als Ausdruck bestimmter Gotteserkenntnis zu interpretieren. K u l t u r und Geschichte sind die Sphären, in denen der Mensch bei sich selbst ist; sie drücken H u m a n e s aus und stehen unter humanen, nicht unter theologischen Kriterien. Auch die N a t u r k a n n nur human interpretiert werden, nicht theologisch. Menschliche u n d göttliche Möglichkeit sind radikal getrennt; denn der Mensch ist Sünder, und die Möglichkeit sündloser Natürlichkeit ist eine Abstraktion, völlig unwirklich. 3. Gegen die „liberale"

Theologie

D a r u m ist die „liberale" Theologie Ketzerei. Sie setzt an die Stelle des Sünders die sich entwickelnde Persönlichkeit, an Stelle des Christus den sich entwickelnden religiösen Menschen Jesus, an Stelle des Wortes Gottes in der Schrift das sich entwickelnde religiöse Bewußtsein der Menschheit. An diesen drei P u n k t e n setzt Barth seinen Stoß gegen die liberale Theologie an. Die Kreatürlichkeit des Menschen ist f ü r ihn wesentlich ein Ausdruck seiner Getrenntheit von Gott, des reinen Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf. Nicht die W ü r d e , sondern die Nichtigkeit der K r e a t u r ist in der Lehre von der Schöpfung ausgedrückt. U n d B a r t h gibt auch nicht zu, d a ß aus der Lehre von der Schöpfung göttliche O r d n u n g e n , eine gottgewollte Gestalt der N a t u r , des Menschen u n d der Gesellschaft abgeleitet werden können. D e n n w e n n auch so etwas in der ursprünglichen Schöpfung sichtbar w a r , es ist durch die Sünde, die N a t u r u n d Menschen existentiell gewandelt hat, unsichtbar geworden. W i r können aus den Naturgesetzen v o r menschlichen u n d menschlichen Seins keine N o r m f ü r natürliche u n d menschliche Vollendung ableiten. Die Sünde hat es unmöglich gemacht. D a r u m stehen alle menschlichen Unterschiede v o m Vollkommensten bis z u m Unvollkommensten unter dem gleichen Urteil - nichts zu bedeuten vor G o t t . Das Vollkommene ist ein eschatologischer Begriff, eine transzendente, unmögliche Möglichkeit. Mit der gleichen Schärfe wird das liberale Christusbild angegriffen. Das bedeutet nicht, d a ß B a r t h die historische Arbeit der kritischen Theologie verneint. Das ist so wenig der Fall, d a ß der radikalste K r i tiker der historischen T r a d i t i o n des N e u e n Testaments gleichzeitig einer der wirksamsten Vertreter der Barthschen Theologie sein k o n n t e : Bultmann in M a r b u r g . Es ist so wenig der Fall, d a ß Barth ganz unverhohlen seine Gleichgültigkeit gegen die Frage nach der Existenz 251

oder Nichtexistenz des „historischen" Jesus ausdrücken konnte. Barth verneint die historische Forschung der kritischen Theologie nicht, aber er bagatellisiert sie. Seine Christologie ist unabhängig von ihr. Und seine Christologie bleibt ausdrücklich stehen bei den paradoxen Formeln des Konzils von Chalzedon über die „Ungetrenntheit und Unvermischtheit der göttlichen und menschlichen Natur in Christus". Christus ist für ihn nur so in der Geschichte, daß er über der Geschichte ist, daß er nichts mit der Entwicklung der menschlichen Geschichte und dem menschlichen Geistesleben zu tun hat, sondern Gottes Einbruch in die Geschidite ist. Historisch und psychologisch gesehen ist und bleibt Christus unmögliche Möglichkeit. Von da aus ist auch der dritte Angriffspunkt gegen die kritische Theologie zu verstehen. Gott spricht zu uns nicht durch unseren Geist und seine Schöpfungen in Kultur und Geschichte, sondern er spricht zu unserem Geist und das heißt, da unser Geist unter dem Gesetz der Sünde steht, gegen unseren Geist. Die Form, in der er das tut, ist das Wort der Bibel, nur dieses und dieses ganz. Auch hier ist zunächst festzustellen, daß Barth nicht die Absicht hat, die Bibelkritik zu bekämpfen, und das Dogma von der Verbalinspiration zu erneuern. Ob und wodurch das Bibelwort für einen Menschen „Wort Gottes" wird, hängt von der Wirkung des Heiligen Geistes ab. Nicht der Buchstabe der Schrift, auch nicht der religiöse Geist der Menschen, die sie geschrieben haben, nicht die historischen Berichte als solche, nicht ein Weltbild oder eine Moral, die in der Bibel zu finden wären, machen sie zum Wort Gottes, sondern allein die Tatsache, daß sie das Zeugnis von der in Christus geschehenen Offenbarung ist. Aber dieses Zeugnis kann niemand verstehen, außer wenn Gott sich ihm zu verstehen gibt, außer im Heiligen Geist. Es gibt keine Verfügungsgewalt über das Wort Gottes. Weder durch den Buchstaben der Schrift, noch durch die sonntägliche Predigt, noch durch theologische Arbeit; es kann Ereignis werden, aber wann und wo es Ereignis wird, hängt nicht von uns ab. Es ist an die Bibel gebunden, aber wir haben es nicht, wenn wir die Bibel haben. Es ist wie alles, was wir von Gott sagen und erfahren können: unmögliche Möglichkeit. 4.

Folgerungen

Die gleiche Paradoxie gilt nun für das Verhältnis vom Reich Gottes und menschlichem Handeln. Das Reich Gottes ist eine rein transzendente Größe, die nicht von den Menschen gebaut wird, sondern die zu den Menschen kommt; es ist eine rein eschatologische Größe, völlig 252

getrennt von menschlicher Kultur und Geschichte. Kultur ist menschliche Möglichkeit. In der Geschichte ist der Mensch bei sich selbst. Daher können uns Kultur oder Geschichte weder Maßstäbe für die christliche Lehre noch Normen für das christliche Handeln geben. Noch kann irgendein Vorgang in Kultur und Geschichte den Anspruch erheben, ganze oder teilweise Verwirklichung des Reiches Gottes zu sein. Das Reich Gottes ist niemals da in der Geschichte, weder in einer utopischen Vollendung, noch in den wirklichen oder vermeintlichen Fortschritten der Geschichte. Auch die Kirche ist nicht das Reich Gottes. Sie hat den Auftrag, von Gott und seinem Reich zu zeugen, aber sie ist nicht mit ihm eins; sie ist geschichtliche Wirklichkeit und als solche hat sie keinen Vorrang vor einer anderen geschichtlichen Wirklichkeit; sie ist wie diese menschliches Tun, in Irrtum und Wandel begriffen, und nicht vor der Möglichkeit geschützt, ihren Auftrag unerfüllt zu lassen. Dennoch hat sie diesen Auftrag; das ist ihre Wahrheit. So wenig aber der Besitz der Bibel eine Verfügung über das Wort Gottes bedeutet, so wenig bedeutet das Stehen in der Kirche eine Verfügung über das Zeugnis von Gott. Es kann sich in ihr ereignen, aber es kann auch ausbleiben; wenn es sich aber ereignet, so ist es nicht Verwirklichung, sondern Verkündigung des Reiches Gottes. Und das gilt von aller kirchlichen Tätigkeit. Auch ihr Erziehungsund Liebeswerk ist Verkündigung des Reiches, nicht seine Gegenwart. Darum gibt es zwar Gehorsam gegen die Gebote Gottes, aber es gibt keine christliche Ethik als Vorwegnahme der Gerechtigkeit des Reiches Gottes. Paulus' Hymnus auf die Liebe ist ein eschatologischer Hymnus, kein Material für ein System christlicher Ethik. Denn Liebe ist wie Wort Gottes und Himmelreich keine menschliche Möglichkeit. Es ist genau wie diese unmögliche Möglichkeit, Gegenstand des Glaubens und nicht des Schauens. Aus alledem folgt endlich, daß die Theologie nichts sein kann als kritische Selbstbesinnung auf den Inhalt der christlichen Verkündigung, wobei das Schriftwort die letzte kritische Norm ist. Jede Einmischung philosophischer Gedanken in die Aufgabe wird abgelehnt. Jede Art natürlicher Theologie als vorhergehende Besinnung auf Gott, Welt oder Mensch wird bekämpft. Philosophie gehört wie Religion zur menschlichen Kultur, zu menschlichen Möglichkeiten. Theologie beruht auf Offenbarung, auf dem menschlich Unmöglichen. Und von dem einen zum anderen gibt es keinen Übergang. So wird vom ersten bis zum letzten Wort der Barthschen Theologie das im ersten Gebot ausgesprochene Majestätsrecht Gottes gewahrt. Es wird ferngehalten von der Vermischung mit jeder Form menschlichen 253

Seins und Tuns. Es scheint mir nicht zweifelhaft zu sein, daß dies die Wahrheit nicht nur der Barthschen, sondern jeder Theologie ist, die den Namen verdient. Eine Kritik an diesem Punkt wäre nidit eine Kritik an Barth, sondern an Bibel, Kirche und Theologie überhaupt.

II. Wenn Kritik an Barth nötig ist, so kann es nur eine Kritik sein, die Barth mit seinem eigenen Maßstab mißt, die also die Frage stellt: Ist die theologisdie Sicherung, die Barth dem christlichen Paradoxon zuteil werden läßt, zulänglich? Oder, was auch möglich wäre, wird durch seinen Versuch der Sicherung das Paradox nidit geradezu abgeschwächt, das Majestätsrecht Gottes eingeschränkt? Das ist, glaube ich, der Fall. Und zwar weil Barth das Paradox supranaturalistisch und nicht dialektisch zu sichern sucht. Auch hier mödite ich mit einer historischen Erinnerung beginnen: Als der Römerbrief-Kommentar erschienen war, schloß sich ein großer Kreis gleichaltriger Theologen der Richtung an, für die Barth die Bahn gebrochen hatte, einige in offener, einige, wie ich, in „unterirdischer" Arbeitsgemeinschaft. Im Laufe eines Jahrzehnts hat sich das völlig geändert. Als die supranaturalistische Wendung des Barthschen Denkens deutlich sichtbar wurde, mußte die „unterirdische" Arbeitsgemeinschaft von mir aufgegeben werden. Es folgte Bultmann, der in viel offenerer Arbeitsgemeinschaft mit Barth gestanden hatte und dessen Verbindung mit der Existentialphilosophie die Trennung von Barth bewirkte. Es folgte Gogarten, dessen politische Wendung und dessen theologische Begründung dieser Wendung die Kluft zwischen ihm und Barth offenbar machte. Endlich, 1934, kam es zu der äußerst scharfen Auseinandersetzung zwischen Brunner und Barth über die Möglichkeit einer natürlichen Theologie. Es ist selbstverständlich, daß diese Vorgänge an sich nichts gegen die Wahrheit des Barthschen Denkens beweisen. Aber sie legen immerhin die Frage nahe: Was in der Barthsdien Durchführung seines Grundgedankens hat diese Freunde und Mitarbeiter gezwungen, andere Wege zu suchen, was ist nach ihrer Meinung falsch in Barths Theologie? Nach ihrer Meinung, nidit nadi Meinung derer, die nie von der Gewalt des Barthsdien Denkens ergriffen worden waren, die nie die große Wahrheit seiner Grundparadoxie verstanden haben. Aus der ehemaligen „unterirdischen" Arbeitsgemeinschaft heraus, nicht aus ursprünglicher Gegnerschaft ist darum die folgende Kritik gemeint.

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1. Supranaturales

und dialektisches

Denken

Das Paradox, die unmögliche Möglichkeit, ist Unmöglichkeit vom Menschen her, aber sie ist Möglichkeit von Gott her. U n d sie ist nicht nur Möglichkeit, sondern auch Wirklichkeit; denn nur weil sie Wirklichkeit geworden ist, können wir von ihr als Möglichkeit reden. Theologie ist die methodische Form der Rede von dem menschlich Unmöglichen, göttlich Möglichen, das Wirklichkeit, Ereignis geworden ist. Es gibt nun zwei Arten von diesem Ereignis, dieser Verwirklichung zu reden, die supranaturale und die dialektische. Die supranaturale sucht die Göttlichkeit des Ereignisses dadurch vor Vermischung mit menschlichen Möglichkeiten zu schützen, daß sie es isoliert an bestimmte zeitliche und räumliche Vorgänge, Personen, Worte, Schriften, Gemeinschaften, Handlungen bindet: also an Ereignisse des Jahres 1-30, an die Geschichte Jesu und der Apostel, an ihre Sprache, an die Schriften der Bibel, an Kirche, Predigt und Sakramente. Barth meint niemals, daß diese Vorgänge als solche, als menschlich geschichtliche Vorgänge das göttliche Ereignis sind. Er widerspricht auch der gedanklichen Möglichkeit nicht, daß es Gott gefallen haben könnte, andere Vorgänge zur Verwirklichung seines Tuns zu benutzen; aber er behauptet, daß Gott nun einmal diese und keine anderen gewählt und die Offenbarung an diese gebunden habe. Er betont in echt nominalistischer Weise die Kontingenz des göttlichen Handelns. Anders das echt dialektische Denken: es bestreitet, genau wie das supranaturale, daß das, was allein göttliche Möglichkeit ist, als menschliche Möglichkeit gedeutet werden könne. Aber es behauptet, daß die Frage nach dem Göttlich-Möglichen menschliche Möglichkeit ist; und es behauptet weiter, daß eine Frage nach der göttlichen Möglichkeit nicht gestellt werden könnte, wenn nicht eine, wenn auch vorläufige und kaum verstandene göttliche Antwort schon immer gegeben wäre. Denn um nach Gott fragen zu können, muß der Mensch Gott schon als Ziel einer möglichen Frage erfahren haben. Die menschliche Möglichkeit des Fragens ist also schon nicht mehr nur Möglichkeit. Denn sie enthält schon Antworten. U n d ohne solche vorläufige, halbverstandene Antworten und darauf sich gründende vorläufige Fragen könnte auch die endgültige Antwort nicht vernommen werden. Ein Ereignis, das nur Fremdkörper in der Geschichte wäre, würde weder von der Geschichte aufgenommen werden, noch würde es in ihr fortwirken können. Es gibt kein Recht, die Geschichte einfach gottverlassen zu nennen, so wenig es ein Recht gibt, sie einfach Gottes Offenbarung zu nennen. Wohl aber ist von der Offenbarung her notwendig zu sagen, daß die 255

Geschichte immer auf Offenbarung hin ausgerichtet ist, weil sie immer schon göttliche Antworten und menschliches Fragen in sich hat. Darum kann es eine „Fülle der Zeit" geben, einen Augenblick in der Geschichte, in dem sie durch das Vorläufige fähig geworden ist, das Endgültige aufzunehmen, einen Augenblick, in dem die Geschichte reif geworden ist für das Ereignis, das nicht aus ihr stammt, aber auch nicht als Fremdkörper in sie hineingeworfen wird, sondern in ihr aufbricht und von ihr aufgenommen werden kann. D a ß es als Eigenes aus ihr stammt, sagt die sogenannte liberale Theologie; daß es als Fremdes in sie hineingeworfen wird, sagt der Supranaturalismus; daß es als Erfüllendes in ihr aufbricht und von ihr aufgenommen werden kann, sagt das echt dialektische Denken. Barth hat in seinem radikalen Kampf gegen die „liberale" Auffassung sich selbst für die supranaturale, nicht für die dialektische entschieden - das ist seine Grenze.

2. Gegensätze

und

Übergänge

Aus dieser grundlegenden Kritik, die vom Standpunkt der dialektischen an der supranaturalen Deutung des christlichen Paradoxons geübt werden muß, folgt das Urteil über Barths Theologie im einzelnen. Wohl ist Gott im Himmel und der Mensch auf der Erde, aber damit der Mensch diesen Satz sagen kann, müssen Himmel und Erde sich wieder und wieder berührt haben, nicht nur einmal, sondern in einer Geschichte, in der von Göttern, die auf der Erde, und von Menschen, die im Himmel sein sollen, geredet und daran gezweifelt worden ist. Nur als Aufhebung eines vorhergehenden irrenden Wissens um Gott und Mensch kann jener Satz ausgesprochen und aufgenommen werden. I r rendes Wissen ist nicht Nichtwissen, und vor allem dann nicht, wenn es anfängt, an sich zu zweifeln und nach wahrem Wissen zu fragen. D a Barth die Dialektik des irrenden Wissens um Gott nicht kennt, sondern es gleich Nichtwissen setzt, wird für ihn die ganze Religionsgeschichte zu einem Hexensabbat von gespenstischen Phantasien, Götzendienst und Aberglauben. So angebracht auch eine Warnung vor leichtfertiger literarischer Religionsmengerei war, so gefährlich, j a verhängnisvoll der religionsgeschichtliche Relativismus auch ist, so unmöglich es ist, Religionsgeschichte und Offenbarungsgeschichte gleichzusetzen, so sicher scheint mir doch zu sein, daß die Lehre der Väter von dem Logos, der allenthalben seinen Samen gestreut hat, der Antworten gegeben hat, Fragen hat hervorbrechen lassen, nicht nur dialektisch wahrer ist, sondern jeder unbefangenen Begegnung mit außerchristlicher Frömmigkeit unendlich viel mehr entspricht als Barths Entgöttlichung

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der Religionsgeschichte. Liberal ist es, Religionsgeschichte und Offenbarung zu verwechseln, supranatural ist es, sie voneinander auszuschließen, dialektisch ist es, in der Religionsgeschichte Antworten, Irrtümer und Fragen zu finden, die auf die endgültige Antwort hinführen und ohne die die endgültige Antwort ein Ungefragtes, Unverstandenes und Fremdes bleiben müßte. Wohl ist Barth im Recht, wenn er Natur, Kultur und Geschichte mit humanem Maßstab mißt. In allen dreien ist der Mensch bei sich, auch wenn er in der Natur ist. Denn die Natur kann sich dem Menschen nur in ihrer ihm zugewandten Seite geben, nicht in der anderen, ihm ewig fremden. Die Frage aber ist, was ist dieses Humane? Ist es auch nur denkbar ohne das Göttliche, ohne Antworten empfangen zu haben von ihm und Fragen gestellt zu haben nach ihm? Eines ist sicher: Schöpfungen der Kultur, in denen nichts von diesen Fragen und Antworten zu spüren ist, nennen wir flach. Das Maß ihrer Tiefe und Gewalt ist das Maß ihrer Gefülltheit mit solchen Fragen. Jede unbefangene Begegnung mit originalen Schöpfungen der Kultur zwingt zu der Anerkennung, daß es sich in ihnen weder nur um gottferne Sachlichkeit noch nur um menschliche Selbstverherrlichung handelt, sondern um irrendes und fragendes Wissen um Gott. Ob es sinnvoll ist, für dieses Wissen von Gott den Namen natürliche Gotteserkenntnis zu gebrauchen, ist mir zweifelhaft. „Natürliche Theologie", wie sie hier vertreten wird, hat mit natürlich-menschlichem Wesen im allgemeinen und formalen Sinn sehr wenig zu tun. Vielleicht stammt der Begriff „natürliche Theologie" schon selbst aus fehlerhaftem Supranaturalismus. Freilich ist Kultur nicht Offenbarung, wie eine naive Kulturtheologie meint. Sie ist menschliche Möglichkeit, Offenbarung aber ist unmögliche, d. h. göttliche Möglichkeit. Dennoch würde Offenbarung auch nicht einmal göttliche Möglichkeit sein - Offenbarung ist ja Offenbarung an den Menschen - , wenn sie nicht durch die Formen der Kultur, durch das Humane aufgenommen werden könnte. Sie würde ein zerstörender Fremdkörper in der Kultur sein, ein zerreißendes „Inhumanum" im Humanen, und hätte nicht die Kraft haben können, menschliche Geschichte zu schaffen und zu wandeln. Sie würde nicht zu dem Menschen sprechen, der ja immer ein geschichtliches, kulturgefülltes Wesen ist, sondern zu einer gespenstischen Leerform des Menschen, der sie von sich aus Inhalt geben müßte.

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3. Gegen Barths Urteil über Religionsphilosophie und „liberale" Theologie Daraus folgt unmittelbar die Beurteilung von Barths Verwerfung der Religionsphilosophie und der sogenannten „natürlichen Theologie". Barth hat recht mit seiner Bestreitung einer natürlichen Identität von Gott und Mensch, mit der Ablehnung aller Versuche, einen Punkt im Menschen aufzuzeigen, wo er Gott finden und greifen könnte. Er hat recht mit dem Kampf gegen jede Mystik, die in der eigenen Tiefe menschlichen Wesens sich mit Gott einen möchte. Ohne das augustinische: Transcende te ipsum1 gibt es keinen Zugang zu Gott. Aber diese Anweisung schließt ja die Aufforderung in sich, durch sich über sich hinauszugehen. Daher in tiefer Dialektik bei Augustin der andere Satz steht: In interiori anima habitat veritas2. Wir können Gott in uns nur finden, wenn wir über uns hinausgehen. Dieses Transzendieren bedeutet freilich nicht, daß wir das Transzendente haben. Es ist die Frage nach ihm. Aber andererseits ist diese Frage nur möglich, weil das Transzendente uns immer schon über uns hinausgerissen hat, weil wir Antworten empfangen haben, die uns zu der Frage treiben. Die Entfaltung dieser Dialektik ist das berechtigte Anliegen der Religionsphilosophie und der mit Unrecht so genannten „natürlichen Theologie". Sie dürfen nur nicht meinen, die Offenbarungstheologie ersetzen zu können. Theologie ist nicht Anthropologie, und wenn sie so betrieben wird, als wäre sie es, so gibt sie sich selbst in die Hände Feuerbachs und seiner psychologischen und soziologischen Nachfolger. Aber Theologie ist die Lösung der anthropologischen Frage, der Frage nach der Endlichkeit des Menschen, die selbst wieder nur möglich ist, weil der Mensch je schon Antworten auf sie erhalten hat und darum um seine Endlichkeit wissen kann. Aber Endlichkeit ist nicht Sünde, wird Barth antworten. Mit Recht, sofern Sünde nicht durch Endlichkeit definiert werden kann. Aber zur Endlichkeit gehören Schuld und Verzweiflung, und Schuld und Verzweiflung werden als Sünde verstanden in der Offenbarung dessen, ^egen den sie Schuld und um dessentwillen sie Verzweiflung sind. Sünde könnte nie als Sünde erfahren werden ohne die menschlichen Möglichkeiten der Schuld und Verzweiflung. Sie wäre ein leeres Wort, eine unverständliche Mitteilung, nicht Offenbarung über das menschliche Sein vor Gott. Darum ist es nicht richtig, zu sagen, daß die Sünde jedes Wissen von Gott unmöglich macht. Im Gegenteil: in der Erfahrung von 1 2

Gehe über didi selbst hinaus. Im Innern der Seele wohnt Wahrheit.

258

Schuld und Verzweiflung ist die Frage des irrenden Wissens um Gott so radikal gestellt, wie es außerhalb der Offenbarung überhaupt möglich ist. Und nur weil es so ist, ist die Antwort: „Sünde und Gnade" überhaupt eine Antwort und keine sinnlose Formel. Barths Kritik der „liberalen" Theologie bleibt auch für das dialektische Denken in Kraft, sofern nämlich die „liberale" Theologie die Entwicklung des Humanen an die Stelle der Offenbarung setzt. An Barths eigenen Formulierungen aber ist bedenklich oder falsch, daß er das Humane in den Lehren von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, von Christus, vom Worte Gottes und von der Bibel, von jeder Beziehung zum Göttlichen fernhält. Dadurch werden alle diese Begriffe unverständlich. Sicherlich besteht die Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht in einer von der Offenbarung unabhängigen Persönlichkeitsentfaltung. Aber sie kann auch nicht nur als Werk des Heiligen Geistes verstanden werden. Der Heilige Geist gibt Zeugnis unserem Geist ein Zeugnis, das wir verstehen können, das sich also nicht jenseits unseres Geisteslebens vollzieht, sondern eine Antwort gibt auf die Frage nach dem Verhältnis zu Gott, die Antwort, daß wir Gottes Kinder sind — nidit durch Humanität, sondern durch Gnade; aber durch Humanität dazu gefordert, es zu sein, und fähig, danach zu fragen und die Antwort zu vernehmen. Ohne diese vorhergehende Gottesebenbildlichkeit des Menschen gäbe es keine nachfolgende, die ihn etwas anginge, von der er etwas verstehen, die der Heilige Geist seinem Geist bezeugen könnte. Überhaupt bleibt bei Barth ungeklärt, wieso die Offenbarung den Menschen etwas angeht, wenn nicht in ihm ist, was nach ihr fragen läßt, was zu ihr hintreibt, was sie verständlich macht. Es ist in Ordnung, daß Barth die Christologie und die Lehre vom Worte Gottes von den Ergebnissen der historischen Kritik unabhängig macht. Das Offenbarungsgeschehen in Christus und seine ursprüngliche Auslegung durch die Bibel kann durch historische Kritik weder in Frage gestellt noch bestätigt werden. Aber der Inhalt dessen, was im Neuen Testament Offenbarungsgeschehen genannt, und die Art, wie es gedeutet wird, ist verständlich nur durch eine Kenntnis der Fragen, die in den Antworten des Neuen Testaments liegen. Die von den Verfassern der biblischen Schriften gebrauchten Begriffe sind durch die religiöse Tradition geschaffen, in der sie stehen, und es muß zunächst einmal deutlich sein, was sie in ihr bedeuten. Daß sie zugleich diese Tradition wie auch die individuelle Verarbeitung der Tradition durch die einzelnen Verfasser in dem Augenblick transzendieren, wo sie auf das christliche Paradoxon angewandt werden, macht ihren Offenbarungscharakter aus. Aber sie würden nichts offenbaren, sondern nur fremdartige Wort259

Zusammenstellungen sein, wenn sie nicht diesen ihren traditionellen Gebrauch gleichsam in den Dienst der Offenbarung mit hineinnehmen würden. Darin liegt die ungeheure theologische Bedeutung der historisch-kritischen und religionsgeschichtlichen Interpretation der Bibel. Und darin liegt zugleich die Unmöglichkeit, das Wort der Bibel zu isolieren gegenüber der Geistesgeschichte. Geschieht das, so ist die edit supranaturalistische Idee der Verbal-Inspiration nicht mehr fern. Und tatsächlich bewegen sich die jüngeren Anhänger Barths unverkennbar in dieser Richtung. Der supranaturalistische Ansatz enthüllt seine Konsequenzen. Er tat es schon lange in der Predigt vieler Pfarrer dieser Richtung, die das biblische Wort in Barthscher Interpretation wiederholten, ohne sich zu bemühen, die Fragen im Hörer lebendig zu machen, auf die das biblische Wort Antwort ist. Barth hatte recht, dagegen zu protestieren, daß die Predigt Entfaltung religiöser Erfahrung, persönlicher Frömmigkeit, kultureller und sozialer Überzeugungen geworden war. Sie hat von Gott und nicht vom Menschen zu zeugen; aber sie hat für den Menschen zu zeugen, und sie darf die Bemühung, die menschlichen Vermittlungen lebendig zu machen, nicht ersetzen durch Warten auf das Wunder, daß ihr Wort für den Hörer Gottes Wort wird. 4.

Ergebnisse

Daraus ergibt sich nun auch eine Kritik der Barthschen Lehre von dem Verhältnis des Reiches Gottes zum menschlichen Handeln. Es war eine kirchengeschichtliche Tat, daß Barth der naiven Ineinssetzung vom Reiche Gottes mit kirchlichem Handeln oder sozialer Gestaltung oder politischem Neubau oder menschlichem Fortschritt ein Ende machte. Dadurch und nur dadurch war er imstande, den deutschen Protestantismus vor Auflösung in eine politisch weltanschauliche Bewegung mit starken außerchristlichen Elementen zu retten. Ohne den Radikalismus und die Einseitigkeit der Barthschen Sphärentrennung wäre das kaum möglich gewesen. Aber was für den Kampf eine machtvolle Waffe ist, kann für den Aufbau ein ungeeignetes Werkzeug sein. Supranaturales Denken versteht unter dem eschatologischen Charakter des Reiches Gottes seine vollkommene Ungegenwärtigkeit. Dialektisches Denken sucht das Wesen des Eschatologischen aus den Worten Jesu zu entnehmen: „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen." Nahe, das heißt, es ist da, und es ist nicht da, es ist „mitten unter Euch", aber es kann nicht gesehen und betastet werden. Es ist qualitativ verschieden von allem, was da ist. Aber mit dieser seiner qualitativen Verschiedenheit bricht es ein in das, was da ist. Darum können wir nie 260

sagen: Hier oder da ist es, in diesem kirchlichen und sozialen Tun, in diesem Fortschritt der Menschheit, in dieser Tat der Liebe, in diesem Gedanken der Wahrheit. Wenn wir es greifen wollen, finden wir, daß in all dem immer auch Herrschaft der Dämonen, nie nur Herrschaft Gottes sich auswirkt. Aber wir können auch nicht sagen: „In all dem ist nicht Reich Gottes", als ob nur Herrschaft der Dämonen und nicht auch Herrschaft Gottes sich darin auswirkte. Wir können sagen: In dem und jenem Tun der Kirche oder der Gesellschaft ist Hinweis auf das, was mit „Reich Gottes" gemeint ist, nämlich „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist". Hinweis auf das Reich Gottes aber kann nur sein, wo die Kraft des Reidies Gottes in die menschliche Existenz hereingebrochen ist. Weil Barth diese Dialektik von Gegenwart und Nichtgegenwart des Reidies Gottes nicht kennt, müßte er die Konsequenz ziehen, daß, abgesehen von dem supranaturalen Fremdkörper der Offenbarung die Welt der ausschließlichen Herrschaft der Dämonen unterstände. Diese Konsequenz zieht er aber nicht, wie überhaupt der wichtige neu testamentliche und frühchristliche Gedanke des Dämonischen für seine darin calvinistische Theologie unfruchtbar geblieben ist. Er glaubt an eine gottfremde Sachlichkeit menschlichen Handelns, die durch die Sünde nicht zerstört ist, die aber keinerlei Beziehung weder zum Göttlichen noch zum Dämonischen hat. Hier nun scheint mir einer der gefährlichsten Punkte der Barthschen Lehre zu liegen - auch die Ablehnung einer theologischen Ethik gehört dazu. Denn der Glaube an eine gegen göttliche und dämonische Herrschaft indifferente Sachlichkeit ist eine Illusion. Wir leben niemals nur in der ersten und zweiten Dimension unserer Existenz (dem gegebenen Stoff und der Form, die wir ihm geben); sondern wir leben immere auch in der dritten Dimension (die göttliche Höhe und die dämonische Tiefe). Das gilt für all unser Handeln, auch das scheinbar profanste. Wer das nicht sieht und mit dem falschen Glauben an zweidimensionale Sachlichkeit den religiösen Kampf gegen seelische, soziale und geistige Dämonien ablehnt, leistet ihnen in Wahrheit Vorschub. Und es kann nicht bestritten werden, daß die Barthsche Theologie in ihren Auswirkungen sich dessen schuldig gemacht hat. Darin ist aber die Barthsche Theologie der liberalen verwandt geblieben. Audi der liberale Fortschrittsglaube hat die Macht des Dämonischen in der menschlichen Existenz verhüllt. Während aber der Liberalismus es durch ungebrochene Gleichsetzung menschlich-wertvollen Handelns mit der Verwirklichung des Reiches Gottes tat, tat Barth es durch Trennung des menschlichen Handelns vom Göttlichen wie vom Dämonischen. Beiden widerspricht der Realismus des dialektischen, dreidimensionalen Denkens. 261

Barth hat durdi machtvolle Verkündigung des christlichen Paradoxon die deutsch-evangelische Kirche vor Paganisierung gerettet. Dieses Positive ist wichtiger als alles Negative. Das Negative aber ist, daß er - obwohl dialektischer Theologe genannt - nicht dialektisch denkt, sondern supranatural, und damit seinem eigenen Prinzip die volle Entfaltungsmöglichkeit nimmt.

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BIBLIOGRAPHISCHE

ANMERKUNGEN

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NAMEN- U N D

SACHREGISTER

Bearbeitet von Theodor Mahlmann Absolute, das 86 Ästhetizismus 81 Allgemeine, das — und das Konkret-Historische 91 Arminianer 181 Astrologie 117 Atheismus 14 f., 62, 184 f., 188 Aufklärung 119, 154, 184 — Problem des Bösen 20 Augustin 18, 96, 114, 171 f., 180, 181, 182, 192, 194, 216, 239, 258 Autonomie 31, 44, 70, 71, 73, 136, 162, 195, 220 f. — und Heteronomie 16, 138 f., 168 Autorität 164 f.

Barth, K a r l 42, 54, 56, 164, 177, 188, 208, 216, 217, 219, 222, 223, 239 f., 240 f., 242 f., 2 4 7 - 2 6 2 — „Der Römerbrief" 221, 248 f., 254 Basis, ökonomische 17 f. Bauernkrieg 102, 211 Bedeuten 41 f., 43 Bergson, Henri 179, 193 Berneuchener Konferenz 42 Berufung 97 Bewußtsein 23 — Bewußtseinsethik, -psychologie 191, 192 — Bewußtseinsphilosophie 101, 192 — Bewußtseinstheologie 101 Bibelstellen — Hiob 3 8 - 4 1 : 219 - P s a l m 104: 219 — Prediger Salomo 5, 1: 249, 256 - M a t t h ä u s 6, 26.28: 219; 7, 17: 120; 10, 1: 116

- M a r k u s 1, 15: 94, 260 - L u k a s 17, 21: 260 — Johannes 16, 13: 43 - R ö m e r 8: 222; 8, 16: 259; 8, 21: 116; 8, 23: 116; 10, 4: 134; 13, 10: 43; 14, 17: 261 - 1 . Korinther 13: 42, 253 — 2. Korinther 12: 42 — Galater 4, 4: 256 — Philipper 4, 7: 29 — Offenbarung des Johannes 4, 7: 116; 20, 4: 171; 21, 19 f.: 115; 22, 2 : 116 Biblizismus 13, 203, 205 Bild, religiöses 175 Bilderstürmerei 23, 173 Blumhardt, Christoph und Johann Christoph 61 f., 247, 248 Böhme, J a k o b 193 Böse, das 20 f., 193 Brot und Wein - u n d Abendmahl 107 f., 122 Brunner, Emil 37, 250, 254 Buber, Martin 141—150 — „Ich und D u " 141 f. — „Ekstatisdie Konfessionen" 147 Budiman, Frank 164 Bultmann, Rudolf 56, 251, 254

Calvin, Johannes 47, 96, 135, 173 bis 175, 177, 1 8 0 - 1 8 3 , 185, 1 8 6 - 1 8 9 , 199, 202, 2 0 5 - 2 0 7 , 208 f., 210, 212, 2 1 3 - 2 1 5 Calvinismus 18, 19, 102, 113, 163, 174, 180, 184, 208, 209, 215, 243, 261 Chassidismus 146 f.

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Christentum — Prinzip 151 — Absolutheit 137 — E n d e der Religion 134 f., 137 - e r s t e s 124, 135, 211 Gestalt der G n a d e 46 — sakramental-priesterlicher T y p 124, 126 — esdiatologisch-prophetisdier T y p 124, 126 — und J u d e n t u m 150 Cromwell, Oliver 213

Existentialismus 142, 144, 185, 193, 198 Existenzphilosophie 71, 254 Expressionismus 55, 70

Dämonische, das; dämonisch 19, 20 f., 22, 45, 46, 60, 69, 79, 81, 89, 91, 92, 93, 94, 95, 105, 107, 113, 114, 115, 116, 119, 121, 123, 126, 127, 149, 152, 163, 167, 180, 193, 195, 200, 219, 220 f., 248, 261 Deisten 180, 181, 184 Descartes, René 101, 112 Dialektik 13, 61, 2 1 6 - 2 1 8 , 242 f., 2 5 4 - 2 5 7 , 258, 2 6 0 - 2 6 2 — historische 96 Dinglichkeit 111, 143 Dostojewski, Fjodor Midiailowitsch 145 — „Der Großinquisitor" 240, 241, 242 Duns Scotus, Johannes 183

Edelstein 115 Elemente 1 0 6 - 1 0 8 , 112, 114 f. Endlichkeit 88, 258 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 20, 21, 91 E r f a h r u n g 184 Erkennens, Heteronomie des 240 E r w a r t u n g 94, 95, 196 Erweckungsbewegung 48 Eschatologie 42, 66, 171 f., 196 Europa 17, 18, 19

Farben 115 Faschismus 156, 166 Fest 117 Feuerbach, Ludwig 93, 258 Frage und A n t w o r t 255, 256 f., 258, 259 Franziskaner 181 — Franziskaner-Spiritualen 172 Freiheit 72, 79, 194 — und Sicherheit 24 Freud, Sigmund 71, 190 Frömmigkeit als Gestalt der Gnade 43, 47 f. Fundamentalismus 164

Gebet 176 f. Gegenwart, Tiefe der 63 Geist - u n d Leben 30, 39, 111 — und Leib 89 f. — und Fleisch 89 f., 190 — G n a d e und Gericht 220, 221 - u n d Heiliger Geist 242, 252, 259 — Heiliger Zeugnis 203 f., 206 f. E m p f a n g 59 Gemeinde 50 Gemeinsdiaft 149, 150 Gemeinschaftsbewegung 47 George, Stefan 118 Gerechtigkeit 78 f. Geschichte — Grenze geschichtlicher Mächte 151 — O r t der Wesensverwirklichung 51 f. — Periodisierung 19 — religiöse Deutung 16 f., 18—21, 117

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— Metaphysik der 221 f., 222 f. - Z i e l 171 — bei Luther 179 Gesellschaft — bürgerliche 17 f., 36, 37, 100 — spätkapitalistische Massengesellschaft 154 f., 160—162 — Bestimmungswidrigkeit der Gesellschaftsordnung 89 — Ideal der 37 Gesetz 240, 241 Gestalt — moderne Gestalttheorie 111 - u n d Ideal 29, 36, 37, 38 — das Jenseits der 29 f. — Prius der Kritik 36, 37, 40, 41, 44, 52 — und Protest 54 — Prius der Entscheidung 52 — der G n a d e 21, 22, 23, 36, 40 f., 42, 44 f. u n d rationale Gestalt 42 f., 43, 44 und religiöse K u l t u r 43, 43 f. — der Persönlichkeit 46 f. — Auflösung, Verlust der 36, 44 Gestaltung 54 Glaube 21, 31, 35, 47, 58, 61, 63 f., 66, 191, 1 9 6 - 1 9 8 , 222, 223 f. — Ergriffensein vom Unbedingten 14 f., 58, 86, 197 Gnade — Realität der 59 — und Glaube 196 f. — Sein und Persönlichkeit (Entscheidung) 52 — und K r i t i k 32 f., 35 — Prius der Kritik 45 - u n d Gericht 218 f., 221 — und Sünde 191 — und Gesetz 40 — Vergegenständlichung 35, 45 — katholische Gnadenlehre 35, 40, 59 f. — protestantische Idee der 59 f., 61

- G e s t a l t der 21, 22, 23, 40, 41, 42, 54, 57, 58, 59, 60 Bedeutungsgestalt 41, 43, 50 Gegenwart, nicht Gegenstand 40, 41, 42 als Vorwegnahme 42, 43, 50, 52 und Geschichte 51 f. Wechsel der 44 f. Dämonisierung 45 und rationale Gestalt 42 f., 44 und p r o f a n e Gestalt 49 f. und religiöse Kultur 43 f., 49 f. und Kritik 36, 40, 41, 44 f., 57, 58 f. Goethe, J o h a n n Wolfgang von 112 — „Farbenlehre" 115 — „Faust", Prolog 219 Gogarten, Friedrich 34, 216,217, 219, 220, 222, 223, 224, 240, 241, 242, 254 Gott — Gotteslehre 66 — reformatorisdie Gotteslehre 183 f., 185 — Gotteslehre Luthers 175—179 — Gotteslehre Calvins 173—175, 182 f., 205 f. — Gotteserkenntnis, natürliche 256 f. — und der Begriff des Unbedingten 241 — G r u n d und Macht des Seins 177, 179, 185 — G r u n d und Abgrund 174, 178 — Souveränität 247 f., 248 f., 253 f. — Geist Gottes 197; s. a. Geist, Heiliger — Zorn Gottes 193 — jenseits „ G o t t " 185 — Verzerrung der Gottesvorstellung 173, 186 — und Götze 215, 217, 249 — und Götze bei Calvin 173—175 — das Göttliche und das Dämonische 221, 225

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— und D ä m o n , Teufel bei Luther 1 9 2 - 1 9 4 , 195 — gegenständlicher Gottesbegriff 35 — deistisdie Gottesvorstellung 180, 184 f. — „Grenzbegriff" 143 - u n d Welt 89, 100, 1 7 7 - 1 7 9 , 242 f., 247 f., 248 f. — und N a t u r 219 - u n d Geschichte 219, 221 f., 2 2 2 f . - u n d Religion 133, 135, 136 - u n d Mensch 86, 131, 133, 135, 181, 186, 215, 224, 248 f., 249 f., 251, 253 f., 255 f., 257, 258, 259 — und Mensch bei Calvin 186 f. — und Geist 219, 220, 221 Gregor I., Papst 181 Grenzsituation, menschliche 73, 74-77 G r u n d und Abgrund 174, 178, 224

Harmonieglaube 154 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 30, 96, 114, 119, 243 Heiler, Friedrich 222 Heilige, das 41, 97, 145 — Gabe und Forderung, Sein und Sollen 124, 126 — Gegenwart und Forderung 119 — und Reinheit 119 — gesonderter O r t 121 f., 184 - u n d der Heilige 46, 60f., 120 — Heiligkeit 120 Paradoxie der 46 pietistische und katholische Idee der 47 f. — und das P r o f a n e 15, 43, 50, 82, 97 f., 110, 119, 125, 138, 146 f., 166 f., 243 Hein, Arnold 217 Heteronomie 16, 240, 241 Hirsch, Emanuel 220 Historisch-kritische Forschung 26, 205, 223 f., 251 f., 260

Holl, K a r l 34 H o m e y , K a r e n 199 Humanismus 16, 20, 27, 70, 91, 92, 130, 153 f., 181, 195, 203 — Neuhumanismus 70 f.

Ideal — abstraktes und konkretes 36, 37, 38 f. — und Gestalt 36, 37, 38 — und Erfüllung 37 f. - u n d K r i t i k 2 9 f . , 36 Idealismus 18, 90, 188, 219 — deutscher 70, 86 Idee u n d Geschichte 51 Ideologie 39, 80 f., 92 f., 103, 175 Islam 173

Jansenisten 181 Jenseits — der Gestalt 29 f. — des Lebens 30 Jesus 128 f., 134, 148, 181 — „historischer" 60, 251 f. — als der Christus 12, 13, 19, 27, 60, 121, 124, 137, 224 f., 251 f. das neue Sein 23, 59, 65, 73, 82, 113, 116, 120, 122, 128; s. a. Sein, das Neue Christusgeist 241, 242 Kreuz Christi 77, 177, 198 Golgatha 108, 116 Leib Christi 107 f., 116 f. Christologie 59 f., 65 f., 223, 252, 259 f. Joachim von Floris 18, 172 Judentum — frühes 173 — und Christentum 150 — und Mystik 144—147 — Sozialethik 147 Jugendbewegung 55 f. Jung, Carl Gustav 23

268

Kabbala 146 Kahler, Martin 13, 14 Kairos 19 f., 22, 28, 34, 37, 52, 53, 179, 240 Kant, Immanuel 31, 36, 37, 145 Kapitalismus 17 — Spätkapitalismus 160 f. — und Proletariat 87 f., 91 — und Klassenkampf 91 Katechismus, Heidelberger; Frage 80: 105 Katholizismus 23 f., 25, 46, 105, 199, 211 — priesterlicher Typ des Christentums 124 — Erscheinungsformen 126, 127, 128 — sakramentaler Charakter der Kirche 21, 40, 92, 124 f., 126, 127 römisch-katholische Dämonisierung 126, 127 — Supranaturalismus 27 — Hierokratie 214 — Absolutheitsanspruch 20, 132, 134 — totalitäres System 125 — heteronome Tradition und Autorität 71-73, 76, 132 — Autoritätssystem 128, 129, 139, 147, 166, 167 — Rationalität 131 f. — politischer 128 — und Geschichte 19, 20, 51, 151 — und profane Kultur 62, 125 — und Sozialismus 98, 102 — Forderung an den 53 — neuer 152 Kierkegaard, Sören 71, 142, 143, 144, 177, 198, 207, 216, 242 Kirche - G e s t a l t der Gnade 21, 22, 41, 42, 43, 50 f., 60 — sakramentales Element 119, 129 — dialektisch 14 — und Reich Gottes 253, 260 f. - u n d Welt 247 f. — und Sozialismus 98, 247 f.

- u n d Sekte 172 — Verkündigung der 71 — Volkskirche 73 — Bekenntniskirche 156 — Kirchenkampf 169 — bei den Reformatoren 177, 201-203, 208 f. Klages, Ludwig 30 Klassenkampf 91 f. Kommunismus 17, 18, 155, 156, 166 Konfessionen, Gegensatz der christlichen 77 Kosmos 117 Kreuzzug 213 Kritik — Kraft der Scheidung (Krisis) 31 — und Gnade 35 — und Ideal 36 — Kritizismus 36 f., 38, 39, 44 — prophetische 119 Standort des Jenseits von Sein und Geist 29, 30, 31, 39, 40 „existentieller" Charakter 31, 32 und Gestalt der Gnade 40, 40 f., 43, 44 f. — rationale Standort des Ideals 29, 32 abstraktes und konkretes Ideal 38 f., 44 Erhebung des Geistes über das Sein 30 f., 32 und Gestalt 36, 37, 38 — prophetische und rationale Identität? 31, 32, 34, 40 Angewiesenheit aufeinander 31-33, 39, 43, 44 am Leben 30 — soziale 32 — s. a. Gestalt Kultur — und Religion 82 — religiöse und profane 43 f. — autonome 31,53 — theonome 16, 17, 82 — Kulturphilosophie 241 f.

269

Marxismus 18, 39, 71, 102, 149

— Kulturtheologie 16, 250 f. Kultus 66, 67 K u t t e r , H e r m a n n 247

Leben 219 — Setzen und Zurücknehmen 30 — lebendige Substanz, vitale Gestalt 38 f. — rationale Kritik am 30 — prophetische Kritik am 29, 30 - u n d Geist 30, 39, 112 — Lebensphilosophie 30, 39, 71, 112, 193 Leib 116 f. — Fleisch und Geist 89 f. — und Seele 90 Liberalismus 101, 161, 167 — Harmonieglaube 154 Licht 115 Liebe 25 - u n d Macht 148, 211 f. — und Zorn 219 Liturgische Bewegungen 42, 55 f., 67 f., 118, 144, 145 Logos 241, 256 Luther, Martin 20, 21, 25, 33—35, 46, 74, 79, 91, 93, 96, 97 f., 102, 105, 108, 129, 135, (152), 174 f., 175—179, 180, 181, 182, 183, 185, 187, 1 8 9 - 2 0 0 , 201, 207, 208, 209, 2 1 0 - 2 1 2 , 213, 215, 216 — „Kleiner Katechismus", viertes Hauptstück 106, 107 - L u t h e r b i l d 34, 74 Luthertum 17, 18, 19, 20, 92, 98, 102, 103, 127 f., 156, 163, 184, 193, 208, 209, 215, 243 - S t a a t s l e h r e 148, 2 1 0 - 2 1 2 — und Nationalsozialismus 212

Magie 110 f. Marx, K a r l 18, 39, 96, 97, 149 — „Thesen über Feuerbach" 71

Masse — Desintegration der 159, 160 f., 242 — und Persönlichkeit 101 — und Autorität 129, 155, 162 f., 164 f. Materialismus 17 f., 71, 90, 188 Melandithon, Philipp 59 Mensch — Sein und Freiheit, Bedrohtheit, Nichtsein 75 f. — Bestimmungswidrigkeit 88, 95 als soziales Schicksal 89 universale Wirklichkeit 90 f. Verdeckungen 92 und verantwortliche Freiheit 192 — Endlichkeit, Schuld und Verzweiflung 258 f. — Freiheit 194 — Freiheit und Selbstentfremdung, Unfreiheit 91 — essentielle N a t u r und Existenz 211 — Existenz Schichten der 122 in drei Dimensionen 261 — Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis 186 f. — Zweideutigkeit 79, 121 — Zusammenbruch des Selbstbewußtseins 187 f. — Gegenwart des Göttlichen und Trennung von ihm 121 — Geist und Fleisch 190 — Sünde, Unglaube 189 f. -Knechtschaft 194-196 - V e r d e r b n i s 188 f., 190, 191 — und Gesetz 198 — Gottesebenbildlichkeit 250, 259 — neue Wirklichkeit 196 — empirische Freiheit und transzendente Notwendigkeit 95 f. — Auffassung des Menschen in der Renaissance 187, 188 — Luthers Auffassung vom Menschen 189-200

270

Offenbarung — und Gericht 221 — und Geschichte 223, 255 f., 256 f. — und Kultur 257 — und religiöse Tradition 259 f. — und Vernunft 131 f. Okkultismus 81, 114, 116 Origenes 114, 181 Otto, Rudolf 145 Oxfordkonferenz 19

— Calvins Auffassung vom Menschen 1 8 6 - 1 8 9 , 199 f. — der Gegenwart 70 f. — Menschheit 90 f. Messianismus 147, 149, 150 Metaphysik 71, 145 Mohammed 96 Montanismus 171 Mystik 42, 76, 81, 116, 130, 144 f., 193, 222, 249 f., 258 Mythologie 192 f.

Nationalismus 81, 103 Nationalsozialismus 155 f., 166, 179, 212 Natorp, Paul 31 Natur — Naturbegriff formaler und materialer 110 theologischer 110 — Auffassung der magisch-sakramentale 110 f., 114, 119 rational gegenständliche 111 vitalistische 111 f. symbolisch-romantischc 112 realistische 112—119 — Gnade und Gericht in der 219 — und Gnade 27 - u n d Heil 23, 113 - u n d Geschichte 110, 113, 116, 154, 179 — und Heilsgeschichte 113, 121 — Naturphilosophie 114, 115 — Naturtheologie 250 f. — Naturalismus 119 Newton, Isaac 115, 143 Nietzsche, Friedrich 39, 71, 74, 112, 118, 185, 193 Nominalismus 35, 181, 203, 255

Objektivität, wissenschaftliche 11 ökumenische Bewegung 127

Pädagogik 81 Paradiesesmythos 115 f., 212 Paradox 14 f., 27, 93 f., 96, 175 f., 177, 185, 197, 198, 199, 217, 219, 220, 221, 222, 240, 241, 242, 243, 247, 249, 254, 255, 256, 259, 262 — kritisches und positives 216, 217 f., 222 f., 224 f. Pascal, Blaise 198, 216 Paulus 20, 96, 180, 181, 182, 191, 216 Pelagius 181 Person 24, 64 Persönlichkeit 120, 122 — Ideal der 24, 47, 101 — heroische, sittliche, humanistische 46 f., 48 — autonome 49 Pflanze 115 f. Philosophie 86, 138, 139 — griechische 111, 113 — der Renaissance 174 — der Neuzeit 193 — des Bewußtseins 101 — des 19. Jahrhunderts 39 — Prozeßphilosophie 179, 193 — Vitalphilosophie 30, 111, 112 — s. a. Idealismus, deutscher; Lebensphilosophie; Existenzphilosophie Physik 111, 115 Pietismus 13, 47, 100, 101, 145, 184, 240 Politische Überzeugungen 81 Position und Negation 54, 219

271

Positivismus 178 Prädestination 35, 95, 97, 135, 180-183 Pragmatismus 193 P r o f a n i t ä t 62, 68, 136, 138, 159, 243 Proletariat — proletarisches Prinzip 97 — proletarische Situation 87 f., 89, 90, 91 f. — und E r w a r t u n g 94 f., 96, 100 f. und marxistische Dialektik 96 f. — Berufung 96 f. — und Sozialismus 84 f., 89, 97 — und Marxismus 95, 102 — und Ideologie 93 — und Materialismus 90 Prophetie 29, 119, 171, 172, 183 f., 185, 186, 194, 195, 196, 199, 200, 209, 210, 215, 249; s . a . K r i t i k ; Protestantismus I - j ü d i s c h e 12, 29, 31, 32, 96, 98, 119 f., 128, 131, 137, 181 — Prophet und Priester 124, 126, 172 f., 201, 209 f. — prophetisch-protestantisches P r i n zip 135, 185 Protestantismus I. Kritisches Prinzip — Innenansicht und Außenansicht 11 f. — protestantisches Prinzip 12, 14, 17, 23, 28, 45, 56, 63, 65, 82, 83, 86, 135, 136, 163, 169 f. sieben Prinzipien 133—140 und Verwirklichung 21, 22, 28, 85 f., 87, 140, 151 f., 157 f., 215 und historischer Protestantismus 12, 28, 84, 85, 92 f., 93, 97, 99 f., 103 f., 135 f. und seine Ideologisierung 92 f., 104 und seine Objektivierung 99 f. und Geschichte 1 8 - 2 1 , 51 f. und Gestalt der G n a d e 21, 51 f., 52 f.

Kirche und K u l t u r 82 f. und autonome K u l t u r 68 f., 82, 138 f. und Kultus 67 Verkündigung der menschlichen Grenzsituation 73, 74, 76 f. in der Vollmacht des Neuen Seins 82 f. Unbedingtheit und Allgemeinheit 85 und die Bestimmungswidrigkeit des menschlichen Daseins 88—91, 92 und allgemeines Priestertum 97 f., 163 und P r o f a n i t ä t 50, 61 f., 137 f., 166 f. und proletarische Situation 86 f., 89, 90, 92, 98 f., 101 und Realismus 28 und Heilige Schrift 26, 27 und Staat 137 f., 139 und liberale Theologie 26 f. und orthodoxe Theologie 27 — prophetischer Protest 54 f., 105, 125, 1 3 4 - 1 3 6 , 139 f., 152, 163, 167, 168, 169 f., 173 — Protest 23, 46, 74, 240 — prophetisch-eschatologischer T y p des Christentums 124 — prophetische Botschaft 199, 210 — prophetische und rationale K r i t i k 3 3 - 3 5 , 36, 45, 46 f., 136 und Kritizismus 36 f., 44 I I . Gestaltendes P r i n z i p — Gestalt und Protest 54—57, 59, 62 — Gestaltprinzip der Persönlichkeit 46 f., 48, 49, 52, 101 f. Personalismus 24, 52, 122 seelische und soziale Gestalt der Persönlichkeit 52 Persönlichkeit u n d Masse 84, 101, 102, 1 6 3 - 1 6 5 — Gestalt der G n a d e 21, 45, 48 f., 49 f., 52, 53, 61

272

— Heilige Schrift 40, 45, 49 — reine Lehre 40, 45, 49 — N o t w e n d i g k e i t der Vergegenwärtigung der 45 — Fehlen einer 46 f., 48 — A n d e u t u n g einer 47 — Gemeinde, Predigt 46, 49 — Glaube 58 — Kultus 66 f. sakramentale Begründung 105, 113, 122 f., 126, 127 f., 128, 166, 168 — Ende des protestantischen Prinzips im Neuen Sein 23, 120, 128, 129, 136 f. — Träger des Neuen Seins 73 f., 82 Kritik u n d Gnade 33, 35 Kritik und Gestaltung 20, 22 f., 36, 56, 140 protestantische Gestaltung — P r o f a n i t ä t 62, 67 — D y n a m i k , Gegenwärtigkeit 62 f., 67 — Wagnis 63 f. — gläubiger Realismus 64 I I I . Die protestantische Ära protestantische Ä r a 27 f., 153, 156, 157 protestantische Orthodoxie 40, 76, 92, 99 f., 144 f., 153, 184, 240 liberaler, humanistischer 56, 92, 136, 143, 153 f., 155, 164 in der spätkapitalistischen Massengesellschaft 155 f., 159 f., 163 f. E n d e der protestantischen Ä r a 12, 22, 151 f., 154, 155, 157, 159, 168, 170 antihumanistische Orthodoxie 56, 156, 168 f. Rekatholisierung 156, 169 Verbindung mit politisch-weltanschaulichen Systemen 156 f., 166, 168 nadiprotestantische Ära 140, 151, 157 f.

- V e r w a n d l u n g 22, 24 f., 27 f., 166, 169 f. — und nachliberale Gesellschaft 155, 157 f. — evangelische Katholizität 152, 166 — nachprotestantischer Träger 170

129, 152, 157, 158,

IV. Protestantische Verwirklichung — und Autonomie 33, 73, 131, 138 f., 153 f., 155 — und Autorität 128 f., 152 f., 164 f. — Einheit und Spaltung des 153, 207 — und Empirismus 130 — und Freiheit 33 f. — und Humanismus 34 f., 131, 153 f., 155, 157 — und Katholizismus 124, 126, 127 f., 130, 131 f. - a l s Kirche 61, 77 f., 125 f., 127 f., 200, 2 0 1 - 2 0 3 , 208 f. — und Kommunismus 156 f. — und autonome Kultur 69, 139 f. - K u l t u s 24, 6 7 f . , 105, 131, 2 0 9 f . — O r t der Liebe im 25 — Material- und Formalprinzip 14 - u n d Mystik 130 f., 144 f., 147 — und Nationalismus 103 — und Nationalsozialismus 156 - u n d N a t u r 113, 118 f., 120 — und P r o f a n i t ä t 61 f., 68 f., 73, 122 f., 137 f., 166 f., 168 — und proletarische Situation 17, 84, 85, 86 f., 89, 91, 92, 97, 98 f., 100 f., 102, 103 f., 148 — und Rechtfertigung, s. d. — und Religion 82 — und Sakrament 24, 105, 113, 1 2 0 - 1 2 3 , 130, 210 - u n d Heilige Schrift 78, 9 9 f . , 120, 152 f., 201, 2 0 3 - 2 0 8 — und reine Lehre 78, 92, 98, 99 f. — Seelsorge 131 - S o z i a l e t h i k 24, 25, 147 f., 149f., 166

273

— und Sozialismus 85, 104, 156 f. — soziologische Bindung 84, 102 f., 104, 165 f.

Religion — und Bewußtsein, Unbewußtes 101 f.

— und Staat 102 f., 147 f., 149 f., 165, 210-215

— Erkenntnisaussagen 50, 65

— und Symbol 23 f., 129 f., 145, 166, 210 — und Tradition 207 f. — Verkündigung 24, 80, 260 der menschlichen Grenzsituation 76, 78, 79, 80 f.

- u n d Gott 133, 135, 136 — Frömmigkeit und Weltgestaltung 100, 146 f., 248 — Handeln und Denken 66, 67

des J a 81 f.

— „innerhalb"? 31

des Neuen Seins 82 — und Wahrheit, Erkenntnis 64 f. — s. a. Reformation; Luthertum; Calvinismus

- u n d Kultur 15 f., 17, 82, 139, 221 f. — und Mystik 144 f.

Psychoanalyse 101, 131, 165, 189, 198 f., 200 Psychologie 143, 175, 187, 199, 258 — Tiefenpsychologie 39, 52, 114 f. Psychotherapie 24, 81, 131 Puritanismus 25, 96, 200, 214

Quäker 131

— und Naturwissenschaft 159 — objektive Haltung gegenüber der

11 — und Offenbarung 175 — und profane Sphären 133 f., 137, 138 — Profanierung 159 — sakramentaler, priesterlicher und esdiatologischer, prophetischer T y pus 124 — unbedingt Ergriffensein 15, 134 — zweideutiger Anspruch 133—135, 137, 215, 221 — Religionsgeschichte 11, 256 f., 260

Ragaz, Leonhard 247 Rational 3 2 ; s. a. Kritik Rauschenbusch, Walter 143 Realismus 70, 188, 219, 261 - g l ä u b i g e r 28, 64, 65, 112, 118

— Religionsphilosophie 16, 250, 258 — Religionspsychologie 39 Renaissance 34, 70, 174, 187, 188, 203

— utopischer und zynischer 28, 64 Rechtfertigung 21, 33, 35, 61, 74, 78 f., 80, 93 f., 129, 131, 135, 203, 240 Reformation 24, 25, 134 f., 152, 172 f.

— und Ethik 198 — existentialistische Interpretation 142

27, 35,

105,

Revolution 96, 148, 172, 213, 215 Rhythmus 117 Rilke, Rainer Maria 112, 118 Ritsehl, Albrecht 37, 47, 143, 145 Romantik 25, 48, 70, 101, 116 Rosenstock-Huessy, Eugen 42

— neue 185 Reich Gottes 94, 100, 113, 116, 121, 134, 167, 171 f., 248, 249, 2 5 2 f., 260 f. Reiche, zwei 211 f., 214 f. Relativismus 63

Sachlichkeit 261 Säkularismus 72, 139, 185, 186 Sakrament — der Taufe 106 f.

274

- d a s Neue 127, 129, (196), 1 9 9 , 2 0 2 ;

- d e s Abendmahls 107 f., 116 f., 122

s. a. Jesus als der Christus

— und Wort 109 f., 122, 210 — und Glaube 120

Sekte 18, 19, 32, 129, 172 f., 211, 213

— Sterben der Sakramente 23, 24,

Siegfried, Theodor 52

105, 122, 174 f., 210

Sinnverlust 160

— neues Verständnis 145

Sozialdemokratie 61

— und neues Sein 113 — und Natur 82, 105, 107, 110, 113, 117, 118 f., 121, 123 symbolistische Deutung 106, 108, 109

Sozialismus 32 — und Proletariat 84 f., 93 - u n d Religion 17, 98 f., 248 - r e l i g i ö s e r 17 f., 19, 21, 32, 34, 51, 52, 55 f., 61, 103, 147, 1 4 8 - 1 5 0 , 167, 247 f. „Blätter für religiösen Sozialismus" 51 Sozinianer 181 Soziologie 143, 187, 258 Sprache 118 Sünde 251, 258 f.

ritualistische Deutung 106, 108, 109 realistische Deutung 107, 108, 109 f. — und Geschichte 113 — Repräsentation 121 f. — und Tradition 122

— Erbsünde 20, 88, 190

— sakramentales Denken 23, 76,

— Luthers Sündenbegriff 189—192 Supranaturalismus 13, 27, 40, 242,

110 f., 119 f. — Sakramentalismus 59 f., 110 f.

247, 254, 255, 256, 257, 260, 261,

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph

262

112, 193

Symbol 96, 167, 221 f., 240

Schicksal 79, 154, 160, 161

— religiöses 116 — christliches, protestantisches 83 Paradies 212

Schleiermacher, Friedrich 48, 125, 243 Schöpfung 65, 121, 179, 219, 220,

Christus 224 f.

251

des „Neuen Seins" Kreuz 77

— und Erlösung, Vollendung 219 f., 224 f.

Lamm 116

Schopenhauer, Arthur 193

Brotbrechen 108 reformatorischer Glaube 168

Schuld 258 f. Sein, das 86

Wort Gottes 59, 67

— Grund und Macht des Seins 177,

Persönlichkeit 48

185

eschatologisdies 42

— Seinsmächtigkeit 44, 121, 177

des Dämonischen 20

- S p a l t u n g 30 f., 121 — und Geist (Freiheit) 30 f., 32, 40, 42, 43, 44

- V e r l u s t , Ohnmacht 23 f., 129, 136, 160, 161 f., 164, 165 — der Gesellschaft 37 f.

gut und böse 114 Jenseits von Sein und Geist 30,

- d e r Masse 24, 98, 102, 129, 155, 162, 165

31, 32 f., 33 f., 39 f., 41, 42, 43,

— vitalistisches 111

44, 45, 46

— neues Verständnis 129 f., 145, 166, 210

— ungespaltene Schicht 112 f.

275

Thomas von Aquin 181 Thomismus 51, 166 Tier 116 Tod 74 f.

— Repräsentation 37 f. - u n d Zeichen 23, 1 2 9 f . , 133, 174 — Symbolismus 106, 112 - u n d Begriff 23, 113, 163

Tragiker, griechische 192 Trinität 114

— und Gott 66

Technik 111, 139

Ubiquitätslehre 108 Unbedingt; Unbedingtheit 15, 29, 32, 33, 35, 38, 40, 41, 44, 46, 55, 65, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 85, 100, 134, 163, 180, 197, 211, 243

Teufel 193 Theokratie 214 Theologe und Laie 97 f., 163 Theologie 13, 173 — theonome Metaphysik 25

— was uns unbedingt angeht 11, 14, 15, 31, 134, 139, 210

- A u f g a b e 49, 55, 65 f., 131 f., 241, 253, 254, 255

Unbedingte, das 58, 67, 83, 86, 97, 180, 218, 224, 240, 241

Vermittlung 13 f., 142 f. Methode der Korrelation 25 f.,

— und das Bedingte 31, 57, 86, 94, 183 f., 216 f., 219, 222, 250

131 f. — und Philosophie 25 f., 65, 132,

Unbewußte, das 23, 24, 71, 101 f., 122, 191, 192 Unendliche, das 133, 134

241 f., 253 — natürliche 250, 253, 254, 257 und Offenbarungstheologie 258

— und das Endliche 138 Unglaube 189, 190 Unio mystica 144 f. Ursprung, Erlösung, Vollendung

— und Ideologie 93 - u n d Mystik 145, 147, 249 f. — protestantische 177 — orthodoxe 13, 26, 27, 56, 144

224 f. Utopie 20, 28, 64, 95

— des Bewußtseins 101 — „Vermittlungstheologie"

13

— Apologetik 143 Vereinigte Staaten 17, 18, 126, 173,

— „empirisdie" 143

214

— kantianische 37, 130, 145

Vergegenständlichung 241

- l i b e r a l e 13,18, 26f., 56,101, 142f., 144,

181, 194, 214,

Verzweiflung 75, 258 f.

240, 251 f.,

Vorsehung 95, 96

256, 259, 261

Vorwegnahme 42, 43

— und Existentialismus 142 — der Krisis, des Wortes (dialektische, neureformatorisdie, neuorthodoxe) 13, 14, 26, 31 f., 34, 41, 5 4 - 5 6 , 59,

Wagnis 63

61, 71, 130, 145, 156, 188, 194,

Wahrheit 218

217, 221, 2 4 7 - 2 6 2

Wasser und Taufe 106 f., 114 f.

und Kritizismus 37

Welt 219

des positiven Absurdum 223

Weltanschauung 70 f.

— neu-dialektische 27

Weltkrieg, der erste 16 f., 19, 28, 103, 148, 159, 162, 169, 193

Theonomie 16, 17, 18, 19, 20, 22, 25, 68 f., 82, 243

— der zweite 27, 28

276

Wirklichkeit - d a s w a h r h a f t Wirkliche 63 f., 65, 66 — und Bedeutung 41 f. Whitehead, Alfred N o r t h 179 Wirtschaft und Gesellschaft 17 f. Wissen 256 Wissenschaft 81, 138, 139, 155 Wittig, Joseph 42 Wort 109 — sakramentales 109 — magisches, technisches, ästhetisches 117 f. — neues sakramentales 118 - G o t t e s 58, 59, 60, 6 6 f . , 201, 203, 209 f., 250, 251, 252 — der Schrift und der Kirche 59, 203, 241, 252, 260

277

— Wortverkündigung 69 — s. a. Sakrament

Xenophanes 39

Zahl 114 Zionismus 150 Zivilisation, moderne technische 143 Zweideutigkeit — jeder Verwirklichung 51 — von Religion, Christentum,

Pro-

testantismus 133—135, 215, 221 Zweifel und Glaube 14 f. Zwingli, Huldrych 105, 201 f., 210, 212 f.

Beteiligt an den Übersetzungen dieses Bandes w a r e n : Renate Albredit; N i n a Baring; Hildegard Behrmann; Maria Rhine; Gertie Siemsen.

PAUL

TILLICH

Gesammelte "Werke Herausgeber:

Renate

Albrecht

Die Gesamtausgabe des Lebenswerkes Paul Tillichs soll 11 Bände umfassen. Jedem einzelnen Wirkungsbereich des bedeutenden Theologen und Philosophen, Soziologen und Kulturkritikers wird ein gesonderter Band eingeräumt werden. Eine Subskription auf die Gesammelten Werke Paul Ullichs ist bis Erscheinen des letzten Bandes jederzeit möglich. Der Subskriptionspreis (12 °/o Nachlaß) kann nur gewährt werden, wenn der Besteller sich verpflichtet, sämtliche Bände abzunehmen. — Im Herbst 1959 erschien:

Band I: Frühe Hauptwerke 440 Seiten, Leinen DM 32,60 (Subskr.-Preis

DM 28,70)

Der erste Band der „Gesammelten Werke" enthält vier frühe, jedoch sehr bedeutende wissenschaftliche Untersuchungen: 1. Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung. 2. Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden. 3. Religionsphilosophie. 4. Die Uberwindung des Religionsbegriffes. 5. Bibliographie. Im Sommer 1961 erschien:

Band IV: Philosophie und Schicksal Schriften zur Erkenntnis-

und

Existenzphilosophie

212 Seiten, Leinen DM 23— (Subskr.-Preis

DM

20,—)

Im Jahre 1962 erschienen:

Band I I : Christentum und soziale Gestaltung Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus 384 Seiten, Leinen DM 30,50 (Subskr.-Preis DM 26,90)

Band V I I : Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip Schriften zur Theologie

I

280 Seiten, Leinen DM 26,— (Subskr.-Preis

DM 22,90)

Folgende Bände sind geplant: Band I I I : Das religiöse Fundament des sittlichen Handelns — Schriften zur Ethik • Band V : Die Frage nach dem Unbedingten — Schriften zur Religionsphilosophie • Band V I : Der Widerstreit von Raum und Zeit — Schriften zur Geschichtsphilosophie • Band V I I I : Rechtfertigung und Zweifel — Schriften zur Theologie II • Band I X : Die religiöse Substanz der Kultur — Schriften zur Theologie der Kultur I • Band X : Die religiöse Verantwortung für die Welt — Schriften zur Theologie der Kultur II • Band X I : Die religiöse Deutung der Gegenwart — Schriften zur Zeitkritik. Ein Sonderprospekt mit ausführlichem Plan steht zur Verfügung. (Die „Systematische Theologie' und die „Religiösen sammelten Werke. - Siehe nächste Seite.)

EVANGELISCHES

Reden"

erscheinen

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STUTTGART

PAUL

TILLICH

Systematische Theologie Bd. I 1. Teil: Vernunft und Offenbarung 2. Teil: Sein und Gott 352 Seiten, engl, broschiert

DM 19,80, Leinen DM 22,SO

Systematische Theologie Bd. II 3. Teil: Die Existenz und der Christus 196 Seiten, engl, broschiert

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Ein weiterer (der III.) Band der Systematischen Theologie, der den 4. und 5. Teil („Das Leben und der Geist" und „Die Geschichte und das Reich Gottes") enthält, wird voraussichtlich im Jahre 1963 erscheinen. „ . . . die stärkste Wirkung wird doch von Tillichs weitem Hauptwerk ausgehen, der .Systematischen Theologie', von der jetzt zwei Bände in deutscher Ubersetzung erschienen sind. Das Buch ist schon formell gesehen eine Meisterleistung. Die Sprache, die Analyse der Begriffe ist von größter Präzision, das Ganze ein geschlossenes System von außerordentlichem Reichtum der Beziehungen und Gedanken und zugleich von strenger Konsequenz. Inhaltlich wird seine Theologie dadurch bestimmt, daß sie die Wahrheit der christlichen Botschaft bewußt für die Zeitsituation aussprechen, sie also für unsere Zeit deuten will." Prof. Dr. Althaus im Bayr. Rundfunk PAUL

TILLICH

In der Tiefe ist Wahrheit Religiöse Reden, 1. Folge 2. Auflage,

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„Wer Mühe hat, einen Zugang zu der anspruchsvollen theologisch-wissenschaftlichen Leistung von Paul Ullich zu finden, dem sei dringend empfohlen, einen Versuch zu machen mit der Lektüre der vorliegenden Sammlung von Predigten, die in den letzten Jahren an amerikanischen Universitäten gehalten worden sind. Man begegnet hier einem ganz neuen Paul Ullich, der die Worte der biblischen Wahrheit in vorbildlicher Schlichtheit und Plastik auszulegen versteht. A. Köberle in „Deutsches Pfarrerblatt" EVANGELISCHES

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