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German Pages 211 [216] Year 1977
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 19
RICHARD BRINKMANN
Theodor Fontane Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen 2. Auflage
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1977
Die erste Auflage erschien 1967 im R. Piper Verlag, München
CIP-Kurztitelaufnahme der deutschen Bibliothek Brinkmann, Richard T h e o d o r Fontane : über d. Verbindlichkeit d. Unverbindlichen . 2. Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1977. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 19) I S B N 3-484-10292-6
ISBN 3-484-10292-6 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1977 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des V e r lages ist es audi nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechaniscliem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany.
Inhalt
Zur zweiten Auflage
3
Vorwort Das Zeitgeschichtliche und die Frage nach Fontanes Thema
7 10
Welt als gesellschaftliche Wirklichkeit
19
Gesellschaftskritik
27
Der strenge Zeitgenosse, der versöhnliche Dichter Zustände, Klassen und »Einzelexemplare«
..
..
34
Realismus mit »Verklärung« Perspektiven einer keineswegs ungewöhnlichen Ästhetik
39
Der Kern des historischen Interesses
48
»Vielheitsroman« - »Einheitsroman« Thema und Variationen: Aspekte einer folgerichtigen poetischen Entwicklung
64
Allerlei Glück - Allerlei Moral
84
Machtbereich und Recht der Gesellschaft Alt und Neu
..
..116
Das Gespräch als menschliche Realität
127
Weltfrömmigkeit und Säkularisation Die historische Balance im Bereich der Religion
155
Die Ausnahme Fontane 180 Unkaschierte Subjektivität und objektive Lebenswahrheit - Relativierung als Rettung des Historischen und Aktuellen- Verbindlichkeit im Unverbindlichen - Humanität im Bedingten
Anhang Anmerkungen Zeittafel
.
Zur "zweiten Auflage
Seit dem Erscheinen dieses Buchs hat die Fontane-Forschung beträchtliche Fortschritte gemacht. Neue Texte sind erschlossen und herausgegeben worden, Briefe vor allem, aber nicht nur. Andere Texte, die schon bekannt waren, liegen in korrigierten und meist in vollständigeren Editionen vor als bisher, mit höchst sachhaltigen Kommentaren. Alle Äußerungen Fontanes über sein Gesamtwerk, auch manche unveröffentlichte, hat man nun in zwei Bänden beisammen. Zahlreiche mehr oder weniger substantielle Einzelstudien haben auf besondere Probleme in Fontanes Werk Licht geworfen, zuweilen von originellen Blickpunkten her, manchmal mit methodischen »Innovationen« oder auch mit bewährten Interpretationsrastern. Darüber im Detail Bericht zu erstatten, ist hier nicht der Ort. Es ist in Sammelreferaten und Rezensionen von Zeit zu Zeit geschehen. Vor allem haben die bedeutenden und umfangreichen Monographien von Hans-Heinrich Reuter, Walter Müller-Seidel und Helmuth Nürnberger eine neue Situation der Forschung begründet. Wie man auch immer einzelne Auslegungen beurteilen mag - an kritischen Auseinandersetzungen hat es nicht gefehlt - : wir kennen Fontane heute besser als vor zehn Jahren. Manches läßt sich nun nicht mehr, manches mit guten Gründen neu behaupten. Zusammenhänge zwischen Fontanes Vita, seinem Œuvre und der politischen und sozialen Wirklichkeit seiner Epoche sind präziser analysiert und beschrieben worden. Das alles ist Gewinn und Fort3
schritt. Schon haben sich inzwischen auch die Entmythologisierer ans Werk gemacht, da Fontane zum mythischen Palladin der Humanität in inhumanen Zeiten hochstilisiert zu werden begann, zum Einzigen, der, im Gegensatz zum übrigen, eher provinziellen Pseudorealismus in Deutschland, der Ideologie nicht verfallen, ihre Listen und Tücken rechtzeitig durchschaut und ein rühmenswertes Sonderverhältnis zu den Tatsachen der Zeit zuwege gebracht habe. Von den Gralshütern der Wirklichkeit, den westlichen und östlichen Realitätsmonopolisten in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft, die genau Bescheid wissen, bekommt Fontane gute Noten. Sollte er sich da und dort geirrt haben, läßt sich das dialektisch mediatisieren. Im ganzen ist er doch ein progressiver Musterknabe in den im übrigen rückständigen deutschen Verhältnissen, der sich vorzeigen läßt, weil er zu den echten »Humanisten« gehört. Dagegen ist ja auch - wohlverstanden und ohne Dogmen - wenig zu sagen, und auf seine Weise vertritt die Ansicht auch dieses Buch. Aber es gibt mittlerweile Analytiker, die Fontane so unmittelbar »positiv« nicht nehmen können. Seine Fortschrittlichkeit sehen sie nicht nur in allgemeiner Klassenphilosophie und Sozialkritik. Sie bemühen sich, dem anscheinend ebenso milden wie kritischen Alten auf die tiefenpsychologischen Schliche zu kommen, der eher böse und gnadenlos seine Romanfiguren ihrem gesellschaftlich determinierten geschlechtlichen Schicksal ausliefert. Unter ideologischem Zwang - so glauben die Vertreter dieser Meinung - kaschiert er indessen die nackten Tatsachen mit raffinierten Mitteln. Der Kenner, der die Sprache des spielerischen Reizes durchschaut, kann sie unschwer ent-decken. Da kommt dann Ungetröstetes, Untröstbares und in gewissem Sinn auch Inhumanes hervor, das nicht nur zu den von Fontane kritisierten Sachverhalten, sondern auch zu ihm selbst gehört - eine vertrackte Form der Zeitgebundenheit. Viel durchtriebener ist - so scheint es den Entlarvern - dieser Schriftsteller mit virtuosen Zügen, als es
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selbst eine entschieden soziologische Interpretation voraussetzt, die Fontane allein zum Kampfgenossen gegen Bourgeoisie und Adel reklamiert. Von dem, obzwar klarsichtigen, doch nachsichtigen, toleranten, lebensweisen alten Herrn ist da noch wenig übrig, und am Rest wird weiter abgebaut. - Auch bei der Kunstgeschichte gibt es Entdecker, die dem Zauberer Fontane hinter die Kulissen schauen: Soeben erscheint die fesselnde Arbeit von Peter-Klaus Schuster »Theodor Fontane: Effi Briest - Ein Leben nach christlichen Bildern.« (Niemeyer Verlag). Sie könnte eine lebhafte Diskussion anregen. Fontane entpuppt sich einmal mehr als der »Heimtücker«, als Proteus, der Spuren verwischt hat, die wiederzufinden sind. Sind nach alledem diese Essays »Uber die Verbindlichkeit des Unverbindlichen« als eine denkbare Verständnisformel für Fontanes Wirklichkeitsbezug überholt und überflüssig geworden im Kontext der neuen Forschung? Ihre Thesen wären mit einigen der inzwischen ans Tageslicht geförderten Texte noch besser belegbar. Etliche Zitate könnten zuverlässigeren Ausgaben entstammen, allerdings würde sich bei keinem deshalb der Sinn ändern. Wie schon die erste Auflage der Forschung verpflichtet war, ohne es an jeder Stelle anzumerken, so kann sich das bis auf die Zeittafel unverändert wiedererscheinende Buch in der Substanz seiner Aussagen gerade auf die neuen großen Monographien und Spezialstudien zur Bekräftigung berufen. Sie legitimieren von ihrer weiten Explikation her erneut die komprimierte Synthese, die es geben wollte, und verbreitern und befestigen die Basis, auf der es ruht. Die Dimensionen, in denen hier Fontanes Position bestimmt wird, schließt andere, wie zum Beispiel die erwähnte tiefenpsychologische, nicht aus, sondern prinzipiell ein, auch wenn sie nicht ausdrücklich thematisiert werden. Eine genetische Betrachtungsweise übrigens war nicht das erste Ziel. Sie ist das leitende Prinzip der auch stofflich umfassend gedachten historiographischen Gesamtdarstellungen, 5
mit denen diese Untersuchung nicht in Wettbewerb tritt. Mit anderer Absicht und anderer Methode setzt sie vielmehr deren Leistung voraus. Insofern also bleibt das Buch aktuell. Seine Ergebnisse haben sich bestätigt. In seiner Form und Intention ist es bisher nicht durch Ähnliches ersetzt worden.
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Vorwort
Fontanes Ansicht und Darstellung der Wirklichkeit aus einem einheitlichen Grunde zu verstehen ist das Ziel dieses Buchs. Es will nicht eine umfassende Monographie - Biographie oder chronologische Darstellung - ersetzen, wohl aber den Kern des Fontaneschen »Realismus« begreifbar machen. Im Dienst dieses Versuchs steht jedes der folgenden Kapitel; keines ist Selbstzweck. Akzentuierung und Verkürzung im Einzelnen können sich nur von der leitenden Absicht und von Zusammenhang und Ergebnis des Ganzen her legitimieren. Manche Elemente der Romane Fontanes stammen, wie man gezeigt hat, aus Requisitenkammern der europäischen Erzählkunst. Sie sind nicht so originell, wie sie dem Blick des nationalliterarisch Beschränkten erscheinen mögen. Man versteht ihr Gewicht und ihre Bedeutung besser, wenn man die Vorgeschichte typischer Motive, Charaktere und Gesellschaften, ihrer Konstellationen und Konflikte kennt. Daß es Modelle und Topoi in Fontanes Büchern gibt, die nicht seine eigenste Erfindung sind oder jedenfalls nicht sein Monopol, wird hier vorausgesetzt. Welche Funktion Fontane ihnen gibt und was er durch sie aussagt, gehört dagegen zu den Interessen dieser Studie. Zum Beispiel nimmt geselliges Geplauder auch sonst im europäischen Roman gelegentlich breiten Raum ein. Aber Fontane verleiht ihm neue Bedeutung und Dimension. Bei Thackeray und anderen finden wir eben nicht einfach eine Spielart desselben; was Vergleichbares und Ähnliches nicht ausschließt. Aber darauf kommt es 7
hier nidit an. Fontane bedeutet einen eigenen Moment in der Geschichte von Darstellungsformen und Anschauungen, der durch die Einsicht in die Variation von Modellen zwar deutlicher gemacht, aber noch nicht zureichend beschrieben oder verstanden werden kann. Auch nicht, wenn man unmittelbar nach Widerspiegelung der gesellschaftlichen Situation, nach Kritik und Bekenntnis sucht und daran den Grad des Fortschritts in einem geschichtlichen Prozeß mißt. Dabei stößt man auf Widersprüche, die nicht auflösbar sind und nicht nur mit einer Haltung der »Halbheit« erklärt werden können, wie Georg Lukács gemeint hat. Das die Widersprüche übergreifende »Prinzip«, das es bei Fontane in der Tat gibt, hat deutliche Voraussetzungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Aber es kann in seiner Besonderheit aus ihr nicht abgeleitet werden als eine bloß dialektische Funktion, sondern ist eine Antwort eigener Spontaneität, die der konkreten Fesselung an Zustände und Verhältnisse der Zeit entgegengesetzt wird, ohne sie abzustreifen. Fontane huldigte nicht einer bestimmten Lehre, aber er war gelegentlich nicht weit davon entfernt, an eine unausweichliche Gesetzlichkeit im Fortschreiten der Geschichte und an eine Priorität der ökonomisch-sozialen Tatsachen zu glauben; jedenfalls kannte er ihre tiefgreifende Macht über Denken^ Kunst, Moral. Seine Reaktion auf diese Macht der Tatsachen, seine Ansicht über das, was schließlich menschlich genannt werden könne gerade angesichts ihres Banns und in einer problematischen Gesellschaft, das ist nicht mehr nur als Wirkung und Moment im Fonctionnement der Dialektik zu erklären, sondern enthält im Kern ein Element der Freiheit, das auch bei einer weiten Auslegung dessen, was »Vermittlung« heißt, kaum zu leugnen und aufzuheben ist. Daß das etwas anderes ist als eine Art subjektiver Spätidealismusdu schilderst jetzt 1805, es ist aber vielleicht 1809 gewesene so lähmt das meine Kraft«.s Diese Pedanterie nimmt eher zu als ab im Lauf der Zeit. Es gibt Briefe, in denen Fontane für »genaueste Lokalkenntnis«, für allerlei historische und topographische Details um Auskünfte bei einem Kenner bittet. Der Dialekt zum Beispiel soll genau sein; »Eingeweihte« müssen ihm das von ihm »Geschriebene ins Koloniefranzösische oder Schwäbische oder Schlesische oder Plattdeutsche transponieren«, wenn er auch, weil es »tot oder ungeschickt« wirkt, schließlich resignierend sein »Falsches« wiederherstellt. Was er einem kritischen Leser von »Irrungen Wirrungen« schreibt, ist deutlich genug: »Mit gewiß nur zu gutem Rechte sagen Sie: >Das ist kein Wienerisch^ aber mit gleichem Rechte würde ein Ortskundiger sagen (und ist gesagt) : >Wenn man vom Anhaltischen Bahnhof nach dem Zoologischen fährt, kommt man bei der und der Tabagie nicht vorbei.< Es ist mir selber fraglich, ob man von einem Balkon der Landgrafenstraße aus den Wilmersdorfer Turm oder die ij
Charlottenburger Kuppel sehen kann oder nicht. Der Zirkus Renz, so sagte mir meine Frau, ist um die Sommerszeit immer geschlossen. Schlangenbad ist nidit das richtige Bad für Käthes Zustände; ich habe deshalb auch Schwalbach nodi eingeschoben. Kalendermacher würden gewiß leicht herausrechnen, daß in der und der Woche in dem und dem Jahre Neumond gewesen sei, mithin kein Halbmond über dem Elefantenhause gestanden haben könne. Gärtner würden sich vielleicht wundern, was ich alles im Dörnchen Garten a tempo blühen und reifen lasse; Fischzüchter, daß ich - vielleicht - Muränen und Maränen verwechselt habe; Militärs, daß ich ein Gardebataillon mit voller Musik vom Exerzierplatz kommen lasse; Jacobikirchenbeamte, daß ich den alten Jacobikirchhof für >tot< erkläre, während noch immer auf ihm begraben wird. Dies ist eine kleine Blumenlese, eine ganz kleine; denn ich bin überzeugt, daß auf jeder Seite etwas Irrtümliches zu finden ist. Und doch bin ich ehrlich bestrebt gewesen, das wirkliche Leben zu schildern. Es geht halt nit. Man muß schon zufrieden sein, wenn wenigstens der Totaleindruck der ist: >Ja, das ist Leben.Dies soll ein Baum sein.Wanderungen< mit einbegriffen, wird sich nicht weit ins nächste Jahrhundert hineinretten.«? Wo also liegt das Überzeitliche in diesen Romanen, in denen das Zeitliche in einer Breite aufgenommen ist, die es bisher in der deutschen Erzählkunst von solchem Niveau nicht gegeben hat? Und nach dem Nicht-nur-Zeitgebundenen zu fragen, schließt keineswegs schon eine bestimmte Kunstideologie ein. Liegt es jenseits dieser geschichtlich-gesellschaftlichen Realität, die - für sich betrachtet - nicht sehr imponierend ist, die brüchig und morbid zu sein scheint an allen Ecken und Enden, obgleich Fontane sie nicht einmal vollständig gibt und Teile der Gesellschaft mit ihren Problemen und Impulsen fast ganz unterschlägt? Lehrt Fontane einen Rückzug, eine Art innere Emigration aus dieser fragwürdigen Gesellschaft in eine unanfechtbare Innerlichkeit, wie so viele seiner namhaften deutschen Zeitgenossen? Ist er denn doch einer der unverbesserlichen Romantik-Epigonen, die zudem die Romantik mißverstanden haben? »Die Gesellschaft ist ein Scheusal«, steht in einem Brief Fontanes. 10 Will er das in seinen Romanen zeigen und raten: Da findet ihr nicht das Menschenwürdige und Humane; sucht das anderswo, in Euch? Wenn das wirklich so wäre, dann täte er, auf einem Umweg, im Grunde nichts anderes als die »Märchenerzähler«, die er tadelt, weil sie mit einer unzeitgemäßen Sprache eine Welt konstruieren oder einen Bereich aus der Fülle des Wirklichen auswählen, in dem sich menschlich belangvolles Geschehen ereignen kann und soll. Welche Macht und Rolle billigt Fontane dem Gesellschaftlichen und dem Zeitgeschichtlichen tatsächlich zu, worauf kommt es ihm letzten Endes an?
Welt als gesellschaftliche Wirklichkeit
Fontanes Interesse gilt Adel und Bürgertum. Daß die Menschheit beim vierten Stand anfängt, wie er gelegentlich sagt, bleibt in den Romanen selber theoretisch. Was der Mensch ist und soll, was er kann und nicht kann, das studiert er an Bürgern und Feudalen, nicht an Arbeitern und Bauern. Die bleiben am Rande, abstrakt, meist idyllisiert. Mag er ihnen sympathisch verbunden sein, mag er Zukunft bei ihnen sehen - für das, was ihn umtreibt, was ihn fasziniert, kommen sie kaum in Betracht. Nicht weil er die anderen höher schätzte, nicht weil die anderen die »herrschenden Klassen« sind, wohl aber, weil sie die Kultur- und Zivilisationsatmosphäre der Zeit bestimmen, weil sie - bei aller Fragwürdigkeit - Träger der konkreten geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Kontinuität sind. Und beides braucht Fontane; denn es ist das Medium, in dem sich ereignet und sichtbar wird, was er der Mühe der Darstellung für wert hält und was er schließlich auch ganz einfach wissen und beurteilen möchte. Seine Neugierde ist - jedenfalls in der Dichtung nicht eigentlich auf neue und kommende Gesellschaftsformen gerichtet, so sehr er das Neue auch bejaht. Mehr auf Recht und Unrecht der alten und darauf, wie im Konventionengestrüpp und komplexen Lebensstil einer etablierten und späten Gesellschaft Veränderung möglich, recht, notwendig sei, wie im Festgelegten Handeln von menschlicher Relevanz. Am Ökonomisch-Sozialen, an politischen Konstellationen und Modellen liegt ihm nicht unmittelbar, nicht an der zugespitz*9
ten Auseinandersetzung, auch nicht an reinen und isolierten Phänomenen der Sitte, menschlicher Gemeinschaft, nicht an irgendwelchen »Urformen«. Diese Akzentuierung der Interessen spielt für die Beschränkung des Blicks auf adelige und bürgerliche Bereiche eine größere Rolle als die einfache biographische Tatsache, daß Fontane eher Gelegenheit hatte, deren Vertreter gründlich kennenzulernen als die anderer Stände. Alle Bezüge, in denen Mitglieder dieser Gesellschaftsschichten gebunden sind, kommen ins Spiel. Handgreiflicher als irgendwo sonst bei den »poetischen Realisten« sind das Gutsbesitzer, Offiziere, Kaufleute, Pastoren, Beamte, Diener, Kutscher, Polizisten, Gärtner, Schauspieler und was man noch will; sie sind Berliner, Märker, Süddeutsche, sind preußisch, deutsch, englisch, dänisch, polnisch, Lutherische, Pietisten, Katholiken, gehören zu Parteien und Institutionen, sind reich und arm. Menschen »schlechthin«, denen nur ein Gewand, ein Kostüm, wenn auch ein alltägliches und zeitgenössisches, für ihren Auftritt umgeworfen ist, gibt es nicht. Das ist im sogenannten Realismus in Deutschland nicht selbstverständlich. Aber die Bezüge und Bedingungen, durch die in Fontanes Büchern die Leute in der Wolle gefärbt sind, werden nie selbst entscheidendes Thema: nicht das Problem des Besitzes, das wichtig ist und Konflikte stiften kann, aber niemals zentral wird. Kaum je werden Menschen bei ihrer Arbeit aufgesucht, woran bekanntlich anderen Romanciers der Zeit viel lag. Beruf ist meist Bedingung der Möglichkeit der Existenz, er modifiziert und begründet gelegentlich Konflikte; als Medium der Bildung im Sinne des Bildungsromans kommt er nicht in Betracht, und nirgendwo steht, was damit zusammenhängt, im Mittelpunkt einer Fabel. Z u hingebungsvoller Ausbreitung von Landsdiaftsbildern, zum andächtigen Auspinseln von Naturstücken läßt sich Fontane kaum jemals verführen. Tableaus solcher Art muß man bei anderen Dichtern suchen. So etwas wie »Urlandschaft«, 20
Landschaft ohne Spuren des Menschen gibt es nicht. Abgründige, dämonische Mächte der Natur sind für sich nicht Gegenstand seiner Betrachtung. Nichts »ermüdet« ihn »schneller als die sogenannte >schöne NaturOrdnungen Gottes< aufreden wollen. Sie müssen alle geschmort werden. Alles antiquiert! Die Bülows und Arnims sind 2 ausgezeichnete Familien, aber wenn sie morgen von der Bildfläche verschwinden, ist es nicht blos für die Welt (da nun schon ganz gewiß) sondern auch für Preußen und die preußische Armee ganz gleichgültig und die Müllers und Schultzes rücken in die leergewordenen Stellen ein. Mensch ist Mensch. Goethe würde sich gehütet haben, es zu bestreiten; aber jeder agrarische Schafzüchter prätendirt eine Sonderstellung. Indessen der Krug geht so lange zu Wasser bis er bricht; in den eignen Reihen dieser Leute wird es zur Revolte kommen . . . « " Als 28
ein »Greul« erscheinen ihm die »Junker«, die um so »unerträglicher« werden, »je mehr sie sich überzeugen müssen, daß die Welt andren Potenzen gehört«. Der »x beinige Cohn, der sich ein Rittergut kauft«, fängt an, ihm »lieber zu werden als irgend ein Lüderitz oder Itzenplitz, weil Cohn die Zeit begreift und alles thut, was die Zeit verlangt, während Lüderitz an der Lokomotive zoppt und >brr< sagt und sich einbildet, sie werde still stehn wie sein Ackergaul. «23 Die wiederholten Ausbrüche gegen den »beschränkten, selbstsüchtigen, rappschigen Adel«, gegen die »verlogene oder bornirte Kirchlichkeit«, den »ewigen Reserve-Offizier«, den »greulichen B y zantinismus «2+ sind mehr als nur der private Ausdrude einer »unglücklichen Liebe« zum Adel, von der Fontane etliche Male spricht und die sich in »Abneigung«, in »äußerste Mißstimmung und Verdrießlichkeit verkehrt« hat. Sie beruhen auch und vor allem auf Einsichten im »Politischen, das Wort im allerweitesten Sinne genommen.« 2 ' »Es ist ganz vorbei mit dem Alten «2Ä - das meint Fontane ernst und als objektiv -gesellschaftsgeschichtliche Tatsache - selbst wenn man abzieht, was bei ihm Adressat, Stimmung, momentaner Anlaß, Affekt bedingen. Und auch dies ist kein unüberlegter Plaudersatz: »Mein Haß gegen alles, was die neue Zeit aufhält, ist in einem beständigen Wachsen und die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit, daß dem Sieg des Neuen eine furchtbare Schlacht voraufgehen muß, kann mich nicht abhalten, diesen Sieg des Neuen zu wünschen. Unsinn und Lüge drücken zu schwer, viel schwerer als die leibliche Noth.« 2 ? Der Sieg des Neuen trifft nicht minder die Bourgeoisie. Gelegentlich nötigt sich Fontane einen gemäßigten Optimismus ab, wenn er von den Zuständen nach 1870 spricht, und man könnte bei der Lektüre sehr vereinzelter Briefe glauben, Fontane sehe immerhin noch im Bereich des Bürgertums schwache Symptome zukunftsweisender Lebenskraft. Diese Ausnahmen momentan
freundlicher Stimmung
bestätigen
aber die Regel ziemlich stetiger Kritik, die weiter geht als 29
persönliche Abneigung; und wenn Fontane sich angesichts eines besonderen Falles zu dem Prädikat »Bourgeoiswurm«28 hinreißen läßt, so bricht in dieser eisigen Verächtlichkeit eine Haltung hervor, die auch in freundlicher gemilderten Urteilen zwar zurückgehalten, aber doch akut ist. Selbst der Sozialdemokratie traut er nicht allzuviel zu: »Die ganze Welt, man könnte beinah sagen die Sozialdemokratie mit eingerechnet, hat sich durch gesteigerten Besitz und durch gesteigerte Lebensansprüche bis zu einer gewissen Bourgeoishöhe, vielfach von greulichstem Protzenthum begleitet, entwickelt, aber von der Bewältigung der zweiten Hälfte des Weges, von der Entwicklung bis zur Aristokratie, der echten natürlich, wo das Geld wieder anfängt ganz andren Zwecken zu dienen als dem Bier- und Beefsteaks-Consum, - von dieser Entwicklung unsrer Zustände sind wir weiter ab denn je . . . « Eine »Aeusserlichkeitsherrschaft« beklagt Fontane, »die mit einer gewissen Verrohung Hand in Hand geht«. 2 ' Und schließlich zieht er die Konsequenz: »Die Menschheit fängt nicht beim Baron an, sondern nach unten zu, beim vierten Stand; die drei andern können sich begraben lassen. «3° Und ähnlich: »Alles Interesse ruht beim vierten Stand. Der Bourgeois ist furchtbar, und Adel und Klerus sind altbacken, immer wieder dasselbe. Die neue, bessere Welt fängt erst beim vierten Stande an. Man würde das sagen können, auch wenn es sich bloß erst um Bestrebungen, um Anläufe handelte. So liegt es aber nicht. Das, was die Arbeiter denken, sprechen, schreiben, hat das Denken, Sprechen und Schreiben der altregierenden Klassen tatsächlich überholt. Alles ist viel echter, wahrer, lebensvoller. Sie, die Arbeiter, packen alles neu an, haben nicht bloß neue Ziele, sondern auch neue Wege.«31 Das ist keine neue Erkenntnis in später Stunde; schon achtzehn Jahre früher hatte Fontane geschrieben: »Millionen von Arbeitern sind gerade so gescheit, so gebildet, so ehrenhaft wie Adel und Bürgerstand; vielfach sind sie ihnen überlegen. «32 30
Nun darf man das alles nicht gewichtiger nehmen, als es der jeweilige Kontext und die Situation, aus der heraus es gesagt ist, erlauben. Und nichts ist mißlicher, als aus einzelnen Sätzen plaudernd und privat dahergeschriebener Briefe Elemente einer Lehre zu machen, die angeblich vertreten zu haben der ahnungslose Verfertiger sich posthum nicht mehr wundern kann. Es gibt Zitate in Fontanes Briefen und Schriften (außer den Romanen), die das schöne Konzept einer eindeutigen Haltung auch des alten Fontane in der Frage der sozialen Wandlung, ihres tatsächlichen und zu fordernden Ziels, demjenigen verderben können, der gern, vielleicht mit missionarisch-energischer Freundlichkeit dem Dichter zur Ubereinstimmung mit den »richtigen« soziologischen Dogmen verhelfen möchte. Dodi auch wenn man die gebotene Zurückhaltung und Skepsis walten läßt, kann man behaupten, daß Fontane der Gesellschaft seiner Gegenwart kein wahres Recht und keine schöpferische Lebensfähigkeit mehr zugesteht und Zukunft eher bei den unteren Schichten als bei den herrschenden der Adeligen und Bürger sieht, wenn auch die konkreten Vorstellungen von dieser Zukunft einigermaßen spärlich bleiben. So ist es, wo Fontane nachdenkt, wo er reflektiert, wo er aus Erfahrung und theoretischer Einsicht reagiert. Aus dieser Sicht hält er »im Politischen und Religiösen . . . das Einpökelnwollen des alten Rindfleisches für ein Unglück. Die Welt sehnt sich«, so meint er, »nach Spargel und jungem Gemüse«. 33 Und er erklärt kategorisch: »Wir brauchen einen ganz andren Unterbau. Vor diesem erschrickt man; aber wer nicht wagt, nicht gewinnt. Daß Staaten an einer kühnen Umformung, die die Zeit forderte, zu Grunde gegangen wären, - dieser Fall ist sehr selten. Ich wüßte keinen zu nennen. Aber das Umgekehrte zeigt sich hundertfältig. «34 Bei vordergründiger Betrachtung könnte man eine autobiographische Notiz aus einem Brief abwandeln, in der Fontane davon spricht, daß er »immer einen ganz ausgebildeten 31
Sinn für Thatsächlicbkeiten« gehabt habe: »Ich habe das Leben immer genommen, wie ich's fand und mich ihm unterworfen. Das heißt, nach außen hin; in meinem Gemiithe nicht.«35 Fontane hat den Widerspruch zwischen seinen persönlichen gesellschaftspolitischen Überzeugungen und dem Bild der Romane wohl empfunden. Wo er soeben bemerkt hat, der Adel passe nicht mehr in die moderne Welt, überkommt ihn wohl angesichts dieses entschiedenen Urteils ein Mißbehagen, wenn er an seine Dichtung denkt, und er fügt rasch hinzu: »Man kann sich viertelstundenlang an diesen merkwürdigen Gewächsen erfreun, aber man kann es zu keiner Freundschaft und Uebereinstimmung mit ihnen bringen. Meine rein nach der aesthetischen und novellistischen Seite hin liegende Vorliebe bleibt dieselbe, aber Verstand, Rechtsund Selbstgefühl lehnen sich gegen diese Liebe auf und erklären sie für eine Schwäche. Es geht einem auch im Leben mit Einzelindividuen so und dann wieder mit ganzen Nationen. Die Engländer habe ich mit meiner Liebe verfolgt und sie dann doch wieder für egoistische und heuchlerische Bande erklärt. An anderer Stelle gibt er eine ähnliche Unterscheidung: »Ich habe nichts gegen das Alte, wenn man es innerhalb seiner Zeit läßt und aus dieser heraus beurtheilt; der sogenannte altpreußische Beamte, der Perückengelehrte des vorigen Jahrhunderts, Friedrich Wilhelm I., der Kürassieroffizier der mehrere Stunden Zeit brauchte eh er sich durch sein eignes Körpergewicht in seine nassen ledernen Hosen hineinzwängte, die Ober-Rechenkammer in Potsdam, der an seine Gottesgnadenschaft glaubende Junker, der Orthodoxe, der mit dem Lutherschen Glaubensbekenntniss steht und fällt, - all diese Personen und Institutionen finde ich novellistisch und in einem >Zeitbilde< wundervoll, räume auch ein, daß sie sämmtlich ihr Gutes und zum Theil ihr Großes gewirkt haben, aber diese todten Seifensieder immer noch als tonangebende Kräfte bewundern zu sollen, während ihre Hinfälligkeit seit nun grade hundert Jahren, und mit jedem 3*
Jahre wachsend, bewiesen worden ist, das ist eine furchtbare Zumuthung.«37 Dieser Gedanke hat Fontane umgetrieben, dieses Bedürfnis, sich selbst die Diskrepanz zu erklären, öfters noch kommt er darauf mehr oder weniger ausführlidi zu sprechen, begreiflicherweise nirgendwo so deutlich wie in den Briefen an Friedlaender, in denen er die Kritik am Adel mit heftigster Schärfe ausspricht. »Die Adelsfrage!« so variiert er das Motiv: »Wir sind in allem einig; es giebt entzükkende Einzelexemplare, die sich aus Naturanlage oder unter dem Einfluß besondrer Verhältnisse zu was schön Menschlichem durchgearbeitet haben, aber der >JunkerGeht hin und tut desgleichen^ will also sagen als ein neues Zeitevangelium, prinzipiell und gesinnungstüchtig, von der Bühne her zu uns sprechen«. Das bedeutet für ihn »einfach Umsturz; natürlich (denn dazu ist dies alles viel zu dünn) keine Pulvermine, die den ganzen Bau großartig über den Haufen wirft, sondern ein einzelner Spatenstich unter den hunderten und tausenden, die jeden Tag gemacht werden, die Fundamente zu untergraben«. Das »gänzliche Vergessen des alten: heute dir und morgen mir« 35
ist es, was Fontane verdrießt: »Gut, die Dinge gehen ihren ewigen Gang; tut eure Maulwurfsarbeit, ihr, die ihr unten seid. Millionen leben, die an dem Fortbestand dessen, was da ist, kein besonderes Interesse haben können, die eine Art Recht haben, wie an der Glücksbude, die Chancen eines Wechsels der Dinge zu befragen. Mögen sie tun, was sie nicht lassen können, und mag es über uns hereinbrechen früher oder später. Aber Wahnsinn ist es und Verbrechen, wenn die begünstigte Minoritättotgeschossen zu werden< wie Heine in einem seiner berühmtesten Liedchen; er wünscht nicht wie Freiligrath >gelehnt an eines Hengstes Bug< zu stehen; er beschwört nicht wie Lenau >den Blitz, ihn zu ersdüagenden roten Korsaren im stillen Meere der TränenHarfensteinen< und belächelt jenen unerreichten Freiheitssänger aus der Herweghschen Schule, der >sich blind zu sein wünschte, um nicht die Knechtschaft dieser Welt tagtäglich mit Augen sehen zu müssenKraniche des Ibykus< mit der Schilderung griechischen Bühnenwesens oder die >Braut von Korinth< mit ihrem wunderbar verzwickten Problema sind nichts weniger als angetan, dem Realismus seine heiterste Miene abzugewinnen. Noch einmal: er läßt die Toten oder doch wenigstens das Tote ruhen; er durchstöbert keine Rumpelkammern und verehrt Antiquitäten nie und nimmer, wenn sie nichts anderes sind als eben - alt. Er liebt das Leben je frischer je besser, aber freilich weiß er auch, daß unter den Trümmern halbvergessener Jahrhunderte manche unsterbliche Blume blühte. « Realismus ist für Fontane schließlich nicht eine Kunstrichtung unter anderen: »er ist die Kunst«. Wenn er nach Exemplarischem in der Literatur der Vergangenheit sucht, findet er am ehesten Entsprechendes in der »Kunstrichtung . . . vor beinahe hundert Jahren«, genauer bei Herder und Bürger, die er mit Namen nennt. Durch Herder zumal sieht er eine Auffassung begründet, die das jeweils der eigenen Zeit und ihren geschichtlichen Bedingungen Angemessene zum eigentlichen Kriterium für die Beurteilung eines Kunstwerks macht. Und eben das heißt Realismus für Fontane. Angesichts dieser Auffassung erscheint es ihm nicht als hybrid, die eigene Zeit gegenüber der Herders als fortgeschritten zu betrachten und zu glauben, daß »notwendig sich Talente entwickeln müssen, die 44
bei gleicher dichterischer Begabung den Göttinger Dichterbund und selbst die Heroen der Sturm- und Drang-Periode um so weit überflügeln werden, als sie ihnen an klarer Erkenntnis dessen, worauf es ankommt, voraus sind.« Der Unterschied zwischen dem Realismus der Gegenwart und dem des achtzehnten Jahrhunderts besteht darin, daß dem gegenwärtigen »ein fester Glaube an seine ausschließliche Berechtigung zur Seite steht«.*1 So begrüßt er auch viele Jahre später noch das »Reportertum« in der Literatur, das durch Zola geradezu zum »Literaturbeherrscher gemacht« worden sei. In dem »Herausziehen des exakten Berichtes« sieht er einen »ungeheuren Literaturfortschritt«, der die Gegenwart »auf einen Schlag aus dem öden Geschwätz zurückliegender Jahrzehnte« befreit habe, »wo von mittleren und mitunter auch von guten Schriftstellern beständig >aus der Tiefe des sittlichen Bewußtseins heraus< Dinge geschrieben wurden, die sie nie gesehen hatten.« Aber das kann nur der erste Schritt sein: »Will dieser erste Schritt auch schon das Ziel sein, soll die Berichterstattung die Krönung des Gebäudes statt das Fundament sein oder, wenn es hochkommt, seine Rustica, so hört alle Kunst auf, und der Polizeibericht wird der Weisheit letzter Schluß.« Fontane bewundert Zolas »Meisterstücke der Berichterstattung«. Indessen: »Auch selbst ein geschickter Aufbau dieser Dinge rettet noch nicht, diese Rettung kommt erst, wenn eine schöne Seele das Ganze belebt.«*2 Es gibt einen Unterschied zwischen einem »Psychologen« und einem »Charakteristiker« in der Literatur. Dem Norweger Alexander Kielland spricht er in einer Rezension seines Romans »Arbeidsfolk« den zweiten, den höheren Titel ab: »Weil er nur das einzelne sieht, nicht die Totalität. So werden die Dinge bloß nebeneinandergestellt, oft sehr widerspruchsvoll, und das einheitliche oder Einheit schaffende Band fehlt. Es bleibt bei den Teilen. So kommt es, daß das, was Charaktere sein sollen, entweder nur Typen sind oder unwahre Gestalten.«» 45
Übrigens kann auch in einzelnen »>Ausschnitten< aus dem Leben«, »Momentbildern, die das, was wir auf der Hintertreppe gratis sehen können, uns gegen Entree noch einmal zeigen« - so'Tontane über »Die Familie Selicke« von Holz und Schlaf - , etwas von künstlerischer Verwandlung und Erhebung stecken: »Denn es bleibt nun mal ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Bilde, das das Leben stellt, und dem Bilde, das die Kunst stellt; der Durchgangsprozeß, der sich vollzieht, schafft doch eine rätselhafte Modelung, und an dieser Modelung haftet die künstlerische Wirkung, die Wirkung überhaupt. Wenn ich das kleine Lieschen Selicke bei Nachbarsleuten im Hinterhause hätte sterben sehen, so ist es mir zweifelhaft, ob ich geweint hätte; dem kleinen Lieschen, das gestern auf der Bühne starb, bin ich unter Tränen gefolgt. Kunst ist ein ganz besonderer Saft.«'* Hier ist nicht der Ort, über Fontanes Auffassung von historischer, falscher und zeitloser, wahrer Romantik zu sprechen und von mannigfachen anderen Aspekten, die zusammen erst ein vollständiges Bild seiner kritischen und ästhetischen Anschauungen geben würden. Für das, worauf es hier und später ankommt, genügt das eben Ausgebreitete. Sonderlich originell sind Fontanes kunst- und literaturtheoretische Gedanken also nicht. Seine Aperçus klingen ähnlich wie Formulierungen Realismus-beflissener Schriftsteller der Zeit; manches erinnert sehr an Otto Ludwig. Fontane ist nüchterner, unprätentiöser, leichter im Stil, weiter entfernt von Verkündigung, Kunstpriesterkutte, Gelehrtendürre und Professorenvertracktheit als die meisten anderen, wo er in Aufzeichnungen, Kritiken und Briefen Reflexionen zur Ästhetik und Poetik zeitgerechter Dichtung notiert. Das ist gewiß nicht nur eine Äußerlichkeit. Im begrifflidi faßbaren Inhalt gibt es gleichwohl keinen großen Unterschied und wenig, das aufregende Einsichten erkennen ließe. Anlaß dieser Ausschweifung in Fontanes theoretische An46
merkungen zur Literatur war die Frage nach den Ursachen der Zwiespältigkeit zwischen seinen Überzeugungen von den gesellschaftlichen Verhältnissen und Forderungen seiner Ära und dem Bild der Romane. Die Antwort, die da zu finden ist, gibt, wie man sieht, aufsdilußreiche Hinweise. Zulänglich ist sie nicht, um die besagte Unstimmigkeit und damit die Eigentümlichkeit des Romanciers Fontane begreiflich zu machen. Würde man, ohne die Erzählungen gelesen zu haben, von den theoretischen Explikationen her eine Dichtung divinieren, die ihnen entspricht, so ergäbe sich eine durchschnittliche Variation des Typus aus der großen Schublade »Realismus«, nicht aber die Spezies des Fontaneschen Romans.
Der Kern des historischen Interesses
Im Aufsatz von 1853 über den Realismus verwirft Fontane das Interesse an »Antiquitäten . . ..wenn sie nichts anderes sind als eben - alt«. Der Realismus, heißt es da, wie erinnerlich, »läßt die Toten oder dodi wenigstens das Tote ruhen; er durchstöbert keine Rumpelkammern«. Früher schon trägt sich Fontane aber, wie es scheint, mit Plänen zu historischen Romanen, die zum Teil in »Vor dem Sturm« verwertet werden. Die ersten Ansätze zu diesem großen Werk fallen noch ins Jahr 1856. Noch ehe es 1878 vollendet ist, hat Fontane 1875 bereits in einer Besprechung von Gustav Freytags »Ahnen« den historischen Roman einigermaßen desavouiert: »Was soll der moderne Roman? . . . Der Roman soll ein Bild der Zeit sein, der wir selber angehören«. Zwar schränkt er wohlweislich ein: »mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere Eltern noch erzählten«. Dann aber wiederholt er: »Noch einmal also: der moderne Roman soll ein Zeitbild sein, ein Bild seiner Zeit.« Unter den Ausnahmen, die er zugesteht, läßt er zwar den historischen Roman gelten. Indessen ist für ihn »die Mehrzahl der geschichtlichen Romane . . . einfach ein Greuel«. Nur dann ist er überhaupt möglich, »wenn sein Verfasser als ein nachgeborener Sohn voraufgegangener Jahrhunderte anzusehen ist«. Wie aber kann man die Ausnahmelizenz ernst nehmen, wenn sie mit wenig respektvollem Unterton so begründet wird: »Solche rückwärts gewandten Naturen haben natürlich, so es sie 48
dazu drängt, ein unbestreitbares Recht, auch aus ihrem Jahrhundert heraus Romane zu schreiben, Romane, die nun in gewissem Sinne aufhören, eine Ausnahme von der Regel zu sein, indem sie faktisch Zeitläufe schildern, die für uns zwar untergegangen oder nur noch in schwachen Resten, für den verschlagenen Sohn eines voraufgegangenen Jahrhunderts aber recht eigentlich die Gegenwart seines Geistes sind.«55 Das klingt vertrackt und unglaubwürdig genug. Fontanes eigenes leidenschaftliches Interesse an der Geschichte ginge auch dann aus allem, was er geschrieben hat, überwältigend hervor, wenn er es nicht häufig und ausgesprochen bekundet hätte: Ein Katalog solcher Bekenntnisse ist leicht zusammenzustellen. Es ist durchaus das Einzelne, das besondere Phänomen und Ereignis, das seine Aufmerksamkeit erregt, es sind die Tatsachen, die ihn fesseln. Dies schon aus prinzipiellen ästhetischen Überzeugungen: »...bringe Bekkers Weltgeschichte oder Puchtas Pandekten in Verse; erheuchle keine Gefühle ...« schreibt er einem Freunde. Die »Schilderung« des Faktischen empfindet er als seine »Force«: » . . . das Äußerliche hab' ich in der Gewalt. Nur so wie idi die Geschichte als Basis habe, gebiet' ich über Kräfte, die mir sonst fremd sind . . Gleichwohl ist er auch da, wo das literarische Genre Gelegenheit dazu bietet und es nahelegen könnte, wie etwa in den Reise- und Kriegsbüchern oder den »Wanderungen« nicht eigentlich Historiker, Historiograph. In den »Wanderungen« - nehmen wir sie als ein Ganzes unter der Voraussetzung ihrer Variation und Entwicklung in den vierzig Jahren ihres Entstehens - geht Fontane stets vom Einzelnen aus, von einem in der gegenwärtigen Wirklichkeit vorgefundenen Monument der Vergangenheit, von der Landschaft, von Menschen. Und anknüpfend an Gesehenes und Gehörtes plaudert er los, zwanglos, scheinbar planlos erzählt er die Geschichte, aus der Geschichte, Anekdoten, Erinnerungen, Charakterisierungen, läßt Assoziationen freien 49
Lauf. Nicht so sehr die großen geschichtlichen Zusammenhänge sind ihm wichtig. Nicht »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« sollen das sein, nicht kulturgeschichtliche Tableaus. Wenn er auch eine Fülle von Quellen gründlich studiert, so kommt es ihm auf eine allzu banale Richtigkeit nicht an. Wohl nimmt er es mit der Wahrheit genau, aber er hebt an dem, was nachprüfbar ist und »stimmt«, heraus, was Wahrheit in einem anspruchsvolleren Sinne vermittelt. Nicht Tatsachen schlechthin also sind für ihn der Betrachtung und der Mühe der Aufzeichnung wert - wenn er sich auch gelegentlich hinreißen läßt, sich allzu sehr an sie zu verlieren; das ist ein Mangel gewissermaßen gegen seine Natur - nicht Tatsachen schlechthin, sondern menschlich bedeutsame. Geschichte ist für ihn nicht Selbstzweck, sondern nur insofern sie ihm in der gegenwärtigen Wirklichkeit des durchwanderten Landes begegnet, zeichnet er sie auf. Das Land freilich vermittelt er bis in Atmosphärisches, bis in Sitte und Brauchtum, in die Intimität der scheinbar unbedeutendsten Erscheinung. J e reicher das sinnliche Anschauungsmaterial ist, das er vorfindet und aufspürt, um so lebendiger wird seine Darstellung auch des Geschichtlichen. Das Genre ist seine Stärke. Wo er nichts Anschauliches vor sich hat, nichts, was mit den Sinnen aufnehmbar ist, bloß historisiert und theoretisiert, erblaßt die Farbe des Stils. Wo er das Lokale zum Allgemeinen überschreitet, verliert er an Überzeugungskraft. Auch da, wo er sich in Einzelheiten einläßt, die nicht Ausdruck von Menschlichem, nicht Anknüpfungspunkt für Betrachtungen sind, die Menschliches betreffen. Bei Winzigkeiten der Ortsgeschichte, des Milieus kann er sich aufhalten, mit minutiöser Geduld rekonstruiert er in der Sprache Häuser und Schlösser, Zimmereinrichtungen, Möbel und Kleinzeug, Gestalt, Kleidung, Ausdruck von Menschen. Gleichwohl ist es nicht bloßer Trieb zu realistischer Beschreibung und Wedergabe, der Lust und Kraft des Schreibens befeuert. Was Menschen charakterisiert und verstehbar macht, was in der Gegenwart das Vergangene, 5°
was vom Vergangenen die Gegenwart aufhellt, das lohnt ihm den Aufwand. Die »Wanderungen« sind eine literarische Form sui generis. Sie gehören nicht in den Bereich des Fiktionalen. Das Verhältnis zur Geschichte dort ist exemplarisch auch für den Roman »Vor dem Sturm«, der ursprünglich als ein historischer in einem engeren und zugleich umfassenderen Sinn geplant war, als die endgültige Fassung bestätigt. Der anfängliche Untertitel »Zeit- und Sittenbild aus dem Winter 12 und 13«, den erst der Verleger Fontane ausredete, weil er ihn nicht für publikumswirksam hielt, ließ ein weiteres historisches Gemälde, ein entschieden auf die politisch bedeutungsschwere Zeit von 1812/13 geriditetes Buch erwarten. Es gibt Gründe und Zeugnisse anzunehmen, Fontane habe während der Arbeit eingesehen, daß er einer solchen Aufgabe nicht gewachsen war, mehr noch, daß sie nicht seiner Art als Mensch und Schriftsteller entsprach. Die »Wanderungen« bereits lassen erkennen, daß die großen geschichtlichen Dimensionen nicht Fontanes Stärke sind. Wie zwiespältig die Idee dieses Romans schon in frühen Überlegungen ist, verrät ein Brief an den Verleger aus dem Jahre 1866: »Ich habe mir nie die Frage vorgelegt: soll dies ein Roman werden? Und wenn es ein Roman werden soll, welche Regeln und Gesetze sind innezuhalten? Ich habe mir vielmehr vorgenommen, die Arbeit ganz nach mir selbst, nach meiner Neigung und Individualität zu machen, ohne jegliches Vorbild; selbst die Anlehnung an Scott betrifft nur ganz Allgemeines. Mir selbst und meinem Stoffe möchte ich gerecht werden. Ohne Mord und Brand und große Leidenschaftsgeschichten, hab ich mir einfach vorgesetzt, eine große Anzahl märkischer (d. h. deutsch-wendischer, denn hierin liegt ihre Eigentümlichkeit) Figuren aus dem Winter 1812 auf 1813 vorzuführen, Figuren, wie sie sich damals fanden und im wesentlichen audi noch jetzt finden. Es war mir nicht um Konflikte zu tun, sondern um Schilderung davon, wie das Ji
große Fühlen, das damals geboren wurde, die verschiedenartigsten Menschen vorfand, und wie es auf sie wirkte. Es ist das Eintreten einer großen Idee, eines großen Moments in an und für sich sehr einfachem Lebenskreise. Ich beabsichtige nicht zu erschüttern, kaum stark zu fesseln. Nur liebenswürdige Gestalten, die durch einen historischen Hintergrund gehoben werden, sollen den Leser unterhalten, womöglich schließlich seine Liebe gewinnen, aber ohne allen Lärm und Eklat. Anregendes, heiteres, wenn's sein kann geistvolles Geplauder, wie es hier landesüblich ist, ist die Hauptsache an dem Buch. Dies hervorzubringen, meine größte Mühe. Daher zum Teil auch die ewigen Korrekturen, weil nicht die Dinge sachlich, sondern durch ihren Vortrag wirken. Ich möchte etwas Feines, Graziöses geben. «'7 Die ursprüngliche Absicht kehrte sich im Laufe der Ausarbeitung gewissermaßen um: Nicht Menschen, Gruppen, Zustände, Handlungen, Geschehnisse werden vorgeführt zur Vergegenwärtigung der geschichtlichen Wirklichkeit zu einer herausgehobenen Zeit in einem Teil Deutschlands, sondern die geschichtlichen Vorgänge, das Zeitgeschehen werden Medium, in dem Menschen, Menschliches, menschliche Probleme und Eigentümlichkeiten erscheinen. Die Geschichte als Geschichte ist nicht das Thema, weder in einem mythischen noch quasi wissenschaftlichen Sinn. Auch nicht als Objekt poetischer Ausdeutung: nicht Suche nach einer höheren Wahrheit des Geschichtlichen, wie etwa in Arnims »Kronenwächtern«. Thema ist vielmehr der einzelne Mensch, die Gesellschaft - und zwar Sein und Ethos des Menschen und der Gesellschaft in einer bestimmten historischen Situation. In Büchern über Fontane pflegt man die besondere Art und Stellung des Romans »Vor dem Sturm« gegenüber den späteren Erzählungen hervorzuheben. Daran ist natürlich Richtiges, was die Form betrifft und den Grad der künstlerischen Reife, obwohl idi mit Peter Demetz darin übereinstimme, daß das Werk zu den guten Fontanes gehört und zu J*
den wenigen Romanen des deutschen neunzehnten Jahrhunderts, die man mit Vergnügen liest. Das Grundthema, ja alle einzelnen Grundmotive, die später wiederkehren und zuweilen Gegenstand einer einzelnen Erzählung werden, sind hier schon deutlich zu finden. Das Verhältnis von »geschichtlicher« Wirklichkeit und Mensch - wobei »geschichtlich« nicht bloß und unter allen Umständen vergangene geschichtliche Wirklichkeit heißen muß - ist im Prinzip hier da. nämliche wie in den späteren Büchern. Die Entscheidung gegen die Emanzipation des Geschichtlichen im Roman zugunsten eines Menschlichen, das nicht schon im geschichtlichen Vorgang selbst beschlossen ist, bedeutet eine Wahl, die alle späteren Erzählungen Fontanes mitbetrifft. Die Lust am Besonderen, an der Einzelheit ist schon Kennzeichen der Englandbücher und erst recht, von Anfang an, der »Wanderungen«. Sie ist eine Ursache der überaus losen, disparaten, literarisch uneinheitlichen Art dieser Produkte. Die Vorliebe ist auch in »Vor dem Sturm« noch recht deutlich spürbar, sie gehört zu den Prinzipien des Stils. Sie erzeugt die besten Partien des Romans, hat aber auch teil an der im ganzen allzu aufgelösten Form. Tote Motive, wenn sie momentan einen Reiz hergeben, scheinen Fontane nicht zu stören. Man kann nicht sagen, daß da »im ersten Bande kein Nagel eingeschlagen« wird, »an dem im dritten Bande nicht irgend etwas, sei es ein Rock oder ein Mensch aufgehängt würde«' 8 , wie es Fontane an Frey tags »Soll und Haben« rühmt. Mag das aber beiseite bleiben. Fontane hat bezeichnenderweise Partien aus den »Wanderungen« nahezu wörtlich in den Roman hinübergenommen. Abgesehen von solchen Selbstzitaten ist auch eine Reihe mehr oder weniger modifizierter Stellen aus den mannigfachen historischen Quellen, an denen er sich orientiert, in den Zusammenhang des Romans integriert. So hat Fontane zum Beispiel eine Predigt Schleiermachers wenig verändert montiert: Die Predigt des Pfarrers Seidentopf 53
am Sonntag vordem Zug nachFrankfurt ist-in unterschiedlich abgewandelten Bruchstücken - die Predigt Schleiermachers am 28. März 1813 in der Dreifaltigkeitskirche in Berlin, in deren Verlauf er den elf Tage vorher ergangenen Aufruf »An mein Volk« verlas, dann auch den »Aufruf zur Landwehr«. Dieses Beispiel von Aufnahme und Umformung ist im Hinblick auf das, worauf es im Zusammenhang dieser Studie ankommt, interessant. Einige Änderungen sind schon dadurch bedingt, daß Seidentopfs Predigt früher, also vor dem »Aufruf« stattfindet. Der »Aufruf« ist da durch die Freiwilligenverordnung vom 3. Februar 1813 ersetzt. Das mußte ein Mißverhältnis in der Stärke und im Pathos des Ausdrucks geben. Schon deshalb ist die fast rhythmische Sprache Schleiermachers durch schlichtere Prosa in Fontanes Predigt ersetzt. Durch Auswahl, leichte Veränderungen und die Art der Integration ist der auf den ersten Blick weithin erhaltene Text folgenreich umgebildet: Schleiermacher stellt in den Mittelpunkt seiner Predigt den christlichen Schuld- und Bußgedanken. Bei Fontane ist, wie man angemerkt hat' 8a , ein charakteristischer Säkularisationsvorgang zu sehen. Die bei Schleiermacher eindeutig theologisch-christlich fundierte Bußvorstellung wird ins Ethische abgewandelt. Das ist bezeichnend. Aber ebenso bezeichnend ist, daß Fontane eine problematische romantische oder eigentlich vorromantische Ideologie aufgibt, die Schleiermacher in seinen Argumenten benutzt. Schleiermacher verkündet: »Jedes Volk . . . , das sich zu einer gewissen Höhe entwickelt hat, wird entehrt, wenn es fremdes in sich aufnimmt, sei dieses auch an sich gut; denn seine eigne Art hat Gott jedem zugetheilt, und darum abgesteckt Grenze und Ziel, wie weit die verschiedenen Geschlechte der Menschen wohnen sollten auf dem Erdboden. «« Von einem solchen organisch-naturistisdhen Entwicklungsdenken hat Fontane sich ziemlich vollständig frei gemacht, von einem Denken, das in seinen verfälschenden Umbildungen und fragwürdigen Konsequenzen eben im neunzehnten Jahrhundert wirksam zu werden 54
begann; freigemacht audi von einem in solchem Denken begründeten Nationalismus. Das gilt schon allgemein f ü r diesen ersten Roman. In der Gegenüberstellung von Deutschem, Französischem, Polnischem, auch Russischem, wenn auch nur in schwächerer Abschattung, werden die nationalen Eigenschaften, Tugenden und Schwächen relativiert. Auch Berndt von Vitzewitz, der aktivste, vielleicht der einzig wirklich Aktive und Entschlossene in dem Roman, ein entschiedener Gegner der Franzosen, ist kein nationalistischer oder provinzpatriotischer Chauvinist, nicht einmal wirklicher Franzosenverächter, allenfalls Napoleonhasser, in vielem auch indirekt dem Französischen verbunden. Und Fontane identifiziert sich nicht distanzlos mit ihm und seinem Handeln. Er bewahrt sich einen oft deutlich ironischen Abstand. Alexis und Scott sind die beiden Namen, die auf dem Felde der historischen Erzählung für Fontane die ernsthafteste Herausforderung bedeuten. Sie bewundert er, Scott ungleich mehr als Alexis, von ihnen hebt er sich ab, ihnen gegenüber findet er seine eigene Version der Gattung. Mit Alexis setzt er sich auseinander: E r muß es schon deshalb, weil eine ergiebige Quelle f ü r seinen Roman die gleiche ist wie f ü r Alexis' »Isegrimm«: die Memoiren des Grafen Friedrich August Ludwig von der Marwitz, der Fontane faszinierte und das Modell f ü r Berndt von Vitzewitz geworden ist. Alexis ist der eigentliche Historienmaler im Literarischen. Zusammenhänge und Zustände will er charakterisieren, große kulturgeschichtliche Bilder malen. Menschen, Handlungen, Verhältnisse interessieren ihn nur, soweit sie nach seiner Meinung typisch sind f ü r die Zeit und die Zustände, die sie repräsentieren sollen. Ein riesiges Ensemble von Personen bevölkert seine Romane, aber es sind alles Personen, die für etwas stehen: für Ideen und Zeitverhältnisse. Sie sind typisch im negativen Sinne von lebensarmem Schematismus; für Fontane ist solches »Typische . . . langweilig«/ 0 55
Eine Fülle von Genrebildern und Episoden reiht sich aneinander, aus denen ein Gesamtbild der historischen und kulturgeschichtlichen Situation entstehen soll. Aber Fontane glaubt nicht recht, daß ihm das wirklich geglückt ist. Wohl stellt er den »Isegrimm« sogar über Scott. »Ob es Willibald Alexis aber in dem Zeitton getroffen hat, ist mir zweifelhaft«, so meint er. »Ein jeder wird glauben müssen, >es sei alles so ernst und düster und fanatisch gewesen«. Ich selbst würd es glauben, wenn ich ein Fremder wäre. Meine Eltern aber und die gesamten Swinemünder Honoratioren (unter denen ich meine Jugendeindrücke empfing) haben mir immer nur erzählt, wie kreuzfidel man damals gewesen sei. Alles entente cordiale mit den lieben kleinen Franzosen, alles verliebt und alles lüderlich. Was Alexis schildert, existierte auch, aber es war die Ausnahme. Übrigens haben Alexis und ich aus derselben Quelle geschöpft: >Marwitz: Memoireneinem Helden< verbleiben, aber auch der Vielheitsroman, mit all seinen Breiten und Hindernissen, mit seinen Porträtmassen und Episoden, wird sich dem Einheitsroman ebenbürtig - nicht an Wirkung, aber an Kunst - an die Seite stellen können, wenn er nur nicht willkürlich verfährt, vielmehr immer nur solche Retardierungen bringt, die, während sie momentan den Gesamtzweck zu vergessen scheinen, diesem recht eigentlich dienen.«?1 Das war zugleich eine Verteidigung des neuen geplanten Romans, aber doch auch schon eine Art Rückzugsgefecht. Denn daß dieser zweite »Vielheitsroman« liegen blieb, war kein Zufall. Es war aber nicht nur irgendein formaler literarischer Ehrgeiz, der Fontane noch einmal zum »Vielheitsroman« drängte. Diese Wendung hängt mit einer Grundidee, besser: Grunderfahrung zusammen, die ihn nicht mehr verlassen hat. Wenn man sie auf eine Formel bringen will, mag man das Stichwort »Relativität« gebrauchen: Relativität des Glücks, der Moral, der Lebensansprüche und Lebensverhältnisse; das Recht geltender Normen und das Recht und die Folgen individueller Entscheidung in einer besonderen Situation, die Ambivalenz, ja Polyvalenz alles Handelns, Strebens, Urteilens. Das eben hoffte Fontane in der Form des Vielheitsromans, des Nebeneinander vorzustellen. Er mußte auch hier einsehen, daß er sich übernommen hatte und daß diese Vielheit, ausgebreitet in extenso, nicht seine Sache war, sondern der einzelne Fall mit seinen verschiedenen und besonderen 6j
Aspekten. Die Vielheit wird er durch eine Polyperspektive erreichen; dadurch, daß er ein quasi objektives Geschehen von verschiedenen Seiten, von verschiedenen Standpunkten aus, in verschiedenen Situationen, verschiedenen Stadien betrachten läßt. Das geschieht zum ersten Mal mit einiger Konsequenz in dem ersten eigentlichen Gesellschaftsroman, der freilich noch »historischer Roman« ist, insofern er in der Vergangenheit spielt, in »Schach von Wuthenow«. Übrigens sollte eine Fülle von Zeitproblemen und Zeitströmungen in »Allerlei Glück« eine Rolle spielen: Fragen der Konfession, der Säkularisierung des Glaubens ins Ethische und Weltanschauliche, der Politik, des politischen Liberalismus, der Philosophie: Positivismus und Monismus, Darwinismus, wohl auch Schopenhauersche Gedanken. Verschiedene Typen des Romans sollten vereinigt werden: Entwicklungsroman in der Wilhelm-Meister-Nachfolge, Familienroman, humoristischer Genre- und Typenroman in der Tradition und nach dem englischen Vorbild im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, dann der obenerwähnte Roman des Nebeneinander. Ein wesentliches Mittel, die Vielfältigkeit und Vielwertigkeit in formbaren Maßen darzubieten, ist das Gespräch, das Fontane schon in »Vor dem Sturm« mit Lust und Überlegenheit praktiziert und das in seinen Büchern immer mehr eine zentrale Rolle spielen wird. Von seiner Funktion wird später die Rede sein. Fürs erste scheint Fontane nach den Versuchen mit dem breiten historischen Roman und dem Vielheitsroman in ein einseitiges Gegenteil zu verfallen. Er besinnt sich auf das, was er als Balladendichter gelernt hat, und schreibt kurze, novellenartige Erzählungen, die deutlich von Stilzügen der Ballade bestimmt sind. »Grete Minde« und »Ellernklipp« haben offenbar von dem Vorbild Storm einiges empfangen, obwohl Fontane nicht zu erreichen vermag, was er an Storm bewundert: die spezifische Gestimmtheit und impressionistische Technik, die formale Geschlossenheit und, was ihm am Ge66
haltlichen imponiert hatte: die eindrucksvolle Gestaltung des »Schicksals«. Gewiß war Fontane mit der Suche nach einer knappen Form, nach Vereinfachung, auf einem ihm angemessenen Weg - im Prinzip. Aber man kann nicht sagen, daß ihm der Versuch gesdiiditlich-balladenhafter Novellen geglückt ist. Die Novelle im engeren Sinne ist überhaupt nicht sein Feld. Gegen seinen Willen drängen auch diese Geschichten schon in die Richtung eines Romans, bei dem das Psychologische eine bedeutende Rolle spielen wird. Sie beginnen mit sparsamer Knappheit, mit kühler Distanz, mit karger Rede, straffer Hinordnung aufs Geschehen. Dann aber geraten sie mehr und mehr ins Breite. Sie geben die Distanz des Historisch-Entfernten auf - die erste Novelle, »Grete Minde«, beruht auf dem Bericht der Tangermünder Stadtgeschichte über ein Ereignis aus der Reformationszeit, die zweite, »Ellernklipp«, auf Aufzeichnungen eines Harzer Kirchenbuches über ein Ereignis unmittelbar nach dem siebenjährigen Kriege in einem Harzdorf - und verfallen ins Psychologisieren aus moderner Perspektive. Die Selbstanalyse der Personen verläßt den erstrebten Stil der strengen historischen Novelle als Geschichte einer »sich ereigneten unerhörten Begebenheit« und schleicht auf die Domäne des Romans hinüber. Die prägnante Fassung des Schicksalsbegriffs, die Fontane in diesen Erzählungen vorschwebt - Verstoß gegen das Gesetz, der die Menschen zum Untergang führt - , weicht einem komplizierten Seelenbefund. Im Vergleich mit Novellisten der Zeit, die auf den ersten Bück verwandt aussehen könnten und von denen Fontane lernt, Heyse zum Beispiel, Keller oder Storm, stellt Fontanes Erzählpraxis schon hier einen Schritt weiter auf dem Weg zu einer realistischen Kunst und Technik der Beobachtung dar. In Fontanes Entwicklung bedeuten die beiden Novellen der Zwischenphase eine, wenn auch etwas verkrampfte, Übung des Stils - einen »Stilisten« nennt er sich im Zusammenhang mit der Arbeit daran - , eine Übung der Beschränkung und
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Auswahl, der schlüssigen Begründung des Geschehens, auch einer gewissen Objektivität der Darstellung - man kann es nicht leugnen - , sogar gelegentlich der impassibilité, die eigentlich keineswegs seine Art ist. Sehr genußreich ist die Lektüre nicht. Die tragisch-balladeske Novelle ist Rückfall in eine Spielart neunzehntes Jahrhundert, die Fontane schon überwunden hatte. Sie ist ein Anachronismus auf seinem Weg. Was seinem persönlichen Habitus und seiner Wirklichkeitserfahrung entspricht, ist der Roman, in dessen Mittelpunkt ein wesentliches Geschehen steht, das sich aus mannigfachen Bezügen konstituiert und von unterschiedlichen Aspekten her anvisiert und vorgestellt wird. Das erste recht eigentlich Fontanesche Buch in diesem Sinne ist »Schach von Wuthenow«: die letzte geschichtliche Erzählung Fontanes; im Jahre 1806 ereignet sich die Handlung, die auf einer »wahren« Begebenheit beruht. Das Historische als Historisches ist hier vollends irrelevant geworden. Nur insofern kommt es in Betracht, als es eine Möglichkeit ist, eine Situation in ihren ganz bestimmten »historischen« Bedingungen zu geben, in der sich abspielt, was ebensosehr an diese Situation gebunden wie allgemein menschlich ist, allgemein menschlich auch in der Tatsache dieser Gebundenheit an eine geschichtlich wie individuell bedingte besondere Situation. Zwei Sätze können das erläutern: »Schach von Wuthenow spielt im Sommer 1806: Zeit des Regiments Gensdarmes. Inhalt: Eitlen, auf die Ehre dieser Welt gestellten Naturen ist der Spott und das Lachen der Gesellschaft derartig unerträglich, daß sie lieber den Tod wählen als eine Pflicht erfüllen, die sie selber gut und klug genug sind, als Pflicht zu erkennen, aber auch schwach genug sind, aus Furcht vor Verspottung nicht erfüllen zu wollen. So heißt es in einem Brief Fontanes. Und Bülow, im Roman der Gegenspieler Schachs, kommentiert am Ende das Geschehene: » . . . Sie werden es begreiflich finden, daß mich dieser Schach-Fall, der nur ein Symptom ist, um eben seiner symptomatischen Bedeutung 68
willen aufs ernsteste beschäftigt. Er ist durchaus Zeiterscheinung, aber, wohlverstanden, mit lokaler Begrenzung, ein in seinen Ursachen ganz abnormer Fall, der sich in dieser Art und Weise nur in Seiner Königlichen Majestät von Preußen Haupt- und Residenzstadt, oder, wenn über diese hinaus, immer nur in den Reihen unsrer nachgeborenen friedericianisdien Armee zutragen konnte, einer Armee, die statt der Ehre nur noch den Dünkel, und statt der Seele nur noch ein Uhrwerk hat.«73 Gewiß - Bülow ist einer derjenigen, aus deren unterschiedlicher und bedingter Perspektive das Ganze gesehen wird. Hier spricht er aber etwas aus, das grundsätzlich im Sinne dessen gelten kann, was Fontane zum Gegenstand seines Romans macht. Aus beiden Sätzen, Fontanes thematischem und Bülows reflektierendem, erhellt: es geht Fontane um den einzelnen besonderen Fall in einer ganz bestimmten Situation; um den individuellen Charakter, der in einer besonderen Situation sich offenbart, sich bewährt oder versagt, bedingt in seinem Handeln von der Lage, in die er gerät, von der Gesellschaft in einem besonderen geschichtlichen Augenblick; zugleich ist er selbst symptomatisch für diese Gesellschaft, für die geschichtlichen und gesellschaftlichen Umstände, die ihn bis zu einem gewissen Grade bestimmen und die von Leuten wie ihm mitbedingt sind. Die Bedingtheit, die Relativität von Handeln und Verhalten des Einzelnen, der im Mittelpunkt steht, wird deutlich gemacht, indem das Geschehen, das in seinem faktischen Ablauf berichtet wird, von verschiedenen Blickpunkten aus erscheint und beurteilt wird. Gespräche und Briefe benutzt Fontane als technische Mittel dazu. Noch hat das Gespräch nicht die indirekte Funktion wie in weiten Bereichen der späteren Bücher. Es umkreist meistens unmittelbar das Sichereignende, das zur Debatte Stehende, und es charakterisiert mit deutlicher und entschiedener A b sicht. Noch audi steht ein bei aller Symptomatik doch ungewöhnlicher Fall, ein Grenzfall, im Mittelpunkt, so sehr er 69
audi begreifbar ist aus den Voraussetzungen eines keineswegs ganz ungewöhnlichen Charakters und einer in den gesellschaftlichen Zuständen, wie sie nun einmal sind, keineswegs ganz ungewöhnlichen Lage. Die geschichtliche Distanz schon begünstigt die Vorstellung des Exzeptionellen, des nicht Alltäglichen und Gewöhnlichen, das nicht »Mittelschlag des Lebens« ist. Noch ist das besondere Ereignis das eigentliche Formprinzip der Geschichte. Die Gestalten sind durchaus nur als Exponenten, als Akteure des fabulösen Geschehens denkbar und interessant, nicht unabhängig davon. Später wird sich das Verhältnis wandeln, ja umkehren, und in dem geschehnisarmen letzten großen Roman, dem »Stechlin«, kommt es auf die Fabel kaum mehr an. Die Gestalten in »Schach von Wuthenow« sind aufs engste mit der Fabel verknüpft, und was in den balladesken Novellen gewissermaßen gegen den Willen Fontanes und gegen das Formprinzip der Erzählungen durchbrach, gehört hier zum bejahten, gewollten Wesen des Romans: die Ereignisse gehen aus der unlösbaren Einheit von psychologischen Voraussetzungen und den in der gesellschaftlich-geschichtlichen Lage bedingten äußeren Gegebenheiten hervor. Schicksal ist das Ganze, unauflösbar das eine in das andere verschlungen; der Schicksalsbegriff gegenüber den beiden früheren Novellen differenzierter und überzeugender. Exzeptionelle, romanhafte Fabel haben audi noch die beiden Romane, die als erste in Fontanes gesellschaftlicher Gegenwart spielen: »L'Adultera«, schon vor dem Abschluß von »Schach von Wuthenow« vollendet, und »Cécile«. Sie eröffnen eine Reihe von Erzählungen, die man unter dem Namen »Berliner Romane« zusammengefaßt hat und zu denen »Irrungen Wirrungen«, »Stine«, »Mathilde Möhring«, »Frau Jenny Treibel«, »Die Poggenpuhls« gehören, in gewissem Sinne audi »Der Stechlin«. In »L'Adultera« und »Cécile« - gewiß die schwächsten Glieder dieser Reihe - steht also noch ein außerordentliches 7°
Ereignis im Mittelpunkt, ein krisenhafter Fall. Sein Ablauf ist das Aufbauprinzip, das Aufbausdiema. Aber es kam Fontane, wie er sich ausdrückt, darauf an, diesem äußerlich Vorgezeichneten »rundere Rundung« zu geben74 Das sagt er im Hinblick auf das Bild der Ehebrecherin, »L'Adultera«, das in dem Roman dieses Namens eine ominöse Bedeutung hat. Es ist bezeichnend für das Mittel, mit dem er die ästhetische Einheit hier zu bewältigen versucht, die »rundere Rundung« zu erreichen sich bemüht: vor allem nämlich mit einer forcierten Leitmotivtechnik und einer zum Teil allzu aufdringlichen Symbolik. Auch »Cécile« krankt noch daran. Die Technik wirkt künstlich und überzogen, und man glaubt nicht recht jenen Omina des Schicksals, die als geheimnisvoll vorbestimmt ahnen lassen sollen, was so plausibel und folgerichtig nach natürlichen Gesetzen der Seele und der Welt abläuft. Weniger das Geheimnis des Schicksals wird spürbar in Leitmotiven und aufgesetzter Symbolik als der Theatermeister, der seine Maschinen manipuliert. Gleichwohl verfällt das Buch im ganzen nicht dem Kitsch, nur manchmal kommt es ihm bedenklich nahe. Man hat auf Parallelen der Handlung und des Aufbaus in Paul Lindaus Roman »Zug nach dem Westen« von 1886 hingewiesen. Bei der Lektüre dieses von Sardou und Scribe inspirierten Buchs wird eklatant deutlich, wie weit Fontane denn doch von einem pikanten Unterhaltungsroman entfernt, wie vergleichsweise souverän er in seiner psychologischen Motivierung ist, wie komplex seine Vorstellung eines wirksamen Milieus; und man erkennt, worin der Unterschied zwischen sittlichem Ernst und konstruierter, nur von ihrem Gegenteil erzeugter und definierter Moral besteht. Fontane hatte das Recht, Lindaus Buch scharf und ironisch zu kritisieren; er war ihm selbst in seiner schwachen Erzählung »L'Adultera« weit überlegen. Mit der Liebe, der Gerechtigkeit, dem Ernst, die Erkennen ermöglichen, vertieft sich Fontane in seine Gestalten, läßt in 71
der Tat »alles in jenen Prozentsätzen . . . , die das Leben selbst seinen Erscheinungen gibt« 7 *, malt nicht schwarz-weiß, schafft nicht Engel und Teufel, berauscht sich nicht an pikanten Abenteuern, setzt sittliche Maßstäbe, aber moralisiert nicht, urteilt, aber verurteilt nicht. Was sich ereignet, geschieht, weil die Menschen so sind, wie Menschen sind; weil sie so sind, wie ihr Charakter ist und ihr individuelles Temperament; weil dies allgemein Menschliche und dies Besondere, Individuelle mitgeprägt, aber nicht sklavisch determiniert ist durch die gesellschaftliche Umwelt, das Milieu, in dem sie leben und von dessen Ubereinkünften, Konventionen und sittlichen und unsittlichen Normen sie gelenkt, wenn auch nicht festgelegt werden; weil die Freiheit darin ihren Spielraum hat, die bereit ist, Konsequenzen zu tragen; weil die Leute Berliner der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts sind, Bürger der Bismarck-Ära, aber damit nicht definiert; weil sie vom Geschlecht getrieben sind, aber nicht heillos ihm ausgeliefert; weil sie Mißtrauen, Vertrauen, Sehnsüchte, Wunschträume, Appetite, Liebebedürfnis, Hoffnungen, ästhetische Sensibilität, Güte oder bloße Gutmütigkeit, Angst und Mut haben; weil sie das Walten eines Geschickten und Gefügten spüren, ohne fatalistisch sich ihm zu ergeben; weil sie in einer Welt der Gerechtigkeit und mehr der Ungerechtigkeit leben, in einer Welt der Bildung, die weitgehend zum Gesellschaftsspiel geworden, in einer Welt konkreter Standesstufung, Standesprätentionen, der Kaschierung von Unmoral, Brutalität, Unwahrhaftigkeit, Unterdrückung, Elend und so fort. Dieser Katalog deutet - wenn auch ganz und gar unzulänglich und unvollständig - nicht allein die komplexe Wirklichkeit an, in der diese Menschen handeln und leiden, vielmehr zählt er auch auf, was alles in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts in einzelnen Werken und bei einzelnen Dichtern einseitig und manchmal penetrant das beherrschende Element ist - nicht a limine illegitim übrigens. Aber Fontane nähert sich mit der Vielfalt und Mischung aller Elemente, 72
mit der Reduzierung aller exzessiven Maße am ehesten der durchschnittlichen Wirklichkeit der Menschen in der Gesellschaft seiner Zeit, ohne doch ins bloß banal Durchschnittliche, ins Philiströse, ins Belanglos-Gemeine zu verfallen. Er erreicht den Typus und das Typische durch die Annäherung an das allgemein in einer bestimmten geschichtlichen Situation Mögliche, nicht auf dem Wege einer ästhetisch-poetischen Konstruktion und Abstraktion. Er läßt das Geschehen sich aus möglichst einfachen Voraussetzungen entwickeln. Die Fabel entfaltet sich aus einem eigentlich ganz gewöhnlichen Stück Wirklichkeit, nicht wird die Wirklichkeit von einer Fabel, einer Idee, einer normativen Vorstellung oder von überwältigenden Einzelerfahrungen, von sich vordrängenden Einzelaspekten aus überformt; nicht von apriorischen Theorien darüber, wie ein Erzählkunstwerk, ein Roman oder eine Novelle gebaut sein müßten. Da wird nicht pausenlos im Hinblick auf einen vorkonstruierten Geschehnisablauf gehandelt; nicht reflektiert und gesprochen, bloß sofern der Plan einer Romanhandlung gefördert wird, oder sofern es der unmittelbaren Charakterisierung und der Erörterung von Problemen dient, die mit dem Geschehen verbunden sind oder zum »Hintergrund« gehören. Die Menschen offenbaren sich im Gespräch, das am Anfang ganz und gar nicht ungewöhnlich ist, das nicht schon vom Erzähler als Regisseur gelenkt und auf ein Handlungskonzept oder eine ästhetische Einheit bezogen ist. Aus dem Alltäglichen geht auf ebenso begreifliche wie unvorhergesehene Weise das Nicht-Alltägliche hervor, das Verändernde und Veränderte. Aus dem Leben und Sprechen wie alle Tage, aus dem Tun und Reden wie alle Tage, wie mans eben tut, wenn man so ist, wie man ist, und da lebt, wo man lebt, entfaltet sidi unversehens ein Geschehen; aus undurchschaubarem, ebenso erklärlichem wie unerklärlichem Gewirr von Freiheit und Bestimmtsein ereignet sich, was ebenso die Sittlichkeit und Freiheit der Menschen herausfordert wie einwilligende Anerkennung er73
heischt, und was damit menschlich bedeutsam, exemplarisch wird. Erst in eingeschränktem Maß gilt das alles schon für »L'Adultera« und »Cécile«, und es gibt da, wie angedeutet, Reste, wenn man so will, nichtrealistischer Konzeption. Aber mit dem Gesagten ist die Tendenz, die Richtung bezeichnet, in der sich der Romancier Fontane weiterentwickeln wird und die in den ersten Gesellschaftsromanen als Ansatz bereits deutlich erkennbar ist. Melanie van der Straaten übrigens ist - unerachtet der Schwächen des Buchs - die erste jener unnachahmlichen Frauen in Fontanes poetischer Welt, die mit ebensoviel Labilität wie sich festigender Gefühlssicherheit Konfliktsituationen heraufbeschwören und entscheiden. Bezauberung und Beunruhigung, die von ihnen ausgehen, vor aller sittlichen Relevanz, Anschmiegsamkeit und Hingabe, Lebensdrang, das Vermögen der Unterscheidung zwischen wahrer Treue und Untreue, Tapferkeit zur unwiderruflichen Entscheidung, Süßigkeit und Herbe - alles das wird bei Fontane wohl zum ersten Mal - selbst und wie es ist - zur Begründung von Konflikten und Spannungen, ohne daß dies Weibliche zum forciert Weiblichen gesteigert würde, zum Heroinenhaften, zum Machtweiblichen, zum Chthonischen, zum Mütterlichen, zum Pathos des leidenden Weibs, oder idyllisiert zum Typus des guten Hausgeists, der trauten Lebensgefährtin, der wackeren Dienerin des Mannes - alles dies und nodi einiges mehr gibt es bekanntlich nicht nur in den schlechtesten Diditungen der Epodie. Im Manuskript zu »Cécile« steht ein bezeichnender Satz, den Gordon zu Cécile spricht und den Fontane in der Buchfassung fallengelassen hat: »Sie sind wie die Turgenjewsdien Frauen«. Turgenjew spielt überhaupt, ungeachtet der gravierenden Vorbehalte, die Fontane gegen seine Darstellungsweise hat, weil ihr jede »Verklärung« fehle, für die Erzählkunst Fontanes eine wirksame Rolle: »Ich bewundere die scharfe Beobachtung und das hohe Maß phrasenloser, alle Kinker74
litzchen verschmähender Kunst. «7Ä Diese Tugenden schwebten Fontane selbst als Ideal vor, und während er Turgenjew mehr denn ein Mal verurteilt als zu prosaisch, rechnet er ihn doch gerade in der Nüchternheit der Darstellung zu seinen »Meistern und Vorbildern«77 Der Realismus, den Fontane sich wünscht, jenseits aller »Kinkerlitzchen«, alles falsch Romanhaften, alles Ungewöhnlichen und Grenzfallhaften, gelingt ihm zum ersten Mal exemplarisch in »Irrungen Wirrungen«. Meisterwerk nennen Monographen oft dies Buch, allein der bombastische Ausdrude paßt nicht recht zu Fontane, es sei denn in dem Sinne, daß Fontane hier Meister dessen geworden ist, was er in seinen besten theoretischen Divinationen als künstlerisches Ziel vor Augen gehabt hat. Nicht mehr das Was der Handlung fasziniert zuerst, sondern das Wie der Darstellung. Walther Killy hat das in seiner Interpretation einleuchtend gezeigt.?8 Die Fabel wäre in jedem Familienzeitschrift-Roman zu finden, ja in jeder Kitschnovelle; die Art des Erzählens übersteigt weit dieses Niveau; die Knappheit, Verhaltenheit des Andeutens, die Souveränität, aus dem Gegebenen selbst, ohne viel Worte und direktes Aussprechen herauswachsen zu lassen, was der Dichter zum Faktischen hinzugibt. Hier wird das »Triviale« in der Tat »in seine ursprüngliche Schönheit« eingesetzt.79 Das Alltägliche wird das Besondere, es zeigt seine menschlichen Möglichkeiten und Grenzen. Nichts steigert sich zu tragischer Vehemenz und Gewalt, die Größe erzwingen, Schauder und Mitleid erregen könnten. Aus bescheidenem Maß, aus freundlichem Wünschen, aus Hoffen, Vertrauen, Illusion, Glücksverlangen, Gutsein entfaltet sich eine Geschichte, die kaum Aufhebens macht und machen könnte; ins bescheiden Alltägliche kehrt alles zurück; kein eklatanter Schluß, nicht eindrucksvolles Ende eines Romans. Still geht das Leben weiter - tapfere Resignation, Aufsichnehmen dessen, was das Schicksal nicht erläßt und vielleicht sogar nicht erlassen soll, wehmütig-williges Hergeben dessen, was es 75
nicht gewähren will und auch vielleicht nicht soll - so scheint die Ansicht, die der Erzähler behutsam und letzten Endes als offene Frage seiner Darstellung integriert. Die »Heldin« nicht nur vom Leben unversehens beglückt und dann widerwillig unters Joch gesellschaftlicher Zwangsvorstellungen gebeugt; frei vielmehr und klaren Blicks für das unausbleibliche Ende nimmt sie das Glück hin, das das Leben in einer freundlichen Stunde gewährt, und da es seine Gunst zurückzieht, unterwirft sie sich frei einer - wenn auch fragwürdigen - Ordnung. Sittliches Handeln im einen wie im anderen, nicht substanzlose Libertinage, unverantwortete Lebensgier und ebenso unverantwortete, würdelose Unterwerfung. Der »Held« ist wahrlich kein Held, aber ihm wird vom Erzähler nicht nur der massive und aktuelle Zwang von Stand und Familie zugute gehalten, sondern auch das Stüde gesellschaftlicher Abhängigkeit, das, aus langem Erbe erworben, in ihm selbst steckt und, indem es dem tyrannischen Anspruch von außen entgegenkommt, einen konsequenten Widerspruch gar nicht in den Bereich der Erwägung läßt. Auch in »Stine« nicht Konstruktion einer eindrucksvollen Geschichte, in die sich der bürgerliche Leser vor der Wirklichkeit flüchten kann. Auch hier eine Fabel, die für jeden Gartenlauberoman geeignet wäre: die arme Nähterin, die zudem die Schwindsucht hat, der rührende, seinem Herzen folgende Graf - das böse Ende: sie konnten zusammen nicht kommen, die gesellschaftlichen Vorurteile war'n viel zu tief - Selbstmord des Grafen; Beerdigung; die arme Nähterin holt sich den Tod dabei - alles comme il faut. Larmoyantes Mitleid, Herausforderung zur Empörung, zum Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit, die Tyrannei der Gesellschaft, Proklamierung der Rechte des Herzens - das läge hier nahe. Das Genrebild in Literatur, bildender Kunst, Buchillustration ist vertraut mit diesen Mitteln, sich gleichgesinnte Freunde zu machen, Tränen zu pressen oder die Volksseele zum Kochen zu bringen. Auch in Fontanes Buch gibt es Sentimentalität, aber
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nicht unvermittelt; sie hat, als ein Faktum in der Wirklichkeit, die Fontane gibt, ihre Funktion, wird nicht sanktioniert als echtes Gefühl, der Erzähler erlaubt sich keine illegitime natürliche oder künstliche Naivität. Wenn man ohne viel wissenschaftlichen Aufwand begreifen will, was Fontane über das hinaushebt, was der Handlungstypus der Geschichte nahelegen würde, muß man nur vergleichbare Bücher der Zeit lesen, etwa die erfolgreichen Romane Max Kretzers, die Fontane sehr wohl kannte und die keineswegs die schlechtesten ihrer Spezies sind: »Meister Timpe« der bekannteste, andere »Die beiden Genossen« oder »Die Betrogenen«. Das soziale Elend, die Rechtlosigkeit, Trostlosigkeit, die Misere in den unteren Bereichen einer brutalen, ausbeutenden Gesellschaft werden da mit aggressiver Kraßheit demonstriert. Die Gestalten Kretzers, als Charaktere weder individuell noch typisch überzeugend, sind aussichtslose Opfer des Milieus und sonst nichts. Die Zustände, die er darstellt, lassen sich nicht leugnen, sie sind wahr, nicht aber die Menschen oder allenfalls halb. Die - wenngleich einseitige - Leistung Kretzers unterschätzt Fontane nicht: » . . . selbst die Ungeheuerlichkeiten Max Kretzers habe ich nicht den Mut als schlechtweg unmöglich zu bezeichnen.« Indessen fügt er hinzu: »Aber auf die Frage: sind diese Schilderungen des Lebens ein Bild des Lebens von Berlin W , ein Bild unserer Bankiers-, Geheimrats- und Kunstkreise? muß ich mit einem allerentschiedensten >Nein< antworten. Ich kenne dies Leben seit vierzig Jahren, kenne es auch in der Neugestaltung, die das Jahr 70 und die Gründerepoche ihm gegeben hat, und finde, daß dies Leben ein anderes als das hier geschilderte ist. Es fehlt das Versöhnliche darin, das Milde, das Heitere, das Natürliche.«80 Nicht also Tatsachen beschönigen und rechtfertigen, die beides nicht verdienen, ist das Ziel, aber sehen, wo die Gesellschaftsordnung und die »Zustände« unter der Voraussetzung ihrer Übermacht einen Spielraum des Glücks und der Freiheit, 77
im anspruchsvollsten wie anspruchslosesten Sinn, gewähren, wo auf dem Felde des fatalen Konnexes von Ursache und Wirkung, von Herrschaft und Abhängigkeit doch auch sittliches Handeln, nicht bloß reines Reagieren, möglich ist. Der aufrichtige und unvoreingenommene Blick für das Ganze, der anspruchsvolle und teilnehmende Ernst, die Diskretion im doppelten Verstände von Unterscheidungsvermögen und verhüllender Zurückhaltung im Wort, die Heiterkeit, die das Leichte leicht sein läßt und auch das Allzumenschliche ohne Stirnrunzeln menschlich nehmen kann, ohne hinter allem die nur betrügerisch kaschierte Misere zu wittern, ohne jeden, der sidi seines Lebens freut, gewissermaßen vor sich selbst und vor den »Zuständen« zu warnen, die das eigentlich gar nicht erlauben, das Zugeständnis an die Sentimentalität der Leute, ohne selbst sentimental zu werden - das alles, wenn auch nicht nur das, setzt Fontane ab vom schlechten Durchschnitt der Literatur seiner Zeit. Dem baren Handlungsschema nach ist auch »Effi Briest« nicht eben originell; eine »Ehebruchsgeschichte wie hundert andere mehr« - so schreibt Fontane selbst an Spielhagen. Der Zusammenhang, in dem das steht, ist bemerkenswert: »Die ganze Geschichte ist eine Ehebruchsgeschichte wie hundert andere mehr und hätte, als mir Frau L. davon erzählte, weiter keinen großen Eindruck auf mich gemacht, wenn nicht . . . die Szene beziehungsweise die Worte: >Effi komm< darin vorgekommen wären. Das Auftauchen der Mädchen an den mit Wein überwachsenen Fenstern, die Rotköpfe, der Zuruf und dann das Niederducken und Verschwinden machten solchen Eindruck auf mich, daß aus dieser Szene die ganze lange Geschichte entstanden ist.«81 Das Funktionieren der Phantasie von einem übermittelten Bild, einem Bildchen aus zeigt, wie die poetische Anschauung den Beobachter Fontane einsetzt und in Dienst nimmt. Das im Einzelnen Gestaltete ist gewiß die Frucht einer genauen Beobachtung der gegenwärtigen Wirklichkeit, aber die Anordnung ist zugleich von poetischer 78
Phantasie gelenkt und von schöpferischer Konzeption. Das heißt nicht ästhetische Konstruktion, nicht Durchsetzen eines Romanschemas. Vielmehr ist der Fortgang ebenso von psychologischer, soziologischer Plausibilität bestimmt wie von poetischer Ordnung. Was Fontane da an Spielhagen schreibt, deutet aber auch auf ein irrationales Moment in der Konzeption des Romans. Das wird wirksames Ingrediens der Realität und der Ereignisse, ein Motor für das Tun der Menschen. Aber schon im Verhältnis des Autors zu seiner Heldin spielen Irrationales und Gefühl eine bestimmende Rolle. Im Ton der Darbietung und in gelegentlich unmittelbar anteilnehmendem Wort ergreift der Dichter Partei für sie, bringt ihr liebendes Verständnis entgegen, ohne doch irgendjemand in dem Spiel zu verurteilen. Denn dieses Spiel hat tragische Züge: Die ausweglose Situation, das Miteinander von Schuld und Schuldlosigkeit. Die Situation ist einfach - nicht leicht - aus der Perspektive Effis, aus der Einfachheit ihrer Seele. Sie ist kompliziert aus der Sicht des das Ganze überschauenden Erzählers und des mit seinen Augen sehenden Lesers. Schicksal formt sich aus vielfältigen Bedingtheiten und Voraussetzungen: aus notwendigen und zufälligen, allgemein menschlichen und individuellen, natürlichen und geistigen und seelischen. Was sich mit fataler Notwendigkeit ereignen zu müssen scheint, ist doch audi verflochten mit persönlicher Schuld, deren moralisches Maß sich schwer ermessen läßt. Freiheit zu Unterlassung und Handeln ist im Einzelnen und Ganzen kaum festzulegen. Zwang der Gesellschaft, des Milieus, der Konstellation des Augenblicks und unerlaßbare Verantwortung der persönlichen Entscheidung sind unauflösbar miteinander verknüpft. Alles überzogen von der Melancholie dieser Unentwirrbarkeit, des Waltens von Mächten in Wollen, Tun, Erleiden, des Widersinnes in allem Planen und Räsonnieren, der Undurchschaubarkeit in allem scheinbar so verstehbar kausal Ablaufenden, des Scheiterns der Glückssuche, des ungestillten Liebesverlan79
gens. Trauer und Resignation im weiterschreitenden, vergehenden Leben. Man hat von der Kreisförmigkeit der Komposition dieses Romans wie auch anderer Erzählungen Fontanes gesprochen: Mit dem schlichten, ereignislosen Leben in Hohen-Cremmen beginnt die Erzählung, im stillen, ereignislosen Leben in Hohen-Cremmen endet sie. Das Schicksal ruft die »Heldin« heraus aus Einfachheit und Kindlichkeit, und es entläßt sie wieder; Stille des Verwehens, ruhiges Warten, Bescheidung, Milde, Vergebung - das ist, was bleibt, Anerkennen des Geschehenen, des Gegebenen, nicht Erklären, Verstehen, Aufdröseln. Streng bleibt Fontane hier beim zentralen Geschehen; keiner allzu fabulierfreudigen Abschweifung gibt er sich hin. Jede Szene, jedes Gespräch hat klare Funktion im Ganzen der Komposition. Von überzeugender Geschlossenheit sind die Charaktere, aus ihnen entfaltet sich die Handlung. Sie stehen nicht wie bei den Anfängen des Erzählers Fontane im Dienste der Fabel oder eines Problems. Wo räsonniert und reflektiert wird in »Effi Briest«, ist es nicht künstlich aufgesetzt, nicht verkapptes Reden des Autors, sondern ergibt sich zwanglos aus der Situation und ist der Art der Personen angemessen, die sprechen. Von der Verwandtschaft zwischen »Effi Briest« und »Madame Bovary« war früher die Rede. Ob Fontane Flauberts Roman wirklich gelesen hat, ist nicht allzu wichtig. Am Ähnlichen beider Bücher wird indessen das Besondere und Andere des Fontaneschen Werks deutlich. Von Flauberts »Impassibilité« ist Fontane hier weit entfernt. Die Darstellung großer, vernichtender Leidenschaft, die gnadenlose Analyse und Kritik sind seine Sache nicht. Flaubert ist der konsequentere Naturalist, der ungemildert die Herrschaft des Kausalen, der Dinge und Verhältnisse mit naturwissenschaftlicher Nüchternheit, Unbeteiligtheit, ja Kälte zeigt, den romantischen Lebenswahn seiner Heldin dabei entlarvt und unbarmherzig kritisiert. Fontane läßt durchaus eine liebende, verstehende 80
Beteiligung des Erzählers zu. Alle Dimensionen sind kleiner bei ihm. Nicht zu dämonischer, zerstörerischer Ungeheuerlichkeit wädist sich aus, was die Menschen wollen und was sie treibt. Das Geflecht des Vernichtenden, in das Fontanes geliebtes Sorgenkind gerät, ist anders, vielleicht kann man sagen: komplizierter. Es knüpft sich aus Tatsachen, die im Einzelnen harmlos erscheinen, im Zusammenwirken jedoch den Ereignissen einen Anflug des Tragischen zu geben vermögen. Von der Ferne und Objektivität, von dem maßlosen Schmerz einer ganz ins Moderne übersetzten Tragödie in Flauberts Geschichte ist bei Fontane gleichwohl wenig zu finden. Er bleibt bei seinen Geschöpfen, bei seiner armen Heldin mit einfühlender Beteiligung, welche die erschaudernde Fassungslosigkeit aufhebt. An Stelle von Entsetzen und Schauder waltet eher resignierte Trauer, an Stelle der heillosen, nicht überschreitbaren Distanz zum Geschehen mitleidende Nähe, an Stelle höllischer Kausalitäten ein kompliziertes Gefüge aus Kausalität und sittlich bewertbarem Handeln. Gewiß gibt es auch in Flauberts Welt sittlich bestimmte Tat, aber das Sittliche hat als solches kaum Relevanz in diesem Gefüge von auswegloser Besessenheit und von Ursachen und Folgen, in diesem Getriebe seelischer und leiblicher Ausgeliefertheit. Selbst Verzeihen und Güte richten nichts aus, wo der Begriff des Jammers, des ελεος, näher liegt als der des Mitleids. Bei Fontane gibt es das schließlich noch: Verzeihen und Güte. Die Kausalität ist nicht aufgehoben. Aber ihr ist entgegengesetzt eine letzte Freiheit der Güte und eine milde Resignation, in der Schrecken und Schmerz gestillt werden; nicht verharmlost nur - vielleicht auch das - , sondern geduldet und von Einsicht geläutert. »Effi Briest« ist in Fontanes Werk das letzte Buch einer straffen Komposition. Die beiden Romane, die noch folgen, kehren zu einem lockeren Aufbau zurück. Das ist nicht Untugend und Schwäche des Alters, wie man gemeint hat, sondern bewußter und wohlbegründeter Entschluß. 81
»Die Poggenpuhls«: eine Art Charakterstudie mit locker aneinandergereihten Szenen, Bildern, Gesprächen; soziologische Studie eines Aspekts in den Wandlungen und dem Abstieg des Adels. Die Stellung des Adels in einer umwälzenden Zeit, die Frage nach der Berechtigung des Alten, des Bestehenden und des Neuen, des Rechts und der Möglichkeit tatkräftiger Änderung der Verhältnisse, das Problem der menschlichen Einschätzung der Einzelnen eines Standes, der als Ganzes politisch und sozial höchst fragwürdig ist, bestimmt auch den großen Altersroman »Der Stechlin«, den Walter Müller-Seidel ausgezeichnet interpretiert hat.82 Wieder ist das Ubergreifend-Zeitgeschichtliche gebunden an den engen Bereich eines einzelnen Falles, das Zeitbild ist »eingebettet« in das »Gesellschaftlich-Familienhafte, Individuelle und MoralischPsychologische«. Stechlin, der See, der nach der Sage von großen Weltereignissen auf seltsame Weise bewegt wird, auf dem der rote Hahn erscheint, die Revolutionen ankündigend, stellt symbolisch dieses Verhältnis vor: Im Spiegel des Begrenzten und Individuellen erscheint das allgemein Gesellschaftliche, im Individuellen und im Gesellschaftlichen das allgemein Menschliche. Der offenen geschichtlich-gesellschaftlichen Situation, um die und gerade um deren Offenheit es geht, entspricht die offene Form, die kaum von einer Handlung oder einer einheitlichen Idee zusammengehalten wird. Geschlossene Form - soweit dieser Begriff auf den Roman Fontanes angewandt werden kann - mit einer geschlossenen, zielgerichteten Handlung würde schon im Prinzip der Grundaussage des Buches widersprechen. Davon nodi später. Nicht also ein als solches wesentliches Geschehen und Handeln wird aus verschiedenen Perspektiven in seiner Relativität gezeigt, sondern ein Zustand in seiner Breite, eine Gesellschaft in ihrer Mannigfaltigkeit und in ihren wechselnden Erscheinungen und Facettierungen wird eben in gegenwärtiger und zeitlich sich wandelnder Bedingtheit vorgestellt. Dies erheischt ein 82
episodisch wechselndes Gefüge, ein Nebeneinander und Nacheinander wechselnder und nuancierter Aspekte, das eine feste Form einfach von vornherein ausschließt. Das Hauptmittel für die Verwirklichung der Absicht des Romans ist - wie schon früher, so hier mit neuer Funktion das Gespräch, der Dialog, in dem dialektisch und oft aphoristisch Meinung gegen Meinung, Ansicht gegen Ansicht gesetzt wird, in dem nichts endgültig formuliert ist und in dem vom Wesen dieser Form her in der Spielart bei Fontane alles offen bleibt als erwägenswerte, mögliche Betrachtung der Dinge. Das Andere, Gegensätzliche, Sichwandelnde, Neue wird solchermaßen eingelassen, ja im Bewußtsein der Sprechenden ermöglicht. Die Perspektive des Adels herrscht indessen vor; Wirklichkeit und Probleme der anderen Stände sind aus der Sicht dieses einen anvisiert; allenfalls noch der Geistlichkeit, aber die Kirchenmänner haben sich da angepaßt. So ist das Thema denn doch eingeschränkt auf die Aspekte eines niedergehenden Standes, auf die Erfahrung einer sich ändernden Zeit aus dem Lebensgefühl des Endes, des Abschieds, des Vergehens. Die Berechtigung des Neuen wird geprüft aus dem Blickwinkel der Vertreter des Alten; die Evolution und Revolution aus der Sicht der Konservativen, die sich in Frage stellen und zugleich erwägen, was vom Alten, das einmal einen aktiven gesellschaftlich-politischen Wert gehabt hat, des Bewahrens würdig sei. Nur das hat Recht, erhalten zu werden, was sich vom Bedingten des Standes und der gesellschaftlichen Lage löst und als Adel im allgemein-menschlichen Sinne einer Epoche vererbbar bleibt, die in der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit nicht mehr Ära des Adels sein wird. Fontane hat in diesem Roman mehr als in irgendeinem seiner anderen das Streben nach Objektivität im landläufigen Sinn aufgegeben. Das lehrt schon ein Blick auf Pläne und Entstehungsgeschichte, der Wandel von der Konzeption eines Entwicklungsromans bis zu dieser endgültigen Form.
Allerlei Glück - Allerlei Moral
Die kurze Revue der Erzählungen läßt einige Aspekte ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit hervortreten, auf die es hier ankommt und die Gegenstand von Fontanes besonderem Engagement sind: die »historische« Einzelheit, das Einzelne - »historisch« nicht nur im Sinne des Vergangenen - , ihre Bedeutung, ihr Gewicht; die Macht der Gesellschaft und ihre Legitimität; Gebundenheit und Freiheit ihrer Glieder; Bewahren und Fortschritt; Maßstäbe der Sittlichkeit und des Glücks. Das alles sind nicht getrennte Bereiche, vielmehr verschiedene Seiten des gleichen Grundproblems - wenn immer man es unzulänglich Problem nennen will: nämlich des »Realismus«, wie Fontane ihn versteht. Daß die Wirklichkeit in seinen Romanen durch und durch gesellschaftlich bestimmt ist, habe ich früher gesagt. Fontane begnügt sich nicht damit, diese Tatsache auf der Grundlage eines mehr oder weniger einfachen Modells vorzustellen. Er spezifiziert genau und sucht den Spalt der Freiheit und die Möglichkeit und die Norm eines sittlichen Handelns in einem Realitätsgefüge, das er konkreter und dichter in Verhältnissen und Sachen festgelegt sieht als die poetisch-realistischen Zeitgenossen. Ideale gegen die Wirklichkeit zu setzen, Ideale etwa, die im Versuch der Verwirklichung tragisch ihren idealen Charakter verlieren müssen, Ideale, die, höheren Orts zu Hause, im Scheitern dessen beglaubigt werden, der sich ihnen verschreibt, sich zu ihnen aufschwingt oder sie herabholt, das ist nicht mehr Fontanes Impetus. Bei ihm artikulie84
ren sich Sittlichkeit und Glüdk in unmittelbarem und weniger dualistischem Kontakt mit der alltäglichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. »Sieh nach den Sternen! Gib acht auf die Gassen !«8* - dieses Raabesche Motto, das für die meisten Restidealisten der Epoche brauchbar ist, will für Fontano kaum passen. In den »Gassen«, in der gesellschaftlichen Realität oder nirgendwo entscheidet sich, was menschlich, sittlich, recht ist, nicht von den »Sternen« her, von Ideen oder unanfechtbaren Normen, nicht im Einkehren in lautere Gefilde der Innerlichkeit. Wieweit also reicht nun die Macht der allgegenwärtigen Gesellschaft, welcher Art ist sie, welches Recht gibt ihr Fontane, was haben die Glieder ihr entgegenzusetzen - falls sie nicht nur ihre Opfer, ihre Funktionen sind, Jasager oder Neinsager nur als ihre Exponenten im geschichtlichen Ablauf? Von der Antwort hängt mehr ab, als die soeben ausgesprochenen Fragen unmittelbar wissen wollen. Die Herrschaft der Gesellschaft beginnt mit dem kodifizierten Redit, das die Forderung auf Leistung oder Unterlassung klar und kasuistisch formuliert. Als Erweiterung und Übertragung des Geschriebenen, dann als ungeschriebene Konvention und Gewohnheit mischt sie sich in alle Lebensbereiche des Alltags, kümmert sich um Wohnung und Kleidung, um Manieren, Sitte und Moral, Bildung und Wissen, Umgang, Freundschaft, Heirat, Meinung und Glauben, Aberglauben und Religion. Und das mit unnachgiebiger Tyrannei. »Die Gesellschaft ist souverän. Was sie gelten läßt, gilt, was sie verwirft, ist verwerflich« - das scheint nicht nur in der Welt des Romans »Schach von Wuthenow«8« so zu sein, in dem das gesprochen wird. Wer den umfassenden Kontrollanspruch der Gesellschaft mißachtet, setzt sich der Mißbilligung, der Lächerlichkeit, dem >Ridikül< aus, wie die böse gesellschaftliche Form von Lächerlichkeit heißt, der Verachtung; ja die Gesell«J
Schaft verstößt den, der gegen sie hartnäckig auf eigenem Willen beharrt in Fragen, die sie wichtig nimmt. Niemand in Fontanes Werk ist von dieser Despotie der Gesellschaft ganz frei, weder äußerlich noch innerlich; auch nicht die Outcasts und Käuze, die ja nur vergleichsweise diesen Namen verdienen. Selbst den altersweisen Dubslav von Stechlin, selbst diesen freien Mann beschleichen »Minderwertigkeitskomplexe«, wo es ums Renommee des Hauses geht: »Und überall haben sie Besitzungen,« so räsoniert er an den Diener hin, als die gräflich Barbysche Familie zum Besuch angekündigt ist, »und Stechlin ist doch bloß 'ne Kate. Sieh, Engelke, das is genierlich und gibt das, was ich >gemischte Gefühle< nenne . . . Und dann müssen wir doch auch repräsentieren. Ich muß ihnen doch irgendeinen Menschen vorsetzen . . . Da hab ich Adelheiden . . . sie wird auch kommen, trotzdem Schnee gefallen ist; aber sie kann ja 'nen Schlitten nehmen. Vielleicht ist ihr Schlitten besser als ihr Wagen. Gott, wenn ich an das Verdeck denke mit der großen Lederflicke, da wird mir auch nicht besser . . .«8J Im Harmlosen und weniger Harmlosen scheint Fontane prinzipiell in seiner poetischen Welt zu demonstrieren: »Unsere Zustände sind ein historisch Gewordenes, die wir als solche zu respektieren haben «8á, selbst wenn diese historisch gewordene Ordnung wie »die von alter Zeit her übernommene Maschine« ist, »deren Räderwerk tot weiterklappert . . »>Die Sitte gilt und muß gelten.< Aber daß sie's muß, ist mitunter hart. Und weil es so ist, wie es ist, ist es am besten: man bleibt davon und rührt nicht dran. Wer dies Stück Erb- und Lebensweisheit mißachtet - von Moral spreche ich nicht gern - der hat einen Knacks für's Leben weg . . .«8S Diese Lehre - und warum soll man nicht so nennen, was eine ist - zieht sich durch das ganze Opus, und sie hat sich kaum geändert. Sie ist Fontane so wichtig, daß er, abgesehen davon, was seine Geschichten durch ihren Verlauf und Ausgang bezeugen, oft einen Sprecher sucht und findet, der sie 86
unmittelbar und theoretisch verkündet. Manchmal sind das diejenigen, die ihre Geltung am eigenen Schicksal erfahren. »Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an,« so argumentiert Innstetten in »Effi Briest«, »und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm . . . Man braucht nicht glücklich zu sein, am allerwenigsten hat man einen Anspruch darauf, und den, der einem das Glück genommen hat, den braucht man nicht notwendig aus der Welt zu schaffen. Man kann ihn, wenn man weitabgewandt weiter existieren will, auch laufen lassen. Aber im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas ausgebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen, geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf. Verzeihen Sie, daß idi Ihnen solche Vorlesung halte, die schließlich doch nur sagt, was sich jeder selber hundertmal gesagt hat. Aber freilich, wer kann was Neues sagen! Also noch einmal, nichts von Haß oder dergleichen, und um eines Glückes willen, das mir genommen wurde, mag ich nicht Blut an den Händen haben; aber jenes, wenn Sie wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl. Ich muß.«8? Dieses Gesellschafts-Etwas, das hier in der Form eines standesgebundenen Ehrbegriffs regiert, aktualisiert sich nicht erst im Ganzen einer Klasse oder Gruppe, sondern ist mit voller Wirksamkeit zugegen in jedem, der dazu gehört. So hilft es nichts, daß der vertrauliche Gesprächspartner Willersdorf beschwichtigt: »es ruht alles in mir wie in einem Grabe«. Innstetten kennt den tückischen Mechanismus der EhrenDespotie besser: »Und wenn Sie's wahr machen und gegen andere die Verschwiegenheit selber sind, so wissen Sie es, und es rettet mich nicht vor Ihnen, daß Sie mir eben Ihre »7
Zustimmung ausgedrückt und mir sogar gesagt haben: idi kann Ihnen in allem folgen. Ich bin, und dabei bleibt es, von diesem Augenblick an ein Gegenstand Ihrer Teilnahme schon nicht etwas sehr Angenehmes - und jedes Wort, das Sie mich mit meiner Frau wechseln hören, unterliegt Ihrer Kontrolle, Sie mögen wollen oder nicht . . . « Den Argumenten des Freundes kann sich der besonnene Willersdorf nidit verschließen: »Ich finde es furchtbar, daß Sie redit haben, aber Sie haben recht. Ich quäle Sie nicht länger mit meinem >muß es seinGottesgerichtUnd dann ein kleines Vorsprechen bei Huth, Potsdamer Straße, die kleine Holztreppe vorsichtig hinauf. Unten ist ein Blumenladens >Und das freut Sie? Das genügt Ihnen?< >Das will ich nicht gerade sagen. Aber es hilft ein bißdien. Idi finde da verschiedene Stammgäste, Frühschoppler, deren Namen ich klüglich verschweige. Der eine erzählt dann vom Herzog von Ratibor, der andere vom Fürstbischof Kopp und der dritte wohl gar von Bismarck. Ein bißchen fällt immer ab. Dreiviertel stimmt nicht, aber wenn es nur witzig ist, krittelt man nicht lange dran herum und hört dankbar zu.wem viel gegeben wurde, von dem wird viel geforderte Darin liegt es. Karl erwidert. Es giebt aber doch ein Sittengesetz und ganz bestimmte Gebote. Und sie zu befolgen, wird sich immer empfehlen. Auch dann noch wenn wir sie hart finden, oder ihren Nutzen nicht einsehn. Man schläft am besten auf dem Kissen, das einem die Gewohnheit [darüber steht im Manuskript: das Herkommen] und die Gutheißung stopft. Ich werde niemandem den Rath der Auflehnung dagegen ertheilen. Aber wenn er sich, ohne mich zu fragen, bereits aufgelehnt hat, wenn mir seine Auflehnung als ein fait accompli entgegengebracht wird, so meß ich den Fall nicht mehr mit der allgemeinen Conventions-Elle aus, nicht mehr mit dem Herkömmlichen, Bequemen, Landläufigen, sondern sehe mir den Fall an und beurtheile ihn nun mit der mir persönlich ins Herz geschriebnen Moral und nicht mit der öffentlichen. 92
Aber nach dem was Du vorausgeschickt und angerathen hast, möcht idi annehmen, daß sich Deine Moral und die öffentliche decken werden. O, nein, keineswegs. Ich handle nach der öffentlichen Moral, weil ich nicht Lust habe, mich in unbequeme Kämpfe einzulassen, aber ich urtheile nicht danach, wenn andre es für gut befunden haben, die gewöhnliche Vorstellung von Sitte etc. zu durchbrechen. Es geschehen tagtäglich hunderte und tausende von Dingen, die . . . nach meinem Ermessen ganz gewiß nicht zu loben und zu preisen, aber ebensowenig als eigentlichste Verstöße gegen ein höheres Sittengesetz anzusehen sind. Die katholische Kirche unterscheidet tödtliche und >lässige Sündenzuzulassenerlassen< sind. So stehe ich auch zu der Sündenfrage, zu der Frage der Verstöße gegen die Moral. Es giebt auch hier tödtliche und >lässige Sündenlässige Sündelässige SündeIch tat nur, was ich mußte< willfährig auf sich nimmt...«" Anläßlich einer Besprechung von Rudolf Lindaus Erzählung »Der Gast«, einem Machwerk - nebenbei - , das sich kein Merkmal einer Kitsch-Novelle entgehen läßt, formuliert Fontane, ein paar Jahre, nachdem er die Arbeiten an »Allerlei Glück« liegengelassen hatte, seinen Standpunkt noch einmal. Seinen Standpunkt; denn was er da zusammenfaßt, ist 9Î
Fontane und kaum Lindau: »Der Grundgedanke ist: das einzige Sittengesetz ist das Gewissen. Unser Gewissen spricht uns frei oder verurteilt uns; das äußere Urteil, das Urteil der Welt hat neben unserem eigenen innern Urteil keine Bedeutung. A n ihm hängt Glück oder Unglück, Erhebung oder Vernichtung. Die Gesellschaft darf sich freilich auf diesen Standpunkt nicht stellen, sie bedarf eines an Tatsachen, Herkommen und Formen sidi haltenden objektiven Urteils, auch auf die Gefahr hin, daß dies Urteil sich irrt, das Individuum dagegen hat ein Redit (unter Umständen auch die Pflicht), sich außerhalb dieses Urteils zu stellen. Es hat ein Recht, sich freizusprechen, wo die Gesellschaft verwirft, und es hat die Pflicht, sich zu verurteilen, wo die Gesellschaft freigesprochen hat. Es gibt keinen andern Richter als das Gewissen. So gewiß die Gesellschaft das Recht hat, diesen Ich-Standpunkt zu korrigieren, so gewiß hat das Ich ein Redit, den Gesellschaftsstandpunkt zu korrigieren. Das Ideal wäre, daß das Individuum in jedem Einzelfalle sagte: >Ja, Gesellsdiaft, als du mich verurteiltest, tatest du recht< oder noch besser, daß das Individuum sagte: >Hier, Gesellschaft, ist meine Schuld; bestrafe mich.< Bekanntlich kommt beides (Gott sei Dank) häufig vor; ersteres sehr oft, letzteres wenigstens nicht selten.«100 Fontane konstruiert kein einfaches Schema von Sittengesetz, Regel, gesellschaftlicher Übereinkunft auf der einen, Freiheit der Gewissensentscheidung auf der anderen Seite, Gesetzes- und Konventionsmoral hier, Herzens- und Gefühlsmoral dort, um die eine gegen die andere auszuspielen. Er differenziert genau. Herzens- und Gefühlsmoral sind Sache einer nur für den besonderen Fall und für das besondere Individuum geltenden Entscheidung und der verstehenden Beurteilung eines »fait accompli« solcher Entscheidung. Ihre Kriterien können nicht zum Maßstab der Gesetzes- und Konventionsmoral werden, und die beiden Bereiche will Fontane nidit vermischen. Die freie Entscheidung außerhalb der 96
Ordnung und gegen sie kann sich nicht gewissermaßen als anerkannte Institution etablieren, sie kann nur die Regeln für sich in Anspruch nehmen, die im Raum außerhalb der Legalität und an der Stelle gelten, an die das Individuum sich mit seiner eigenwilligen Entscheidung versetzt hat. £s kann nicht Billigung und Ratifizierung, allenfalls Tolerierung erwarten. Holk in »Unwiederbringlich« hat das nicht begriffen. Nachdem er der philinischen Ebba ins Liebesnetz geraten ist, sich von seiner Frau trennt und bei Ebba auf Heirat dringt, muß er sich eine allzu richtige Lektion erteilen lassen eben von ihr, die ihn ins Garn gelockt und verwirrt hat und die zwar keine moralische Festung und nicht eben warmherzig, aber klug ist und das Leben kennt: »>Sie wollen Hofmann und Lebemann sein und sind weder das eine noch das andre. Sie sind ein Halber und versündigen sich nach beiden Seiten hin gegen das Einmaleins, das nun mal jede Sache hat und nun gar die Sache, die uns hier beschäftigt. Wie kann man sich einer Dame gegenüber auf Worte berufen, die die Dame töricht oder vielleicht auch liebenswürdig genug war, in einer unbewachten Stunde zu sprechen? Es fehlt nur noch, daß Sie sich auf Geschehnisse berufen, und der Kavalier ist fertig. Unterbrechen Sie mich nicht, Sie müssen noch Schlimmeres hören. Allmutter Natur hat Ihnen, wenn man von der Beständigkeit absieht, das Material zu einem guten Ehemann gegeben, und dabei mußten Sie bleiben. Auf dem Nachbargebiete sind Sie fremd und verfallen aus Fehler in Fehler. In der Liebe regiert der Augenblick, und man durchlebt ihn und freut sich seiner, aber wer den Augenblick verewigen oder gar Rechte daraus herleiten will, Rechte, die, wenn anerkannt, alle besseren, alle wirklichen Rechte, mit einem Wort die eigentlichen Legitimitäten auf den Kopf stellen würden, wer das tut und im selben Augenblicke, wo sein Partner klug genug ist, sich zu besinnen, feierlich auf seinem Scheine besteht, als ob es ein Trauschein wäre, der ist kein Held der Liebe, der ist bloß ihr Don Quichote.< Holk sprang auf. >Ich 97
weiß nun genug; also alles nur Spiel, alles nur Farce.< >Nein, lieber Holk, nur dann, wenn Ihre deplacierte Feierlichkeit das, was leicht war, schwer genommen haben sollte, was Gott verhüten wolleAbkommen< die Sache anderweitig regelt. Der freie Mensdi aber, der sich nadi dieser Seite hin zu nichts verpflichtet hat, kann tun, was er will und muß die sogenannten matürlichen KonsequenzenJotten bißchen anders is es immer. Un sie war auch bloß von Neu-Cölln ans Wasser, un die Singuhr immer jrade gegenüber. Aber die war nidi Sdiuld mit >Ub' immer Treu' und Redlichkeit.< >Ach, meine gute Christel, Treu' und Redlichkeit! Danach drängt es jeden, jeden, der nicht ganz schlecht ist. Aber weißt du, man kann auch treu sein, wenn man untreu ist. Treuer als in der Treue.< « 109 Van der Straaten begreift auf seine Weise und mutatis mutandis ebensowenig wie Holk in »Unwiederbringlich« die 102
wahren Gewichte der Verhältnisse. W o Holk aus seiner starrseriösen Natur ernst und endgültig genommen haben will, was flüchtig und episodisch ist, will van der Straaten aus seiner zwar gütigen aber trivial-unseriösen Natur leicht und episodisch genommen haben, was ernst und endgültig ist und sein muß: »>Und ich sage dir, es geht vorüber, Lanni. Glaube mir; ich kenne die Frauen. Ihr könnt das Einerlei nicht ertragen, auch nicht das Einerlei des Glücks. Und am verhaßtesten ist euch das eigentliche, das höchste Glück, das Ruhe bedeutet. Ihr seid auf die Unruhe gestellt. Ein bißdien schlechtes Gewissen habt ihr lieber, als ein gutes, das nicht prickelt, und unter allen Sprichwörtern ist euch das vom >besten Ruhekissen am langweiligsten und am lächerlichsten. Ihr wollt gar nicht ruhen. Es soll euch immer was kribbeln und zwicken, und ihr habt den überspannt sinnlichen oder meinetwegen auch den heroischen Zug, daß ihr dem Schmerz die süße Seite abzugewinnen wißt.< >Es ist möglich, daß du recht hast, Ezel. Aber je mehr du recht hast, je mehr rechtfertigst du mich und mein Vorhaben. Ist es wirklich, wie du sagst, so wären wir geborene Hazardeurs, und Va banque spielen so recht eigentlich unsere Natur. Und natürlich auch die meinige.Denn so du's nicht übel nimmst, ich liebe dich und will dich behalten. Bleib. Es soll nichts sein. Soll nicht. Aber bleibeDu meinst es gut, EzelAber es kann nicht sein. Es hat eben alles seine natürliche Konsequenz, und die, die hier spricht, die scheidet uns. Ich weiß wohl, daß auch anderes geschieht, jeden Tag, und es ist noch keine halbe Stunde, daß mir Christel davon vorgeplaudert hat. Aber einem jeden ist das Gesetz ins Herz geschrieben, und danach fühl ich, ich muß fort. Du liebst mich, und deshalb willst du darüber hinsehen. Aber du darfst es nicht und du kannst es auch nicht. Denn du bist nicht 103
jede Stunde derselbe, keiner von uns. Und keiner kann vergessen. Erinnerungen aber sind mächtig, und Fleck ist Fleck, und Schuld ist Schuld.Alles ist eitel Selbstgerechtigkeit. Und ich weiß auch, es wäre besser und selbstsuchtsloser, ich bezwänge mich und bliebe, freilich immer vorausgesetzt, ich könnte mit einer Einkehr bei mir selbst beginnen. Mit Einkehr und Reue. Aber das kann ich nicht. Idi habe nur ein ganz äußerliches Schuldbewußtsein, und wo mein Kopf sich unterwirft, da protestiert mein Herz. Ich nenn es selber ein störrisches Herz, und ich versuche keine Rechtfertigung. Aber es wird nicht anders durch mein Schelten und Schmähen. Und sieh, so hilft mir denn eines nur und reißt mich eines nur aus mir heraus: ein ganz neues Leben und in dem das, was das erste vermissen ließ: Treue. Laß mich gehen. Ich will nichts beschönigen, aber das laß mich sagen: Es trifft sich gut, daß das Gesetz, das uns scheidet, und mein eignes selbstisches Verlangen zusammenfallen . . . Es soll Ordnung in mein Leben kommen, Ordnung und Einheit . . .Arbeit und täglich Brot und Ordnung. Wenn unsre märkischen Leute sich verheiraten, so reden sie nicht von Leidenschaft und Liebe, sie sagen nur: >Ich muß doch meine Ordnung habenOrdnung