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German Pages 274 Year 2016
Ingrid Hentschel Theater zwischen Ich und Welt
Theater | Band 83
Ingrid Hentschel ist Professorin für Theater, Spiel und Kultur an der Fachhochschule Bielefeld. Mit ihren zahlreichen Forschungsprojekten und Veröffentlichungen zu den Entwicklungen des Gegenwartstheaters sowie zur Theorie und Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters hat sie maßgeblich sowohl zum Selbstverständnis als auch zur Reflexion der Theaterkunst beigetragen.
Ingrid Hentschel
Theater zwischen Ich und Welt Beiträge zur Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters. Theorien – Praxis – Geschichte
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Inhalt
Einleitung | 7
T HEATER FÜR K INDER Jeder sein eigener Kolumbus. Phantasie und Realität im Kindertheater | 15 Kinderspiel – Theaterspiel. Gibt es eine eigene Ästhetik des Kindertheaters? | 25 10 Thesen für eine Ästhetik des Spiels | 33 Über Grenzverwischungen und ihre Folgen. Hat das Kindertheater als Spezialtheater noch Zukunft? | 41 Vom Hoffnungsträger zum Problemfall. Kindheitsbilder im Theater für Kinder | 59 J UGENDTHEATER Jugendtheater im Gespräch: Theater und Politik ...den Menschen an sich selbst zu erinnern | 83 Jugendtheater im Kontext der Generationen | 9 3 Aber was ist schon realistisch?! Plädoyer für ein erwachsenes Jugendtheater | 117 N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN Spielen oder Gespielt werden. Über den Umgang mit einer Herausforderung | 133 Was ist wirklich im Theater? Simulation und Spiel – Theater und virtuelle Welten | 145 Theater in der E-Welt oder der Kampf um die Wirklichkeit | 1 61
T HEATER – S PIELEN UND Z USCHAUEN Ereignis und Erfahrung. Theaterpädagogik zwischen Vermittlung und künstlerischer Arbeit | 183 Sinn und Sinnlichkeit. Dimensionen eines Lernorts Theater | 207 „Der Gegensatz von Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit!“ Spielverlust und Deep Play. Über performative Paradigmenwechsel im Theater der Gegenwart | 231 Zwischen Ich und Welt. Zeigen und Verbergen im Theater von und mit Jugendlichen | 253 Drucknachweise | 269
Einleitung
Das Titelbild dieses Buches zeigt eine Szene aus Boris Charmatz’ Tanzperformance Enfant: Kinder, die über Erwachsene triumphieren. Sie tun dies nicht wie in den Stücken des Grips-Theaters der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, mit List und Argumenten, sondern mit ihrer körperlichen Vitalität. Es hat sich viel getan im Verhältnis von Kindern und Erwachsenen in der Zeitspanne, die die Beiträge des vorliegenden Buches umfassen: In der Wirklichkeit und auf den Bühnen. Kinder genießen inzwischen mehr Aufmerksamkeit als noch im vorherigen Jahrhundert: Es gibt von ihnen immer weniger, ihr Leben spielt sich nicht mehr so häufig auf Straßen und Plätzen, sondern eher in geschlossenen Räumen und virtuellen Welten ab. Digitale Medien und soziale Netzwerke lassen Innen- und Außenräume zusammen rücken, bringen andere Menschen und Kontinente in die Kinderzimmer und Wohnungen. Kindheit wird von zahlreichen Experten begleitet, Kinder sind Gegenstand von Forschungsprogrammen und von speziellen Angeboten, und: Kinder haben mehr Rechte als noch zu Beginn der Hochzeit des Kinder- und Jugendtheaters. Beide, Kinder und Erwachsene sind einander näher gerückt: Ihr Verhältnis ist egalitärer geworden. Als Mediennutzer und Nutzerinnen und als Konsumenten sind sie marktförmigen Strategien ausgesetzt und den beständigen Anforderungen der Leistungsgesellschaft nach Optimierung und Perfektionierung ihrer Fähigkeiten und ihrer selbst. Die Grenzen zwischen den Generationen sind ins Schwimmen geraten wie die zwischen Bild und Wirklichkeit, Selbst- und Weltwahrnehmung. In Theaterinszenierungen treten – wie in Enfant – Erwachsene und Kinder gemeinsam auf der Bühne auf, professionelle Schauspieler und Laien spielen und agieren
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miteinander, Zuschauer werden zu Akteuren, und Erwachsene manchmal zu Adressaten von Aufführungen, die von Kindern bestritten werden.1 Hat das herkömmliche Theater für Kinder und Jugendliche, verantwortet und gespielt von Erwachsenen und professionellen Schauspielern tatsächlich ausgedient, wie manche behaupten? Ein Blick in die Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters, in seine theoretischen und gesellschaftlichen Bezugsfelder, in die Debatten, von denen die Veränderungsprozesse begleitet und manchmal auch initiiert wurden, kann den Blick schärfen für die gegenwärtige Positionierung der Theaterkunst für und mit jungen Menschen. Dazu möchte die Veröffentlichung der Beiträge in diesem Band herausfordern und anregen. In den verschiedenen Aufsätzen dieses Buches werden zwei Perspektiven in Verbindung gebracht: der Blick auf gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen und die Entwicklung der Theaterkunst mit ihren spezifischen Stücken, Spielweisen und ästhetischen Konzeptionen. Theater für und mit Kindern und Jugendlichen ist wie die Kunst überhaupt ein Seismograf gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Hier werden Wahrnehmungsweisen, Kommunikationspraxen, Körpererfahrungen, Visionen, aber auch Verdrängungen und Ausschlüsse, mithin Verschiebungen in unseren Weltverhältnissen auffindbar. Beim Wiederlesen und Auswählen der Texte für diese Veröffentlichung, die einen Zeitraum von über 25 Jahren von 1989 – 2015 umspannt, erstaunt angesichts der zahllosen Veränderungen in den Bereichen von Theaterkunst und gesellschaftlicher Wirklichkeit die Aktualität vieler Gedanken, Argumentationen und Debatten, die dort aufgegriffen sind. Die Beiträge lassen ästhetische Entwicklungen, ebenso wie kultur- und theatertheoretische Reflexionen und Positionen unter verschiedenen Aspekten und in unterschiedlichen Kontexten deutlich werden. Am Beispiel von Stücken, Inszenierungen und Positionen des Theaters für Kinder und Jugendliche – ebenso wie von und mit ihnen – werden gesellschaftliche Verschiebungen in den Verhältnissen der Generationen zu einander, ebenso wie in unseren jeweiligen Weltverhältnissen lesbar. So steht im Zentrum der Auseinandersetzung immer wieder das Verhältnis von Wirklichkeit und Theaterkunst, von Faktizität und Fiktionalität, von Spiel und
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Vgl. den Band von Patrick Primavesi/Jan Deck (Hrsg.), Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld: transcript 2014.
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Dokument und letztlich die Frage nach der Aufgabe und Funktion einer Theaterkunst für junge Zuschauer, ob Kinder oder Jugendliche. Spiel und Phantasie, Realitätserfahrung und ihre Inszenierung bilden die Polaritäten in den vier großen Abschnitten, unter denen die einzelnen Beiträge gegliedert sind. Der erste ist der Zielgruppe der Kinder, der zweite den Jugendlichen gewidmet, der dritte setzt sich auseinander mit den in den achtziger Jahren erstmalig für die Lebenswelt einzubeziehenden neuen digitalen Medien, während der vierte Abschnitt Dimensionen der Vermittlung, die Theaterpädagogik und das Verhältnis von Theaterspielen und Theatersehen, von Partizipation und Rezeption sowie die aktuellen performativen Formate in den Blick nimmt. Die Beiträge sind innerhalb der Kapitel chronologisch geordnet, nicht aber auf das ganze Buch bezogen. Allerdings stellen die dem Verhältnis von Spielen und Zuschauen, theatraler Rollendarstellung und performativen Formaten gewidmeten Texte im vierten Abschnitt die aktuellsten dar. Hier wird der Frage nachgegangen, was aus dem Grundvorgang theatralen Rollenhandelns und ästhetischer Erprobungen wird, wenn Kunst und Theater sich aus ihren exklusiven Räumen heraus bewegen und sich direkt in gesellschaftliche Felder einmischen. So spannt der letzte Beitrag „Zwischen Ich und Welt“, aus dem der Titel des Buches entlehnt ist, einen Bogen von neuen Formaten des partizipativen Jugendtheaters zu den Medienrealitäten und den Modi öffentlicher und politischer Erfahrung. Ich und Welt sind die Pole zwischen denen die Ästhetik des Theaters ihr Potential entfaltet. Der Band wird eingeleitet durch einen Text, der das Verhältnis von Pädagogik und Ästhetik und die damit einhergehenden Dualismen kritisch hinterfragt: Pädagogik/Kunst, Realität/Phantasie, Verstand/Emotion, soziale Phantasie/freie Phantasieproduktion. Mit einem Rekurs auf die Bedeutung von Imagination und Spiel für die Wirklichkeits- und Welterfahrung von Kindern wird für ein künstlerisches Theater plädiert, das sich diese Potentiale zunutze macht. Die Bedeutung des Spiels in seiner Beziehung zum Spielcharakter des Mediums Theater bildet auch das Thema der folgenden Beiträge, die schließlich in einer Analyse der kulturell, wissenschaftlich und ästhetisch vermittelten Kindheitsbilder seit den 1968er Jahren bis in die Gegenwart reichen. Das Jugendtheater in seiner besonderen Nähe zu realistischen Themen, Darstellungen und Stoffen ist Gegenstand des nächsten Teils. Eine Auseinandersetzung mit Formen des Dokumentartheaters sowie verschiedener Realismus-Konzepte findet im Zusammenhang mit ausgewählten Inszenierungen des Jugendtheaters statt. Der verbreiteten Überzeugung nach einer Orientierung an Aktualität und
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jugendkulturellen Kontexten wird unter Verweis darauf, dass sich Jugendliche mitnichten nur für sich selbst und ihre eigenen Probleme interessieren, die Forderung entgegengestellt, gerade das in den Massenmedien nicht Vorherrschende, nicht dem Mainstream Entsprechende zum Thema eines „erwachsenen Jugendtheaters“ zu machen. Während Medien, Netzwerke und Werbung herrschende Kindheitsbilder bedienen und stützen, wollen künstlerische Strategien sich die Sichtweise und Bedürfnislage von jungen Menschen selbst zum Anliegen machen: Im Interesse der Kinder und Jugendlichen arbeiten sie an der Modifikation entfremdeter Selbstund Weltbilder. Das Spannungsverhältnis neuer und alter, digitaler und analoger Medien, zu denen auch das Theater gehört, erfordert eine Neubestimmung ästhetischer Positionen im Gegenwartstheater, ein Thema, das im dritten Teil des Buches aufgenommen wird. Die Entwicklung zu Performance und direkter Partizipation und Aktion ist eine Antwort auf die zunehmende Digitalisierung unserer Alltagswelt. Angesichts des medialen Bilderreichtums und der unübersehbaren Informationsmöglichkeiten durch das globale Netz stellt sich die Frage nach dem Wirklichkeits- und Wahrheitscharakter theatraler Darstellungen und Inszenierungen. Im Theater wird ein anderer Wahrheitsbegriff als der technologisch geprägter Leitbilder erfahrbar. Die Wahrheit liegt nicht auf der Bühne, sondern in dem, was vermittelt durch die Bühne im Zuschauer bewegt wird. Eben die lebendige Beziehung zwischen Zuschauern und Akteuren ist Thema des vierten Teils, der unter dem Titel „Theater – Spielen und Zuschauen“ die Entwicklung von theaterpädagogischen Konzeptionen im Kontext sozial- und bildungspolitischer Orientierungen untersucht. Die Vermittlungsbemühungen und Konzepte des Theaters für Kinder mit ihren impliziten Vorstellungen von Lernen werden bezogen auf das spielerische Potential der Theaterkunst und ihren Fokus auf Körperlichkeit und Sinnlichkeit behandelt. Mit dem gegenwärtigen Prozess, der als Einbruch der Wirklichkeit in den Bereich der Künste seit der Jahrtausendwende zu beobachten ist, gehen veränderte lebensweltliche Orientierungen einher. Während in den Medien- und Konsumwelten kreative und spielerische Kompetenzen an der Tagesordnung sind,2
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Vgl. die im von Christoph Menke und Juliane Rebentisch herausgegebenen Band Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010 versammelten Aufsätze, die die Konzepte von Kreativität, Selbstverwirklichung und ästhetischer Freiheit in der Konsumgesellschaft beleuchten.
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nehmen imaginäre und phantastische Darstellungen im Gegenwartstheater ab. Die Zunahme performativer und dokumentarischer, aus der Alltagswelt entlehnter Praxen, die auch Einzug ins Kinder- und Jugendtheater halten, drängt das Autorentheater, ebenso wie die damit verbunden traditionellen Schauspieltechniken des Rollenspiels und des „Als ob“ zurück. Es findet sozusagen eine Entgrenzung der Kunst auf verschiedenen Ebenen statt, die in den letzten beiden Beiträgen des Buches thematisiert wird. Auf dem Hintergrund zunehmend performativer und dokumentarischer Strategien im Theater fragt der letzte Beitrag des Bandes, ob die dabei gewünschte Authentizität der Akteure denn wirklich zustande kommt. Bezogen auf die Kultur der ,Selfies‘ in den Netzwerken wird die Selbstdarstellung jugendlicher Darsteller kritisch thematisiert. Die Frage ist, ob die Veröffentlichung von Informationen über uns selbst überhaupt so etwas wie Öffentlichkeit herstellt. Wir neigen dazu, Öffentlichkeit mit Politik, zumindest mit der Voraussetzung von politischem Engagement zu identifizieren. Das ist aber angesichts der medialen Öffentlichkeiten so nicht mehr haltbar und hat Konsequenzen für das Theater als Ort von Öffentlichkeit und Weltdeutung. Welt lässt sich weder auf Information, noch auf Faktizität und individuelle Erfahrung reduzieren. Zu ihr gehören die nicht sichtbaren Innenwelten, Phantasie und Traum wie die Intersubjektivität. Das eigentlich Politische ist das Gemeinsame, und das Gemeinsame ist mehr als die Selbstdarstellung der vielen Einzelnen, die manchmal zu erleben ist, wenn Jugendliche Theater spielen, ohne dass die individuelle Perspektive durchbrochen wird. Theater ist Gemeinschaftskunst, es ist eine soziale Kunst, in der Spiel, Tanz, Performance einen Möglichkeitsraum eröffnen, in dem wir unsere Sicht auf die Welt und auf uns selbst in ihr verwandeln können. Dazu möchte der vorliegende Band beitragen und anregen.
E DITORISCHE N OTIZ Die Beiträge dieses Buches stammen aus einem Zeitraum von über 25 Jahren und reflektieren die Entwicklung der Theaterkunst für Kinder und Jugendliche sowie die jeweiligen Debatten und theoretischen Bezüge. Dem entsprechend wurden einige Texte im Stil der damaligen Veröffentlichung belassen – so galt beispielsweise damals das heute in den Kultur- und Geisteswissenschaften übliche ‚Ich-Verbot‘ für wissenschaftliche Publikationen nicht, es wurde für die vorliegende Publikation entsprechend ignoriert.
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Die Aufsätze sind einzeln und separat für sich zu lesen. Deswegen wurden gewisse Doppelungen und Wiederholungen (z.B. was den geschichtlichen Abriss, die Theorie des Spiels oder des Theaters betrifft) in Kauf genommen, um den argumentativen Zusammenhang eines Beitrags und seine Singularität zu erhalten. Einige Beiträge sind gegenüber der Erstfassung leicht gekürzt und überarbeitet worden. Ausführlichere Literaturhinweise und Nachweise sind nur bei den aktuelleren Aufsätzen gesondert am Ende des Beitrages angeführt. I.H.
Theater für Kinder
Jeder sein eigener Kolumbus Phantasie und Realität im Kindertheater
Seit seinen Ursprüngen in der 68er-Bewegung ist das emanzipatorische Kindertheater mit der politischen Geschichte seiner Initiatoren verflochten und mit den Traditionen, auf die sie sich beriefen. Aber die Geschichte verläuft gern in Extremen – das soll sogar ihre geheime List sein. Als im Zuge der Studentenbewegung und der antiautoritären Erziehungsdiskussion Kinder und ihre Erziehung zum Politikum wurden, da wäre niemand auf den Gedanken gekommen, die Utopien, die sich mit den Formen veränderter Erziehungspraxis verbanden, mit den Worten Kants zu bezeichnen: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglichen besseren Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.“ (Kant, 1983/1803, S. 704)
Und doch trifft diese Formulierung bis heute im Kern die Fragen, mit denen es alle zu tun haben, die sich ernsthaft mit Kindern und mit Erziehung auseinandersetzen. Der Satz bedeutet ja nichts anderes, als dass die gesellschaftliche Praxis und das Bild, das der Mensch bis heute in der Geschichte abgegeben hat, nicht den Maßstab für Erziehung bilden können. Ihr Ziel kann nicht in der Anpassung an die vorgefundene Realität bestehen, sondern muss auf die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten gerichtet sein, d. h. zuallererst auf das Vermögen zur Freiheit. 1968 wurde darunter im Wesentlichen die Fähigkeit verstanden, die gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen zu durchschauen und den Mut zu ihrer Veränderung zu erzeugen. Aus diesem Ansatz resultierten die frühen Stücke des Grips-Theaters. Gegen den Illusionsraum der bürgerlichen Ästhetik wurde das Verlangen nach Aufklärung und klarer Einsicht in gesellschaftliche Verhältnisse und ihre Herrschaftsstrukturen geltend gemacht. Das Verdikt gegen den bürgerlichen Schein traf die Kunst damals insgesamt. Sie war der Realitätsflucht nicht
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nur verdächtig – das ist sie auch heute bisweilen zu Recht –, sondern überführt. Als Kunst wurde – und wird noch immer – im Wesentlichen das Geschick bezeichnet, mit dem eine Kindertheaterinszenierung ihre jeweiligen Inhalte umsetzte. Die Frage nach der Kunst des Theaters reduzierte sich auf praktische Durchführungsprobleme. Heute haben wir ein Kindertheater, das sich mit Märchenstoffen auseinandersetzt, das anfängt, eine poetische Sprache zu sprechen, ein Theater, das sich mit Träumen, Wünschen und Ängsten von Kindern und von Erwachsenen befasst. Und schon – ich erinnere an die List der Geschichte – kommt die Befürchtung, der Vorwurf, das neue Kindertheater würde Illusionsräume schaffen, die mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit nichts zu tun hätten, es würde individualpsychologisch auf die Befreiung der Phantasie setzen; kurzum, es würde sich vor der gesellschaftlichen Verantwortung drücken und politische Dimensionen ganz ausklammern. Und schon kommt auch der Vorschlag, wir sollten uns die sozialkritischen Stücke wieder ansehen und die Frage nach der gesellschaftlichen Realität stellen. Zweifellos reagieren diese Vorschläge auf eine „einseitige“ Entwicklung des Kindertheaters, auch auf einen Traditionsverlust, was seine Ursprünge betrifft, und damit auf einen drohenden Identitätsverlust des „emanzipatorischen Kindertheaters“. Aber bevor sich die listige Geschichte wieder ins Fäustchen lacht, wollen wir sehen, ob die in der Diskussion herrschenden Extreme überhaupt das halten, was sie im Streit versprechen.
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Von Anfang an bewegte sich Theater für Kinder im Spannungsfeld von Pädagogik und Kunst und ist damit im Bereich der folgenden Oppositionspaare zu orten, die der jeweiligen Theaterkonzeption entsprechend als einander ausschließend oder ergänzend gedacht werden: Pädagogik/Kunst, Realität/Phantasie, Verstand/Emotion, soziale Phantasie/freie Phantasieproduktion. Mit der Frage nach Pädagogik und/oder Kunst wird in der Regel die Intention von Kindertheater angesprochen. Hat es Zielvorstellungen und beschriebene Absichten, so wird es sich meistens davor hüten, seine Praxis als Kunst zu bezeichnen. Es wird sie aber ebenso wenig erzieherisch oder pädagogisch nennen. Wie aber dann? Mit dem Gegensatzpaar Realität/Phantasie wird die Thematik eines Kindertheaterstücks bezeichnet. Wovon handelt es, von der Wirklichkeit oder von bloßen Phantasien, d. h. ausgedachten Dingen?
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Das dritte Gegensatzpaar spricht die Wirkung auf die Zuschauer an. Will es bei ihnen Einsichten und Erkenntnisse erzeugen und/oder ihnen dabei behilflich sein, ihre (unterdrückten) Emotionen auszuleben? Und das letzte Paar verbindet bereits die Vorstellung von Phantasie mit bestimmten Inhalten und ihrer dramatischen Formgebung. Soll die soziale Phantasie der Kinder entwickelt werden, so lenkt man sie auf bestimmte Probleme, die in der Realität anzutreffen sind und für die nun im Theater eine Lösung zu finden oder zu erfinden ist. Die Vertreter der freien Phantasietätigkeit dagegen erkennen in der Phantasie eine Kraft, die vor ihrer Verkümmerung bewahrt werden muss, und darin sehen sie die wesentliche Aufgabe der Kunst. Allen diesen Vorstellungen liegt nun eine unausgesprochene zugrunde, die in den Debatten darüber, was Kindertheater wie und zu welchem Zweck machen soll, stillschweigend vorausgesetzt wird. Die Vorstellung nämlich, dass das, was im Theater intendiert und gezeigt werden soll, auch tatsächlich im Medium des Theaters realisierbar ist, d. h., dass es in vorgestellter Weise auf die Zuschauer wirkt. Die Wirkung aber ist nicht nur eine Frage der Arbeitsweise des Theaters, also seiner Kunst, sondern hängt wesentlich auch von der Natur der Zuschauer ab. In jeder Kindertheaterproduktion sind auf bewusste oder unbewusste Weise bestimmte Vorstellungen über Kinder und ihre besondere Lebenssituation virulent. Welche das sind, davon hängt dann die Themenwahl, Dramaturgie und nicht zuletzt die Rollengestaltung ab. Unabhängig von dem Streit darüber, was nun die fest- oder nur vorgestellte Wirklichkeit von Kindern sei (ein Normenkatalog soziologischer, psychologischer oder pädagogischer Literatur lässt sich bei der Fülle der Ansätze und Interpretationen wohl kaum festlegen), kommt Kindertheater an einer Frage nicht vorbei: Es muss eine Vorstellung davon haben, wie Kinder mit der Realität umgehen, sie erkennen und verarbeiten, wenn es in produktiver Weise auf sein Publikum wirken will. In einem zweiten Schritt wären dann die Möglichkeiten des Mediums Theater dahingehend zu befragen, wie es der Besonderheit seines Publikums gerecht werden könnte.
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Betrachtet man die Entwicklung des kindlichen Realitätssinns in der psychoanalytisch wie in der kognitiv orientierten Entwicklungspsychologie, so stößt man auf eine überraschende Tatsache: Das Kind lernt die Welt niemals auf ganz direkte Weise kennen – so wie eine Kamera A ein Objekt B auf seiner Fotoplatte speichert –, sondern nur vermittelt über seine Vorstellungskraft und seine Aktivität. Die Fähigkeit zur distanzierten objektiven Wahrnehmung ist eine relativ späte Errungenschaft der Entwicklung und – darüber gibt es wohl keine Illusion – sie ist niemals vollständig abgeschlossen. Erst dadurch, dass sich das Kind die Realität durch seine spielerische Aktivität zu eigen macht, lernt es langsam, dass die Dinge und Personen seiner Umgebung eine eigene, von seinen Wünschen unabhängige Existenz und Gesetzmäßigkeit haben. Im Spiel – und besonders im Phantasiespiel – bringt das Kind die Gegenstände seiner Wahrnehmung in eine subjektive Ordnung, die seinen eigenen Vorstellungen folgt und seinen aktuellen Fähigkeiten entspricht. Auf diese Weise füllt es die Lücke aus, die zwischen seiner Wahrnehmung und seinen begrenzten physischen und psychischen Möglichkeiten, zwischen Wollen und Können, klafft. Ein Kind kann mehr sehen als erreichen, mehr hören als verstehen, und seine Wünsche übersteigen bei weitem die Möglichkeiten ihrer Befriedigung. Nur vermittels der Phantasie und der spielerischen Aktivität kann es seine Umwelt als veränderbar und den eigenen Möglichkeiten entsprechend erfahren, so dass es auch bei Misserfolgen und Enttäuschungen nicht den Mut und das Interesse an ihr verliert.
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Die Psychoanalyse spricht von zwei Realitätsbereichen, mit denen es der Mensch zu tun hat: Von der „faktischen Realität“, das ist jene, die wir so gern der Phantasie gegenüberstellen, und einer „psychischen Realität“. Mit diesem Begriff ist der Innenraum des Menschen gemeint, seine ganz persönliche und besondere Weise, in der und vermittels derer er auf die äußere Wirklichkeit reagiert oder in ihr agiert. Wir haben es hier nicht mit dem Gegensatz von Phantasie und Wirklichkeit zu tun. Bewusst belegt Freud beide Bereiche mit dem Begriff Realität, weil die Gefühle, Vorstellungen und Wünsche einen Menschen in dem-
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Die hier dargestellte Theorie des Spiels wird ausführlich entwickelt in: Ingrid Hentschel, Kindertheater – Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität, Frankfurt/M. 1988: Brandes & Apsel.
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selben Maße beeinflussen können wie die äußere Realität selbst. Ja, die Angst vor einer vorgestellten Gefahr ist sogar größer als die vor einer realen. Ein Kind lernt erst langsam beide Realitätsbereiche auseinanderzuhalten, d. h. einer vorgestellten Gefahr weniger Gewicht beizumessen als einer real existierenden. Das Spiel ist jenes Medium, in dem beide Realitätsbereiche auf unproblematische Weise anwesend sind. Es ist ja gerade durch den Umstand definiert, dass die Frage, ob etwas wirklich oder nur vorgestellt und erfunden ist, überhaupt keine Rolle spielt. Allerdings unterscheidet ein Kind seine Spielsituation sehr wohl von der Wirklichkeit, „trotz aller Affektbesetzung“, schreibt Freud (Freud, 19691975/1908, S. 214). Aber im Spiel ist es von der Notwendigkeit entlastet, innere und äußere Realität in Einklang bringen zu müssen. Es kann sich die Freiheit nehmen, die Realitätsprüfung für die Zeit seines Spiels außer Kraft zu setzen und eine Wirklichkeit nach Maßgabe seiner Wünsche und Fähigkeiten zu entwerfen. Das Spiel erlaubt ein zwanglosen Neben- und Durcheinander von realitätsgerechten und Wunsch geleiteten Handlungen. Auch als Erwachsene sind wir nicht frei davon, innere und äußere Realität zu vermitteln. Sobald das Lustprinzip zum Tragen kommt und unsere Wünsche sich in der Realität geltend machen wollen, erschließt sie sich uns in ganz anderer Weise als dann, wenn wir ihr mit Resignation und Selbstbescheidung begegnen. Das kreative Potential eines Menschen, das – im weitesten Sinne verstanden –, die Voraussetzung dafür ist, dass die Welt in ihrer Veränderbarkeit erkannt wird, hängt wesentlich davon ab, dass sich die Persönlichkeitsstruktur nicht ausschließlich auf der Basis von Anpassungsprozessen an die äußere Realität entwickelt. Gerade weil das Spiel eine zwanglose Verschränkung von Lust- und Realitätsprinzip ermöglicht, kann man sagen, dass darin ein Moment gesellschaftlicher Utopie liegt. „Erstens spiegelt die Utopie – wie auch das Spiel – die Wünsche und Ängste des Menschen wider, und zweitens ist sie der Versuch, seine Entwicklung bewusst in die eigenen Hände zu nehmen.“ (Páramo-Ortega, 1981) Ein Kind, das an spielerischen Auseinandersetzungen mit seiner Umwelt nicht gehindert und nicht beständig zur Realitätsprüfung gezwungen wird, ist umso eher in der Lage, diese zu leisten, wo es notwendig erscheint. Ihm gelingt die Unterscheidung von Wunsch und Realität, von Phantasie und Wirklichkeit, von eigenen Ansprüchen und denen anderer Menschen umso leichter, je mehr Möglichkeiten es findet, diese Bereiche in seinem Spiel zu vertauschen und zu vermischen. Für das Kindertheater ist die beschriebene Dominanz spielerischer Aktivitäten in der Realitätserkenntnis und -bewältigung doppelt folgenreich. Als wesentlicher Organisator der kognitiven und emotionalen Entwicklung ist das Spiel als Bestandteil der kindlichen Natur zu betrachten, mit dem Kindertheater rechnen muss. Darüber hinausgehend wäre in der Bedeutung spielerischer Pro-
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zesse ein Paradigma zu sehen, an dem das Spiel des Theaters zu messen wäre. Welche Konsequenzen das hätte, soll zunächst dahingestellt bleiben. Denn bevor nach den Möglichkeiten des Kindertheaters gefragt wird, sich produktiv auf die Realität seiner Zuschauer zu beziehen, wäre zu erkunden, welches Verhältnis das Theater selbst zur Realität hat.
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Dem Theater wird allzu oft eine unmittelbare Wirkung auf seine Zuschauer unterstellt. Sie äußert sich in der Kritik, die Theatermacher zur Genüge kennen, ihr Theater würde ein „falsches“ oder doch in irgendeiner Weise gefährliches Bild der Realität vermitteln. Erzählt ein derzeit vielgespieltes Stück z. B. von einem Mädchen, das als Mann verkleidet Heldentaten vollbringt, so fürchten aufgeklärte Eltern, hier würde den Kindern demonstriert, dass weibliche Wesen nur in Männerkleidern Karriere machen können. Diese Befürchtung unterstellt, dass die Zuschauer das, was sie im Theater sehen, unmittelbar auf ihre Alltagserfahrung übertragen. Die Macht aber, die dem Theater hier zugesprochen wird, hat es zum Glück nicht. So wie ein Kind sein Spiel – bei aller Ernsthaftigkeit mit der es betrieben wird – sehr wohl als Spiel zu erkennen, d. h. von der Wirklichkeit zu unterscheiden weiß, so unterscheidet auch der Zuschauer zwischen Theater und Realität. Wenn selbst im Traum eine Instanz vorhanden ist, die dem Träumer sagt, dass es sich „nur“ um einen Traum handelt, wie Freud in der „Traumdeutung“ (1900) ausführt, so wird vielleicht deutlich, dass das menschliche Bewusstsein nicht so eindimensional ist, wie es häufig erscheint. Das Theater hat es niemals direkt mit der Realität zu tun, sondern nur mit den Vorstellungen, die sich die Zuschauer über sie machen. Die Tatsache, dass es sich auf einer Bühne abspielt, auf einem besonders gekennzeichneten Ort also, um den sich die Zuschauer gruppieren, eröffnet einen Vorstellungs-Raum par excellence.2 Dieser Tatsache war sich niemand so bewusst wie Brecht, der das Theater als Mittel der Aufklärung, der Bewusstseinsveränderung einsetzen wollte. Die dramatische Praxis Brechts, die zugleich eine spezielle Schauspieltechnik begründete, nahm ihren Ausgangspunkt in der Überlegung, dass das Theater – wenn es den Zuschauer nicht in eine bloße Weltferne hineinillusionieren, sondern ihn in den Stand setzen will, die Realität, in der er lebt, zu begreifen – zual-
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Davon sind bestimmte Formen des Mitspieltheaters ausgenommen, die eher der Pädagogik im engeren Sinne zugehörig sind.
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lererst Klarheit über die eigene Realität herstellen muss. Der Zuschauer soll jederzeit wissen, dass es nur die Vorstellung (im doppelten Wortsinn) ist, die ihn nun nach China, Chicago oder in die Walachei führt. Die Techniken der Verfremdung, die Brecht im theatralischen Text wie in der Dramaturgie und der Spielweise der Schauspieler ansiedelte, dienten dazu, das Bewusstsein der Zuschauer für die besondere „künstliche“ Realität des Theaters wachzuhalten bzw. zu schärfen.
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Brecht war sich bewusst, dass das Theater es mit der Vorstellungskraft, der Phantasie des Zuschauers zu tun hat und mit ihr arbeiten muss. „Für das Publikum gilt einem Stück gegenüber: Jeder sein eigener Kolumbus“, heißt es bei ihm. (Brecht, 1988-2000, S. 236) Und deshalb legte er sich Rechenschaft darüber ab, dass es gerade die Vorstellungskraft des Publikums ist, die den aufklärerischen Absichten des Theaters die größten Schwierigkeiten in den Weg legt. Die bewusste Entwicklung der Verfremdungstechniken war von dem Ziel geleitet, die größtmögliche Eindeutigkeit der theatralischen Aussage zu erreichen. Deshalb entfernt das Brecht’sche Theater alles aus dem dramatischen Text und von der Bühne, was die Aufmerksamkeit des Zuschauers in unerwünschter Weise ablenken könnte. Von daher erklärt sich die Kargheit der Bühne, die auch im Kindertheater weitgehend Aufnahme gefunden hat. Die Aufmerksamkeit des Publikums sollte freigesetzt werden, damit das Theater gezielt mit ihr arbeiten kann. Die aktive Rolle, die Brecht den Zuschauern zuerkannte, bildete die Entsprechung zu ihrer potentiell aktiven Rolle in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das Theater sollte wie ein künstliches Modell der Realität funktionieren, an dem der Zuschauer ständig „fiktive Montagen“ vornimmt. Allerdings hatte Brecht kein klares Bewusstsein davon, in welchem Maße der Vorstellungs-Raum des Theaters die unbewusste und wunschgeleitete Phantasietätigkeit des Zuschauers stimuliert. Er rechnete nicht damit, dass der Zuschauer sich trotz sorgfältigster Dramaturgie die Freiheit nimmt, im Theater das zu sehen, was seinen Wünschen und Überzeugungen entspricht. Wie ein Kolumbus – oder wie das spielende Kind – entdeckt er nicht den unbekannten Kontinent, sondern das Land, das er ganz persönlich gesucht hat, und tauft seine Ureinwohner Indianer. Diese unerwünschten Reaktionen des Publikums musste Brecht oft genug erfahren. Statt zu erkennen, dass es in einer schlecht eingerichteten Welt keine guten Menschen geben kann, wurde „Der gute Mensch von Sezuan“ gefeiert, und die „Mutter Courage“ wurde nicht, wie es der Inszenierungs-
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absicht entsprach, als diejenige kritisiert, die mit ihren bescheidenen Mitteln unablässig an der Weiterführung des Krieges arbeitet, sondern an ihr wurde das couragierte, starke Muttertier gelobt, das seine Kinder durch den Krieg bringt.3
K UNSTVOLLE S PIELE Was also tun, wenn das Theater den aufklärerischen Absichten die Grenze seiner eigenen Irrealität und Künstlichkeit entgegenstellt, wenn jede Vermittlungsintention auf den Eigensinn der Zuschauer stößt (und der ist bei Kindern bekanntlich noch ausgeprägter als bei Erwachsenen)? Warum sollten Kindertheatermacher nicht beherzigen, was jeder gute Pädagoge weiß, dass nämlich die Fähigkeit, „nein“ zu sagen und sich seinen eigenen Reim zu machen, die Grundvoraussetzung für eine Persönlichkeitsentwicklung ist, die diesen Namen verdient. Das heißt, wir stellen den Eigensinn unserer Zuschauer nicht nur in Rechnung. Wir wissen, dass Theater ohne ihn gar nicht zustande kommt! Und wir beherzigen Brechts Idee einer „Theatralisierung des Theaters“, um dem Spiel des Zuschauers die weitestgehende Produktivität zu ermöglichen, und zu diesem Zweck gehen wir über die von Brecht entwickelten Techniken hinaus. Das heißt, wir machen so viel Kunst wie möglich und scheuen vor der mit ihr verbundenen Mehrdeutigkeit nicht zurück. Im Gegenteil, wir heben auf sie ab und geben dem Zuschauer „die Freiheit, die Dinge etwas bedeuten zu lassen“ (Barthes, 1991/1969), was ihm ganz persönlich entspricht. Aber natürlich verzichten wir nicht darauf, unsere Sicht der Dinge auf der Bühne zu entwickeln und dies so ernsthaft wie möglich zu betreiben. Wenn wir die erste Produktivkraft des Theaters, die Phantasie, auch für die Seite des Zuschauers ernst nehmen, so bedeutet das nicht, dass Kindertheater nur von Träumen, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten handeln muss, dass es nur die allernächsten Erfahrungen von Kindern wie Mutter-, Vater-, Geschwisterkonflikte oder Liebe, Tod und Eifersucht thematisieren muss, wie es jetzt häufig geschieht. Von der künstlerischen Form des Theaters, von seinen Darstellungstechniken, von seiner Sprache hängt es ab, wie nah die Entdeckung Amerikas oder die Französische Revolution Kindern rücken kann. Wenn das Theater nicht vor der Mehrdeutigkeit von Kunst zurückschreckt, brauchen wir kein explizit psychologisches Kindertheater, kein soziologisches und kein politisches.
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Vgl. Monika Wyss, Brecht in der Kritik. Rezensionen aller Brecht-Uraufführungen, München 1977: Kindler.
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Jedes Kind hat sich schon einmal vorgestellt, anders zu sein, den eigenen Körper, die eigene Persönlichkeit zu verändern, auszuwechseln. Wenn Theater nicht nur die Realität nacherzählen will, so könnte ein Kindertheaterstück davon handeln, wie die Gentechnologie die Natur umbaut, und dieses Stück würde die ganz persönlichen Fragen des Zuschauers ansprechen wie: „Will ich so bleiben, wie ich bin? Will ich jemandem erlauben, mich umzubauen? Wer will ich sein? Wer bin ich überhaupt?“ Nicht der Stoff allein, sondern die Form des Theaters, seine Kunst, entscheidet darüber, wie erfahrungsnah oder -fern Kindertheater wirkt, ob es nur die äußere Realität oder auch die innere seiner Zuschauer zu treffen weiß.
L ITERATUR Barthes, R. (1991/1969). Literatur oder Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brecht, B. (1988-2000). Werke Bd. 21. Frankfurt a. M., Berlin, Weimar: Suhrkamp. Freud, S. (1969-1975/1908). Der Dichter und das Phantasieren. In Studienausgabe Bd. X. Frankfurt a. M.: Fischer. Hentschel, I. (1988). Kindertheater. Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel. Kant, I. (1983/1803). Über Pädagogik. In W. Weischedel (Hrsg.), Kant Werke Bd. 8. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Páramo-Ortega, R. (1981). Psychoanalyse, Spiel und Utopie. In Psychologie & Gesellschaftskritik (Heft 2/3), Gießen. Als PDF auch: http://www.raul paramoortega.de/Psychologie_Spiel_und_Utopie.pdf (15.6.2015). Wyss, M. & Kindler, H. (1977). Brecht in der Kritik: Rezensionen aller BrechtUraufführungen. München: Kindler.
Kinderspiel – Theaterspiel Gibt es eine eigene Ästhetik des Kindertheaters?
D IE
NEGATIVE
Ä STHETIK
DES
K INDERTHEATERS
Zunächst ist festzustellen, dass es schon eine ästhetische Theorie des Kindertheaters gibt, sozusagen eine negative. Eine, die wohl niemals theoretisch formuliert, umso häufiger aber praktisch ausgeübt worden ist und noch wird, was immer man davon zu halten hat. Sie lautet etwa folgendermaßen: Man wähle eine durchgehende, einfach zu verstehende Geschichte, in der nach Möglichkeit ein besonders freches und ein besonders schüchternes Kind oder Tier vorkommt. Dabei ist die Wiedererkennbarkeit von Figuren, Problemen und Situationen aus der Kinderliteratur, vorzugsweise Märchen, bzw. aus dem Familienalltag der Kinder zu gewährleisten. Die Schauspieler haben besonders zu achten auf eine große, an Übertreibung grenzende Spielweise. Lautes Sprechen und eine demonstrative Gestik sind dafür unerlässlich. Es empfiehlt sich auch des Öfteren durch Hüpfen, Pfeifen und das Schneiden von Grimassen zu betonen, dass hier für ein Kinderpublikum gespielt wird. Dem dient auch die Wahl von Maske und Kostümbild, wo man vor allem, wenn es um Kinderfiguren geht, auf jeden Fall Zöpfchen, Hosenträger und Ringelsöckchen sowie Turnschuhe zum Einsatz bringen sollte. Die Dramaturgie hat dafür Sorge zu tragen, dass jede Ablenkung von der Fabel tunlichst vermieden wird, wie auch allzu lange Dialoge oder gar Monologe die Konzentration der jungen Zuschauer über Gebühr strapazieren würden. Auf keinen Fall aber darf der Spannungsbogen überspannt werden und die Handlung gar eine für Kinder beunruhigende Tiefe annehmen. Auch sind alle Darstellungen von Innerlichkeit sowie Ironisierungen, wie wir sie aus dem Erwachsentheater und dem Film kennen, tunlichst zu vermeiden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es im Kindertheater weder auf eine besonders dramatische, noch epische oder sonst wie geartete Ästhetik ankommt,
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sondern einfach auf die Ausgewogenheit der Mittel, die dem Rezeptionsvermögen der kindlichen Zuschauer angemessen sein müssen. Bei der hier zugegebenermaßen ironisch vorgestellten Ästhetik handelt es sich – würde man dem Fachjargon folgen – um eine normative Ästhetik, auch wenn diese sozusagen unausgesprochen und unbewusst befolgt wird. Sie ist als eine Form von Wirkungsästhetik einzustufen. Das heisst im Mittelpunkt ihrer Überlegungen steht die Absicht beim Publikum bestimmte Wirkungen zu erzeugen bzw. auch zu vermeiden. Diese Dominanz der Wirkungsabsicht im Kindertheater hat pädagogische Gründe. Dies einmal natürlich aus der Tradition des Kindertheaters heraus, die sich im Rahmen einer emphatisch verstandenen Bildungsreform, und eines politisierten Pädagogikbegriffs entwickelte. Zum anderen hat die dezidierte Wirkungsabsicht mit der die Theaterpraxis verbunden wurde – und noch wird – auch andere Gründe: Ist doch das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen – bei allem sich jetzt artikulierenden Wunsch nach Egalität – zu allererst geprägt durch Generativität, d.h. durch den Unterschied zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden, zwischen Tradition vermittelnden und erziehungsbedürftigen Wesen. Diese Grundbedürftigkeit des Kindes verlangt pädagogisches Handeln im weitesten Sinne verstanden. Aber muss der Ort dieses Handelns das Theater sein? Und kann er es überhaupt mit Erfolg sein? Ist die Kunst das Mittel der Erziehung? Und taugt gerade die Theaterkunst zu so – kunstfremder – Aufgabe? Lessing glaubte es auf seine Weise, Brecht glaubte es, Shakespeare wohl kaum. Aber die Tatsache, dass ein Theater Wirkung hat, große Wirkungen auf seine Zuschauer ausüben kann, ist nicht gleichbedeutend damit, dass es auch bessernd bzw. läuternd auf sie wirkt. Rousseau, der aus Gründen der Moral ein großer Feind des Theaters war, äußerte die gegenteilige Ansicht. In seiner ablehnenden Schrift zur möglichen Einrichtung eines Theaters in der Stadt Genf (1988/1758) hieß es: Nichts sei verderblicher als der Besuch einer Theatervorstellung! Statt in frischer Luft sich bei Spiel und Tanz zu ergötzen, sitzt das Volk in einem dunklen Saale eingesperrt bei schlechter Luft und gibt seinen verderblichsten Phantasien freien Lauf. Denn die Phantasie, einmal losgelassen, treibt wohin sie will und der arme Mensch ist am Ende gar Wünschen ausgesetzt, die seine Natur ihm niemals eingegeben hätte. Kurz er lebt in krankhafter Zerrissenheit zwischen den Ansprüchen seiner Phantasie, die das Theater in künstlicher Weise in ihm entzündet hat, und der kruden Wirklichkeit. Diese Angst vor dem Theater übrigens, die Rousseau hier artikuliert, ist in der Diskussion um das große, das Erwachsenentheater nahezu folgenlos geblieben, während sie im Kindertheater allenthalben wiederauftaucht, ohne dass der Name Rousseau dabei fallen müsste. Es scheint sich um einen Zusammenhang zu handeln, der sich nahezu instinktiv eröffnet: Bei Rousseau ist es die
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menschliche Natur, die seiner Ansicht nach vom Theater nur Schaden erfahren kann, und wenn es um das Kindertheater geht, so sind die Kinder, diejenigen, denen gerade durch dieses Medium äußerste Gefährdung zu drohen scheint. Vor allem dann, wenn die Grundregeln, der vorhin als negativ beschriebenen Poetik des Kindertheaters verletzt werden. Wenn den Kindern zu viel Ernst zugemutet wird, wenn sich eine Inszenierung nicht aufs einfachste enträtselt, wenn sie den Horizont des vermeintlichen Kinderalltags überschreitet usw. Alle neuen und experimentellen Kindertheaterproduktionen werden mit diesen Befürchtungen konfrontiert. Die Parallele zu Rousseaus Ängsten stellt sich nicht zufällig her: handelt es sich doch auch bei den Kindern einem überlieferten kulturellen Muster zufolge, um Natur. Natur in dem Sinne, dass wir es mit etwas noch weitgehend Ungeformtem und hochgradig Gefährdetem zu tun haben.
W AS
IST
K IND
SPEZIFISCH ?
Was aber ist nun wirklich Kind spezifisch? Wenn man überhaupt davon reden kann, dass Kinder etwas für sich in Anspruch nehmen können, was erwachsenen Menschen nicht zukommt, dann ist es eine bestimmte Sicht der Dinge. Die Art und Weise wie Kinder sich mit der Welt auseinandersetzen, sie erkennen, sie aneignen und auf sich beziehen, das Wie also unterscheidet sich vom Realitätsverhältnis erwachsener Menschen. Bei Kindern ist die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Welt, zwischen Subjekt und Objekt noch nicht endgültig vollzogen. Die sogenannte objektive Wahrnehmung ist ja eine relativ späte Errungenschaft der menschlichen Psyche und auch im Erwachsenenalter funktioniert sie ja nicht immer einwandfrei. Nun könnte man diese Dominanz der subjektiven und phantasmatischen Wahrnehmung als defizitär bezeichnen, wenn als Norm die objektive Wahrnehmung gesetzt wird. Ebenso gut aber lässt sich in der Dominanz der affektgesteuerten Aktivität des Kindes ein Anspruch feststellen, der über die Wirklichkeit hinausgeht. Das Kind beansprucht noch, dass die Dinge der Welt mit seinen eigenen Wünschen und Fähigkeiten korrespondieren. Dass die Welt für das Kind da sei und nicht umgekehrt. Freud (1982/1924) beschrieb zwei verschiedene Arten der Anpassung an die Realität. Die eine nannte er die autoplastische Veränderung, d.h. der Mensch verändert sich in der Weise, wie es der gegebenen Umwelt entspricht, die andere nannte er alloplastische Veränderung, d.h. der Mensch verändert die Welt so, dass sie mit seinen Fähigkeiten und Wünschen übereinstimmt. Im Endeffekt müssen sich beide Formen der Realitätsberührung verschränken. Denn da, wo der Mensch alles von der Welt und
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nichts von sich selbst verlangt, stagniert seine Entwicklung und nimmt endlich wahnhafte Züge an. Umgekehrt wird ein Mensch, der sich nur in der Anpassung an die Erfordernisse seiner Umwelt entwickelt, kaum eine reiche Persönlichkeit ausbilden können, er wird ein starrer unflexibler Charakter bleiben. Die Bereiche alloplastischer Veränderung aber, das klingt schon bei Sigmund Freud an, sind das Spiel und die Kunst. Der niederländische Kulturhistoriker Huizinga (1991/1938) verweist auf die gemeinsame Wurzel von Spiel und Kunst, wenn er das Spiel zum Ursprung der Kultur erklärt. Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als „nicht so gemeint“ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft und an der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, und die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft. Huizinga definiert den Menschen nicht nur als wissenden, homo sapiens, nicht nur als tätigen, homo faber, sondern auch als spielenden, homo ludens. Beim spielenden Kinde aber verläuft auch der Bereich des Wissens und des Tätigseins über das Spiel. Das Spiel ist als die Tätigkeit anzusehen, die geradezu typisch ist, für die kindliche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Im Spiel entdeckt das Kind die Welt. Im Spiel macht es sie sich ganz handfest und praktisch zu eigen und zwar in einer Weise, die ganz genau mit den eigenen Fähigkeiten und Wünschen bzw. auch Ängsten korrespondiert. Es erprobt die Grenzen der Wirklichkeit und die Macht seiner Phantasien. Und vor allem eines ist hervorzuheben: Das Kind trachtet immer danach, sich in die Position eines Subjektes zu versetzen. Ein Kind hat Angst im Dunkeln durch die Wohnung zu gehen. Es fürchtet sich vor einem bösen Tier, das es beißen könnte. Nach einiger Zeit aber hat es aufgehört, sich bei seiner Mutter zu beklagen. Stattdessen läuft es jetzt laut knurrend und brüllend durch das Haus. Über diese plötzliche Wandlung befragt, sagt es: „Jetzt mache ich ihm selber Angst.“ Vom Opfer ist es zum imaginären Angreifer geworden, vom Opfer zum Täter, vom Objekt zum Subjekt. Ebenso ahmen Kinder Dinge, die sie nicht verstehen, von denen sie überrascht worden sind, im Spiel nach und eignen sich sukzessiv die Erlebnisse an und passen sie ein in die ganz individuelle Struktur ihrer Erfahrung und Persönlichkeit. Dabei verschränken sich Phantasie und Wirklichkeit. In der Regel ersetzt das Kind die Informationen, die ihm für ein Verständnis fehlen, durch Phantasien. Es füllt die Lücken der Wirklichkeit, so könnte man sagen, mit seiner Phantasie. Das Kinderspiel hat immer einen reproduktiven, nachahmenden, also wiederholenden Charakter und zugleich einen schöpferischen. Die Nachahmung tritt in den
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Dienst der jeweils aktuellen Persönlichkeit. Das heisst, das Kind versieht die Nachahmung der erlebten Realität mit seinen Ängsten, Wünschen, Phantasien, kurz mit seiner ganz persönlichen Sicht der Welt. Der amerikanische Psychoanalytiker Winnicott bezeichnet das Spiel als ein Übergangsphänomen, ein Phänomen, das weder der inneren Realität des Menschen noch der objektiven äußeren zuzurechnen ist, sondern dessen Wesen gerade im Übergang zwischen den Bereichen besteht. Von daher reklamiert er für das Spiel einen ,potential space‘, einen Spielraum, in dem es nicht darauf ankommt zu untersuchen, was wirklich und was erdacht, was Wahrheit und was Phantasie sei. Das Spiel entfaltet seine Wirkung gerade weil ein freier Wechsel der Realitätsbereiche möglich ist, weil das Kind entlastet ist, vom Druck innere und äußere Realität in Übereinstimmung zu bringen. Dieses Entlastungsmoment finden wir auch bei der Kunst bestätigt. Es soll einen Teil des Kunstgenusses ausmachen, denn auch der Erwachsene ist ja nicht frei von der immerwährenden Erfordernis, seine innere Welt mit der Äußeren und ihren Zwängen in Übereinstimmung zu bringen. Und wie das Kind so genießt auch er, die Dimensionen seiner Phantasien zu erproben. Gerade das, was Rousseau an der Phantasie so fürchtete, dass sie nämlich den Menschen dazu verführt, die Dinge mit einem anderen Maßstab zu messen als dem, der aus der Wirklichkeit selbst entnommen ist, die utopische Dimension der Phantasie also ist es, die für den Menschen geradezu lebensnotwendig ist. Das Spiel aber unterscheidet sich von der bloßen Phantasie. Es setzt sie nämlich in Kontakt mit der Realität. Es inszeniert handgreiflich mit verschiedenen Gegenständen, Personen und Rollen, was die Phantasie nur träumt.
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PASSIERT IM
T HEATER ?
Nicht zufällig ist ja die Metaphorik der Psychoanalytischen Theorie dem Theater entlehnt. Da finden wir die Traumszene neben der Bühne der Phantasie, den Verkleidungen des Ich und ähnliches. Das Theater diente schon immer auch als Metapher für die Welt. Mimesis bezeichnet sowohl Nachbildung der Welt im Sinne von Abbildung, als auch den Anteil der Imagination, wie er im Wort Erfindung enthalten ist. Kennzeichnend für die Theaterkunst aber ist, dass sie niemals in der abbildenden Funktion aufgeht, genauso wenig wie in der imaginativen. Selbst dort, wo ein Schauspiel versucht, weitest-möglich die äußere Realität wiederzugeben wie im dokumentarischen Theater, kann das Theater niemals das Gewicht der Realität selbst erhalten, denn zum Theater gehört unabdingbar der Zuschauer, das Publikum. Ein Musikstück kann von den Musizierenden für einander gespielt werden, aber Schauspieler bekommen untereinander unter Aus-
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schluss eines Publikums niemals wirkliches Theater zustande, das weiß jeder der diese Probenerfahrung schon gemacht hat. Der spielende Schauspieler sieht sich nicht spielen. Das Publikum ist jener unberechenbare Faktor im Theater, der mitspielen muss, damit es zustande kommt. Der Zuschauer aber weiß immer, dass es sich bei allem, was ihm auf der Bühne vorgesetzt wird, nur um Theater handelt. So realistisch auch das Spiel auf der Bühne angelegt sein mag, das Publikum weiß, dass es sich dort und nicht im wirklichen Leben zuträgt. Diese Grenze des Theaters haben viele Theaterreformer schmerzlich zu spüren bekommen. Im Theater haben alle Zeichen ein doppelte Funktion: Der Schauspieler existiert als Mensch auf der Bühne und zugleich als Zeichen für einen Menschen oder etwas anderes. Der Tisch auf der Bühne ist Tisch wie im Leben auch und zugleich kann er die Bedeutung eines Berges annehmen, er kann als Zeichen für großen Reichtum stehen, für Geiz, er kann den Chef verkörpern, ein Haus, ein Gebirge, einen spröden Liebhaber. Die Variabilität der theatralischen Zeichen ist nahezu unbegrenzt. Und sie sind nicht an ihre Materialität gebunden: Die Sonne kann durch ein Wort, eine Lampe, durch einen bestimmten Ton, durch ein gemaltes Bild, durch den Körper oder die Geste eines Schauspielers dargestellt werden. Allerdings – und dort ist die Grenze der Polyfunktionalität der Zeichen im Theater zu sehen – müssen die Bedeutungen vom Publikum geteilt werden können. Das heisst, das Theater funktioniert nur aufgrund eines gemeinsamen kulturellen Hintergrundes der Beteiligten – das ist der konservative Bereich – und aufgrund von ,Absprachen‘ über Bedeutungsverschiebungen – das ist der schöpferische Bereich der Theaterkunst. Er beinhaltet, in anderer Terminologie ausgedrückt, das Spiel mit den Zeichen und ihren Bedeutungen. Anders als im alltäglichen Leben, wo die Bedeutungen der Zeichen relativ fest definiert sind, hat das Theater die Freiheit, bekannte Bedeutungen zu verschieben, neue zu produzieren, die verschiedenen Zeichensysteme auszutauschen, Worte durch Gesten, Klänge durch Licht, kurz die Dinge der Welt anders anzuordnen als es im Leben, bzw. in der außerästhetischen Realität der Fall ist. Damit tut das Theater prinzipiell nichts anderes als das spielende Kind, bzw. könnte es tun, muss man an dieser Stelle sagen, denn die schöpferische Potenz des Theaters wird ja gar nicht immer in vollem Umfange ausgenutzt. Allzu oft, und damit kommen wir auf den Anfang zurück, allzu oft wurde dem Theater ja die Aufgabe zugeschrieben, direkt in die Realität einzugreifen, d.h. Wirkungen hervorzubringen, wie sie die Realität selbst hervorbringt. Demgegenüber möchte ich für eine Ästhetik plädieren, die den Spielraum des Theaters im wörtlichen Sinne verstanden als Spiel-Raum in vollem Umfange ausnutzt. Dazu gehört der fließende Übergang zwischen Phantasie und Realität, zwischen Innen und Außen, zwischen dem
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Menschen und den Gegenständen, zwischen Kunst und Wirklichkeit. Das heisst, dass das Theater nicht mit all seinen Mitteln versucht, der Realität nahezukommen, sondern über sie hinauszugehen, mehr zu zeigen, als sie preisgibt. Die Kraft des Theaters liegt in seiner Realitätsferne, nicht in seiner Realitätsnähe begründet.
K INDERSPIEL – T HEATERSPIEL Der Spiel-Raum des Theaters aber wird sich immer auf sein Publikum hin definieren müssen. Nur dann, wenn das Publikum mitspielt, wie man so schön sagt, d.h. wenn es den auf der Bühne angebotenen Zeichen auch wirklich Bedeutung verleiht, wenn es sie als bedeutungsvoll erachtet, erst dann kann sich Theater realisieren. Damit ist die Realitätsferne des Theaters grundlegend begrenzt durch die Realität des Publikums. Aber zum Glück gehört zu dessen Wirklichkeit ja auch die Phantasie dazu. Manfred Wekwerth versuchte einmal mit einem Experiment zu beweisen, dass es in Wirklichkeit das Publikum sei, das im Theater spielt. Er präsentierte einer Gruppe von Zuschauern auf der Bühne einen Schauspieler, der nichts anderes tat, als die geheime Anweisung zu befolgen, nichts zu tun. Was die Zuschauer dann am Ende alles berichteten über das was sie gesehen hatten, gab den Beweis, wer es war, der eigentlich gespielt hatte. Ohne „assistance“ des Publikums kommt keine Theateraufführung zustande. In der imaginativen Kooperation des Zuschauers liegt die einmalige Präsenz des Theaters begründet, die keine Konkurrenz der elektronischen Medien zu scheuen braucht. Die Bedeutung des Publikums im Theater ist deshalb so zu betonen, weil aus ihr verständlich wird, warum das Theater so wenig Macht über seine Zuschauer hat. Und dieser Umstand kann sowohl positiv wie auch negativ ausgelegt werden. Dort, wo das Theater darauf aus ist, ganz bestimmte Bedeutungen zu produzieren, dort wo es aufklären, im verkürzten politischen Sinne aktivieren, erziehen möchte, wird es immer eine Grenze finden in der Freiheit seiner Zuschauer mitzuspielen, bzw. das Spiel zu verweigern und es in den Bereich der bedeutungslosen Illusion zu verweisen. „Was sie da zeigen ist ganz schön und gut, aber...“ Aus der Freiheit des Publikums, das Spiel des Theaters mitzuspielen, resultiert aber auch die Grenze seiner Gefährdung. Das heisst, die Befürchtungen, die Rousseau dem Theater gegenüber hegte, sind nur was die gesundheitlichen Aspekte anbelangt, zu teilen: jenen ungesunden Aufenthalt in einem verdunkelten stickigen Raum ohne jede körperliche Betätigungsmöglichkeit. Theater kann dem Zuschauer nichts aufzwingen. Ein vollständig phantasieloser Beobachter würde nur verkleidete, ungewöhnlich sprechende und agierende Personen auf
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der Bühne feststellen, die sich inmitten von seltsamen Gegenständen, die zum Teil handwerklich gar nicht richtig ausgeführt sind, auf unsinnigste Weise einer Menge neugieriger Zuschauer präsentieren. Theater würde sich also in seinen Augen gar nicht ereignen.
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DES
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Aber – so wird der Einwand lauten – trifft das auch für Kinder zu? Sind nicht gerade die Kinder ein besonders sensibles und beeinflussbares Publikum, das weder über die Kenntnisse noch über die Fähigkeiten zu Kritik und Distanzierung verfügt? Und brauchen wir nicht mindestens deswegen eine eigene Ästhetik für das Kindertheater, das heisst eine Theorie über die Art und Weise wie man für Kinder Theater machen sollte? Sicherlich kann man eine Theorie immer gebrauchen als Orientierung und Hilfsmittel, auf keinen Fall aber darf es sich dabei um eine normative Ästhetik handeln. Begreift man das Theater als eine Kunst des Spiels, so wird von vornherein deutlich, wie nah die Theaterkunst den Kindern ist. Und da zum Theater unabdingbar die Publikumsberührung und das Spiel mit dem Publikum gehören, hat das Theater immer sein eigenes Korrektiv dabei. Den Spiel-Raum des Theaters weitestgehend auszunutzen, das muss ja nicht gleichbedeutend sein mit postmoderner Subjektlosigkeit. Jedes Spiel hat ein Motiv, einen Gegenstand, ja sogar ein Ziel, in dem es sich erschöpft. Es existiert immer ein Subjekt der Wahrnehmung und das wird sich schon als solches zu erkennen geben. Die Freiheit Nein-zu-sagen ist eine unabdingbare Voraussetzung jeden Spiels und sie trifft auch für das Theaterspiel zu. Die Pädagogik kann sicherlich versuchen zu bestimmen, was jeweils als kindgemäß anzusehen ist. Was Kunst ist, aber war zu allen Zeiten ein Wagnis. Ihm sollte sich auch das Theater für Kinder immer wieder aussetzen.
L ITERATUR Freud, S. (1982/1924). Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose. In Studienausgabe Bd. 3, S. 355-361. Huizinga, J. (1991/1938). Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Rousseau, J.-J. (1988/1758). Brief an D. Alembert über das Schauspiel. In H. Ritter (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau. Schriften Bd. 1. Frankfurt a. M.
10 Thesen für eine Ästhetik des Spiels1
Das Kindertheater, wie wir es zunächst seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts kannten, war grob gesagt entweder eine kindertümelnde oder eine pädagogische Veranstaltung. Von daher war es vor allem wirkungsästhetisch konzipiert, das heisst als ein Theater mit dem man etwas Bestimmtes oder doch Bestimmbares beim Publikum erreichen wollte. Erst als die Pädagogik in Misskredit geraten ist, also seit Mitte der achtziger Jahre etwa, erhebt auch das Kindertheater zunehmend den Anspruch Kunst zu machen. Aber je reicher das Kindertheater nun wird, desto spärlicher die Literatur, die sich mit den neuen Entwicklungen auseinandersetzt. Reich gesät dagegen war die fachliche Auseinandersetzung in der Phase des pädagogisch dominierten Kindertheaters. Lerntheorien konnten da bemüht, Sozialisationsbedingungen der Adressaten thematisiert, affektive und kognitive Lernprozesse überprüft werden, Publikumsbefragungen stattfinden u.v.a.m. Nun aber wo es um Kunst geht, breitet sich vornehmes Schweigen aus. Die Sprach- und Inhaltslosigkeit des Kunstbegriffs, mit dem jetzt wieder operiert wird, ist nicht verwunderlich, stand doch die Kunst, besonders was das emanzipatorische Kindertheater anbelangt, lange in Verruf. Emanzipatorisches Theater für Kinder, das bedeutete in den Anfängen geradezu eine Emanzipation von der Kunst. Die Gründergeneration des engagierten Kindertheaters war – wie viele andere Künstler damals auch – aufgebrochen, um sich von der traditionellen Kunst und ihrer vermeintlichen Wirkungslosigkeit zu verabschieden. Viele gaben den schönen Schein auf, um etwas ganz Handfestes zu tun, wie sie dachten. Politisches Theater, Straßentheater, Theater für Kinder. Und nun ist es also
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Überarbeitete Fassung eines Beitrags, der zunächst auf dem Festival Spurensuche in Wien 1992 gehalten und 1995 veröffentlicht wurde in: Fundevogel. Zeitschrift für Kindermedien, H. 3/1995, Beilage Grimm & Grips, Frankfurt/M.
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soweit, dass wir sie wieder inthronisieren sollen und oder wollen: die einstmals verworfene Kunst. Aber wie und warum eigentlich? a) weil die Pädagogik versagt hat, b) weil es peinlich geworden ist pädagogisches Theater zu machen und c) weil auch Kinder Anspruch auf Kunst haben, und weil wir in ihnen nicht mehr die Erlöserkinder für eine bessere Zukunft sehen, noch die defizitäre sozial marginalisierte Randgruppe, die eine Sonderbehandlung verdient? Bleiben wir also bei c) auch Kinder haben Anspruch auf Kunst. Da tut sich nun eine gähnende Leere auf: Sind doch schon die Debatten um Sinn und Zweck einer Ästhetik für Erwachsene nahezu verstummt. Was sollen wir da sagen? Wer fragt noch nach der Funktion der Theaterkunst? Gar der Ästhetik überhaupt. Die gesellschaftliche Funktionalisierung der Kunst aber, die infolge der 68-iger Bewegung mit dem klassischen Inventar des Guten, Schönen und Wahren so schonungslos aufgeräumt hatte, hat heute zurecht ausgedient. Sie ist mehr oder weniger klammheimlich auf die Müllkippe der Geschichte gewandert. Selbst der Unterhaltungswert der Brecht’schen Ästhetik ist heute kaum noch zu halten. Auch das Kindertheater soll jetzt nicht mehr funktionalisiert werden für sozusagen kunstfremde Zwecke: Nicht als Politikersatz der Erwachsenen, nicht als Zuckerstückchen leidgeplagter Lehrer im Projektunterricht, nicht als Einübung in soziale Kompetenz, nicht als Drogen- oder Aidsprävention. Oder jedenfalls nicht nur und nicht ausschließlich. Das ist ein erheblicher Fortschritt, auch das Resultat von Lernprozessen. Soll sich das künstlerisch anspruchsvolle Kindertheater aber jetzt so zweckfrei gebärden wie einst die als bürgerlich verschriene Kunst? Wie wird der Kunstbegriff gefüllt? Welche Kunst machen wir für Kinder? Und worin unterscheidet sie sich von der Kunst für Erwachsene? Ist sie nur die Miniaturausgabe: Kleiner, simpler, billiger? Hamlet für Kinder mit Miniensemble und sparsamen Bühnenbild, in kindgerechter Sprache und garantiert verständlich? Was aber ist eigentlich Kind gerecht? Warum inszenieren wir den Hamlet heute für Große? Man kann nicht behaupten, dass dies alle Regisseure, geschweige denn ihre Inszenierungen ausweisen. Dennoch unbestritten: Hamlet hat uns etwas zu sagen. Was aber hätte er Kindern zu sagen? Ist es das Gleiche? „Etwas ist faul im Staate Dänemark.“ Begreift das ein Kind? „Warum muss ich die Welt immer zu meiner Sache machen?“ Auch dieser moralische Trieb Hamlets wäre ein Thema. Versteht das ein Kind? Warum ist eine Mutter dem Mann nicht treu geblieben? Versteht das ein Kind? Interessiert es sich für diese Frage? Nehmen wir das Stück Der kleine
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Prinz von Dänemark von Torsten Letser.2 Hier benutzen der kleine Hamlet und seine Freundin Ophelia das Puppenspiel, das Theaterspiel also, um den drohenden Königsmord zu verhindern. Beide Kinderfiguren verhalten sich auf vorbildliche Weise phantasievoll wie so häufig im Kindertheater. Sie kennen nichts von der tiefen Zerrissenheit ihrer literarischen Vorbilder. Der kleine Hamlet leidet unter dem Kindsein als solchem, seine Handlungshemmung ist äußerlich verschuldet, denn: Sein Vater hört ihm nicht zu: „Ich habe nicht verlangt ein Kind zu sein, dem keiner zuhört. Kind sein, oder nicht Kind sein, die Frage stellt uns keiner… Will ich oder will ich nicht ein Kind sein in dieser unverständlich bösen Welt?“
Hier wird die Kindgerechtigkeit durch Reduktion der Fabel erreicht, und indem der Stoff auf ein spezielles Problem von Kindern zugeschnitten wird: Die Tatsache, dass sie oft kein Gehör finden. Sicherlich wären komplexere Konflikte, auch größere innere Widersprüche denkbar, als sie uns hier mit dem abschließenden Lehrsatz: „Phantasie hilft!“ gezeigt werden. Allerdings bin ich der Meinung, dass nicht die Stoffwahl, sondern die Formgebung darüber entscheidet, was für Kinder geeignet ist oder nicht. Es kommt wesentlich darauf an, wie das Theater einen Stoff inszeniert. 1. These: Jeder Stoff kann Kindern auf dem Theater nahegebracht werden. Es gibt keine kindgerechten und kindungerechten Themen. So sind Kinder bekanntlich interessiertere Philosophen als Erwachsene. Erst mit dem Ende der Jugendphase hört ja in der Regel auch das Fragen nach dem Sinn und Zweck des eigenen Daseins auf, nach dem Grund des Universums, nach der Geschichte und unserem Ort darin. Kinder fragen sich auch, warum sie Kinder sind und nicht Erwachsene. Sie fragen, warum wir kein Fell haben, warum wir sterben müssen und, warum wir uns nicht so viel Geld von der Bank abholen können, wie wir gerade brauchen. Und Kinder interessieren sich für Menschen. Dennoch, und damit komme ich zu meiner zweiten These:
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Torsten Letser, Der kleine Prinz von Dänemark (Den lille Prinsen av Danmark) aus dem Schwedischen von Dirk H. Fröse. UA: Progressteatern, Norsborg, 1982, DE: Bühnen der Stadt Essen, 15.5.1983. Aufführungsrechte: Verlag der Autoren. Frankfurt/M.
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2. These: Es gibt eine kindliche Sicht der Welt. Die betrifft nicht so sehr das was gesehen und wahrgenommen wird, als das wie, die Art und Weise, in der die Realität erfahren wird. Diese „kindliche Sicht“ der Dinge kommt in der dominierenden Tätigkeit des Kindes zum Ausdruck: In seinem Spiel. Was tut ein spielendes Kind? Es verwandelt sich in ein Tier, einen Roboter, ein Haus. Ohne Mühe schlüpft es von einer Rolle in die andere, wie im Traum geschieht dies assoziativ und einer subjektiven Logik folgend. Gegenstände wechseln die Funktion: Eben noch ein Tisch haben wir es jetzt mit einem Unterseeboot, einem Berg, der Ladefläche eines LKW zu tun. Teile verselbstständigen sich, beginnen zu sprechen. Körperteile treten als ganze Personen auf, verweigern die Funktion, stellen sich tot. Wie vielfältig auch immer Spielhandlungen sein mögen, eines verbindet sie: Sie erfolgen aus freien Stücken und sie befriedigen den Spielenden. Das Kind lernt die Wirklichkeit kennen, indem es sie im Spiel reproduziert, sie aneignet. Aber es eignet sie an, indem es sie seinen subjektiven Fähigkeiten und Wünschen gemäß konstruiert und erfindet. Was auch geschehen sein mag, das Kind versucht sich durch das Spiel in die Position eines Subjekts zu bringen. 3. These: Kunst insbesondere Theaterkunst, von der hier die Rede ist, knüpft an die kindliche Sicht der Welt an. Dabei ist weniger das Kind in uns gemeint, wie man es in romantisierender Weise früher formuliert hätte, als eine Sphäre unseres Mensch-Seins, die in der Kinderzeit besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Schon Freud formulierte es: Der Gegensatz von Spiel ist nicht Ernst sondern Wirklichkeit, womit er sagen wollte, dass die spielerische Aktivität eine sehr ernsthafte und keineswegs leicht zu nehmende Angelegenheit sei. Er verfolgte ihre Spur bis hin zur Aktivität des Dichters, der sich in der ausgezeichneten Lage sieht, frei mit den verschiedenen Realitätsbereichen spielen zu können, mit der äußeren, objektiven und der inneren, von Freud als psychische Realität bezeichneten. Im Spiel des Kindes wie in der Kunst des Dichters wird eine besondere Realität nach Maßgabe der jeweiligen Wünsche, Affekte, Ängste usw. hervorgebracht. Hier regiert das Lustprinzip, wobei – und das ist zu betonen – das Realitätsprinzip nicht vollständig außer Kraft gesetzt ist. Im Spiel wird die objektive Welt angeeignet, ein Prozess den besonders Piaget beschreibt, aber unter der Herrschaft des Lustprinzips, d.h. das Kind und der Dichter, beide, erfinden eine Welt, die mit ihren ureigensten Fähigkeiten korrespondiert. Dieser Möglichkeits-Raum des Spiels, der amerikanische Psychoanalytiker Winnicott, nennt ihn „potential space“, ist auch der der Kunst überhaupt. Die deutsche Übersetzung „Spiel-Raum“ bietet sich geradezu an als Metapher für das Theater. Hier sehe ich den Punkt, wo sich Ästhetik für Erwachsene und Kunst für Kinder
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berühren. Am Kind wird deutlich, was im Erwachsenen und seinen Produktionen auch steckt. 4. These: Die Konventionen des Theaters entsprechen den Charakteristika des kindlichen Spiels: – Die Vertauschung und das zwanglose Nebeneinander von innerer und äußerer Realität, von objektiver und subjektiver Wahrnehmung, von Phantasie und Wirklichkeit. – Auf dem Theater existiert keine Objektivität, kein Objekt das von einem Subjekt getrennt wäre. Die Geste des Erdolchens ist es, die auf der Bühne den Dolch erzeugt, wie Sartre sagt. Der Dolch selbst ist hier überflüssig. Man muss ihn auf der Bühne weder benutzen, noch zeigen. – Jedes Spiel ist von dem Prinzip der Verwandlung von Passivität in Aktivität motiviert. – Im Theater gilt: Der Held ist immer der Zuschauer! Ohne dass er den Zeichen auf der Bühne Bedeutung beimisst, sie als sinnfällig anerkennt und mit Sinn füllt, kommt Theater nicht zustande. Anders als im Kino spürt der Schauspieler auf der Bühne ob und in welchem Maße ein Publikum mitproduziert, mitspielt. – Wie das freie Phantasiespiel, so gehorchen auch die Produkte des Zuschauers im Theater den Gesetzen des Imaginären. Die Bühne irrealisiert jedes Zeichen allein schon dadurch, dass der Zuschauer weiß, dass alles, was er zu sehen bekommt, sich eben im Theater und nicht im Leben zuträgt. Damit ist auch die Grenze des dokumentarischen, auch des realistischen Theaters bezeichnet: Hinter jeder Wahrheit, die mir auf der Bühne verkündet wird, lauert der Schauspieler, dessen Aufgabe, nämlich so zu tun als ob, ich als Theaterbesucher gut kenne. In dem Augenblick wo der Schauspieler aber als private und persönliche Person mich anspricht, ist das Theater beendet und die direkte Kommunikation setzt ein. Von daher tritt die außerästhetische Wirklichkeit nur durch und im Kopf des Zuschauers ins Theater ein. Sie hat nur so viel Platz wie jeder Zuschauer ihr in seinem Vorstellungsvermögen einräumt. Diese Grenze konnte Brecht, so lehrt die Rezeptionserfahrung seiner Stücke, nicht überspringen. Auch mit vollem Einsatz der Verfremdungstechniken findet eine Objektivierung nicht statt.3 Das Theater wendet sich an das Imaginäre und
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Vgl. Ingrid Hentschel, Kindertheater. Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 1988.
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damit sind die wunscherfüllenden Tendenzen der Psyche aktiviert. Und dies ist eine Chance. 5. These: Auf dem Theater ist und bleibt der Maßstab der Mensch. Ohne ihn existiert Theater nicht. Ein Maler muss sich nicht, wie Velázquez es gewagt hat, selbst ins Bild setzen, er kann hinter seinem Werk zurücktreten, nicht so der Schauspieler im Theater. Immer ist er in seiner Rolle sichtbar. Und seine Beziehung zum Publikum macht das Besondere der theatralen Kommunikation aus. Produktion und Rezeption des Kunstwerks fallen hier nahezu zusammen. 6. These: Die lebendige Kommunikation ist es, die die Theaterkunst von der Filmkunst und allen neueren technologisch unterstützten Künsten unterscheidet. (Das Fernsehen wirbt nicht umsonst mit der einzigartigen Präsenz des Theaters. „Bei ARD und ZDF sitzen Sie in der ersten Reihe!“) Von daher sollte im Zentrum einer Ästhetik des Theaters, die auch das Kindertheater einschließen kann, nicht das Wort, aber auch nicht das Bild, sondern der Begriff Spiel stehen. Er umfasst die aktuelle interpersonale Relation, er umfasst den Möglichkeitsraum, er weist auf das dem Theater eigene Verhältnis von Realität und Fiktion hin. 7. These: Theaterkunst erzeugt ihre Wirkung nicht durch ihre Realitätsnähe, sondern durch ihre Realitätsferne. Nicht das Maß der organisierten Wirklichkeitsberührungen entscheidet über die künstlerische Wirkung, sondern das Maß von Freiheitsmomenten, die der Wahrnehmung gegeben werden. Der Zuschauer genießt, so drückte es Roland Barthes einmal aus, die Freiheit die Dinge etwas bedeuten zu lassen. Etwas, so kann man hier ergänzen, das nicht nur von den Dingen selbst, sondern maßgeblich auch von ihm, dem Zuschauer abhängt. Diese Sphäre des Imaginären ist auch eine Wirklichkeit. In welchem Maße sie zu unserem normalen, alltäglichen Erkenntnisvermögen beiträgt, das kann man den entwicklungspsychologischen Untersuchungen zur Funktion des Kinderspiels entnehmen. 8. These: Das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, anders ausgedrückt von inner- und außerästhetischer Realität ist der Prüfstein eines kunstvollen Theaters. Auch für Kinder gilt: Das bloße Abbild der Realität befriedigt die Sinne nicht, umso weniger als die elektronischen Medien auf diesem Gebiet einen uneinholbaren Vorsprung haben. Das bloße Nachahmen lässt die Phantasie untätig ebenso wie eine Kunst, die sich hauptsächlich an die kognitiven Fähigkeiten ihres Publikums wendet. So wie sich im Spiel des Kindes Phantasie und Wirklichkeit durchdringen, sich verschränken und verweben, ohne dass der Sinn für die Wirklichkeit verloren ginge, ebenso sollte sich das Theater auf seine spielerischen Po-
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tenzen besinnen und damit alle Bereiche menschlicher Existenz ansprechen. Ich weiß wohl, dass der Zahnarzt bei dem ich eben war, keine grausame Bestie ist, die mir alle Zähne mit dem Presslufthammer herausbricht, dennoch: Jetzt spiele ich ihn, so wie ich ihn sehe, jetzt. Die phantasmatische und die realitätsbezogene Interpretation schließen sich nicht aus. Im Gegenteil: Im Spiel sowie in der Kunst haben sie die Möglichkeit konkurrenzlos nebeneinander zu bestehen. Denn beide drücken zweifellos eine Wahrheit aus. Die Phantasie ist nicht der falsche Schein der Dinge, sondern ein Teil ihrer möglichen Existenz. 9. These: Kunst verlangt nicht Ein- sondern Vieldeutigkeit. Die Reduktion von Stoffen, Charakteren und Darstellungsweisen im Kindertheater ist nicht kindgemäß. Sie erklärt sich aus der pädagogischen Tradition, die wirkungsästhetisch auf Lernerfolge und somit auf möglichst große Eindeutigkeit in der Darstellung angelegt war. Ein künstlerisches, komplexes Kindertheater kann auf solche Eindeutigkeit verzichten. Im Theater darf auch Unverstandes vorkommen. Das bedeutet aber nicht, dass man nach der Phase der Zweckgebundenheit der emanzipatorischen Kindertheater-ästhetik nun in postmoderne Subjektlosigkeit verfallen müsste. 10. These: Es existiert immer ein Subjekt der Wahrnehmung. Selbst die Traumproduktion ordnet sich ja zu Gestalten, formt, so sprunghaft alogisch absurd sie auch im Einzelnen sein mag, einen Zusammenhang. Der Zusammenhang wird in der Kunst durch den Rezipienten geschaffen. Von daher kommt es nicht darauf an, ob wir im Kindertheater durchgängige Geschichten zeigen, wahrscheinliche oder unwahrscheinliche Vorgänge, sondern ob das, was gezeigt wird, die Zuschauer zum Mitspielen einlädt. Um ihre schöpferischen Fähigkeiten zu erfahren, muss man sich auf sie beziehen, vor allem sie kennen. Das heißt auf das Kindertheater bezogen auch, dem jungen Publikum mehr zumuten, als es der gesicherten Erfahrung, vor allem der der Erzieher entspricht. Denn: Was Kindern angemessen ist, mag die Pädagogik jeweils auf dem Hintergrund ihrer soziokulturellen Voraussetzungen und wissenschaftlichen Bezugssysteme bestimmen. Kunst entzieht sich eindeutiger Überprüfbarkeit. Sie beinhaltet zu allen Zeiten stets Unwägbarkeiten und Risiken. Denen sollte sich auch das Kindertheater aussetzen. Die Zuschauer werden sich die Freiheit nehmen, anzunehmen oder abzulehnen was die Bühne ihnen zeigt. Das ist eine Grundvoraussetzung des Spiels.
Über Grenzverwischungen und ihre Folgen Hat das Kindertheater als Spezialtheater noch Zukunft?
Es hat sich herumgesprochen, und spätestens mit Erscheinen von Reclams Kindertheaterführer 1 ist es offiziell: Das Kinder- und Jugendtheater hat sich in Deutschland neben Oper, Schauspiel und Ballett als eigenständige Theatersparte etabliert. Langsam aber sicher folgen nun auch endlich die entsprechenden Weihen von Seiten der Wissenschaft und Kritik. Die Lage hat sich normalisiert, unverkennbar. Die Integration des ehemaligen Außenseiters Kinder- und Jugendtheater geht inzwischen soweit, dass man auf der jüngsten Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft nicht nur dem Kindertheater einen Programmplatz einräumte, sondern sich auch genötigt sah zu fragen, ob nicht bei der derzeitigen Entwicklung des Kindertheaters hin zu einem Stadttheater die eigentlichen Adressaten, die Kinder, auf der Strecke zu bleiben drohen. Was verbirgt sich hinter dieser weitsichtigen Befürchtung? Immer mehr Kinder- und Jugendtheater gestalten ihren Spielplan inzwischen für ein generationenübergreifendes Publikum. Kinderstücke, wie Ad de Bonts Ertrunkenes Land werden auch am Abend für ein ausschließlich erwachsenes Publikum angeboten, während am Vormittag die Schulklassen die meistens doch noch harten Bänke des Kinder- und Jugendtheaters füllen. Sobols Ghetto wird als Stück für Jugendliche auf die Bühne gebracht, Susanne Schneiders lyrische Textvorlage über die Brontë-Schwestern zum Renner eines ausgewiesenen Jugendtheaters. Das alles wäre nicht bedenklich, sondern durchweg erfreulich, aber: Auf der anderen Seite sind in den Spielplänen immer weniger Stücke zu finden, die sich tatsächlich an Kinder, nämlich Menschen zwischen drei und zwölf Jahren, richten. Betrachtet man nur die Gruppe der Kinder bis zu acht, neun Jahren, sieht die 1
Reclams Kindertheaterführer, hg. vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1994.
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Bilanz noch düsterer aus. Das Jugendtheater mit seinem fließenden Übergang zum Erwachsenentheater stellt nicht mehr nur noch einen Bereich des Kinderund Jugendtheaters dar, sondern dominiert sichtlich die Spielpläne. Und hier finden wir auch die aufwendigsten Inszenierungen, die besten Regisseure und Schauspieler, während die Kleinen wie fast immer mit Ein-, Zwei-, höchstens Dreipersonenstücken im überaus preiswerten Bühnenbild abgefunden werden. Im neuproklamierten Theater der Generationen scheinen die Großen die Überhand gewonnen zu haben. Eben fand ich einen alten Zeitungsauschnitt aus dem Jahre 1988, in dem vor einer „Verinselung kindlicher Lebensverhältnisse“ gewarnt wird. Dahinter verbirgt sich die errechnete demografische Tendenz, dass es in unserer Gesellschaft zunehmend weniger Kinder geben wird, bei kontinuierlichem Anstieg des Anteils alter Menschen. Schon jetzt bestimmen Kinder nicht mehr die Straßenszenen, nicht das Leben auf Plätzen und Hinterhöfen. Immer weniger Menschen haben tatsächlich mit Kindern zu tun; manche haben nicht eines in ihrem Bekanntenkreis. Auch hier also scheint das Kind unterzugehen in einem von Erwachsenen mehr denn je dominierten gesellschaftlichen Leben. Niemals zuvor sind die Erwachsenen so alt geworden wie heute, und niemals gab es so viele von ihnen im Verhältnis zu immer weniger Kindern. Das lässt sich fast an jedem Mietshaus nachrechnen. Kinder geraten aus dem Blick, es wird schwieriger, sie wahrzunehmen. Sie treten nicht mehr massiv in Banden auf, streifen nicht als Gruppen von Großen, Kleinen, Jungen, Mädchen durch die Gegend. In den unwirtlichen Städten sind sie überhaupt selten nur noch ohne Begleitung von Erwachsenen unterwegs. Ein selbstverständliches Verhältnis zu unserem Nachwuchs haben wir in Deutschland kaum entwickelt, und die Chancen, dies zu tun, werden geringer. Wo immer wir uns den Kindern widmen, treffen wir besondere Anstrengungen. So muss auch derjenige, der sich heute in welcher Weise auch immer mit Kindertheater befasst, sorgsamer Vorgehen als sonst üblich: Das Auge der Experten wacht genauer und ausdauernder über diese spezielle Kunstform für ein spezielles Publikum als über andere. Wo immer es sich um Kinder handelt, so scheint es, kann man nicht einfach Kunst machen, Literatur, Film, Fernsehen oder eben Theater produzieren. Nein, wenn Kinder die Adressaten darstellen, müssen Experten dabei sein, die in Form von wissenschaftlichen Beiräten von der TV-Sendung bis zum Kinderbuch die vermeintlichen Interessen der Zielgruppe vertreten. Wo die nicht finanzierbar sind, tritt die Selbstkontrolle der Lehrer und Pädagogen in Form von unermüdlichen Anrufen und Leserpost auf den Plan. Von den Beschränkungen, die solche Aktivitäten meistens zur Folge haben, haben sich die Kindertheater zum Glück relativ freihalten können. Immer weniger lassen sie sich in ihrer Theaterproduk-
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tion von den angeblichen Spezialisten in Kindheitsfragen leiten. Sie wollen auch dem bei uns so eifrigen Zwang zur Begründung künstlerischen Tuns nicht mehr folgen. Immer mehr Kinder- und Jugendtheaterdramaturgen sagen mir im Gespräch über ihre Spielplangestaltung: Ich möchte spielen, inszenieren, was mich interessiert. Wenn ich überzeugt bin, wenn die Schauspieler überzeugt sind, dann wird es auch dem Publikum gefallen. Und das funktioniert häufig auch. Manchmal auch nicht. Aber auch das ist Ausdruck der Normalisierung der Verhältnisse. Kinder- und Jugendtheater distanzieren sich weitgehend von pädagogischen Ansprüchen und beanspruchen immer häufiger „mehr“, wie sie meinen, nämlich: nur noch Theater zu machen. Dass in der skizzierten Situation die Kinder dann diejenigen sind, für die sich das Theater schließlich am wenigsten interessiert, ist naheliegend. Woher soll die Motivation für Autoren, Dramaturgen, Regisseure, Schauspieler kommen, Theater für kleine Menschen zu machen, vielleicht sogar im Vorschulalter? Von selbst versteht sie sich jedenfalls kaum. Und so will es der kleine Teufel der Geschichte, dass wir bemerken müssen, wie sich das Kindertheater, kaum etabliert, auch schon wieder als eigenständige Kunstform in Frage zu stellen beginnt. Außenstehenden ist das schwer verständlich zu machen. Wir leben eben in einer rasanten Zeit. Aber leider bewegt sich die Reflexion dessen, was sich verändert, immer sehr viel langsamer als die Praxis. Von daher möchte ich nun gewissermaßen rechtzeitig – bevor das Kinderund Jugendtheater etwa als eigenständige Kunstform zu verschwinden droht, einige Gedanken zu seiner Zukunft in die Debatte werfen. Vielleicht wollen wir die Spezifität des Mediums ja doch beibehalten, vielleicht sollte das Kindertheater bis über das Jahr 2000 hinaus ein Spezialtheater sein, und vielleicht gibt es dafür ja auch gute Gründe. In jedem Falle sollte zumindest das Denken die Paradoxien nicht scheuen.
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Im Zwischenbericht des Projekts Theater der Generationen heißt es: „Festzuhalten ist..., dass die Kinder- und Jugendtheater sich in einer Umbruchsituation befinden. Was einst als das sogenannte emanzipatorische Kinder- und Jugendtheater – als ein Gegen-, ein Antitheater gedacht war, hat sich im Laufe der Zeit zu einer Kunstform entwickelt, die sich mit breiter Themenvielfalt, literarischen Texten und differenzierten Spielweisen eigenständig auszudrücken weiß. [...] Was sich ursprünglich schlichtweg
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Kinder- und Jugendtheater nannte und sein Publikum bewusst im jungen Zuschauer suchte, wandelt sich in ,Junges Theater‘, ,Schauburg‘, ,Pfütze, das überraschende Theater‘ [...] Diese Neuorientierung, die als Paradigmenwechsel bezeichnet werden kann, hat mit veränderten politischen und gesellschaftlichen Situationen der BRD zu tun.“2
Das Paradox wird hier nicht zufällig formuliert; es beinhaltet ein Problem: Das Kinder- und Jugendtheater ist inzwischen zu einer Kunstform avanciert, die sich „eigenständig auszudrücken weiß“, während es zugleich bestrebt ist, seine Spezifität aufzulösen, was nicht zuletzt in den zahlreichen Umbenennungen der Theater zum Ausdruck kommt. Für die praktische Infragestellung des Kindertheaters gibt es viele gute Gründe. Besonders die Situation in den neuen Bundesländern machte es erforderlich, über die Rolle der Kinder- und Jugendtheater neu nachzudenken. Natürlich spielt hier legitimer Weise auch eine Rolle, dass Kindertheater im freien Verkauf nur funktioniert, wenn Erwachsene, also meistens die Eltern, sich mit ihren Kindern zum Theaterbesuch entschließen. So ist ein Theater, das sich nicht vollends abhängig machen will oder kann von der Zusammenarbeit mit der Schule, angewiesen auf Familientheater. Und außerdem, so betonen viele Verfechter des Familientheaters zu Recht, ist es nicht einzusehen, dass sich Erwachsene langweilen müssen, wenn sie mit ihren Sprösslingen ins Theater gehen. Überdies schafft das gemeinsame Theatererlebnis eine neue und bereichernde Dialogmöglichkeit zwischen Eltern und Kindern. Der Austausch über das, was auf der Bühne erlebt und gesehen worden ist, macht sensibel füreinander. Auf der anderen Seite gibt es Regisseure, Schauspieler und Autoren, die sich unabhängig von diesen Überlegungen eher in ihrer künstlerischen Freiheit eingeschränkt fühlen, wenn sie Theaterkunst nur für ein bestimmtes Publikum machen sollen; ein Publikum, mit dem sie selbst überdies nur zum Teil identisch sind. Hier wird die Infragestellung des Kindertheaters als eines speziellen Zielgruppentheaters also aus Gründen der künstlerischen Freiheit betrieben. Wo das Medium Theater an erster Stelle steht, wird jede Einengung des Spielraums auf eine bestimmte Zielgruppe und ihr vermeintliches Rezeptionsvermögen als abträglich empfunden. Alle diese Gründe – und häufig spielen sie ineinander – sind überzeugend. Es wären sicherlich auch noch weitere zu nennen, aber ich möchte auf einen anderen Zusammenhang verweisen.
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Henning Fangauf in seinem Bericht zum Projekt „Theater der Generationen“ . Kinderund Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M., 1995.
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Unübersehbar verändern sich die Verhältnisse zwischen den Generationen: Jugendlichkeit ist zum normativen Attribut für Erwachsenheit geworden. Auch Erwachsene weisen heute Lebensphasen auf, die traditionell nur bei Jugendlichen vorkommen: Phasen der Ausbildung, der Umorientierung und Selbstfindung, Phasen der Erprobung neuer Lebensentwürfe. Die „richtigen“ Erwachsenen scheinen in unserer Gesellschaft zu verschwinden. Eben fand ich ein Buch über eine Kindheit zu Anfang des 20. Jahrhunderts, das folgendermaßen beginnt: „Seit Menschengedenken waren die Eltern Gesetzesgeber, Richter, Hausgötter gewesen, sie belohnten und straften, sie besaßen das Wissen vom Guten und vom Bösen, sie lebten ohne Angst im Zustand der Sicherheit und Unfehlbarkeit... Man konnte als Kind nicht gegen sie rechten, ihre Ungerechtigkeiten waren Schicksal, gegen das man nicht kämpfen durfte, ohne in die Zone des Bannfluchs zu geraten.“ (Herdan-Zuckmayer, 1983)
Diese Erwachsenen sind heute nahezu ausgestorben, und wenn sich doch noch ab und zu ein Exemplar finden sollte, so kann es sich nicht mehr mit Sicherheit auf übergeordnete Instanzen und Autoritäten berufen. Weder die Sozialberatungsstelle noch die Wissenschaft wird solche formale Autoritätsanmaßung unterstützen. Das Kindertheater – das emanzipatorische zumindest – hat kräftig an der partnerschaftlichen Gleichstellung von Kindern und Erwachsenen mitgewirkt. Aber leider ist es nicht sein Verdienst, dass heute Erwachsene zunehmend die Attribute für sich in Anspruch nehmen, die vormals den Kindern reserviert waren. Wie sie sollen auch wir Erwachsenen bis ins hohe Alter abenteuerlustig, fit und beweglich sein. Und vor allem: Es gibt nicht mehr jenen beruhigenden Zustand, wo ein Erwachsener von sich sagen könnte, er hätte jetzt ausgelernt, um dann in Ruhe sein Leben zu genießen oder seine Kenntnisse und Erfahrungen der nachfolgenden Generation zu übereignen. Heute sind wir in jeder Hinsicht zu lebenslangem Lernen verurteilt. Ob das die Aneignung der neuen Technologien betrifft oder das Identifizieren von Umweltgiften und -gefahren, mit denen wir es täglich zu tun haben, von der Zukunft unseres Planeten ganz zu schweigen, die wir den nachfolgenden Generationen nicht mit Sicherheit garantieren können. Damit wird das Verhältnis zwischen den Generationen egalitärer. Experten sind sich einig: Die Autorität der Erwachsenengeneration weiß sich nicht mehr auf einem gesicherten Boden. Das spiegelt sich auch in zahlreichen
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Publikationen wider, die aktuell auf dem Buchmarkt zu finden sind. Thema ist immer wieder das Kind als Gegenüber und Partner des Erwachsenen. Die Zeiten sind vorbei, als Kinder vorrangig als defizitäre Wesen wahrgenommen worden sind, wie es lange Zeit z. B. der Perspektive der Entwicklungspsychologie entsprach, wenn sie etwa den entwicklungsbedingten Egozentrismus des Kindes oder sein unzureichendes Realitätsbewusstsein zum Thema machte. Heute richtet sich das Untersuchungsinteresse der Wissenschaft weniger auf die möglichen Besonderheiten der Spezies Kind, sondern zunehmend auf Eigenschaften, die Kindern und Erwachsenen gemeinsam sind und sie verbinden. So werden etwa in Matthews Buch Philosophie der Kindheit (Matthews, 1995). Kinder als die wahren Philosophen herausgestellt. Ihre Logik soll der der Erwachsenen nicht nur gleichrangig, sondern ihr in gewisser Weise auch überlegen sein. Oder man bringt die Gedächtnisleistung von Vierjährigen mit so großen Begriffen wie Geschichtsbewusstsein in Verbindung. Vorzugsweise die Werbung macht sich die Egalisierung von Kindern und Erwachsenen zunutze und treibt diesen Prozess voran: Die Prospekte sind voll von kleinen Erwachsenen, die sorgfältig nach der herrschenden Mode gestylt und absolut lässig auf einer Parkbank sitzen, offensichtlich gerade im Smalltalk nach dem Vorbild ihrer Eltern befangen. Aber Vorsicht bei allen Trends: Die Frage, ob Kinder heute tatsächlich anders sind, lässt sich an dieser Stelle gar nicht beantworten: Sicherlich würde sich im Hinblick auf die Notwendigkeit psychophysischer Reifungsprozesse schon eine Relativierung der kulturkritischen Thesen vom Ende der Kindheit ergeben, in dem Sinne etwa, dass der erste Kuss doch immer ein erster ist, mit allem, was das beinhaltet. Mir geht es darum herauszustellen, dass wir Kinder anders sehen. Sicherlich wird man davon ausgehen können, dass immer noch zu viele Kinder bevormundet, bestraft und unterdrückt werden. Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, dass sich offensichtlich die Bilder und damit die Interpretationen des Generationenverhältnisses ändern. Insofern haben die Thesen vom Ende der Kindheit, von der Auflösung der Generationsschranken u. Ä. mehr – was auch immer den entsprechenden Theorien wie der Neil Postmans an Einseitigkeiten vorzuwerfen ist – durchaus Entsprechungen in der Realität. Auf diesem Hintergrund muss dann die Infragestellung des Kindertheaters als eines Spezialtheaters für ein besonderes Publikum nicht verwundern. Diese Entwicklung kann sozusagen als Bestandteil einer gegenwärtigen Tendenz betrachtet werden, ob das den Beteiligten recht ist oder nicht. In der Geschichte des Kindertheaters ließ sich immer ein enger Zusammenhang von gesellschaftsrelevanten Strömungen und der Dramaturgie und Ästhetik feststellen. So veranschaulicht der Wandel der Kindheitsdarstellungen, die während der letzten
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zwanzig Jahre von den Kindertheatern gezeigt worden sind, bereits deutlich das veränderte Verhältnis der Generationen zueinander. (Hentschel, 1994) Die Verschiebungen von Kindheits- und Erwachsenenbildern lassen auch die Pädagogik selbst und ihre Zielvorstellungen nicht unberührt. Zunehmend fragwürdig geworden ist, was Erwachsene Kindern überhaupt überliefern sollen, und dem Kind wird folglich nicht mehr die Idealfunktion zugeschrieben, die sich über die christliche Tradition und Romantik bis in die späten sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein gehalten hat. Entsprechend tituliert der Kulturwissenschaftler Jörg Richard diese Phase des Kindertheaters als „Kindheitsutopietheater“ (Richard, 1994). Dazu gehört beispielsweise auch die Dramaturgie des Grips-Theaters, in der Kinder regelmäßig realitätstüchtiger, pfiffiger und widerstandsbereiter sind als die dazugehörigen Erwachsenen. Mit der tendenziellen Aufhebung der Generationsunterschiede hätten solche Theaterformen ihre Legitimation verloren, heißt es weiter. Insofern sei es nur konsequent, wenn man sich jetzt nicht mehr in erster Linie an Kinder oder Jugendliche wendet, sondern Theater für alle, eben Menschentheater macht.3 Was aber, wenn dieser Plan wirklich in Erfüllung ginge? Was, wenn wir nur noch Theater und gar kein spezielles Theater mehr für ein spezielles Publikum hätten? Wollen wir das? Was wir gewinnen können, ist klar: öffentliche Anerkennung und mehr Freiheit; Kunst, Theater, was immer wir wollen, zu machen ohne Rücksicht auf spezielle Erfordernisse. Aber welches Bild unseres Publikums schwebt uns dann vor? Jedes Kindheitsbild ist immer verbunden mit einem Bild der Erwachsenheit, es lebt aus der Differenz. Bekanntlich stellt Jugend in den modernen Gesellschaften immer eine Art eingebautes Korrektiv dar: Zu Kindheit und Jugend gehört das Potential, die bestehende Ordnung zu verstören und die normbildenden Erwachsenen in Frage zu stellen. Die Differenz zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ist prinzipiell nicht beherrschbar, selbst wenn Erwachsene sie häufig nicht mehr als solche wahrnehmen. Das Bild, das Erwachsene heute von sich abgeben, fällt einigermaßen bescheiden aus: Ewig jung und am Ideal der Jugend orientiert, wissen wir nicht mehr als unsere Kinder. Die Verantwortung für die Zerstörung des Planeten auf den Schultern, haben wir der nachfolgenden Generation kaum noch Lösungsmodelle anzubieten. Wir geben es sogar gerne zu. Wir beanspruchen keine besondere Stellung für uns. Auf welche Verdienste sollten wir sie auch gründen? Die Entdifferenzierung im
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Vgl. Jörg Richard (Hrsg.), Kindheitsbilder im Theater. Frankfurt/M. 1994. Vgl. auch den Beitrag von Christian Schidlowsky in: A.Israel/S.Riemann (Hrsg.), Das andere Publikum. Deutsches Kinder- und Jugendtheater, Berlin 1996.
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Prozess der Generationen fällt zusammen mit der Inflation der Weltbilder, die, je mehr sie werden, desto weniger Orientierung zu bieten haben. Die Zeit der großen Entwürfe, sagen wir, der Philosophien und Utopien sei vorbei. Wir halten uns an das Kleine, Bewährte, Überschaubare – die „Usancen“, die Bräuche des Alltags, wie der Philosoph Odo Marquard sagt – und streben Wahrhaftigkeit im überschaubaren Dialog an. Da gerät man nicht in Gefahr, zu lügen oder zu irren. Dementsprechend klug nähern wir uns auch den Kindern: Wir erwarten nichts, wir versprechen nichts oder doch nur sehr wenig.
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Die Kindheitsbilder im Theater sind realistischer und desillusionierter geworden. Die Kinder sind von einer Last befreit: Wir wollen sie zu nichts gebrauchen, ihre Zukunft sollen sie sich selber machen. Das Kind stellt weder ein besonderes Vorbild dar, noch verkörpert es ein Ideal, noch bleibt es in der Rolle des Opfers befangen. Die Kindheitsbilder im gegenwärtigen Theater sind viel reicher und differenzierter als in den sechziger und siebziger Jahren. Kinderrollen auf der Bühne – ich spreche hier von den ernsthaften und ambitionierten Theatern, nicht von den billigen Kinderbelustigungsveranstaltungen, die es immer noch zuhauf gibt – sind auch vom Zwang zur Fröhlichkeit erlöst. Von ihnen wird nicht mehr verlangt, alles immer besser auszurichten als ihre Eltern. Kinder tauchen als Menschen in allen möglichen Facetten auf der Bühne auf. Und häufig ist in Inszenierungen des Kindertheaters gar kein Kind mehr auf der Bühne zu sehen. Wir haben interessante Darstellungen von Mischwesen, die im Bereich einer Vieldeutigkeit verbleiben, die Kind, Erwachsenen oder beides umgreifen und dem Zuschauer einen großen Rezeptionsspielraum einräumen. Diese Entwicklung finden wir in so unterschiedlichen Theaterkonzeptionen wie der der Roten Grütze, den Inszenierungen von Marcelo Diaz und Peer Boysen, auch bei Horst Hawemann, dem Autor Gerd Knappe, um nur ganz wenige zu nennen, bis hin zu wortlosen Tanztheaterformen und Bewegungschoreografien, die nicht mehr personaldefiniert sind und sich der Identifikation von Seiten des Zuschauers verweigern. So hat das Theater für Kinder sich weitgehend von seiner vormals pädagogischen oder reformpädagogischen Definition gelöst und nimmt für sich die Koordinaten in Anspruch, die auch für das Theater überhaupt gelten. Die Provokation „Kunst oder was für Kinder?“ wird heute eindeutig mit: „Kunst!“ beantwortet. Wobei sich am Verständnis von Kunst und Ästhetik im engeren Sinne dann die
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Geister scheiden. Was beides tatsächlich mit Kindern zu tun haben soll, ist noch schwieriger zu erklären. Jedenfalls scheint bei allen Differenzen doch unangefochtene Einigkeit in dem Satz zu bestehen, dass Einfachheit, vormals Kriterium für das Kindertheater im Vergleich zum Erwachsenentheater, nicht mehr ohne weiteres akzeptiert wird. Kaum eine Autorenlesung, in der eine Autorin, ein Autor nicht betont, dass Kinder mehr verstünden und aufzunehmen in der Lage seien, als wir Erwachsenen gemeinhin zu glauben bereit sind. Was mich stutzig macht, ist die häufige Wiederholung dieser Formel in Kindertheaterkreisen, wo sie doch weitgehend auf offene Ohren stößt. Das scheint mir darauf hinzuweisen, dass etliche Differenzen, bezogen auf die Bilder bestehen, die sich Theaterleute und Autoren von Kindern machen. Und doch – so würde ich die These wagen – arbeiten alle Kindertheatermacher im Kindertheater etwas anders als im Erwachsenentheater, auch wenn sie dies gern selbst in Abrede stellen und behaupten, in ihren Inszenierungen überhaupt nicht anders vorzugehen als sonst auch im Theater. Worin aber bestehen die kleinen und feinen Unterschiede? Wie häufig die Kinderliteratur, so zeichneten sich auch Texte fürs Kindertheater aus durch eine überschaubare Handlungsführung, kurze Dialoge sowie die Verwendung von einfachsten Sprachmustern. Die Handlung, so wollten es die ungeschriebenen Gesetze der Kindertheaterdramaturgie, sollte dabei geradlinig auf Verständlichkeit angelegt sein, Perspektivwechsel möglichst vermieden werden. Von Vorteil war auf jeden Fall eine episierende Dramaturgie, häufig durch die Figur eines Erzählers unterstützt, die möglichst eindeutige Rezeptionsprozesse ermöglichen sollte. Das Augenmerk lag darauf, dass die Kinder weitgehend alles, und das auch richtig verstehen sollten. Heute dagegen verwenden Theaterstücke für das Kindertheater immer häufiger die assoziative Logik des Unbewussten, in der Phantasie und Realität, Inneres und Äußeres, Subjektives und Objektives sich frei vermischen dürfen. Hier sind besonders die holländischen Autoren anzuführen, wie Ad de Bont und Suzanne Lohuizen, die seit einigen Jahren die Spielpläne des bundesdeutschen Kindertheaters anführen. Viele Inszenierungskonzepte bemühen die Dramaturgie des Traums im Nebeneinander von Zeiten, Räumen, Personen und Objekten. So hießen denn auch gleich mehrere Projekte der vergangenen Spielzeiten Traumspiele, und Ein kleines Traumspiel à la Strindberg fehlte natürlich auch nicht dabei. Der Formenreichtum hängt auch mit einer Erweiterung der Stoffe, deren sich das Kindertheater annimmt, zusammen, wobei die üblichen Grenzziehungen zwischen dem, was angeblich Kinder und was nur Erwachsene interessieren sollte, bewusst eingeebnet werden. Wenn Themen wie Tod, Sexualität, Krieg, Gewalt, psychische Krankheit behandelt werden, nimmt auch die Dramaturgie
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kaum mehr Rücksicht auf die herkömmlichen Konventionen, denen Theaterveranstaltungen für Kinder in der Regel unterworfen waren. Die Stücke arbeiten mit der Mehrdeutigkeit, verbinden Tanz- und Bildelemente, setzen Musik und Bewegung nicht mehr im Dienste der Handlungsführung ein. Dem entspricht, dass die Texte mindestens zwei Bedeutungsebenen beinhalten. In gelungenen Inszenierungen gibt es eine, die sich – so könnte man sagen – hauptsächlich an die erwachsenen Zuschauer, und eine, die sich an das Kinderpublikum mit seinem Erfahrungshorizont wendet. Hier sind vor allem die Stücke von F. K. Waechter zu nennen, dessen Texte und Grafiken häufig gerade durch die unverblümte Perspektive des Erwachsenen ihren Reiz erhalten, die auf der Rezeptionsebene der Kinder tabuverletzend wirkt. Seine Märchenbearbeitungen, zumal die in eigener Regie aufgeführten, zeichnen sich durch Doppelbödigkeit aus: Im Schweinehirtentraum z. B. erscheint auf der Rezeptionsebene der Erwachsenen als Ironie, was auf der der Kinder durchaus direkt gemeint ist. In solchen Stücken wird auch das Theater selbst als Theater zum Gegenstand und Spielmaterial. Die Selbstreflexion des Theaters, ein Kriterium moderner Dramatik, ist im Kindertheater in besonders ausgeprägter Weise zu finden. So in Ad de Bonts letztem Stück Die Papageienjacke, das durchweg mit der Rollenbildung von Zuschauern und Schauspielern spielt. Auch in der Sprachbehandlung wagen jüngere Kindertheaterautoren heute das Experiment und verzichten auf die Anlehnung an ihren außerästhetischen Gebrauch. So bietet etwa Gerd Knappe in seinen Stücken weder Rollen- noch Handlungszuweisungen an, sondern Sprachmaterial, das sich am ehesten mit dem Wort Sprachspielbälle charakterisieren ließe.4 Angesichts dieser Entwicklungen kann man sagen, dass nun auch ins Kindertheater die gesamte Tradition der Avantgarde Eingang gefunden hat, während wir es in der Anfangszeit dieser Theaterbewegung hauptsächlich mit nur einer der großen Traditionslinien zu tun hatten. Wo Inszenierungen auf die Polyvalenz künstlerischer Zeichen setzen, wird die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum als produktiver Prozess gesetzt, der letztendlich von der Phantasie der Zuschauer abhängig ist. Solche Theaterproduktionen sind denn auch kaum noch wirkungsästhetisch zu kontrollieren und zu überprüfen. Im Zusammenhang mit dem sich verändernden Selbstbewusstsein der Kindertheater, sich in erster Linie als Theater und erst in zweiter als Anwalt eines bestimmten Publikums zu begreifen, drängt sich häufig die Frage nach der Funktion des Theaters auf: Die ästhetische Orientierung definiert Theaterkunst ja nicht mehr vorrangig im Hinblick auf Erkenntnisprozesse und entsprechende
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Z. B. Was die Bisonkuh spricht (UA 1993).
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Fortschritte, sondern rückt den Begriff des Erlebnisses ins Zentrum. Die Zurückdrängung von literarischem Text und traditioneller Handlungsführung in der Inszenierungspraxis zugunsten der Materialität der averbalen Zeichensysteme, die am Theatervorgang beteiligt sind wie Raum, Körper des Schauspielers, Lautqualität der Sprache usw., lässt den Rezeptionsvorgang als einen spielerischen Produktionsvorgang erscheinen, der sich analog zum Entstehungsprozess eines Kunstwerks verhält. Anders als die traditionelle Dramenhandlung kann die Bildsprache solcher Ästhetik kaum sprachlich adäquat reproduziert werden. Das macht die Schwierigkeit aus, Stücke wie etwa die der Kölner ,Monteure‘ in einen Unterrichtsplan zu integrieren. Von den Lehrern ist hier ein anderes Verhältnis zum Theater gefordert: Sie können es nicht mehr einfach als Aufhänger für neue Themenblöcke im Unterricht gebrauchen, sondern müssen es als eigenständiges Medium anerkennen und sich mit ihm beschäftigen. Wie weit wir davon entfernt sind, darüber kann fast jeder Theaterpädagoge berichten. So wirft die Entwicklung des Kindertheaters hin zum Theater für alle eine Reihe von Problemen auf: War Kindertheater als Gebrauchstheater und Erziehungshelfer vorrangig wirkungsästhetisch begründet, so stellt sich angesichts der veränderten Dramaturgien verstärkt die Frage nach der Darstellungs-, respektive Wahrheitsästhetik. Der Schritt, Theater für Kinder einfach als verkleinertes, simplifiziertes Abbild des Gegenwartstheaters für Erwachsene zu praktizieren, liegt nahe. Sowenig sich Kindheit ohne den Blick auf die jeweilige Ausprägung von Erwachsenheit verstehen lässt, sowenig auch das Theater für Kinder ohne das entsprechende Pendant für Erwachsene.
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Angesichts einer Reflexion über das Kindertheater treten Probleme ins Bewusstsein, mit denen es die Gegenwartsdramatik generell zu tun hat oder doch zu tun haben sollte. Durch Kinder ist automatisch die Zeitdimension der Zukunft aufgerissen. Mögen wir auch noch so sehr mit der Vergangenheit beschäftigt sein, Kinder stellen allein durch ihre Existenz die Frage, was das denn für die – das heißt konkret auch immer ihre – Zukunft bedeuten soll. Theater für Kinder vollzieht sich innerhalb eines gesellschaftlichen und theatralischen Diskurses, der es nötig macht, einmal darüber nachzudenken, in welchem Verhältnis sich Theaterproduktionen für Kinder und Jugendliche zu denen des Erwachsentheaters befinden. Und andersherum: in welchem Verhältnis das Gegenwartstheater zur Zukunft, das bedeutet auch zur nachwachsenden Generation, steht. Die Stücke
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und Dramaturgien des Theaters für Erwachsene wirken sich natürlich auch prägend auf die Theaterästhetik des Kindertheaters aus. Ohne diesen Punkt hier im Einzelnen ausführen zu können, lässt sich behaupten, dass wir in beiden Bereichen des Theaters die Entwicklung hin zum Episodischen finden. Nicht die großen Fragen und Entwürfe, sondern die kleinen Geschichten, die sich an der Straßenecke abspielen, erzeugen Interesse. Und wenn es denn doch große Themen sein sollen, dann greift man hier wie dort gern auf die Klassiker zurück. Hamlet und der Sommernachtstraum für die Kleinen, für die Größeren natürlich Romeo und Julia, auch Macbeth darf es sein und natürlich immer wieder Die Räuber von Schiller und Goethes Faust. Was ist anders an den Jugendversionen dieser Stücke? Wenn man die Inszenierungen vergleicht mit denen, die an kleinen Studio- oder Studentenbühnen herauskommen, gibt es auf den ersten Blick nicht viele Unterschiede. Aber während sich junge aufstrebende Regietalente im Erwachsenentheater darin überbieten, die Stoffe und Stücke zu verrätseln, ästhetisch eindrucksvoll zu überfrachten, eine noch nicht erprobte Lesart auf die Bühne zu zwingen, erhalten dieselben Stücke im Kinder- und Jugendtheater eher eine Form von Lebendigkeit, Farbigkeit, Frische, in der die hellen vor den dunklen Nuancen herrschen, auch wenn ein Happy-End fehlt. Das kann ich mir nur so erklären, dass die gedankliche Nähe zum Zielpublikum, den Jugendlichen, eine andere Art der Fragen und offenbar auch der theatralen Antworten in Gang setzt. Für Jugendliche zu spielen, auch wenn man sich nicht ausschließlich und nicht im Sinne einer definierten Zielgruppe an sie wendet, ist offenbar doch etwas anderes als für Abonnenten und eine abgestandene Kritikergemeinde. Aber das ist wie gesagt nur eine Spekulation. In den besten Fällen wird die durch langjährige Spielerfahrung mit einem jungen Publikum erworbene Fähigkeit zur Einfachheit heute nicht im Sinne von Simplizität eingesetzt, sondern erzeugt eine Form von Minimal Art, wie wir sie ja auch für Erwachsene in den verschiedensten Versionen kennen: Im Tautropfen die Welt, im Schweigen das Lied. Aber natürlich gibt es auch immer noch den erhöhten Unterhaltungswert des Kinder- und Jugendtheaters. Hier ist mehr Spaß erlaubt, hier ist überhaupt Spaß erlaubt. Vielfach lässt sich schon ein großer Besucheranteil von älteren bis wirklich alten Menschen in den Kinder- und Jugendtheatern, die sich jetzt „Junge Theater“ nennen, finden. Auf Nachfrage erfährt man, dass ausgesprochene Kinderstücke wie Nachbar Froschkönig gern komplett für Betriebsfeiern gebucht werden, an denen kein einziges Kind teilnimmt. Man schätzt, so heißt es, die Verständlichkeit dieser Aufführungen – und natürlich ihren Unterhaltungswert. Wie man von anderer Seite hört, besinnt sich nun auch das Theater für Erwach-
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sene häufiger auf Kinderstoffe und -stücke. Jedenfalls scheint Johan Kresnik der Ansicht zu sein, dass es Hänsel und Gretel im Tanztheater immerhin mit Rosa Luxemburg oder Macbeth aufnehmen könne. Und auch einige andere Theater wagen es, Kinderstücke auf ihren Staatstheaterspielplan für den Abend zu setzen. Die gefürchteten Vier, die Bremer Stadtmusikanten in der Version von F. K. Waechter als Singspiel komponiert, haben in Hannover durchgängig Erfolg. Hier ist die Ästhetik des Einfachen jedenfalls sichtlich ein Gewinn für alle. Bestimmt aber wird man diese Tendenz weiterhin beobachten müssen.
T RADITIONSVERHÄLTNISSE Die skizzierten Entwicklungen im Kindertheater – teilweise wird sogar wie im Projekt Theater der Generationen von einem Paradigmenwechsel gesprochen – können die Frage nach der Spezifität des Mediums nicht außer Kraft setzen. Wo diese schon im Ansatz geleugnet wird, setzt sich doch – wie ich angedeutet habe – etwas Besonderes hinterrücks durch, ohne dass es den Beteiligten bewusst würde. Gibt bzw. kann und sollte es überhaupt eine eigenständig begründete Ästhetik des Kindertheaters geben? Kindertheater unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt vom Theater für Erwachsene: Im Theater für Kinder besteht eine grundsätzliche Differenz zwischen den Theatermachern und ihrem Publikum, anders als wenn Kinder selbst Theater für ihre Altersgenossen spielen. Während Autor, Regisseur und Schauspieler sich sonst selbst im Prinzip als Zuschauer verstehen können, d.h. mit ihrem Publikum identisch sind, ist diese Identität im Theater für Kinder nicht gegeben. Die Relation Schauspieler-Zuschauer ist im Theater für Kinder eine zwischen den Generationen. Auch bei der Darstellung von Kinderrollen ist das Verhältnis Schauspieler-Rolle von dieser besonderen Differenz berührt. Die Beziehung des Autors zu seinen Lesern – die ja Theatermacher, also Regisseure oder Schauspieler sind – ist ein noch komplizierteres, da er zugleich an sie und an die eigentlichen Rezipienten, das Kinderpublikum denkt. Rudolf Herfurtner spricht in diesem Zusammenhang gern von dem „inneren Kind“, für das er als Autor schreibt. Dieses innere Kind, so sagt er, sei ein Phantasieprodukt, das auf keinen Fall identisch mit einem empirisch vorhandenen Kind ist. Es setzt sich zusammen aus Elementen der eigenen Kindheit, herrschenden Kindheitsbildern wie ihrer Kritik, Ansprüchen und Ängsten, dabei hat es Berührung mit dem Erwachsenen, versteht ihn vielleicht sogar gern und ist doch ein unnachgiebiger Kritiker. Die schwedische Autorin Mia Törnqvist be-
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schreibt ihre Arbeitsweise so: Struktur und Kompositionsprinzipien eines Theatertextes werden von ihr als Erwachsener entwickelt, während die Dialoge aus dem Kind, das sie in sich selbst ist, entstehen. Wie auch immer: Für Kindertheaterautoren und -macher ist es kompliziert. In der doppelten Inkongruenz liegt einer der Gründe, warum so wenig Autoren für das Kindertheater schreiben und so viele Schauspieler und Regisseure es sobald wie möglich hinter sich lassen – aber dabei spielen natürlich auch die niedrigen Gagen eine Rolle. Es bedarf, so ist inzwischen hoffentlich deutlich geworden, besonderer Motivationen, für ein junges Publikum Theater zu machen. Aufgrund der unvermeidlichen Generationsdifferenz, die umso größer wird, je jünger die Theaterzuschauer sind, versteht sich vielleicht eher, warum die Frage, wie das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen gesehen wird, für dieses Medium eine so immense Bedeutung erhält. Es macht einen großen Unterschied, ob wir die Differenz als Differenz auffassen und betonen, oder ob wir eher das Verbindende zwischen den Generationen im Blick haben. In diesem Zusammenhang spielt auch die besondere Zeitmodalität des Theaters für Kinder eine Rolle: Das Verhältnis Kind – Erwachsener ist immer durch die Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft geprägt. Das Traditionsverhältnis bestimmt jede Kommunikation zwischen den Generationen notwendig mit. (Mollenhauer, 1983) Dabei ist uns die Vergangenheitsdimension, die Tatsache, dass wir selbst einmal Kind waren, häufiger präsent als die der Zukunft. Die Welt, in der Kinder leben, ist nicht nur fix und fertig da, sondern wird jeden Tag von Erwachsenen gemacht und bald auch von ihnen selbst. Vieles von dem, was wir erfahren haben, werden sie niemals erfahren und vieles vielleicht ebenso wie wir. Aber sie haben einen Anspruch auf Erfahrungslosigkeit, die es ihnen ermöglicht, „neu“ zu beginnen. 1913 schrieb Walter Benjamin: „Die Maske des Erwachsenen heißt Erfahrung. Sie ist undurchdringlich, die immer gleiche. Alles hat dieser Erwachsene schon erlebt... Es war alles Illusion [...]. Im Voraus entwertet er die Jahre, die wir leben. [...] So ist das Leben. Das sagen uns die Erwachsenen, das erfuhren sie. Ja! Das erfuhren sie, dieses Eine, niemals Anderes: die Sinnlosigkeit des Lebens. Die Brutalität. Haben sie uns je zum Großen ermutigt, zum Neuen, zum Zukünftigen? O nein, denn das kann man ja nicht erfahren.“ (Benjamin, 1969, S. 15)
Für Kinder befindet sich die Wirklichkeit weit stärker als für Erwachsene in einem ständigen Prozess der Konstitution ebenso wie ihr eigenes Ich. Diese Offenheit und Unabgeschlossenheit von Entwicklungsprozessen führt dazu, dass in der Kinderliteratur ebenso wie im Kindertheater das Happy-Ending lange Zeit sozusagen entwicklungspsychologisch – aber auch politisch – begründete
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Selbstverständlichkeit war, ganz im Gegensatz zur Dramatik für Erwachsene. Inzwischen ist es üblich, dass viele Dramaturginnen der Kindertheaterszene bei dem Stichwort Happy-End auf eine charakteristische Weise wissend und zugleich verächtlich lächeln, was so viel heißen soll wie: „Das haben wir hinter uns, diese Kindereien von vermeintlich pädagogisch Verantwortlichen empfinden wir als Anmaßung. Kinder vertragen viel mehr, als diese Leute wissen.“ Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis nach dem Motto Klassiker leicht gemacht: „Hamlet für Kinder“, bald auch eine Kinderfassung von Becketts Endspiel auf den Spielplänen auftauchen wird. Tatsächlich sehen sich gegenwärtig Autoren des Kindertheaters praktisch vor die Frage gestellt: Festhalten am Happy-End (der Menschheit) oder Beckett für Kinder?5 Bei Gerd Knappe heißt es zum Abschluss seines Versuchs über spiel raum mythos: „trotz des grauens/welches menschen auf erden verbreiten/mag ich nicht an ihnen verzweifeln.“ (Knappe, 1993, S. 182) Es würde dem Kindertheater nicht schlecht anstehen, sich ab und zu auch einmal anzusehen, welche Rolle das Kind im zeitgenössischen Theater für Erwachsene einnimmt. Hier nur eine kleine Auswahl: In Peter Handkes dramatischem Gedicht Über die Dörfer ist am Ende die Krönung eines Kindes vorgesehen. Keine Bühne hat bisher gewagt, sie in Szene zu setzen: Das Kind steht allegorisch für die Zukunft, für einen Beginn, der sich noch nicht vom Geschichtsbewusstsein hat erschlagen lassen, für Naivität und – es handelt sich um eine Anspielung auf Nietzsche – auch die Kunst selbst. George Tabori zeigte in seiner illusionslosen Lessing-Paraphrase unter dem Titel Nathans Tod am Ende Nathan vor seinem verbrannten Haus, eine Babypuppe im Arm, der er die Ringparabel als Märchen erzählt. Als ein – glaubwürdiges – Märchen, denn glauben kann man nur das, was man nicht wissen kann. Ein Märchen also, das offensichtlich auch angesichts der tiefsten Zerstörung Kraft zum Leben behauptet. Das neue Kindertheater hat nichts Schwereres zu tun, als das Kunststück zu vollbringen, weder das Kind noch die Welt zu verklären, nicht Kindheitsutopietheater zu machen und dennoch den Kindern nicht allzu schnell die Tür zur Zukunft zuzuschlagen. Als Künstler wahrhaftig bleiben und dennoch eine Zukunft offenlassen oder gar ermöglichen.
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Vgl. den Beitrag von Rudolf Herfurtner in: A.Israel/S.Riemann (Hrsg.), Das andere Publikum. Deutsches Kinder- und Jugendtheater, Berlin 1996: Henschel.
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WIE WEITER ?
Um zum Anfang zurückzukommen: Schon all dieser Fragen wegen sollte das Kindertheater als ein Spezialtheater für Kinder, für junge Menschen nicht allzu leicht aufgegeben werden. Nichts spricht dabei dagegen, sich in der künstlerischen Arbeit auch an den Maßstäben der Erwachsenen zu orientieren, z. B. am Schauspieler, wie Staffan Göthe, der, wenn er für Kinder schreibt, sich an kein „inneres Kind“, sondern an einen „inneren Schauspieler“ hält. Aber ein zu leichtes Vergessen machen der Differenzen zwischen Kindern und Erwachsenen bringt uns um die Potentiale, auf die nicht nur das Theater so stark angewiesen ist. Das Kind sollte sich im Theater, so sagte derselbe schwedische Autor und Schauspiellehrer einmal, besonders beachtet fühlen, eben so wie sonst doch meistens nicht. Es sollte sich in seiner Besonderheit und Einzigartigkeit angesprochen fühlen. Das allerdings wäre doch eigentlich jedem Zuschauer im Theater zu wünschen: Dass er nicht nur seiner Wirklichkeit, sondern auch seiner Möglichkeit entsprechend wahrgenommen würde. Tödlich ein Theater, das sein Publikum hasst, wie das Stadttheater seine Abonnenten. Vielleicht gehen deshalb inzwischen so viele Erwachsene – teils auch mit geliehenen Kindern – ins Kindertheater, wie man verschiedentlich hört, weil sie sich dort als Zuschauer besser behandelt fühlen. Das jedenfalls scheint doch viele Kinder- und Jugendtheaterinszenierungen von denen, die nur für .Erwachsene gemacht sind, zu unterscheiden: Sie sympathisieren – aus welchen Gründen auch immer – mit ihrem Publikum. Im Rahmen der am Theater üblichen Arbeitsteilung ist es die Aufgabe der Regie, als Vertreter des Zuschauers zu fungieren und die Inszenierung, die von den verschiedensten Perspektiven der Figuren und Schauspieler aus erarbeitet wird, als gesamte mit den Augen eines Außenstehenden wahrzunehmen. Eigentlich müsste folglich auch ein Regisseur – um im Bild zu bleiben – über einen, „inneren Zuschauer“ verfügen, und wo ein Kind im Zuschauerraum sitzt, auch über ein „inneres Kind“, so ein Konstrukt, das Kinderbuch- und Kindertheaterautoren sich in irgendeiner Weise zusammengesetzt haben. Wo die Kinder nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Erwachsenen auszusterben drohen, büßt die Theaterkunst ihre Substanz ein. Und das gilt nicht nur für ein Spezialtheater, sondern für jedes Theater, das in seinem Innersten vom Spiel lebt, und davon verstehen Kinder immer noch am meisten. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.
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„Der gottgleiche Regisseur Mr. Jay (eine Anspielung auf George, den Vornamen des Autors Tabori) fragt seinen jüdischen Regieassistenten Goldberg: Hat Ihnen die Vorstellung gefallen, Goldberg? Goldberg: Muss Theater gefallen? Mr. Jay: Es ist ein Geschenk. Goldberg: Ein Märchen, erzählt von einem Dummkopf. Mr. Jay: Das geht zu weit, Bürschchen. Goldberg: Ein Flüchtling sagt zum anderen: Ich glaube, ich gehe nach Australien. – Ist das nicht zu weit? – Zu weit von wo?“6
L ITERATUR Benjamin, W. (1969). Über Kinder, Jugend und Erziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hentschel, I. (1994). Das Kind ist gut, das Leben schlecht. In J. Richard (Hrsg.), Kindheitsbilder im Theater. Frankfurt a. M. Herdan-Zuckmayer, A. (1983). Das Kästchen. Die Geheimnisse einer Kindheit. Frankfurt a. M. Knappe, G. (1993). spiel raum mythos. In Kinder- und Jugendtheaterzentrum der BRD (Hrsg.), Kulturzentrum Theater. Berlin: FIPP. Matthews, G. B. (1995). Philosophie der Kindheit. Berlin. Mollenhauer, K. (1983). Vergessene Zusammenhänge: Über Kultur und Erziehung. München. Richard, J. (Hrsg.) (1994). Kindheitsbilder im Theater. Frankfurt a. M. Richard, J. (1990). Theaterkunst für Kinder. Zehn Punkte zur Diskussion. In Grimm & Grips. Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater. Bd. 4. Frankfurt a. M.
6
George Tabori, Goldberg-Variationen, UA 22. Juni 1991, Akademietheater, Wien, Kiepenheuer Bühnenvertrieb.
Vom Hoffnungsträger zum Problemfall1 Kindheitsbilder im Theater für Kinder
Wir alle glauben zu wissen, was ein Kind ist, was Kinder sind, worin Kindheit besteht. Die Kindheitsforscher sagen uns allerdings, dass wir uns täuschen: Was wir zu beschreiben und zu erkennen glauben sei immer nur ein bestimmtes historisch geformtes Bild von Kindheit. Und was die Sache zusätzlich erschwert: dieses Bild oder die Kindheitsbilder sind nicht zu verwechseln mit dem Kinderleben selbst, also der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Kinder leben und aufwachsen. „Kindheitsbild meint die Entwürfe und Vorstellungen, die sich eine Epoche, eine soziale Gruppe oder auch ein Einzelner von Kindern macht und die individuell und gesellschaftlich außerordentlich wirksam sein und das Verhalten gegenüber >wirklichen< Kindern durchaus beeinflussen können.“2
Und ein solches Kindheitsbild ist abhängig von dem was wir jeweils unter Erwachsenheit verstehen. Um die Generativität des Begriffs zu begreifen, sollten wir uns ein extraterrestrisches Wesen vorstellen. Nennen wir es ETF, extraterrestrischer Freund.3 ETF verirrt sich auf ein Kindertheaterfestival. Er stammt
1
Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag, der am 7.10.2011 im Ballhof, Schauspiel Hannover auf Einladung der Stiftung Niedersachsen im Rahmen des Best-offFestivals gehalten wurde.
2
Dieter Richter, Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt/M. 1987: Fischer, S.19.
3
ETF tauchte bereits in einem frühen Aufsatz von mir auf Das Kind ist gut, das Leben schlecht... oder wer sieht eigentlich durch den Spiegel? – Kindheitsbilder im emanzipatorischen Kindertheater, in: Jörg Richard (Hrsg.), Kindheitsbilder im Theater,
60 | T HEATER FÜR K INDER von einem Planeten, wo so diffizile Zustände wie Kindheit und Jugend unbekannt sind. Die Menschen werden dort durch ein dem Klonen ähnliches Verfahren ins Leben gesetzt. Von Anfang an besitzen sie alle Fähigkeiten, die zu einem gesellschaftlichen Leben notwendig sind. Von daher sind unserem außerirdischen Freund die Bedeutungshorizonte von Begriffen wie Kindheit und Jugend natürlich fremd und unbekannt. Er nimmt Kinder nur als kurz geratene Erwachsene wahr oder umgekehrt die Erwachsenen als groß gewachsene Kinder. Aber diese Beschreibung ist bereits irreführend, da unserem Besucher ja der Sinn für die uns so selbstverständlichen Generationsunterschiede fehlt. Alle Menschen erscheinen ihm auf einer Wahrnehmungsebene, etwa so, wie wir beim Anblick einer Wiese ja auch nicht wesensmäßig unterscheiden zwischen den großen und den kleinen Grashalmen – Gras ist Gras. ETF vergleicht ständig zwischen dem, was er im Foyer des Theaters, neben sich auf den Zuschauerbänken und dem, was er auf der Bühne sieht. Und da ihm nichts selbstverständlich ist, gerät er in einen Strudel von Fragen, der ihn schließlich dazu veranlasst, sich die Codes von Kindheit durch Zurateziehung von Expertenwissen, gezielten Alltagsbeobachtungen, ja sogar auch durch den Versuch der Introspektion anzueignen. ETF’s Schwierigkeiten belehren uns darüber, dass es unmöglich ist, etwas über die Kindheitsbilder zu sagen, ohne zugleich Bilder und Vorstellungen von Erwachsenheit vor Augen zu haben. In meinen Untersuchungen betrachte ich – sozusagen als ein fortgeschrittener ETF – Theater als kulturgeschichtliches Dokument, wie auch Kunst, Theater, Literatur nach einem auf die Literatur bezogenen Gedanken von Umberto Eco als Dokumente der Menschheitsgeschichte zu lesen wären. Sie geben in Form und Inhalt Auskunft über die spezifische Verfasstheit einer Gesellschaft, und zwar in der Weise wie sie sich selbst betrachtet und zum Ausdruck bringt. Das gilt besonders für das Theater als diejenige Kunstgattung, in der vermittelt durch die Relation von Spieler und Zuschauer der Mensch sich gewissermaßen selbst zusieht. So ist der Schauspieler auf der Bühne ein Mensch, und zugleich steht er auch als Zeichen für den Menschen. Die Entwicklung des professionellen Theaters für Kinder lässt sich in Stücken, Inszenierungen und Konzeptionen als Indikator für historische Veränderungen von Kindheit betrachten. Ein Blick in die Geschichte des Kindertheaters zeigt wie Dramaturgien und Konzeptionen jeweils bestimmten gesellschaftlich vorherrschenden Kindheits-
Frankfurt/M. 1994, der einige Kindheitsbilder bis zum Ende der 80er Jahre formulierte.
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bildern entsprechen, und wie es selbst dazu beiträgt, diese zu modifizieren. Wir können beobachten, wie sich die Kindheitsbilder im Kindertheater in großen Wellenbewegungen transformieren. Entweder wird die Besonderheit des Kindes, seines gesellschaftlichen Status, seines Weltzugangs betont, oder es werden ihm dieselben Fragen und Probleme zugemutet, mit denen wir es als Erwachsene zu tun haben. Je nachdem werden Kinder mit Mutmachtheater, mit Lerntheater, Trosttheater oder Präventionstheater bedacht, oder sie bekommen Aufführungen von poetischer, künstlerischer Vieldeutigkeit zu sehen, voller Märchenhaftigkeit und Phantastik. Heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, ist es Kompetenztheater, das Kinder im Rahmen der Konzepte der kulturellen Bildung in der Entwicklung ihrer Kompetenzen unterstützen soll. Stets scheinen Theaterangebote für Kinder besonders begründungsbedürftig zu sein. Anders als beim Schauspiel für Erwachsene, als bei Oper, Konzert und Museumsbesuch müssen besondere Zielsetzungen und Zwecke formulierbar sein, wenn es darum geht, Theaterangebote für ein Kinderpublikum zu formulieren. Die Begründungen und Konzeptionen des Theaters für Kinder haben sich immer analog zu den Fragen, Themen, den wissenschaftlichen und politischen Paradigmen entwickelt, die die Erwachsenen gerade beschäftigten. Das bedeutet natürlich: Theaterkunst für junge Menschen wurde und wird funktionalisiert, für bestimmte Zwecke eingespannt, mit Aufgaben und Aufträgen befrachtet. Selten darf es einfach nur Theater sein, wie es beispielsweise der Philosoph Gerhard Stamer in seinem provozierenden Beitrag Das Kamel, der Löwe und das Kind4 fordert. Aber eben darum sind die Stücke, Inszenierungen und Aufführungen des Theaters für Kinder ein so interessantes Forschungsfeld. In ihnen lässt sich nämlich erkennen, wie Kindheit jeweils definiert, wie sie gesehen wurde und wie Erwachsene bezogen auf die Menschen, die die Dimension der Zukunft repräsentieren, denken, handeln und fühlen. Stets sind es neue aktuelle Problemlagen sowie wissenschaftliche Paradigmen, die zur Begründung von veränderten ästhetischen und vor allem aber pädagogischen Praxen im Theater für Kinder ins Feld geführt werden. Ganz neu ist aber oftmals gar nicht die Realität, sondern lediglich der Blickwinkel und das Interesse, unter dem sie nun betrachtet werden. Mit geradezu messianischer Gründlichkeit orientieren sich Projektförderungen und Theaterkonzeptionen an
4
Gerhard Stamer, Das Kamel, der Löwe und das Kind, Vortrag anlässlich der Hannoverschen Vorträge zum Kindertheater zur Eröffnung des Kindertheaterhauses, Hannover 12.Mai 2011, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript.
62 | T HEATER FÜR K INDER neuen bildungs- und kulturpolitischen Zielsetzungen, wie aktuell dem Sammelbegriff der Kulturellen Bildung und der entsprechenden kompetenzorientierten Bildungsstandards. Dass gegenwärtig Bildung als selbstverständlicher und nahezu unbefragter Auftrag der Theaterkunst für Kinder betrachtet wird, dass Theaterkunst überhaupt „Aufträge“ zu erfüllen hat, dass eine Theateraufführung, die sich in ihrer Komplexität nicht in eines der im offiziellen Sprachgebrauch üblichen Bildungsund Kompetenzziele und -profile fügt, als purer – nämlich verzichtbarer Luxus angesehen wird, lässt sich nur auf dem Hintergrund historischen Wissens angemessen einschätzen. Um uns zu erkennen brauchen wir den Anderen, um unsere Zeit zu begreifen, müssen wir die Geschichte betrachten. Um zu verstehen, an welchem Punkt sich gegenwärtig das Theater für Kinder befindet, ist ein kurzer Blick in die Geschichte des Kindertheaters nötig. An dieser Stelle soll nur die jüngere Geschichte des sogenannten emanzipatorischen Kindertheaters, die im Zuge der 68er Bewegung im 20. Jahrhundert begann, erwähnt werden.5 Die verschiedenen Konzeptionen und Phasen des Kindertheaters – seine Politisierung, seine psychologische Wende, seine ästhetische Orientierung, die Hinwendung zu den aktuellen partizipativen Reality-Theaterformaten,6 in denen die Kinder selbst das Wort ergreifen, bis hin zum didaktischen Sprachlerntheater im Rahmen kultureller Bildungsoffensiven, sind verbunden mit bestimmten Vorstellungen von Erziehung, Politik und schließlich Bildung, die zunehmend an die Stelle gesellschaftspolitischer Orientierungen tritt.
5
Es gab früher natürlich Vorläufer, die didaktischen Dramen der Aufklärung, Märchenspiele und die Kindertheater in der Weimarer Republik. Ich beziehe mich im historischen Rückblick auf meinen Aufsatz Seismographen von Kindheit – Pädagogische und ästhetische Entwicklungen im Kindertheater, in: Gerd Taube (Hrsg.), Kinder spielen Theater, Milnow 2007: Schibri, S. 102 -121.
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Vgl. Kathrin Tiedemann/Frank Raddatz (Hrsg.), Reality strikes back. Tage vor dem Bildersturm, Berlin 2007: Theater der Zeit, Recherchen 47. Bezogen auf den Verlust des Spiels: Ingrid Hentschel, Der Gegensatz von Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit! Spielverlust und Deep Play - Über performative Paradigmenwechsel im Theater der Gegenwart, im vorliegenden Band.
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D AS S OZIALE K IND : P OLITIK , B EFREIUNG , U TOPIE „Ein Kind ohne Kopf ist ein Krüppel fürs Leben.“ So formulierte der Verleger Klaus Wagenbach das Motto für die Arbeit des Grips-Theaters, als er zehn Jahre später, 1979 das erste Buch über die anarchischen Pioniere eines gesellschaftlich engagierten Theaters für ein Kinderpublikum heraus brachte. Der Satz wurde wegweisend für eine neue Sichtweise auf Kindheit und damit das Kindertheater. Vom Objekt von Erziehungsstrategien wurde das Kind zum Subjekt gesellschaftlicher Innovation erklärt und bisweilen auch verklärt und ein radikal anderes Kindheitsbild eingeführt als das, was man in den Kindergärten und Schulen der Nachkriegsrepublik angetroffen hatte: Das des aufgeklärten, pfiffigen und klugen Kindes, das den Erwachsenen auf die Sprünge hilft und ihnen immer einen Schritt voraus ist. Melchior Schedlers Buch über das Kindertheater unter dem Titel Schlachtet den blauen Elefanten! (im Jahre 1973) war programmatisch für eine ganze Bewegung zu verstehen. Der blaue Elefant stand als Symbol für kindertümelnde Phantasie, für eine Traumwelt, die in der Tradition der blauen Romantik die Kinder von der wirklichen Realität ablenkte. Deswegen gehörte das farbenfrohe Tier geschlachtet. Das neue Kindertheater räumte auf mit einem alten Bild von Kindheit, mit Traumwelten, Weihnachtsmärchen, Illusionierungs-, Verniedlichungs- und Verdummungstheater, wie man damals sagte. Es räumte auf mit einem bürgerlichen Kunstbegriff, der mit der Definition von schönem Schein, von Illusion, von Zweckfreiheit u. Ä. operierte. Kindertheater wollte sich demgegenüber auf den Boden der Realität, der Tatsachen begeben, weshalb viele Schauspieler damals auch die etablierten Theaterinstitutionen verließen und auf die Straße, in die Jugendzentren und Schulen gingen, um vor Ort ganz reale Wirkungen zu erzeugen. Eine ähnliche Entwicklung haben wir auch heute in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts wieder zu verzeichnen, wo Theaterproduktionen direkte Zugriffe auf die soziale Wirklichkeit durch authentische Spielorte und Laiendarsteller als Experten des Alltags unternehmen wollen. Die Rollenfiktion und die Phantasie werden zugunsten der Aktion von realen Kindern und Jugendlichen, denen man eine Stimme geben will, von der Bühne verbannt. Verstand statt Gefühl, und Realität statt Traum und Fiktion, darum ging es in den Stücken, die an der Wiege des emanzipatorischen Kindertheaters standen. Die Ambition war anfangs eine kämpferische. Zusammen mit dem Proletariat und den Frauen wurden Kinder als Unterdrückte, Marginalisierte und Unterprivilegierte wahrgenommen, zu deren Befreiung das Theater beitragen wollte. Seit
64 | T HEATER FÜR K INDER den Studien über Autorität und Familie7 der Frankfurter Schule wusste man um den Zusammenhang von familialer Unterdrückung und ökonomischer Ausbeutung. Die politischen Resultate in Form von Autoritätshörigkeit und blinder Folgebereitschaft standen in der deutschen Nachkriegsrepublik noch erschreckend deutlich vor Augen. Antifaschistische Pädagogik hieß in der alten Bundesrepublik vor allem Entmystifizierung von Autoritäten, Stärkung von Mut und Widerstandskraft. Ergänzt durch eine sozialistische Perspektive kam noch die Fähigkeit zur Solidarität, zum gemeinsamen Kampf hinzu. In den frühen Stücken des Grips-Theaters finden wir das Bild des frechen, aufmüpfigen, pfiffigen Kindes, dem oftmals das des angepassten, braven und unsympathischen Kindes beigestellt ist. Das sensible, ängstliche Kind, das uns heute vertraut ist, sehen wir erst später, in den siebziger Jahren seine Ängste überwinden. Das Spezifikum der Kindertypen des Grips-Theaters besteht in ihrer Überlegenheit. Diese Kinder verkörpern eine utopische zukunftsweisende Perspektive: Die Kinder sind es, die ihren Eltern bzw. den Erwachsenen den Weg zur entschiedenen Durchsetzung ihrer Interessen weisen. Sie sind Vorreiter der Politisierung der Erwachsenen, wie noch 1982 in dem Stück Dicke Luft von Volker Ludwig und Rainer Lücker. Es herrscht Smog. Alex und Mai entdecken, dass nicht nur die Luft, sondern auch die Nahrungsmittel mit Giften belastet sind, und sie entdecken vor allem die Apathie der Erwachsenen. Unterstützt von der unkonventionellen Haltung eines Kinderbuchautors gründen sie am Ende eine Bande, in der alle, auch die Oma von nebenan und der vormals so ekelhaft diensteifrige Hausmeister Pingel schwören, gegen die Umweltvergiftung mit phantasievollen und ganz praktischen Aktionen vorzugehen. Ausgeschlossen bleibt nur der reiche unsympathische Autobesitzer und Naturfeind Herr Stahl.
Die Kinder werden in diesem Stück als überaus selbständig und emotional unabhängig geschildert. Wie in der Zeichnung der Erwachsenenfiguren gibt es auch hier eine entsprechende Negativfigur, die eine analoge Wandlung zum Positiven durchmacht: Ulf, der Typ des angepassten Kindes, ein braves Konsumkind („Lieber krepier ich an Auspuffgas, als vor Langeweile sterben“) tritt am Ende bekehrt der Bande bei, die Vision von giftfreien Autos hat ihn überzeugt.
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Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Mit einem Vorwort von Ludwig von Friedeburg. Reprint der Ausgabe Paris 1936, Lüneburg 2005: Zu Klampen.
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Mit Kindern als Protagonisten wird eine konkrete Utopie ausgemalt. Das Emblem dieser Bühnenkinder ist das soziale Kind: Wir sehen Kinder in ihrem sozialen Umkreis, auf der Straße, dem Hof, mit den Geschwistern in der Wohnung, mit der Familie beim Essen oder beim Kindergeburtstag. Der Bereich von Innerlichkeit ist hier relativ klein. Das Kind erscheint vorrangig als gesellschaftliches Wesen, das befähigt wird, soziale Probleme zu erkennen und dem zugetraut wird, später verändernd in die Zukunft einzugreifen. Dieses Bild von Kindheit kann man durchaus noch in die Reihe und Tradition des Kindheitsbildes der Romantik stellen, wie es Dieter Richter in seiner Untersuchung Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters8 beschrieben hatte: Die Kinder verkörpern ein utopisches Potential, in das Erwachsene ihre Zukunftshoffnungen setzen. Das hat sich heute gründlich gewandelt. Bevor ich zu den zeitgenössischen Darstellungen des Kindes auf der Bühne komme, ein Wort zum Kindertheater der sozialistischen Länder, das sich zeitgleich mit anderen politischen Zielsetzungen und ästhetischen Konzeptionen entwickelt hatte. Für die sozialistische und kommunistische Bewegung waren Kinder von strategischer Bedeutung und ihnen – wie dem Bildungs- und Erziehungssystem insgesamt – wurde das Maß an gesellschaftspolitischer Aufmerksamkeit zuteil, das Kinder eigentlich verdienen, – wenn auch die bildungspolitischen und kulturpolitischen Zielsetzungen dabei – gelinde gesagt – durchaus nicht immer im Sinne der Kinder waren. Vor allem in der DDR wurde das Kind als wesentlich für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft betrachtet. Noch zum Zeitpunkt der Wende 1990 unterhielt die DDR mehrere große Theater für Kinder, in denen bis zu fünfzig Schauspieler und Musiker, insgesamt über zweihundert Personen beschäftigt waren, wie in Berlin, außerdem zahlreiche kleinere Theater und Puppenbühnen. Das junge Kindertheater der DDR, gegründet gleich nach dem 2. Weltkrieg knüpfte nicht an die fortschrittlichen Bewegungen der Weimarer Zeit an, sondern griff – gemäß der kulturpolitischen Doktrin, die eine Orientierung am klassischen Erbe vorsah – zunächst auf das klassische Repertoire zurück, wobei bis zu siebzig Prozent Märchen auf den Spielplänen standen. Statt Lust zum Widerstand wie in Westberlin wurde Einsicht in eine moralische Werteskala auf der Bühne vorgeführt. Während Inszenierungen in der DDR wirkungsästhetisch auf Einführung und Identifikation setzten, wurden die Inszenierungen des sozialen Kindes im Westen von der Brecht’schen Theatertradition beeinflusst: Klares,
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Dieter Richter, Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt/M. 1987: Fischer.
66 | T HEATER FÜR K INDER konturiertes, nicht psychologisches Spiel. Sachverhalte werden dem Zuschauer durch Spiel-im-Spiel-Dramaturgien verdeutlicht. Das Lachen gehört zu diesen Inszenierungen, auch das Verlachen von Autoritätspersonen, direkte Publikumsansprachen und eingängige Songs.
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PSYCHOLOGISCHE
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NEUE I NNERLICHKEIT
Nach der politischen kam die psychologische Phase im Kindertheater, die in Zusammenhang mit der zunehmenden Bedeutung psychologischer Theorien und Strategien in pädagogischen und sozialen Arbeitsfeldern stand. Wie sich auch in der Pädagogik der 1970er Jahre psychologische Verfahren und Argumentationen einstellten, nahm auch das Theater für Kinder psychologische Sichtweisen und Themen auf. Für die Kinder wurden Gesamtschulen gegründet und Kinderläden. Für die Lehrer entstanden Zeitschriften wie „Päd.extra“ und die Konkurrenz „Betrifft: Erziehung“ im Beltz-Verlag, und es entfaltete sich eine reiche an der Psychoanalyse orientierte Therapiekultur. Mit der Thematisierung von menschlichen Gefühlswelten kamen auch die in Westdeutschland verbannten Märchenstoffe wieder zum Vorschein, verbunden mit der Neuentdeckung von Imagination und Innerlichkeit. Thematisiert werden die Probleme des behüteten Kindes, irrationale Ängste, Probleme bei Trennung und Verlust, Identitätsfindungsprobleme, Schul- und Versagensängste, allesamt Themen, für die es keine gesellschaftspolitischen Lösungs- oder Erklärungsansätze gibt. In diesen Stücken kommt es nicht darauf an, Erkenntnisse über soziale und gesellschaftliche Prozesse auf der Bühne zu vermitteln und zum mutigen Handeln und Eingreifen zu aktivieren, sondern Möglichkeiten emotionalen Erlebens zu eröffnen, die dem Publikum im Alltag versperrt sind. Die Inszenierungen, für die das schwedische Unga-Klara Theater beispielhaft geworden ist, setzten auf den emotionalen Mitvollzug der Zuschauerkinder, der sich psychologisch gesprochen auf der Ebene der vorbewussten Rezeption abspielte, und nicht verbal thematisiert werden musste.9
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Vgl. Die Schauspieltechnik und der Spiel-Raum des Zuschauers, in: Ingrid Hentschel, Kindertheater – Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität, Frankfurt/M. 1988: Brandes & Apsel, S. 337- 362.
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Prinz Ohnetrauer10 befasst sich mit den Erfahrungen des emotional unverstandenen Kindes. Das Kind steht nicht als Opfer der Schwarzen Pädagogik im Zentrum, angesprochen ist hier das Kind, das durch Liebe leidet. Es unterdrückt seine Gefühle und Triebe nicht aufgrund äußerer Zwänge, weil Verbote und damit Angst vor der Bestrafung herrschen, wie es noch Thema der Erziehungsdiskussion der sechziger Jahre war, sondern es reagiert auf das unausgesprochene Verbot negativer Gefühle. Das Unglück dieses Kindes besteht darin, dass es zum Glücklichsein verdammt ist. Ohnetrauer ist ein behütetes Kind. Während im Palast alles auf seine Unterhaltung und Freude abgestellt ist, wird ihm die wirkliche Welt außerhalb der hohen Schlossmauern, vorenthalten. So zieht er eines Tages aus, das kennen zu lernen, was immer vor ihm versteckt worden ist: die Trauer und Schmerz. Er lernt sie in unterschiedlichen Formen kennen: als toten Marmorblock, als lebendige Guerillakämpferin, als weinendes Kind. Aber erst als er sich verliebt und im Verlust am eigenen Leibe erfährt, erkennt er, dass Schönheit und Glück ohne Schmerz und Trauer nicht empfunden werden können.
Ein Stück wie Prinz Ohnetrauer trug der Veränderung der klinischen Bilder in den Praxen der Kinderpsychologen Rechnung, in denen sich die Persönlichkeitsstörungen von den traditionell neurotischen hin zu narzisstischen verschoben hatten. Ein Thema, das nach wie vor aktuell ist. Angesichts der Überfürsorglichkeit, mit der Kinder heute umhegt werden, angesichts von Helicoptering, zwanghaftem Schutz- und Überwachungsverhalten von Eltern ihren Kindern gegenüber, erscheint mir mittlerweile das Kindheitsbild des psychologischen Kindertheaters der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts aktueller denn je zu sein. Auf den Bühnen aber ist es – soweit ich sehen kann – kein Thema. Was bedeutet die psychologische Perspektive der Innerlichkeit für die Kindheitsbilder in ihrer Relation zu den Konzeptionen der Erwachsenen? Angesichts der Phantasmen und Innenwelten des Menschen verschwindet die Notwendigkeit, zwischen Kind und Erwachsenen in realistischer Weise zu differenzieren. Insofern ist der Weg vom psychologischen zum poetischen Kinderstück nicht weit. Das gesamte kulturelle Repertoire der Märchen und Mythen kann als Folie dienen um innere Konflikte und Wachstumsprozesse darzustellen. Dies gilt natürlich nur solange psychoanalytische und entwicklungspsychologische Theorien paradigmatisch im Rahmen ästhetischer und pädagogischer Reflexionen leitend
10 Von Per Lysander und Suzanne Osten, deutsch: Verlag Autorenagentur Frankfurt/M. (UA 1974, Stockholm).
68 | T HEATER FÜR K INDER waren. Mit dem naturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der im 21. Jahrhundert zusammen mit der Biologie und mit der Hirnforschung einhergegangen ist, verändert sich der Blick auf die Innenwelt des Kindes, was auch ein Grund für das gegenwärtige Ausbleiben phantastischer Erzählungen im Theater für Kinder sein mag. Historisch betrachtet lag der Schritt weg von psychologischen Orientierungen hin zu poetischer und ästhetischer Vieldeutigkeit nahe – und wurde entsprechend auch in der Literatur für Kinder vollzogen, die in ihrer Entwicklung insgesamt viele Parallelen zur Entwicklung des Kindertheaters aufweist. Fortan war eine Egalisierung im Verhältnis von Kindern und Erwachsenen auf der Bühne zu beobachten. Nicht die Besonderheit des Kindes mit seinen Potentialen, sei es in positiver oder negativer Hinsicht, stand im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Nähe der Kinder zu den Erwachsenen wobei sich die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen immer mehr verwischen.
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In Stücken wie Die Nachtvögel11 von Rudolf Herfurtner nach einem Kinderbuch von Tormoud Haugen stehen Kind und Erwachsener auf einer Stufe. Der Bühnentext zeigt einen Vater, der unter denselben Ängsten leidet wie sein kleiner Sohn. Beide werden von Nachtvögeln, bösen Alpträumen, heimgesucht. Das Stück spielt in einem Treppenhaus, einem Schauplatz, den der Autor aber keineswegs naturalistisch verstanden wissen will. Das Treppenhaus ist der Raum zwischen innen und außen, zwischen privat und öffentlich. Dort wird für den achtjährigen Joachim jeder Weg zum Schreckensparcours, den er nur mit Hilfe ausgeklügelter Rituale bewältigen kann. Seine Ängste finden ihr Pendant in denen des Vaters, der, Lehrer von Beruf, Probleme hat, diesen auszuüben und sich offensichtlich in einer Depression befindet. Joachim ist trotz der belasteten Familiensituation in gutem Einvernehmen mit seinen Eltern. Das Kind kommt in die Lage, seinen Vater nachts, wenn er vor Angst aus dem Bett fährt, trösten zu müssen. Am Ende, als es Joachim gelungen ist, seine eigenen Ängste mit Hilfe eines imaginierten Dialogpartners aufzulösen, wird sein Vater mit Blaulicht in die psychiatrische Klinik gefahren.
Keiner verfügt – mutig wie noch das pfiffige Kind im Grips-Theater – über eine Lösung. Rudolf Herfurtner beschreibt nahezu illusionslos ein Stück Realität und
11 In: Marion Victor (Hrsg.), Spielplatz Bd. 2, Frankfurt/M. 1989: Verlag der Autoren.
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lädt ein zum emotionalen Mitvollzug. Nicht Erkenntnis, keine Lösung auch kein Happy-End, sondern eher ist es Empathie, die dieses Stück bei seinen Zuschauern herausfordert. Ein Begriff, der auch in der psychotherapeutischen Fachdiskussion der achtziger Jahre eine zentrale Rolle erhielt. Um das Kinderbild, das ich hier mit dem Begriff der Gleichheit bezeichnen will, zu begreifen, benötigt man den historischen Kontrast: Hier begehrt niemand auf. Das Kind nicht, die Frau nicht, der depressive Vater überantwortet sich fremder Hilfe oder wird ihr überantwortet. Wir erfahren nicht, ob er sich am Ende freiwillig in die Klinik begibt. Ein Kinderbild, wie es bei Herfurtner gezeichnet wird, ließe sich auch als „das befriedete Kind“ bezeichnen. Das befriedete Kind lebt im Einklang mit seinen Eltern, Probleme betreffen die ganze Familie und werden nicht durch Kampf oder aggressive Abgrenzungen, auch nicht durch Kinderöffentlichkeit oder Protest, sondern partnerschaftlich durch Verständigung bearbeitet. Es ist offensichtlich, wie diese Bühnenfiguren Prozesse gesellschaftlicher Demokratisierung, ebenso eine allgemeine psychologische Aufgeklärtheit zur Voraussetzung haben, Kompetenzen wie sie Jürgen Habermas in seiner bildungspolitisch einflussreichen Theorie des kommunikativen Handelns12 beschreibt.
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ÄSTHETISCHE FÜR ALLE
K INDERTHEATER
ALS
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Diese Entwicklung führte dazu zu diskutieren, ob es denn überhaupt noch gegeben sei, eine eigenständige Theaterkunst für Kinder zu formulieren, ob nicht Kindertheater eben nur Theater sei.13 Aus dieser Debatte erwuchs das Theater der Generationen. Ein Theater für alle Altersgruppen, das sich aber anders als das Theater für Erwachsene auch an Kinder richtet. Denn berühren sich auf der Ebene der Phantastik, der Träume, Ängste, Alpträume und Wunschbilder nicht Kinder und Erwachsene? Stammen unsere Ängste, die uns als Erwachsene schweißgebadet aufwachen lassen, nicht aus unserer Kindheit, bedienen sie sich
12 Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1981: Suhrkamp. 13 Vgl. Ingrid Hentschel, Über Grenzverwischungen und ihre Folgen. Hat das Kindertheater als Spezialtheater noch Zukunft? in: Annett Israel/ Silke Riemann (Hrsg.), Das andere Publikum, Berlin 1996: Henschel, S. 31–47 sowie in der vorliegenden Publikation.
70 | T HEATER FÜR K INDER nicht an deren Bildern? Das Theater der Generationen ist ein ästhetisches Theater: Es hat ästhetische Vieldeutigkeit zur Voraussetzung, sodass Kinder und Erwachsene die Aufführungen auf der Basis ihrer je eigenen Erfahrungshorizonte rezipieren können. Der Autor, der diese Vieldeutigkeit am besten beherrscht ist sicherlich F. K. Wächter. Die ästhetische Wende im Theater für Kinder begünstigt eine spielerische Ästhetik, die Bezug nimmt auf das Kinderspiel und seine Verwandlungsfähigkeiten. Ein riesiges weißes Tuch auf der Bühne darf einen Palast darstellen, kann Wasser, Meer und Abgrund sein. Figuren und große Marionetten können die Menschenschauspieler begleiten. Wie in der Spieltätigkeit der Kinder existieren Phantasie und Realität nebeneinander, ohne in Konflikt zu geraten. Wurden Kinderspiele in den Stücken des sozialen Kindertheaters vor allem als Probehandeln eingesetzt, als versuchsweises Durchspielen anderer produktiver Lösungswege, so tritt das Spiel hier nicht nur als eine Form psychischer Verarbeitung auf, sondern auch als lustvolle Transformation und Vision. Kinder spielen König und Prinzessin, um ihrem Anspruch einmal Herr im eigenen Reich zu sein wenigstens in Spiel zu befriedigen, sie erspielen sich eine Welt, die anders als in der Lebenswirklichkeit einmal mit ihrer Innenwelt, mit ihren Träumen, Wünschen und Ängsten übereinstimmen darf. Platz für den König von dem Schweizer Theatergenie Peter Rinderknecht ist hier ein wunderbares Beispiel, in dem wir alle, Kinder wie Erwachsene, als Wesen mit eigenem Recht, mit Anspruch auf Einfluss, Geltung und Erfüllung unserer Wünsche betrachtet werden. Eine Bestärkung von Lebensfreude und Zuversicht. In den besten Fällen bilden solche Aufführungen eine Resonanz auf unser Inneres und funktionieren wie ein Füllhorn von Spielanregungen, die die Kinder zuhause in ihren eigenen Spielen mit den verschiedensten Materialien umsetzen können und die auch Eltern auf Ideen bringen können, zu denen sie sonst keinen Zugang haben. Mit der Abkehr von der pädagogischen Fundierung des Kindertheaters ab Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und der ästhetischen Orientierung kamen dann auch die lange verschütteten Theatertraditionen eines Theaters der Bilder, des Tanzes und der Abstraktion zutage. Beckett für Kinder wurde möglich.
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MIT EIGENEM
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UND DOCH DEFIZITÄR Im neuen Jahrtausend allerdings scheint sich das Blatt zu wenden. Das Verhältnis der Generationen zueinander ist durch verschiedenste Entwicklungen komplizierter geworden. Kinder sind immer weniger klar von Erwachsenen abzugrenzen. Industrie und Medien, die breite Konsumentenschichten benötigen, aber auch die Kinder selbst wollen dies immer weniger. Die meisten Kinder bevorzugen Produkte für Erwachsene, immer früher tragen sie deren Kleidung und sehen sich deren Sendungen im Fernsehen an. Das spiegelt sich in zahlreichen Publikationen zu Beginn des 3. Jahrtausends wider. Thema ist das Kind als Gegenüber und Partner des Erwachsenen. Die Zeiten sind vorbei, als Kinder vorrangig als Wesen wahrgenommen worden sind, die unsere Fürsorge und Unterstützung benötigen, wie es der Perspektive der Entwicklungspsychologie entsprach, wenn sie etwa den entwicklungsbedingten Egozentrismus des Kindes oder sein unzureichendes Realitätsbewusstsein zum Thema machte. Die gegenwärtige Kindheitsforschung betrachtet Kinder nicht mehr nur als „Menschen in Entwicklung“, sondern auch als „Personen aus eigenem Recht“. Das hat Folgen für die Erwachsenen. Experten sind sich einig: Die Autorität der Erwachsenengeneration weiß sich nicht mehr auf einem gesicherten Boden. Was sollen Theatermacher den Kindern zeigen und warum? Welche Geschichten lohnt es zu erzählen? Welche Erfahrungen sind tragfähig für Kinder, die in einer rasant sich wandelnden Welt aufwachsen? Auch Erwachsene weisen heute Lebensphasen auf, die traditionell nur bei Jugendlichen vorkommen: Phasen der Ausbildung, der Umorientierung und Selbstfindung, Phasen der Erprobung neuer Lebensentwürfe. Die ‚richtigen‘ Erwachsenen scheinen in unserer Gesellschaft zu verschwinden wie auch das ‚kindliche‘ Kind – man schaue sich nur die Schaufenster der Bekleidungshäuser an, wo Dreijährige das Outfit von David Beckham, Madonna oder Rihanna tragen. Dieser Entwicklung entspricht das Theater der Generationen, das in seinen Spielweisen, Formen, Stoffen und Geschichten nicht mehr zwischen Kindern und Erwachsenen unterscheidet, sondern „Theater für alle“ machen will und sich deswegen verstärkt an die Theaterformate anlehnt, die im Theater für Erwachsene zu finden sind, von denen sich das Theater für Kinder in seinen Anfängen kritisch distanziert hatte. Was passiert in dem Zeitraum, den wir angesprochen haben, im Theater für erwachsene Zuschauer? Ich will nur einige Stichworte nennen, die auch für die
72 | T HEATER FÜR K INDER Entwicklung der Ästhetik im Kindertheater bedeutsam sind. Angesichts der Dominanz der elektronischen Medien und der allgegenwärtigen Visualisierung unserer Kultur ist das Theater dabei, sich selbst zu thematisieren, vom Theater als Theater zu erzählen und seine Rolle in der Gegenwart zu befragen. Man spricht von einer Re-Theatralisierung der Theaterkunst und davon, dass es seine performativen Dimensionen in den Vordergrund treten lässt. Anstelle des magischen Als-ob der traditionellen Rollendarstellung begreift Theater zunehmend seinen Charakter einer lebendigen Begegnung zwischen Schauspielern und Zuschauern in einem realen Raum, führt reale Aktionen aus, verwendet Materialien wie Sand, Wasser, Erde, echte Lebensmittel, bringt Zuschauer und Schauspieler in „wirklichen“ Situationen zusammen. Auch das Theater für Kinder ist von dieser Entwicklung nicht unberührt geblieben. Immer häufiger werden Inszenierungen und Stücke von ihrer Theatralität her entwickelt. Kindertheater ist heute vor allem Theater und erst in zweiter Linie für Kinder gedacht. Bildertheater, Performance, Tanztheater, Installationen, all diese Formen sind auch im Theater für Kinder zu sehen. Das sind Theaterkonzeptionen und Ästhetiken, die allerdings den Pädagogen und denjenigen, die Theater für Kinder finanzieren, und als sogenannte Kunden abnehmen, nicht wenige Schwierigkeiten bereiten. Was im Bildertheater zu sehen ist, lässt sich nicht ohne Weiteres verbalisieren oder in Einsichten und Urteilen formulieren. Der Begriff des „Lernens“, mit dem Kunsterzeugnisse für Kinder so gerne verknüpft werden, erweist sich hier als problematisch: Der Fokus der Rezeption verlagert sich vom Verstehen zum Erleben. Während das realistische und pädagogische Kindertheater ein höchst mögliches Maß an Eindeutigkeit für den Zuschauer erreichen wollte (dem dienten Dramaturgie und Handlungsführung, die auf Analogiebildung und Wiederholung beruhten), setzt das Bildertheater auf Vieldeutigkeit. Der Zuschauer hat die Freiheit sich aus dem breiten Spektrum an Zeichen, die seitens der Bühne angeboten werden, Bedeutungen zu generieren, die seinem jeweiligen Erfahrungs- und Verstehenshorizont entsprechen. Ente, Tod und Tulpe14 erzählt vom Sterben und vom Tod. Im minimalistischen Bühnenbild wird mit elektronischer Musik, mit einer Schauspielerin, einem Musiker und 2 Pup-
14 Bilderbuch im Antje Kunstmann Verlag, München 2009. Bei der hier beschriebenen Inszenierung für die Bühne nach dem gleichnamigen Bilderbuch handelt es sich um die mehrfach preisgekrönte Produktion von Martina Couturier (Regie Jörg Lehmann), Berlin 2009.
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pen, eine die Ente, die andere der Tod, die Geschichte von der Ente erzählt, die ihren eigenen Tod trifft, die Tage gemeinsam mit ihm verbringt, sich ihm annähert und so den Tod als Gestalt kennenlernt, die zum Leben gehört. Auf der Bühne entsteht nach dem Bilderbuch von Wolf Erlbruch eine berührende Bilderwelt, die dem Zuschauer Raum für eigene Gedanken, Gefühle und Assoziationen lässt.
Weder auf der Bühne noch im Zuschauerraum wird Sinn und Bedeutung vorgegeben. Das Theater wird zum ästhetischen Erlebnis, das vom Spiel der Imagination im Zusammenspiel von Bühne, Schauspieler, Zuschauer, Musik und Bild kreiert wird. Allerdings sind nach meiner Beobachtung dergestalt poetische Theateraufführungen, die nicht didaktisch differenzieren, sondern sich vieldeutig an ein vielschichtiges Publikum wenden, inzwischen weniger zu finden. Theatermacher klagen mir, dass sie Probleme hätten solche Inszenierungen auf dem Spielplan zu rechtfertigen und in den Schulen zu bewerben und bei den Projektförderungen erfolgreich zu beantragen. Nach einer Phase der Egalisierung und Gleichheit, ist es gegenwärtig wieder die Besonderheit des Kindes, die im Mittelpunkt von Förderprogrammen, von Bildungsstrategien, und eben auch der Theaterästhetik steht, nun allerdings mit negativen Vorzeichen. Ich sehe derzeit im Wesentlichen zwei Entwicklungsrichtungen. Eine tendiert dahin in erster Linie Theater zu sein und darin sozusagen den Auftrag als subventioniertes Theater zu sehen, die andere versucht, ihre Arbeit den von der Förderpolitik favorisierten Programmen kultureller Bildung einzufügen, mit funktionalisierenden Verengungen.
D AS GEFÄHRDETE K IND – P ROBLEMKINDHEIT – B ILDUNGSKINDHEIT Kindheit im Jahre 2012 scheint vor allem eins zu sein: problematische Kindheit, gefährdete Kindheit. Die Kinder werden immer weniger. Der demografische Wandel lässt sie zum raren kostbaren Gut werden, und sie sind immer kürzere Zeit Kind, die Pubertät setzt heute schon mit elf Jahren ein, die Konsumindustrie tut ein übriges Kindheit zu verkürzen und die Phase der Jugendlichkeit zu verlängern. In dieser Situation heißt Kindertheater immer häufiger nicht Theater für Kinder, sondern Theater mit Kindern. Zusammen mit dem egalitären Kindheitsbild in der Pädagogik ist die Autonome Ästhetik des Kindertheaters auf dem Rückzug. Das Kind wird wieder zum Objekt von Erziehungsstrategien, nun Bildungsprogramme genannt. Im Zuge der
74 | T HEATER FÜR K INDER zahlreichen neu geschaffenen Programme zur kulturellen Bildung, verbunden mit dem Aktivismus, den die vermeintlich negativen Ergebnisse der PISA Studie in Gang gebracht haben, werden kulturelle Angebote für Kinder nun nach ihrem Bildungswert befragt und evaluiert. Das Theater für Kinder wird so didaktisiert, pädagogisiert und instrumentalisiert als Kompetenzzentrum für defizitäre kleine Menschen. Hier spielen die kompetenzorientierten Bildungsstandards eine Rolle wie auch damit zusammenhängend die Entwicklung von Evaluationsinstrumenten und empirischer Wirkungsforschung. Zusammen mit den gesellschaftlichen Prozessen der Ökonomisierung von öffentlichen Aufgaben wie Bildung, Erziehung und Sozialem wird auch Kunst und Kultur den Parametern der Wirtschaftlichkeit und Berechenbarkeit unterworfen. Effizienzdenken und entsprechende Erhebungen machen auch vor dem Kindertheater nicht halt. Die Expertokratie nimmt gerade im Zusammenhang mit der breiten Bildungsoffensive, die unter dem Begriff der Kulturellen Bildung zur Breitenwirkung der Künste und auch des Theaters beitragen will, einen bedenklichen Aufschwung – und sie hat Folgen für die Kinder. Spätestens seit dem Hype um die PISA-Studie erscheinen Kinder wieder als Bildungs- und erziehungsbedürftige Wesen, als Menschen, die besonderen Schutz und besondere Programme benötigen. Kinder sind vor allem eines: Gegenstand für Spezialisten. Schaut man sich die entsprechenden Ratgeber für Eltern an, so geht ohne wissenschaftliche Experten nichts mehr: der Speziallöffel zum Füttern aus Weichkunststoff ist der Vorläufer für den Elternführerschein, der mir dann die richtige Verwendung beim Füttern zertifiziert. So steht auch der Begriff des Lernens wieder im Zentrum der Pädagogik und der Künste. Unter den Leitwerten von Selbstbestimmung, Leistungsfähigkeit, Stärke und Initiative rücken die Künste, allen voran die Musik, dann der Tanz und schließlich das Theater in den Blickpunkt von Förderungs- und Optimierungsstrategien. Die Erfolge ästhetischer Bildungsprozesse in der frühen Kindheit beweist uns stichhaltig die Hirnforschung. Leben wird inzwischen in seiner Plastizität, von der Bildbarkeit her betrachtet. Was in den frühen Jahren nicht trainiert wird, wird immer defizitär bleiben. Das Kind ist der potentielle Athlet, dessen Ausbildung um keinen Preis versäumt werden darf. Inwieweit auch das Theater für die Allerkleinsten, für die Krabbelkinder, das sich inzwischen mit spielerischen und feinfühligen interaktiven Konzeptionen etabliert, dieser Tendenz zuzurechnen wäre, bleibt zu diskutieren. Der Zuspruch für kulturelle Bildungsangebote ist da, wenn ihre Ziele und Ergebnisse Optimierung von Kompetenzen versprechen.
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Folgt man den soziologischen Studien, so sind Kinder heute Projekte und Objekte der Lebensoptimierung ihrer Eltern. Das Designerkinderzimmer ist in. Dabei geht die gesellschaftliche Schere immer weiter auseinander. Haben wir auf der einen Seite die übertrainierten Kinder der sogenannten Bessergestellten, so auf der anderen die vernachlässigten aus prekären Verhältnissen, bis hin zu den Opfern von Kindesmissbrauch und Kinderpornografie, die die extremste Überschreitung der Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen darstellt. Missbrauch und Kinderpornografie zeigen an, wie stark die Generationengrenze ins Rutschen geraten ist. Die Konsumwelten machen es vor. Aktuelle Studien weisen nach, dass Kindheit für Eltern und Erwachsene im 21. Jahrhundert zunehmend zu einem defizitären, bedrohten und besorgniserregenden Zustand wird.15 Kinder sind heute – so die durch die dramatisierende Sicht der Medien beeinflusste Wahrnehmung – ständig Gefährdungen ausgesetzt. Ihre freie Bewegung ist im Stadtraum kaum noch möglich: das Kind wird zum Objekt zahlloser Präventionsstrategien, an denen auch das Kindertheater regen Anteil nehmen soll. Angeregt durch entsprechende Förderprogramme stehen Stücke zur Verhinderung von Fettleibigkeit, zur Förderung von Gesundheitsbewusstsein und Bewegung, zur Verhinderung sexuellen Missbrauchs, zur Drogenprävention, zum Umgang mit Trauer und Verlust, zur Problematik von Scheidung und Trennung, zur Mülltrennung auf den Spielplänen. Das gefährdete, letztlich defizitäre Kind ist Ausdruck unserer Lebensangst, unserer Optimierungssucht, Projektion des Leistungsdrucks, den eine ökonomisierende Gesellschaft auf Erwachsene ausübt. Ich möchte noch einmal auf unseren alten Freund ETF zurückkommen. Nach Jahren als regelmäßiger Besucher der Kindertheaterfestivals – vielleicht hat er hier inkognito an diesem Band mitgeschrieben – ist er immer noch leidenschaftlicher Menschenforscher, aber der Programme, und vor allem der Begriffe überdrüssig: Partizipativ, soziale Kompetenzen, Lernen, Entwicklung, Weltwissen, Selbstbewusstsein und Gesundheitsbewusstsein, Profilierung, Aggressionsabbau, Kooperationsfähigkeit, Selbst- und Fremdkompetenz… Er ist irgendwie frustriert von der Vielfalt der Diskurse über Kindheit. Vor allem das Aufkommen der Hirnforschung, der Kompetenzorientierung der Bildungsprogramme und die Vielfalt der Theaterinszenierungen, verwirren unseren Freund. Auch, dass nun Kindertheater vor allem partizipativ sein soll, dass es in
15 Renate Kranzl-Nagl/Helmut Wintersberger, Über die Bilder von Kindheit, in: Medien-Impulse, 7 (1998) 25, S. 4-12, auch: http://www.fachportalpaedagogik.de/fis_ bildung/suche/fis_sethtml?FId=491841&mstn=7 (15.12. 2012).
76 | T HEATER FÜR K INDER der Mehrzahl für besser befunden wird, wenn Kinder selbst Theater spielen, als sich Aufführungen anzuschauen, die Erwachsene für sie spielen, irritiert ETF nachhaltig. In dieser Verfassung reist er gen Süden. Zum Theaterfestival 2011 nach Avignon. Da sind die Straßen bekanntermaßen voll von fröhlichen Menschen, von Straßenkünstlern, es gibt hunderte von Off-Theatertruppen, die das Repertoire der europäischen Moderne anbieten, und natürlich jede Menge Performance und Avantgarde. Jedenfalls keine Kinder. ETF ist irgendwie erleichtert. Da hat er sich aber geirrt: Das Festivalprogramm steht unter dem Motto „Aux enfants“, „Kinder“ wie er sehen muss. Er hat eine Karte für Boris Charmatz’ Tanztheaterperformance Enfant ergattert: Siebenundzwanzig Kinder werden von zwei riesigen überdimensionalen Maschinen bewegt, durch die Luft geworfen, sind Opfer der Erwachsenen, die über ihr Schicksal bestimmen, verfügen, ihre Aufenthalts- und Bewegungsräume definieren. Neun Schauspieler/Tänzer bewegen die willenlosen Kinder wie Marionetten. „Im Bild des ausgelieferten Kindes liegt mehr als das sensible Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem; die Frage, wie gehen wir grundsätzlich um mit denen, die schutzbedürftiger, schwächer, hilfloser sind als wir selbst? Und da eröffnet uns Enfant den Blick dafür, dass es oft nicht eine direkte Grausamkeit ist, die schmerzt, sondern die Teilnahmslosigkeit von Berührung und Kontaktaufnahme.“ Dann im zweiten Teil des Stückes erwachen die Kinder und behaupten sich als eigenständige, autonome Wesen, ganz allgemein breitet sich nun ein kindlicher Zugang zur Welt aus, diese Kinder „wirken erstaunlicherweise überhaupt nicht wie von einem Erwachsenen inszeniert oder dirigiert. Obwohl sie sich bruchlos in den Wirbel der Choreografie einfügen, scheinen sie doch keinen Moment fremdbestimmt, sondern so natürlich wie beim Spielen im Kinderladen nebenan.“ (ebd.)
Und das ist die eigentliche Leistung dieser Inszenierung: einen Abend zu schaffen, in dem sich Hilflosigkeit in Autonomie verwandelt, „Kinder als vollkommen selbstbestimmte Geschöpfe das Bühnengeschehen übernehmen und ihr Welt- und Seinsverständnis als choreografisches Prinzip“ die Aufführung durchdringt.16
16 Alle Zitate zu Enfant, s. Elisabeth Nehring in Deutschlandradio Kultur: www.dradio. de/dlf/sendungen/kulturheute/1537765/ (3.12.2012).
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Am nächsten Abend dann Romeo Castelluccis Sul concetto di volto nel Figlio di Dio, zu übersetzen als Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn17, immerhin ist Christus ein Kindheitsbild, das die Bilderwelt unserer Kultur bis heute entscheidend beeinflusst. ETF ist orientiert. Es ist ein Kind, das die Hoffnung der Welt darstellt. Ein Mann im adretten Businessanzug versucht seinen inkontinenten Vater im weiß möblierten Wohnzimmer zu säubern, immer neue Exkremente dringen durch die Windeln. Er wischt den nackten Hintern des alten Mannes, das Theater stinkt nach Scheiße. Im Hintergrund das Bild Christi als überdimensionales Gemälde. Kinder treten auf, die Schulrucksäcke voller Handgranaten, die sie auf das Bild des Gottessohns werfen... Es erweist sich als unzerstörbar.
Eine Geschichte von Kindern und ihren pflegebedürftigen Eltern. Die Generationentragödie im Jahre 2011. Gott ist nicht tot, sondern ein Pflegefall. Eine gute Idee, dass sich Erwachsene einmal mit Kindheit befassen, findet ETF, der inzwischen über alle Differenzierungen bestens orientiert ist. Im Übrigen ist unser Extraterrestrischer Freund inzwischen auch zu einem Anhänger des performativen Theaters mutiert, wenn sich auch die fäkalen Originalgerüche in der letzten Aufführung als störend, aber immerhin sehr erlebnisintensiv erwiesen haben. Kindheit ist im traditionellen Theater bisher ein eher marginales Thema. In den großen Texten der Weltdramatik kommen Kinder kaum vor, es sei denn als Grund für Abtreibung, Ehrenmord oder Selbstmord. Das scheint sich gründlich zu wandeln, auch beim Theatertreffen in Berlin sah man 2012 gleich zwei Inszenierungen, die sich dezidiert mit der Sicht- und Erlebnisweise von Kindern befassten.18 Das Kinderbild der Romantik mit ihren Heilserwartungen, das in verschiedenen Ausprägungen das 20. Jahrhundert beherrscht hatte, scheint endgültig ausgedient zu haben.
17 Produktion: Societas Raffaello Sanzio, Cesena / Koproduktion: Theater der Welt 2010. 18 Die Performance-Gruppe Gob Squad lässt Kinder selbst agieren und ihr Leben spielen bzw. reflektieren in Before Your Very Eyes. Die preisgekrönte Off-Theaterproduktion Conte d’Amour (Regie Marcus Öhrn) Finnland u.a. zeigte eine Geschichte erotischer Bindung und sexuellen Missbrauchs aus der Perspektive der Kinder.
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V OM O BJEKT
ZUM
S UBJEKT –
LASST DIE
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RAUS !
Walter Benjamin formulierte im Programm eines proletarischen Kindertheaters19, das er zusammen mit Asja Lacis schrieb, Kindertheater als einen aktiven Prozess künstlerischer Bildung von Seiten der Kinder. Kinder sollten Theater spielen, nicht nur für sich selbst, nicht nur aus pädagogischen Gründen, sondern um einem erwachsenen Publikum ihre Sichtweise der Welt darzustellen. Theater von Kindern als eine Form von Kinderöffentlichkeit. Eine revolutionäre Theatervision, die Walter Benjamin auf Anregung der russischen Schauspielerin und Pädagogin Asja Lacis formuliert hatte: Kinder spielen Theater, um sich als selbständige Wesen zu erkennen zu geben. Als Kinder, die nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt von Erziehung sein können und einen wesentlichen Pfeiler gesellschaftlicher Veränderungen darstellen. Ein Gedanke, der in Zeiten einseitig fokussierter Indienstnahme des Kindertheaters auf die Wechselseitigkeit der Generationen verweist. Was ist es, was die Kinder uns zu sagen haben? That Night Follows Day ist eine Inszenierung mit sechzehn Kindern zwischen acht und vierzehn Jahren, ein Bild strengster Disziplin, Gesicht geradeaus, das Arrangement eines Klassenfotos oder eines Kinderchors tritt dem Publikum frontal gegenüber. Sie sind bereit zu sprechen, zu singen, zu spielen, unisono oder solo, und immer mehr ganz undiszipliniert die Wahrnehmung der Erwachsenen zu irritieren. „Ihr füttert uns. Ihr wascht uns. Ihr zieht uns an. Ihr singt uns etwas vor. Ihr seht uns beim Schlafen zu. Ihr macht Versprechungen, von denen ihr glaubt, dass wir uns nicht daran erinnern. Ihr erzählt uns Geschichten mit glücklichem Ende und Geschichten mit unglücklichem Ende und Geschichten mit einem Ende, das eigentlich gar kein Ende ist. Ihr erklärt uns, was Liebe ist. Ihr erklärt uns, warum man krank wird und, warum es Kriege gibt. Ihr flüstert leise, wenn ihr glaubt, dass wir euch nicht hören können. Ihr erklärt uns, dass auf den Tag die Nacht folgt.“20
Dass nach dem Tag die Nacht kommt, ist eine von vielen unumstößlichen „Wahrheiten“, die Eltern ihren Kindern beibringen und mit der sie ihre eigene Welt und die der Kinder definierend formen. That Night Follows Day kippt das
19 Walter Benjamin, Das Programm eines proletarischen Kindertheaters, in: Über Kinder, Jugend und Erziehung, Frankfurt/M. 1969/1929: Suhrkamp. 20 Produktionsplattform Victoria, Belgien, Konzept, Text, Regie: Tim Etchells 2007.
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System der Gewissheiten, hier hören Erwachsene zu, wie Kinder die erwachsenen Projektionen auf ihre Kinderwelt wahrnehmen und zurückspiegeln. Betrachtet man die gegenwärtigen Studien zur gesellschaftlichen Entwicklung von Kindheit und Kindheitsbildern, so fällt auf, dass Kinder entweder überschätzt oder unterschätzt werden. Immer sind sie Ziel, Objekt der Vorstellungen, Wünsche und Ängste, die wir Erwachsenen uns von ihnen machen. Benutzen wir das Theater für Kinder doch auch einmal dazu, den Kindern ein Forum zu geben, Kinderöffentlichkeit darzustellen. Lassen wir uns etwas sagen von ihnen! Lassen wir sie spielen und spielen wir für sie im Theater, frei von didaktischen Aufträgen, pädagogischen Funktionalisierungen und Wunschprojektionen! Das muss nicht immer bedeuten, dass Kinder selbst auf der Bühne stehen und die Skripte schreiben. Jeder Autor, jeder Schauspieler und jede Schauspielerin trägt ein Kind in sich, auf das sie hören können, dessen Einflüsterungen sie wahrnehmen und erspielen können. Kinder sind nicht nur die „anderen“, die jungen, die unvollkommenen, diejenigen für die wir Verantwortung übernehmen, sondern Kinder erinnern uns an das, was wir selbst an Anarchischem, an Unangepasstem, an Zartem und Offenem in uns tragen. Für Kinder ist die Welt noch nicht fest geworden, sie können sie immer wieder ins Spiel und aufs Spiel setzen: Gewagt, riskant, wütend und wild. Drückte nicht Max Reinhardt einmal das Verhältnis des Schauspielers zum Kindsein aus, als er das Theater bezeichnete, als den seligsten „Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen“? Im Spiel begegnen sich die Weltzugänge von Kindern und Erwachsenen. Kinder gibt es auf den Straßen und Plätzen immer weniger, umso kostbarer sind sie. Für das Theater sind sie lebensnotwendig. Kindheit und Spiel gehören zusammen wie Spiel und Theater. Spiel ist der Kern der Kunst. Vor allem aber des Theaters.21 Das Spiel, das zwischen Schauspieler und Zuschauer, Bühne und Publikum, Realität und Phantasie oszilliert, um uns in seinen besten Stunden etwas ganz Persönliches zu schenken, das wir mit anderen teilen können. Als Erwachsene brauchen wir was Kinder uns geben können – wenn wir sie nur ließen...!
21 Vgl. Ingrid Hentschel, Dionysos kann nicht sterben – Theater in der Gegenwart, Münster 2008, Teil II, Imagination und Spiel.
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L ITERATUR Benjamin, W. (1969). Über Kinder, Jugend und Erziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, J. (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hentschel, I. (1988). Kindertheater. Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel. Hentschel, I. (1994). Das Kind ist gut, das Leben schlecht. In J. Richard (Hrsg.), Kindheitsbilder im Theater. Frankfurt a. M. Hentschel, I. (1996). Über Grenzverwischungen und ihre Folgen. Hat das Kindertheater als Spezialtheater noch Zukunft? In S. Riemann & A. Israel, Das andere Publikum. Deutsches Kinder- und Jugendtheater (S. 31 - 47). Berlin: Henschel. Hentschel, I. (2007). Seismographen von Kindheit. Pädagogische und ästhetische Entwicklungen im Kinderheater. In G. Taube (Hrsg.), Kinder spielen Theater (S. 102-132). Milow-Strasburg: Schibri. Hentschel, I. (2008). Dionysos kann nicht sterben - Theater in der Gegenwart. Münster: LIT. Horkheimer, M. (1936). Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Paris: Alcan. Kränzl-Nagel, R. & Wintersberger, H. (1998). Über die Bilder von Kindheit. In Medienimpulse 7/25, S. 4-12. Nehring, E. Deutschlandradio Kultur. Von www.dradio.de/dlf/sendungen/ kulturheute/1537765/ am 3. Dezember 2012 abgerufen. Richter, D. (1987). Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a. M.: Fischer. Tiedemann, K. & Raddatz, F. (Hrsg.) (2007). Reality strikes back. Tage vor dem Bildersturm. Recherchen, Bd. 47. Berlin: Theater der Zeit. Victor, M. (Hrsg.) (1989). Spielplatz Bd.2. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren.
Jugendtheater
Jugendtheater im Gespräch: Theater und Politik ... den Menschen an sich selbst zu erinnern1
Am 19. Oktober 1965 kam Die Ermittlung2 von Peter Weiss an vierzehn Theatern in der DDR und BRD zur Uraufführung. Als fünfzehnte Bühne schloss sich die Royal Shakespeare Company in London mit einer Inszenierung von Peter Brook an. Diese geballte künstlerische Demonstration bezog ihre Aktualität aus dem seit Dezember 1963 in Frankfurt stattfindenden Auschwitz-Prozess. Noch bevor dort die Urteile gefällt waren, stand das Stück, das den Prozess dokumentierte, auf den Spielplänen. So ergriff man doppelt Partei gegen die Verharmlosung der Täter im Wirtschaftswunderdeutschland der Nachkriegszeit: Durch die demonstrative Aufführungspraxis und durch das Stück selbst. Anhand der Aussagen, die Hunderte von Zeugen im Prozess gemacht haben, zeichnet Peter Weiss den Weg von der Rampe bis in die Todeskammern von Auschwitz nach. Die eigentlichen Urheber seines Dokumentarstücks waren, wie der Autor immer wieder versicherte, die namentlich benannten Hauptangeklagten im Prozess.
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Der Beitrag entstand anlässlich einer Debatte um Jugend und Gewalt sowie der Frage, wie reagieren die Theater mit ihren Spielplänen auf die Zunahme rechtsradikal motivierter Gewalt und Ausländerhass.
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Die Ermittlung - Oratorium in 11 Gesängen, UA 1965 an 15 Orten zugleich, Autor: Peter Weiss. Text: Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Die Ermittlung wirkt durch die emotionslose Kargheit, mit der die ungeheuerlichen Fakten wiedergegeben werden. Es unternimmt weder den Versuch, Auschwitz noch den Gerichtssaal nachzuspielen, es will nicht als Theaterstück, sondern als Dokument in seinem Verweis auf die Realität rezipiert werden. Dennoch löste es eine Fülle von Kontroversen über das Verhältnis von Theater und Realität, von Kunst und Politik aus. Die Vorwürfe reichten von der moralischen Unstatthaftigkeit, die beispiellose Unmenschlichkeit in Auschwitz zum Gegenstand von Kunst zu machen, bis zur Behauptung, die Theaterkunst sei überhaupt unfähig, eine so erschütternde Realität wiederzugeben. Alles in allem wurde mehr über das Theater als über Auschwitz diskutiert. Infrage stand darum, ob es bloß die bürgerliche Konvention sei, die verhindert, dass Theater politisch rezipiert wird. Oder vielleicht die spezifische Eigenart des Mediums Theater selbst, die es unmöglich macht, dass politische Vorgänge vom Zuschauer auch als solche erkannt werden. In den Aufführungen zeigte sich, dass die Trennungslinie zwischen Kunst und Politik nicht nur Bühne und Zuschauerraum scheidet, „sondern sie verläuft quer durch das Bewusstsein der Zuschauer und Schauspieler.“3 So erwies sich das Dokumentartheater gleich nach zwei Seiten hin als problematisch: zum einen als zu unkünstlerisch, zum anderen politisch als zu wirkungslos befunden. Zusammen mit dem Dokumentarischen Theater (v)erstarb auch die Debatte um Kunst und Politik, die dort ihre extremsten Positionen gefunden hatte. Aber immer, wenn eine erneute Realität des Entsetzens sich aufdrängt, beginnen einige zu zweifeln, ob inzwischen wirklich tiefere Weisheit waltet im Verhältnis des Theaters zu unserer Gegenwart. Dann befriedigt die Entdeckung, dass Shakespeares Königsdramen zu ihrer Zeit eigentlich politische Zeitstücke waren ebenso wie die antiken Dramen, auch nicht mehr, und es mehren sich die Forderungen an das Theater, sich (wieder, wie man meint) direkt auf die Gegenwart zu beziehen und den Dialog mit ihr zu eröffnen. Im Ruf nach dem Zeitstück scheint es dann bisweilen so, als sei die Kunst mit ihrem Bezug zur Tradition als unverdienter Sieger aus einer verlorenen Schlacht hervorgegangen, und alle erweisen ihm nur ihre Referenz, weil der Zeitgeist das so will. Rostock war für viele ein Signal, ihre Skepsis der Kunst gegenüber zu erneuern. Was an Mordtaten in Mölln und Solingen folgte, lässt zu Recht nach der moralischen Verantwortung der Kunst fragen. Unter dem Ansturm der tagespolitischen Aktualität vergisst
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Arnold Blumer, Das Dokumentarische Theater der sechziger Jahre in der Bundesrepublik, Meisenheim am Glan 1977, S. 23.
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sich dann leicht, welchen Gewinn es eigentlich bedeutet, sich auch im Medium der Kunst artikulieren zu können und nicht auf das der Politik beschränkt zu sein. Vor allem für das Jugendtheater, das schon von seiner Definition her eher wirkungsästhetisch ausgerichtet ist, steht das Verhältnis des Theaters zur Realität seiner Zuschauer, für die es sich parteilich engagiert, immer wieder in Frage. Von daher findet dort die Debatte um Kunst und Politik häufiger statt. Dass heute vor allem Jugendliche die Akteure rechtsradikaler Gewalt sind, vereinfacht die Situation keineswegs. Das Dokumentartheater der sechziger Jahre behandelte Themen, die in der Öffentlichkeit der BRD ausgespart waren: das ‚Dritte Reich‘, die Beteiligung der Kirche an der Vernichtung der Juden, der Vietnamkrieg, der § 218. Es opponierte gegen die Unterdrückung von Nachrichten, die damals gang und gäbe war. Der Wahrheitsbegriff dieses Theaters war geprägt von Parteilichkeit und dem Optimismus, dass die Realität durch und durch erklärbar sei. Unter dem Stichwort Thementheater ist es vor allem das Jugendtheater, das in vielem das Erbe des realistischen, eingreifenden, auf aktuelle Auseinandersetzung bezogenen Theaters fortsetzt. Die Themen sind hier das ‚Dritte Reich‘, Drogen, Behinderte, Vergewaltigung, Aids, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Ausländerfeindlichkeit, Rechtsradikalismus, sexueller Missbrauch von Mädchen, neu: das Thema Magersucht, das wir nun im Berliner Grips-Theater sehen können. Ein Verlag kündigt in seiner Programm-Beilage „Stücke zu ‚brennenden‘ Problemen“ an. Wenn das Theater ein bestimmtes Verhältnis zwischen Kunst und Realität beinhaltet, dann kann man sagen, dass Peter Weiss mit seinem Dokumentarischen Theater bis an die Grenze zur Realität vorgedrungen ist, dahin wo die Kunst kaum mehr als solche rezipierbar ist. Natürlich haben Literaturwissenschaftler nachgewiesen, wie viel Kunst in seinen Dokumenten steckt, haben die Beziehung zu Dantes göttlicher Komödie hervorgehoben, – schließlich offenbart Weiss mit der Kennzeichnung der Ermittlung als Oratorium in 11 Gesängen selbst die künstlerische Aufbereitung des Materials. Die Stellung des Dokumentarischen Theaters zwischen Kunst und Realität war von Anfang an problematisch: „Selbst wenn es versucht, sich von dem Rahmen zu befreien, der es als künstlerisches Medium festlegt, selbst wenn es sich lossagt von ästhetischen Kategorien, wenn es nichts Fertiges sein will, sondern nur Stellungnahme und Kampfhandlung, wenn es sich den Anschein gibt, im Augenblick zu entstehen und unvorbereitet zu handeln, so wird es doch zu einem Kunstprodukt, und es muss zum Kunstprodukt werden, wenn es Berechtigung ha-
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ben will. Denn ein Dokumentarisches Theater, das in erster Hand ein politisches Forum sein will und auf künstlerische Leistung verzichtet, stellt sich selbst in Frage. In einem solchen Fall wäre die praktische politische Handlung in der Außenwelt effektiver.“4
Das Problem ist also die Innenwelt des Theaters, die sich offenbar nicht bruchlos auf die Außenwelt beziehen lässt. Das bekommt zu spüren, wer den Versuch unternimmt, das Theaterpublikum nicht mit Theater zu bedienen, sondern mit Realität, die nur mit den Mitteln des Theaters oder aber am Ort des Theaters, auf der Bühne, vorgeführt wird. Ein Teil des Publikums akzeptiert diesen Angriff auf seine ästhetischen Bedürfnisse, ein anderer wendet sich ab: „Dazu gehe ich nicht ins Theater.“ Aus eben dem Grunde geht das Theater dann manchmal an andere, realitätsnähere Orte. Schon Weiss schlug Schulen, Fabriken, Sportarenen vor, dort sei das Publikum weniger auf Kunsterlebnisse hin disponiert. Während sich das große Theater nach der vorübergegangenen Reformphase weitgehend auf die etablierten Theaterräume zurückgezogen hat und nur noch für besonders exotische Inszenierungen entsprechend exotische Orte aufsucht, hat das Kinder- und Jugendtheater die Schulen, Turnhallen und Jugendzentren längst als Spielstätten erobert. Nun kann man feststellen, nicht zuletzt in der Auswahl der Stücke für das gesamtdeutsche Kinder- und Jugendtheaterfestival ‚Augenblick mal‘, dass man dabei ist, von dort wieder in den Kunst-Raum Theater zurückzukehren oder ihn überhaupt erst einmal zu entdecken. Viele Theater bestehen inzwischen wieder darauf, dass die Jugendlichen zu ihnen ins Haus kommen. Man erwartet, dass sie sich auf das Kunstmedium Theater einlassen, und dazu nutzt man den Heimvorteil. Die Klassiker des Abendspielplans werden zunehmend für das junge Publikum entdeckt und entsprechend frisch zubereitet, anspruchsvolle Ästhetiken probiert, außergewöhnliche Bildräume erzeugt. Das Jugendtheater spricht immer weniger den Jargon seiner Zuschauer und hört auf, ihr Spiegelbild zu entwerfen. Es weigert sich auch zunehmend, eine bestimmte Definition dieses Publikums vorauszusetzen, öffnet sich den Generationen, will in erster Linie als Theater und nur noch in Ausnahmefällen als Anwalt eines speziellen Publikums wirken. Und schon fällt – bestärkt durch die aktuellen Anlässe – der Vorwurf des Stadttheaters, des l’art pour l’art, der Flucht in die schöne Kunst mit höherer Reputation und gesellschaftlicher Abstinenz. Das mag manchmal, aber nicht immer zutreffend sein.
4
Peter Weiss, Notizen zum Dokumentarischen Theater, 1968, zit. nach Manfred Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert, Reinbek b. Hamburg 1986, S. 296.
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In Berlin waren in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts verschiedene Modelle zu sehen, wie Jugendtheater sich zur aktuellen Gewalt gegen Ausländer verhalten kann. 1. Heimat los5, eine Ensembleproduktion des Grips-Theaters, zeigt den Versuch einer Resozialisierung von rechten Jungs und linken Mädchen in realistischer Spielweise, mit modellhaft typisierter Milieuzeichnung, dabei witzig, Einfühlung erlaubend, die Realität in Zweckoptimismus zurechtbiegend, (die Jungs haben eine Chance verdient, die ihnen von den Hintermännern sozialen Elends, Kapitalisten und Spekulanten, am Ende vermasselt wird), wendet sich die Inszenierung gegen falsche Feindbilder auch nach rechts. Das Publikum wird zum Verbündeten. 2. Abwege...ganz normal nach rechts?6, eine szenische Montage vom JAK, dem Jugendtheater auf Kampnagel in Hamburg, erkundet von verschiedenen Seiten her die Frage: Wie wird jemand rechts? Der Monolog eines jungen Skins am Grab seiner Mutter, ein Text aus den Interviews Schuldig geboren7 von Sichrovsky über Kinder und Enkel von Nazigrößen, dann eine Szene aus Griffiths’ Skins8, eine Skin-Band probt und muss sich zu dem Angebot verhalten, im Rahmen einer rechtsradikalen Parteiveranstaltung aufzutreten. Musik und Ambiente dieser theatralischen Verhaltensstudien sind milieunah und daher fremd für das Publikum: In Hamburg wird in einer Halle auf Kampnagel gespielt, in Berlin im legendären Jugendzentrum Tacheles, wo nebenbei ein Stück Realitätskontakt oder Sightseeing ermöglicht wird. 3. Andorra9 von der Schauburg in München. Eine höchst stilisierte Inszenierung der dramatischen Parabel von Max Frisch über die Entstehung von Vorurteilen, Gewalt und Fremdenhass, die ganz auf die kalte Analyse von Mechanismen setzt und Einfühlung nur bei den beiden Protagonisten zulässt. Die artifiziell in schwarzweiß gehaltene Inszenierung setzt auf Abstraktion, schafft Distanz
5
Heimat los, UA 1992, Berlin, Grips-Ensemble Produktion, Regie: Herman Vinck.
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Abwege…ganz normal nach rechts?, UA 1992, Jugendtheater für Hamburg auf Kampnagel, Regie: Jürgen Zielinski.
7
Schuldig geboren - Kinder aus Nazifamilien, Peter Sichrovsky (1987), Kiepenheuer & Witsch: Köln.
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Skins- Oi for England, Trevor Griffiths (1982), Faber & Faber: London. UA 1982, Royal Court Theatre, Regie: Antonia Bird.
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Andorra, 1992, Münchener Schauburg, Regie: Ted Keijser. (Max Frisch UA 1961, Schauspielhaus Zürich, Regie: Kurt Hirschfeld).
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zwischen sich und dem Publikum, das am Ende als ‚schuldig‘ angesprochen wird. 4. Schließlich ist hier noch zu erwähnen die szenische Montage Alles beim Alten10, die das Ost-Berliner carrousel Theater an der Parkaue im Rahmen seiner ,Schwarzen Nacht‘ zeigt. Die Interviews mit Jugendlichen über ihre Erfahrung mit und nach dem Zusammenbruch der DDR werden mit einem Minimum an künstlerischer Interpretation vorgestellt. Diese erscheint aber immer noch als zu viel und stört die Authentizität der Aussagen. Am Ende steht das offene Gespräch zwischen Schauspielern und Zuschauern. All diese Inszenierungen, wie unterschiedlich sie von Konzeption und erwünschter Publikumswirkung auch sein mögen, haben es mit der Frage zu tun: Wodurch ist die Wahrheit der auf der Bühne gezeigten Vorgänge verbürgt? Natürlich gibt es Folgerichtigkeit, Konsequenz und Stimmigkeit innerhalb der Inszenierung, das ist ja geradezu ein Qualitätsmerkmal. Aber wodurch kann der Zuschauer sicher sein, dass das, was ihm auf der Bühne gezeigt wird, auch Realität hat, d.h. außerhalb des Theaters Gültigkeit erlangt? Für Brecht und Piscator stand der Bezug des Theatermachens zur Wissenschaft außer Frage. Desgleichen berief Peter Weiss sich bei der Definition des Dokumentartheaters auf Wissenschaftlichkeit. Im Grips-Theater recherchierten die Schauspieler im Milieu, eigneten sich Wissen und Kompetenz der Sozialarbeiter an, wofür sie schließlich mit dem BrüderGrimm-Preis belohnt worden sind. Dennoch sind die Ergebnisse, die Heimat los vorführt, nicht unbestritten. Die Handlungsführung von Max Frisch’s Andorra schließlich ist durch und durch für die Zwecke der Parabel konstruiert: Sie ist dramaturgisch notwendig, um am Extremfall eine Fülle von Mechanismen erfassen und deutlich machen zu können. Die Parabel als hochkonstruiertes Modell des Sozialforschers. Jürgen Zielinski in Hamburg liefert mit der offenen Form der Montage Facetten, Spiegelscherben, die sich gegenseitig kommentieren und ihre Fragen auf den Zuschauer werfen, ohne ihm Antworten aufzudrängen. Die Aussagen der Jugendlichen in Ost-Berlin schließlich geben eine bestimmte Realitätserfahrung wieder, die die Theaterform überhaupt nicht zu vertragen scheint, die schließlich im direkten Gespräch mit dem Publikum überprüft und ergänzt werden kann. Aber wie es auch jeweils mit der Wahrheit im Theater bestellt sein mag – schon Brecht wusste, dass die fiktive Konstruktion ihr häufig näher kommt als die sogenannte wirkliche Wirklichkeit – dem Zuschauer bleibt immer die Freiheit, sie zurückzuweisen. In dieser Hinsicht ist die Kunst nicht so mäch-
10 Alles beim Alten, UA 1992, carrousel Theater an der Parkaue, Berlin, Regie: Lutz Dechant, Petra Kelling.
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tig wie die Wirklichkeit. Alles was auf der Bühne erscheint, wird eben durch diesen Umstand irrealisiert, es erscheint dort und nicht im Leben selbst. Es gibt keine direkte Wirkung im Theater, jeder Effekt kommt über den Umweg des Systems Theater zustande, das den Zuschauer einschließt.
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Machen wir zunächst ein Experiment. Denken wir aus unserer Lebenswirklichkeit alle Kunstwerke hinweg. Nicht nur die Skulpturen in den Einkaufszonen, die Brunnen, die Kunst am Bau, auch die Gemälde in Banken, Sparkassen, Behörden, die Romane und Gedichte, Theater, Konzerte, Töpferstuben... Man braucht das gar nicht weiter auszumalen, mit unserer Säuberungsaktion gar nicht bis ins Innere unserer Sprache, unseres Denkens und Fühlens vorzudringen, um zu erkennen wie inhuman, kalt und erstarrt eine solche Welt wäre. Und wir haben bis jetzt nicht gesprochen über die Inhalte der Kunstwerke, die wir in Gedanken entfernt haben. Das bedeutet, die Kunst als Kunst trägt zur Humanität des Lebensraumes bei noch bevor sie sich für sie engagiert. Weil Kunstwerke nicht der Zweckbestimmtheit und Rationalität folgen, von der unsere Gesellschaft heute geprägt ist, sind sie durch ihr bloßes Sein bereits ein Beitrag zur Humanität, wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer ausführt, unabhängig davon, ob sie ein bestimmtes Bewusstsein ausdrücken. Dies lohnt sich in Erinnerung zu rufen, wenn die Kunst wieder einmal ihre Ohnmacht gegenüber der realen Barbarei erfahren muss. In diesem Zusammenhang drängt sich natürlich die Frage nach der Definition eines Kunstwerks auf. Dass es sich dabei um ein Objekt oder einen Vorgang handelt, der in einer anderen Weise und auf einer anderen Ebene erfahren wird als die Realität selbst, steht wohl außer Frage. Dennoch ist der Kunstvorgang immer mit der alltäglichen Wahrnehmung verbunden und auf sie angewiesen, hinzu kommt sein Symbolgehalt, d.h. er impliziert eine Bedeutung, die über die Bedeutung in der Realität hinausreicht. Der Symbolgehalt aber, der dem Kunstwerk zukommt, muss sich letztlich im Auge bzw. Geiste des Betrachters realisieren können. Das gilt umso mehr für das Theater, das aus der lebendigen Wechselwirkung von Bühne und Zuschauerraum lebt. Ein Tisch auf der Bühne ist ein Tisch, er ist aber auch das Symbol für Zusammengehörigkeit und Abhängigkeit. Der Tisch kann natürlich auch alles Mögliche bedeuten, Berg, Haus, Nest, Fürst und Metzgerladen. Im Theater werden die Zeichen bekanntlich durch das Spiel selbst definiert. Jedes theatralische Zeichen fungiert zugleich als Zeichen und als Zeichen von Zeichen, wie es die
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Semiotik formuliert. Es bezieht sich immer auf die (fiktive) Realität innerhalb des Bühnenraums und weist über sie hinaus auf die außerästhetische Wirklichkeit. Jene Doppelung des theatralischen Zeichens ist es auch, die es so schwierig macht, dem Theater die Fakten zu glauben, die es präsentiert. Es gibt keine direkte Wirkung auf dem Theater, erst wenn die Doppelung eintritt, beginnt das Medium sich im eigentlichen Sinne zu entfalten. Die Chance des Theaters liegt demnach nicht in seiner Eindeutigkeit. Die kann es nicht erlangen, bzw. es kann sich ihr nur um den Preis einer Selbstaufgabe nähern. Das Beispiel der Ermittlung machte deutlich, dass im Dokumentarischen Theater kein Theatereffekt wirksam werden darf, dann käme es zur unzulässigen Ästhetisierung von Auschwitz. Das Spiel zwischen Phantasie und Realität, zwischen Wahrheit und Fiktion, muss dort weitgehend außer Kraft gesetzt werden. Wie es aussieht, wenn man es in Kraft setzt, zeigen vielleicht Taboris theatralische Verarbeitungen des Antisemitismus in Mein Kampf oder Jubiläum, die die Theatersituation selbst thematisieren. In Jubiläum – auch das war in Berlin im Rahmen der ,Schwarzen Nacht‘ zu sehen – wird auch die Wirkungsweise von Abbildern der Gewalt theatralisch reflektiert: dass sie nämlich einen Attraktionsgrad erreichen können, der den Zuschauer der Gewalttat zum heimlichen Mittäter oder Nutznießer macht. Eben diese Gefahr bestätigt der Kritiker Hartmut Krug, wenn er angesichts der theatralen Behandlungen des Themas Neonazismus feststellte, dass die Darstellung von Rechtsradikalen auf der Bühne häufig „fremd, fetzig, exotisch, echt geil“ wirkt. Stücke mit sicherem Schauwert, wie er konstatiert, mit dem Nebeneffekt, so lässt sich hinzufügen, dass ihr moralisches Anliegen eben dadurch diskreditiert wird. So rächt sich jede Naivität im Umgang mit der Abbildung von Realität, umso stärker, wenn es um die Verurteilung von Gewalt durch ihre theatralische Darstellung geht, mit einem kleinen Triumpf des Sadisten in uns. Die Schwierigkeit besteht offensichtlich darin, den Weg durch das unwegsame Gelände zwischen zielgerichtetem Engagement und ästhetischer Beliebigkeit zu finden. Die angestrebte Genauigkeit zu verwirklichen, ohne den Spielcharakter des Theaters preiszugeben. Warum ist nicht eine Inszenierung zu denken, in der sich die lebendige Konkretheit der Grips-Dramaturgie mit der analytischen Schärfe von Frisch verbindet, in der die hochtechnisierte Glitzer- und Glimmerwelt der Medien, der Einkaufszonen und Computerterminals konfrontiert wird mit der finsteren Blut und Boden-Ideologie der Nazis, wo die Karriere eines Skins zusammen mit dem alltäglichen Schul- und Liebesleid ganz normaler Jugendlicher gezeigt wird, kurz, wo die Möglichkeiten des Theaters Komplexität
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zu erzeugen, wirklich ausgespielt werden, so dass der Zuschauer sich als Teil davon begreifen kann? Die Debatte um Kunst und Politik ist alles andere als antiquiert. Man sollte nur damit aufhören, auf alte Lösungen für Probleme zurückzugreifen, so als sei irgendwann schon einmal das letzte Wort darüber gesprochen worden, wie das Theater sich zur Politik zu verhalten hätte. Das Theater hat als Medium die besten Voraussetzungen dazu. Das kann man sich gerade angesichts der Übermacht der Neuen Medien gar nicht klar genug machen. Die Spannung zwischen Kunst und Wirklichkeit ist dem Theater wesentlich. Theater, wenn es ihm ernst ist, befragt sich immer nach seinem Verhältnis zur Realität, das ist schließlich sein alltägliches Geschäft. Dass es sich der Aktualität aussetzen muss, darum kommt es gar nicht herum. Es findet immer in der Gegenwart statt. Daraus bezieht es seine Kraft. Und wenn es alte Stoffe erzählt, so doch aus einer Perspektive, die durch die gegenwärtigen Fragen geprägt ist, vor einem Publikum, das in jener Welt lebt, aus der die Fragen resultieren, gestellt von Schauspielern, die genauso gut Zuschauer sein könnten. Die Wahrnehmung im Theater zu schärfen, auch sie fürs Theater zu schärfen, wirkt allemal zurück: Der Mensch wird an sich selbst erinnert.
Jugendtheater im Kontext der Generationen
„Ein junger Mann und eine junge Frau stehen am Bahnhof. Er hellblau, sie rosa gekleidet. Das Mädchen: Ich steige nicht ein. Der Junge: Ich auch nicht. Das Mädchen: Was stehn wir dann hier? Der Junge: Ich weiß nicht. Das Mädchen: Dann laß uns gehen. Der Junge: Aber der Zug kommt gleich. Das Mädchen: Na und. Der Junge: Es ist besser, wenn wir einsteigen. Das Mädchen: O.k. Warum nicht. Der Zug fährt in den Bahnhof. Die beiden steigen ein. Man sieht sie fröhlich durch die Scheibe winken und lachen.“1
Zugegeben, eine etwas abgegriffene Metapher: das Leben und der Zug. Botho Strauß meint in seinem Roman Der junge Mann2, dass man den Bahnhöfen heute nicht mehr ansehe, ob überhaupt Züge einlaufen, und Jean-Paul Sartre hatte zeitlebens das Gefühl, ohne gültigen Fahrausweis unterwegs zu sein und seine Existenz vor irgendeinem Schaffner rechtfertigen zu müssen: Also benutzen wir sie getrost. Kein Theatermacher wird sich besonders für die beiden jungen Leute interessieren, die da so ohne weiteres in einen pünktlich einlaufenden Zug einsteigen, um dann fröhlich mitzufahren. Nein. Im Theater beschäftigen uns seit jeher die anderen. Jene, die nicht einsteigen, die abseits stehen, den Zug von weitem sehnsüchtig betrachten, denen das Geld für die Fahrkarte fehlt oder die den Fahrplan verloren haben. Wenn sich Tschechows Drei Schwestern eine
1
Joana Ross, II treno della vita, Filmscript, Rom 1995.
2
Botho Strauß, Der junge Mann, Frankfurt a. M. 1984.
94 | J UGENDTHEATER Fahrkarte kaufen und fahren könnten, wohin sie wollten, wie Tolstoi einmal hämisch anmerkte, welches Theater würde sich noch mit ihnen abgeben? Die spezielle Verfasstheit seines besonderen Publikums bringt es mit sich, dass man in Kinder- und Jugendtheatern vielleicht häufiger als sonst Stücke sieht, in denen – im übertragenen Sinne natürlich – Leute zufrieden in Züge einsteigen, statt sie wie im Erwachsenentheater gewollt oder ungewollt zu verpassen. Aber seit einigen Jahren ändert sich das. Das Happy-Ending oder das sogenannte Mutmach-Theater ist auch im Theater für das junge Publikum keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Theatermacher weigern sich zunehmend die Welt anders zu zeigen, nur weil ein anderes Publikum angesprochen ist. Im sich immer mehr verbreitenden Konzept des generationen-übergreifenden Familientheaters steht die besondere Behandlung eines besonderen Publikums, die ursprünglich die Erfindung des Kinder- und Jugendtheaters motivierte, mehr denn je in Frage. Das Jugendtheater hat sich verändert, es ist reicher, vielfältiger und vor allem differenzierter geworden, nicht zuletzt auch deshalb, weil es immer häufiger die Grenze zum Erwachsenentheater überschreitet. Aber eben darin scheint ein Problem dieser recht jungen Theatersparte zu liegen, die ja noch niemals unproblematisch gewesen ist. Jugendtheater war von jeher ein Zwitter, zwischen den Generationen angesiedelt, gehörte die Rechtfertigung seiner Existenz vor seinem besonderen Publikum zum täglichen Geschäft. Nun, seit das Jugendtheater sich in vielfältigen Formen etabliert hat und immer häufiger den Schritt über die engen Grenzen eines Zielgruppentheaters hinaus wagt, wird sein Selbstverständnis umso komplizierter.
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WAS IST DAS ?
Betrachtet man sich die Presseberichterstattung über die jüngsten Festivals des Kinder- und Jugendtheaters, wo eine Fülle unterschiedlicher Theaterproduktionen für jugendliche Zuschauer an einem Ort zu besichtigen und zu vergleichen ist, so springt eines ins Auge: Es ist vor allem das Jugendtheater, das dem Verständnis des erwachsenen Fachpublikums und der -kritik Probleme zu bereiten scheint. Am Jugendtheater scheiden sich die Geister. Wie sollte Jugendtheater sein? Was ist überhaupt und zu welchem Zweck Jugendtheater? Woran erkennt man es? Selbst Jugendtheatermacher scheinen das heute nicht mehr so genau zu wissen. „Wir wissen nicht, wie die Jugendlichen sind“, bekannte Dagmar Schmidt, Dramaturgin an der traditionsreichen Münchener Schauburg und plädierte für ein Theater des Experiments. Andere, wie Jürgen, ehemaliger Leiter
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des Hamburger Jugendtheaters auf Kampnagel (JAK) dagegen wussten es ganz genau: „Wenn ich mir das Publikum ansehe, dann sehe ich eine dumpfe dunkle Masse“. Was sehen andere Theatermacher? Lassen wir das Definitionsproblem der speziellen Zielgruppe an dieser Stelle noch außer Acht. Das Verständnis, das eine Generation von der nachfolgenden hat, ist von vielen Faktoren geprägt, die in jedem Falle Zweifel an der Objektivität der jeweils herrschenden Bilder von Jugendlichkeit aufkommen lassen.3 Ebenso sehr, wie die Kindheitsbilder historisch differieren, so auch die Vorstellungen, die sich Erwachsene von Jugendlichen machen. Einigen kann man sich sicher schnell auf die landläufige Definition: Jugendliche sind junge Menschen zwischen 13 und 16 Jahren. Viele Jugendtheater aber spielen inzwischen vorrangig Stücke für Jugendliche ab 16 Jahren. Jugend reicht heute also bis ins stolze Alter von 18 Jahren, wo dann die Schwelle zur Volljährigkeit überschritten wird. Aber offensichtlich scheint Jugend als spezielle Zielgruppe des Theaters mit Abschluss der Schulzeit zu enden. Was aber sind Jugendstücke? Wie kann man sie erkennen? Wie und vor allem warum geraten sie auf den Spielplan? Das fragt sich nicht nur die Journalistin Ellen Brandt, die anlässlich des Dritten Deutschen Kinder- und Jugendtheatertreffens in Berlin resümierte: „Was ist eigentlich Theater für Kinder und Jugendliche? Das Theatertreffen entlässt die Rezensentin einigermaßen ratlos. Ist es Joshua Sobols Ghetto zum Thema Überlebensstrategien in KZs für Jugendliche, weil junge Schauspieler zeigen, wie sie sich das Stück im Probenprozess aneignen? Oder Ulrich Plenzdorfs Stück Mörderkind über den Adoptivsohn eines RAF Mitgliedes, das in der DDR in ein bürgerliches Leben untergetaucht war und dann geschnappt wird? Oder die Grips-Inszenierung des Stückes Gestrandet vor Guadeloupe über die sich anbahnende Freundschaft zwischen einem Obdachlosen und einem Jungen? Oder Tom Griffins amüsante Beschreibung der Ticks psychisch Kranker, die in einer Wohngemeinschaft miteinander leben. Der Titel Die Jungens nebenan ist charmanter Etikettenschwindel. Der Trend geht immer mehr zu Theater für die ganze Familie, für Menschen ab fünf. Aber hat das Kinder- und Jugendtheatertreffen dann überhaupt noch Sinn?“4
3
Vgl. Hentschel in diesem Band Über Grenzverwischungen und ihre Folgen sowie Vom Hoffnungsträger zum Problemfall – Kindheitsbilder im Theater für Kinder.
4
Ellen Brandt, Pressespiegel zum 3. Deutschen Kinder- und Jugendtheatertreffen 1995, Sendemanuskript, Frankfurt a. M., 166f.
96 | J UGENDTHEATER In den Fragen der Festivalbeobachter – und da ist Frau Brandt keine Ausnahme – offenbart sich ein Dilemma des Jugendtheaters, das – wie ich meine – nicht nur theaterintern zu lokalisieren ist. Produktionen für Kinder lassen relativ deutlich erkennen, ob und inwieweit die kindliche Realität der Zuschauer getroffen wird; bei dem, was traditionellerweise noch immer Jugendtheater heißt, gestaltet sich das schon schwieriger. Bevor wir versuchen wollen, uns den Hintergründen dieses Dilemmas zu nähern, sei kurz darauf verwiesen, dass das Jugendtheater ja von seiner Entwicklung her betrachtet eine relativ junge und begrenzte Erfindung ist. Angefangen mit den Stücken der Roten Grütze und des Grips-Theaters, die in den siebziger Jahren ihre Theaterproduktionen für Kinder durch entsprechend für ein Publikum von Jugendlichen ausgerichtete Stücke ergänzten. Was heißt hier Liebe, die Jugendversion des Sexualaufklärungsstücks Darüber spricht man nicht!!! führt auch heute noch immer die Spielpläne an. Was die Jugendtheatermacher verband, war ein besonders identifikatorisches Verhältnis zu ihrem Publikum. Es war Theater, das sich parteiisch der Probleme von Jugendlichen annahm, ihre Realitätssicht, ihre Interessen und Hoffnungen gegenüber einer übermächtigen, verständnislosen und autoritär strukturierten Erwachsenenwelt zu verteidigen trachtete. Eng verflochten mit der Protestbewegung und den später sogenannten „Neuen sozialen Bewegungen“ ließ sich noch Mitte der siebziger Jahre zur Geburtsstunde des emanzipatorischen Jugendtheaters bis in die achtziger Jahre hinein das Lebensgefühl der Jugendlichen sicher benennen: politische Opposition, Revolte gegen Schule und Elternhaus, sexuelle Befreiung. Das alles drückte sich im Medium der Rockmusik aus, die denn auch lange Zeit ein sicheres Erkennungszeichen von Jugendtheaterproduktionen wurde.
V ERÄNDERUNGEN
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Heute ist vieles anders, komplizierter meint man. Die professionell mit Jugend befassten Berufsgruppen hinken der Entwicklung wie immer hinterher. Da machen auch die Jugendtheater keine besondere Ausnahme. Mit circa acht Jahren Verspätung tauchen auf den entsprechenden Kongressen und in ihren Dokumentationen die Video-, Computerspiele und Songs auf, die bei den Jugendlichen inzwischen schon längst abgespielt sind. Da versuchen Sozialarbeiter ihrer Klientel hinterherzurennen und können doch das Tempo nicht halten. Es ist nicht ihre Schuld. Und natürlich ist die notorische Krise des Jugendtheaters eine, die mit der rasanten Veränderung der Jugendkulturen und dem Verhältnis der Erwachsenengeneration zu tun hat. Dilemmatisch wirkt sich hier der Anspruch eines
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identifikatorischen Verhältnisses von Theater und Publikum aus. Heute, wo viele Theatermacher die 40 überschreiten, rocken in der Silvesternacht die Kids zusammen mit Oma und Opa I can get no satisfaction, während im Fernsehen in den einschlägigen Sitcoms die Rockopas längst als schrullige Familienväter verulkt werden. Die Protestgeneration ist alt geworden, und was bleibt ihren Kids? Ein „Es war einmal“ und die altväterliche Skepsis gegen Techno, Cyber und „Wir wollen unseren Spaß-haben-Parties“. Die ältere Generation kann zudem kaum noch einen Wissensvorsprung für sich in Anspruch nehmen. Selbst dem Aufklärungstheater pädagogischer Provenienz scheint inzwischen die Notwendigkeit abhanden gekommen zu sein. Die allgegenwärtige Medienwelt produziert einen Hintergrundbericht nach dem anderen, holt so viel Skandale wie niemals zuvor in der Geschichte ins künstliche Licht der Bildschirme. Es gehört heute quer durch alle Parteien zum (Medien-) Establishment politisch bewusst, gut informiert und vor allem gut und gesund ernährt zu sein. Die Verbrechen der kapitalistischen Industrie kennen wir alle, und an der Ausbeutung der sogenannten ,Dritten Welt‘ besteht kein Zweifel. Das Problem besteht eher darin, wie wir mit diesen Informationen fertig werden können, welche Konsequenzen daraus zu ziehen wären. Wer würde heute schon freiwillig neunzig Mark für ein einfaches Unterhemd hinlegen oder auf Weintrauben im Winter verzichten? Die Anforderungen haben sich verschoben, die Politik trägt dem noch keine Rechnung. Gegenwärtig geht es nicht mehr darum, dass wir zu wenig wissen, sondern dass wir nicht wissen, wie wir aus unserem Wissen Konsequenzen ziehen können. Eine umfassende Informiertheit geht Hand in Hand mit einem Gefühl umfassender Ohnmacht. Und darin gibt es wenig Unterschied zwischen jung und alt, groß und klein. Es ist kaum denkbar, dass die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 20 Jahre, und nicht zuletzt seit 1989, auch das Jugendtheater unberührt gelassen hätten. Das will ich an dieser Stelle alles gar nicht ausführen, sondern darauf verweisen, wie sehr die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen nicht zuletzt auch unter dem Diktat allumfassender Jugendlichkeit geschmolzen ist. Die Abgrenzung zwischen den Generationen verwischt sich immer mehr, und folglich sind die Probleme, die ein spezielles Theater für Jugendliche aufwirft, eigentlich nicht weiter verwunderlich. Vielleicht wird eher verständlich, was die außenstehenden Beobachter der Jugendtheaterszene so verunsichert, wenn man sich vor Augen führt, wie stark Jugendlichkeit heute zum Attribut von Erwachsenheit geworden ist. Die Modebranche schickt jugendliche Trendscouts in die Cafés, Kneipen und Einkaufszentren, die das Modeverhalten, die Trends der potentiellen Käuferschichten in Bild und Ton aufspüren und festhalten sollen. Sie
98 | J UGENDTHEATER fotografieren und dokumentieren aber nur das Verhalten derer, die nicht älter als dreißig Jahre sind. Die anderen, die Frauen, Männer im erwachsenen Alter, sind trendmäßig völlig irrelevant, heißt es von Seiten der Industrie. Die Trends werden von den Jungen gesetzt, und auch die Frau über vierzig, so erfährt man aus einschlägigen Kreisen, orientiert sich an dem, was die Jugend modemäßig vorgibt. Kein Zweifel: Jugend ist nicht nur im Fitness-Center angesagt. Was also soll in einer vom Jugendlichkeitsideal dominierten Gesellschaft ein spezielles Jugendtheater tun, was sagen, was spielen? Dass die Attribute der Jugendlichkeit heute längst Bestandteil der Definition des modernen Erwachsenen geworden sind, bedeutet auf der anderen Seite aber auch, dass Erwachsenheit sich gewissermaßen verflüchtigt. Er ist fast ausgestorben, jener reife Erwachsene, der im Alter von fünfundvierzig Jahren ruhig auf den angesammelten Erfahrungsschatz zurückblicken kann, um ihn dann der jüngeren Generation weiterzugeben. „Wir berufen uns ja heute schon in ziemlich jungen Jahren auf unser unbeholfenes Alter“, schrieb Botho Strauß schon 1984 in seinem Roman Der junge Mann, „beklagen die vielen zügigen Veränderungen in unserer sozialen und technischen Umwelt, – die wir ganz in der Art unserer Väter und Großväter – in aller Regel für Verschlimmerungen halten. Und eines ist wohl wahr: Keine Epoche hat binnen kurzem so viel Vergangenheit produziert wie die unsere. Noch bei unseren Vätern trat das Gefühl, veraltet zu sein, erst in reifen späten Lebensjahren auf. Heute dagegen, wo Erfahrung nichts, Neugier und Innovationsgeschick dagegen alles zu bedeuten scheinen, trifft es bereits den Mann in seiner knappen Lebensmitte, dass er sich in Erinnerung flüchtet... Der tätig Vierzigjährige fühlt sich schon durchgereift und überholt, wenn eine gänzlich ,neue Generation’ von Maschinengattungen und Marktstrategien fordernd vor ihm steht…“5
Wenn das traditionelle Jugendtheater, seinem hergebrachten Selbstverständnis gemäß, spezielle Themen in einer speziellen, für Jugendliche besonders attraktiven Ästhetik auf die Bühne bringt, so wird verständlich, wie viele Probleme es heute damit haben muss. Immer schwieriger wird es festzustellen, was vorrangig Jugendliche angehen soll. Das alte, eindeutige Jugendtheater konnte sein Selbstverständnis aus einer Frontstellung von Kindern und Erwachsenen nähren. Was sollen die Theatermacher nun tun, wo sie selbst in den Vierzigern sind und sich weigern zu altern? Wo sie immer noch die Rockmusik dem Techno vorziehen, Punker auf die Bühne bringen, und ihnen nichts anderes einfällt, als den Jugendlichen das vorzusetzen, was sie selbst nicht bewältigen können.
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Strauß a.a.O., S. 198f.
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Das Programm der vergangenen Kinder- und Jugendtheatertreffen provozierte sowohl Fachleute wie Kritik. Man fragte sich, ob die Stücke, die dort zu sehen waren, wirklich Jugendstücke seien. Bezeichnend aber ist, dass offensichtlich eine Art unausgesprochene Einigkeit in Bezug auf bestimmte Stücke herrschte. Diese wurden zwar von ihrer Qualität unterschiedlich beurteilt, es wurde aber nicht in Abrede gestellt, dass es sich dabei eindeutig um Jugendtheater handelt. So z.B. bei der Szenencollage Abwege... oder ganz normal nach rechts?6 des JAK oder der Ensembleproduktion des Grips-Theaters Heimat los.7 Was also ist unbestritten ein Jugendstück? Im Folgenden will ich einige dieser unbestrittenen Jugendstücke, wie sie in ähnlicher Weise immer wieder im Jugendtheater zu finden sind, näher darstellen.8 Das Grips-Stück Voll auf der Rolle9 beinhaltet ein im Jugendtheater weit verbreitetes dramaturgisches Muster. Mit den Mitteln des Spiels im Spiel wird ein Thema quasi verdoppelt und damit umso nachhaltiger der Rezeption der Zuschauer angeboten. Eine Theater-AG probt unter Anleitung eines besonders engagierten Lehrers eine dramatisierte Fassung des Romans von Leonie Ossowski Stern ohne Himmel10. Darin geht es um eine Gruppe Jugendlicher, die während der NS-Zeit in einem Keller Nahrungsmittelvorräte entdeckt und bald auf einen Juden trifft, der sich dort verbirgt. Im Konflikt zwischen humanitärer Hilfeleistung und der Identifikation mit dem gleichaltrigen Juden auf der einen Seite und der Angst vor Entdeckung bzw. der Identifikation mit dem NS-Regime auf der anderen, entscheiden sie sich am Ende mehrheitlich dafür, dem Juden zu helfen. Aber dazu kommt es in dem Theaterstück noch nicht. Die Jugendlichen haben keinen Bock mehr auf die ständige schulisch verordnete Vergangenheitsbewältigung. Erst als die Be-
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Abwege…ganz normal nach rechts?, UA 1992, Jugendtheater für Hamburg auf Kampnagel, Regie: Jürgen Zielinski.
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Volker Ludwig und Ensemble, UA Grips-Theater Berlin 1992.
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Dabei klammere ich die Stücke des Theaters Rote Grütze aus, die bereits in meinem Aufsatz Kindheitsbilder im emanzipatorischen Kindertheater, in: Jörg Richard (Hrsg.), Kindheitsbilder im Theater, Frankfurt/M. 1994, besprochen sind. Die offene Dramaturgie, der Realismus der Sprachbehandlung und die Analogiebildungen ähneln den hier analysierten Stücken.
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Von Leonie Ossowski , UA Grips Theater Berlin 1984.
10 Leonie Ossowski, Stern ohne Himmel. Weinheim 2006, verfasst 1956.
100 | J UGENDTHEATER setzung der Rollen auf Vorschlag von Wolle geändert wird, und die Schüler voll auf der Rolle liegen, erwächst neues Interesse an dem Stück. Wolle schlägt vor, dass der einzige Türke in der AG den Juden spielen solle, und er selbst, Enkel eines rechtsgerichteten Großvaters, der bis heute die Verbrechen an den Juden leugnet, übernimmt die Rolle des Hitlerjungen Willi, der den Juden ausliefern will. Die parallel angelegte Handlungsführung entfaltet sich schließlich vollends, als bekannt wird, dass der türkische Junge schon in den nächsten Tagen Deutschland verlassen soll, da seine Familie sich entschlossen hat, um einer Rückkehrprämie willen in die Türkei zurückzugehen. Einige Schüler überlegen jetzt, wie sie Metin helfen können, auch ohne seine Familie in Deutschland zu bleiben. Diese Pläne müssen vor Wolle, dessen ausländerfeindliche Haltung bekannt ist, verheimlicht werden. Die Schüler handeln nun nach dem Modell, wie es das Theaterstück, das sie proben, vorgibt. Sie verlangen von ihrem Lehrer Unterstützung, der sich damit wie das Vorbild im Buch, einem beruflichen Risiko aussetzt. Am Ende wird die letzte Szene aus dem Stück im Stück gezeigt, in der der Hitlerjunge Willi im Artilleriefeuer zu Tode kommt.
Die dramaturgische Technik des Spiels im Spiel, des Stücks im Stück, dient normalerweise der Selbstreflexion des Mediums wie beispielsweise schon in Shakespeares Sommernachtstraum und im Hamlet. Wir erfahren etwas darüber, was Theater bewirkt und wie es wirkt. Damit gibt sich das Theater zugleich als Theater, d.h. als Fiktion zu erkennen. Auch Brecht verwandte die Technik entsprechend. Hier in Leonie Ossowskis erstem Bühnenstück hat das Spiel im Spiel eine andere Funktion. Der von den Schülern in Szene gesetzte Text wird in seinem Realitätsgehalt verstärkt und den Schülern wie auch einem wirklichen Publikum nähergebracht. In dem Sinne formulierte auch der Regisseur die Zielsetzung seiner Arbeit: „Das Stück will eine ganz bestimmte These beweisen: Es will zeigen, wie Schüler, die sich für die Behandlung des Nationalsozialismus – wie schülerfreundlich auch immer – überhaupt nicht interessieren, durch die Entdeckung von Bezügen zu ihrer heutigen eigenen Situation durchaus Interesse an Geschichte entwickeln und darüber hinaus zu netten Handlungsmöglichkeiten für sich selbst gelangen können. Auf diesen finalen Punkt läuft das Stück zu.“11
Wer ist die Zielgruppe dieses Stücks? Sollen Lehrer hier begreifen, wie sie ihren Unterricht zu konzipieren haben, damit er ankommt? Die Parallelität der Handlungsführung wird niemals in Frage gestellt oder kritisch reflektiert: Jude gleich
11 Kolneder in: Leonie Ossowski, Voll auf der Rolle, München, Berlin 1984, S. 65.
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Türke, Rassenpolitik gleich Ausländergesetzgebung, Standgericht gleich Schulrektor. Was soll diese Konstruktion sagen, außer dass aktuelle Betroffenheit möglich ist? Es handelt sich um das – inzwischen fragwürdig werdende – Betroffenheitsdogma, das bis heute die Sozialarbeit und Pädagogik dominiert. Nur was die Schüler am eigenen Leibe, an sich selbst erfahren, kann auch ihr Interesse wecken, während uns alle Produkte der Unterhaltungsindustrie doch das Gegenteil zu beweisen scheinen. Weil die Schüler plötzlich aktuell mit dem konfrontiert sind, was Thema des Stückes ist, interessieren sie sich für ihre Theaterarbeit wie für den Nationalsozialismus. Durch das historische Vorbild des Buches motiviert, handeln sie auch in der Gegenwart entsprechend und kommen dem Türken zu Hilfe. Noch einen zweiten Aspekt gilt es in unserem Zusammenhang hervorzuheben. Die dramaturgische Technik des Spiels im Spiel, des Theaters auf dem Theater unterstreicht die wirkungsästhetische Komponente des Stücks. Voll auf der Rolle zeigt nebenbei auch, wie man nach dem Vorbild eines Romans, hier Stern ohne Himmel, versuchen kann, die Wirklichkeit produktiv zu bewältigen. Die Schüler beziehen nicht nur die Entschlossenheit, ihrem Klassenkameraden Metin zu helfen, aus dem literarischen Vorbild, sondern auch die Ideen, wie sie dabei vorgehen wollen. Und natürlich ist das ein Anliegen der Inszenierung selbst, die Zuschauer zu ähnlichem Mut zu motivieren. Theaterspiel und Leben gehen in dieser Dramaturgie eine sehr enge Verbindung ein. Deswegen ist das Grips-Theater, das das Stück produzierte, prädestiniert für eine solche Dramaturgie. Die Schauspieler befassen sich in diesem Haus intensiver als sonst üblich mit ihren Figuren, suchen sie nicht nur im Improvisationsprozess während der Proben auf, sondern spüren auch häufig ihren Vorbildern in der Realität nach. Die Inszenierungen sind deswegen meistens sehr nah an ihrem Zielpublikum. Noch ein weiterer Aspekt des Spiels im Spiel, des im Jugendtheater so beliebten Theaters auf dem Theater, ist hervorzuheben: Im Theater auf dem Theater sind die Schauspieler gezwungen, auf der Bühne wie Laien zu agieren, was natürlich Anlass zu den vielfältigsten komischen Effekten gibt. Die spielerisch erzeugte Distanz und Komik bewirkt eine Enttabuisierung des Stoffs. Ein Effekt, der damals bei der Uraufführung nicht zu unterschätzen war, bedenkt man, dass wir uns noch nicht an die schamlose Popularisierung der Verbrechen des NS-Regimes a la Holocaust TV-Serie und Schindlers Liste gewöhnt hatten. Neben dem Vergnügen bewirkt die Komik des im hier geschilderten Falle auch noch schülerhaften Theaters auf dem Theater eine größere Nähe zwischen den Protagonisten und dem Publikum.
102 | J UGENDTHEATER Eines der bis heute meistgespielten Stücke im Jugendtheater ist gar kein eigentliches Jugendstück. Umso interessanter zu fragen, weshalb es eines der meistgespielten Stücke für Jugendliche werden konnte. Class Enemy von Nigel Williams12, in Deutschland von Peter Stein uraufgeführt, spielt in einem demolierten Klassenraum. Eine Gruppe von Schülern wartet vergeblich darauf, dass man ihnen einen neuen Lehrer schickt. Schließlich vertreiben sie sich die Zeit damit, dass sie selbst Schule spielen. Das Stück hat neben einem realistischen Jargon eine nahezu Beckett’sche Dimension. Die Schüler warten, und niemand wird kommen, um Opfer oder Adressat ihrer Gewalttätigkeit zu sein. Es sieht so aus, als hätte die Gesellschaft ihre delinquente Jugend einfach aufgegeben. Die Jugendlichen können es nicht glauben, dass man ihnen die sozialstaatliche und fürsorgerische Aufmerksamkeit entzieht und ihre Aggression ins Leere laufen lässt. Aber – der Autor lässt das durchaus offen – sicherlich wird wieder ein Lehrer kommen. Auch hier haben wir es mit einer dramaturgischen Doppelungsstrategie zu tun. Indem die Schüler selbst unter der Anleitung des Anführers der Gruppe Schule spielen, wird ein Licht darauf geworfen, wie sie die Institution empfinden. Ihre Gewaltrituale spiegeln die Gewaltrituale der Institution. Die Jugendlichen setzen Themen auf den Unterrichtsplan wie „Sex“, „Gartenpflege“, „Die Schwarzen sind schuld“, „Fenster“, „Brot und Butterspeise“. Hinter diesen Chiffren verbergen sich ganz persönliche Erlebnisse und Abgründe, die jeder nun in Form der spielerisch verstellten Kommunikation zum Ausdruck bringt. Die Unterrichtsstunden werden zum Anlass, sich etwas mitzuteilen. Wie in Voll auf der Rolle werden auch hier die Figuren vor allem von außen gezeigt. Bezeichnenderweise fehlen Innenansichten, innere Monologe u. Ä. vollständig. Der Figurenaufbau ist soziologisch nachvollziehbar. Dabei gelingen bei Williams Momente, in denen die Oberfläche aufreißt und eine tieferliegende Dimension der Charaktere zu Tage tritt. „Skylight: Schön und gut. Aber mein Alter und meine Alte, die ...titatatam... mögen sich. Is dir das noch’n Begriff – mögen? Ich mag Brot und Butterspeise. Racks mag sein Gartenzeugs. Mögen. Versuch Dich mal an das Wort zu erinnern. Auch wenn meine beiden Alten aussehn wie zwei verschrumpelte Pflaumen, die sich küssen. Schön. Is das nich besser wie zwei Pflaumen, die nebeneinanderliegen und an die Decke gucken? Is besser, wie wenn Deine Alte sich aufdonnert wie’n getrimmter Pudel, nur weil die arme Frau ne Nummer machen will und deine Alte kippt sich schließlich und endlich auch mal einen hinter die Binde, die läßt sich’s auch gut gehen, wenn sie’n Bock drauf hat. Selbst wenn
12 UA Royal Court Theatre London 1978. Deutsch: Klassen Feind. Litag Verlag 1979.
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se die Straßen mit Scheiße pflastern, weil ihnen’s Geld ausgegangen ist und se Dir tagelang keinen Lehrer vorbei schicken, lebste doch noch, oder? Is zunächst mal besser als tot sein.“13
Im Anschluss entbrennt ein mörderischer Kampf zwischen Iron, demjenigen, der die Gruppe durch seine Aggressivität beherrscht, und Skylight. Während die Aggressivität und Gewalttätigkeit der jungen Männer zunächst ohne Inhalt zu sein scheint, geht es in diesem letzten Kampf tatsächlich um etwas. Der offensichtlich schwächere Skylight kämpft gegen die allesumfassende Negativität Irons, der die Welt nur in ,Wichser und Ficker und Fotzen‘ einteilt, während Skylights Nase bereits blutet. „Iron: Is das Leben noch schön, Ficker? Skylight: Wunderschön, Ficker. Wie im scheiß alten Persien. Iron: Dich mach ich fertig.“14
Eine ganz ähnliche Konfrontation zwischen Lebenshass, der Negation gesellschaftlicher Werte und dem Versuch ihrer Rettung lässt sich z.B. auch in Nick Fishers A Bloody English Garden finden. Dort beginnt ein zum Sozialdienst verurteilter Jugendlicher einer alten Dame einen Garten anzulegen, der zum Sinnbild von Lebensbejahung wird. Durchweg zeigen Stücke sozialkritischen Inhalts, die thematisch und dramaturgisch ähnlich aufgebaut sind, dem Zuschauer vorwiegend das, was wirklich zu sehen und zu hören wäre. Die Dialoge sind Abbilder wirklicher Dialoge, deswegen im Slang verfasst. So hält der Litag-Verlag nicht zufällig auch eine Frankfurter Fassung von Trevor Griffiths vielgespielten Skins im Programm, die auf deutsche Verhältnisse zugeschnitten ist. Da kommt es dann zu Dialogen wie dem folgenden: „Angela: ...warum haste den Typ rausgeschmissen? Till: War’n Nazi. Angela: Und? Till: Mein Großvadder hat uns von dene erzählt. Hat uns’n Photo gezeigt, des er in’nem Konzentrationslager gemacht hat. Ich hab bei ihm gelebt, als ich klein war. (Pause)
13 Williams a.a.O.1979, S. 96. 14 Ebda.
104 | J UGENDTHEATER N’Haufe Körper. ‘N Haufe. Wie Sellerie. Selleriestangen. (Pause) Zum Kotzen! (Pause) Mein Großvadder hat gesagt: Wenn de nich menschlich bist, was biste dann? Angela: W Nazi. Till: Genau.“15
Was in der englischen Fassung noch Sinn macht, dass der Großvater als Engländer Fotos in deutschen KZ’s aufgenommen hat, wird mehr als merkwürdig, wenn das ein Deutscher selbst getan haben soll. Auch hier finden wir das Bedürfnis nach dem echten, augenfälligen Beweis. Betroffenheit ist, wenn es mir selbst passiert, oder wenn es mir mein Großvater zeigen kann. Die Grenze zum Dokumentartheater ist hier fließend, mit allen Problemen, die diese Theaterform beinhaltet. So muss beispielsweise der Bereich der theatralen Fiktion weitgehend eingeschränkt oder eliminiert werden, was in der Theaterkunst aber nur bedingt möglich ist. Was bedeutet die durchweg äußerliche Figurenzeichnung in den Sozialstücken? Wird hier impliziert, dass die Outcasts, die Opfer dieser Gesellschaft, diejenigen, die von Armut, Alkoholismus und Drogen zerstört werden, kein Innenleben haben, dass sie nicht träumen, lachen, weinen? Jeder, der Kontakt zu dem Milieu hat, das die Sozialstücke schildern, wird wissen, dass dem nicht so ist. In Nigel Williams Klassen Feind kommen diese inneren Dimensionen der Figuren nur zum Tragen, soweit sie in der Gruppe der Gleichaltrigen offiziell kommunizierbar sind. Eine solche Begrenzung hängt auch mit der konventionell dialogischen Struktur des Mediums Theater zusammen. Um sie zu überwinden, hat beispielsweise Heiner Müller Arbeiter in einer Kunstsprache überhöht sprechen lassen.16
15 D-oi-tschland erwacht, nach dem Stück Skins von Trevor Griffiths, Deutsche Fassung von Ulrike Essler, Litag Verlag 1990, S. 50 f. 16 Vgl. z.B. den Brigadier Barka in: Heiner Müller, Der Bau, Henschel Schauspiel Verlag 2011.
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ZWISCHEN U UND E In den meisten Stücken des Jugendtheaters sind die Protagonisten in etwa genauso alt wie das Zielpublikum. Insofern kann man feststellen, dass viele Stücke gar nicht unbedingt von jugendspezifischen Themen handeln, aber ihren Stoff doch unter einem besonderen Aspekt darstellen: So zum Beispiel Stücke zum Thema Liebe und erste Liebe. Nach Was heißt hier Liebe?, jenem Klassiker der Sexualaufklärung für Jugendliche vom Theater Rote Grütze, das nach wie vor zu den meistinszenierten Theatertexten dieser Republik gehört, ist es Beat Fähs Shakespeare-Bearbeitung Rose und Regen, Schwert und Wunde, die bevorzugt zum Thema Liebe auf die Spielpläne der jungen Theater gesetzt wird. Dieses Stück kann gewissermaßen auch als Prototyp für viele Formen von Klassikerbearbeitungen stehen, die von Dramaturgen oder Regisseuren vorgenommen werden, um den Stoff für ein jugendliches Publikum zuzuschneiden. Ausgehend von dem bekannten Songtext „Wouldn’t it be good to be in your shoes, wouldn’t it be good just for one day“ sieht man Puck in Beat Fähs Version des Sommernachtstraums vor dem Haufen Schuhe sitzen. Demetrius flirtet mit Helena, Hermia und Lysander verlieben sich. Puck stellt die Schuhe vor die Darsteller und eröffnet so verblüffend einfach und originell das Verwechslungsspiel. Von Anfang an wird die Handlung auf die jungen Paare konzentriert, die Erwachsenen wie Theseus und Hippolytha werden zu bloßen Randfiguren, denen man demonstrativ das Interesse entzieht. „Puck: Theseus. Schöne Hippolytha, unsere Hochzeit rückt schnell heran, vier frohe Tage – Bla, bla, bla, vier Nächte bla, bla, bla... Hochzeit.“17 Gespielt von fünf Schauspielern entfalten sich die Liebeswirren, die Puck durch seine Zauberblume in Gang setzt und am Ende wieder heilt. Wobei Puck die Rolle des Erzählers und Kommentators bzw. Spielleiters zufällt. Wie häufig in den für das Jugendtheater verkürzten Klassikerversionen wird in die Handlung eingeführt, werden Schauplätze skizziert und am Ende resümiert. „Puck: Amor ist von Bosheit voll Macht die armen Dinger toll.“18 Wovon ist die vorliegende Bearbeitung des Sommernachtstraums geleitet, in der Fäh kein Wort hinzufügt, wo er Erich Frieds Übersetzung nur zum Teil durch andere Übersetzungen ersetzt? Unverkennbar sind aus der Komplexität von Shakespeares Stück die Elemente herausgegriffen, die auf das Interesse von
17 Beat Fäh Rose und Regen, Schwert und Wunde (Ein Sommernachtstraum), dt. von Erich Fried, UA 1989, Theater der Jugend München. Felix-Bloch-Erben, Bühnenmanuskript, S. 2. 18 A.a.O., S. 35.
106 | J UGENDTHEATER Jugendlichen stoßen könnten, die identifikationsfähig sind. Die Liebeswirren der jungen Paare spiegeln das Chaos der unerfahrenen Liebe wider und machen zugleich das unpersönliche – oder wenn man so will – überpersönliche von Liebe und Leidenschaft deutlich. Aber in der Kurzversion verliert die Figur des Puck eine wesentliche Dimension. Auch fällt die Konfrontation von Handwerkern und Adel weg, so auch Shakespeares Reflexion auf die Mittel und die Wirkungsweise des Theaters. Außerdem verliebt sich in der jugendlichen Version niemand in ein Tier. Die provozierend sodomitische Dimension des Stückes fehlt hier bezeichnenderweise. Kurz gesagt, greift Beat Fäh die Handlungsstränge des Stückes heraus, die dem bekannter Weise großen Bedürfnis Jugendlicher nach Realismus entsprechen. Dieses Stück ist reines, leichtes, sehr theatralisches und irgendwie zeitgemäßes Spiel, befreit vom Ballast der Spiegelungen und Deutungen. Und natürlich entspricht die gekürzte Fassung mit einer Spielzeit von knapp 90 Minuten den heutigen Rezeptionsgewohnheiten eher als die Dreistundenversion. Aber auffällig ist bei aller unverfrorenen Nähe zu den jungen Protagonisten doch, dass die Kurzfassung auch von der Dimension des Traums befreit ist. Dahingestellt mag bleiben, ob dies ein purer dramaturgischer Zufall oder zeitgemäße Tendenz ist. Natürlich ist bekannt, in welchem Maße Jugendliche Illusionen und schon gar falsche ablehnen. Aber ebenso stark hängen sie ihnen auch an. Das Paradox entspricht der Intensität, mit der junge Menschen die Realität erleben. Natürlich gibt es auch Stücke, die von den Illusionen und Sehnsüchten Jugendlicher handeln, wenn es auch so aussieht, als ob auf dem Jugendtheater illusionslose realistische Stücke mit sozialen Themen dominieren, die möglichst eindeutige Rezeptionsprozesse anstreben. Innerlichkeit, Traum und Romantik findet man eher in musikalisch geprägten Jugendtheaterproduktionen, die von der musikalischen Revue bis zum Musical reichen. Volker Ludwigs für das Grips-Theater geschriebene Linie 119 ist hier ein gutes Beispiel. Allerdings wird dieses Stück, ausdrücklich für Jugendliche auf die Bühne gebracht, heute gar nicht mehr als Jugendtheater im eigentlichen Sinne angesehen. Nachdem Linie 1 nicht zuletzt aufgrund seines Lokalkolorits zum Renner für Berlin-Touristen geworden war, nachdem die Filmfassung zur Popularisierung des Stücks beigetragen hatte, wurde das Musical vollends zum Publikumsrenner. Schon die Verleihung des Mühlheimer Dramatiker Preises für das Rockmusical aus einem ausgewiesenen Jugendtheater war damals heiß umstritten. Dennoch, Linie 1 blieb für mehrere Spielzeiten das meistgespielte Stück auf deutschen Bühnen. Hier haben wir es also mit dem seltenen Fall zu tun, dass ei-
19 Volker Ludwig Linie 1, UA Grips Theater 1986, Berlin.
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nem erfolgreichen Stück das Jugendtheaterattribut abhanden gekommen ist, während sonst eher Stücke des Erwachsenentheaters zu Jugendtheaterstücken werden können wie Klassen Feind. Fragt man nach den Gründen, weshalb Linie 1 kaum mehr als ein Jugendstück gehandelt wird, so scheinen sie im Erfolg zu liegen. Einstmals ernsthafte Theaterkunst, so wird unterstellt, ist zu Unterhaltungskunst geworden. Und diese Trennung ist in Deutschland leider noch stärker wirksam als anderswo. Ob sie begründet ist, ist eine Frage, die hier nicht diskutiert werden kann, die aber unmittelbar die dilemmatische Situation des Jugendtheaters berührt. In Volker Ludwigs Linie 1 wird vor allem Milieu gezeigt, verwoben mit einer Liebesgeschichte und natürlich mit vielen Songs und mit Rockmusik. Das Stück zeigt den Prozess der Desillusionierung eines jungen Mädchens, das ihrem Schwarm nach Berlin hinterherfährt und in das Milieu von Drogensucht und Obdachlosigkeit am Kiez gerät. Dennoch erzählt es episodenhaft von Lebensfreude, von Zusammengehörigkeit und gegenseitiger Hilfe. Die Gefahr der Sozialromantik wird durch den kabarettnahen Nummernaufbau und die epische Distanz gebannt, die immer wieder auch auf Komik zielen. Dieses Stück ist – wie gesagt – kein Jugendstück geblieben, sondern hat den seltenen Weg auf die großen Bühnen geschafft, ohne, dass das gegen seine Qualität sprechen muss. Warum sollte man das nicht auch anderen „Jugendstücken“ wünschen. Die Form der musikalischen Revue eignet sich für themenorientiertes Theater, wie z.B. die Umweltrevue Ächt ätzend von Suzanne Czepl u.a. oder Aidsfieber20 von Wolfram Hänel. Sie erlaubt es, verschiedene Aspekte eines Themas in unterhaltsamer temporeicher Weise zu präsentieren. Die Nummernform stößt erfahrungsgemäß bei einem jugendlichen Publikum auf großen Zuspruch. Und sie erlaubt wie kaum eine andere Form die Aktualisierung des Stoffs durch die Möglichkeit, immer neue Szenen, Songs und Kommentare einzufügen bzw. auch unpassende herauszunehmen. Die Aktualität ist ein weiteres wichtiges Kriterium von Jugendtheater. Stücke, die den vorgestellten Beispielen nahekommen, werden in aller Regel umstandslos als „jugendtheatergerecht“ eingestuft. Angesichts der Innovationen auf dem Jugendtheater müsste die Frage aber lauten, ob sich das Jugendtheater mit Stücken der skizzierten Beispiele zufrieden geben sollte. Sollte Jugendtheater sich innerhalb von relativ eng umrissenen Grenzen aufhalten? Gerade angesichts der eingangs konstatierten Probleme, Jugendlichkeit überhaupt noch von Erwachsenheit abzugrenzen, erscheint dies mehr als fragwürdig. Sollte man
20 UA Theaterwerkstatt Hannover 1988, Gustav-Kiepenheuer Bühnenverlag.
108 | J UGENDTHEATER dann andersherum, wenn man Themen, Stoffe, Dramaturgien und vor allem auch Inszenierungskonzepte ausweitet, nicht konsequent auf die Deklaration eines speziellen Theaters für Jugendliche verzichten? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, einmal die umgekehrte Perspektive einzunehmen und zu fragen: Warum ist ein Stück des Erwachsenentheaters kein Jugendstück? Zum Beispiel die folgende Szene aus Werner Schwabs Radikalkomödie Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos, Herrmann und seine Mutter Frau Wurm: „Herrmann: Es wird einmal ein jugendlicher Morgen sein, der mit einer Ausnahme einen guten Geruch haben wird, und ich werde einmal in meinem Leben einen freundlichen Traum gehabt haben, und ich werde mit dem rechten Fuß voraus, also mit dem richtigen Fuß des Lebens, aufgestanden sein. Und alles, was furchtbar geworden ist in meinem Herrmann, das wird keine Angst mehr haben müssen, denn ich werde mit einer schneeweißen Verwunderung feststellen können, daß die Welt sich insgesamt bequem hingelegt hat. Und dann werde ich genauso ruhig wie die ganze Welt den eigenen Kopf herumdrehen können Lind mit den meinigen Augen dein Bett absuchen, in dem deine Leiche liegen wird. Die Zunge wird dir aus dem Maul heraushängen, und ich werde deinem Kadaver die Augen zudrücken, sowie man den Knopf von den modernen Klosettspülungen drücken kann [...] Und mein Krüppelfuß wird sich vielleicht freiwachsen können, weil der ganze Körper auf einmal das Leben entdecken kann... Und am Ende werde ich womöglich ein kleiner nachgewachsener Gott sein dürfen, weil ich einmalig bin, weil mit dir nur eine einzige Befruchtung vorgenommen worden ist...“21
Es ist nicht schwer zu erraten, warum das so häufig mit großem Erfolg inszenierte Stück des relativ jungen Dichters Werner Schwab kein Jugendstück ist, obwohl doch neben dem Protagonisten noch weitere junge Leute vorkommen, und Schauplatz sogar das familiäre Wohnzimmer ist. In einem Mietshaus wohnen drei Parteien, die alte Frau Wurm mit ihrem behinderten Sohn Herrmann, die Familie Kovacic mit zwei ausgemacht dummen und ordinären Töchtern, die sich nur für die eine schönste Sache der Welt interessieren, und eine Frau Professor Grollfeuer, die, ständig belästigt durch die Lebensgeräusche ihrer Mitbewohner, zur Volksfeindin wird und alle miteinander vergiftet. Man kann nicht sagen, wovon das Stück genau handelt, in welcher Unterrichtseinheit Lehrer es letztlich platzieren könnten. Der Theatertext erfüllt nicht
21 Werner Schwab, Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos, Theater heute, H.1/1992, S.53f.
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zuletzt durch die artifizielle Eigenwilligkeit seiner Sprache das Kriterium ästhetischer Mehrdeutigkeit. Die Sprache wirkt künstlich und gestelzt, schiefe Wortassoziationen sind durchsetzt mit Bürokratendeutsch. Die Protagonisten halten sich an Worthülsen und Spruchblasen fest, ein furioses Sprachdelirium. Dennoch sind die grotesk bis zur Schmerzgrenze überzeichneten Figuren gefühls- und lebensecht, wie Kritiker bescheinigen. Stellt man Jugendtheater in den Kontext des zeitgenössischen Theaters für Erwachsene, so werden seine Besonderheiten deutlicher sichtbar. So werden im heutigen Theater für ein junges Publikum theatralische und komödiantische Techniken sehr ausgeprägt zum Einsatz gebracht. Distanzierende Elemente stehen neben Techniken des Spiels im Spiel, die Handlungsstruktur ist aufgebrochen, häufig durch Songs und Perspektivwechsel unterbrochen, direkte Publikumsansprachen und andere Mittel des epischen Theaters finden vielleicht sogar mehr als anderswo Verwendung. In der Sprachbehandlung aber bleiben die Theatertexte einem sehr eng verstandenen Realismus verpflichtet.
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Kehren wir vorerst noch einmal zur Generationendifferenz zurück, zum Verhältnis des Jugendtheaters zur Welt der Erwachsenen, um nun gewissermaßen außerästhetisch zu erkunden, mit welchen Erwartungen das Theater für junge Zuschauer konfrontiert ist, und ob sie gerechtfertigt sind. Trotz aller ästhetischen Experimente ist Jugendtheater heute im Wesentlichen Thementheater mit dem Anspruch auf Aktualität. Es formuliert alle brisanten Themen der Gesellschaft: Vom Rechtsradikalismus, der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich bis hin zu Fragen der Ausländerintegration bzw. Problemen des Fremdenhasses oder der Kriegsopfer in Bosnien. Warum aber – diese Frage muss erlaubt sein – sind das alles Themen für Jugendliche? Zu Recht fragt Barbara Schmitz-Burckhard in ihrem Bericht über das 3. Deutsche Kinder- und Jugendtheatertreffen: „Was soll Jugendlichen eigentlich gezeigt werden? Was sollen sie sehen? Was entspricht ihrer Welterfahrung und was ihren Wahrnehmungsweisen? Was ist ein Theater für Jugendliche wert, welches das schlechte Bestehende nur vorzeigt, ohne gleichzeitig Gegen-
110 | J UGENDTHEATER modell zu sein? ...Alle Probleme dieser Welt schultern und vor den Jugendlichen ausbreiten – macht damit, was ihr wollt.“22
Die Fragen sind berechtigt und offenbaren ein Dilemma. Aber: Woher sollen die Antworten, die Gegenentwürfe kommen, die die Kritikerin im Jugendtheater vermisst? Oder sollen im Jugendtheater nur Stoffe, Fragen und Probleme behandelt werden, die einfache Gegenentwürfe ermöglichen? Oder soll die schlechte Realität gar nicht im Theater vorkommen? Gesucht wird also der Silberstreif am Horizont, das Prinzip Hoffnung? Erstaunlich nur, dass die Theater-heuteRedaktion es nicht in der Theaterproduktion für Erwachsene sucht. Die Theatertreffen des Erwachsenentheaters von den Mühlheimer Dramatikertagen bis hin zum Berliner Theatertreffen werden unter ganz anderen Gesichtspunkten besprochen. Wo wäre auch bei der hochgelobten Marlene Streeruwitz der „Gegenentwurf“ zum Bestehenden? Wo bei Tankred Dorsts Herr Paul, wo bei Elfriede Jelineks Raststätte oder sie machens alle, geschweige denn in Totenauberg? Alle diese Stücke sind in der Zeitschrift ‚Theater heute‘ abgedruckt, ohne dass man fragen würde, warum Theatermacher dem Publikum eine solche – schlechte – Realität, wie sie in ihnen zum Ausdruck kommt, vor die Nase setzen. Wodurch also sind die besonderen Fragen und Ansprüche an das Jugendtheater begründet, ist eine besondere Erwartungshaltung dem Kinder- und Jugendtheater gegenüber gerechtfertigt? Denn: Trotz der Artifizialität der Theatertexte des Erwachsenentheaters, die sich keinesfalls in ein Eins-zu-Eins-Verhältnis zur außerästhetischen Realität setzen, kommt man letztlich nicht umhin, festzustellen, dass auch hier die Depression überwiegt, auch wenn sie häufig wie im letzten Stück von Elfriede Jelinek zur Groteske ausgebaut wird. Die Depression, die Frau Schmitz-Burckhard der Berliner Festival-Auswahl 1995 bescheinigte, gibt leider die Situation in der Jugendtheaterszene wieder. Aber in der Gegenwartsdramatik für Erwachsene sieht es eigentlich auch nicht gerade farbenfroher aus. Spielfreudiger geht es allerdings – und auch diese Tendenz findet sich gleichermaßen im Erwachsenentheater – nur bei den Klassikern zu. Wann immer Shakespeare auf dem Spielplan steht oder Molière, dann darf geliebt, gelacht und geatmet werden, während unsere Uraufführungen in braunschwarz-weißen Bühnenräumen zu ersticken drohen. Wo sollten gerade die Jugendtheatermacher und -autoren die Antworten finden, die derzeit offensichtlich von der Geschichte verweigert werden? Wo sollten sie liegen nach dem Zusam-
22 In: Theater heute, H. 6/1995.
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menbruch des Sozialismus, nachdem das Abseits kein sicherer Ort mehr ist und die Gesellschaftskritik sich auf kein Zukunftsmodell mehr bezieht?
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Sie treffen alle Künstler und Intellektuellen gleichermaßen. Wozu Kunst? Selbst den Kulturpolitikern scheinen inzwischen die Argumente auszugehen, und der von Peter Iden jüngst herausgegebene Band mit Antworten auf die Angriffe, denen sich Theater heute ausgesetzt sehen, „Warum wir das Theater brauchen“23 hält kaum bestechende Antworten parat und bringt es sogar fertig, langweilig zu sein. Wozu also Jugendtheaterkunst? Gerd Taube sucht das Spezifische des Jugendtheaters nicht in den Themen und Stoffen, mit denen es sich befasst, sondern in seiner Spielweise. Er schreibt: „Das was von Journalisten-Kollegen als inhaltliche Spezifik des Festivals resümiert wird, die Auseinandersetzung mit Krieg und Gewalt, das ist kein spezielles Jugendthema, sondern ein gesellschaftliches Thema, das auch Jugendliche berührt. Also wäre die Spezifik in der Spielweise zu suchen, in einer Theatersprache, die dem Lebensgefühl und dem Gestus der Jugend nahekommt, auch auf die speziellen Kommunikationsformen von Jugendlichen eingeht.“24
Der Zirkel schließt sich mit dieser Antwort. Wir stecken wieder im eingangs schon skizzierten Dilemma. Was ist, worin besteht heute der ,Gestus der Jugend‘, heute, wo wir alle ,jugendlich‘ sein wollen? Als man noch die gute alte Rockband auf die Bühne stellen konnte, war das kein Problem. Soll man mit Techno Theaterabende gestalten? Dort gibt es weder eine Band, die man auf die Bühne setzen kann, noch verständlich gesungene Texte. Techno präsentiert manipuliertes Soundmaterial, das nichts verständlich machen will, sondern rhythmisch dominiert, Rausch, ekstatisches Erleben provoziert und so eher als Anknüpfung an die dionysische Tradition der Kunst zu verstehen ist. Damit haben viele Theatermacher heute ihre Probleme. Wenn schon ,jugendgemäß‘, dann orientiert man sich nicht an der Mehrheit der Jugendlichen und schon gar nicht an den politisch unauffälligen, sondern an der Problemgruppe Jugend, an den Jugendlichen, um auf das Eingangsbild zurückzukommen, die niemals in pünktlich
23 Peter Iden, Warum wir das Theater brauchen, Frankfurt/M. 1995. 24 In: Fundevogel, Zeitschrift für Kindermedien, Frankfurt/M., 6 /1996.
112 | J UGENDTHEATER einlaufende Züge steigen. Es sieht so aus, als wenn die gegenwärtig vorherrschenden Jugendbilder einem künstlerisch breit gefächerten und anspruchsvollen Jugendtheater im Wege stehen. In der Pressedokumentation zum Kinder- und Jugendtheatertreffen 1993 finden sich unzählige Meldungen, die eine Pressemitteilung zum Thema ,Jugend und Gewalt‘ zitieren bzw. einklagen, dass das Festival sich diesem Thema nicht genügend widmen würde. Kurz zuvor hatten die kaltblütigen Morde von Mölln und die Ausschreitungen in Rostock die Öffentlichkeit erschüttert. In den Pressereaktionen auf das kurz darauf im gleichen Jahr stattfindende Berliner Theatertreffen für Erwachsene fehlen solche Hinweise und Forderungen vollständig. Was bedeutet das? Offensichtlich klagt eine Generation, die selbst den Protest mit dem sicheren Redaktionsstuhl vertauscht hat, Innovation und politische Opposition einer Generation ein, der sie selbst nicht mehr angehört. Jugendtheater als Alibiveranstaltung für politische Passivität und Frustration? Führt sich denn niemand von denen, die lautstark nach der Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus und der Jugendgewalt schreien, vor Augen, dass Neonazis doch nicht in erster Linie ein Thema für Jugendliche sind, sondern eins für uns Erwachsene, die wir diese Gesellschaft zu verantworten haben? Wo reagieren hier die Theater der Erwachsenen? Gehen denn gewaltbereite Jugendliche ins Theater, um sich von der Gewalttätigkeit abbringen zu lassen?25 Bekanntermaßen stammt der harte Kern der rechten Szene aus Städten wie Schwedt, die kulturelles Ödland sind, in denen z.T. noch nicht einmal ein Kino angesiedelt ist. Jugendliche wehren sich gegen das Bild, das Erwachsene von ihnen zeichnen. Vor allem gegen das Bild der Medien. 1995 fand in Hannover in einem Kommunikationszentrum ein groß angelegtes Projekt statt. Mit Mitteln aus verschiedensten Ministerien arbeitete eine Gruppe von Jugendlichen verschiedener Herkunft und Nationalität unter professioneller Hilfe an einem Theaterabend. Entstanden ist eine Revue mit Tanz, Musik und Rap-Einlagen, die sich mit dem Thema Großstadt und Fremdheit auseinandersetzt. Die Jugendlichen spielten und zeigten Szenen städtischen Lebens, die viel positiver ausfielen als alle soziologischen Analysen jugendlicher Befindlichkeit uns erzählen, u.a. die folgende: In einer Gruppe von Jugendlichen auf der Bühne baut sich plötzlich Spannung auf. Ein dunkelhäutiger Junge wird eingekreist, man rottet sich zusammen. Es geschieht alles, was wir aus den Medien kennen. Wir erwarten, dass er gleich zusammengeschlagen und zu Boden gehen wird. Da wenden sich alle Darsteller plötzlich frontal und fast aggressiv gegen das Publikum. Zeigen, dass
25 Vgl. Ingrid Hentschel, Jugendtheater im Gespräch: Theater und Politik – ... den Menschen an sich selbst zu erinnern im vorliegenden Band.
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sie dessen Erwartungen durchschaut haben, verlassen die Bühne, kommen herunter ins Parkett und lachen und schütteln den Leuten die Hände. Im Hintergrund der Bühne ist per Lichtprojektion eine Collage von Schlagzeilen zum Thema Jugend und Gewalt zu sehen. Für viele Sozialarbeiter, die natürlich an diesem Abend reichlich im Publikum vertreten waren, war das die eigentliche medien- und selbstkritische Lehre. Hier interpretierten Jugendliche selbst das Bild, das die (Medien-) Öffentlichkeit von ihnen zeichnet. So sind sie nicht. Mit diesem Bild können und wollen sie sich nicht identifizieren. Jeder zweite Jugendliche erzählt mir, wie es ihm zum Hals heraushängt, immer mit Gewalt assoziiert zu werden. Warum gerade diese Dimension der Jugend derzeit so interessiert, das sei dahingestellt. Das Jugendtheater ist Teil eines übergreifenden Diskurses, an dem auch das Erwachsenentheater beteiligt ist. Es schadet nicht, sich einmal die Mühe zu machen und die erfolgreichsten Stücke auf den Spielplänen der Jugendtheater mit den neuen Stücken zeitgenössischer Autoren zu vergleichen, z.B. mit jenen, die alljährlich in Mühlheim prämiert werden oder unter den 10 besten auf dem Berliner Theatertreffen zu finden sind. In solcher Konfrontation könnte das Jugendtheater schließlich seine zeitgemäße Identität beweisen. Aber es ist in jedem Falle angebracht, die Erwartungen, die an Jugendtheater immer wieder reflektiert oder unreflektiert herangetragen werden, einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Dabei wären beide Seiten zu beachten. Einerseits müssten die Stücke für das Jugendtheater als das gesehen werden, was sie auch sind, nämlich Bestandteile der Gegenwartsdramatik, des zeitgenössischen Theaters. Und dann müsste auf der anderen Seite natürlich auf die Spezifik insistiert werden, sozusagen als Arbeitsparadigma. Aber zunächst einmal sind es zeitgenössische Stücke, die für Zeitgenossen geschrieben werden. Von daher teilen sie alles, was andere Stücke auch teilen. In der Verwirrung oder auch bösen Polemik der Theaterkritik den Jugendtheaterveranstaltern gegenüber kommen Probleme zum Ausdruck, die sonst im Verborgenen bleiben. Auch das ist ein Grund mehr, eine lebendige dialogische Spannung zwischen Erwachsenen- und Jugendtheater zu fordern. Angesichts eines jugendlichen Publikums werden Fragen aufgeworfen, die sonst kaum gestellt werden. Von Jean-Paul Sartre stammt die Einsicht, dass ich bei jeder Handlung, die ich im Begriff bin zu unternehmen, unterstellen muss, dass sie auch gelingen möge. Das Leben beginnt immer wieder heute. Ich kann die Apokalypse prognostizieren, ich kann sie mit Stefan Schütz auf der Bühne inszenieren, aber ich kann nicht leugnen, dass jeder der Schauspieler doch im-
114 | J UGENDTHEATER mer wieder zur Arbeit geht und meistens auch gern auf der Probe erscheint. Jeder erste Kuss ist ein erster, was auch alles folgen mag. „Die Maske des Erwachsenen heißt ,Erfahrung‘. Sie ist ausdruckslos, undurchdringlich, die immer gleiche. Alles hat dieser Erwachsene schon erlebt: Jugend, Ideale, Hoffnungen, das Weib. Es war alles Illusion. – ...Im Vorhinein entwertet er die Jahre, die wir leben...“26
Das Ideal der Erfahrungslosigkeit der Jugend, in das Benjamin 1913 seine Hoffnungen setzen konnte, gilt bis heute. Nur ist es uns kaum noch bewusst. Ohne hoffnungsvolle Naivität ist kein Anfang zu denken und kein Spiel. Bei aller nachadornitischen Aufgeklärtheit lässt es sich kaum leugnen, dass auch jemand, der die Wahrheit der Kunst in der Ästhetik des Endspiels vertritt, sich jeden Morgen wieder an den Frühstückstisch setzt und sein Ei genießt, wenn es denn nicht zu hart gekocht ist. Kant nannte diese Dimension des menschlichen Handelns die praktische Vernunft. Kunst kann seinen Anspruch auf Wahrheit erheben, wenn sie diese Dimension menschlicher Realität nicht berücksichtigt. Es ist einfach unpraktikabel angesichts einer Nichts-geht-mehr-Perspektive zu leben. Dennoch ist es das, was tagtäglich verkündet wird, obwohl wir unentwegt alle diese Prognosen durch unser alltägliches Tun widerlegen. Auch wer keine Hoffnung hat, muss in seinem Handeln Zukunftsbezug unterstellen. Diese Dimension unserer Realität wird Jugendtheatermachern eher bewusst als den Theaterleuten, die für ein Publikum von Abonnenten tätig sind, die sie auf dem Grund ihrer Seele auch noch hassen.
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FÜR ALLE !
Jugendtheater sollte als Anlass genutzt werden, über die Theaterkunst nachzudenken. Die Frage nach dem Morgen, die ein jugendliches Publikum allein durch seine Anwesenheit im Parkett aufwirft, gehört in jedes Theater. Insofern wäre die Konsequenz aus den sich wandelnden Verhältnissen zwischen den Generationen nicht die Abschaffung des Jugendtheaters, sondern seine Ausweitung. Dabei scheint es wenig erfolgversprechend, wenn erwachsene Menschen ständig dem vermeintlichen Trend der Jugend hinterherlaufen. Dann könnten sich die Jugendlichen ihre Antworten selber suchen, ihr Theater selber machen, und wir
26 Benjamin, Walter, Über Kinder, Jugend und Erziehung, in: Gesammelte Schriften Bd. 2, Frankfurt/M. 1977, S. 54.
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uns auf unsere eigenen Probleme besinnen. Eine Lösung, die sicher dem Zeitgeist entspräche. Jugendliche haben heute wenig Interesse daran, von den Alten immer nur zu hören, was alles nicht geht, und warum die es nicht können. Statt alle Probleme der Welt vor den Jugendlichen mit dem großen ,Ich weiß nicht‘ auszubreiten, wäre es ratsamer, sich auf die Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen zu besinnen. Vielleicht gibt es ja doch welche, nicht zuletzt schließlich die Verantwortung der Welt, aber auch der nachwachsenden Generation gegenüber, die sich ja schließlich nicht selbst erfunden hat. Um auf die Ausgangsfragen zurückzukommen: Die Auflösungstendenzen des Jugendtheaters, seine Vermischung mit dem Theater für Erwachsene, sein zunehmender Verzicht, didaktisch und im engeren Sinne pädagogisch oder politisch zu wirken, hat die Stücke, Themen, Stoffe, Dramaturgien und Spielweisen des Jugendtheaters immens erweitert. Dass nun die Definitionsprobleme nicht kleiner, sondern größer geworden sind, sollte uns nicht wundern. Vor allem, wenn wir die zunehmende Tendenz unserer Gesellschaft betrachten, Jugendlichkeit zum Lebensprinzip zu erheben und die Jugendlichen damit ihrer verstörenden Andersartigkeit zu berauben. Aber gerade auf dem skizzierten Hintergrund sollte Jugendtheater als Herausforderung begriffen werden. Wo alles sich zu vermischen droht, wo alles mit allem zu tun hat und andererseits die Kommunikationslosigkeit wächst, wäre es in jedem Falle wert, als spezielles Theater erhalten zu bleiben: als Herausforderung zwischen den Generationen, aber auch um den Jugendlichen zu zeigen, dass sie besonders wichtig sind. Immerhin hängt die Zukunft von ihnen ab. Aber das Jugendtheater würde sich, so verstanden, dem Dialog mit dem Erwachsenentheater stellen und aus seiner Nische heraustreten müssen. Dabei müsste es sich auch mit dem Problem der allzu strikten Trennung zwischen Unterhaltung und sogenannter hoher, ernster Kunst stärker konfrontieren. Und warum sollten sich nicht alle auf der Hinterbühne eines Theaters treffen können: Der Taugenichts von Eichendorf mit Reinhard Messmer, Till aus Trevor Griffiths Skins mit Peter Handkes Schauspielerin aus dem Spiel vom Fragen, Techno-Star Marusha und Rita von Rudolf Herfurtner und Harry aus Kissing God von Phil Young und die beiden jungen Leute, die gerade in ihren Zug einsteigen.
Aber was ist schon realistisch?! Plädoyer für ein erwachsenes Jugendtheater
,Jugend‘ ist ein entgrenztes Phänomen, wenn nicht gar ein Phantom, dem alle gesellschaftlichen Gruppen nachjagen. Das hat Folgen für das Selbstverständnis der Sparte Jugendtheater: Während das emanzipatorische Jugendtheater der 60er und 70er Jahre versuchte, neue emanzipatorische Werte an die Stelle der traditionellen zu setzen, fällt es dem aktuellen Jugendtheater angesichts einer „Wertebeliebigkeit“ schwer, die Zielgruppe mit pädagogischen oder politischen Interventionen anzusprechen. Jugendtheater verliert seine Identität. Der Forderung nach einer Orientierung an Aktualität und jugendkulturellen Kontexten im Jugendtheater wird unter Verweis darauf, dass Jugendliche mitnichten sich nur für sich und ihre Probleme interessieren, die Forderung entgegengestellt, insbesondere das in den Massenmedien gerade nicht Vorherrschende, das nicht dem Mainstream Folgende zum Thema eines „erwachsenen Jugendtheaters“ zu machen. Am Beispiel einer Aufführung des Freiburger Kinder- und Jugendtheaters wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer jugendnahen Aufführungsästhetik betont. Die Qualität und den Erlebnischarakter einer Aufführung bestimmt nicht der literarische Text, sondern die theatrale Umsetzung. Vor diesem Hintergrund wird die Vision eines „Theaterhauses“ für alle mit unterschiedlichen Produktionsmöglichkeiten und Produktionen entworfen.
B EOBACHTUNGEN Beobachtung 1: Ob Hose, Pulli oder Jacke, wenn ich etwas Neues brauche und dazu ein Kaufhaus betrete, muss ich mich jedes Mal entscheiden: Gehe ich in die Damenabteilung oder die Abteilung Junge Mode? Junge Mode befindet sich meistens im Untergeschoss oder ganz oben in der 4. Etage, manchmal auch inte-
118 | J UGENDTHEATER griert, aber doch extra gekennzeichnet im Bereich der Damenabteilung. Alle meine Kolleginnen und Freundinnen kleiden sich wie ich selbst natürlich in der Jungen Mode ein, obwohl wir teilweise schon die Fünfzig erreicht haben. Was ist so anders an der Jungen Mode? Was hat sie, was die Damenabteilung nicht bietet? Beobachtung 2: Meine Tochter möchte für die Ferien Lektüre einkaufen, also los ins Bücherkaufhaus und dann noch in die kleine Fachbuchhandlung an unserer Ecke. Die Jugendabteilung, in beiden Buchhandlungen der Kinderabteilung angegliedert, wird keines Blickes mehr gewürdigt, denn nun gibt es das neue Regal – überschrieben nicht mit „Jugendliche“, nicht mit „ab 14 Jahre“, „ab 12 Jahre“ oder „Mädchen“ oder „Erste Liebe“, sondern: „Junge Erwachsene“. Dort stehen die interessanten Bücher, zum großen Teil übrigens identisch mit denen, die auch in den Jugendbuchregalen zu finden sind, die es nach wie vor gibt. Was ist es, was die Bücher für Junge Erwachsene bieten, das in der Jugendabteilung nicht zu finden ist? Beobachtung 3: Abends im Theater: Girlsnightout1, Schauspiel Frankfurt in der Regie von Simone Blattner ist eine wunderbar rasante, amüsante und virtuose Aufführung. Drei Mädchen auf einer rosafarbenen Insel solipsistisch, selbstbezogen. Ein Stück über Sehnsucht, Sinnsuche, Identitätssuche in einem luftleeren, von massenmedial gelieferten Träumen aufgeblasenen Raum, abgefedert, abgepolstert. Die Welt als großes Kuschelbett, so im Bühnenbild von Sieglinde Reichardt. Es gibt für diese Pubertierenden keinen wirklichen Bezug zum Außen, die Außenwelt ist nur die Wand ihrer Innenwelt: Körper, Kleider, Phantasien. Und immer wieder Party, Popmusik, wildes Getanze. Bild einer in sich selbst kreisenden Jugend, die an sich selbst und den Bildern, die sie über sich konsumiert, regelrecht implodiert. Auch im 2. Teil des Stücks, als die Plüschtiere verbannt sind, ist die Welt, in der die nun älter gewordenen Mädchen als Frauen leben, abgepuffert, eine Luftblase, ohne Entwicklung, zeitlos. Gesine Dankwarts Stück zeigt Menschen, die niemals aufhören, Jugendliche zu sein, Wesen im Dazwischen, in Entwicklung eben, die den Jargon der Zeitgeistmagazine und Frauenzeitschriften von sich geben. „Jetzt hab ich mich gerade an meinen Körper gewöhnt, da zerfällt er schon wieder.“ Im Ablauf von Feiern, Fest, Sex, Beziehungskrise, Körperpflege und Styling gibt es keinen Anfang und kein Ende, und die Lebensgier ist bei den Älteren nicht schwächer als bei den Jungen, nur hat sich die Zahl der Enttäuschungen vermehrt. Auch als Erwachsene leben
1
Inszenierung am Schauspiel Frankfurt, Regie Simone Blattner, 2002.
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diese Girls ihr sinnentleertes Jugendleben weiter. Gesine Dankwarts Stück ist kein explizites Stück für Jugendliche, aber jedes Jugendtheater könnte es ohne Probleme auf den Spielplan setzen. Es zeigt, wie schwer Jugend heute abzugrenzen ist von Erwachsenheit und wie diffizil es in einer Gesellschaft geworden ist, die zunehmend die Konturen verwischt, als ein eigenes Ich abgegrenzt von anderen zu sprechen, Kontakt in einer Realität herzustellen, die sich immer wieder ihren eigens produzierten Phantasmagorien entzieht. Beobachtung 4: Die Anfrage, einen Beitrag zum Thema Jugendtheater zu schreiben. Und wieder beginnt die Anfrage mit einer Frage, zu der ich bisher noch jedes Mal, wenn ich mich mit dem Thema Jugendtheater befasst habe, Stellung nehmen musste, ob als Jurorin für das Theatertreffen oder die Traumspiele, ob als Referentin, ob als Lehrende an der Hochschule. In der neuen Sprache der Qualitätssicherung und Evaluationsagenturen formuliert: Gibt es ein Alleinstellungsmerkmal für Jugendtheater? Hat Jugendtheater etwas, das anderes Theater nicht hat? Wenn ja, worin besteht es? Und: Sollte das so bleiben oder sich womöglich verändern? Beobachtung 5: Fakt ist: Jugendtheater gibt es. Fakt ist, es gibt erfolgreiche und wunderbare Jugendtheaterautoren, wie es auch schlechte und erfolglose gibt, es gibt zahllose Bühnen, die sich auf ein Publikum von Jugendlichen spezialisiert haben, meistens im Zusammenhang mit einem Kindertheater. Warum wird etwas, was erfolgreich existiert, immer wieder grundsätzlich in Frage gestellt? Beobachtung 6: Ich frage meine fast 16-jährige Tochter. „Würdest du mit deiner Klasse lieber in ein Theater für Jugendliche gehen oder ins ,erwachsene Theater‘, ins normale Theater?“ Sie zögert. „Na ja, Jugendtheater ist bestimmt nicht so gut.“ „Warum nicht?“ „Na ja, was extra für Jugendliche gemacht wird, ist meistens nicht gut.“ Nach einer kurzen Pause: „Aber vielleicht wäre es dann doch besser als das Staatstheater, z.B. wenn Jugendliche selber spielen.“ „Nein, ich meine, erwachsene Schauspieler spielen für Jugendliche.“ „Na ja, vielleicht wäre es auch ganz gut ... Hängt davon ab, was es ist.“ Achselzucken, keine Lust, sich weiter zu äußern. Beobachtung 7: Jahrgangskonferenz Deutsch einer 9. Klasse. Die Grundsätze der neuen Lehrplangestaltung werden erläutert. Alles läuft darauf hinaus, dass nicht mehr zu lehrende Inhalte, sondern von den Schülern zu erwerbende Kompetenzen in den Mittelpunkt der Lehrpläne gestellt werden. Kurz gesagt: Ob ich meine Kompetenz im Verständnis literarischer Texte an Schillers Wilhelm Tell
120 | J UGENDTHEATER oder Dieter Bohlens Nichts als die Wahrheit oder an Gudrun Pausewangs Die Wolke erwerbe, bleibt in der Logik dieser Reform letztlich unerheblich. Nicht mehr Inhalte werden als überlieferungswürdig angesehen, sondern nunmehr Kompetenzen, die Kompetenzen, Inhalte zu erkennen, anzueignen, gegeneinander abzuwägen, wie es derzeit auch die Studiengangsreformen der Hochschulen fordern. Flexibilität für eine ständig in Transformation befindliche globale Gesellschaft, die in der Lage sein muss, auf immer neue Anforderungen zu reagieren, in denen feste Traditionsbestände sich als hinderlich erweisen können. Von daher wird auch heute nicht mehr explizit darüber debattiert oder gestritten, so wie noch in den 70er Jahren, welche Stoffe, Stücke und ästhetischen Konzeptionen für ein Jugendtheater oder für Theater für junge Menschen geeignet sind, sondern es wird die Frage nach der Berechtigung des Jugendtheaters allgemein gestellt.
H INTERGRÜNDE Die Frage, wie sich die Besonderheit eines Jugendtheaters und der Versuch, die Konzeption theatraler Angebote auf ein bestimmtes Publikum abzustimmen oder zuzuschneiden, legitimieren, ist der Gattung eingeschrieben. Neu ist indes nur das Problem, Antworten auf diese Frage zu finden. Heute wird hinsichtlich der künstlerischen Praxis wie auch in den fachwissenschaftlichen Stellungnahmen der Experten mit einem Paradox geantwortet: „Jugendtheater besteht darin, dass es nur Theater ist.“ Dennoch gehört es nicht abgeschafft. Also muss es doch andere als ästhetische Gründe für das Jugendtheater geben? Es sind offensichtlich struktur- und kulturpolitische oder doch heimlich und nicht explizierte pädagogische und/oder jugendpolitische Erwägungen, die zum Festhalten an einer Theaterform führen, die für ein gesondertes Publikum vorgesehen ist. Wo Jugend beginnt und wann sie endet, wird meistens vom Zeitpunkt der Geschlechtsreife, der sich in den Industriegesellschaften nun weit nach vorne verschiebt, sowie der gesetzlich definierten Zeit der Schulpflicht eingegrenzt. Jenseits davon ist nach hinten alles offen. Siehe Junge Mode. Seit der Erfindung des emanzipatorischen Jugendtheaters in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, das zurückgriff auf ästhetische Traditionen des russischen Theateroktobers und der Weimarer Republik und der Arbeiterbewegung, hat sich zwischen den Generationen viel geändert, was auch in einer veränderten Ästhetik von Jugendtheaterproduktionen Niederschlag fand. Die Theatergattung hatte sich in einer anderen sozialpolitischen Situation herausgebildet und steht nun vor der Aufgabe, mit den eigenen Traditionen produktiv umzugehen. So betrifft das Problem eines
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nunmehr zu befragenden Selbstverständnisses Autoren, Theatermacher, Theaterpädagogen und schließlich auch das Schultheater gleichermaßen. Die Problematik allerdings, seine Zielgruppe einzugrenzen und angemessen wahrzunehmen, haftet dem Jugendtheater von Beginn her an, und die jeweils neuen jugendsoziologischen Forschungsergebnisse waren mehr als einmal dazu angetan, die Debatten der Jugendtheatermacher zu inspirieren oder zu desillusionieren.2 Unbestritten ist, dass Jugend heute ein entgrenztes Phänomen darstellt, wenn nicht gar ein Phantom, dem alle gesellschaftlichen Gruppen mehr oder weniger erfolgreich nachjagen. Während das emanzipatorische Jugendtheater seit den 60er Jahren die Orientierung an traditionellen Werten bekämpfte und dazu anregen wollte, neue an deren Stelle zu setzen,3 sind die Wertorientierungen heute offen verhandelbar. Jugendliche mixen sich, wie die 14. Shell-Jugendstudie, die 2002 veröffentlicht wurde, belegt, einen individuellen Wertecocktail, der zu ihren jeweiligen Interessen und sozialen Orientierungen passt. Sie stellen sich diejenigen Werte im Cocktail zusammen, welche ihnen für eine persönlich erfolgreiche Lebensgestaltung am günstigsten erscheinen.4 Statt vom lange beklagten Werteverlust wäre es angemessener, von einer Wertebeliebigkeit zu sprechen.5 Das führt auch dazu, dass Jugendliche heute weniger ansprechbar für pädagogische und politische Interventionen sind. Sie sind sozusagen erziehungsresistenter geworden. Aus dem breiten Angebot medial zur Verfügung gestellter Informations- und Illusionspotenziale bedienen sie sich ohne die direkte Einfluss-
2
So etwa die Debatten um den Neuen Sozialisationstypus in den 70er Jahren sowie die Rezeption der Selbstpsychologie von Alice Miller. Vgl. dazu: Hentschel, Ingrid, Das Kind ist gut, das Leben schlecht... oder wer sieht eigentlich durch den Spiegel. Kindheitsbilder im emanzipatorischen Kindertheater. In: Richard, Jörg (Hrsg.): Kindheitsbilder im Theater. Frankfurt a. M. 1994, S. 17-36.
3
Theater sollte Mut machen, Selbstbewusstsein fördern, zur Selbstreflexion anregen, Kommunikation in Gang setzen, der Emanzipation dienen, den Sozialisationsprozess begleiten, gesellschaftliche Realität erkennbar und durchschaubar machen (vgl. Schneider 1984). Diese Zielsetzungen gaben der Theaterarbeit bis in die 80er Jahre hinein eine Orientierung.
4
Jugend 2002/14. Shell Jugendstudie (www.shelljugend2002.de/download/haupt ergebnisse_2002.pdf vom 25.08.2002). Hurrelmann, Klaus/Albert, Mathias in: Arbeitsgemeinschaft mit Infratest Sozialforschung.
5
Albert, Mathias in: Online-Familienhandbuch. www.goethe.de/ins/gb/prj/scs/txt/de 93950.html, Zugriff 3-3-2006.
122 | J UGENDTHEATER nahme von Erziehern wie Eltern, Lehrern etc. So gesehen brauchen die Jugendlichen kein Jugendtheater. Wir wollen es ihnen aber dennoch gerne geben, und dafür gibt es, so meine ich, auch gute Gründe. Aber welches Jugendtheater sollen wir ihnen in welcher Weise vermitteln? Der gesellschaftliche Wandel der Generationenverhältnisse, in dem Jugend zur Leitkultur wird und sich von den Werteorientierungen her zunehmend autonomisiert, während Jugendliche auf der anderen Seite die Dienstleistungen der Elternhäuser immer länger in Anspruch nehmen (Hotel-Mama-Phänomen), hat Auswirkungen auf pädagogische, politische, aber auch ästhetische Motivationen. Aber – und das wird in der Bezugnahme auf die Verschiebungen in den Generationsverhältnissen häufig übersehen – es gibt noch immer gesellschaftliche Rollen, die anhand von Generationengrenzen definiert sind, und Machtverhältnisse, die sich aus solchen Grenzen legitimieren, z. B. die zwischen Lehrern und Schülern, Verantwortungsträgern und Verantwortungsfreien. (Ob hier eine Herabsetzung des Wahlalters für die Jugendlichen einen Zuwachs an Verantwortlichkeit bringt, wie der Jugendforscher Hurrelmann6 vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Jugendstudie fordert, wäre diskussionswürdig.)
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Wo die pädagogische und politische Motivation brüchig wird, wo sich die Grenzen zwischen den Generationen verwischen, verliert Jugendtheater seine Identität. Die Problematik findet Parallelen in anderen Kultursparten, die vormals auf die Besonderheit ihres Zielpublikums sowie auf besondere Motivationen ihrer Produzenten abgehoben haben, in der Kinder- und Jugendliteratur wie im Kinder und Jugendfilm. Das Herauslösen der Literatur für Jugendliche aus dem Verbund mit der Kinderliteratur ist beispielsweise erfolgreiche Verlagspolitik des Hanser Verlags genauso wie Verkaufsstrategie der Buchhandlungen. Dennoch, ob es nun „Theater für junge Zuschauer“, ob es „Junges Theater“ oder „Theater der Generationen“ heißt, immer noch gibt es Kriterien für Stücke, die unter dieses Label fallen, und andere, die da herausfallen. Hier können wir genauso gut die Literatur betrachten: Welche Bücher stehen in den Regalen für junge Erwachsene? Zunächst die herkömmlichen Bücher für Jugendliche, die durch ihren Realismus in Form und Inhalt sowie durch ihren Problembezug ausgezeichnet sind,
6
Vgl. Eine empfindsame Generation – Ein Interview mit dem Jugendforscher Klaus Hurrelmann. In: Online-Familienhandbuch www.goethe.de (Zugriff 3-3-2006).
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die Stoffe aus dem lebensgeschichtlichen Erfahrungsbereich junger Menschen behandeln, Konflikte mit den Eltern, Schulprobleme, Fragen der Geschlechtsidentität und sexueller Aufklärung, Drogenmissbrauch, Jugendgewalt, die die jeweils aktuellen jugendspezifischen Störungen thematisieren und genauestens dokumentieren wie zum Beispiel Magersucht und Ritzen; ebenso steht die Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus immer noch im Zentrum dieser Literatursparte wie auch die Beschäftigung mit der jüngeren deutschen Geschichte und mit Problemen der Migration und Integration. Weiterhin sind unter den mit dem Titel junge Erwachsene verzeichneten Büchern auch Erzeugnisse zu finden, die nicht in den etablierten Jugendverlagen, nicht in den entsprechend ausgewiesenen Reihen erschienen sind, sondern Bücher aus der Erwachsenenliteratur, die eine thematische Nähe zu dem, was Jugendliche interessieren könnte und was traditionell als Jugendliteratur vermerkt wird, aufweisen, wie ich es eben aufgezählt habe. Hier ist es also nicht anders als im Jugendtheater, wo Hamlet in einer die Jugendthematik hervorhebenden Weise inszeniert wird (wie übrigens auch im Kino, das die großen Shakespeare-Stoffe für ein junges, an der Popästhetik geschultes Publikum entdeckt), wo Wedekinds Frühlings Erwachen in jugendlicher Inszenierung auf die Bühne kommt, Die Odyssee oder Tankred Dorsts Parzival auf dem Spielplan stehen.
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Auch der Autor Lutz Hübner kommt zu ähnlichen Schlüssen, wenn er für ein Jugendtheater, das seiner Ansicht nach in erster Linie Theater sein soll, denn doch fordert: Jugendstücke sollten Erfahrungswerte ansprechen, die „einen konkreten Bezug auf das Leben der Jugendlichen möglich machen“. Von daher geht er in seinen Stücken immer vom Stoff und Thema aus. Dabei fordert er eine recht enge realistische Orientierung, die sich „am Mittelwert des Publikums“ bemisst. „Der Mittelwert des Publikums hat normale Erfahrungen, normale Sehnsüchte und Ängste...“7 Dem entspricht auch, dass Jugendtheater seiner Ansicht nach immer bei null anfangen müsse, als wäre ein Zuschauer zum ersten Mal mit dem Theater konfrontiert. Auch Geesche Wartemann kommt in Abgrenzung zu jeglichen pädagogischen Ambitionen eines Theaters für junge Zuschauer zu drei Kriterien, die sich an einer bestimmten Auffassung von zeitgenössischer Realität Jugendlicher
7
In: Fokus Schultheater 06, (Hrsg.) Bundesverband Darstellendes Spiel e. V. Hamburg: Körberstiftung 2006.
124 | J UGENDTHEATER festmachen. Jugendtheater soll aktueller sein als das Theater sonst, es soll sich auf die Medienkultur beziehen und auf die Popkultur, mithin sich der Kultur stellen, die Jugendliche heute bevorzugt konsumieren. Beide berufen sich auf eine empirische Begründung der Theaterkunst für junge Menschen. Das alles klingt plausibel und ist sicher dazu geeignet, den Jugendtheatern ihr Publikum zu sichern. Aber dennoch ist damit nicht die Frage beantwortet, warum es überhaupt ein gesondertes Theater für Jugendliche geben soll? Warum können Jugendliche nicht ins Erwachsenentheater gehen, wie es jahrhundertelang vom Bildungsbürgertum praktiziert worden ist? Weil es zu verstaubt, zu langweilig ist? Dann muss man halt Qualitätssteigerungen für die Theater fordern, statt eine eigene Sparte einzurichten. Weil das Theater nicht aktuell ist? Ist Theater nicht immer aktuell, weil es sich je auf sein gegenwärtiges Publikum einlassen muss, anders als die Literatur, wo wir ein Buch von Cervantes in einer alten Ausgabe lesen können, obwohl auch hier Rechtschreibung und Typographie den zeitgenössischen Standards angeglichen werden? Dagegen wird ein Stück von Sophokles von Schauspielern gespielt, die im 21. Jahrhundert leben, und für Zuschauer, die wie sie über die Erfahrungen verfügen, die im 21. Jahrhundert zum Lebensleben gehören, vom Handy bis zur Möglichkeit der Ehescheidung und Benutzung von Kondomen aus Automaten. Für ein Publikum, dem die Erfahrung mit Sklaven fehlt, die für Sophokles noch einen unbefragten Bestandteil seiner Realitätserfahrung ausgemacht hatte, für ein Publikum, dem die Erfahrung einer Zeit fehlt, in der es keine einzige elektronische Quelle für Bild, Ton und Musik gab, in der Geräusche immer von Menschen selbst hervorgebracht oder der Natur abgelauscht waren. Bei Theateraufführungen handelt es sich immer um Prozesse der Vergegenwärtigung im Handeln von Schauspielern und in der Rezeption von Zuschauern. Ich unterscheide hier die Aufführung als lebendiges kontingentes Geschehen vom fixierten dramatischen Text.8 Diese theatrale Form der Vergegenwärtigung wird nur dann nicht stattfinden, wenn eine Inszenierung schlecht ist, das heißt, sich nicht auf die lebendige Gegenwärtigkeit seines Publikums einlassen kann. Dann versteht ein Zuschauer nicht, wieso dieses Stück überhaupt gespielt wird, hier und heute an diesem speziellen Theaterort. Die Forderung nach Aktualität und Orientierung an den jugendkulturellen Kontexten, wie sie die Popkultur darstellt, die von vielen Jugendtheatern praktiziert wird, ist meines Erachtens ein Mittel, Jugendliche ins Theater zu locken.
8
Vgl. die Unterscheidung von Stück, Inszenierung und Aufführung. In: Fischer-Lichte, Erika, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004.
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Mehr nicht. Damit ist die Besonderheit einer eigenen Theatersparte nicht überzeugend begründet.
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EX NEGATIVO
Man kann das Jugendtheater auch andersherum betrachten als ein Theater, in dem vieles, was in der Erwachsenenkultur Platz hat, keinen Platz hat, z.B. unter dem Gesichtspunkt des Jugendschutzes und einer Werteorientierung. Beides wird allerdings in den Debatten über das Jugendtheater kaum ausgesprochen und auch nicht expliziert, müssen sich doch die Jugendtheatermacher im Alltag fast beständig herumschlagen mit Befürchtungen und Kritiken von Lehrern und Eltern an vermeintlich pädagogisch zu „problematischen“ Aufführungen. Auf der Hand liegt, dass Theaterproduktionen von Jugendlichen nicht in gleicher Weise schonungslos Gewalt, Sexualität und Amoralität auf die Bühne bringen, wie es gegenwärtig im Theater für Erwachsene der Fall ist.9 Es gelten sozusagen unausgesprochene Jugendschutzbestimmungen, wie wir sie auch in der Filmselbstkontrolle kennen. Von den neuen sozialen Bewegungen, in deren Kontext sich das Jugendtheater einst entwickelt hatte, ist die Orientierung an Werten wie Gewaltfreiheit, Solidarität, Freiheit und demokratisches Bewusstsein geblieben. Jugendtheater ist irgendwie links, kritisch und versucht, die Perspektive der Jugendlichen zu verstehen. Aber es sieht in ihnen nicht mehr, wie noch bis in die 80er Jahre hinein, die Hoffnungsträger für eine bessere Welt. Es macht sich und anderen keine Illusionen. Es ist nicht normativ, nicht regulativ und nicht bevormundend.
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UND
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Vielleicht aber gibt es noch einen weiteren Grund, Theater für Jugendliche zu machen, der nicht bei den Jugendlichen, sondern bei uns selbst, den Erwachsenen, zu suchen ist: Vielleicht haben wir ja das Bedürfnis, gerade der jungen Generation etwas mitzuteilen? Vielleicht können Theaterautoren wie Tankred Dorst oder auch Lutz Hübner das Bedürfnis haben, sich in ihren Stücken gerade an junge Menschen zu wenden. Vielleicht inspiriert sie die Vorstellung eines jun-
9
Vgl. Hentschel, Ingrid, Performance als Rückkehr zum Ritual? Nackte Gewalt im zeitgenössischen Theater. In: I. Hentschel & K. Hoffmann (Hrsg.), Spiel – Ritual – Darstellung, Scena – Theater und Religion Bd. 2, Münster 2005, S. 113 - 132.
126 | J UGENDTHEATER gen Publikums zu besonderen Geschichten, Dramatiken und Sprachformen? Vielleicht kann es Regisseuren genauso gehen und vielleicht auch Schauspielern? Vielleicht können sie belebende Impulse aus Aufführungen für junge Zuschauer beziehen? Wir sind also beim Thema der Überlieferung, der Traditionsvermittlung und -übermittlung. Mit welcher Motivation können diese geschehen? Ein Irrtum, der vom Kino und allen Computerspielen beispielsweise ständig widerlegt wird, ist, dass Jugendliche sich nur für sich selbst und ihre Probleme interessierten. Das ist mitnichten so. Eher ist das Gegenteil der Fall. Sie wollen auf die Welt zugehen, dem ewigen Spiegel pubertärer Selbstbezogenheit entrinnen und sich anders als im alltäglichen Allerlei wahrnehmen können. Bietet man jungen Menschen diese Möglichkeit, wird man erstaunt feststellen, dass sie – konfrontiert mit einer ungewohnten Dramaturgie, mit fremdartiger Sprache und neuer Sehweise – sehr konzentriert und ruhig die Möglichkeit genießen, sich in eine Geschichte zu vertiefen, eine Geschichte, die sie angeht, weil Schauspieler sie vor ihren Augen mit viel Engagement und Genauigkeit präsentieren, eine Geschichte, die sie interessiert, weil sie ihre Erfahrungen bereichert, eine Geschichte, die sie interessiert, weil sie von anderen mit großer Ernsthaftigkeit gezeigt wird und an sie persönlich als Zuschauer adressiert ist. Als Zuschauer und potenzieller Dialogpartner, nicht als defizitäres, problembelastetes Jugendpublikum, dem unter die Arme zu greifen und zu helfen sein muss. Zu machen ist diese Erfahrung gegenwärtig im Freiburger Kinder- und Jugendtheater „Theater im Marienbad“, das Ödön von Horváths Roman Jugend ohne Gott10 dramatisiert und in einer ungewohnten Ästhetik, nämlich als ein Seh-Hör-Stück, auf die Bühne bringt, in dem nicht gespielt wird, sondern eine Dramaturgie der Segmentierung der Sinne inszeniert wird. Stimmen sind von den Spielern abgelöst, das Sprechen ereignet sich nicht in der Form eines Rollenspiels. Die Hauptfigur, der Lehrer, hat die Stimme einer weiblichen Schauspielerin, die bisweilen von einem anderen Bühnenort kommt. Die befremdliche Form führt dazu, dass es gelingt, „in die Geschichte hineinzukommen“ und sie in ihrer ganzen Fremdartigkeit wahrzunehmen. Mitfühlen und schnelle Identifikation sind nicht möglich, eher ein Abwägen, ein Befremden, ein Sich-Fragen, was diese Personen und ihre Handlungen um- und antreibt. ln der Aufführung, die drei Stunden dauert, gibt es nur zwei Elemente, die sich der gegenwärtigen
10 Jugend ohne Gott, Seh-Hörspiel nach dem Roman von Ödön von Horváth, Bühnenfassung von Stephan Weiland, Rechte: Thomas Sessler Verlag, Wien. Premiere: Theater im Marienbad, Freiburg, 22. Oktober 2005, Regie: Dieter Kümmel.
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Jugendkultur anbiedern. Einen Rap und die Simulation einer TV-LiveSchaltung, beides vom jugendlichen Publikum in Gesprächen als überflüssige Anleihen an unsere Zeit und die Jugendkultur kritisiert und in Frage gestellt, während gerade der Rap von Seiten der Erwachsenen sehr positiv aufgenommen worden ist. Jugend ohne Gott beweist durch die unseren Sehgewohnheiten zuwiderlaufende Dramaturgie ein semiotisches Gesetz, das, im Theater angewandt, immer wieder zu überraschenden Effekten führen kann: „Je karger und gleichgültiger ein Symbol, umso größer seine semantische Kraft.“ „Ein Symbol, das uns als Gegenstand interessiert, wirkt ablenkend. Es vermittelt seine Bedeutung nicht widerstandslos.“ Susanne K. Langer hat dies als inverses semiotisches Gesetz bezeichnet.11 Der Rezipient, hier Zuschauer solcher Zeichen, hat die Möglichkeit, sich selbst an der Bedeutungskonstitution zu beteiligen; das erklärt die Konzentration, die gerade sperrige Ästhetiken auslösen können. Das funktioniert natürlich nicht als Automatismus. Man darf nicht vergessen, dass die Freiburger ihre Szenerie auch mit fünfzehn (!!!) Schauspielern und Schauspielerinnen beleben, ein im Jugendtheater ungewohntes Aufgebot, das dem Publikum eine besondere Aufmerksamkeit und Investition signalisiert, die ein Einlassen sicher erleichtert. Jugend ohne Gott in dieser Inszenierung behandelt weniger die Frage nach der Religion als die, was Erziehen in einer hybriden Welt bedeutet. Der hilflose Lehrer, der keinen Zugang mehr zu seinen Schülern findet, weil er sie von Einflüssen geprägt sieht, an denen er nichts ändern kann und über die er keine Macht besitzt (bei Horvath der Zeitgeist des aufkommenden Faschismus), ist Sinnbild einer Generation von Erwachsenen, die die Jugend mit desillusionierten Augen beobachtet und gar nicht mehr merkt, wie sehr die eigene Einschätzung sie blind macht zur differenzierten Wahrnehmung der Jugendlichen. Dann allerdings müsste das Risiko eingegangen werden, mit ihnen in Kontakt zu treten, und zwar auf der Basis der eigenen Überzeugungen und Erfahrungen. Statt sie akribisch zu beobachten, könnte der Lehrer sich ihnen gegenüber zeigen. Insofern wirft diese Inszenierung ein Licht auf die Forderung nach Aktualität und Anlehnung an zeitgenössische Formen der Medialität und Popkultur, wie sie für das Jugendtheater so häufig vertreten werden.
11 Langer, Susanne K., Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a. M. 1984, S. 83. Siehe auch Mersch, Dieter, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002, bes. Kap. 2 über Medialitäten.
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GEHÖRT ZUM
E RWACHSENENTHEATER
Jugendliche wollen nicht erzogen, aber sie wollen bereichert werden. Womit wir sie bereichern, das ist unsere Entscheidung als Erwachsene. Warum wollen wir ihnen geben, was sie selbst schon haben? Jugendkulturelle Anleihen sind nicht nötig. Wir müssen den Jugendlichen keinen Köder hinwerfen, da werden sie immer mit Recht misstrauisch, was es hernach zu schlucken gibt. Jugendliche suchen die Konfrontation. Also sollten Jugendtheatermacher den Mut haben, das Andersartige, das Unbekannte, in den Massenmedien gerade nicht Vorherrschende, anzubieten. Ist das nicht Funktion von Kunst: unsere Wahrnehmung zu erweitern, der Welt, aber auch uns selbst gegenüber? Das, was gegenwärtig nicht vorhanden ist, zu vergegenwärtigen, die alten Geschichten weiter zu erzählen und die Träume zu visualisieren? Ein solches Selbstverständnis des Jugendtheaters setzt voraus, dass Jugendund Erwachsenentheater eher zusammengehören als das Kinder- und Jugendtheater. Kinder müssen eine besondere Rücksichtnahme auf ihre spezifischen Formen der Realitätsaneignung in Anspruch nehmen, die Argumente für die Besonderheit des Kindertheaters sind genauer und überzeugender, in weiten Punkten auch unstrittiger formuliert als die für das Jugendtheater.12
S TRUKTURVERÄNDERUNGEN
WAGEN Von daher wäre es an der Zeit, mutig Strukturveränderungen in Angriff zu nehmen. Nachdem inzwischen schon viele Kinder- und Jugendtheater ihre Jugendproduktionen auch im Abendspielplan für Erwachsene anbieten bzw. ihre Inszenierungen für Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen bewerben, sollten keine Probleme darin bestehen, sich zum Theaterhaus zu wandeln, in dem Theaterproduktionen, Aktionen und Treffpunkte für Menschen verschiedener Altersgruppen und Provenienz geschaffen werden. Das umso mehr, als Schauspieler und Regisseure vom Kindertheater auch das Bedürfnis verspüren, einmal für ihresgleichen Theater zu machen, weil lebendige Entwicklungsmöglichkeiten eine
12 Vgl. Hentschel, lngrid: Über Grenzverwischungen und ihre Folgen. Hat das Kindertheater als Spezialtheater noch Zukunft? und Sinn und Sinnlichkeit - Dimensionen eines Lernorts Theater. In: Mittelstädt, Eckhard (Hrsg.): Grimm & Grips 17. Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater. ASSITEJ, Internationale Vereinigung der Kinder- und Jugendtheater, Frankfurt a. M. 2003, S. 29 - 47. Beide auch in diesem Band.
A BER WAS IST SCHON REALISTISCH ?!
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Breite des Repertoires erfordern, was der Spezialisierung nicht widerspricht, sie aber in einen weiteren Erfahrungshorizont stellt. Die Vision: das Theaterhaus für alle mit unterschiedlichen Produktionen und Produktionsmöglichkeiten, Spielclubs für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und gemischte Gruppen! Familientheater und Kindertheater, Theater für junge Erwachsene und alte, Poptheater und Tanztheater. Dass in einer solchen Konstruktion Produktionen und Aktivitäten für Kinder und für Jugendliche besonders finanziert werden müssen, nicht zuletzt auf der Basis des Kinderjugendhilfegesetzes (KJHG), das eine Partizipation von jungen Menschen an Kunst und Kultur fordert, sollte sich dabei von selbst verstehen. Auch die Schulen, die nachmittags und abends sowie in den Ferien leer stehen, könnten sich für Aktivitäten öffnen. Warum sollten Schulen nicht Zentren in den umliegenden Nachbarschaften werden können, warum sollten hier nicht Treffpunkte entstehen für Männer, Frauen, Eltern, ältere Menschen, Kinder und Jugendliche? Welchen Sinn macht die Segregation, wo doch heute das Miteinander und die Fähigkeit einer lebendigen und direkten Kommunikation zwischen verschiedenen Gruppen eine denkbar wichtige Aufgabe ist. Theateraufführungen und Theaterhäuser als lebendige „anthropologische Orte“ im Sinne von Marc Augé13 sind eher gefordert als die Spezialisierung und Einengung auf ein bestimmtes Publikum und Repertoire. In diesem Sinne kann man dem Schultheater nur empfehlen, sich an der ganzen Breite der entstandenen Stücke und Dramaturgien zu orientieren: für Erwachsene, für Jugendliche, für Kinder. Und sich dabei in erster Linie auf die Qualitäten der Theaterkunst, nämlich ihre Angewiesenheit auf unmittelbare und wahrhaftige Kommunikation zwischen Spielern, aber auch zwischen Bühne und Publikum, zu besinnen. Letzten Endes bestimmt nicht der literarische Text, sondern die Art und Weise, wie dieser an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit, von bestimmten Menschen für andere vergegenwärtigt wird, über Qualität und Lustgewinn der Veranstaltung.
13 Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1999 (im Original: Non-Lieu. Paris 1992).
130 | J UGENDTHEATER
L ITERATUR Albert, M. In Online-Familienhandbuch. www.goethe.de/ins/gb/prj/scs/txt/de 93950.html abgerufen am 3. März 2006. Augé, M. (1999). Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt a. M. Fischer-Lichte, E. (2004). Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hentschel, I. (1994). Das Kind ist gut das Leben schlecht...oder wer sieht eigentlich durch den Spiegel. Kindheitsbilder im emanzipatorischen Kindertheater. In J. Richard (Hrsg.), Kindheitsbilder im Theater (S. 17 - 36). Frankfurt am Main: Haag und Herchen. Hentschel, I. (1996). Über Grenzverwischungen und ihre Folgen. Hat das Kindertheater als Spezialtheater noch Zukunft? In S. Riemann & A. Israel (Hrsg.), Das andere Publikum. Deutsches Kinder- und Jugendtheater (S. 31 - 47). Berlin: Henschel. Hentschel, I. (2005). Performance als Rückkehr zum Ritual? Nackte Gewalt im zeit genössischen Theater. In I. Hentschel & K. Hoffmann (Hrsg.), Spiel – Ritual – Darstellung, scena Theater und Religion Bd. 2 (S. 113 -132). Münster. Hurrelmann, K. (2002). Jugend 2002. 14. Shell Jugendstudie. Frankfurt a. M. Hurrelmann, K. Eine empfindsame Generation. In Online-Familienhandbuch. www.goethe.de abgerufen am 3. März 2006. Langer, S. K. (1984). Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt a. M. . Mersch, D. (2002). Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. Schneider, W. (1984). Kindertheater nach 1968. Neorealistische Entwicklungen in der Bundesrepublik und West-Berlin. Köln.
Netkids, Theater und Neue Medien
Spielen oder Gespielt werden Über den Umgang mit einer Herausforderung
Wo immer die neuen Medien und Kommunikationstechnologien im Kontext von Kultur-, Kunst- und Bildungsprozessen zur Diskussion stehen, lässt sich ein ähnlicher Vorgang beobachten: Spätestens zur Mitte der Veranstaltung beginnt das Publikum der Attraktion der neuen, unbekannten, abenteuerlichen, in ihren unabsehbaren Folgen so faszinierenden Technologien zu erliegen. Man kann dies regelmäßig an der Zunahme von Begriffen wie „alte Künste“, „traditionelle Medien“, „überkommene Kommunikationsformen“ u. Ä. in den Wortbeiträgen feststellen, abgewechselt mit Wendungen wie „völlig anders“ und „ganz neu“. Diejenigen im Publikum, die sich noch – auch dieses „noch“ taucht gehäuft im Vokabular der Beiträge auf – voller Überzeugung oder gar Zuneigung einem der „alten Medien“ wie etwa der Literatur, der bildenden Kunst oder dem Theater verbunden fühlen, pflegen ihre Ausführungen dann gern mit selbstironischen Bekundungen wie etwa „ich als Vertreter des analogen Mediums“ oder wenigstens von einem entschuldigenden Lächeln begleitet vorzubringen. Dem Eindruck jedenfalls, irgendwie im Entwicklungsrückstand zu sein, können sich die wenigsten entziehen, selbst wenn sie argumentativ ihre Profession in einem der alten, nun überkommenen Medien zu verteidigen suchen. Angesichts der umwälzenden Veränderungen, die von den Computer- und Kommunikationspionieren angekündigt werden, erscheint uns alles, was wir bis heute kennengelernt haben, irgendwie entwertet. Umso mehr natürlich, als gerade Künstler und Kunstpädagogen unter jenen zu finden sind, die selbst zwar meistens im Internet surfen, den Computergames und Netzwerkaktivitäten ihres Nachwuchses relativ hilflos gegenüberstehen, und von daher auf solchen Veranstaltungen oft auch zu Recht das Gefühl bekommen, doch endlich richtig mitreden können zu sollen. Die Fortschrittsgläubigkeit, die im Focus der Medienpioniere erzeugt wird, ist aber gerade für die Künste fatal. Natürlich ist die Aufgeschlossenheit dem
134 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN Neuen gegenüber angenehm und nötig, ebenso wie der auf solchen Veranstaltungen stets gefasste Vorsatz, sich doch endlich eingehender zu informieren, und den PC doch weitergehender denn als elektronische Schreib- und Kommunikationsmaschine zu nutzen. Mit Beunruhigung aber ist – so meine ich – die diffuse Verunsicherung den herkömmlichen Künsten gegenüber aufzunehmen, die sich in der Auseinandersetzung mit der technischen Innovation immer wieder feststellen lässt. Dies umso mehr, als die offensichtliche Verunsicherung durch die neuen Technologien und ihre möglichen Auswirkungen auf unsere Lebenswelt auf ein nicht besonders starkes Selbstbewusstsein stößt. Jedenfalls lässt sich das für den Bereich des Theaters mit Sicherheit sagen. Und vom Theater soll hier vorrangig die Rede sein, wenn auch die übrigen alten Künste heute einem zunehmenden Rechtfertigungsdruck unterliegen mögen. Es ist kein Geheimnis: Um das Selbstbewusstsein des Theaters ist es nicht besonders gut bestellt. Es war sicherlich nicht nur der Schock, den die massenhafte Verbreitung des Fernsehens beim Theater hinterlassen hat, als es ihm zwei wesentliche Aufgaben raubte, die Informationsvermittlung und die Unterhaltungsfunktion. Man vergegenwärtige sich nur einmal, dass die Bühnen zur Zeit Shakespeares alle vierzehn Tage eine Uraufführung herausbrachten, die mehr oder weniger der Massenunterhaltung diente. Die Konkurrenz des Fernsehens und spätere der digitalen Medien ist nur ein Grund für das brüchige Selbstverständnis des uralten Mediums. Angesichts der öffentlichen Spardiskussion, der Schließung immer weiterer Kunsttempel, der verordneten Einspielquoten fällt es den Theatermachern immer schwerer, die Frage wirklich überzeugend zu beantworten: Warum wir das Theater brauchen.1 Dabei nehmen wir es ziemlich selbstverständlich hin, dass die Theaterkunst sich überhaupt rechtfertigen – d.h. heute ja vor allem sozial rechtfertigen muss. Dass sie sich auch ökonomisch rechtfertigen, „rechnen“ soll, ist nur Folge des in Frage gestellten sozialen Konsensus. Dass wir Kunst, vor allem auch darstellende – also Theaterkunst – brauchen, dass es sie gibt und geben muss – wir wissen es schon lange – versteht sich nicht von selbst, obwohl es in der Geschichte eigentlich nie eine Gesellschaft ohne Kunst gegeben hat und auch Notzeiten diese nie in Frage gestellt, sondern vielleicht sogar noch dringender gebraucht haben. Probleme hat man heute mit dem Kunstcharakter von Kunst, mit der ästhetischen Dimension, die sich ja mit ihrem Zweckfreiheitspostulat seit je quer zu der arbeits- und marktorientierten Lebenswelt stellt. Meistens dann, wenn Kunst sich
1
So ist der Band Iden, P., Warum wir das Theater brauchen, Frankfurt/M. 1995, eher symptomatisch.
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deutlich als Lern- und Sozialisationsinstrument mit bestimmbaren Aufgaben verstehen lässt, finden sich auch Argumente zu ihrer Rechtfertigung. So werden inzwischen Kinder- und Jugendtheaterproduktionen finanziell eher gefördert, wenn es sich dabei um Thementheater handelt, d.h. wenn die Stücke sich bestimmten Problembereichen wie Suchtprävention, sexueller Missbrauch, Rechtsradikalismus zuordnen lassen. Nur, die Funktionen, an die man Theaterkunst koppelt, haben einen Nachteil für das Theater: Man kann sie nämlich prinzipiell auch ohne Theater erfüllen. Mit ihnen jedenfalls fällt es aller Erfahrung nach schwer, überzeugend zu begründen, warum große Summen Geldes für Theater, dramatisches Spiel, Theaterpädagogik oder Laienspielgruppen ausgegeben werden sollen, anstatt beispielsweise mit dem Gedanken der Chancengleichheit Computerkurse zu finanzieren, in denen der kritische Umgang mit diesem zukunftsträchtigen Medium gelernt werden könnte, auch von Jugendlichen, die kaum Bildungsprivilegien genossen haben und so dem Bereich ästhetischer Bildung eher fern stehen. Der Rechtfertigungsdruck, der von den expansiven, – das sind ja immer auch marktexpansiven – Kräften der neuen Medientechnologien ausgeht, trägt dazu bei, den Legitimationsdruck für ästhetische Bildungsprozesse, für Kunst im weitesten Sinne zu erhöhen. So tun viele Künstler und Pädagogen inzwischen ihr Handwerk mit dem dumpfen Gefühl, ohnehin einer aussterbenden Spezies anzugehören. Sobald sie dann mit einem Vertreter der neuen Medien konfrontiert werden, zumal wenn er mit dem Enthusiasmus des Neuen, Unerprobten auftritt, sind sie nur allzu bereit, ihre „alte Kunst“ in die Ecke der Geschichte zu stellen. Oder sie dulden es jedenfalls widerspruchslos, wenn andere sie dahin stellen. Umso mehr dann, wenn sich ungebrochener Pioniergeist mit postmoderner Bedenkenlosigkeit und charmanter Lässigkeit paart, wie z. B. bei einem ihrer Theoretiker wie Norbert Bolz. Ich möchte in diesem Aufsatz für einen anderen Umgang mit der Herausforderung der neuen Medien plädieren. Zwischen starrer Abwehr oder unsicherer Zustimmung gibt es etwas Drittes. Die Herausforderung anzunehmen und über die Qualität des uralten Mediums nachzudenken. Aber bevor ich zu meinem eigentlichen Thema komme, einige grundsätzliche Bemerkungen zur Ausgangslage.
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IST NICHT ALLES
N EUE !
Ein häufig zitierter Satz des Medienpioniers Marshall Mc. Luhan lautet, dass der Inhalt der neuen Medien zunächst immer die alten Medien seien. Das bedeutet wir haben es beim Siegeszug der Computertechnologie heute mit einem Nebeneinander von alten und neuen Medien zu tun. Wer Computerspiele kennt, weiß dass ihr Plot und ihre Dramaturgie im Wesentlichen auf einem Konglomerat literarisch überlieferter Sagen, Fabeln, Mythen und Erzählungen beruhen. Unter der Sonne nichts Neues, hier trifft es zu. Im Fortschrittsmodell, mit dem wir technologische Entwicklung gemeinhin wahrnehmen und interpretieren, fällt das Nebeneinander aller Medien meistens gar nicht weiter auf. Was ist das Internet anderes als eine in erster Linie weltweite Vernetzung von Schrift? Die Kritik des Mediendeterminismus artikuliert sich inzwischen leise aber immerhin hörbar.2 Die Geschichte der Kunst lässt sich eben keinesfalls nur als „Reaktionsbildung auf die jeweils neuen Medien“ lesen, wie der enthusiastische Marktberater Norbert Bolz (1997) behauptet. Kunst reagiert und reagierte zwar auf technologische Entwicklung, hat sich aber doch niemals in solcher Reaktivität erschöpft. Von daher ist es ganz absurd etwa annehmen zu wollen, eine Designwissenschaft könne an die Stelle der alten ästhetischen Theorie treten. Denn die Probleme der Wahrnehmung, die Fragen, die das Phänomen der ästhetischen Erfahrung aufwirft, die Konstitutionsprobleme von Kunstwerken beispielsweise sind doch nicht beseitigt, nur weil es jetzt zusätzlich neue Möglichkeiten der Bild- und Welterzeugung gibt. Verfolgt man die einschlägigen Debatten, gewinnt man den Eindruck, dass sich angesichts der umwerfenden ästhetischen Konfigurationen in den Rechnern die schlichte Tatsache zu verflüchtigen scheint, dass wir als Menschen auch biologische Wesen sind. Wir können, wie in den Visionen der Pioniere entworfen, Paläste aus Licht und Zeichen bauen, aber wo sollen wir wohnen? All zu leicht vergessen wir unter dem Ansturm der computergemäßen Menschenbilder, die jetzt Konjunktur haben: Zwar ist der Mensch im Datennetz, aber er sitzt doch immer noch, bzw. öfter als je zuvor, vor dem Bildschirm und hat seine entsprechenden Probleme mit Rücken und Augen. Und irgendwann stehen wir neuen, begrenzt digitalisierbaren Wesen auf, lösen uns aus den Konfigurationen virtueller Weiten und gehen nach Nebenan, um unseren Kühlschrank zu öffnen, und darin finden wir dann hoffentlich keine virtuellen, sondern höchst stoffliche Nahrungsmittel.
2
Vgl. die Tagung, Virtuelle Realitäten. Ethik der Wahrnehmung – Ethik der Kommunikation, Ev. Stadtakademie und Sprengelmuseum, Hannover 1996.
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Also muss es doch zumindest in dieser Hinsicht einen Unterschied zwischen Fiktion und Realität, zwischen Simulation und Wirklichkeit geben, auch wenn es theoretisch noch so verführerisch sein mag, ihn zu leugnen. Angesichts von Expertendiskussionen, in denen mit dem Subjektbegriff auch gleich der Mensch wegdiskutiert wird, muss man es einmal so deutlich sagen: Wer seinen Körper spürt und liebt, wird kaum nachvollziehen können, wie die elektronischen Medien, die Vision oder auch Angst produzieren können, dass wir als Wesen von Fleisch und Blut, als Menschen überflüssig werden könnten. Solange wir noch Wert auf die Konsistenz unserer Frühstückseier legen, solange es Erotik gibt – und immer noch schlafen statistisch gesehen alle Paare immerhin einmal die Woche ganz physisch miteinander – muss sich die Lust an elektronisch erzeugten Weiten doch in Grenzen halten. Es sei denn, wir möchten uns von diesem Planeten selbst hinwegbefördern – und manche Positionen im Rahmen der neuen Technologiediskussion scheinen auf diesen geheimen Wunsch hinauszulaufen. Immer noch aber spricht vieles dagegen, dass unsere guten alten Künste und Lüste von den Rechnern abgelöst werden, und so möchte ich einige Argumente zusammentragen, warum zumindest die gute alte Theaterkunst, die Kunst der Selbstdarstellung und Selbstinterpretation des Menschen, ihren Platz so schnell in der Welt nicht aufgeben wird. Bisher sieht es so aus, dass die Möglichkeiten der neuen Medien das Bewusstsein für die Qualitäten der alten schärfen. Diese Einschätzung teilt auch Bazon Brock, wenn er schreibt: „Sobald sich Kritik und Geschichtsschreibung darüber klar zu werden haben, welche Leistungen die neuen Medien auf welchem Wege erzeugen, wird ihr Verständnis für die spezifischen Leistungen der vermeintlich traditionellen Künste erheblich geschärft.“ (Brock, 1996, S. 77)
Ä STHETISCHE K ONFIGURATIONEN Paradoxerweise ist es ja gerade die neue, für die Künste so verunsichernde Computertechnologie, die dem Ästhetischen ihr Recht widerfahren lässt. Weil sich alles, was sich auf dem Bildschirm abspielt, an den visuellen Sinn und damit an die Vorstellungskraft richtet, wird Wahrnehmung zentral. Durch die Menge der möglichen Simulationen und Konstruktionen verschiebt sich das traditionelle Verhältnis von Realität und Phantasie zugunsten von letzterer. Beides ist aber von je das Terrain der Kunst. So befreit der Computer die Fiktion von ihrer Referenz auf eine Wirklichkeit und erlaubt, den Eigenwert des Fiktiven zu erkennen. Kunst wird als „Inbegriff des Unwahrscheinlichen aufgefasst.“ (Bolz, 1997)
138 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN Damit ist aber auch eine Potentialität angesprochen, die die Vertreter der neuen Medientechnologie ebenso wie einstmals die Vorreiter der Postmoderne auf ihre Fahnen schreiben. Der Mensch ist bei all seiner Wirklichkeitsbindung auch ein Wesen das im Bereich des Möglichen lebt. Das wurde bisher vor allem durch die Künste, durch Theater, Malerei, Musik und Literatur verdeutlicht. In der Phantasie wie im Denken, im Traum wie im Spiel werden die nicht realisierten und nicht realisierbaren Räume des Möglichen ausgelotet und erprobt. Die fiktiven Welten die durch die elektronischen Simulationen der Computer geschaffen werden, machen deutlich wie stark neben dem zweck rational ausgerichteten Alltagsbewusstsein und dem die Wissenschaften beherrschenden Empirismus auch die Bereichen von Fiktion und Virtualität, Spiel und Phantasie zu unserem Wirklichkeits- und Weltverständnis gehören. Das muss ja keineswegs heissen, dass Wirklichkeit vollständig in der Fiktion verschwindet wie einige zeitgenössische Theoretiker meinen, sondern zunächst ist doch nur eine Erweiterung unseres Realitätsverständnisses festzustellen. Und diese Erweiterung ist doch positiv zu bewerten, da sie die Chance bietet dazu beizutragen, unser utilitaristisch verkürztes Menschenbild zu verändern. Auch eine weitere Eigenschaft der neuen Technologien nimmt ein Anliegen künstlerischer und ästhetischer Erfahrung in gewisser Weise wieder auf, bzw. führt es fort. Ich meine die vielzitierte Aussage, dass das Medium selbst die Botschaft sei. Die darin zum Ausdruck kommende Aufmerksamkeit für das Medium selbst, das nicht nur Träger eines Inhalts oder einer Botschaft ist, sondern durch seine eigene Verfasstheit, in seiner Materialität, in der Spezifik des Mediums einen Wert findet, ist eine Erkenntnis, die zum Beispiel die moderne Malerei seit Anfang des 20. Jahrhunderts motiviert. Neu ist sicherlich, dass diese Erkenntnis heute durch die neuen Technologien auf breiterer Ebene ins Bewusstsein tritt. Die Bedeutung der Materialität, die von der Computerkunst so herausgestellt wird, dass alles sich auf berechenbare Pixel reduzieren lässt und letztlich auf Algorithmen, soll die Sinnhaftigkeit ästhetischer Praxis in ihre Schranken verweisen und begründen, warum die Zeichenkonfigurationen auf den Rechnern nur auf sich selbst und den Zufall verwiesen. Die ausgeprägte Selbstbezüglichkeit der Computertechnologie hilft besser zu verstehen, was wir an der alten Kunst haben. In der Geschichte der modernen Kunst war und ist die Sensibilität für das Material des jeweiligen Mediums, also Farbe, Stein, Holz, Leinwand, Ton, Klang oder bezogen auf das Theater, die Beziehung zwischen Menschen, die in einem Raum Bezug aufeinander nehmen, geradezu elementar. Die Theaterreformer des 20. Jahrhunderts loteten die besondere Beschaffenheit des Mediums Theater in ihren Bühnenexperimenten aus. Der Schauspieler
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in seiner psycho-physischen Leiblichkeit bildet zusammen mit den Zuschauern das Zentrum der Theaterkunst. Spiel und Verwandlung zeigen die Wirklichkeitstranszendierende Dimension menschlicher Existenz an: Ich als ein anderer. Das Simulationspotential der computergestützten Technologien sowie die entsprechenden theoretischen Ansätze machen heute auf ihre Weise den Anteil deutlich, den das Spiel an unserer Lebenstätigkeit hat.3 Das Theater wäre auch zu definieren als die Kunst des Menschen, sich selbst zuund anzuschauen. Gerade weil im Zentrum der Theaterkunst – und zwar schon von der Materialität des Mediums her gedacht – nicht Aluminium, Ton, Stoff, Farbe, Glas oder Beton, sondern der Mensch in seiner Leiblichkeit steht, ist dieses Medium angesichts der technologischen Durchdringung unserer Lebenswelt umso unverzichtbarer. Von daher trifft zumindest für das Theater nicht zu, was Norbert Bolz als „das Ende des Weltalters der euklidischen Sensibilität“ bezeichnet, das „durch die fraktale computergestützte Ästhetik an sein Ende gekommen“ sein soll. (Bolz, 1997) Durch die neuen Technologien wird es möglich, die alten Künste von bestimmten Funktionen zu entbinden oder zu befreien, wie zum Beispiel dem der Informationsvermittlung. Theater darf demnach endlich sein, was es schon lange Zeit in der Geschichte, wenn auch in sozial sehr eng gebunden Formen war: Spiel. Hierbei darf Spiel nicht als Gegensatz zu Wirklichkeit aufgefasst werden, sondern es umgreift sie. Im Spiel konvergieren unterschiedliche Bereiche und Dimensionen, es ist definitionsgemäß die Bewegung eines Hin und Her, die sich weder hier noch da, sondern gerade im „Dazwischen“ lokalisieren lässt.4 Immer wieder gibt es den Versuch, die Differenz zwischen Kunst und Leben, zwischen Phantasie und Realität einzuebnen, aber niemals kommt mehr dabei heraus als eine Wanderung auf dem Grat zwischen beiden. „Der Bruch mit den pragmatischen Kontexten des Alltags, den die ästhetische Erfahrung u.a. zum Problem hat, liegt anthropologisch tiefer, als jene Kontinuitätsannahmen, affirmativ oder kritisch, nahelegen. Die Diskontinuität zwischen den pragmatischen Kontexten
3
Zum Spiel siehe den Beitrag Was ist wirklich im Theater? in diesem Band.
4
Vgl. z. B. Kamper, D., Spiel als Metapher des Lebens. In: Flitner, A. / Kamper, D. u.a. (Hrsg.): Der Mensch und das Spiel in der verplanten Welt. München 1976. Auch Gadamer, H.-G., Die Aktualität des Schönen, Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Stuttgart 1977.
140 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN gesellschaftsförmigen Alltagslebens und ästhetischen, auf Kunst hin orientierten, >kunstförmigen< Erfahrungen beruht auf der >natürlichen Künstlichkeit< der menschlichen Existenz und dem Konstruktions-charakter jeglicher Kultur, jedenfalls in der modernen anthropologischen Perspektive.“ (Mollenhauer, 1996, S. 21)
An Artifizialität kann es das Menschentheater sicher nicht mit den elektronisch erzeugbaren Bildern aufnehmen. Was also könnte das Theater uns erlauben zu tun, was die Terminals nicht besser bieten können? Schon 1983 formulierte George Tabori: „In unserer computerisierten Kultur, die alles mechanisch reproduzieren kann, von Mozart bis zur Wanderniere, bleibt das Theater unreproduzierbar und deshalb einzigartig, indem es eher das Leben produziert als die Kunst reproduziert; vielleicht unsere letzte Zuflucht angewandter Menschlichkeit.“ (Tabori, 1983, S. 4)
W AS DAS T HEATER J AKOB M ENDEL
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In diesem Sinne lässt sich hier als Beispiel die besondere Qualität einer kleinen Inszenierung beschreiben, die wie viele andere vielleicht unbemerkt geblieben wäre, wenn sie nicht mit einem Preis des Kinder-Musik-Theaterfestivals „Traumspiele“ ausgezeichnet worden wäre und demnächst auch in ganzer Länge im Fernsehen ausgestrahlt und so der Nachwelt erhalten bleiben wird. Der Titel von Jakob Mendels Stück Nebensache ist Programm.5 Ein speckiger Mann beginnt auf der ebenerdigen Bühne zu hantieren. Er hat Plastiktüten, einen Regenschirm, eine alte Leiter, einen Wasserkanister. Er beginnt sich zu rasieren. Bittet ein Kind aus dem Publikum, ihm ein altes Tablett als Spiegel hinzuhalten. Immer wieder streift er sein schmutziges Rasiermesser an der Hose ab. Wortkarg, nicht besonders freundlich, aber auch nicht unfreundlich beginnt er ein Gespräch mit dem Kind, schickt es nach beendeter Rasur wieder von der Spielfläche. Aus einem alten Bienenkorb bringt er nach und nach beschädigtes Holzspielzeug zum Vorschein: Ein Bauernhaus, Pferdchen, einen Traktor. Seinen Rasierpinsel pflanzt er als Baum auf, das alte Tablett markiert den See. Das ist der Hof des Bauern Jakob. Nun erzählt er von der Arbeit des Jakob, von sei-
5
Es handelt sich um eine Inszenierung von Claudia Oberleitner am Landestheater Tübingen mit Werner Koller.
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nen beiden Kindern, der Frau, und wie es kam, dass Bauer Jakob am Ende Haus und Hof verlor.
Ganz unspektakulär erzählt der Schauspieler, ohne Versuch, sich dem Publikum anzubiedern, ohne Wertung, aber mit Sorgfalt für alle Details. Der Erzähler ist ein Penner, ein Obdachloser, einer derjenigen, die in den Einkaufszonen und Bahnhofshallen herumlungern, von denen die Mütter ihre Kinder schleunigst wegzerren. Hier im Theater findet eine Begegnung statt, sieht und hört man ihm zu. Ganz nebensächlich enthüllt sich, dass der Erzähler selbst der Bauer Jakob gewesen ist. Warum macht er kein Aufheben darum, warum will er kein Mitleid, kein Verständnis? Die Begegnung bleibt episodisch und einzigartig. Dieser Bauer Jakob hat für kurze Zeit etwas mit dem Publikum geteilt. Das Ereignis der Inszenierung ist nicht innerhalb der Geschichte zu finden, nicht in der Story, nicht im Spektakulären, sondern in etwas, was sich nebenbei, fast unbemerkt und kaum beschreibbar während der Aufführung zwischen Schauspieler und Publikum ereignet. Warum das eine Geschichte fürs Theater und weniger fürs Fernsehen oder Computerspiel ist, liegt auf der Hand. Natürlich ließe sich das gesamte Plot auch dort erzählen, nicht aber ließe sich die persönliche Begegnung, ja Berührung mit jenem speckigen, abstoßenden Mann in der physischen Präsenz von Atem, Stimme, Schweißperlen und Geruch erzeugen. Aber – so könnte man einwenden – ist das denn noch Spiel, ist die Begegnung mit dem Bauern Jakob, der Haus und Hof verloren hat, nicht schon Simulation einer Biografie, die der Zuschauer gar nicht mehr als solche erkennen kann? Im Theater wird ein anderer Wahrheitsbegriff als der technologisch geprägter Leitbilder erfahrbar. Die Wahrheit liegt nicht auf der Bühne, sondern in dem, was vermittelt durch die Bühne im Zuschauer bewegt wird. Was würde es nützen, zusätzliche Dokumente über Verschuldungsprozesse in der Landwirtschaft einzublenden oder die Geschichte durch Eingriff der Zuschauer, so wie es an den Bildschirmen möglich ist, zu verändern, einen anderen Ausgang zu inszenieren, der Frau eine Haarfarbe, den Kindern Schulhefte zu verpassen? Der eigentliche Gehalt der theatralen Inszenierung dieser kleinen Geschichte würde durch diese „Spieleingriffe“ gar nicht berührt. Theater lebt von der Gratwanderung zwischen Sein und Schein, Realität und Fiktion, aber noch in der stärksten Fiktionalisierung bleibt die Präsenz des Schauspielers Grund und Anstoß einer Begegnung. Diese soziale Dimension einer theatralen Veranstaltung wird noch durch eine weitere Qualität gestützt: Im Theater handelt es sich um ein Zusammenkommen von Menschen. Selbst, wenn der Zuschauer ins Dunkel des Zuschauerraums gebannt ist, in einen bequemen Sessel, wo er die Vorstellung goutieren mag, gera-
142 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN de so wie Brecht es hasste, selbst dann ist er Teil einer Menge, die zusieht, den Atem anhält, lacht oder am Ende die Vorstellung im gemeinsamen Applaus feiert. Die oben beschriebene Inszenierung steht unverkennbar in der Tradition des „armen Theaters“ und geht auf eine Grundform des Mediums, das Erzählen, zurück. Dieses „zurück zu den Wurzeln“, zur Einfachheit einer Form wählen heute viele Schauspieler und Autoren besonders im Kinder- und Jugendtheater, aber auch in der Gegenwartsliteratur sind entsprechende Entwicklungen zu beobachten.6
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Ein anderes, auch essentiell theatrales Modell hat auf den Bühnen der Großen Furore gemacht. Peter Handkes Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten entdeckt das Theater wieder als Platz zum Schauen. „Die Bühne ist ein freier Platz im hellen Licht. Es beginnt damit, dass einer schnell über ihn wegläuft. Dann aus den anderen Richtungen noch einer, ebenso.“ (Handke P., 1992, S. 549) Auf einem Platz wird das Kommen und Gehen von circa 350 verschiedenen Personen und Figuren vorgeführt. Gesprochen wird dabei kein einziges Wort: ein Kommen und Gehen von Menschen auf einem Platz. Nicht mehr und nicht weniger. Es wechseln sich ab unbestimmbare mit klar definierten Rollen, Alte, Sportler, eine Frau im Boutiquendress, ein Rollschuhläufer, einer als Teppichhändler, eine vollständige Flugzeugbesatzung, einer als Moses mit den Gesetzestafeln, der Jäger mit Schneewittchens Herz im Glas u.v.a.m.
Erzeugt wird beim Zuschauer dieses „Schauspiels“ die Muße des Schauens, des Anschauens, der Kontemplation und am Ende vielleicht eine Art Verbundenheit mit all den Zeitgenossen, mit denen wir diesen Planeten teilen müssen, ob wir wollen oder nicht.
6
Vgl. Baliani, M., Die Erinnerung des Gefühls – Gedanken eines Geschichtenerzählers. In: Schneider, W. (Hrsg.): Kinder- und Jugendtheater in Italien. Frankfurt/M 1996 sowie Hörisch, J., Optionen der Gegenwartsliteratur. In: Grimminger, R. u.a. (Hrsg.): Literarische Moderne. Hamburg 1995, S. 770 -799.
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Auch in Peter Handkes Stück dominiert das Episodische wie so häufig in der Gegenwartskunst. Alles wird angefangen und nicht beendet, Geschichten angerissen und nicht weitererzählt, Fäden aufgenommen und wieder fallen gelassen, woher jemand kommt, wohin er geht, all das bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen. Der Mitmensch wird nicht erklärt, nicht beurteilt, nicht verurteilt, er wird als Rätsel ins Licht dieses hell erleuchteten Platzes geschickt. Auch hier tut das Theater sein Eigenstes, Menschen schauen einander zu. Und am Ende sind es bei Handke drei „Zuschauer“, die vom Parkett aus die Bühne erklimmen und im Zug der Menschheit „mitumändern“, wie es im Text heißt. So wird deutlich, dass es hier eigentlich die Zuschauer sind, die mitspielen, indem sie all diesen Konfigurationen auf der Bühne Sinn und Bedeutung verleihen. Nur wenn die Phantasie des Publikums mitspielt, werden die Gänge, Gesten und Kostümierungen auf der Bühne zum Leben erweckt: was hat Moses mit den Gesetzestafeln, was der gestiefelte Kater und was die Mongolin unter all den Sekretärinnen, Stewardessen und Fußballfans zu tun, die den Platz mit ihren Gängen beleben? Ist die Schwangere nicht die Geliebte von vorhin, und wohin ist der Büroangestellte mit den Kreditkarten entschwunden? An Stücken wie dem beschriebenen lässt sich zeigen, wie „tätig“ die Zuschauer im Theater sind, die Aktivität der Imagination ist es, die der schauspielerischen Aktion Sinn und Bedeutung einhaucht. Bezogen auf die Literatur hat Jochen Hörisch (1995) auf die „Entdeckung der Langsamkeit“ als Zeitmaß ästhetischer Produktionen in Zeiten verschärfter Medienkonkurrenz hingewiesen. Stücke wie die genannten erzeugen noch etwas anderes, nämlich: Dauer.7 Diese Zeitstruktur lädt den Rezipienten zum Verweilen, zur Produktivität eigener Einbildungskraft ein, einer Phantasie, die im Idealfalle Flügel erhält. Dann wird der Schauplatz des Theaters zum Spielplatz des Zuschauers: wenn eine offene Dramaturgie die Imagination des Publikums im dialogischen Verhältnis mit den Vorgängen auf der Bühne in Bewegung setzt. Streng genommen existiert Theater, Schauspiel, nur in diesem Zusammenspiel, in dem die Differenzen niemals abgeklärt sind. Zwar ist es so, dass „die Opposition von Wirklichkeit und Fiktion ... zu den Elementarbeständen unseres stummen Wissens“ gehört, wie Wolfgang Iser ausführt (Iser, 1991), ebenso wie die Unterscheidung von Innen und Außen, Ich und Welt. Aber auch schon vor Erfindung der elektronischen Medien waren dies keine feststehenden Entitäten. Die Unterscheidungen werden ständig vorgenommen und stehen immer wieder infrage. Eben darum ist das Verhältnis von Realität und Fiktion immer wieder
7
Zum Begriff der Dauer vgl. Gadamer, H.-G.: Die Aktualität des Schönen. a.a.O. sowie Handke, P.: Gedicht an die Dauer. Frankfurt/Main 1986, sowie Baliani a.a.O.
144 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN Thema moderner und postmoderner Dramatik. Privileg der Kunst ist es, die vermeintlichen Orientierungen in Bewegung zu bringen und zwar in einer Weise, die es erlaubt, dass der Mensch ins Spiel kommen kann, was immer man sich davon erwarten mag. Man kann es ruhig einmal so pathetisch sagen: Theater trägt bei zur Selbstvergewisserung des Menschen, ist Teil seiner Selbstbefragung und Vergegenwärtigung, ist Ort gelebter Erinnerung und Zukunftsprojektion. „In der Zukunftserwartung kann man gleichermaßen beschämend kleingläubig und ängstlich wie beschämend bedenkenlos und mutwillig optimistisch sein.“ (Brock, 1996, S. 79) Aber Theater – das sei hier am Ende wenigstens kurz erwähnt – ist noch etwas: Lebensgenuss.
L ITERATUR Bolz, N. (1997). Der Angriff der neuen Medien auf die Kunst. In Ästhetik in der kulturellen Bildung. Kongreßdokumentation Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung. Remscheid. Brock, B. (1996). Urchronische Moderne – Zeitform der Dauer. In H. Klotz (Hrsg.), Die zweite Moderne. München. Gadamer, H.-G. (1977). Die Aktualität des Schönen, Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Stuttgart. Handke, P. (1992). Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten. In Theaterstücke in einem Band. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Iser, W. (1991). Das Fiktive und das Imaginäre. Frankfurt a. M. Kamper, D. (1976). Spiel als Metapher des Lebens. In A. Flitner & D. Kamper (Hrsg.), Der Mensch und das Spiel in der verplanten Welt. München. Mollenhauer, K. (1996). Grundfragen ästhetischer Bildung. Weinheim und München. Tabori, G. (1983). Spiel und Zeit. In Theater heute, Heft 10.
Was ist wirklich im Theater? Simulation und Spiel – Theater und virtuelle Welten
Wir leben im Zeitalter der Medienkonkurrenz. Die neuen Medien sind auf dem Vormarsch, das Theater im Hintertreffen. Eine wunderbare Situation, um zu resignieren. Oder um über das gute alte Medium, das Theater nachzudenken – und irgendwann festzustellen, dass Theater und virtuelle Welten, Simulation und Spiel, in ihrem Innern viel miteinander zu tun haben, selbst wenn sie außen von ganz anderen, z.B. ökonomischen Zwängen regiert werden. Natürlich geht es darum, sich über die Rolle zu verständigen, die das Theater im Zeitalter der elektronischen Medien, in der nahen Zukunft der Telekommunikation spielen kann, soll, könnte. Die Neuen Medien zwingen dazu, über das alte Medium Theater genauer nachzudenken. Die Erfahrung ist nicht neu: In dem Maße, wie man sich über die spezifischen Qualitäten der neuen Medien klarzuwerden versucht, in dem Maße steigt das Verständnis für die spezifischen Leistungen der vermeintlich traditionellen Künste. (Brock, 1996) Wenn ich beides, die neuen elektronischen Techniken und das Theater in Verbindung setze, so stellt sich die Frage, mit wem beginnen. Nach reiflicher Überlegung fange ich mit dem Theater an, und man wird hoffentlich sehen, dass vieles, was dann als Besonderheit der neuen Medien thematisiert werden wird, dem was theatergeschichtlich entwickelt worden ist, gar nicht so fremd ist, oder sein muss, wie es zunächst scheint. Da sich die Neugier meistens zuerst auf die Neuen, weil unbekannteren Medien richtet, will ich gleich ein paar Ergebnisse vorwegnehmen. Gemeinhin wissen wir zu wenig vom Theater und überschätzen die Möglichkeiten der neuen Medien. Ich gehe von folgenden Voraussetzungen aus: 1. Die Neuen Medien ersetzen nicht die alten, sondern sie treten neben sie. Sie sind also Bereicherung unserer Welterfahrung und unseres Alltags.
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2. Die künstliche Intelligenz macht bewusst, was es mit der lebendigen Intelligenz auf sich hat. 3. Die virtuellen Welten lassen uns die Virtualität, die Potentialität unserer kulturellen Möglichkeiten vor Augen treten. 4. Last not least, Theater ist lebendige Virtualität, Spiel der Möglichkeiten. Seine materielle Präsenz ist medial nicht zu ersetzen. Ein Ausflug in die jüngere Theatergeschichte, vor allem die Experimente im Rahmen der Avantgardebewegungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zeigt, dass im Theater eine Verlagerung von der „intratheatralen“ zur „extratheatralen“ Kommunikation stattfindet. Neudeutsch gesprochen: Weniger die Beziehungen zwischen den Figuren „auf“ der Bühne sind im modernen Theater von Interesse, sondern zunehmend die „zwischen Bühne und Publikum“. Der Zuschauer wird in seiner Wahrnehmungsaktivität als Mitschöpfer und potentieller Mitspieler des Theaters entdeckt. Diese interaktive Rolle des Theaterzuschauers ist heute oft nur den im besten Sinne medienkompetenten unter den Theaterbesuchern bewusst. Es läuft also auf ein Plädoyer für das gute alte Medium Theater hinaus, das uns umso kostbarer erscheint, je besser wir über die Neuen Medien Bescheid wissen und sie zu nutzen verstehen. Inwieweit sich dieses Verhältnis dann in bestimmten künstlerischen, inszenatorischen und dramaturgischen Folgerungen niederzuschlagen hätte, wäre ein anderes Thema – weniger für die Wissenschaftler – als für die Künstlerinnen und Künstler.
B ÜHNE
UND
P UBLIKUM – D IE S PRACHEN
DES
T HEATERS
Wir haben uns heute daran gewöhnt, das Theater als zeitbedingte Kunst zu sehen. Von daher steht es immer auch in Bezug zu den neuen Technologien. Elektrifizierung und Industrialisierung veränderten die Sprache des Theaters entscheidend. Lichtregie, Raumbühne, Entpersönlichung des Schauspielers – der Mensch als Kunstfigur auf der Bühne, Dokumentationstechniken und ein nahezu filmischer Realismus sind hier die Stichworte. Schon damals ließ sich in der Auseinandersetzung der Künste mit den neuen Technologien eine Doppelbewegung feststellen: Einerseits versuchte man die neuen technischen Errungenschaften in die Theaterarbeit zu integrieren, andererseits verstärkt das Eigentliche des Mediums Theater zu ergründen und zu entwickeln. Im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts finden wir in Europa eine
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unvergleichliche Theaterbegeisterung und eine Vielfalt an Reformversuchen und -modellen, wie sie seither nicht mehr anzutreffen sind. Die künstlerischen Neubestrebungen waren häufig getragen vom Wunsch, das Medium selbst zu erkunden und zu erforschen. Auch damals stand das Theater vor einem Rechtfertigungszwang und hatte sich zur Industrialisierung der Gesellschaft und der neuen Filmkunst zu verhalten. Aber worauf es in unserem Zusammenhang ankommt, ist Folgendes. Spätestens seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert wird Theater immer weniger als bloßes Mittel der Darstellung und Veranschaulichung von Dichtung verstanden, geschweige denn als „Magd eines literarischen Textes“, wie der Avangardist Wsewolod Meyerhold entschieden polemisiert hatte. Theaterreformer wie Artaud, Brecht, Meyerhold, Gordon Craig, aber auch das Bauhaus mit Kandinsky, Schreyer und Oscar Schlemmer trugen maßgeblich zu einer Emanzipation des Theaters vom dramatischen Text bei. Nach dem Vorbild der bildenden Kunst, insbesondere der Malerei gibt auch die Bühnenkunst zunehmend ihre mimetische Funktion auf. Theater möchte nicht mehr in erster Linie Wirklichkeit abbilden, eher eine andere Wahrnehmung ermöglichen, „Schule des Sehens“ werden. Man sucht nach Wegen, Dinge sichtbar zu machen, die sonst mit dem Auge nicht zu erkennen sind. Kandinskys 1911 erschienene Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ wurde für viele Künstler programmatisch: „Jede Kunst hat eine eigenständige Sprache, das heißt die nur ihr eigenen Mittel“. Die Theaterreformen sind denn auch weitgehend zu verstehen als Suche nach einer – nur dem Theater eigenen – Sprache. Was kann das Theater, was andere Künste nicht können? Was ist seine besondere Form der Existenz? Was könnte seine besondere Aufgabe im Vergleich zu anderen Künsten sein? Fragen, die heute angesichts der Medienvielfalt neue Brisanz und Dringlichkeit erhalten. Die Antworten darauf fielen sehr unterschiedlich aus. Aber die experimentellen Aufführungen zum Beispiel der Bauhausbühne, Piscators Montagetechnik, Brechts Verfremdungseffekte, Artauds Theater der Grausamkeit, um nur wenige zu nennen, legten den Grundstein dafür, dass das Theater sich fortan in der Materialität seines Mediums begreifen konnte. Das neue Selbstbewusstsein des Theaters, sich als Kunst sui generis zu verstehen, ging einher mit Formen der Theatralisierung des Theaters. Theatralisierung meint Verstärkung der Theaterhaftigkeit des Theaters. Dabei wird in größerem theatergeschichtlichen Rahmen betrachtet, eigentlich an die Einheit von Wort und Spiel vor der Literarisierung der Theaterkunst angeknüpft, wie auch an Einflüsse asiatischer Theatertraditionen, die allesamt älter sind als das, was wir heute unter Drama und Theater ver-
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stehen. Selbst der Versuch, das Theater dezidiert politisch zu fundieren, wie ihn Brecht mit seinem epischen Theater unternommen hatte, ging einher mit Techniken der Theatralisierung: Die imaginäre Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, die sogenannte vierte Wand wurde eingerissen. Der Schauspieler stellte sich frontal vor den Zuschauer und sprach ihn an. Songs und Kommentare unterbrachen die Handlung, die Montage wurde zum Stilprinzip erhoben. Nicht mehr die Abbildung organischer Prozesse und Zusammenhänge sollte Ziel der Bühnenkunst sein, sondern das Theater kreierte eine eigene Sphäre, die nicht mehr umstandslos auf die außerästhetische Realität zu beziehen war. Damit erwuchs dem Zuschauer eine neue Herausforderung: „Das naturalistische Theater bildete die sinnlich wahrnehmbare Welt ab und stellte so die Illusion von Wirklichkeit her. Die Zeichen, die es verwendete, waren Nachahmungen von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen: Eine Kücheneinrichtung bedeutete eine Küche, ein auf die Leinwand der Kulissen gemaltes Bild eines Waldes einen Wald, der heftige Gang des Schauspielers A den heftigen Gang einer Rollenfigur R (= ihre Unruhe oder ihren Zorn), sein Seufzer ihren Seufzer (= ihre Trauer), sein abgeschabter Anzug ihren abgeschabten Anzug (= ihre Armut) usw. Die Bildung der theatralischen Zeichen erfolgte also nach dem Kriterium ihrer abbildenden bzw. deskriptiven Leistung. Ihre Kombination wurde durch die Logik des Handlungsverlaufs und die Psychologie der dramatischen Personen geregelt.“ (Fischer-Lichte, 1993, S. 302)
Die naturalistische Form der Verwendung theatralischer Zeichen bietet dem Publikum ein Höchstmaß an Vertrautem. Da die Zuschauer beides genau aus ihrem Alltag kennen: Die Gegenstände, die die theatralischen Zeichen abbilden, ebenso wie die Prinzipien ihrer Kombination, können sie den Zeichen ohne größere Schwierigkeiten Bedeutungen zuordnen. Eben dieses verändert sich im avantgardistischen Theater vollständig. Kurz gesagt: Die theatralischen Zeichen verselbständigen sich ihrem Kontext gegenüber. Jetzt ist der Tisch auf der Bühne nicht mehr unbedingt Zeichen für einen Tisch: er kann jetzt ebenso den Metzgerladen, ein Gebirge wie den familiären Zwangszusammenhang ausdrücken. In Kandinskys Bühnenstück Der gelbe Klang gehen Farbe, Ton und Wort ungewohnte und nie geahnte Verbindungen ein. 1922 zeigt Oscar Schlemmers Triadisches Ballett eine Reihe künstlich hergestellter lebensgroßer Bühnenfiguren, die abstrakten Linien und einer eigenständigen Bewegungschoreografie folgen. Die so geschaffene Kunstsphäre findet in der Wirklichkeit weder Vorbild noch Entsprechung. Der zunehmenden Autonomie der theatralen Zeichen entspricht auf der anderen Seite eine Freisetzung des Zuschauers und seiner Wahrnehmungsaktivität.
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So ist die Entwicklung des modernen Theaters gleichbedeutend mit einer Emanzipation des Zuschauers. Das Theaterpublikum, der Zuschauer, wird in doppelter Weise relevant für die modernen Theaterkonzeptionen. Konnte man in der Antike von einer weitgehenden Einheit der Realitätskreise von Bühne und Publikum ausgehen, die Spieler gehörten derselben Realitätssphäre an wie die Zuschauer, so trennten sich im Laufe der Entwicklung diese beiden Elemente des Theaters immer mehr. Ursprünglich bezeichnet das griechische Wort „theatron“, das die Wurzel unseres Begriffs Theater, aber auch Theorie ausmacht, den Platz, von dem aus das Spektakel verfolgt wird, den Platz der Zuschauer, schließlich sogar die Gesamtheit der Zuschauer. Erst in christlicher Zeit wird unter „theatron“ auch das Spektakel selbst verstanden. (Finter, 1994, S. 186f) Schauplatz ist also sowohl der Platz, „auf“ den geschaut wird, als auch der Platz, „von“ dem aus geschaut wird. Schauplatz, dieser Begriff zeigt an, dass wir es im Theater prinzipiell mit der Aktivität des Publikums zu tun haben. Im naturalistischen Theater, wie es bis heute unser alltägliches Theaterverständnis prägt, spielt sich das Leben auf der Bühne in einer Weise ab, als wenn das Publikum gar nicht existierte. Ziel der naturalistischen Theaterinszenierung war erklärtermaßen, den Zuschauer vergessen zu lassen, dass er im Theater sitzt, und dass alles, was er sieht, sich nur auf einer Bühne und nicht im wirklichen Leben selbst zuträgt. Die Theaterreformer, von denen ich eingangs sprach, gehen den umgekehrten Weg. Mit den Mitteln der direkten Publikumsansprache, aus den sogenannten niederen Formen der Theaterkunst – wie dem Zirkus und dem Kabarett – entlehnt, möchte man dem Zuschauer bewusst machen, dass er im Theater sitzt. Man spricht ihn an, man verlangt sein Urteil. Wie die moderne Malerei nicht mehr verleugnet, dass es sich bei einem Gemälde um Farbe handelt, die auf Leinwand aufgetragen wird, so soll das Theater zeigen: „Hier sind die Schauspieler, die tun so als ob, die spielen die Rollen von A, B, C. Hier ist das Licht, da der Ton, hier das Requisit, hier wird Kunst gemacht und nicht Leben.“ Deswegen stellte auch das asiatische Theater eine so große Inspirationsquelle für fast alle Theaterreformer dar: Das hohe Maß der Zeichenhaftigkeit des asiatischen Theaters bot ein Arsenal von Mitteln, spezifisch eigene Bild- und Bewegungssprachen des Theaters zu kreieren. Mit der Besinnung auf die schöpferische Eigenständigkeit des Theaters, die sich unabhängig vom literarischen Text und vom Drama beweisen kann, ist der Weg bereitet, den Zuschauer in anderer Weise zu fordern, als es im naturalistischen Theater der Fall ist. Er soll sich selbst in seiner Rolle als Zuschauender oder sogar Mitspielender bewusst werden. Wenn die Theaterkunst als schöpferische Kunst definiert wird, gehört der Zuschauer mit seiner produktiven Phantasie zu diesem Schaffensprozess dazu (was bereits Nietzsche, aber umso deutlicher Meyerhold herausgestellt hatte).
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Von nun an eröffnen sich ungeahnte Spielräume für ihn: Sein Blick verliert den eindeutigen Bezugsrahmen, den die traditionelle Guckkastenbühne und die naturalistische Rolleninterpretation des Schauspielers geboten hatten, die Bühne gibt ihm keinen Halt mehr. Auf der anderen Seite ist der Grundstein dafür gelegt, dass der Theaterzuschauer in seiner Vorstellung aus dem Angebot von Raum, Klang, Bewegung, Licht und Linie eigene Bilder komponieren kann, wie es heute in den Inszenierungen Robert Wilsons, Jan Fabres oder den Performances von Laurie Anderson eingelöst wird. Mit der Vorherrschaft der Bühnenillusion fiel neben der Autorität des Dichters, die an den Regisseur überging, auch die der Zentralperspektive. Es gibt nicht mehr den einen, den idealen Standpunkt des Zuschauers, von dem aus ein Schauspiel adäquat wahrzunehmen wäre. Dem Zuschauer wird eine eigene Perspektive, eine subjektive Perspektive zugemutet. Wie angesichts eines kubistischen Bildes muss er auch angesichts avancierter Theaterräume sozusagen Aufbauarbeit leisten. Entscheidend ist nun nicht mehr die Rezeption eines auf der Bühne dargestellten Inhalts, häufig kann man gar nicht beschreiben, worum es überhaupt geht. Wichtig ist aber auch nicht die emotionale Wirkung, wie etwa in den Trauerspielen Lessings, sondern wichtig wird, dass der Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes ins Spiel kommt, zum – allerdings imaginären – Mitspieler wird. Spiel aber ist gekennzeichnet als Übergangsbereich zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Innerem und Äußerem, Subjektivem und Objektivem. Es pendelt zwischen den Realitätsbereichen. (Hentschel, 1988) Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt in der Auseinandersetzung mit den Neuen Medien und ihren Techniken der Simulation und Virtualisierung angelangt. Gerade von den Computersimulationen behauptet man ja, dass sie die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion, zwischen simuliertem und wirklichem Gegenstand einebnen und unser Wirklichkeitsverständnis auf diese Weise praktisch in Frage stellen.
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IST WIRKLICH WIRKLICH ?
Wirklichkeit wurde, wie wir in der Golfkriegsberichterstattung erlebt haben, simuliert und verfälscht. Dokumentarische Bilder sind von den am Rechner erzeugten nicht mehr zu unterscheiden, jeder von uns könnte neben Lady Di an der königlichen Tafel sitzen, sofern er einen entsprechenden Rechner zur Verfügung hätte. Die Bilder täuschen. Aber schwindet damit die Wirklichkeit? Leiden wir unter Wirklichkeitsschwund, wie Jean Baudrillard sagt? Was ist wirklich, was ist
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virtuell? Was real, was simuliert? Die Sache ist nicht so einfach, wie das meistens erscheint. Ein Beispiel: 1. Sie tätigen ein Bankgeschäft vom heimischen PC aus, die Schnittstelle ist als realistischer Schalterraum gestaltet. Vielleicht ist da, obwohl es spät am Abend ist, sogar ihr persönlicher Sachbearbeiter lebensecht zu sehen. 2. Sie besuchen ein Theater: Ein absurdes Stück, lebendige Schauspieler sind auf der Bühne, Bühnentechnik etc. wird eingesetzt. Frage: Welche der beiden Situationen ist real, welche virtuell?1 Dies Beispiel offenbart nicht nur den unklaren Gebrauch des Begriffs Virtualität (dessen steile Karriere eine eigene Begriffsgeschichte wert wäre), sondern zwingt dazu, auch so etwas wie Theater in den Bereich des Virtuellen einzubeziehen. Keine Frage: Beide Situationen sind in unterschiedlicher Weise zugleich real und virtuell. Seit wir Geld benutzen (Karl Marx beschäftigte sich bekanntlich ausführlich damit), aber mehr noch seit wir bargeldlos zahlen und sich unsere Reichtümer nur in Datenbanken und Rechnern befinden, wenn wir sie nicht gerade in Immobilien oder andere sogenannte materielle Werte umgesetzt haben, finden wir nichts daran, Handeln in einem virtuellen Bereich als reales Handeln zu begreifen, ohne Irritation zahlen wir mit unserer Unterschrift. Da alle sich daran gewöhnt haben, das zu tun, sprechen wir von Realität. (Sherman & Judkins, 1995, S. 146f) „Was auch immer wir als real bezeichnen, es ist der Versuch von einem gemeinsamen Weltbild zu sprechen, von gemeinsamen Vorstellungen, wie die Welt beschaffen ist [...]. Unter diesem Aspekt war und ist Realität das, was einfach so ist, wie es ist. Sie ist da und bestimmt mit ihrer nicht wahrgenommenen, doch entstandenen Gegenwärtigkeit unser Leben. Die Realität ist das Übliche, an das man sich so gewöhnt hat, dass man es einfach akzeptiert ...“ (Lischka, 1992, S. 129f)
Wir haben uns daran gewöhnt, die virtuellen Transaktionen an den Bankschaltern und Kassen als reale Handlungen anzusehen, ebenso wie wir daran gewöhnt sind, unsere nächtlichen Träume, unsere Tagträume und erotischen Phantasien
1
Das Beispiel findet sich bei: Jonas, Wolfgang, Dematerialisierung durch Körperorientierung – ein Gedankenexperiment, in: Hochschule für Kunst und Design (Hrsg.): Virtualität kontra Realität, Halle/ Saale 1995, (16. Designwissenschaftliches Kolloquium, Burg Giebichenstein), S. 75.
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nicht als real anzusehen, obschon sie unser Verhalten und unsere Gefühle ja auch beeinflussen und mitbestimmen. Ein wichtiger Aspekt unseres Beispiels besteht aber darin, dass wir es beide Male, am Bildschirm wie im Theater mit lebendigen Personen zu tun haben: Der- oder diejenige, die vor dem Terminal handelt, ist real in einem anderen Raum vorhanden. Nur interessiert dieser Raum außerhalb des Terminals meistens nicht wenn über virtuelle Realitäten und elektronische Datensysteme gesprochen wird. Dann wird dieser lebendige leibhaftige Mensch, nun als bloßer User bezeichnet, vergessen. Es scheint dann so, als würde der Rechner alles tun, als würden Computer für Computer ihre Welten simulieren und konstruieren. Unzweifelhaft verändern die neuen medialen Welten unser Wirklichkeitsverständnis, die Art und Weise, in der wir Realität erleben und definieren. Und zwar, indem der Bereich dessen, was wir unbefragt mit einem Realitätszeichen versehen, erweitert wird (dass auf der anderen Seite unser Vertrauen in die Realität auch schwindet, ist ein anderes Thema). Also: Die Virtualität ist größtenteils gar nicht virtuell. Virtuell bildet nicht den Gegensatz zu real. Die Wirklichkeit des Virtuellen ist etwas Selbstverständliches. Ich komme zu einem beliebten Beispiel: Den Möglichkeiten des Cyberspace. Mittels eines Datenhelms und entsprechender Handschuhe kann ich mich in eine Szenerie hineinbegeben. Ich stehe nicht einem Bildschirmbild gegenüber, sondern befinde mich mittendrin. Im Szenario kann ich mit anderen Personen, virtuellen und real im Raum vorhandenen, interagieren. Ich kann auf diese Weise z.B. in die Welt der Tiefsee eindringen, ich könnte, wie man mir verspricht, die Erfahrung eines Hummers in einem Hummerkörper machen. Wunderbar. Aber kann ich das wirklich? „Um zu erleben, wie das ist, ein Hummer zu sein, müsste ich zuvor aufhören, ein Mensch zu sein, und vergessen, je einer gewesen zu sein. Falls das irgendwie gelänge, die vollständige Illusion zu erzeugen, man hätte einen Hummerkörper, bekäme man ähnliche Probleme wie Gregor Samsa (in Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“) nach seiner Verwandlung. Das sind aber nicht die Probleme, mit denen es ein Hummer zu tun hat. Bestenfalls kann man doch herausfinden, wie es ist, als Mensch, mit seinem menschlichen Körper, scheinbar einen Hummerbewegungsapparat von innen zu bewegen. Auch das sind nicht die Erlebnisse eines Hummers. Also ist das Gerede über unbegrenzte Erlebnismöglichkeiten, beliebigen Identitätswechsel usw. von vornherein als Nonsens einzustufen; diese Arten phantasierter Virtualitäten sind also nicht virtuell, da unmöglich.“ (Noack, 1995, S. 153)
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Was der Autor – ein Kritiker des inflationären Gebrauchs des Wortes Virtualität – hier nicht berücksichtigt, ist, dass es sich doch offenbar darum handelt, Spielerfahrungen zu machen. Das sind Erfahrungen, die nicht in der Realität, aber doch auch nicht in einem gänzlichen undenkbaren Raum stattfinden. Auch jeder Theatermacher würde hier vielleicht Einspruch erheben: In der Theaterkunst ist das Virtuelle, ohne dass er gewohnt wäre, es so zu bezeichnen, gerade sein Terrain. Handelt es sich bei der Theaterkunst doch von ihren Ursprüngen her um Verwandlung. In der rituellen Erfahrung, die dem Theater vorausgeht, wird der Löwendarsteller zum Löwen, indem er für alle sichtbar die Zeichen des Tieres trägt. Über den Grad der Verwandlung gab es im Laufe der Theatergeschichte die verschiedensten Modelle. Von: Er „ist“ der Löwe, über: er „verkörpert“ den Löwen bis hin zu Brechts: er „zeigt“ den Löwen sind alle Positionen im Rahmen der Techniken der schauspielerischen Darstellung ausgebildet und perfektioniert worden. Dem entsprechen jeweils die Rezeptionsformen des Publikums, der Zuschauer. Es existieren hier die entsprechenden Möglichkeiten: Das Publikum wird in seiner Imagination zum Löwen, es identifiziert sich psychologisch. Es wird von der Energie der Verkörperung erfasst und fühlt sich psycho-physisch, mit seiner gesamten Existenz berührt, – das ist die Theaterlinie, die von Artaud her kommt, in die Löwenexistenz ein (was immer das sein mag und was immer wir als Menschen davon verstehen können); oder es sieht zu, wie jemand stellvertretend in die Rolle eines Löwen schlüpft und widmet seine Aufmerksamkeit sowohl dem Rollenträger als auch der Rolle. Oder es wechseln gar, wie in zeitgenössischen Inszenierungen, die verschiedenen Ebenen von Nähe und Distanz einander ab. Und in der Regel glaubt der Zuschauer im Theater, was er sieht, und zugleich „glaubt“ er es nicht. Er weiß, dass alles doch nur Theater ist. Die Angst vor der Verwechslung von Realität und Phantasie, von BühnenWirklichkeit und wirklicher Wirklichkeit, von Fiktion und Realität ist so alt wie die jeweils neuen Medien in den vergangenen Jahrhunderten neu waren. Auch beim Aufkommen der Romanliteratur beispielsweise wurde befürchtet, dass die Leserinnen, die jungen Mädchen und Frauen, nicht unterscheiden könnten zwischen der romanhaften und der wirklichen Welt, ja, dass sie ihre Ansprüche, die sie aus der Literatur gewinnen könnten, nun an die Wirklichkeit stellten, um dann z.B. nicht nur treu sorgende, sondern auch heldenhafte Ehemänner wie etwa den Ritter El Cid zu erwarten.
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Kinder leben ständig in der Dimension der Simulation und Virtualität. Nur nennen wir das traditionellerweise Spiel und Phantasie. Natürlich probieren sie ein Hummer zu sein. Wenn sie dazu Verkleidungen bekommen, umso besser. „Cyberspace, so heißt es, führt ein Element ein, das in der Tat völlig neu ist: Im Cyberspace steht man dem Bild nicht mehr auf Distanz gegenüber, sondern man tritt in es ein und kann sich in der virtuellen Welt des Bildes wie in einer realen bewegen.“ (Welsch, 1995, S. 238f)
Dass das nicht ganz zutrifft, wissen wir inzwischen aus dem Hummerbeispiel. Auch wird in der Literatur darauf verwiesen, dass wir in der virtuellen Welt weder essen noch trinken können. Um unseren Magen zu füllen und nicht nur das Gefühl zu haben, müssen wir irgendwann doch in die Küche gehen. Was aber macht den Unterschied aus? „Aus dem Vor-der-Bildwelt-sein, diesem sehr konventionellen Zug der in anderen Hinsichten so avancierten elektronischen Welten – wird (im Cyberspace I.H.) ein In-der-Bildwelt-sein.“ (Welsch, ebd.) Das Interessante aber, so fährt Welsch fort, sind nicht die – wie wir schon bemerkt haben – beschränkt perfektionierbaren elektronischen Welten, sondern der Bewusstseinseffekt, den solche Simulationen hervorrufen. Man begreift nämlich, oder macht doch zumindest die Erfahrung, dass das Virtuelle auch real sein kann, und damit vielleicht, dass das Reale auch virtuell sein könnte. Damit werden nun Erfahrungen aktualisiert, die in der Literatur und Kunst immer wieder ermöglicht worden sind, angefangen von Calderons „Das Leben ein Traum“ über Borges’ Erzähllabyrinthe bis zu den einfachen Fragen von „Alice im Wunderland“ nach dem „Wer bin ich und wer war ich heute morgen?“ über Piranesis „Carceri“, Gefängnisse, in denen ein Betrachter sich zunehmend verfängt und selbst zum Gefangenen wird, bis zu Eschers konstruierten mehrdimensionalen Bildwelten. Paradoxerweise ist es gerade die neue, für die Künste so verunsichernde Computertechnologie, die der ästhetischen Wahrnehmung ihr Recht widerfahren lässt. Weil sich alles, was sich auf den Bildschirmen abspielt, an den visuellen Sinn und damit an die Vorstellungskraft richtet, wird Wahrnehmung zentral. Durch die Menge der möglichen Simulationen und Konstruktionen verschiebt sich das traditionelle Verhältnis von Realität und Phantasie zugunsten von letzterer. Beides ist aber von je das Terrain der Kunst. So befreit der Computer die Fiktion von ihrer Referenz auf eine Wirklichkeit und erlaubt den Eigenwert des Fiktiven zu erkennen. Kunst unter Computerbedingungen wird als „Inbegriff des Unwahrscheinlichen aufgefasst“. Wie Norbert Bolz, einer der enthusiastischen Vorreiter der neuen Medientechnologien, formuliert: Es zeigt sich, dass der
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Mensch, weit entfernt an die Wirklichkeit gebunden zu sein, „unendlich mehr Möglichkeit als Wirklichkeit“ ist. (Bolz, 1997, S. 31) Eben dies, den Möglichkeitssinn (Musil) des Menschen zu entwickeln, „Schule der Wahrnehmung“, (Kandinsky); Erweiterung der Wahrnehmung zu betreiben, war aber von je ein Anliegen der Kunst. So rücken die digitalen Welten auch den Spielcharakter ästhetischer Erfahrung wieder ins Bewusstsein. Bei Norbert Bolz heißt es, „Kunst unter Computerbedingungen konstruiert ästhetische Labyrinthe, in denen wir uns spielerisch einüben in die Wirklichkeit des Scheins.“ (Bolz, 1997, S. 34) Dass das traditionelle Reich des Scheins, Phantasie, Traum, Spiel und Kunst ebenfalls Bereiche menschlicher Realität ausmachen, ist uns im Zuge der historischen Dominanz materialistisch orientierter Rationalität als Alltagswissen weitgehend verloren gegangen. Die fiktiven Welten, die elektronischen Simulationen der Computer, erinnern uns wieder daran. So bietet sich die Chance, unser utilitaristisch verkürztes Menschenbild zu verändern. So wird durch die computergestützten Technologien und ihre Theoretiker heute der Anteil, den das Spiel an unserer Lebenstätigkeit hat, deutlich. Ohne Spiel – wir rufen es uns selten ins Bewusstsein – wären wir im wahrsten Sinne des Wortes verblödet. Die entwicklungspsychologische Forschung, die heute ein wenig aus der Mode gekommen ist, hat gezeigt, dass uns keine einzige abstrakte geistige Operation möglich ist, ohne dass wir als Kinder den Umweg über die nicht zweckgerichtete Phantasie genommen hätten. Bevor jemand abstrakt „denkt“, d.h. mit Gedanken „spielt“, muss er handgreiflich gespielt haben, mit dem Bettzipfel, dem Finger der Mutter, der Suppe oder den Steinchen im Sand, mit Bauklötzchen oder Powerrangern. Spiel gehört allem Anschein nach zur anthropologischen Ausstattung des Menschen. Erstickt man es, so verunmöglicht man die Entwicklung der psychischen Organisatoren, die für Reifungsprozesse unabdinglich sind. Kreativität ist entwicklungspsychologisch gesehen, kein Zusatz, kein Luxus, der zur normalen psycho-physischen Reifung hinzukommt, sondern ohne den Spielraum kindlichen Phantasiespiels ist selbst ein noch so verknöcherter, unkreativer Erwachsener nicht zu haben. Was für die individuelle Entwicklung gilt, hat eine Entsprechung auch für das Ganze gesellschaftlicher Systeme. Schon Huizinga hat auf den Spielcharakter menschlicher Kultur hingewiesen. Angesichts der neuen Technologie mit den unbegrenzten Möglichkeiten, Welt in den Rechnern zu konstruieren, zu kombinieren, zu erzeugen, drängt sich die Frage auf, ob denn sie es sein sollen, die für unsere Zukunft den gesellschaftlich notwendigen Anteil von „spielerisch erzeugter Symboltätigkeit“ übernehmen sollen.
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Man muss es eingestehen: Die elektronisch erzeugten virtuellen Realitäten bedeuten eine immense Steigerung der Einbildungskraft, der Phantasie und des Spiels, die sich Künstler früherer Zeiten niemals hätten träumen lassen. Spiel und Spielmöglichkeiten nehmen unter elektronischen Bedingungen zu, ohne dass dadurch aber – und das ist wichtig anzumerken – die „Spielräume“ größer würden. Denn: Seltsamerweise scheinen die durch die neuen Technologien gewachsenen Möglichkeiten eines am wenigsten anzuregen: die Fähigkeit zu träumen. So lässt sich sagen, dass die Explosion der Einbildungskraft, die wir heute beobachten können – wie Peter Handke in seinem jüngsten Stück – feststellt „eine ihrer Flügel beraubte Einbildungskraft“ betrifft. (Handke, 1996, S. 39) Die Flügel, das Gefieder sind traditionell die Wesensmerkmale der Seele. Und fragt man, was die Seele sei, so ist die einzig übereinstimmende Antwort, die wir in unserer aufgeklärten Zeit von allen Seiten erhalten, dass es sich – wenn man überhaupt davon sprechen könne – dabei um etwas Lebendiges handeln müsse. Vielleicht sogar, könnte man annehmen, um dasjenige, was das Wesen des Lebendigseins ausmacht. Seelenlos und tot sind ebenso Synonyme wie beseelt und lebendig. In dem Stück Zurüstungen zur Unsterblichkeit von Peter Handke gibt es auch eine Raumverdrängerrotte. Sie scheint so etwas wie eine Vorhut technologischer Entwicklung zu sein. Ihr Ziel: Raumvernichtung. „Und das ist meine Sendung, meine Berufung“, sagt der Häuptling der Raumverdrängerrotte. „Vorzuführen, dass es in Wirklichkeit schon längst keine Räume mehr gibt, nirgends auch nicht hier. Raum: Veraltet; das Wort ,Raum‘ [...] Vorführen: Die Räume hier als Täuschung, Luftspiegelung, Fata Morgana. [...] Vorführen: Wie das Raumsehen und Ausschauhalten das ewige Erwarten und Suchen hervorbringt, welches seit je die Welt zerstört. Weltneuschaffen durch Entzaubern des Raums. Wir, die Helden des Raumschluckens – die Raumsauger, die Aufsauger der gefälschten Zwischenräume. Devise: Nicht Raum, sondern Reiz – Reiz statt Raum!“ (Handke, 1996, S. 46f)
Am Ende des Stückes steht die Rotte als Bedrohung am Horizont, als eine Bedrohung, gegen die das Theater anerzählt (das Stück handelt auch von der Rolle des Theaters), um sie noch ein wenig aufzuschieben, vielleicht. Was bedeutet der Raum? Bei Handke ist die Bühne ein freier Raum im hellen Licht, das Theater selbst als eine Enklave zu verstehen, inmitten einer Welt, die zunehmend verbaut wird, im doppelten Sinne des Wortes, und ihren Bewohnern keinen Raum mehr lässt. Raum wozu?
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„Nur noch Punkte soll es geben, ohne die Kindereien mit Raum und Zwischenraum.“ (Handke, 1996, S. 48) Die Raumverdränger verändern auch die zwischenmenschliche Wahrnehmung: „Die ganze Zeit, sagt Raumverdränger drei, habe ich ihn angeschaut, und jetzt ist keine Spur eines Nachbilds von ihm übrig. Oder tausend Nachbilder, die sich überschneiden. Das nennt man Raumzerstückeln?“ (Handke, 1996, S. 49) Aus der Spielforschung wissen wir, dass eine entscheidende Bedingung für die Entwicklung von Spielfähigkeit darin besteht, dass dem Kinde ein genügender Spielraum geboten wird. Spielraum meint hier wie der Psychoanalytiker Winnicott ausführte, ,potential space‘, das ist eben kein mit Spielzeug gefüllter Raum, sondern ein leerer Raum, der sich mit der Phantasie des Kindes füllen kann, mit dem, was von innen nach außen tritt. Ist der Spielraum schon besetzt, z.B. mit der mütterlichen Phantasie, mit massenmedialen Produkten etc., dann verkümmert die Spielfähigkeit. Die Bedeutung des leeren Raums kennen wir auch auf der Rezeptionstheorie der Literatur und Kunst. Gerade die Leerstellen in einem Text sind es, die die Phantasie des Lesers evozieren; die Aktivität des Rezipienten tritt dort ein, wo Lücken im Text im Ablauf sind. Und damit sind wir bei einer der bekanntesten Definitionen dessen angelangt, was das Theater ist.
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DES
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Was ist wirklich essentiell für einen theatralen Vorgang? Peter Brook fand in seinem legendären Buch „The Empty Space“ die Formel: Ein wie auch immer markierter Raum, ein Schauspieler und jemand, der ihm zuschaut. „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ (Brook, 1975, S. 19)
Dies sind die Grundbedingungen des Mediums Theater. Theater meint immer die dialogische Präsenz mindestens zweier Menschen und einen besonderen, aus den Bezügen des Alltagslebens hervorgehobenen Ort. Ein solcher Raum kann nicht der Bildschirm eines Computerterminals sein. Eine ganze Traditionslinie der Theaterreform seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, von Artaud über Meyerhold bis Grotowski und Peter Brook stützt sich, wie wir gesehen haben, auf die grundlegende Materialität des Mediums. In der Theaterkunst ist das der Mensch selbst in seiner psycho-physischen Leib-
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lichkeit und der kommunikativen Dimension zwischen Schauspieler und Zuschauer. Theater wird als Schöpfungseinheit von Schauspieler und Zuschauer definiert (Meyerhold). Von daher ist das Theater ein zutiefst humanes Medium, das den Menschen selbst zum Mittel und Thema hat. Das ist die anthropologische Basis der Theaterkunst. Sie reicht nicht nur in die Kindheit der Welt zurück, sondern auch in die jedes einzelnen Menschen, der bevor er arbeitete, verständliche Worte sprach und Pixel berechnen konnte, spielte. Gerade weil im Zentrum der Theaterkunst nicht Aluminium, Ton, Stoff, Farbe, Glas oder Beton, sondern der Mensch in seiner Leiblichkeit steht, ist dieses Medium angesichts der technologischen Durchdringung unserer Lebenswelt umso unverzichtbarer. „Theater wirkt der Entmaterialisierung der Zeichen entgegen, die uns die gewalttätigen, modernen Bilderwelten auf Bildschirmen so attraktiv und ungefährlich erscheinen lassen. Das Bildschirmbild kostet uns nichts, weil wir von ihm abgeschirmt sind, das körperliche Theaterbild vermittelt uns zumindest eine Ahnung von der realen Möglichkeit des Schmerzes, die aufgrund der anwesenden Körper im Raum immer gegeben ist. Die Verbindung von Zuschauern und Darstellern ist daher auch eine der Verantwortung.“ (Siegmund, 1996, S. 116)
Auch die Formen der Künstlichkeit des Theaters, die ich anfangs kurz beschrieben habe, gewinnen ihre besondere Wirkung gerade durch den Kontrast zur „lebendigen Leiblichkeit“ des Schauspielers. Eine vom menschlichen Körper dargestellte Maschine bezieht ihre Wirkung beispielsweise aus der Mechanisierung eines gerade nichtmechanischen Körpers. Und noch ein Aspekt ist wichtig: „Für das Theater wesentlich ist sein Charakter als einer Versammlung. Weder die versammelten Museumsbesucher vor einem Bild noch das Publikum eines Films sind in die Situation gebracht, realer Bestandteil der künstlerischen Handlung von Menschen zu sein. Theater als Kunstform und als Verhaltensweise hat im Kern mit dem ZusammenKommen von Theatermachern und Publikum zu tun.“ (Lehmann, 1997, S.7)
Solange ein Bedürfnis nach Versammlung besteht, so fährt der Autor weiter fort, wird auch ein Bedürfnis nach Theater bestehen. Wer erfahren hat, wie ein Publikum eine Inszenierung mittragen oder zerstören kann, wer den Schweiß und Atem einer Menge riecht, spürt und fühlt, wird kaum durch einen Chat im Internet zu befriedigen sein, obwohl er auch nichts dagegen einzuwenden haben muss.
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Es ist der Mensch, der im Theater auf andere Menschen wirkt, und zugleich der Mensch auf der Bühne, der zum „Zeichen“ für einen Menschen wird. Die Theatermetapher von den Brettern, die die Welt bedeuten, muss auf die Selbstdeutung des Menschen bezogen werden. Insofern hat die Theaterkunst vielleicht stärker als andere Künste mit unserer Selbstdarstellung und Selbstinterpretation zu tun. Und diese Dimension des Theaters ist es nicht zuletzt, die Theater gerade für Kinder und Heranwachsende so attraktiv macht. Im Gespräch über die Unterschiede von Fernsehen, Kino und Theater sagt eine Sechsjährige lapidar: „Im Theater sieht man was ,Menschen‘ können.“
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Welche Optionen bleiben dem Theater angesichts der expandierenden Möglichkeiten der neuen Medien? Die Bilder allein sind es ja nach Aussagen von Experten nicht, die das wirklich Neue an den neuen Medien ausmachen, sondern die Möglichkeit, in die virtuellen Realitäten spielerisch einzutreten und darin mitzuspielen. Aber das können wir im Theater ja schon lange, wenn es uns wirklich einen Spielraum eröffnet. Und das Spiel im Theater ist eines, das sich zwischen lebendigen, im Raum präsenten Menschen abspielt. Und es spielt in der Jetztzeit. Die Theaterwissenschaft nennt das die absolute Gegenwärtigkeit des Theaters. Die Zeichen, die es produziert, können nicht vom Schauspieler abgelöst werden, und sie verlangen zugleich den Zuschauer, der sie realisiert. Die Produktion von Zeichen läuft simultan zur Rezeption. Das sichert dem Theater absolute Gegenwärtigkeit. Damit haben wir im Theater vielleicht die Chance, tatsächlich in der Zeit zu sein. Denn so fragt jemand in dem oben genannten Theaterstück: „Wer glaubt denn heute in der richtigen Zeit zu sein – überhaupt in der Zeit zu sein – außer manche Sportler und Sprinter?“ (Handke, 1996, S. 56) Ob das Theater eine Enklave sein muss oder in regem Austausch treten kann mit den elektronischen Welten wird an seiner Lebendigkeit nichts ändern. In jedem Falle wäre anzuwenden, was Oscar Schlemmer angesichts der damaligen Entwicklung zu Mechanisierung und Abstraktion in der Gesellschaft feststellte. „Das Mechanisierbare wird mechanisiert. Resultat: Die Erkenntnis des Unmechanisierbaren.“ (Schlemmer, 1989, S. 145)
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L ITERATUR Bolz, N. (1997). Der Angriff der neuen Medien auf die Kunst. In Ästhetik in der kulturellen Bildung. Kongreßdokumentation Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung. Remscheid. Brock, B. (1996). Urchronische Moderne – Zeitform der Dauer. In H. Klotz (Hrsg.), Die zweite Moderne. München. Brook, P. (1975). Der leere Raum. München. Finter, H. (1994). Audiovision: Zur Dioptrik von Text, Bühne und Zuschauer. In E. Fischer-Lichte et altri (Hrsg.), Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft, Forum Modernes Theater, Schriftenreihe Bd. 15 (S. 183-192). Tübingen: Gunter Narr. Fischer-Lichte, E. (1993). Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen und Basel. Handke, P. (1996). Zurüstungen zur Unsterblichkeit. Frankfurt. Hentschel, I. (1988). Kindertheater. Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel. Jonas, W. (1995). Dematerialisierung durch Körperorientierung – ein Gedankenexperiment. In T. Schwab & H. Oehlke (Hrsg.), Virtualität contra Realität?: 16. Designwissenschaftliches Kolloquium Burg Giebichenstein Hochschule für Kunst und Design Halle/Saale 19. bis 21. Oktober 1995. Halle/Saale: Burg Giebichenstein. Lehmann, H.-T. (1997). Theater und Gedächtnis. In dokumenta x, Beilage zu Theater der Zeit Heft 5 (S. 7). Lischka, G. J. (1992). Zeichen: Realität und Virtualität. In G. J. Lischka, Zeichen der Freiheit (S. 129f). Wabern-Bern. Noack, K.-P. (1995). Die Wirklichkeit des Virtuellen. In Hochschule für Kunst und Design (Hrsg.), Virtualität contra Realität? Schlemmer, O. (1989). Mensch und Kunstfigur. In M. Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert – Programmschriften, Reformmodelle (S. 145). Reinbek bei Hamburg. Sherman, B. & Judkins, P. (1995). Virtual Reality. Cyberspace – Computer kreieren synthetische Welten. München. Siegmund, G. (1996). Theater als Gedächtnis. Tübingen.
Theater in der E-Welt oder der Kampf um die Wirklichkeit
Was ist das für eine Welt, in der wir leben? Wie ist sie beschaffen? Wie können wir sie angemessen beschreiben, darstellen, wie überhaupt verstehen? Diese Fragen werden wir kaum beantworten können, also versuchen wir Begriffe zu finden, z.B. den der E-Welt. E-Welt, das ist die elektronische Welt. Aber ist unsere Welt überhaupt elektronisch bestimmt, und wenn wir dies aus naheliegenden Gründen bejahen wollen – haben wir überhaupt recht damit, die Welt mit den neu gewonnen elektronischen Kommunikationsmedien zu identifizieren? Ist damit das Wesentliche an ihr erfasst? Wie gelangen wir zu Weltbildern? Zu Erkenntnissen über die Beschaffenheit der Welt? Ein Mittel ist von jeher das Theater gewesen: die Bretter, die die Welt bedeuten. Im Theater schaut der Mensch dem Menschen und damit gewissermaßen seiner eigenen Gattung im Prozess ihrer Selbstdarstellung zu. Wie der Mensch sich auf der Bühne seinen Mitmenschen im Publikum präsentiert, das hat etwas zu tun mit der Art und Weise wie er uns und seinesgleichen zum gegenwärtigen Zeitpunkt versteht und interpretiert – denn Theater vollzieht sich immer in der Gegenwart. Auch heute noch fungieren Theaterstücke und die jeweilige Art ihrer Inszenierung als Seismographen für die Gesellschaft, in der das Theater sich abspielt. Welches Verhältnis sie zu den Kindern, den Heranwachsenden hat, lässt sich beispielsweise aus den Inszenierungen für ein junges Kinderpublikum entnehmen. Aber damit will ich mich im Folgenden nicht befassen, sondern mit den Tendenzen, die ich im Theater für Erwachsene erkennen kann, sofern sie etwas zu tun haben mit dem Phänomen, das hier verhandelt wird, der sogenannten EWelt. Ich beginne mit einigen Beobachtungen, die ich während eines anderen Spektakels machen konnte, das wie das Theater versucht, Weltbilder zu liefern, zu er-
162 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN zeugen, zu entziffern, der Weltausstellung Expo 2000 in Hannover. In ihrem Rahmen fand das internationale Theater-Festival „Theaterformen“ statt. Die Weltausstellung, zur Jahrtausendwende auf deutschem Boden veranstaltet, ist als gigantische Ausstellungsmaschinerie durchaus thematisch lesbar. Unabhängig von der Frage, wie zutreffend ihre Präsentationen waren, zeigte sie, wie sich Ausstellungsmacher heute die Darstellung unserer Welt für ein breites, zahlendes, an Unterhaltung interessiertes Publikum denken. Was in den zahllosen Präsentationsformen und Ausstellungskonzeptionen dominierte – und deswegen nehme ich auf die Expo 2000 im Rahmen meines Themas Bezug – waren mediale Bildwelten: in fast jedem Pavillon Videofilme, -installationen, elektronisch erzeugte Bildwelten, Impressionen und vor allem digital aufbereitete Informationen. Das war bei der vorhergehenden Ausstellung 1992 auf der Expo in Sevilla noch die Ausnahme. Dort zeigte man damals vorwiegend Exponate im herkömmlichen Sinne: Gebrauchsgegenstände, Handwerksgeräte, arabische Schriftrollen, Kostüme, Gemälde, Plastiken alter Meister oder zeitgenössischer Künstler. In Hannover im Jahre 2000 dagegen vorwiegend elektronisch aufbereitete Bildwelten. Aber der erste Schein trügt: Die elektronisch erzeugten Bilder stehen nicht für sich. Als ständige Begleiter in den zahlreichen Ausstellungshallen mit ihren überdimensionalen Screens, Leinwänden, Projektionsflächen sind atmosphärische Klänge anzutreffen, überall eindringend elektronisches Rauschen oder bedeutungsvoll tiefgründig wabernde Sphärenklänge, häufig ganz schmucklos einfach: nur Klänge. Warum all dieses Rauschen und Raunen? Sind alle Simulationen, Bilder, Filme, Animationen nicht in der Lage, für sich zu stehen und das Publikum gefangen zu nehmen und den Aufenthalt in den jeweiligen Pavillons zu verlängern? Die Allgegenwärtigkeit der Klanginstallationen kann ich nicht anders verstehen, als dass sie dem Ganzen einen Hauch von Sinnlichkeit, von Erlebnis, von Gegenwärtigkeit geben sollen, der sich anders offensichtlich nicht herstellt. Die Klänge holen den Besucher herein, wollen die Bilder erlebniswirklich werden lassen. Um Erlebniswirklichkeit ging es auch während des Theaterfestivals „Theaterformen“, das als künstlerisch avancierte und anspruchsvolle Veranstaltung während der Expo durchgeführt worden ist. Aber sie ist hier als das gerade Gegenteil in der Wahl der Mittel zu beobachten. Der Trend, der sich seit einiger Zeit im zeitgenössischen Theater als Kontrast zu den elektronischen Unterhaltungsmedien abzeichnet, ist hier exemplarisch gebündelt zu finden. Im Theater geht die Entwicklung weg vom Bild, weg von der Illusion und dem Versuch, ein Publikum in fremde Welten zu versetzen. Das Theater bewegt sich stattdessen in die
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andere Richtung: hin zum Echten, Authentischen, zur Performance, zur Erfahrung aus erster Hand. Dafür sind nicht zuletzt die immer wieder anzutreffenden nackten Körper auf der Bühne ein Indiz. Körperlichkeit, Nacktheit, Kreatürlichkeit auf der einen Seite, auf der anderen Seite anstelle von Rollenspiel und Fiktion die reale Aktion der Schauspieler und der Umgang mit Puppen, Materialien und Artefakten, die die Kreatürlichkeit kontrastieren. Und daneben auch immer wieder: stilles, bilderloses Erzählen. Das Theater, das ja lange Zeit gleichbedeutend war mit der Illusion, dem Bühnenprospekt und seinen bild- und gefühlsreichen Vorstellungswelten, in die ein Publikum entführt wird, verändert seine Rolle. Heute sind es die Bildmedien und vor allem die elektronischen, die die traditionelle Form der Fiktionalisierung und Illusionierung, für die das Theater lange Zeit ein Paradigma gebildet hatte, aufs Perfekteste übernehmen, während sich das Theater gegenwärtig versucht eine eigene Position zu verschaffen. Es stellt heraus, was nicht technologisch verfügbar ist: Kreatürlichkeit, Pre-Expressivity, ganzkörperlichen Ausdruck, direkte Wirkung auf den Zuschauer. Kurz: es verdeutlicht seinen performativen Charakter, das heißt, es präsentiert das, was es wirklich ist, neben dem, was es in Form von Rollenfiktionen vorstellt. Es ist ein Theater, das nicht von anderen fiktiven Vorgängen handelt, sondern das sich im Vollzug der Gegenwart ansiedelt. Wenn Theater in seinem Doppelcharakter von Darstellung und Ereignis, Mimesis und Performanz zu begreifen ist, so überwog in den letzten 300 Jahren Mimesis und Darstellung, während heute von avancierten Theatermachern die Ereignishaftigkeit und der performative Charakter betont werden, wofür ich im Folgenden einige Beispiele geben möchte, verbunden mit dem vorsichtigen Versuch einer Deutung. Allerdings gibt es meines Erachtens eine Grenze der Wirklichkeit auf dem Theater, worauf ich im letzten Teil meines Aufsatzes zu sprechen kommen will. Die prekäre Stellung des Theaters zwischen Phantasie und Realität oder theaterwissenschaftlich formuliert: zwischen Referenz und Performanz, die nicht zuletzt eine anthropologische Dimension aufweist, lässt es problematisch erscheinen, wenn das Theater sich angesichts der Medienkonkurrenz in die Wirklichkeit der Performanz retten will. Gerade für das Kinder- und Jugendtheater, dem ja dieser Band gewidmet ist, wäre eine solche Entwicklung in ihren Konsequenzen zu diskutieren.
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ALS I LLUSIONSRAUM
„Die alte Frage ist, zu was und zu welchem Ende die Bühne wirklich aufhebt. Sie arbeitet mit Schminke und auch sonst überwiegend mit Mitteln und Lichtern, die überlegt vorspiegeln. Die Bühne ist deshalb mehr Schein als jede andere Kunstweise und eben deshalb, weil sie ihren Schein, trotz des abtrennenden Rahmens, erlebniswirklich werden lässt. Das gibt dem Theater zwar seine gleichzeitig entzückende und illusionistische Macht, unterstreicht aber den Schein so stark wie keine einzige reine Kunst.“ (Bloch, 1959, S. 490)
Deswegen mag das Sich-Verstellende der Theaterhelden und Theatermärtyrer denn auch – wie Ernst Bloch weiterhin bemerkt – für einen unfreundlichen Blick als wirkliche Heuchelei erscheinen. Generationen von Schauspielpädagogen, am stärksten sicherlich Stanislawski und nachfolgend Strasberg haben daran gearbeitet, den von Ernst Bloch herausgestellten Scheincharakter des Theaters, das so offensichtlich Gespielte, Täuschende der Veranstaltung zu eliminieren. Sie versuchten, das Theater so lebensecht wie möglich über die Bühne zu bringen und dem Zuschauer jede distanzierend wirkende Störung in der Illusion der Szenerie zu ersparen, so dass eine weitgehende Identifizierung mit den Helden ermöglicht wird. Später hat Brecht, wie man weiß, alle Störungen wieder eingeführt, eben um die Illusion zu zerstören. Wir vergessen allzu leicht, dass es das Theater war, das bevor wir die lebensnahen Techniken von Film, Fernsehen und heute digitalen Bildwelten hatten, das bevorzugte Medium des Scheins und der Phantasie gewesen ist. Schon zu Shakespeares Zeiten konnte es das Globe Theatre, im Vergnügungs-, dem heutigen Rotlichtviertel entsprechend angesiedelt, mit den TVSoaps aufnehmen: jede Woche eine Uraufführung, immer mit obligatorischem Degenkampf und Liebesszenen. Auch Molière produzierte in seiner Lebenszeit mehr oder doch ebenso viele Stücke wie ein heutiger Serienautor beim Fernsehen abliefern muss. In früheren Zeiten war es also das Theater, das in andere Welten entführte wie es heute Fernsehen und Computer tun. Das Ideal einer illusionistischen Inszenierung ist das gelungene Als-ob. Im Idealfall wird der Zuschauer vergessen, dass er sich in einem Theater befindet. Erst wenn am Ende der Vorstellung das Licht wieder angeht, wird er aus der Illusion wie aus einem Traum erwachen und voller Bewunderung dem Zauberwerk von Regie- und Schauspielkunst applaudieren. Die ideale Bühne ist in dieser – uns bis heute im Westen vertrautesten Form des Theaters – eigentlich die innere Bühne des Zuschauers. Auf ihr spielt sich alles ab, als wenn es keine Trennung zwischen innen und außen, Darsteller und
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Zuschauer gäbe. Zu ihr gehört die traditionelle Höherbewertung des Literarischen im Vergleich zum Theatralischen im abendländischen Theater. Denn das Wort ist es, das die Vorstellungskraft entzünden kann, das die Innerlichkeit der Rezeption befördert, anders als die krude Äußerlichkeit, das Gespielte und Durchschaubare zum Beispiel einer Komödie. Damals, das müssen wir uns in mediengeschichtlicher Sicht klarmachen, war es das Theater, vor dem die Kulturkritiker warnten, weil es dazu verführen würde, neben dem zweckmäßig gerichteten Leben in Beruf, Familie und Alltag noch andere – heute würde man sagen – Parallelwelten zu etablieren, von denen man nicht wusste, wie verderblich sie sich letztlich auf die Menschen auswirken würden. Man lese nur einmal Rousseaus Kampfschrift gegen die Einführung eines Theaters in der Stadt Genf, die sogar medizinökologische Probleme streift, wie der Aufenthalt in den dunklen stickigen Räumen, der die Menschen davon abhalten würde sich in frischer Luft geselligeren Aktivitäten hinzugeben: nämlich selbst zusammen zu spielen, zu tanzen, zu singen. (Rousseau, 1988) Die Phantasie, die das Theater dagegen im dunklen Raum beim Einzelnen entfesselt, erscheint als etwas höchst Suspektes und Schädliches. So verloren wie der Internet-Surfer in der Isolation seiner Bude, so verloren und gefährdet wirken in Rousseaus Schilderung die Theaterbesucher in den dunklen schwülen Räumen der Phantasie und der künstlich erzeugten, falschen Leidenschaften.
S CHLUSS
MIT DER I LLUSION
Zur Jahrtausendwende sind wir an einem Punkt angelangt, wo das Theater selbst im Begriff ist, weitgehend Schluss zu machen mit der Illusionsmaschinerie. Theater im Zeitalter der elektronischen Medien stellt die Frage nach der Realität anders als in vorherigen Zeiten. Die Realität ist nichts Feststehendes, das war sie noch niemals. Aber im Zeitalter der Simulationen und technisch erzeugbaren virtuellen Welten steht sie umso mehr in Frage als etwas, das nach Vergewisserung verlangt, tastender Annäherung, Suchbewegungen. Ein Beispiel für diese vorsichtige Suche mag Marc von Hennings Theatre Dream der Gruppe Primitive Science (UA 1998) geben. „Der Engländer Marc von Henning versetzt die Zuschauer mit einem rätselhaften Text in eine Art Wachschlaf. Nein, Zuhörer sind es, denn der Raum ist stockfinster. Wie halbblinde sind sie hereingeführt worden, immer zu dritt. Finsternis schärft die Sinne. Die Stimme geht nach links, die Schritte nach rechts, was soll das? Wer atmet da dicht neben mir? Was rieselt mir da auf den Kopf? Welcher Untyp riecht hier nach Kernseife? – oder
166 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN ist dieses Hörspiel auch ein Riechspiel? Das ist eher ein Stück sinnlicher Selbsterfahrung als Theater...“, konstatiert ein Kritiker. (Neue Presse Hannover vom 9.6.2000)
Der Zuschauer ist nicht länger ein Zuseher, er ist mitten drin in einem Geschehen, das er nicht überblicken kann, das ihm jede Perspektive verweigert. Damit ist auf drastische und sicherlich streitenswerte Weise ein Kontrast zur allgegenwärtigen Springflut der Bilder in der Welt außerhalb des Theaters geschaffen. In der „Welt“ vom 9. Juni heißt es fasziniert: „In Theatre Dream aktiviert die Abwesenheit von Bildern einen irritierenden Resonanzraum der Vorstellungskräfte. Irritierend deshalb, weil die Vision des Träumers mit konkreten Handlungsanweisungen, die das Publikum zum Mitspieler machen, und spürbaren Sinnesreizen raffiniert gemixt ist. [...] Ein höchst willkommenes Bei-Spiel für die Funktionsweise von Theater im Medienoverkill: Gutes Theater findet immer im Kopf statt. Es schreibt keine Bilder vor, sondern es setzt Bilder frei.“ (Die Welt vom 9. Juni 2000)
Bildverweigerung als Verweis auf die Eigenart des Mediums Theater, das seine illusionierende Kraft nur entfalten kann auf der Grundlage der kooperierenden Einbildungskraft der Zuschauer. Aber hier wird noch mehr vom Zuschauer verlangt; er soll zum Mitspieler werden, zum Spielpartner eines Spiels, das er nicht kontrollieren kann, dessen Regeln er nicht kennt. Ebendies aber ist ein Indiz für Wirklichkeit. Sie vollzieht sich, ob wir wollen oder nicht. Sie affiziert uns mit ihren Reizen. Keine Bilder mehr, aber die Dunkelheit greifbar und wirklich da. In der Allgegenwart der Bilder, umgeben vom schönen Schein der Werbungs-, Waren- und Medienwelten entsteht heute offenbar die Sehnsucht nach einer „wirklichen Wirklichkeit“. Die Reality-Shows des Fernsehens bis hin zu den sogenannten Doku-Soaps zeugen tagtäglich von diesem Bedürfnis nach dem Live-Event. Dem trägt auch die zeitgenössische Kunst derzeit Rechnung. In seinem theaterkritischen Stück Das schlechteste Theaterstück der Welt thematisiert John von Düffel das Bedürfnis nach Reality mit dem Unvermögen des Theaters, dieses Ziel einzulösen: „Regisseur [...] was erwarten wir vom Theater – wenn nicht – und das sage ich jetzt als Regisseur – die Eliminierung des gemachten am Theatermachen.“ (Düffel, 1995, S. 51) Der Regisseur ist mit seinem Stab in eine Kneipe geraten, wo die Premierenfeier abgehalten werden soll. Während zwei besoffene Bundeswehrsoldaten die Regieassistentin anbaggern, schwärmt der Regisseur, der das Ganze offenbar für eine spontane Inszenierung hält:
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„Ist das nicht wunderbar – das wirkliche Leben – da denkt man monatelang über Realität nach und dann begegnet sie einem – das Nicht-Auszumalende – das Nicht-Nachahmbare – das Nicht-Darzustellende – unverhofft.“ (Düffel, 1995, S. 50)
Während einer der Bundeswehrsoldaten die Regieassistentin vergewaltigt, sinniert der Regisseur weiter: „Es hat schon eine Qualität – eine Live-Qualität – das Theater nennt sich ja immer gerne live – Schiller live – Lessing live – alles live – aber es hat keine Live- Qualität – es ist nur als ob – als-ob-live – unter Live-Qualität verstehe ich die Fähigkeit eines Verkehrsunfalls – die Fähigkeit – einen Zehn-Kilometer-Stau auf der Gegenfahrbahn zu verursachen – eine Fähigkeit, die ich Schiller abspreche – die eine Schlägerei in der Fußgängerzone wiederum hat – das spontane Erzeugen von Zuschauern – der direkte Appell an die Schaulust der Leute – was dem Theater gänzlich verloren gegangen ist – leider Gottes.“ (Düffel, 1995, S. 51)
Ja, welcher Theatermann oder welche Theaterfrau wünschen sich das heute nicht: die durchschlagende Kraft des Authentischen zu erreichen? Aber wie viel Leben verträgt die Kunst? Und vor allem: wie viel Realität die Theaterkunst? Was Düffel hier so komisch in Szene setzt, berührt das Grundproblem des Theaters und seine immerwährende Herausforderung. Dieses Grundproblem ist das Spannungsverhältnis zwischen der Lebensrealität des Zuschauers und der ästhetischen Realität des Schauspiels. Dabei ist eine der Grundfragen der Spezifität des Mediums Theater – die Shakespeare schon seinen Hamlet stellen ließ – bis heute nicht erschöpfend beantwortet: Wie kann es sein, dass vollständig fiktive Schicksale, artifiziell gestaltete Rollen, kurz: etwas Unwirkliches im Theaterzuschauer völlig reale Reaktionen erzeugen kann, wie Tränen, Schmerz, Empörung und Wut, Verzweiflung und Lachen, die in so vielen Dokumenten und Berichten der Theatergeschichte überliefert sind? Dass reale Ereignisse heftige Emotionen auslösen, ist naheliegend, dass dies aber auch gespielte und fiktive Vorgänge können, trägt zur Faszination der Theaterkunst bei. Angesichts der medialen Überflutung mit Fiktion in allen möglichen Formen hat sich heute die Bereitschaft, sich davon berühren zu lassen, merklich reduziert. Oder man kann es auch anders ausdrücken: Die allgemeine Kompetenz im Umgang mit fiktionalen Bildwelten ist deutlich gewachsen, vergleichen wir sie etwa mit Lessings Zeiten oder auch nur dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Wir glauben immer weniger, was wir sehen. Historisch betrachtet war es die Kunst, die
168 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN den Weg zur Virtualisierung der Realität gebahnt hat, nun ist sie es, die den Weg zur Realität einschlägt. (Spaemann, 2000)
R EAL B ODIES IN E CHTZEIT
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R EAL T IME –
ECHTE
K ÖRPER
Das Werk von Jan Fabre ist hervorragend geeignet als Beispiel um die Entwicklung hin zum performativen Charakter des Theaters zu beschreiben. Seine Produktion As long as the world needs a warriors soul lässt sich als eine theatrale Gegenbewegung zur Welt der elektronischen Bilderzeugung schildern. Lange bevor die Beschäftigung mit dem Real-Life-Theatre und dem Körper fashionable wurde, hatte Jan Fabre mit seiner radikalen Erforschung des Körpers auf der Bühne begonnen. Im Schnittfeld von Tanz und bildender Kunst entwirft er ein Szenario, das dem Zuschauer in seiner radikalen Formgebung bisweilen bedrückend nahe kommt. Und damit steht er immer weniger allein. Real bodies in real time: Der Kampf um die Wirklichkeit. Dieses Motto gilt nicht nur für das hier angeführte Beispiel, sondern lässt sich ausdehnen auf viele Stücke und Produktionen, die wir seit Ende der 90er Jahre auf den zeitgenössischen Bühnen beobachten können. Immer wieder und überall: Nackte Körper, harter sozialer Realismus wie in der begeistert aufgenommen neuen englischen Dramatik, sex and crime, wofür die Stücke von Marc Ravenhill, Shoppen und Ficken oder die Dramatik von Sarah Kane stehen. Es handelt sich meiner Ansicht nach darum, angesichts des viel beschworenen Verlusts von Wirklichkeit in den medialen Erlebnis- und Bilderfluten, den Versuch zu unternehmen das Medium Theater in der Realität zu erden. Denn die Neuen Medien bedeuten zunächst eines: eine unglaubliche Steigerung der Bedeutung des visuellen Sinns und damit zusammenhängend, der Vorstellungsund Einbildungskraft. So verstärken die digitalen Welten – häufig ohne es zu wissen – auch den Spielcharakter ästhetischer Wahrnehmung und vermögen herzustellen, wovon viele Künstler der klassischen Avantgarde zu ihrer Zeit nur träumen konnten. Deswegen kann man davon sprechen, dass die Künste den Weg zur zunehmenden Virtualisierung der Realität gebahnt haben. Der Medientheoretiker Norbert Bolz formuliert: „Kunst unter Computerbedingungen konstruiert ,ästhetische Labyrinthe‘, in denen wir uns spielerisch einüben in die Wirklichkeit des Scheins.“ (Bolz, 1997, S. 34) Die Wirklichkeit des Scheins weist darauf hin wie stark die elektronisch erzeugten Bilder und Wahrnehmungen Teil unserer unbe-
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fragten Alltagswelt geworden sind. Der Schein steht nicht mehr der Wirklichkeit gegenüber, sondern wird in Form von Werbung und Medienwelten zunehmend ihr Bestandteil. Dabei tendieren die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Phantasie, Original und Fälschung, Virtualität und Realität dazu, sich zu verwischen. (Hentschel, 1999) Das zeigte Jan Fabre 1998 in Glowing Icons, einer Inszenierung, die es erlaubte, anhand von Popikonen, die Gegensätze von real und virtuell, von Simulation und Realität auflösen, und zwar sowohl von der Form als auch vom Inhalt der Inszenierung her. Ununterscheidbar werden die öffentlich präsentierten Popikonen von ihren Trägern. Gibt es eine wirkliche Madonna hinter dem medial inszenierten Popstar? Sein und Schein sind im Showbusiness untrennbar verwoben. Hinter den Bildern gibt es keine Wirklichkeit, das Bild ist das Bild und es ist wahr, oder wie Jan Fabre es im Titel eines Stücks ausdrückt: Fälschung wie sie ist unverfälscht. Als komplettes Gegenprogramm zu dieser Inszenierung, die quasi wie eine Illustration von Jean Baudrillards in den 80er Jahren begeistert rezipierten Thesen zur Agonie des Realen (1978) zu lesen war, zeigte er auf der Expo 2000, einen Exzess an Realität, der viele Zuschauer dazu brachte, das Theater zu verlassen. Hier gab es keine glanzvolle Oberfläche, keinen Schein, der zum Sein mutierte, hier gab es 90 Flaschen Heinz-Tomatenketchup, unzählige Gläser voller Schokoladencreme, 15 Kilo weißes Mehl, 100 Becher Joghurt, 50 x 6 Eier und nicht zuletzt 35 Pakete Butter, wie ein Kritiker penibel aufzählt. Ob die Mengenangaben stimmen, kann ich nicht überprüfen. In jedem Falle wurde geschmiert und gematscht in Jan Fabres Produktion mit dem Titel As Long as The World Needs a Warriors Soul. 12 Schauspieler, Tänzer, Musiker zeigten sich nackt auf der Bühne, schmierten ihre Körper ein, erst braun, dann weiß, dann rot und die Eier erzeugten das Glibbern beim Gebären eines Kindes und das spritzende Sperma eines Mannes. Dazu wirklich harte raue Rockmusik wie aus den 70er Jahren. Diese Musik ist dirty – und vital wie der legendäre Rocksänger Meat Loaf. Wir spüren daran, wie clean unsere derzeitige Musik ist, unsere Mode, unsere Art zu leben. Dabei ist es doch so, wie Fabre in einem Interview sagt: „Wir leben in einer Diktatur der Sauberkeit. Jedes Kind will den Finger in Marmelade tauchen.“ Also ein „schmutziges“ Stück. „Ja“, lacht Fabre, „aber im Dienst der Schönheit.“ (Bild Zeitung vom 14. Juli 2000, S. 7)
Auch der Massenmörder Haarmann tritt auf mit seinem Hackebeilchen, mit dem er hier nicht Menschen sondern übergroße Barbiepuppen massakriert. Die Bühne
170 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN ist als Kontrast zu den lebendigen Körpern voller Puppen, die das Schönheitsideal unserer Zeit verkörpern, den durch die Medien vorgegebenen Habitus. Hermetische Oberflächen, undurchdringlich für die Regungen der Seele. Heulend beklagt sich eine Schauspielerin, dass ihre Mutter ihr nicht die Brüste und die Taille von Barbie mitgegeben hat, obwohl sie es doch versprochen habe – und auch kein Paillettenkleid! Artefakte haben die Vorbildfunktion der älteren Generationen abgelöst. Fabre desavouiert den Schein der Perfektion und zeigt Menschlichkeit als Verletzlichkeit. „Am I beautiful?“, lächelt eine Tänzerin ins Publikum. Ja, sie ist es! um dann ihr Kleid zu heben und die rot beschmierten Schenkel zu entblößen: Und dann dies, heult, sie jeden Monat dieses Blut!!! Hier können wir real bodies in real time beobachten: das Prinzip der Performance, dass das, was geschieht, auch den Inhalt der Darstellung ausmacht. Anders als in der herkömmlichen Rolleninterpretation des magischen Als-ob der Verwandlung. Hier agiert niemand als ob. Die Beschmutzung ist da. Die Schauspieler agieren in Echtzeit. Sie spielen nichts vor, die Puppen werden wirklich zerstört. Zugleich gibt es eine Ebene der Repräsentation, der Darstellung, der Bedeutung. Zur Handlung wird ein Text Dario Fos und Franca Rames verlesen, der in Monologform Ulrike Meinhof in den Mund gelegt ist, zur Zeit ihrer Isolationshaft in Stuttgart-Stammheim. Ihr Protest gegen die oberflächliche, gesäuberte Gesellschaft der BRD wird formuliert, die für sie selbst mörderisch geworden ist. Isolationsfolter ist Folter durch Entzug von dem, was das Leben lebendig macht: Dunkelheit, Dreck, Unvorhergesehenes, Kommunikation.
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Um die Eliminierung des Unberechenbaren geht es auch in einer anderen Inszenierung. Gesäubert heißt das Stück der Engländerin Sarah Kane, das in der Inszenierung Martin Kusejs Furore machte. Gesäubert werden hier Menschen von ihren irrationalen Leidenschaften. Demjenigen, der seinen Geliebten nicht lassen kann, werden mit der Kettensäge erst die Hände, dann die Füße abgetrennt, ein Fixer lässt sich den goldenen Schuss in den Augapfel setzen, eine Frau verliert die Zunge, dann ihre Brüste. Die Autorin selbst nahm sich das Leben. Gewalt als eine Form von Erlösung. Wir leiden nicht an materiellen Dingen, nicht an dem, was wir mit Händen greifen können, sondern an unser Seele oder an einer Form von Unwirklichkeit, in der wir uns verloren fühlen, wenn uns nicht jemand schüttelt und in die Wirklichkeit wirft. Der Dreck ist wirklich, der Schmerz ist wirklich.
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Fäkal, so konnte man schon an den Stücken Werner Schwabs in den 90er Jahren merken, ist gleichbedeutend mit real. Auch dieser Autor nahm ein frühes Ende, soff sich zu Tode. Niemals kann Scheiße auf einem Bildschirm so stinken wie in Wirklichkeit und im Theater kann sie uns schon ganz schön nahe kommen. Wirklich ist, was unentrinnbar ist. Aber es gibt genau genommen kein Kriterium für Wirklichkeit. Wirklichkeit ist – wie der Philosoph Robert Spaemann ausführt – keine Eigenschaft. Deswegen ortet man sie häufig als eine Art von Widerstandserfahrung. Das Wirkliche mache sich für uns, so Max Scheler, durch Widerständigkeit bemerkbar. (Spaemann, 2000) Die Unterscheidungsfähigkeit von Subjekt und Objekt, Realität und Phantasie ist psychologisch betrachtet gebunden an Grenzerfahrungen. Da, wo sich eine Außenwelt nicht den Wünschen fügt, beginnt der Mensch die Realität als von ihm unabhängige, eigenständige wahrzunehmen. Insofern ist Selbstverlust meistens gebunden an eine Überflutung des Bewusstseins von imaginären Bildwelten und Phantasien, wie wir es aus Wahnvorstellungen kennen. Die Allgegenwart der digitalen Medien, der rundum verfügbaren Bildwelten, erschwert eine Realitätskonfrontation, wie sie in einer Umwelt stattfinden kann, in der ich mich leiblich bewege – beispielsweise im Spiel und im Sport. Ein sehr interessantes Beispiel für diesen Realitätsverlust gibt Falk Richters Stück Gott ist ein DJ, in dem nicht zufällig auch die Gewaltthematik eine große Rolle spielt. Er und Sie leben in einem elektronisch voll verkabelten Raum, dem Nachbau ihrer Einzimmerwohnung in einer Kunsthalle. Alles, was sie tun, wird direkt ins Internet eingespeist. Daneben haben sie noch die Möglichkeit, selbst Videobilder aufzunehmen, die im Kunstmuseum gezeigt werden, einige davon können sie wahlweise auf ihren eigenen Großmonitor projizieren (oder sich sogar die Zuschauer anschauen.) Die beiden sind Experten der Selbstdarstellung, Selbstdokumentation und Medienkommunikation. Ihr Leben gerät ihnen zu einer ständigen Performance. Sie war früher Fernsehmoderatorin, bis zu ihrem Crash. Drei Monate lang hatte Sie eine eigene Sendung, in der sie vor laufenden Kameras ununterbrochen reden musste, alles was ihr einfiel. Autistisch im Studio isoliert, redete Sie drei Monate lang täglich fünf Stunden vor sich hin, alles und jedes, was ihr in den Sinn kam (die Idee könnte von André Breton stammen).
172 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN „Sie: (man)...und redet und redet und redet, dann fühlt man, wie einen die eigene Energie allmählich verläßt, wie man selbst aus sich selbst herausfließt, leise, hört sich mitsprechen, denkt: ,Hab ich das jetzt eigentlich erlebt oder gehört oder gedacht oder gefühlt oder gesehen oder geträumt‘.“ (Richter, 1999, S. 65)
Die Sprache hört auf eine Brücke zwischen innen und außen zu sein, repräsentiert nichts mehr als sich selbst, ein Reden, das aus dem Dialog mit den anderen, den Sprache immer beinhaltet, herausgefallen ist, eine Sprache, die nicht mehr anspricht, sondern in der sich jemand verliert. Der Crash kam, als sie plötzlich einen Menschen im Studio entdeckte, den Techniker, der die Musikvideos offenbar wegen einer Computerstörung von Hand einfahren musste. „Es war das erste Mal seit drei Monaten, dass mir plötzlich ein echter Mensch beim Reden zuschaute.....plötzlich riss der Faden, ich konnte nichts mehr sagen....die Kameras liefen weiter.....wie ich einfach immer wieder versuchte was zu sagen, meine Stimme, ich höre ja selbst alles während ich es sage...und als Echo eine Zehntelsekunde, nachdem ich es gesagt habe...und dabei sehe ich überall immerzu mich...alle diese kleinen Splitter rasen wild umher und finden sich plötzlich für Sekunden zu etwas zusammen, das sichtbar wird und wieder verschwindet.“ (Richter, 1999, S. 65)
Die räumliche, nicht die telematische Präsenz des anderen (nur durch eine Glasscheibe getrennt im wirklichen Raum des Studios), lässt die Frau ihre eigene Präsenz erleben, die sich hier als ein Verstummen, ein Jenseits der Sprache zeigt. Auf eben jenen medial beeinflussten Realitätsverlust, der ein Mangel an realer Interaktion und Kommunikation in einem physikalischen Raum darstellt, reagieren die Theaterproduktionen, von denen ich hier berichte. Sie bieten statt sprachlicher Fiktionen reale Handlungen in einem Raum, der nichts anderes ist als er selbst. Sie rücken die Performanz in den Vordergrund.
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T HEATER ?
Die wesentlichen Gesichtspunkte betonter Performanz, die sich auch an Jan Fabres Produktion aufzählen lassen, sind die folgenden: • Alles vollzieht sich in Realzeit, es wird keine andere Zeit auf der Bühne ge-
spielt oder bedeutet als real-time;
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• der Performance-Aspekt ist: Was geschieht, geschieht wirklich; • der Bühnenraum ist der funktionale Bühnenraum und nichts anderes, kein • • •
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Schloss in Helsingör und keine Zelle im Gefängnis; insofern gibt es keine Fiktion; die Akteure handeln nicht als Rollenfiguren, sondern als Schauspieler, Tänzer, Musiker; deswegen treten die Körper als Körper so stark in den Vordergrund (sie sind nicht Grundlage einer Rolle), sondern – wenn nicht mit der Privatperson des Schauspielers, Tänzers identifiziert – sind sie in ihrer Materialität auf der Bühne präsent; dieses Theater will nicht Realität nachahmen, erzählen, abbilden, sondern es kreiert eine eigene Sphäre; von daher erklärt sich die Neigung zur extremen Aktion, zum HappeningCharakter.
Inhaltlich steht hinter diesen Formgebungen des Theaters die Überzeugung, dass die Wirklichkeit der Welt, ihre Wahrheit gar nicht zu fixieren sei. Die Bühne ist kein Spiegel, sondern ein Feld der Suche, der Projektion, der Möglichkeit und der Ehrlichkeit: Hier ist nicht der Schein, das So-zu-tun-als-ob, das Schmierige, Unvollkommene des Mediums Theater, das ich eingangs mit Ernst Blochs Worten wiedergegeben habe. Hier könnte man programmatisch den schönen Titel von Saburo Teshigawaras Tanztheaterstück anführen: I was real – documents. In dieser Hinsicht betrachtet, ist die Entwicklung hin zur Performance und zum realen Ereignis im Theater zumindest zweischneidig. Einerseits wird ein Bedürfnis befriedigt, das sich dem zunehmenden medialen Wirklichkeitsverlust verdankt und auch das Bedürfnis nach dem immer härteren Spektakulären bedient, das John von Düffels Das schlechteste Theaterstück der Welt so schön auf die Schippe nimmt, und andererseits gehört die Entwicklung hin zum Performativen in der Theaterkunst zu einer Strömung, die sich auch in den anderen Künsten bemerkbar macht. In einer immer virtueller werdenden Welt ist es die Kunst, die einstmals den Weg zur Virtualisierung der Realität gebahnt hat, die jetzt als erste, das auf diesem Weg verlorene, die Wirklichkeit zu erinnern beginnt. „In einer immer mehr den Schein kultivierenden Welt übernimmt die Kunst in Umkehrung des traditionellen Verhältnisses die Rolle der Repräsentation der Wirklichkeit, des Seins, das sich in die Unsichtbarkeit zurückgezogen hat.“ (Spaemann, 2000, S. 18)
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Z WISCHEN R EPRÄSENTATION UND E REIGNIS , D ARSTELLUNG UND V OLLZUG Während die traditionelle Fiktion, die Phantasie und die geschlossenen Bilder von Welten und Ereignissen in die neuen Medien abgewandert sind, entwickelt das Theater zunehmend Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit, die dem Medium eingeschrieben ist. Das ist sicherlich neu in der Fülle, die wir heute beobachten können, allerdings wird dadurch das Medium Theater nicht umdefiniert. Das Interessante dabei ist, dass die Ereignishaftigkeit des Theaters, die heute so in den Vordergrund treten will, auch im herkömmlichen Illusionstheater immer schon anwesend war, dort aber eben als Störenfried beseitigt werden sollte, während man sie heute willkommen heißt. Wenn wir die Struktur des Theaters betrachten, so liegt seine Besonderheit im Zusammenspiel von Publikum und Zuschauer, in der Präsenz und Mitwirkung des Rezipienten, und zwar im gleichen Raum, zur gleichen Zeit. Das fand immer statt, auch wenn auf der Bühne fiktive Räume und Zeiten gespielt worden sind. Lessings Zuschauer weinten wirklich, auch wenn das gespielte Schicksal Emilia Galottis der Anlass war. Die Tränen waren nicht fiktiv, ebenso wenig wie die Intensität, die vom Spiel der Schauspieler ausging, oder die Intensität, die auch ausbleiben konnte, und nicht zu Rührung, sondern zu Hohn und Spott führen konnte. Neben dem, was Theater darstellte, war es zugleich in seinem Vollzug ein Ereignis. Das ist es, was man inzwischen den Performanzcharakter von Theater nennt. In ihm leben gewissermaßen die kultischen Wurzeln des Theaters fort, aus denen heraus es sich emanzipiert hat, von denen es sich aber nicht vollständig befreien konnte. (Greiner, 1992) Im Theater ist der Zuschauer nicht abgeschirmt von den Vorgängen auf der Bühne. Er ist ihr leibhaftiger Zeuge. Der Zuschauer sieht nicht nur, was auf der Bühne vor sich geht, sondern zugleich geschieht etwas mit ihm. Insofern ist der in die Doppelung von Zuschauer und Schauspieler oder Bühne und Zuschauerraum geteilte Raum die Entsprechung dessen, was man geteilte Erfahrung nennen kann. Deswegen gibt es angesichts des Theaters so heftige Proteste und Konflikte, die ein Film niemals auslöst. Angesichts des geteilten Raums ist der Zuschauer im Theater immer tendenziell einbezogen, angesprochen und von daher mitverantwortlich: Es geschieht etwas mit ihm und zwar live. Mindestens ist er Zeuge. Theater erfüllt immer eine referentielle und zugleich eine performative Funktion. Einerseits ist es Darstellung von Handlungen, Beziehungen, Situatio-
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nen usw., andererseits ist es selbst ein Vollzug, eine bestimmte Relation zwischen Zuschauern und Bühne. Das Living-Theatre hatte bereits in den 60er Jahren mit dem Vietnamstück The Brig dem Publikum nicht nur gezeigt, was es heißt, Tag für Tag als Rekrut der Wiederholung von Ritualen der Gewalt ausgesetzt zu sein, es hatte das Publikum durch die Monotonie der Aufführung selbst der Erfahrung dieser Monotonie und Gewalttätigkeit unterworfen. Ein solches Theater verlagert sich vom Zeigen auf der Bühne weg zum Erleben im Zuschauer. Diese performative Seite des Theaters wird heute zunehmend in der Auslotung der Grenzbereiche entdeckt, da wo das Theater sich dem Tanz, der bildenden Kunst, der Performance und dem Ritual annähert. Eben der Performanzcharakter geht aber den neuen elektronischen Medien als prozessierende Speicher von Repräsentationen weitgehend ab. Natürlich können sich hier auch Ereignisse abspielen, zum Beispiel wenn wir ein computeranimiertes Spiel spielen. Aber alles bleibt hier auf der Ebene eines fiktiven Gegenübers und Mitspielers. Wir haben es nicht leibhaftig mit anderen Menschen zu tun, nicht mit ihren Körpern, sind nicht im gleichen Raum und Rhythmus mit ihnen. Das was ich eingangs von Marc von Hennings Inszenierung im Dunkeln beschrieb, die physische Präsenz der anderen, ist nicht vorhanden, wir finden sie jedenfalls nicht im gleichen Raum, sie ist telematisch. Es sieht heute danach aus, als würden mit den immensen Möglichkeiten der Neuen Medien auch die Qualitäten verlockend, die ihnen fehlen. So weckt die elektronische Omnipräsenz die Sehnsucht nach der unwiederholbaren Präsenz des hic et nunc, nach dem singulären Ereignis (Welsch, 1995, S. 232), das uns die Werbewelt denn auch permanent verspricht, ohne es je halten zu können. Diesem Befund entspricht die neue britische Dramatik mit ihren harten Fakten von Drogen, Gewalt, Sex and Crime, dem Verlust innerer Motive: Wo die Einbildungskraft sich nur in der Zeit, nicht im Raum entfalten kann, sucht sie neuen Spielraum zu gewinnen, indem sie die Bilderflut aufbricht: den verlorenen Dialog zwischen Ich und Du mit Gewalt auf der Ebene der Physis etabliert. Die Erdung des Mediums in der Materialität. Fäkal ist zumindest real. Das ist doch etwas, woran wir uns heute halten können.
D IE
NOTWENDIGE
F IKTION
Auf der anderen Seite aber funktioniert Realität eben gerade nicht im Medium des Theaters. Die Wirklichkeit hat eine Grenze im Theater, genauso wie die Imagination. Es kann im Theater nicht dauerhaft gestorben werden, es kann kein Bild still gestellt, Kommunikation nicht vollständig aufgekündigt werden. Der
176 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN leidende Schauspieler leidet nicht wirklich, auch wenn er seinen Körper in eine Extremposition bringt, sterben kann er nicht wirklich. Fiktionalisierung ist unvermeidbar! Hier trete ich gern in die Debatte mit den Hardcore-Performern ein, die das Kunststück vollbringen wollen, im Theater nur zu sein und nichts mehr bedeuten zu wollen. Um noch einmal auf John von Düffels Das schlechteste Theaterstück der Welt zurück zu kommen: Die Uraufführung fand 1996 in Augsburg an einem Originalschauplatz statt, der Theaterkneipe (Regie: Friederike Vielstich). Das Lokalkolorit änderte aber nichts an der Theatersituation selbst. Niemals griff ein Zuschauer ein, wenn vor seinen Augen die Regieassistentin vergewaltigt wurde. Und das ist auch richtig. Manch einer mag sich darüber empören. Aber Theater bleibt nur solange Theater, wie es eben nicht mit der Wirklichkeit identisch ist! Theater verträgt nur so viel Leben, damit es noch Spiel bleiben kann, das prekäre Gleichgewicht nicht zu einer Seite überkippt, wie wenn das spielende Kind wirklich in Tränen ausbricht und damit das Spiel aus ist. Selbst Fabres Extrem-Aktionen eröffnen einen Raum der Bedeutung, der Vorstellung, der Phantasie. Neben der Performanz existiert die Repräsentation. Wenn der nackte Körper eines Schauspielers voll und ganz mit Schokoladencreme eingeschmiert ist und eine Schauspielerin sich an den Körper klammert, um mit einem Stück Kleenex immer wieder den Versuch zu unternehmen, die dunkle Farbe von dem Mann abzureiben, so eröffnen sich auf der inneren Bühne des Zuschauers unvermeidlich Bilder, Assoziationen. Wir sehen einen Schwarzen, der nicht schwarz sein soll, einen Arbeiter, dem man seine Arbeit nicht ansehen soll, der vergeblich versucht Glanz in sein Leben zu bringen, das elend und eben nicht clean aussieht, vielleicht erinnern wir uns an die Mutter, die mit ihrem nassen Taschentuch in unserem Gesicht herumfuhrwerkt. Das bedeutet, wir lesen die theatralen Zeichen und geben ihnen eine Bedeutung. Wir können gar nicht anders als dies zu tun. Der Spielraum dieser möglichen Bedeutungen aber hängt ab von der Form des Theaters, das uns präsentiert wird. Im Illusionstheater nach naturalistischem Vorbild ist er sehr eng bemessen und in einer Produktion wie der Jan Fabres recht weit. Der Zuschauer oszilliert in seiner Rezeptionstätigkeit ständig zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen, sodass man geradezu von einem Tanz zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen sprechen könnte. (Lehmann, 1994) Die Repräsentation scheint eine unvermeidliche und existentielle Notwendigkeit für das Medium Theater zu sein. Nur dann, wenn der einzelne Schauspieler mehr ist als er selbst als Privatperson, beginnt Theater als Medium. Der Anspruch auf Öffentlichkeit und Allgemeinheit gehört dazu. Das bedeutet, dass das Theater ein Mittel ist, eine im physikalischen Hier und Jetzt gegebene Situation
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zu transzendieren, zu überschreiten auf eine andere Dimension hin. Diese Dimension ist meistens eine menschliche, weil die Wahrnehmung notwendig anthropomorph ist. Von daher rückt gerade in der Theaterkunst, wo ja leibhaftige Menschen die Träger von Zeichen sind, häufig das Humanum in den Vordergrund. Selbst wo eine Darstellung nicht psychologisch perspektiviert wird, neigt das Publikum gewissermaßen mit seinen Augen, mit seinen Emotionen dazu, wahrzunehmen und zu verstehen. Es ist schlechterdings unmöglich, einen Menschen nicht mit menschlichen Augen zu betrachten, unser Inneres nicht auch ihm zuzusprechen. Eine vollständige Enthumanisierung der Wahrnehmung bedeutete das Ende unserer Wahrnehmung. Eben diese Grenze scheint heute dazu zu reizen, immer wieder neu ausgelotet zu werden. Die Gewaltdarstellungen auf den zeitgenössischen Bühnen verlangen dem Zuschauer eine ständige Übung in der Aufkündigung von Mitmenschlichkeit ab. Wie viel Gewalt kann ich ertragen, ohne mich selbst verletzt zu fühlen? Ohne das Minimum an Empathie zu entziehen, das nötig ist, damit ich den anderen als ein Wesen wie meinesgleichen erkennen kann? Die entsprechenden Gewaltszenarien als Probe aufs Exempel aus dem Stück Gott ist ein DJ will ich an dieser Stelle nicht ausführen. Der Hinweis auf das Stück mag genügen. Die Differenzierungsfähigkeit zwischen Innen und Außen, Wirklichkeit und Phantasie, Realitäts- und Möglichkeitssinn wird in der Erfahrung des Hin und Her, des Fort und Da im Spiel erworben. Für diese Bewegung paradigmatisch ist das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum in der Theaterkunst. Wobei die Bühnenform nicht auf die traditionelle Guckkastenbühne festgelegt sein muss, das Prinzip des doppelten bzw. des geteilten Raums existiert auch da, wo sich Schauspieler unter Zuschauer mischen. Entscheidend ist nur, dass sie als Schauspieler identifizierbar sind. Andernfalls ist Theater in Auflösung begriffen. Der Mensch ist ein Bewegungswesen im physikalischen Raum. Die notwendige Präsenz des anderen als Präsenz einer bewegten Leiblichkeit im Raum gehört offenbar zu unserer anthropologischen Ausstattung. Das stellt man gerade an der zunehmenden Rechenschwäche bei Kindern fest, die physische Bewegung im Raum erleichtert die Fähigkeit im Zahlenraum der Mathematik operieren zu können. Der wirkliche Raum ist eine nicht zu vernachlässigende Größe. Wir sollten darüber nachdenken, was es heißt, im Zuge der Telekommunikation sukzessive den Raum im physikalischen Sinne zu verlieren. Mit dem Raum haben wir eine wichtige Differenz zu allen Formen neuer Medien. Im Theater ist der Zuschauer nicht abgeschirmt. Theater braucht den wirklichen, physikalischen Raum, den beide, Zuschauer wie Schauspieler, im doppelten Sinne des Wortes teilen. Spiel ist dabei die Klammer zwischen Reali-
178 | N ETKIDS , T HEATER UND N EUE M EDIEN tät und Fiktion: Theater als Spiel verstanden, nimmt die Chance wahr, sich zwischen den Welten zu bewegen. Das Bedürfnis nach dem nachhaltigen Erlebnis, nach dem Live-Event und der Realität ist groß. So groß, dass Film- und Fernsehindustrie heute immer häufiger wieder Anleihen beim Theater machen, um – nach ähnlichem Muster wie ich es eingangs von den Klangkulissen der Expo berichtet habe – eine Form von Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit zu erzeugen. Man denke nur an die Schlusseinstellung des Filmepos „Titanic“, wo durch einen unglaublichen Kameraschwenk, der Held auf der Treppe wie auf einer Bühne platziert wird, und wir alle als Zuschauer uns von der Perspektive her um ihn gruppieren zu einem Applaus, der ja eigentlich nicht ins Kino sondern ins Theater gehört. Man denke darüber hinaus auch an den Film „Shakespeare in love“, der seine Wirkung über weite Strecken daraus bezieht, dass er Theaterszenen abfilmt. Hier schrieb gleich ein Theaterautor wie Tom Stoppard das Drehbuch und konnte damit einen der zahlreichen Oscars bekommen, mit denen diese Produktion gesegnet war. Auch die sogenannte „KZ-Komödie“ „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni weist durch und durch theatrale Strukturen bis hin zur Spielweise des Hauptdarstellers auf. Das Fernsehen versucht inzwischen ebenfalls, die Realität zu erobern: Real bodies in real time, das könnte auch der Slogan von Endemol, der Produktionsfirma von „Big Brother“ sein, wo man es geradewegs, wenn man es nur lange genug in einem Container aushält, von einer Berliner WG in die Hitparade schaffen kann. Bei näherer Betrachtung aber erweisen sich die angeblich so authentischen Vorgänge und Personen als durch und durch inszenierte, nicht anders als im Theater selbst. Was bedeutet das für die Zukunft des Theaters in der E-Welt? „Wenn das Theater seine Notwendigkeit wiederfinden will, muss es uns all das zurückgeben, was in der Liebe, im Verbrechen, im Krieg oder in der Ausgelassenheit zu finden ist.“ (Artaud, 1933, S. 30)
Das ist sicherlich wahr, was Antonin Artaud so vehement forderte, aber ebenso wahr ist, dass wir dies alles im Theater nur haben können als Spiel und eben das ist die Chance des Theaters, die es den neuen Medien voraus hat. Wir kommen aus dem Doppelcharakter von Repräsentation, Inszenierung und gegenwärtiger Ereignishaftigkeit gar nicht heraus. Also sollten wir nicht versuchen, ihn nach einer Seite hin aufzulösen. Spielen wir besser damit und erweitern den Raum zwischen Sein und Schein, Wirklich-
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keit und Fiktion, Gegenwart und Zukunft. Wenn Theater in die Bereiche der Wirklichkeit eindringen will, um wirklich etwas zu vollziehen in der Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum, so sollte es sich ruhig darauf besinnen, dass es seine kultischen Wurzeln eigentlich niemals ganz abgestreift hat und in seinen starken Produktionen immer ein Wechselspiel in Kommunikation mit dem Zuschauer gewesen ist. Denn Wirklichkeit erweist sich nicht am Widerstand, den sie dem Subjekt gegenüber bringt, sondern an der Kommunizierbarkeit von Erfahrung.
L ITERATUR Artaud, A. (1969). Das Theater und die Grausamkeit. In A. Artaud, Das Theater und sein Double. Frankfurt. Bloch, E. (1959). Das Prinzip Hoffnung Bd. 1. Frankfurt a. M. (3. Aufl. 1976). Bolz, N. (1997). Der Angriff der neuen Medien auf die Kunst. In Ästhetik in der kulturellen Bildung. Kongreßdokumentation Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung. Remscheid. Düffel, J. v. (1995). Das schlechteste Theaterstück der Welt. In Theater heute Heft 8 (S. 48-51). Greiner, B. (1992). Die Komödie - Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen. Tübingen. Hentschel, I. (1999). Was ist wirklich im Theater? Simulation und Spiel – Theater und virtuelle Welten. In J. Richard (Hrsg.), Theater im Generationenverhältnis (S. 91-113). Frankfurt a. M. Lehmann, H.-T. (1994). Ästhetik. Eine Kolumne. Über die Wünschbarkeit des Nichtverstehens. In Merkur 48. Jg., Heft 538-549 (S. 426-431). Richter, F. (1999). Gott ist ein DJ. In Theater heute Heft 5 (S. 62-73). Rousseau, J.-J. (1988/1758). Brief an D. Alembert über das Schauspiel. In H. Ritter (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau. Schriften Bd. 1. Frankfurt a. M. Spaemann, R. (2000). Wirklichkeit als Anthropomorphismus. In Information Philosophie 28, 4 (S. 7-19). Lörrach. Welsch, W. (1995). lmmaterialisierung und Dematerialisierung. In T. Schwab & H. Oehlke (Hrsg.), Virtualität contra Realität?: 16. Designwissenschaftliches Kolloquium Burg Giebichenstein Hochschule für Kunst und Design Halle/Saale 19. bis 21. Oktober 1995. Halle/Saale: Burg Giebichenstein.
Theater – Spielen und Zuschauen
Ereignis und Erfahrung Theaterpädagogik zwischen Vermittlung und künstlerischer Arbeit1
Theater spielen und Theater sehen sind zwei Seiten einer Medaille, die sich allerdings immer häufiger nur noch von einer Seite zeigt: Kinder bekommen theaterpädagogische Angebote, während der Aufführungsbesuch im Theater seltener auf der Tagesordnung von Pädagogen und Bildungsplanern steht. Im Boom der ästhetischen und kulturellen Bildung haben es professionelle Inszenierungen paradoxerweise schwer, sich zu behaupten. Im Folgenden werden grundlegende Gedanken zum Zusammenspiel von Theater und Theaterpädagogik sowie zur Bedeutung der Theaterkunst in Bildungsprozessen, in Politik und Gesellschaft entwickelt. Die Rolle der Theaterpädagogik ist dabei, sich und ihr Verhältnis zum professionellen Kunsttheater zu verändern. Freie Theater sehen sich als mobile Akademien kultureller Bildung, das Kerngeschäft, die professionelle Kunst scheint immer weniger gebraucht zu werden. Bei aller Wertschätzung der Aufsehen erregenden tanzpädagogischen Arbeit Royston Maldoons2: Es ist nicht nur dort Bildung drin, wo Bildung draufsteht. Gegenüber theater-, tanz- und kunstpädagogischen Angeboten haben es professionelle schwer, sich zu behaupten, Pädagogen und Bildungsplaner Schwierigkeiten, Argumentationen zu finden: Brau-
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Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags im Rahmen der Fachtagung „Zwischenspiel - Theaterpädagogik und Theater“, anlässlich des Internationalen Theaterfestivals Panoptikum 14.2.2008, Nürnberg Theater Mummpitz.
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Royston Maldoons Arbeit mit Jugendlichen ist in dem Film Rhythm is it! dokumentiert.
184 | T HEATER – S PIELEN UND Z USCHAUEN chen wir überhaupt ein spezielles von Erwachsenen gemachtes Kinder- und Jugendtheater, wenn doch der Workshop so viel bildungsträchtiger zu sein scheint? In einem ersten Schritt soll hier ein Blick in die Geschichte der Theaterpädagogik geworfen werden, die in enger Bindung an das Theater für Kinder und Jugendliche sowie seiner Entwicklungen entstanden ist. Um dann in einem zweiten Schritt die Frage zu diskutieren: Was ist es denn, was das ,Theater sehen’ und das ,Theater spielen’ so wichtig für Bildungsprozesse werden lässt? Dabei werde ich näher auf die Eigenart des Mediums Theater eingehen. In einem dritten Teil werden Ausführungen zum Bildungsbegriff gemacht und ein, wie ich meine, neuer Horizont aufgespannt, der in der Geschichte bereits angelegt ist: Die politische Dimension des Theaters und der Theaterpädagogik.
T HEATERPÄDAGOGIK – V ON ZUM C ASTING
DER
E MANZIPATION
Der Weg, den die Theaterpädagogik in den vergangenen dreißig Jahren zurückgelegt hat, ist von zahlreichen Stationen gekennzeichnet, die an dieser Stelle nur kurz gestreift werden können. Ich möchte zunächst in Erinnerung rufen: Theaterpädagogik ist in Deutschland als der Versuch entstanden, dem von Natur aus flüchtigen ephemeren Theatererlebnis Nachhaltigkeit zu sichern. Das Grips-Theater war in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur Wegbereiter für ein spezielles Theater, das sich an ein neues Publikum – nämlich die Kinder – wendete, sondern auch Initiator der Theaterpädagogik an Theatern in Form von gezielter Vor- und Nachbereitung von Theaterbesuchen. Dazu gehörte damals aber noch nicht das aktive Spielen der Kinder und Jugendlichen, sondern es handelte sich um Begleitmaterial, Hintergrundmaterial, Unterrichtsvorschläge für Lehrer und Schüler. Aus diesen sozusagen flankierenden Maßnahmen entstand dann die Theaterpädagogik wie wir sie heute an Theatern kennen: als aktive Spielangebote für das junge Publikum, in der Schule und oder direkt an den Theatern. Ein weiterer wichtiger Grund für das Entstehen von theaterpädagogischen Aktivitäten an Theatern war die Ausbildung spezieller Theaterangebote für Kinder, also für ein Publikum, das nicht von allein, sondern nur durch die Vermittlung von Schule und Elternhaus den Weg ins Theater fand. Von daher war die Schule der wichtigste Kontaktpartner theaterpädagogischer Angebote der Theater. Parallel zur Vor- und Nachbereitung von Unterrichtsprozessen gab es den Versuch, direkt mit spielerischen Mitteln in die Alltagsrealität von Kindern einzugreifen. Volkhard Paris und Helme Ebert führten – auch motiviert von einem
E REIGNIS UND E RFAHRUNG
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kämpferischen Impetus gegen das professionelle Berufstheater, das als entfremdete Institution wahrgenommen wurde – Projekte mit Kindern in sozialen Brennpunkten durch. Das Kindertheater im Märkischen Viertel in Berlin verband Rollenspiel, politisches Lernen und Spielaktionen.3 In Italien und der Schweiz entwickelte sich parallel die „AnimazioneBewegung“, die den Prozess des Spielens und Improvisierens sowie den Gedanken der Partizipation in den Mittelpunkt ihrer Projekte stellt. Hier ist besonders Ilse Hanl zu erwähnen. Hervorzuheben in dieser notwendig kurzen Reihung sind auch die besonderen Aktivitäten, die in der DDR den kreativen Angeboten für Kinder gewidmet waren. Die herausragende Bedeutung, die das Kinder- und Jugendtheater in der DDR einnahm, ist im Zusammenhang mit einem sozialistischen Bildungs- und Erziehungsideal zu verstehen. Theater für und mit Kindern zu machen, hieß gesellschaftliche Zukunft gestalten.
D IE G ESCHICHTE
EINES
F ACHS
Die Theaterpädagogik hat zwei Füße: das Theater und die Pädagogik. Beide sind nicht unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten. So ist die Theaterpädagogik geprägt durch ihre Geschichte, die in Deutschland eng verbunden ist mit der des Kinder- und Jugendtheaters aber auch mit den Entwicklungen von Erziehungsprogrammen. Sie ist abhängig von Entwicklungen der Kunstform Theater und von pädagogischen, didaktischen und politischen Bildungsvorstellungen. Ihren Namen erhält die Theaterpädagogik in den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts, Theater und Spiel werden im Kontext der sozialdemokratischen Bildungsoffensive und den neuen sozialen Bewegungen als Mittel der politischen Bildung und gesellschaftlichen Emanzipation entdeckt und in Gegensatz zu einem kunstdidaktischen Verständnis gestellt. Theaterarbeit wurde verstanden als ,Erziehung zur Mündigkeit und politischen Teilhabe‘ mit dem Ziel, persönliche und politische Handlungskompetenz zu erwerben.4 Mitte der 1980er Jahre wur-
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Einige Beispiele von Publikationen aus den 1970er Jahren: siehe Literatur am Ende des Beitrags.
4
In diesem Sinne gehörte Theaterpädagogik zu einem im weitesten Sinne antiautoritären Selbstverständnis, das sich beispielsweise im Grips-Theater explizit formulierte. In einem Handzettel zu Maximilian Pfeifferling wurde dem Publikum mitge-
186 | T HEATER – S PIELEN UND Z USCHAUEN den die ästhetische Erfahrung und die Vermittlung ,ästhetisch-künstlerischer Kompetenzen‘ in den Vordergrund gestellt (ästhetische Bildung als Persönlichkeitsbildung). In den 1990er Jahren nahm man unter dem für die kulturelle Bildung wichtigen Begriff der „Lebenskunst“ wieder beides in den Blick. Um die Realität zu bewältigen, sind ästhetische Schlüsselkompetenzen wichtig: „Erziehung und Selbsterziehung zum Leben können.“ (Schmid, 2000)
S ELBSTGESTALTUNG BEDARF ÄUSSEREN G ESTALTUNG
DER
Es gab schon früher Versuche, Theater und Spiel für pädagogische und politische Zwecke nutzbar zu machen. Ich erinnere hier nur kurz an die didaktischen Dramen der Humanisten im 16. Jahrhundert, an Amos Comenius, der den erzieherischen Wert des Spiels entdeckt, an Jean Jacques Rousseau, der das Spiel als Quelle ursprünglicher Erfahrung betrachtet, an Johann Wolfgang v. Goethe, an Johann Gottlieb Fröbel im Zusammenhang mit der Kindergartenerziehung, schließlich an die Reformpädagogik im 20. Jahrhundert, die den ganzen Menschen ansprechen wollte, um die Schäden, die durch die Arbeitsteilung in der Industriegesellschaft hervorgebracht werden, auszugleichen oder ihnen vorzubeugen. Hier sind die Namen Martin Luserke und Rudolf Mirbt, als Erfinder der Laienspielbewegung zu nennen; und natürlich spielt das politische Theater der Weimarer Zeit eine Rolle, die Lehrstücke Bertolt Brechts aus den 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts, die Theaterarbeit innerhalb der KPD und schließlich die großen Theaterexperimente während der Oktoberrevolution, der „Theateroktober in Russland“, z.B. die Theaterarbeit von Asja Lacis mit Straßenkindern, formuliert von Walter Benjamin in seinem „Programm eines proletarischen Kindertheaters“. Der kurze Abriss zeigt: Die Theaterpädagogik bewegt sich auch auf dem Hintergrund der Traditionen, auf die sie sich jeweils bezieht, im Spannungsfeld von Pädagogik, Politik und Gesellschaft. Ich werde an späterer Stelle dazu kommen, dieses Spannungsfeld aktuell zu bestimmen. Anders als heute war die in den 1970er Jahren neu geborene Theaterpädagogik eine Bewegung, die aus einem kritischen Impuls der Gesellschaft gegenüber kam, die verbunden war mit den Zielen gesellschaftlicher Emanzipation und po-
teilt: „Darum vermeiden wir jede Art repressiver Pädagogik, der Kinder ohnehin ständig ausgesetzt sind und die sie zu angepassten Gliedern unserer kinderfeindlichen Leistungsgesellschaft machen soll.“ (Kolneder 1979: 41)
E REIGNIS UND E RFAHRUNG
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litischer Aufklärung. So wurde Theater vor allem als Funktion politischer Bildung entdeckt mit seinen Potentialen, Wirklichkeit zu simulieren und kritisch darzustellen. Diese Ansätze arbeiten auf der Basis des Modelllernens wie auch der Interaktionspädagogik. Hier ist auch der bekannteste Strang der Theaterpädagogik im sozialen Bereich zu sehen, der die Tradition von Brecht fortführt, insbesondere seine Lehrstücke, wie sie von Rainer Steinweg untersucht und weiterentwickelt worden sind, oder von Augusto Boal in seinen verschiedenen Theaterformen unter dem Titel „Theater der Unterdrückten“ entworfen wurde. Die Abgrenzung zur Reformpädagogik und Kunsterziehung war hier Programm. Nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft bildete den Fokus, auf den sich die spielerisch inszenierten Erfahrungen richten sollten. Erst in den 1980er Jahren lässt sich in der Theaterpädagogik eine Wende hin zur künstlerischen Orientierung feststellen (wie sie sich in derselben Zeit auch parallel im mit der Theaterpädagogik sehr verbundenen Kinder- und Jugendtheater, aber auch in der Kinderliteratur finden lässt). Dazu gehört eine Bezugnahme auf das innere Erleben von Kindern: Die Psychoanalyse wurde eine wichtige Bezugsgröße des Kindertheaters. (vgl. Hentschel, I., 1988) Themen wie Träume, Phantasien, Ängste, auch Märchen und mythologische Stoffe betraten die Bühnen für junge Zuschauer. Bruno Bettelheims aus Sicht der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie verfasstes Plädoyer für Märchen wurde zum pädagogischen Bestseller. (Bettelheim, 1977) In der Folge beschäftigt sich die Theaterpädagogik mehr und mehr mit dem Gegenstand Theater. Nun wird die eigenständige Dimension künstlerischästhetischer Prozesse und Erfahrungen zunehmend für die Theaterpädagogik formuliert, etwa von Ulrike Hentschel (eine Namensvetterin), deren Dissertation „Theaterspielen als ästhetische Bildung“ (1996) hier grundlegend wurde. Ulrike Hentschel deklariert Theaterspielen als ästhetische Bildung und fundiert diesen Ansatz auf dem Hintergrund von Künstlertheorien des Theaters und Schauspiels.
T HEATERSPIELEN
ALS ÄSTHETISCHE
B ILDUNG
Nachdem die theaterpädagogische Diskussion seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts die Frage nach dem Nutzen des Theaterspielens für unterschiedliche Bildungsziele in den Mittelpunkt gestellt hatte, beschritt Ulrike Hentschel mit ihrer Dissertation neue Wege: Sie fragte nicht, was mit dem Theaterspielen zu erreichen sei, sondern was das Theaterspielen überhaupt sei. Was wohnt dem Prozess des Theaterspiels, mithin dem Medium selbst an Erfahrungsgehalten inne? Die neue Perspektive resultierte aus einem Unbehagen an der zunehmend
188 | T HEATER – S PIELEN UND Z USCHAUEN feststellbaren theaterpädagogischen Verzweckung und Indienstnahme des Mediums Theater für soziale, pädagogische und fachdidaktische Zwecke. (Hentschel, U., 1996) Ulrike Hentschel verbindet das Erbe der emanzipatorischen Theaterpädagogik, die Erkenntnisorientierung, mit der vormals abgelehnten Kunst und Reformpädagogik. „Theaterpädagogik wird dann im engeren Sinne verstanden als eine Disziplin der ästhetischen Bildung, die sich mit der Vermittlung von wahrnehmenden und gestaltenden Prozessen im künstlerischen Medium Theater auseinandersetzt.“ (Hentschel, U., 2007, S. 92)
Ulrike Hentschels Darstellung hebt vor allem auf die dem Medium Theater eigene Doppelstruktur der Erfahrung ab, die es ermöglicht, eine besondere Konstruktion von Wirklichkeit im Prozess des Spielens hervor zu bringen. Dabei steht sowohl beim Theater als auch beim Spiel die „Differenzerfahrung“ im Mittelpunkt. Ich kann mich im Rollenspiel wie in der Theatersituation als ich selbst und als ich nicht ich selbst (Schechner, 2004) aber auch als ein anderer erleben. Ich habe immer mindestens zwei Erfahrungsweisen zur Verfügung, es können aber im Prozess des Rollen- und Figurenwechseln noch beliebig viele andere sein. Was das Theater anders als das bloße Spiel der ,Differenzerfahrung‘ hinzufügt, ist die Erfahrung des Zwischen: indem Theater anders als das Spiel der Kinder mit dem bewussten Wechsel der Positionen arbeitet. Sie hebt mit Recht hervor, dass spezifische Untersuchungen der dem Theaterspielen von Kindern innewohnenden Erfahrungen und Wahrnehmungen bis heute nicht vorliegen, deswegen bemüht sie Analogien aus der Kunstpädagogik, insbesondere der Kunst- und Musikpädagogik. Allerdings gibt es – wie ich meine – wichtige Vorarbeiten im Rahmen psychiatrischer und reformpädagogischer Experimente, wie die Theaterateliers in der Modellschule Bonneuil in Frankreich. Hier werden vor allem unbewusste und vorbewusste Prozesse in den Mittelpunkt gerückt, die „Differenzerfahrungen sind vor allem erlebte Differenzerfahrungen“. (Hentschel, I., 1986) Nicht Wissen, sondern Erleben ist das Medium von Wirkung. Schlüssel der Wirkungen des Medium Theater ist sein Spielcharakter. Auch die Rezeptionssituation, das Theater sehen, kann als Spiel beschrieben werden. (Hentschel, I.,1988) Heute wird Theaterpädagogik vorrangig als Möglichkeit gesehen, Schlüsselqualifikationen für die Lebenswelt durch ästhetische Erfahrung zu erwerben, also die Eigenständigkeit künstlerisch vermittelter Erfahrung im Hinblick auf die in der Lebenswelt geforderten Kompetenzen zu betonen. Dieser Ansatz wird auch programmatisch in der kulturellen Jugendbildung vertreten, die vom Dachverband BKJ (Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V.) repräsentiert wird. An den Theatern hat Theaterpädagogik die
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Doppelfunktion, einerseits ein junges Publikum für die Kunstsparte zu gewinnen, im Sinne von Kundenbindung, und zum anderen die Aufführungen vertiefend zu begleiten, indem vor- oder nachbereitet bzw. durch eigene spielerische Aktivitäten ein Zugang zur Aufführung geschaffen wird. Wobei ja stillschweigend vorausgesetzt wird, dass sich die Aufführung nicht selbst vermitteln kann. Inzwischen rückt auch im Theater die theaterpädagogische Aktivität als solche in den Vordergrund. Aber geschieht dies, weil den Inszenierungen selbst nicht mehr genügend Eigenkraft zugedacht wird? Ist es das Misstrauen der Lehrer und Erziehungspersonen, die ja die Kinder ins Theater bringen müssen oder ist es ein gestiegenes Interesse am eigenkünstlerischen Tun, das sich insgesamt in der derzeitigen Kulturentwicklung feststellen lässt? In der konkreten Arbeit der Theaterpädagogen, ob am Theater oder in den verschiedenen Bildungsinstitutionen ist bis heute die Spannbreite zwischen pädagogisch-didaktischen und ästhetischen Zielsetzungen der Theaterpädagogik virulent, die aus der Geschichte des Fachs, aber auch aus der Zwitterstellung zwischen Kunst und sozialer Praxis, Kunst und pädagogischer Indienstnahme resultiert. Wie immens die Breite theaterpädagogischer Ansätze, Methoden, Verfahren und Berufsfelder inzwischen ist, will ich mit einem kurzen Überblick deutlich machen. Denn: Die Theaterpädagogik an Theatern macht nur einen geringen Teil theaterpädagogischer Praxis aus. Nicht ohne Grund haben die Herausgeber des verdienstvollen Wörterbuch der Theaterpädagogik (Koch/Streisand u.a., 2003) darauf verzichtet, diese Disziplin selbst in ihrem Buch zu behandeln. Ein Stichwort ,Theaterpädagogik‘ sucht man dort umsonst: Ist sie doch alles das, was sich an Methoden, Stichworten und Gegenstandsbereichen dort finden lässt. Damit sind die Breite und vor allem die emsige Weiterentwicklung dieses überaus kreativen, lebendigen Fachs betont, das seine Theorie und sein Selbstverständnis wie auch seine Handlungsfelder ständig erweitert.
B ERUFSFELDER
UND
A USBILDUNG
Seit 30 Jahren hat sich die Theaterpädagogik in Deutschland immens ausgeweitet und zur eigenständigen Disziplin entwickelt. Die Ausbildung erfolgt inzwischen auf professionalisierter Basis, als vier-semestriger Masterstudiengang (Universität der Künste Berlin) und grundständig als Bachelor-Studiengang an der Fachhochschule Osnabrück. Ein eigener Berufsverband BuT (Bundesverband Theaterpädagogik) versucht, den Beruf des Theaterpädagogen aufzuwerten, Standards mitzubestimmen und für die Aus- und Weiterbildung zu sichern.
190 | T HEATER – S PIELEN UND Z USCHAUEN Die Gründung einer „Ständigen Konferenz Spiel und Theater an deutschen Hochschulen“ 1994 ist Signum für die Professionalisierung der Ausbildung in Hochschulformaten. Theaterpädagogik wurde auch an den in den 1970er Jahren gegründeten Fachhochschulen, insbesondere den Fachbereichen für Sozialwesen als eine relevante Methode sozialen und politischen Lernens und Intervenierens professionalisiert. Theater findet zunehmend auch in den Fachdidaktiken unterschiedlicher Studienangebote einen Platz. (Wildt/Hentschel, 2008) Die Anwendungsgebiete, Methoden und Verfahren haben sich inzwischen breit ausdifferenziert. Richard Schechner hat zusammen mit John Thompsen eine ganze Nummer der internationalen Fachzeitschrift „The Drama Review“ dem „Social Theatre“ gewidmet. Unter diesem Begriff versuchen die Autoren internationale Ansätze nicht-kommerzieller auf Partizipation beruhender Theaterprojekte zu greifen: Vom Theater in serbischen Flüchtlingscamps über „Community-Theatre-Projekte“ in allen Erdteilen. Ich kehre zur Entwicklung der Theaterpädagogik in Deutschland und ihrem Verständnis zurück. Zu Beginn war das Berufsfeld von Theaterpädagogen vor allem die Schule. Inzwischen sind es die Theater selbst. Als weitere Arbeitsfelder und Berufsbereiche hinzugekommen sind außerdem die: • • • • • • • •
Freizeit- und Touristikbranche Außerschulische Jugend- und Erwachsenenarbeit Kindliche Früherziehung Sozialtherapeutische Bereiche (Integration, Strafvollzug, Drogenhilfe); Interkulturelle Arbeit Resozialisierung Heilpädagogik, Behindertenarbeit Theatertherapie
Mit Einschränkungen können weitere Bereiche als Felder theaterpädagogischer Tätigkeit angesehen werden: • • • •
Medizinisch-therapeutische Bereiche Psychotherapie Rehabilitation Andere Gesundheitsberufe
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Insgesamt lassen sich heute zwei große Richtungen der Theaterpädagogik festmachen, je nachdem ob in der Kombination Theater und Pädagogik die Pädagogik an erster Stelle steht und die Theaterarbeit zu ihrem Medium wird oder ob das Theater an erster Stelle steht und die Pädagogik zum Mittel wird, die schöpferischen Möglichkeiten der Beschäftigung mit der Kunstform Theater zu entwickeln. Immer noch stehen individuelle und an der ,Selbstentfaltung der schöpferischen Kräfte‘ orientierte Ansätze im Gegensatz zu solchen, die die Theaterpädagogik vor allem zur ,Erweiterung sozialer Kompetenzen‘ einsetzen möchten und die das Ziel verfolgen, ,politische Handlungsfähigkeit‘ zu erwerben. Dabei geht es einmal mehr um den Begriff der ,Erfahrung‘ und des ,Erlebens‘ und zum anderen um den der ,Erkenntnis‘ und des ,Verstehens‘.
E NTWICKLUNGEN IM T HEATER DER T HEATERPÄDAGOGIK
UND IN
Ich beobachte ein ,close the gap – cross the border‘ – mit dieser Parole ist im letzten Jahrhundert die Postmoderne eingeläutet worden –, eine produktive und für beide Seiten gewinnbringende Annäherung zwischen Theater und Theaterpädagogik. Allerdings ist zu befürchten, dass in diesem Prozess die Theateraufführung selbst in ihrem Eigenwert vernachlässigt wird. Sicher nicht an den Theatern selbst, die ja davon leben, sondern an den Schulen, in den Freizeiteinrichtungen und von Seiten der Kultur- und Bildungspolitik. Ein Großteil der theaterpädagogischen Angebote in den eben genannten sozialen und politischen Berufsfeldern verbindet sich niemals mit Besuchen des professionellen Kunsttheaters. Häufig ist sogar zu beobachten, dass die Theaterpädagogen hier eine ablehnende Haltung einnehmen. Umgekehrt lechzt das Kunsttheater nach dem Sozialen, will raus aus den privilegierten Räumen, will wirkliches Leben, die wirkliche Wirklichkeit in Form von Laiendarstellern oder wie es bei Rimini-Protokoll heißt „Experten des Alltags“. Theater öffnet sich zum Sozialen, zur Interaktion, wildert in den angestammten Revieren der Theaterpädagogen. Die Öffnung zur Wirklichkeit der Interaktion, hin zu Performance, sozialer Intervention, Spiel und politischer Aktion ist auch in den anderen Künsten anzutreffen. Nicht nur das Theater auch die Kunst wird mit einem Ausdruck von Joseph Beuys „soziale Plastik“.
192 | T HEATER – S PIELEN UND Z USCHAUEN Auf der anderen Seite ist die Theaterpädagogik dabei, immer mehr das Pädagogische abzustreifen, will künstlerische Praxis sein, Interaktion im Medium theatraler Prozesse, so am neu gegründeten Jungen Theater des Schauspiels Hannover, das ganze Vorstellungsserien mit Inszenierungen mit jugendlichen Darstellern bestreitet, die eigens dafür ,gecastet‘ und mit einer Vorstellungspauschale entlohnt werden, wie auch in den zahlreichen Theaterspielclubs am Theater Magdeburg, um nur zwei aus der Fülle der Spielclubs an professionellen Bühnen herauszuheben. Werden hier die Stars von morgen entdeckt, oder wird dem Prozess eine ebenso große Wertschätzung entgegen gebracht wie dem spielplanfähigen Produkt? In jedem Falle wollen theaterpädagogische Projekte nicht lehren, sondern Theater lustvoll als künstlerische Praxis erfahrbar machen. Aber geht nicht auch etwas verloren, und ich meine nicht vordergründig die ohnehin schlecht entlohnten Arbeitsplätze im Kinder- und Jugendtheater, wenn wir den Besuch von Theateraufführungen, die mit allen professionell zur Verfügung stehenden Mitteln der Kunst gemacht sind, nicht mehr in den Mittelpunkt der kulturellen Aktivität stellen? Bedeutet die Öffnung zur direkten Interaktion und Aktion, sei es in der Theaterpädagogik oder in Theateraktionen selbst, nicht einen Verlust? Was ist es, was das Besondere des Mediums Theater in Form eines Aufführungsgeschehens ausmacht? Was heißt es, Theater nicht selbst zu machen, sondern zu sehen und zu erleben?
T HEATER
SEHEN UND ERLEBEN
Theaterrezeption ist ein komplexer und der empirischen Forschung kaum zugänglicher Prozess, der überdies den Nachteil hat, dass sein Gegenstand, die Theateraufführung, ein singuläres und ephemeres Ereignis ist. Von daher werde ich im Folgenden versuchen der Komplexität thesenartig gerecht zu werden. Im Zentrum des Mediums Theater steht der Mensch als Spieler/Darsteller und Zuschauer. Theater ist das Menschenmedium schlechthin. Die imaginativen Qualitäten des Theaters sind stets gebunden an die körperliche Präsenz und CoPräsenz von Spielern/Darstellern und Zuschauern im physikalischen Raum. Der Doppelcharakter der theatralen Zeichen zwischen Sein und Bedeuten, Darsteller und Rolle, Realität und Spiel entspricht der anthropologischen Situation, wie sie Helmuth Plessner (Plessner, 1983) mit dem Begriff der „Exzentrizität der menschlichen Position“ formuliert hat. Im Theater sieht der Mensch sich selbst (verkörpert durch den Schauspieler) zu. Das ermöglicht sowohl für Spieler wie für Zuschauer ,Ambiguitätserfahrungen‘, die von Seiten der Anthropologie als Schwellenerfahrungen „betwixt and between“ (Turner, 1982) und mit dem Be-
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griff des „Dazwischen“ beschrieben werden. Diese Erfahrungen sind gebunden an die Körperhaftigkeit der schauspielerischen Aktion und die Präsenz von Spielern und Zuschauern in einem gemeinsamen Raum. Der Mensch ist existentiell angewiesen auf den anderen, auf das „angeschaut werden“, den Blick, auf Responsivität. Eben dies sind Qualitäten des Theaters, die durch andere Medien nicht ersetzbar sind.
P ERFORMATIVES T HEATER
SCHAFFT
E REIGNISSE
Die neuere theaterwissenschaftliche Forschung betont weniger den imaginativen, bild-, bedeutungs- und sinnhaften, als den performativen Charakter des Mediums Theater. Dabei wird die Inszenierung als (intendierte Konzeption) von der Aufführung als kontingentem Phänomen unterschieden, das den Zuschauer und seine Wahrnehmungsaktivität einschließt. (Fischer-Lichte, 2004) Auf dem Hintergrund der allgegenwärtigen Erfahrung mit den elektronischen Bildmedien rücken „Liveness“ und Präsenz des performativen Ereignisses ins Zentrum. Das Publikum wird als konstitutiv für das Medium Theater betrachtet und in vielen Inszenierungen auch verstärkt angesprochen. Das entspricht den Entwicklungen der Theaterkunst, sich nicht als Repräsentation eines dramatischen Textes, sondern als eigenständige Kunst zu verstehen. (Lehmann, 1999) Theater umfasst die Einheit von Spielen und Zuschauen. Theater ist weniger Medium der dramatischen Literatur, nicht nur Vermittler von Geschichten, Werten oder Botschaften. Die Theateraufführung bekommt als Ereignis selbst einen Wert. Sie ist singuläres Ereignis: Das Zusammenkommen von Menschen, Schauspielern und Zuschauern in einem Raum kann als besonders und unwiederholbar einmalig erlebt werden! Dabei stellt das Theater häufig seinen Spielcharakter aus, das Theater haftet am Theater, benutzt Materialien, die aus dem Leben kommen wie Sand, Wasser, Dreck, Mehl und andere Nahrungsmittel. Das Spiel der Schauspieler ist körperhaft und vital. Theater ist auf dem Weg zur Wirklichkeit des Lebens, eine Entwicklung, die der Philosoph Robert Spaemann (2000) für die Künste insgesamt beobachtet. Befragt nach der Bedeutung des Theaters in der Zeit elektronischer Medien, sagt eine 17-Jährige: „Im Theater sieht man was Menschen können – ohne die Technik!!!“
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T HEATER
DIENT DER
S ELBSTVERGEWISSERUNG
Theater ist in diesem Sinne kein Medium. Es betont den Eigenwert des Menschen! Deswegen darf Theater nicht verzweckt werden, nicht in enge Didaktiken eingefügt und funktionalisiert werden. Es ist praktizierter Einspruch gegen den Verwertungsdruck und den Zwang zur Effizienz in Arbeit, Schule und Wirtschaft. Es geht im Theater nicht mehr nur darum, zu verstehen, es geht auch darum, zu erleben. In einer Qualität zu erleben, die nicht ausschließlich auf die durch die Medien beanspruchten Fernsinne fixiert ist, sondern alle Sinne anspricht. Natürlich ist am stärksten die Phantasie, die Imagination gefordert. Theater bietet stärker als der Film und weniger stark als die Literatur, kein Gesamtbild, sondern arbeitet mit Lücken, die durch die Phantasie des Zuschauers gefüllt werden müssen. Hier ist ein immenser Platz für den Einzelnen, seine Erfahrungen, Wahrnehmungen, Wünsche, Ängste ins Spiel zu bringen. Hier können ungewohnte, verrückte Zusammenhänge gestiftet, Zeichensysteme entziffert, Weltentwürfe imaginativ erprobt und hier kann, wie es im traditionellen Theater ja immer war, gemeinsames Leid erfahren, Lust geteilt und natürlich auch Unbekanntes entdeckt werden, auch – warum nicht – Tradition weitergegeben werden.
T HEATER
IST EIN
M EDIUM
DER
V OLLSINNLICHKEIT
Dieser Begriff stammt von dem Kulturphilosophen Georg Simmel und ist geeignet, die besondere Qualität des Theaters zu kennzeichnen. Der Computer ist nicht ,das’ Medium der Medienintegration, wie vielfach angenommen wird. Es fehlt die körperliche Präsenz im physikalischen Raum, die für das Theater konstitutiv ist, und die nicht eingespeist werden kann. Theater integriert die Augensinnlichkeit der Malerei mit der Gehörsinnlichkeit der Musik. Die körperliche Bewegung im physikalischen, realen Raum gehört unabdingbar zur Grunderfahrung des Theaterspielens. Der Körper im Prozess der Darstellung und des Spiels ist nicht Bild, nicht nur zeigender, bedeutender Körper, sondern auch erlebter und energetischer Körper. Die energetische Qualität theatraler Aufführungen ist bisher erst in Ansätzen der Forschung zugänglich, gehört aber zur Theatralität (Fischer-Lichte, 2004) wie zur Verfasstheit des Mediums Theater.
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I M T HEATER
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WIRD GELERNT , ABER ANDERS !
Theater ist Schule der Wahrnehmung, ein Medium der Zeichen. Man kann im Theater (wenn es gut gemacht ist): • • • • • • • • • • •
beobachten Zeichen entziffern Zusammenhänge herstellen Staunen, in die andere Welt blicken, Vertrautes fremd wahrnehmen Inneres mit Äußerem verbinden Gefühle mit Wahrnehmungen verknüpfen sich in Bezug zur Gemeinschaft empfinden Eine Erfahrung mit anderen (Zuschauern/Schauspielern) teilen Phantasielust (Funktionslust der Phantasie) entwickeln Intensität erleben – auch in Schmerz und Traurigkeit Freude empfinden
Das Theater ist das außergewöhnliche Ereignis, das es ermöglicht, alles was sonst gilt, auf den Kopf zu stellen, die gewohnten Gesetze außer Kraft zu setzen. Damit ist eine ganz andere Qualität angesprochen als die, die wir gewöhnlich dem Begriff des Lernens zuordnen, das doch eine gewisse Beherrschung von Zusammenhängen, Erfahrungen und Wissensgegenständen hervorbringen, Orientierung und Übersicht geben soll und die Möglichkeit, das Gelernte reflexiv zu beurteilen und auf die jeweiligen Kontexte zu beziehen. Im Kinder- und Jugendtheater geht es – wie in der Kunst sonst auch – nicht um Eindeutigkeit, sondern um ästhetische Vieldeutigkeit: Wissen und Erfahrung in Schwingung zu versetzen. Gerade die nicht sprachlich strukturierten Erfahrungen sind es, die von jeher Gegenstand der Kunst sind. Sie erweitern unsere Erfahrung und Vorstellung vom Menschen aber auch vom Lernen. Die Plastizität des Gehirns, die die neurobiologische Forschung immer aufs Neue beschreibt, verlangt regelrecht nach Erfahrungen wie sie die Künste, allen voran das Theater, bieten können. „Vieles von dem, was menschliche Wesen einander mitzuteilen haben und mitteilen müssen“, konstatiert der Hirnforscher Wolf Singer, lasse sich in rationaler Sprache allein nicht fassen. Daher müsse auch die nicht sprachliche Kommunikationskompetenz optimal entwickelt werden. Der Mensch ist ein soziales Wesen und sein Gehirn ist in besonderer Weise an die Erfordernisse des sozialen Zusammenlebens angepasst. Die das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen bestimmenden neuronalen Verschaltungsmuster und synaptischen Verbindungen sind weitaus plastischer, als man lange
196 | T HEATER – S PIELEN UND Z USCHAUEN Zeit angenommen hatte. Die initial angelegten, zunächst genetisch determinierten Verschaltungen werden im Verlauf der weiteren Entwicklung in Abhängigkeit von der Art ihrer Nutzung weiterentwickelt, überformt und umgebaut („experience-dependent plasticity“). (Singer, 2002) Die Plastizität unseres Gehirns, unseres Erfahrungs-, Denk- und Fühlorgans wird von Seiten der bestehenden schulischen Lernorganisation nur unzureichend genutzt. Angesichts der zunehmend beklagten Ineffizienz des gegenwärtigen schulischen Lernens muss festgestellt werden, dass die Lehrpraxis der Schule hinter dem Entwicklungsstand pädagogisch erkannter und bereits erprobter Möglichkeiten zurückgeblieben ist: Neben dem wissenschaftlich-rationalen und dem ethisch-moralischen Zugriff auf die Welt ist es die ästhetische Erfahrung, die nachhaltige Lernprozesse im Sinne eines freien Verhältnisses zur Welt, zu sich und den anderen ermöglicht. Theater aktiviert unsere Emotionen, provoziert unsere Sinne, spricht unsere Ängste, Wünsche und verborgenen Hoffnungen an, provoziert uns, unser Inneres mit dem Äußeren in Verbindung zu bringen.
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IST SOZIALE
K UNST
PER SE
Wenn das Gehirn ein soziales Organ ist, so ist das Theater die soziale Kunstform per se, der Mensch sieht sich selber zu, und zwar in der Beziehung zu anderen Menschen. Theater ist Gemeinschaftskunst. Durch die besondere Bedeutung des Schauens (griechisch: teatron) und die konstitutive Rolle des Publikums haben wir es damit zu tun, dass im Theater die Tragödie des Einzelnen immer auch die Tragödie aller ist. Theater zeigt den Menschen in sozialer Interaktion und Kommunikation. So sehr das Individuum heute mit den von ihm zu entwickelnden Kompetenzen im Mittelpunkt der Bildungspolitik und der Gesellschaft steht, so sehr gerät aus dem Blick, dass die Erfahrung gemeinsam mit anderen zu kommunizieren, zu gestalten, zu erleben, elementar für jede Form des Zusammenlebens ist. Im gemeinsamen Theaterspiel aber auch in der Begegnung von Schauspielern und Zuschauern in einer Aufführung dient nicht die Gemeinschaft dem Einzelnen, sondern der Einzelne der Gemeinschaft. Daher hat das Theaterspielen eine integrative und transformative Kraft, die sich besonders auch in sozialen Feldern, in denen mit Theater gearbeitet wird, bemerkbar macht. Aus der sozialen Verfasstheit des Mediums Theater resultieren auch die großen pädagogischen Wirkungen, die immer wieder festzustellen sind. Theater ist auch da eine Gemeinschaftskunst, wo die Zuschauer stumm auf ihren Plätzen sitzen und nicht agieren, sondern rezipieren und erleben. Als Zu-
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schauer haben sie die Chance, sich selbst, ihre Gefühle, Gedanken, das, was in ihnen während einer Aufführung ausgelöst wird, in der direkten Beziehung zu anderen in einer sozialen Dimension zu erfahren. Und Theater beansprucht darüber hinaus immer noch den Charakter einer öffentlichen Zusammenkunft. Was dort verhandelt wird, geht über den engen Horizont des Einzelnen und seiner Erfahrung hinaus.
T HEATER
UND
Ö FFENTLICHKEIT
Die neuere theater- und kulturwissenschaftliche Forschung betont, dass Theater nicht das ist, was sich auf der Bühne abspielt, sondern das Zusammenspiel zwischen Schauspielern und Zuschauern in einem Raum, an einem Ort, zu einer Zeit. Das Ereignis der Aufführung ist in diesem Sinne nicht wiederholbar, auch wenn ein und dasselbe Stück mehrmals gespielt werden kann. Der performative Charakter des Theaters ist es denn auch, der mittlerweile von den Theatermachern betont wird, weil er es ist, der von den anderen Medien nicht ersetzbar ist. Theater ist die Kunst der Begegnung von lebendigen Menschen. Dazu gehört es, dass sich Menschen an einem Ort versammeln, um gemeinsam mit anderen etwas zu teilen. Theater ist geteilte Erfahrung. Oder wie es der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann ausdrückte: Ein Ort der Versammlung. Diese Verfasstheit des Theaters hat Konsequenzen für die Theater selbst. Dass Jugendliche oft keine Lust haben, im Theater zu sitzen, dass Schulaufführungen für die Theater eine Qual sein können, widerspricht der These nicht. Sie ist eine Aufforderung an die Theater, tatsächlich Orte für Jugendliche und für Kinder zu werden, an denen sie sich gerne aufhalten, wo sie sich bereichert fühlen, wo es cool ist, hinzugehen. Nicht der Kunsttempel, sondern das Theaterhaus ist die Zukunft des Theaters, das sich öffnet: auch für Disco, Tanz, Sport, Poetryslam. Dazu sind weit reichende Kooperationen nötig. Und hier ist der Punkt, an dem die Theaterpädagogik wieder ins Spiel kommt: Sie kann diese Öffnung der Theaterkunst zur Gesellschaft hin mit ihren vielfältigen Projekten begleiten; sie kann aber umgekehrt auch Menschen ins Theater, zum Kunsttheater hinführen. Theater zu spielen ohne Theater zu sehen ist ein Widersinn!
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,T HEATER
SPIELEN ‘ BRAUCHT
,T HEATER
SEHEN ‘
Es ist ein wissenschaftlich-ökonomisches Selbstmissverständnis der Gesellschaft, wenn sie meint, Kunst als Partialinteresse bestimmten zahlungskräftigen Gesellschaftsgruppen vorbehalten zu können: Dass nun die ,kompetenzerweiternden‘ Potentiale vor allem der Musik und des Tanzes, aber auch des Theaters von den Bildungsplanern entdeckt werden wie gerade in NRW, ist eine positive Entwicklung. Allerdings wird dabei häufig die pädagogische Indienstnahme des Theaters von der künstlerischen getrennt: Tänzer an die Schulen, aber gleichzeitig Schließung der Tanzsparten an den Theatern. Bisher gab es noch keine Gesellschaft ohne künstlerisch-kulturelle Hervorbringungen wie Tanz, Gesang, Ritual. In den Werken der Kunst, Malerei, in Literatur, Theater und Musik sind elementare und verdichtete Lebenserfahrungen enthalten. Die Kunst fungiert als Gedächtnis der Menschheit und zwar Gedächtnis für die Bereiche, Erfahrungen, die in den anderen Lebensbereichen auch in den Wissenschaften gar nicht oder nur unzureichend ausgedrückt und dargestellt werden können. Die Träume, Ängste, Visionen, Obsessionen, Wünsche und Entwürfe, die im Leben vielleicht nie ihren Platz finden, die aber zu ihm gehören, sind Gegenstand von Kunst. Hier werden andere Raum- und Zeitverhältnisse, andere Körpertechniken, andere Sinneserfahrungen der Menschheit entwickelt. Die Kunst ist ein riesiges Laboratorium der Menschheit, dessen grundlegender Wert derzeit nicht genügend berücksichtigt wird. Deswegen gehören beide Seiten zur Medaille: ,Theater spielen‘ und ,Theater sehen‘, Produktion und Rezeption. Es gilt, die Teilhabe an der Theaterkunst, wie sie der Kunstbetrieb und die Institutionen zur Verfügung stellen, zu ermöglichen: Der Theaterbesuch ist die eine Seite, die andere die eigene künstlerische Aktivität. Dass beides in der Praxis häufig getrennt wird bzw. in der Theaterpädagogik die Theaterbesuche zu kurz kommen, verdankt sich einem Missverständnis, das noch tief in den Ausbildungsplänen verankert ist. Die Kunst ist nicht so weit vom Leben entfernt, wie häufig angenommen wird. Sie basiert auf ästhetischen Erfahrungen, die wir im Alltag machen, auf den elementarästhetischen Erfahrungen, die von Kindern im Umgang mit den verschiedensten Materialen im Spiel und im Alltag gemacht werden. Diese Erfahrungen werden ja auch in der kunstpädagogischen Praxis ebenso wie in der theaterpädagogischen aufgenommen und weiterentwickelt. Leider sind viele Pädagogen, Kunst- wie Theaterpädagogen, nicht immer in der Lage, die Verbindung beider Bereiche auch wirklich herzustellen. Gerade die Theaterkunst basiert ja auf Spielerfahrungen, wie sie in der Kindheit gemacht werden, und entwickelt
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sie auf hoch differenzierte Weise weiter und verleiht ihnen eine neue Qualität. Das ist heute besonders im performativen Theater mit der assoziativen Verwendung von Alltagsmaterialien und Versatzstücken sichtbar. Das Problem besteht darin, dass derzeit unser gesamtes Bildungs- und Sozialsystem einem Paradigmenwechsel unterliegt: In den Modellen des Bildungsmanagements mit seinen Controllingverfahren, die vor allem an quantitativen Daten und dem aus der Ökonomie entlehnten Modell des Wettbewerbs orientiert sind, werden die Räume, in denen sich ästhetische Erfahrung abspielen kann, kleiner. Kunst braucht Zeit, braucht Muße, braucht den Entwicklungsgedanken, der zurzeit zugunsten von Modulen und Baukastenprinzipien in den Unterrichtsplänen suspendiert wird. Und hier wäre es wichtig, dass die Frühförderung Räume für ästhetische Erfahrungen, für Ungestaltetes (was ja die Grundlage von allem Gestalteten ist!), für Eigenspiel und Spontaneität, auch für überraschende Entwicklungsverläufe lässt. Deswegen sind ja Methoden der Improvisation Grundlage theaterpädagogischer Praxis. Die Ausbildungsangebote sehen das, soweit ich sie im Moment überblicken kann, nur sehr wenig vor. Kunst wird mit dem Argument der ,Leistungsoptimierung‘ in die Bildungspläne aufgenommen: Musikalische Kinder rechnen besser. Kinder, die Theater spielen, reden besser, können sich wirkungsvoller präsentieren und verkaufen. Es handelt sich um eine restringierte Form künstlicher Praxis, die der Freiheit, die Spontaneität und Spiel brauchen, aus denen sich die Künste speisen, keine Zeit mehr gibt. Dass Kunst auch zu tun hat mit Widersinn, mit dem, was sich mit dem Leistungsprinzip nicht vereinbaren lässt, dass die Künste Widerspruch zu gesellschaftlichen Entwicklungen, auch zu Fehlentwicklungen artikuliert haben und artikulieren, bleibt in der didaktischen Perspektive aus dem Blick. Kunst hat mit Freiheit zu tun. Und eben dieser Erfahrungsraum, der durch sie angeboten wird, macht sie für Bildungsprozesse fruchtbar. Wenn unter Bildung nicht nur Kompetenzentwicklung, sondern auch Persönlichkeitsentwicklung verstanden wird.
B ILDUNG – M ITTEL
ZUM
Z WECK
Bildung ist derzeit der Leitbegriff, unter dem kultur- und bildungspolitische Weichenstellungen auch bezogen auf das Theater erfolgen. Der moderne dynamische und ganzheitliche Bildungsbegriff steht für den lebensbegleitenden Entwicklungsprozess des Menschen, bei dem er seine geistigen, kulturellen und lebenspraktischen Fähigkeiten und seine personalen und ,sozialen Kompetenzen‘ erweitert. Der Bildungsbegriff, wie er derzeit in der pädagogischen, in der kul-
200 | T HEATER – S PIELEN UND Z USCHAUEN turpädagogischen und kulturpolitischen Diskussion boomt, ist – ohne dass dies noch offensichtlich ist – begrenzt. Mir liegt sehr daran, den Aspekt der Begrenzung hier herauszuarbeiten, da wir uns in einer Situation befinden, in der mit dem der Qualitätssicherungen und der Ökonomie entliehenen Vokabular eine Habitualisierung von statten geht, in der bestimmte Gehalte durch den routinemäßig geforderten Gebrauch eines bestimmten Vokabulars (ich erinnere nur an Antragslyrik) verloren zu gehen droht. Im Mittelpunkt steht immer der Mensch, der sich bildet, der seine Kompetenzen ausbildet. Wo aber bleibt die Gemeinschaft? Das Gemeinwesen, wo der Mensch als ,Zoon Politikon‘? Dient die Gemeinschaft nur der Ausbildung des Einzelnen? Ist sie Mittel zum Zweck? Instrument um die Vervollkommnung kommunikativer, sozialer und persönlicher Kompetenzen zu ermöglichen? Dann geht es tatsächlich billiger: Dann brauchen wir nicht den Theaterbesuch, die Unterhaltung ganzer Theatersparten, wenn es ein Workshop oder die Arbeitsgemeinschaft am Nachmittag mit dem Theaterpädagogen auch tun, durch die ein Schüler dann seine individuelle Leistungsbilanz durch Präsentation, Rhetorik und performative Präsenz steigern kann. Interessanterweise wird auf der Wikipedia-Seite unter Bildung folgendes Zitat gebracht, dem wir sicherlich alle zustimmen werden: Bildung ist „ein aktiver, komplexer und nie abgeschlossener Prozess, in dessen glücklichem Verlauf eine selbstständige und selbsttätige, problemlösungsfähige und lebenstüchtige Persönlichkeit entstehen kann.“ (Wikipedia) Es ist von Daniel Goeudevert, einem Spitzenmanager von Citroën, einem jener Vertreter der Industrie, die zum Glück wissen, dass Kompetenzentwicklung ohne Bildung nicht zu haben ist. Aber reicht das? Hat Theater nicht einen weitergehenden Auftrag?
B ILDUNG BLEIBT NICHT BEI P ERSÖNLICHKEIT STEHEN
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Nach Humboldt ist Bildung die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die „Aneignung der Welt entfalten“ und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen. Wir nehmen davon vorrangig die individuelle Persönlichkeit in den Blick, wie auch aktuell in der Sozialpolitik die Verteidigung und Befriedigung von Einzelinteressen leitend ist. Einzelne, die mit der Befriedigung ihrer Interessen beschäftigt sind: Das „Ich“ wird zum höchsten Werk seines Selbst! Das „Ich“ zum durch Wellness und Kultur verschönten Kunstwerk.
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Was meint dem gegenüber das politische, das ja am Anfang des abendländischen Theaters stand, denken wir an das griechische Theater, das im Rahmen der Polis seinen Platz gefunden hatte? Der Mensch ist ein ,Zoon Politikon‘ – ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen. Die Grundbestimmung des Menschen ist das Zusammenleben mit anderen, nur so verwirklicht er seine Natur, die ihn im Gegensatz zu den Tieren mit Sprache und Vernunft ausgestattet hat und damit mit der Möglichkeit, sich Vorstellungen von Recht und Unrecht zu machen und mit anderen auszutauschen. Wer außerhalb des Gemeinwesens lebt, der ist, so Aristoteles, „entweder ein Tier oder aber ein Gott“. Wilhelm Humboldt gründete seinen Bildungsbegriff auf zwei Füßen: dem „autonomen Individuum“, das in der Lage sein sollte, sich selbst zu bestimmen, und dem Begriff des „Weltbürgertums“, in dem Werte wie Solidarität und Verantwortungsbewusstsein für das Ganze der menschlichen Welt angesprochen sind. Zum „Weltbürger“ werden heißt, sich mit den großen Menschheitsfragen auseinanderzusetzen: sich um Frieden, Gerechtigkeit, um den Austausch der Kulturen, um andere Geschlechterverhältnisse oder eine andere Beziehung zur Natur zu bemühen. Die universitäre Bildung sollte – ganz im Gegensatz zu dem, was heute proklamiert wird – keine berufsbezogene und damit von wirtschaftlichen Interessen abhängige Ausbildung sein! Das gilt auch für die Theaterpädagogik. Der Begriff ,Politik‘ wird aus dem griechischen Begriff ,Polis‘ für Stadt oder Gemeinschaft abgeleitet. Ergänzt werden müsste der Bildungsbegriff, mit dem es das Theater und die Theaterpädagogik jetzt so emphatisch zu tun haben, durch eine Orientierung an der menschlichen Gemeinschaft: Politik, Umweltpolitik, Klimapolitik – nichts ist möglich, wenn wir nicht in der Lage sind, über uns selbst als sich perfektionierendes Einzelwesen hinaus zu denken. Nicht nur Bildung braucht Kunst oder Kunst Bildung, sondern: Politik braucht Kunst und Kunst braucht das Politische im tiefen Sinne des Wortes! Bei Immanuel Kant heißt es in seiner Schrift „Über Pädagogik“: „[Sie] ist diejenige, durch die der Mensch soll gebildet werden, damit er wie ein frei handelndes Wesen leben könne. [...] Sie ist Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden Wesens, das sich selbst erhalten, und in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst aber einen innern Wert haben kann.“ (Kant, 1983)
Vielleicht wäre ja auch eine politische Kultur eine Aufgabe von Theaterpädagogik. Nicht eine Kultur des Debattierens, sondern des Teilens und öffentlichen Mitteilens von Erfahrungen.
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ABER EIN
E RWEITERN
Hier schließt sich ein Kreis. Am Anfang der Theaterpädagogik – und das war auch in anderen Ländern Europas nicht anders – stand der Impuls im Zusammenhang mit den Reform- und/oder Revolutionsbestrebungen der 1960er Jahre des 20. Jahrhunderts, einer tief greifenden Humanisierung der Lebenswelt verbunden mit einem Politikverständnis, das nicht nur auf abstrakt demokratischen Ritualen beruhte, sondern das eine Partizipation in erster Person forderte. Den Mut sich Gehör zu verschaffen, wie arm und klein jemand auch sein mochte. „Wir sind auch da!“, riefen die Kinder im Grips Theater! „Wir auch“, schrien die Frauen, „Wir auch!“, die Türken, die Gastarbeiter. „Wir wollen Zärtlichkeit!“, die Kinder im Theater Rote Grütze, wir sagen: „Nein zu Gewalt und sexuellem Missbrauch“. Und dann kamen die Träume, die Ängste, die Visionen: „Wir haben eine reiche Innenwelt, wir können Dinge sehen, gestalten, erträumen, von denen ihr noch gar nichts gesehen habt!“ Und dann – nachdem die Medien dieses ja inzwischen mit ihren technologischen Möglichkeiten noch besser konnten – der Ruf nach der Wirklichkeit. „Wir sind hier als lebendige Menschen, gemeinsam in einem Raum: Zuschauer und Schauspieler, Kinder und Erwachsene. Wir teilen eine Erfahrung, wir stiften Gemeinschaft.“ Auf dieser Erfahrung des leiblichen und materiellen Hier und Jetzt der theatralen Begegnung beruht das performative Theater, das aktuell in aller Munde ist und versucht, die Wege des traditionellen ,Als-ob‘ der Bühnenfiktion zu verlassen oder doch in Frage zu stellen. Jetzt zitiere ich die emphatischen Worte von Peter Sellers: Der amerikanische Regisseur Peter Sellars hält es angesichts der ausschließlich am Profit orientierten ökonomischen Globalisierung für nötig, ein „Bild der Gemeinschaft zu formen: Jeder Mensch lernt von jedem, jeder fühlt mit jedem, jeder spricht mit jedem, die ganze Nacht lang, über die Grenzen hinweg. Ich möchte einen Raum kreieren“, sagt er, „in dem es möglich ist, verschiedene Welten zusammen zu schließen, damit man einander akzeptieren lernt.“ (Sellars, 2007)
Im Zuge der aktuellen 1968er Nostalgie ist es vielleicht erlaubt, so idealistisch zu werden. In jedem Falle entspricht es der Tradition von Theater und Kunst in den westlichen Gesellschaften, nicht nur eine Rolle als Dienstleister im Bildungsangebot des Staates zu übernehmen, sondern auf der Eigenart, Eigenzeit und dem ästhetischen Mehrwert künstlerischer Prozesse zu beharren, auch wenn das manchem Lehrer und Bildungspolitiker nicht in den Kram passen mag.
E REIGNIS UND E RFAHRUNG
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Wenn die Bildungsplaner jetzt das Kreativitätspotential von Musik, Tanz und Theater an die Schulen holen (wie im „Landesprogramm Kultur und Schule“ in NRW), so müsste dazu eben auch der Besuch von Aufführungen gehören. Man kann nicht Schauspieler und Tänzer an die Schulen holen und gleichzeitig Theater schließen oder unterfinanzieren! Kultur und Kunst regen Visionen, Veränderungen, auch Kritik am Bestehenden an. Sie sind Motor von kultureller Entwicklung – oder aber auch Orte des Innehaltens, Nachdenkens, in Frage stellens. Die Frage danach, wie und wo der Einzelne in der Gesellschaft steht, wie er sich sieht in Beziehung zu den Mitmenschen, zu Staat und Gesellschaft ist seit jeher Thema des Theaters. Theater ist das Medium, in dem diese Fragen erörtert, dargestellt und öffentlich kommuniziert werden können. Theater ermöglicht die Selbstbefragung einer Kultur, und wenn die Kulturpolitik Theater- und Kunstangebote abbaut, einspart und unter Rechfertigungsdruck stellt, während die Bildungspläne das Potential von Tanz, Theater und Musik im Hinblick auf die Entwicklung von Schlüsselkompetenzen für sich entdecken, so ist das eine widersinnige Situation. Der Theaterbesuch ist notwendiger Bestandteil der Theaterpädagogik und des Lehrplans. Für Theater muss Zeit (und Geld) sein! Der Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen von kultureller Teilhabe, den wir derzeit beobachten können, taucht als Problem der Sozialpolitik wieder auf.
E IGENWERT
KÜNSTLERISCHER
E RFAHRUNG
Ich muss den Lesern zum Schluss noch ein wenig von dem nehmen, was ästhetische Bildung eigentlich geben müsste: etwas essentiell Wichtiges – nämlich Zeit! Kinder benötigen für eine Begegnung mit Theaterkunst – gleichgültig ob sie selbst spielen oder Theater sehen, vor allem eines: Zeit. Sie benötigen Zeit. Wo keine Zeit ist, können sich keine ästhetischen Erfahrungen entfalten. Deshalb arbeiten viele Künstler mit dem Element Zeit. Im Theater findet ein anderer Umgang mit Zeit statt als im Alltag. Pädagogen berücksichtigen häufig nicht, dass Kinder für ästhetische Erfahrungen Zeit brauchen, oder das Diktat der Stundenpläne erlaubt es nicht, sich Zeit zu nehmen. Erfahrungen im Theater widersetzen sich der unmittelbaren didaktischen und pädagogischen Verwertbarkeit. In der Kunsttheorie spricht man auch von der Eigenzeit künstlerischer Erfahrung. Häufig kommt der tiefe Eindruck, den ein Theaterbesuch hinterlassen hat erst Wochen später an die Oberfläche. In glücklichen Fällen bleibt er etwas, was man sein Leben lang mit sich herumtragen kann. Dieser geheime Besitz hat nur einen Nachteil: Er lässt sich weder quantifizieren, noch evaluieren. Insofern ist
204 | T HEATER – S PIELEN UND Z USCHAUEN Theater auch immer subversiv: „Ich sehe was, was Du nicht siehst und das gehört mir.“
L ITERATUR Bettelheim, B. (1977). Kinder brauchen Märchen. Frankfurt am Main: Fischer. Fischer-Lichte, E. (2004). Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fischer-Lichte, E., Horn, C. et al. (Hrsg.) (2001), Wahrnehmung und Medialität, Theatralität Bd. 3. Tübingen/Basel: Francke. Hentschel, I. (1988). Kindertheater. Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel. Hentschel, I. (1999). Was ist wirklich im Theater? Simulation und Spiel Theater und virtuelle Welten. In J. Richard (Hrsg.), Theater im Generationenverhältnis (S. 91-113). Frankfurt a. M.: Haag + Herchen. Hentschel, I. (2003). Sinn und Sinnlichkeit. Dimensionen eines Lernorts Theater. In E. Mittelstädt & ASSITEJ (Hrsg.), Grimm & Grips. 17. Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater (S. 29-47). Frankfurt a. M. Hentschel, I. (2006). Aber was ist schon realistisch?! Plädoyer für ein erwachsenes Jugendtheater. In Bundesverband Darstellendes Spiel e.V. (Hrsg.), betrifft uns, Fokus Schultheater 05 (S. 20- 29). Hamburg: KörberStiftung. Hentschel, I. (2007). Dionysos kann nicht sterben – Theater in der Gegenwart. Münster: LIT. Hentschel, I. (2007a). Kind, Kunst und Kompetenzen. Ingrid Hentschel im Gespräch mit Eckhard Mittelstädt. In IXYPSILONZETT 1 (S. 4-9). Berlin: Verlag Theater der Zeit. Hentschel, I. (2007b). Seismographen von Kindheit. Pädagogische und ästhetische Entwicklungen im Kinderheater. In G. Taube (Hrsg.), Kinder spielen Theater (S. 102-121). Milow: Schibri. Hentschel, U. (1996). Theaterspielen als ästhetische Bildung. Weinheim: Deutscher Studienverlag. Hentschel, U. (2007). Theaterspielen als ästhetische Bildung. In G. Taube (Hrsg.), Kinder spielen Theater (S. 88-101). Milow: Schibri. Hüther, G. (2004). Die Macht der inneren Bilder. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Hüther, G. (2006). The compassionate brain: How empathy creates intelligence. (M. H. Kohn, Übers.) Boston/London: Trumpeter.
E REIGNIS UND E RFAHRUNG
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P UBLIKATIONEN
AUS DEN 1970 ER J AHREN Ebert, H. & Paris, V. (1976). Warum ist bei Schulzes Krach? Kindertheater Märkisches Viertel/ Rollenspiel/ Politisches Lernen, Teil 2. Berlin: Basis. Fries, A. & Häussler, H. (1976). Soziales Training durch Rollenspiel. Veränderung eines Zustandes am Beispiel einer Hauptschulklasse in BerlinKreuzberg. Köln/Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt. Hartung, J. (1977). Verhaltensänderung durch Rollenspiel. Düsseldorf: Campus. Möbius, P. & Roberg, D. (1974). Rollenspiele und was man damit machen kann/ Hoffmanns Comic Theater/ Will dein Chef von dir mal Feuer. Berlin: Rotbuch. Nickel, H.-W. (1972). Rollenspielbuch. Theorie und Praxis des Rollenspiels, Bd. 1. Recklinghausen: Landesarbeitsgemeinschaft für Spiel und Amateurtheater in Nordrhein-Westfalen. Richard, J. (1972). Zum angeleiteten Rollenspiel mit Arbeiterkindern im Schulalter. In Gesamtschulinformationen 3.
Sinn und Sinnlichkeit Dimensionen eines Lernorts Theater
„Woher diese leeren Theater? Nur durch das Ausbleiben des Publikums. Schuld daran – nur der Staat. Warum wird kein Theaterzwang eingeführt? Wenn jeder Mensch in das Theater gehen muss, wird die Sache gleich anders. Warum ist der Schulzwang eingeführt? Kein Schüler würde eine Schule besuchen, wenn er nicht müsste. Beim Theater, wenn es auch nicht leicht ist, würde sich das unschwer ebenfalls doch vielleicht einführen lassen. Der gute Wille und die Pflicht bringen alles zustande. Ist das Theater nicht auch Schule, Fragezeichen!“ (Karl Valentin, Zwangsvorstellung)1
Ausgangspunkt dieses Aufsatzes sind zwei Befunde, die zunächst völlig unabhängig voneinander erhoben worden sind. So stellt Henning Fangauf vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum jüngst in einer Rede zur Eröffnung der BadenWürttembergischen Theatertage 2003 fest: „Die Sparte Kindertheater befindet sich in der Krise!“ Spätestens seit 1999, so führt er aus, würden in der Leistungsschau der deutschen Kinder- und Jugendtheaterlandschaft, dem Deutschen Kinder- und Jugendtheater-Treffen in Berlin eklatant wenig Stücke für Kinder gezeigt. Die Altersgruppe zwischen 4 und 12 Jahren sei derzeit im Theater unterrepräsentiert. Das Verhältnis der eingeladenen Aufführungen bewege sich weg vom Kinderstück und hin zum jugendlichen Publikum: Nicht nur der geringe quantitative Anteil von Kindertheaterstücken, auch die Qualität veranlasse zu der besorgten Feststellung: „Künstlerische Herausforderungen und die Möglichkeiten für ästhetische Innovationen“ scheinen derzeit nicht im Theater für Kinder, sondern im „Jungen Theater“ zu liegen. (Fangauf, 2003) Tatsächlich richten sich schon seit langem immer weniger Theaterangebote speziell an ein Kinderpublikum, sondern sprechen ebenso Jugendliche und Erwachsene an. (vgl. Hentschel, 1996) Eine Entwicklung, die eigentlich der ge1
In Alles von Karl Valentin hg. von Michael Schulte, München, Zürich 1979, 2.Aufl.
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wünschten Normalisierung der Verhältnisse entspricht. Das Kindertheater, das lange darunter gelitten hat, ein Spezial- und kein Normaltheater zu sein, ist endlich den Kinderschuhen entwachsen. Ein Großteil der Produzenten hat inzwischen das begrüßenswerte Selbstverständnis entwickelt. „Theater kann eben nur Theater sein!“ Die Abkehr von der pädagogischen Fundierung des Kindertheaters, die Mitte der 80er Jahre einsetzte, trug dazu bei, dass das Kindertheater in der Spezifität seines Mediums begriffen wurde, nämlich in erster Linie Theater zu sein, sodass es seine Orientierungen eher von der ästhetischen als der pädagogischen Seite her sucht. Im Zuge der berechtigten Kritik am zu eng gefassten „kindgerechten“ Theater sind wir aber mittlerweile dabei, so sieht es aus, das Kind ganz aus dem Auge zu verlieren. Eine Rückbesinnung auf das Zielpublikum des Kindertheaters, nämlich die Kinder selbst, ist notwendig und so schließt der Autor seinen o. g. Beitrag: „So kann es nicht weitergehen!“ „So kann es nicht weitergehen!“ Diesen Schluss legt auch der zweite Befund nahe, die 2001 veröffentlichte PISA-Studie über die Schulausbildung, die insbesondere für die deutsche Landschaft erschütternd ausgefallen ist. Nicht nur, dass eine der reichsten Nationen der Erde im internationalen Vergleich weit abgeschlagen platziert wurde, besonders in den Bereichen Lesekompetenz, Problemlösungsstrategien und selbstgesteuertes Lernen, also diejenigen Fähigkeiten, die sehr eng an ästhetische Bildung geknüpft sind, traten augenfällige Mängel in Erscheinung, vom sozialen Gefälle der Leistungsfähigkeit ganz zu schweigen. Besonders skandalös aber ist, dass – wie auch immer man die Studie insgesamt fachlich beurteilen will – in den Kriterien nicht nur eine eklatante Vernachlässigung der kulturellen Bildung und der Künste festzustellen ist, sondern dass sie im Untersuchungsprofil überhaupt nicht vorkommen. Dennoch ist davon auszugehen, dass PISA einen erhöhten Legitimationsdruck nicht nur für unser Bildungssystem bedeutet, sondern auch für die Künste, die sich an Kinder richten. Also auch für das Kindertheater. Die PISA-Studie machte schließlich die Bedeutung von Bildung und der jungen Generation für unsere Gesellschaft bewusst. Das Kindertheater ist also dringend aufgefordert, seine Bedeutung und Orientierung zu überdenken und zu reformulieren. Das Thema des Jahrbuchs für Kinder- und Jugendtheater 2004 ist bereits ein Ergebnis davon. 2 Und hier ist der Punkt, wo beide Befunde zusammentreffen: der Lernort Theater, besser: Der Lernort Kindertheater ist geboren oder wiedergeboren. Ge-
2
Grimm & Grips 17, Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater, hg. von Eckhard Mittelstädt i.A. der ASSITEJ, Frankfurt/M.
S INN UND S INNLICHKEIT
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lernt wurde im Kindertheater nämlich schon seit seinen Ursprüngen in den sogenannten didaktischen Dramen der Aufklärung. Und dann immer wieder in unterschiedlichen Konzepten, mit unterschiedlichen Verfahren und unterschiedlichen Ergebnissen und Wirkungen. Um die soll es in diesem Beitrag gehen. Vorab aber gilt es noch auf einen weiteren Befund hinzuweisen: Wie wichtig es ist, Kinder wieder in den Mittelpunkt zu stellen, machen nicht zuletzt Umfragen deutlich, die feststellen, dass sich der Großteil der Bevölkerung, wenn er nicht gerade selbst Schulkinder hat, überhaupt nicht für die Probleme unseres Bildungssystems interessiert. Steuerliche und Rentenfragen rangieren deutlich vor den Problemen, die mit der Ausbildung der jungen Generation und damit der Zukunft der Gesellschaft zu tun haben. Auch dieser Befund trifft sich mit dem erstgenannten. Kinder geraten aus dem Blick. Demographisch gesehen werden sie zur Minderheit, zum „kostbaren Gut“. Bereits in den 80er Jahren wurde vor einer „Verinselung“ kindlicher Lebensverhältnisse gewarnt. Niemals zuvor sind Erwachsene so alt geworden wie heute, und niemals zuvor gab es so viele von ihnen im Verhältnis zu immer weniger Kindern. Kinder scheinen in einer von Erwachsenen dominierten Gesellschaft aus dem Blick zu geraten. Ausgangspunkt dieses Aufsatzes ist die Befürchtung, dass unter dem Einfluss einer notwendigen Bildungsdiskussion alte Polarisierungen im Kindertheater wiederbelebt werden und die Ergebnisse von PISA zu einer Funktionalisierung des Kindertheaters beitragen könnten.3 Ich möchte versuchen, Gedanken dazu beizusteuern, wie es möglich ist, dass das Theater für Kinder sowohl künstlerisch frei und ästhetisch orientiert ist und zugleich sein Publikum engagiert im Blick hat. Es handelt sich darum, den Lernort Kindertheater, wie er in der kulturpolitischen Debatte notwendig beschrieben und vertreten wird, auch als einen Ort der Sinne und des Unsinns zu verteidigen.
3
Vgl. etwa die Rede von Johannes Rau, der vor einer „Funktionalisierung ästhetischer Erfahrung“ warnt (Bulletin der Bundesregierung Nr. 51-2 vom 19. Juni 2003).
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L ERNORTE /L ERNEN
UND
S INNLICHKEIT
Ich kann jeden Ort nehmen und ihn einen Lernort nennen.4 Was ist nötig, damit sich ein Ort in einen Lernort verwandelt? Ein Mensch, der sich an diesem Ort befindet und eine Person, in der Regel ein Wissenschaftler, die nachher beschreiben und definieren kann, was der Mensch am Lernort gelernt hat. Bei entsprechender Vorbildung kann er die Beschreibungsarbeit auch später selbst vornehmen, denn gelernt hat er immer etwas. Die Frage ist nur was, und wie uns dieses Gelernte zugänglich wird. Lernorte entstehen vor allem da, wo kulturpolitische Begründungszwänge herrschen. So hat etwa der an der nationalen Filmförderung äußerst interessierte ehemalige Kulturstaatsminister Nida-Rümmelin das Kino zum Lernort ausgerufen, nachdem die Museen schon lange Lernorte geworden waren, und was liegt näher, als dass wir nun den Lernort Kindertheater zu beschreiben versuchen.5 Paradox genug, war das Theater nicht einmal angetreten, das herrschende Schulsystem samt Leistungszwang und Pauker Mentalität zu kritisieren?! Lernen können wir überall und immer. Warum nicht im Theater?! Aber nicht immer sprechen wir von lernen und nicht immer wollen wir lernen. Der Begriff passt dann mit Sicherheit, wenn wir ein aktives Lernsubjekt haben. Es kann aber auch gelernt werden, ohne dass der Betreffende es überhaupt merkt. So geschieht der Großteil unseres Spracherwerbs durch Erfahrung mit der Sprache, über die wir uns nicht bewusst sind. Es gibt auch heimliche Lehrpläne, Dinge, die indirekt hinterrücks gelernt werden. Lernen setzt also nicht nur Bewusstheit voraus. Wie die Psychoanalyse uns sagte, gibt es große unbewusste und vorbewusste Anteile im Lernen: Lernen geht auch sinnlich und durch die Sinne vonstatten und davon haben wir bekanntlich mindestens fünf verschiedene. Unsere Sinne lernen, selbst wenn wir es nicht wollen. Das ist das große Problem der Pädagogik, dass ihre Zöglinge auch lernen, was sie nicht lernen sollen, z. B. Rauchen und Alkoholtrinken, wie man jemanden nieder boxt und wie man andere austrickst.
4
Vgl. Peter Brook: „Ich kann jeden Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ (Brook, 1975, S.19).
5
Eine kurze Internet- Recherche enthüllt unzählige Lernorte: Lernort Natur, Lernort Internet, Lernort Multimedia, Lernort Berufsschule, Lernort Bauernhof, Lernort Kirchenraum, Lernort Europa, Lernort Freizeit und schließlich wird gefragt: Friedhof – Lernort oder Gedenkstätte?
S INN UND S INNLICHKEIT
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Kunst und Lernen sind noch niemals bruchlos zusammengegangen. Angesichts der Geschichte der Kunst und des Theaters ließe sich eher sagen, dass das Theater im gleichen Maße wie sich moralische und pädagogische Hoffnungen damit verbanden (Lessing) auch Befürchtungen hervorrief, falsche Vorstellungen über die Welt und den Menschen zu vermitteln (Platon), die Sitten zu verderben und die Leidenschaften zu stimulieren (Rousseau). Historisch gesehen diente die Theaterpraxis nicht nur dazu, die Menschen zu läutern, sondern auch ihrem rohen Vergnügen von der Shakespearebühne bis zum Grand Guignol. Wenn das Kindertheater heute Lernort sein soll, dann müssen wir also nicht nur fragen, was soll dort gelernt werden, sondern auch, was ist es, das die Spezifität des Theaters als Lernort ausmacht. Und ob da nicht etwas von der Identität der Kunstform Theater verloren geht, weil es unter dem Aspekt des Lernens nicht mehr gesehen und wahrgenommen wird. Das Theater nicht als erneuter Dienstleister der Pädagogik – das hatten wir in den 70er Jahren schon, auch wenn viele Lehrer es immer noch als einen solchen betrachten wollen – das Kindertheater hat sich zu Recht aus den Fängen der pädagogischen Indienstnahme befreit.
L ERNEN
IM K INDERTHEATER – EIN GESCHICHTLICHER R ÜCKBLICK Die Geschichte des Kindertheaters entfaltet sich – wie sollte es auch anders sein – stets im Zusammenhang mit Entwicklungen und Veränderungen, denen Kindheit jeweils in der Gesellschaft unterworfen war. Wie Kinder lebten und wie Kinder gesehen wurden, war zentral für die jeweilige Ausprägung des Theaters für Kinder. Und bis heute lassen sich Stücke und Theaterproduktionen für Kinder auch als Dokumente über die Kindheit lesen. Nicht in einem realistischen Sinne, sondern in der Art und Weise wie – und ob überhaupt – Kinder auf die Bühne gebracht oder als Publikum angesprochen werden, zeigt sich, welchen Stellenwert sie in der Gesellschaft einnehmen. Im Blick auf die Geschichte des Kindertheaters lässt sich feststellen, wie Entwicklungen und Konzeptionen jeweils bestimmten gesellschaftlich vorherrschenden Kindheitsbildern entsprachen und wie es dazu beitrug, diese zu modifizieren. Wie die Kunst sonst auch, ist das Kindertheater einerseits Seismograph von Entwicklungen und andererseits auch Vorreiter. Das Kindertheater weist die Besonderheit auf, dass sich seine Entwicklung auch von den in der pädagogischen Diskussion jeweils zentralen Theorien beeinflusst sah wie auch von den sozialen Bewegungen.
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Die Entwicklungen, die wir in den unterschiedlichen Konzeptionen von Kind und Kindheit und von der Bedeutung und Funktion des Kindertheaters feststellen können, sind parallel auch in der Literatur für Kinder zu finden. (vgl. Mattenklott, 1994) Beide haben die Besonderheit ihrer Rezipienten zur Bedingung ihrer Gattung gemacht und können nicht umhin, die Differenz zwischen erwachsenen Produzenten (Theatermachern und/oder Autoren) und ihrem jungen Publikum in irgendeiner Weise zu berücksichtigen.
V ERSTAND UND W ITZ – K INDERTHEATER
NEOREALISTISCHES
„Ein Kind ohne Kopf ist ein Krüppel fürs Leben.“ So formulierte der Verleger Klaus Wagenbach das Motto für die Arbeit des Grips-Theaters, als er 1979 das erste Buch darüber herausbrachte. Der Satz wurde wegweisend für eine neue Sichtweise auf die Kindheit und damit das Kindertheater. Vom Objekt von Erziehungsstrategien wurde das Kind zum Subjekt gesellschaftlicher Innovation erklärt und bisweilen auch verklärt und ein radikal anderes Kindheitsbild eingeführt. Das des aufgeklärten, pfiffigen und klugen Kindes, das den Erwachsenen auf die Sprünge hilft. Melchior Schedlers Buch über das Kindertheater unter dem Titel Schlachtet den blauen Elefanten! (1973) war programmatisch für eine ganze Bewegung zu verstehen. Der blaue Elefant stand für kindertümelnde Phantasie, für eine Traumwelt, die die Kinder von der wirklichen Realität ablenken sollte. Das neue Kindertheater räumte auf mit einem alten Bild von Kindheit. Verstand statt Gefühl und Realität statt Traum, darum ging es in den Stücken, die an der Wiege des emanzipatorischen Kindertheaters standen. In Anlehnung an die Brecht’sche Ästhetik versuchte man mit Hilfe von Pädagogen und Didaktikern zu differenzieren, die produktive von der unproduktiven Phantasie zu trennen, die soziale Phantasie zu fördern und die kompensatorische zu vermeiden, die Gefühle, die für eine Veränderung der Gesellschaft wichtig waren, wie Mut und Zuversicht zu stärken, andere zu verbannen. Auch bei Brecht finden wir den Versuch, die Kette der Emotionen sozusagen in Bezug auf programmatische Funktionen hin zu differenzieren. (vgl. Hentschel, 1988) Damit war gegenüber der Tradition des Kindertheaters und eines Theaterverständnisses, das bis heute die Köpfe der breiten Öffentlichkeit beherrscht, eine entscheidende Wendung eingetreten. Die Geschichte des Kindertheaters vor 1968 ist die Geschichte der didaktischen Dramen der Jesuiten, dann der Aufklärung und schließlich des Weih-
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nachtsmärchens, das bis heute für das Verständnis des Kindertheaters in einer breiten Öffentlichkeit prägend geblieben ist.
G ENUSS UND I LLUSION – W EIHNACHTSMÄRCHENTRADITION Der Regisseur und Theaterleiter Görner hatte Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Not eine Tugend gemacht und jene Institution in die Welt befördert, die bis heute vielen Kinder- und Jugendtheatermachern ein Dorn im Auge ist: das Weihnachtsmärchen. Just zur weihnachtlichen Sauregurkenzeit entwickelte er ein Theaterangebot, das fortan die Häuser füllte. Seine Kinderkomödien und Märchenbearbeitungen (1855/56) waren eine Synthese aus bürgerlichem Sozialisationsdrama und der damals üblichen Kinderpantomime. Sie richteten sich an die ganze Familie, Kinder und Erwachsene und boten den Stoff für imposante Inszenierungen und Feuerwerke artistischer Mittel. Meistens wurden sie durch moralisierende Schlussresümees und eingängige Verse komplettiert. Das Weihnachtsmärchen wollte nicht lehren, es wollte unterhalten, erfreuen, illusionieren und einem Kindheitsbild Rechnung tragen, dass Kinder als Wesen betrachtete, die noch nicht gesellschaftsfähig waren, sondern im Schon- und Schutzraum von Familie und Schule ihrer Zukunft harren sollten. Da Kinder als noch unfertige, der Vervollkommnung zuzuführende Wesen betrachtet wurden, durften moralisierende Sätze am Schluss einer Aufführung nicht fehlen. Dieses Theater sollte aber vor allem delektiert werden, unterhalten und nicht erziehen: Sozusagen als weihnachtliches Bonbon nach der harten Schularbeit gereicht werden. Diese Rolle behielt das Theater lange Zeit, sie setzte sich fort mit Peter Pan (1905) und Peterchens Mondfahrt (1912) und wurde zwischenzeitlich nur konterkariert durch die Theater- und Erziehungsbewegung der Weimarer Republik, die inspiriert von den kulturellen und politischen Veränderungen in Russland, sozialdemokratisches und kommunistisches Kinder- und Jugendtheater hervorbrachte. Im Zuge der Entwicklung zum emanzipatorischen Kindertheater wurden Kulinarik, Fest und Genuss dem kommerziellen Weihnachtsmärchen und der Unterhaltungsindustrie überlassen, die mit ihren Musicalverschnitten jenen Teil des theatralen Genusses offenbar für sich gepachtet haben. Der theatrale Genuss war sozusagen in die Unkultur abgewandert und stand fortan für Verantwortungslosigkeit, Kindertümelei und ein unaufgeklärtes Verhältnis zu Kindheit und Jugend. Und nicht zuletzt wurde er auch für die ökonomische Ausbeutung der Kindheit von Seiten der Theater (die übrigens bis heute anhält, schaut man sich einige Stadttheaterproduktionen zur Weihnachtszeit an) Symbol.
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Weil diese Unterhaltungsstücke für Kinder meistens so eklatant schlecht und unwürdig gemacht sind, haben wir Probleme, den Traditionsstrang des Theaters, der sich in ästhetisch lustvollen Inszenierungen darstellt, angemessen zu verstehen und zu würdigen. Max Reinhard war es, der emphatisch eine Theaterkonzeption der Verzauberung und des Schönen formulierte, die durchaus diskussionswürdig wäre, wenn nicht diese Seite des Theaters durch andauernden Missbrauch so in Misskredit geraten wäre.
P ERSÖNLICHKEIT
UND
K OLLEKTIV
Für die sozialistische und kommunistische Bewegung waren Kinder von strategischer Bedeutung und ihnen – wie dem Bildungs- und Erziehungssystem – wurde das Maß an gesellschaftspolitischer Aufmerksamkeit zuteil, das sie wirklich verdienen, wenn auch die bildungspolitischen und kulturpolitischen Zielsetzungen dabei gelinde gesagt nicht immer im Sinne der Kinder waren. Die Vielfalt der sozialistischen Theaterarbeit für Kinder wurde erst sehr viel später wieder aufgenommen. Walter Benjamins Programm eines proletarischen Kindertheaters, das er in Kenntnis der Arbeit von Asja Lacis schrieb, eröffnete im Rahmen der 68er Bewegung eine Politisierung des Kinder- und Jugendtheaters.6 Indem Walter Benjamin Kindertheater als einen aktiven Prozess künstlerischer Bildung von Seiten der Kinder zu begründen suchte, trug sein wiedergefundener Text dazu bei, die neue Sichtweise auf Kinder zu untermauern, in ihnen selbständige Wesen zu erkennen, die nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt von Erziehung sein können und einen wesentlichen Pfeiler gesellschaftlicher Veränderungen darstellen. Die Politisierung des Kindertheaters hinterließ für die Geschichtsschreibung immer wieder historische Verengungen. So räumte erst 1995 Klaus Doderers und Kerstin Uhligs Studie über das Kindertheater der Nachkriegszeit mit dem (wissenschaftlichen) Vorurteil auf, dass es vor Grips und Grütze kein nennenswertes Theater in der Bundesrepublik gegeben habe. (Doderer & Uhlig, 1995)
6
Obwohl er genau das Gegenteil begründete, wenn er politische Erziehung erst für Kinder ab 12 Jahren gelten lassen wollte. Vorher, so meinte er, ginge es um die umfassende Entwicklung und Stärkung der kreativen Kräfte des Kindes. Hier sollten Kunst- und Theaterunterricht sowie musische Bildung eng ineinander greifen (Vgl. Walter Benjamin, Über Kinder, Jugend und Erziehung, Frankfurt, 1973).
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In Westdeutschland standen bis zum Start des emanzipatorischen Theaters für Kinder mit dem Grips Theater in Berlin vorrangig Stücke aus der Weltliteratur auf den Spielplänen, Märchen-, aber auch Literaturbearbeitungen (Stifter, Stevenson, Twain sowie Erich Kästner, Lindgren, Preußler).7 Dennoch war es nach der durch den Faschismus erzwungenen Unterbrechung in der Entwicklung des Kinder- und Jugendtheaters vor allem die DDR, die das Kind als wesentlich für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft erkannte und dem Kindertheater besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ. Im Nov. 1946 wird in Leipzig das Theater der jungen Welt mit Erich Kästners Emil und die Detektive eröffnet, 1949 das Theater der jungen Generation in Dresden, 1950 Theater der Freundschaft in Berlin. Ab 1954 wurden historische Stücke zur Geschichte der Arbeiterbewegung spielplanbestimmend sowie Zeitstücke über sozialistisches Zusammenleben, außerdem Sujets aus dem Lebensbereich der Kinder, Bearbeitungen von Kinderbüchern, Dramatisierung von Volksmärchen. Interessant ist, dass das junge Kindertheater der DDR nicht an die fortschrittlichen Bewegungen der Weimarer Zeit anknüpfte, sondern gemäß der kulturpolitischen Doktrin, die eine Orientierung am klassischen Erbe vorsah, auch zunächst auf das klassische Repertoire zurückgriff, wobei besonders Märchen im Mittelpunkt standen. (vgl. Hoffmann, 1976) Statt Lust zum Widerstand wie in Westberlin, wurde Einsicht in eine moralische Werteskala auf der Bühne vorgeführt.
M UTMACHTHEATER Nach der Überwindung der ersten antiautoritären Phase plädierte das emanzipatorische Kindertheater in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen für individuelle Emanzipation des Kindes im Zusammenhang mit der Aufdeckung politisch-ökonomischer Ursachen von Alltagsproblemen. Die Orientierung war eine im weitesten Sinne sozialistische und in engem Verhältnis zu den jeweils vorherrschenden Debatten in den sozialen Bewegungen (wie Frauen-, Umwelt-, Anti-AKW-, Friedensbewegung). Insgesamt lässt sich eine Hinwendung zu realistischerem Stil mit gleichzeitiger Abwendung vom Ausstattungstheater feststellen. Über alle inhaltlichen, politischen und ästhetischen Differenzen hinweg gab es
7
Auch hier ließ sich mit der Zeit ein Themenwandel feststellen hin zu einer stärkeren Berücksichtigung der Jugendprobleme, z.B. wurde Robinson soll nicht sterben, zum meistgespielten Stück (Vgl. Doderer & Uhlig, 1995).
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einen breiten Konsens bezogen auf das was Kindertheater leisten und bei den Zuschauern bewirken konnte.
T HEATER
SOLLTE
...
... Mut machen, Selbstbewusstsein fördern, zur Selbstreflexion anregen, Kommunikation in Gang setzen, der Emanzipation dienen, den Sozialisationsprozess begleiten, gesellschaftliche Realität erkennbar und durchschaubar machen. (Schneider, 1984)
Diese Zielsetzungen gaben der Theaterarbeit bis in die 80er Jahre hinein eine Orientierung. Inszenierungen konnten bezogen auf die jeweiligen Zielsetzungen kritisch befragt und diskutiert werden. So standen bspw. die Transparenz der Bühnenästhetik, die Stilisierung von Figuren oder die Komik in engem Zusammenhang mit den inhaltlichen Zielsetzungen. Die verschiedenen Konzeptionen und Phasen des Kindertheaters waren verbunden mit bestimmten Vorstellungen des Lernens, der Politik und schließlich der Pädagogik, die zunehmend an die Stelle gesellschaftspolitischer Orientierungen trat. Anhand der Inszenierung Mannomann (UA 30.5.1972)8 von Volker Ludwig und Rainer Lücker lässt sich das didaktische Prinzip des realistischen Kindertheaters in Reinform studieren. Rollen- und Autoritätsprobleme innerhalb der Familie werden gespiegelt an Rollen- und Machtverhältnissen am Arbeitsplatz. Im Spiel der beiden Kinder Klaus und Trixi ergeben sich dieselben Probleme, die sich im häuslichen Verhältnis zwischen der Mutter und ihrem Partner feststellen lassen. So wird es den Protagonisten und mit ihnen den Zuschauern möglich, Herrschaftsstrukturen klar zu durchschauen und zu beurteilen. „Der Chef brüllt den Krause an, Der Krause brüllt den Vati an, Der Vati brüllt die Mutti an, Und Mutti brüllt mit uns.“9
Den Figuren sind jeweils Kontrastfiguren beigeordnet, wie Trixi, die ebenso wie ihre Mutter rollenkonformes Verhalten vertritt.
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Als Fernsehaufzeichnung vorliegend. Es werden hier nur solche Inszenierungsbeispiele angeführt, die auch als Videomaterial zur Verfügung stehen.
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UA 1972, Grips-Theater Berlin.
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Hier kommen Prinzipien des Modelllernens zum Tragen; die in der idealen Folge von Beobachten, Beurteilen und schließlich ins eigene Leben übertragenes Handeln, den Transfer von der Theaterkunst in die Alltagsrealität anstreben und als möglich voraussetzen. Komik und Lieder unterstützen die emotionale Seite des Lernprozesses, helfen zu memorieren und erzeugen Vergnügen. Dasselbe Prinzip benutzen die Mitmachtheaterstücke des Birne-Theaters, bspw. Phillip Lämmerzahl, ein Stück, das heute noch auf Spielplänen steht, und Probleme der Integration eines neuen Kindes in die Schule behandelt und praktische Lösungsvorstellungen entwickeln hilft. Die inzwischen in Verruf gekommene pädagogische Nachbereitung von Theaterbesuchen war eine konsequente Fortsetzung einer Inszenierungspraxis, die die Wirkung ihrer Arbeit auf den Zuschauer genau bestimmen und verfolgen wollte.10 Hier entstand auch eine enge Zusammenarbeit von Theater und Wissenschaft, in der DDR die Zusammenarbeit von Theater und Rezeptionsforschung.
P ARADOXIEN
DER
K UNST
Mitte der 80er Jahre wurde die Ästhetik sowohl für die Pädagogik als auch für Literatur und Theater bedeutsam. Dabei nahm die Ästhetik die Rolle ein, die ihr schon in der Geburtsstunde, als Baumgarten den Begriff in die Philosophie einführte, zukam. Da wo subjektives Erleben und rationale Erkenntnis keine Entsprechung finden, kommt die Ästhetik zum Zuge. Sie entwickelte sich zunächst über eine zunehmend psychologische Orientierung der Stoffe und Stücke, inszenierte die Phantastik der Innenwelt von Traum und Phantasie, um dann auch lange verschüttete Theatertraditionen eines Theaters der Bilder, des Tanzes und der Abstraktion aufzunehmen. Nun hat Ästhetik als künstlerische Praxis gefasst und als theoretische Reflexion über Kunst aber das Problem, dass sie eigentlich nicht in gesellschaftlichen Zwecken und Zielsetzungen aufgehen soll und in ihrem Kern auch nicht von diesen dominiert ist. Die Zweckfreiheit des ästhetischen Wohlgefallens, die Interesselosigkeit des Spiels und die Freude der ästhetischen Anschauung, verdanken sich gerade nicht den Zielsetzungen, denen sie nun dienen soll. Dieses Paradox haftet der ästhetischen Bildung seit Schillers berühmter Schrift „Über die äs-
10 Im Positiven beinhaltet Nachbereitung immer auch Lehrerbildung durch die Kindertheater.
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thetische Erziehung“ (1795) an. Und es setzt sich auch in den 80er Jahren fort, als die Ästhetik für die Pädagogik reklamiert werden sollte. Ein Paradox bedeutet nicht, dass an einer Sache etwas Falsches ist. Man denke nur an Diderots berühmtes Paradox über den Schauspieler, das das widersprüchliche Verhältnis zwischen dem inneren Erleben des Schauspielers im Prozess der Rollengestaltung und der theatralen Wirkung formuliert. In diesem Sinne möchte ich hier von einem Paradox sprechen, das keinesfalls aufgelöst werden soll. Immerhin ist der Mensch selbst ein Wesen, das im Paradox lebt, betrachtet man Helmuth Plessners Theorie des Verhältnisses, das wir zu unserem Körper haben. Einerseits sind wir dieser Körper, vollständig mit ihm identifiziert, und andererseits haben wir diesen Körper als Instrument und Werkzeug zur Verfügung. Beide Dimensionen sind gleichzeitig, so gleichzeitig wie sich die Ästhetik als Lehre von der Wirkung der schönen Künste von jeder Nützlichkeitsbestrebung frei machen will und doch nicht umhin kommt, Sinn und Zweck der künstlerischen Anstrengungen zu beschreiben. 1986 formulierte die Leiterin des Unga-Klara Theater in Schweden, Susanne Osten, die Paradoxe ihrer Theaterarbeit. Eines davon war das zwischen Pädagogik und Ästhetik. „Wir möchten Theater und Pädagogik nicht in einen Topf werfen, aber unsere Theaterstücke, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene sind problemorientiert und wir haben oft das Gefühl, wichtige Dinge zu lehren.“ Auf der anderen Seite: „Die Freiheit, die der Künstler hat, wenn er sich für die Welt der Kinder entscheidet, ist die Freiheit der Poesie und des Grenzüberschreitens.“ (Osten, 1988, S. 214)
B ILD , T ON UND B EWEGUNG – K INDERTHEATER
ÄSTHETISCHES
Die Verzamelen voor de Bruid (Die Versammlung um die Braut) leitete 1988 eine Wende im Kindertheater ein. Das Stück brach mit vielen der bis dahin ausgesprochen und unausgesprochen gültigen Prinzipien eines Theaters für Kinder. Es war von dem Interesse motiviert, die Kraft und Bedeutung von Musik, Bild und Bewegung im Kindertheater zu untersuchen. Auch in den folgenden Produktionen der Wederzijds spielte Musik eine tragende Rolle. Die Stücke Ad de Bonts, des Autors aus dieser Periode kann man vielleicht am besten charakterisieren, wenn man sie mit Musik vergleicht: „Musik drückt kein Wissen aus, gibt keine gegenständliche Form. Die Musik kann einen Apfel nicht von einem anderen unterscheiden. Stattdessen kann sie sinnlich die tiefsten
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Assoziationen wiedergeben und in ungekannte Ferne führen.“ Aber es ist doch wie in der Musik, sagt Ad de Bont: „in die man sich einbringen kann, gerade weil sie nichts erklärt, weil sie Freiräume lässt für die Erfahrungen des Einzelnen, für Emotionen, Phantasie und Träume.“11
Das Theater der Wederzijds führte das Bildertheater ins Kindertheater ein. Das Theater sollte analog zur bildenden Kunst nicht durch das Wort, sondern durch die Struktur und seinen Assoziationsreichtum wirken. Damit war eine grundsätzlich andere Ebene im Theater für Kinder errichtet: Was im Bildertheater zu sehen war, ließ sich nicht ohne weiteres verbalisieren oder in Einsichten und Urteilen formulieren. Der Fokus der Rezeption verlagerte sich vom Verstehen zum Erleben. Während das realistische Kindertheater ein höchstmögliches Maß an Eindeutigkeit für den Zuschauer erreichen wollte (dem dienten Dramaturgie und Handlungsführung, die auf Analogiebildung und Wiederholung beruhten), setzt das Bildertheater auf Vieldeutigkeit. Der Zuschauer hat die Freiheit sich aus dem breiten Spektrum an Zeichen, die seitens der Bühne angeboten werden, Bedeutungen zu generieren, die seinem jeweiligen Erfahrungs- und Verstehenshorizont entsprechen. Die ästhetische Vieldeutigkeit ist Voraussetzung dafür, dass dann in den 90er Jahren das Konzept eines „Theaters der Generationen“ sowie eines „Theaters für alle“ entstehen konnte, das sich gleichermaßen an Kinder wie Erwachsene richtet. Der Autor Friedrich Karl Waechter spielt in seinen Theatertexten beispielhaft mit den Möglichkeiten ästhetischer Polyvalenz. Auch das Erzähltheater, das sich seit dieser Zeit in immer neuen Variationen entwickelt, zeigt insbesondere als Materialerzähltheater eine Vielschichtigkeit von Bedeutung. Nils Gredebys Metamorphosen in der Inszenierung von Enno Podehl, aufgezeichnet für das ZDF, erzählt antike Mythen anhand von Alltagsmaterialien. Die Protagonistin Io wird beispielsweise von einer silbernen Kugel dargestellt, ihre Verwandlung in eine Kuh durch einen Klumpen Teig veranschaulicht, der die Kugel einschließt. Die Erzähler/Darsteller wechseln mühelos die Rollenfiguren und Darstellungsebenen, so wird Io einmal durch die Spielerin/Erzählerin, und einmal durch die verborgene, im Teig versenkte Kugel veranschaulicht. Erzähler und Spielerrollen wechseln von Mal zu Mal, verkörpern selbst die Personen und Figuren, von denen die Rede ist, oder benutzen illustrierend Gegenstände aus Haushalt, Küche oder Schrottplatz.
11 Interview in: Theater heute 12/1987, S. 31-39.
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Diese Art von Inszenierung setzt ganz auf die Phantasie der Zuschauer. Materialien und Gegenstände auf der Bühne dienen gewissermaßen nicht mehr als Stützpunkte der Phantasie und vermögen es doch beim Publikum konkrete Vorstellungen und Emotionen zu evozieren. Nebenbei regen sie auch die Spiel- und Entdeckerfreude der Zuschauer an, auch im Alltag Dinge einmal anders als in den ihnen zugedachten Funktionen zu benutzen. Am Beispiel der Mythen lässt sich gut veranschaulichen, was das ästhetische vom realistischen und pädagogischen Kindertheater trennt. Warum wird ein Mythos erzählt? Wovon handelt und was bedeutet er? Mythen sind hochgradig polyvalente Erzählungen, die sich weder auf eine soziale, noch eine psychologische oder eine historische Bedeutungsebene reduzieren lassen. Sie beziehen ihr Potential gerade aus der Ungeschiedenheit unterschiedlicher Motive, die in einem hohen Grad von Verdichtung aktualisiert werden. Einen Mythos erklären, heißt ihn beseitigen. Was aber ist es, das im ästhetischen Kindertheater gelernt werden kann? Was vermittelt die Theaterkunst in ihrer spezifischen Weise?
B ILDUNGSGUT T HEATER Die einfachste Antwort lautet folgendermaßen: Theater selbst ist ein „Bildungsgut“, das nur durch Theaterproduktion oder Theaterrezeption angeeignet werden kann. In diesem Sinne dient der Lernort Theater der „Ästhetischen Alphabetisierung“. (vgl. Mollenhauer, 1996, S. 227) Dabei werden die im Bildungsgut Theater aufbewahrten kulturellen Werte weitergegeben. In diesem Sinne ist Theater auch als reine Medienkunde zu verstehen. Die so erworbenen Kenntnisse, so könnte man sagen, dienen als Grundvoraussetzung zur Teilhabe an kulturellen Objektivationen einer Gesellschaft. Kindertheater hilft aber auch die Fähigkeit zur Dekodierung ästhetischer Zeichensysteme zu entwickeln. Diese Fähigkeit wird heute vom Team der Münchener Schauburg in das Zentrum ihrer Spielplankonzeption gestellt. Sie begründen ihre ästhetisch vieldeutige, jeden Realismus vermeidende Inszenierungspraxis damit. „Man kann im Theater, wenn es gut gemacht ist, lernen, Zeichen zu dechiffrieren, Symbole zu deuten. Diese Form der Abstraktion ist eine Schlüsselqualifikation, die junge Men-
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schen für ihre Zukunftsfähigkeit dringend brauchen. [...] Flapsig gesagt: Die Zeichen der Zeit lesen zu können; ist eine schöpferische Kraft, die dringend gefördert werden muss.“12
Hierher gehören auch Wirkungen im Rahmen von Ethik und Ästhetik. In der Argumentation für ästhetische Bildung wird davon ausgegangen, dass die im Bildungsgut Theater bewahrten Werte sich entsprechend vermitteln. Diese sind auf zwei Ebenen zu finden, einmal in den Inhalten der Stücke und Inszenierungen, zum anderen in der Form des Mediums Theater: Die Art und Weise wie Schauspieler auf ihr Publikum Bezug nehmen, bestimmt entscheidend die ethische Qualität einer Inszenierung. Leider ist diese Dimension des Kindertheaters in der Literatur bisher kaum behandelt, in den Qualitätsdiskussionen spielt sie aber eine entscheidende Rolle. Denn hier zeigt sich, wie Kinder im Theater angesprochen werden, ob ihnen Achtung entgegengebracht wird, ob Einfühlung, Anerkennung bis hin zur Zärtlichkeit eine Rolle spielen, oder ob sie als Objekte einer Unterhaltungsmaschinerie nur durch Applausquoten wahrgenommen werden. Im Idealfalle ist das Verhältnis zwischen Bühnen- und Zuschauerraum ein Dialogisches, in dem der Zuschauer als imaginierender Mitspieler geachtet und in seinen Qualitäten anerkannt wird. Interessanter Weise wird in den Diskussionen über das Verhältnis von Kinder- und Erwachsenentheater die moralische oder – neutraler ausgedrückt – ethische Wirkung der Theaterkunst nicht genannt. Ist es wirklich so, dass die zeitgenössischen rein künstlerisch motivierten Stücke und Inszenierungen keine moralischen Wirkungen anstreben? Immerhin werden auch diejenigen, die auf die Frage, was Kindertheater für sie vom Theater für Erwachsene unterscheidet, antworten, sie machen einfach nur Theater, keine Vergewaltigung auf die Bühne bringen, sie werden nicht die schonungslose Nacktheit präsentieren, die derzeit im Theater für Erwachsene en vogue ist. Sie werden nicht Shoppen und ficken auf den Spielplan setzen und auch nicht Sarah Kanes Gier. Entscheidend aber ist letztlich nicht, was auf der Bühne gezeigt wird, sondern wie und in welcher Weise dieses mit dem Publikum kommuniziert wird.
12 www.Schauburg.net/php/newsseite.php?newsnr=12 (vom 23.8.03).
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ALS
E RFAHRUNGSRAUM
Allzu leicht wird gegenüber dem, was das Theater darstellt und als Stoff, Geschichte oder Fabel oder Thema inszeniert, vergessen, dass Theater neben der historisch lange Zeit vorgängigen nicht nur eine repräsentative, sondern auch eine performative Funktion besitzt. Mit dem derzeit in der Kulturwissenschaft inflationär benutzten Begriff der Performanz werden jene Dimensionen des theatralen Werks in den Blick genommen, die sich nicht auf der Ebene der Bedeutung bewegen. Nicht was das Theater zeigt, sondern das was es ist, rückt in das Zentrum der Forschung. (vgl. Fischer-Lichte, 2003) Mit der performativen Dimension wird nicht das was, sondern das wie in Blick genommen. In diesem Sinne habe ich oben unter dem ethischen Gesichtspunkt vom dialogischen Charakter des Theaters gesprochen. Formelemente dienen dann nicht nur inhaltlichen Aussagen der Inszenierung, wie beispielsweise noch in der Dramaturgie des GripsTheaters, sondern stellen zugleich einen Eigenwert dar. Die Gegenwartskunst lässt sich insgesamt durch eine Zunahme der performativen Dimension charakterisieren, das betrifft nicht nur das Theater mit seinen immer performanceähnlicheren Spiel- und den entsprechenden Inszenierungsweisen, sondern auch die bildende Kunst. Ich behaupte, dass sich ein Großteil dessen, was im ästhetischen Kindertheater gelernt werden kann, auf dieser Ebene abspielt. Kunst ist nicht nur Sinngebungsinstanz! Sondern eine Sphäre des besonderen Erlebens, und damit des Lebens. Das Ermöglichen von neuen Erfahrungen, von Beweglichkeit im spielerischen Sinne, ist eine Wirkung (post)moderner Kunst. Indem die Wahrnehmung auf Außergewöhnliches gelenkt wird, sollen die Stereotypien des alltäglichen Blicks oder, wie es Brecht ausdrückte, die ideologische Befangenheit der Wahrnehmung aufgebrochen werden. Kandinsky nannte seine Malerei eine Schule des Sehens. Was für ein Sehen ist gemeint, wenn nicht ein anderes Sehen, als das, mit dem wir im Alltag unsere Umwelt wahrnehmen? Jasper John führt uns das Gemälde einer amerikanischen Flagge vor. Oder ist es eine Flagge, die den gesamten Bildraum ausfüllt. Wozu? Is it a flag or is it a painting? Wir sollen genau hinsehen, genauer als wir es gewohnt sind. Joseph Beuys füllt eine Vitrine mit Fett, das inzwischen ranzig ist, er legt Steine in einen Raum. Warum? Damit wir unsere Augen öffnen, differenzierter wahrnehmen und uns selbst in ein Verhältnis setzen zu dem was wir sehen. John Cage reproduziert die Geräusche eines Kaktus beim Wachsen, das Rascheln von Stroh, Dieter Schnebel benutzt die Atmung als Instrument seiner Musik. Marina Abramović lässt uns in Pantoffeln aus Amethyststeinen treten, Jaime Plensa veranlasst uns dazu, überdimensionale Gongs anzuschlagen und ihrem
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Klang zu lauschen... Allen geht es darum, die Ursprünglichkeit der Wahrnehmung zurückzuerobern, wirkliches Hören, Sehen und Fühlen zu ermöglichen. In diesem Sinne ist die Kunst heute unterwegs zur Wirklichkeit. Nicht indem sie im abbildrealistischen Naturalismus Wirklichkeit nachahmt und darstellt, sondern indem sie wirkliche Wirkungen bei ihren Rezipienten hervorzubringen sucht. Die Künste werden zunehmend performativ und arbeiten zunehmend mit realen Aktionen, Räumen und Materialien.
E NTFALTUNG
DER
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UND
B EWEGUNG
Himmelsmechanik (UA 25.9.1999 Thalia Theater Halle) ist ein Stück für Kinder ab 4 Jahren und beruht Ton für Ton auf Partituren von Mauricio Kagel, John Cage und Dieter Schnebel, deren Musik sich nicht konventioneller Instrumente, sondern Gegenstände, Pflanzen und körperlicher Prozesse bedient. Am Ende der Vorstellung gibt es einen riesengroßes Getöse, eine Krachmusik, die dann keiner Partitur mehr folgt, unter Beteiligung des Publikums, an das einfache Materialien wie Plastikfolien, Papier u. Ä. verteilt werden. Himmelsmechanik ist ein Beispiel dafür, wie sogenannte große Kunst mit Kunst für die Kleinen zusammengeht und durchaus in pädagogisch sinnvoller Perspektive. Mit einfachen Requisiten simulieren 4 Schauspieler Regen, Gewitter, Landschaften, Wolken, Blitz, Menschen und Tiere. Sie erzählen keine zusammenhängende Handlung, sondern bieten ein Zusammenspiel von Körper, Bewegung, Klang, Ton und Licht. Was will so ein Stück? Was tut es? Was bewirkt es? Es ist nicht so, dass es den Kindern beibringen will, wie Sonne, Mond, Regen und Gewitter funktionieren. Es will nicht über bestimmte Gefühlszustände wie Aufregung, Trauer, Liebe und Eifersucht aufklären. Es will keine Reflexion in Gang setzen. Seine Qualität liegt darin, dass es anregt, genau zu sehen, genau zu hören, die Sinne zu stimulieren, die Möglichkeiten des eigenen Körpers zu erkunden, Stimme, Atmung, Bewegung anders auszuführen und einzusetzen, als wir es im Alltag gewohnt sind. Bei diesem Stück gehen die Kinder im Publikum besonders stark körperlich mit. Während Dieter Schnebels Atemkonzert, einer Partitur nur für die Atmung, blasen manche unwillkürlich die Backen auf.13
13 Im cross-over von Musik und Theater ist hier allerdings die Anforderung einer musikalischen Ausbildung der Schauspieler gestellt. Leider gibt die Fernsehaufzeichnung (im Rahmen der Traumspiele für das ZDF), die eher den Charakter einer Rekonstruk-
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Körperliches Mitspiel und physische Reaktionen der Kinder sind eine bekannte Sache im Kindertheater, sie gehören meistens aber nicht zu den erwünschten Wirkungen. In dieser Inszenierung sind sie eine Qualität, wenn man so will auch: Lernerfolg. Wenn wir daran denken, wie fixiert auf den visuellen Sinn Kinder heute leben, verstärkt durch die elektronischen Medien, wie wenig sie sich bewegen, wie viel Information und Stimulation von außen auf ihre Sinne einwirkt, dann wird deutlich, wie wichtig es ist, den umgekehrten Weg anzubieten: das etwas von innen nach außen sich ausdrücken kann: der Atem, die Stimme, die Bewegung.14 Kreative Kompetenzen sind gegenwärtig sicher nötiger denn je. Dabei kommt vor allem den körpergebundenen existentiellen Erfahrungen besondere Bedeutung zu im Ausgleich zu der zunehmend durch die elektronischen Medien geforderten Ausrichtung der Wahrnehmung auf Visualität. Es geht heute nicht mehr nur darum, zu verstehen, es geht auch darum, zu erleben. In einer Qualität zu erleben, die nicht ausschließlich auf die durch die Medien beanspruchten Fernsinne fixiert ist.
D IE E NTSINNLICHUNG DER K INDHEIT V ERSINNLICHUNG DES T HEATERS
VERLANGT EINE
Neurobiologen stellen fest: Die für die visuelle Wahrnehmung zuständige Seite des Gehirns schwillt an und gleichzeitig sagen uns die Wissenschaftler, dass die Phantasie verkümmert. Was verkümmert, ist die Fähigkeit selber Bilder, Visionen, Zeichen, Aktionen zu schaffen und zu kreieren. Von den 100 Spielen, die Kinder noch vor hundert Jahren kannten, kennen Kinder heute nachweislich nur noch 5. Die verloren gegangenen Spiele sind Spiele, die vorzugsweise im Freien und ohne Hilfsmittel, ohne besondere Spielzeuge gespielt werden können. Auf der anderen Seite ist eine Fülle von Spielen hinzugekommen, die man früher nicht kannte. Und kaum einer der über Dreißigjährigen ist in der Lage, die dazu erforderlichen Kompetenzen aufzubringen. Was Video- und Computerspiele einem Spieler an Schnelligkeit, Geschicklichkeit, Kombinationsvermögen, feinmotorischer Koordination und vor allem Geschwindigkeit in der Wahrneh-
tion der Inszenierung vor wenigen Zuschauern hat, nicht den lebendigen Charakter der Aufführung wieder. 14 In diesem Sinne verstehe ich auch Stücke wie Die Königin der Farben (Theater Mär), das den Prozess des Malens und Zeichnens auf die Bühne bringt.
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mung abverlangen, kann man kaum als einen Verlust an spielerischer Kompetenz werten. Auch das Illusions- und Fiktionspotential solcher Spiele ist ja beachtlich. Eines allerdings lässt sich deutlich feststellen: An die Stelle der eigenkörperlichen Erfahrungen sind durch elektronische Medien vermittelte Erfahrungen getreten. Die Bewegung im physikalischen Raum wird zunehmend durch die in virtuellen Räumen ersetzt. Das hat Konsequenzen für die Wahrnehmung ebenso wie für das Wirklichkeits- und Weltverständnis und -verhältnis der Menschen. Die Differenzierungsfähigkeit zwischen innen und außen, Wirklichkeit und Phantasie, Realitäts- und Möglichkeitssinn wird in der Erfahrung des Hin und Her, des Fort und Da im Spiel erworben. Dem kommt das Theater als intermediäres Spiel zwischen Zuschauer und Schauspieler besonders entgegen. Es hat die Möglichkeit, sich nicht nur an die visuellen Sinne zu richten, nicht nur Bedeutungen hervorzubringen, sondern auch körperhafte Erfahrung zu stimulieren. Theater ermöglicht Erfahrungen, die in ihrer Intensität wirklichen Erfahrungen nahe kommen. In diesem performativen Charakter des Spiels und der Theaterkunst liegt gegenwärtig ihre enorme Bedeutung. In diesem Sinne sind Kunstwerke nicht nur Zeichen von Weltzugängen, sondern selbst auch Vollzug von Ereignissen, Erfahrungen, Begegnungen. Das Theater sagt nicht nur etwas aus über die Welt, es ist ein Teil davon, ohne den sie weniger lebenswert wäre.
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MUSS SINNLICH SEIN !
Und hier ist der Punkt an dem sich ein Bogen schließt. Beim Betrachten von Videomaterial der frühen Inszenierungen des emanzipatorischen Kindertheaters, ich denke an Mannomann vom Grips-Theater und an Darüber spricht man nicht! von der Roten Grütze, stellt sich bei aller befremdenden historischen Distanz und der Wahrnehmung einer gewissen Unbeholfenheit und Holzschnittartigkeit vieler Inszenierungen, doch ein erstaunlicher Befund ein. Sowohl ich als auch die um vieles jüngeren Studierenden sind fasziniert von der dort herrschenden Atmosphäre einer freien, offenen, überschäumenden Emotionalität, der Unbefangenheit, mit der die Spieler ihre Sicht der Dinge in die Welt setzen und der begeisterten Freude, mit der diese aufgenommen wird. Die Intensität dieser Inszenierungen ist, so denke ich, eine Folge von Engagement, Arbeits- und Spielfreude, die im heutigen Theaterbetrieb vielleicht selten geworden ist. Was fehlt uns im derzeitigen Theater für Kinder, warum gibt
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es so wenig Motivation, sich den ganz Jungen zwischen 4 und 12 Jahren zuzuwenden? Sinnlichkeit ist in allen Spielarten festzustellen, aber als wirklich überschäumende Sinnenfreude ist sie rar geworden. Und das gilt auch für das Erwachsenentheater. Das Theater sollte wieder ein Fest werden. „Ein Fest des Augenblicks“, wie der Regisseur Luc Bondy es einmal definierte. Ein Fest ist natürlich bisher noch kein Lernort. Aber im Gedanken des Fests, der überschäumenden Freude und Emotion ist ein ganzer Traditionsstrang des Theaters enthalten. Das Theater ist das außergewöhnliche Ereignis, da es ermöglicht, alles was sonst gilt, auf den Kopf zu stellen, die gewohnten Gesetze außer Kraft zu setzen. Damit ist eine ganz andere Qualität angesprochen, als die, die wir gewöhnlich dem Begriff des Lernens zuordnen, das doch eine gewisse Beherrschung von Zusammenhängen, Erfahrungen und Wissensgegenständen hervorbringen soll, Orientierung und Übersicht geben soll und die Möglichkeit das Gelernte reflexiv zu beurteilen und auf die jeweiligen Kontexte zu beziehen. Das alles geschieht im sinnlichen, bewegten, wilden Theater nicht. Aber es kann auch dort stattfinden! Sinnhafte Geschichten vertragen sich durchaus mit einer Inszenierungsweise, die die oben genannten performativen Qualitäten aufweist. Dafür dass sich ästhetische Vieldeutigkeit und sinnvolle Stoffe und Themen zum Theaterereignis verdichten können, gibt es inzwischen viele Beispiele nicht nur aus dem niederländischen Theater. Natürlich können durch Theater und mehr noch mit Theater sogenannte Schlüsselkompetenzen, soft-skills, erworben bzw. verstärkt werden, wie sie die zunehmende Komplexität und Mobilität unserer Gesellschaft fordert. Theater kann als außerschulischer Lernort der schulischen Bildung zuarbeiten. Aber nur wenn es die Freiheit hat, quasi zweckfrei zu operieren, wenn theatrale Veranstaltungen nicht im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit in Lernprozessen geplant und überprüft werden müssen. Theater muss die Freiheit haben, im Zweifelsfall auch jugendgefährdend zu sein, sonst ist es für Kinder und Jugendliche uninteressant. (vgl. Schneider, 1993, S. 8) Tatsächlich verhält es sich so, wie die schwedische Theaterleiterin und Regisseurin Susanne Osten einmal formulierte: „Niemand will Kind sein. Kinder nicht und Erwachsene nicht.“ Die meisten Kinder wollen, so schnell es irgend geht, erwachsen werden, und deswegen bevorzugen sie die Produkte für Erwachsene. Immer früher tragen sie deren Kleidung und sehen sich deren Sendungen im Fernsehen an. Kunst hat ihre Substanz noch niemals daraus bezogen, dass sie sich willfährig in die staatlichen Strategien und Zwecksetzungen einspannen lässt. Kunst, zumal Theaterkunst steht in der Tradition des Narrentums, der verkehrten Welt. Der Künstler hat die Freiheit einen anderen Blick auf die Verhältnisse zu werfen
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und seine Zeitgenossen zu provozieren. Wo der Künstler zum Staatsdiener oder pädagogischen Angestellten wird, ist seine Kunst bald am Ende. Also: Frecher, unabhängiger, wilder! Dennoch. So leicht sind die Dinge nicht. Das Kindertheater ist heute in der Zwickmühle. Da wo die Gesellschaft als Ganzes in der Kritik steht, wie wir es in den Anfängen des Grips Theaters hatten, da darf Theater frech und aufmüpfig sein. Wo die Gesellschaft verkrustet ist, darf sie provoziert werden. Man denke an die Inszenierungen der Roten Grütze, die damals mit dem Aufklärungsstück Darüber spricht man nicht! Lust an Körper und Nacktheit mit einer freien Sprache lautstark und überaus vital verkündete. Die Vorstellungen der Grütze – und die Videobänder geben bis heute etwas davon wieder – waren voller Vitalität, Freude, ein Fest der Sinne und des sinnlichen Miteinanders. Hinter vorgehaltener Hand flüsterten sich die Kinder fasziniert zu: „Dass die das dürfen!!!“ Ja, dass wir das dürfen und die Kinder auch, machte einen großen Effekt der damaligen Inszenierungen aus. Kindertheater als Befreier der Sinne. Heute leben wir in einer Gesellschaft, die in einem solchen Übermaß enttabuisiert ist, dass jeder, der mit Kindern zu tun hat, auf Mittel und Wege sinnt, sie vor allzu viel perverser Freizügigkeit zu schützen, ein schier aussichtloses Unterfangen. Und dennoch notwendig. Wir erleben auf den Bühnen des Erwachsenentheaters derzeit einen Boom an Nacktheit, Entblößung, Gewalt. Das hat vielfältige Gründe, die hier an dieser Stelle nicht erörtert werden können, die aber mit der Enttabuisierung zu tun haben, aber auch mit der Entwicklung des Theaters hin zum Performativen und zur körperlichen Aktion. (vgl. Hentschel, 2002) Hier geht es nicht mehr um Befreiung, häufig nicht einmal um Provokation. Der veränderte gesellschaftliche Kontext verändert die Bedeutung der theatralen Aktion. Und da ist das Theater für Kinder in einer besonders schwierigen Lage: Durch die Besonderheit seines Publikums ist es aufgefordert, die Dimension der Zukunft in seine Praxis aufzunehmen. Durch Kinder ist unvermeidlich die Zeitdimension der Zukunft angesprochen. Mögen wir auch noch so sehr mit der Vergangenheit beschäftigt sein, Kinder fragen uns, wie es weiter geht. Und was antworten wir? Dass uns die Antworten schwer fallen, ist ein Grund dafür, dass Kindertheater heute vorsichtiger und häufig auch leiser gemacht wird – und leider auch immer weniger.
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S CHLUSS Marc Augé hat eine anschauliche Unterscheidung von anthropologischen Orten und von Nicht-Orten getroffen. Anthropologische Orte zeichnen sich durch Geschichtlichkeit, Kontinuität und lebendige Erfahrbarkeit aus, während Nicht-Orte solche der Anonymität sind. Anthropologische Orte stellen sinnvolle Zusammenhänge her, sind subjektzentrierte Referenzpunkte, die eine strukturierende Funktion in der Gedächtnisbildung und der Wissensproduktion haben. NichtOrte sind durch Flüchtigkeit und Geschwindigkeit definiert und damit auch einsame Orte. Wir sollten, wenn wir das Theater als Lernort begreifen wollen, es im wahrsten Sinne des Wortes als anthropologischen Ort begreifen, in dem der lebendige Mensch das Zentrum bildet. Auch wenn die neueren Entwicklungen der Kunst und der Ästhetik die Kategorie des Sinns problematisieren, sollten wir am Paradox der Theaterkunst festhalten und es nicht vorschnell in die eine oder andere Richtung auflösen. So wie das Theater sich zwischen den beiden Polen Zuschauer und Bühne, Phantasie und Realität, Kunst und Leben, Erkenntnis und Erlebnis bewegt, so auch zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Und es ist durchaus sinnvoll, dass sich das Kindertheater wieder dezidiert mit dem Einsatz aller Sinne seinem speziellen Publikum zuwendet getreu der Abwandlung eines Wortes von Konstantin Stanislawski15: frecher – unabhängiger – lustvoller – bewegter
L ITERATUR Benjamin, W. (1969). Über Kinder, Jugend und Erziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Brook, P. (1975). Der leere Raum. München. Doderer, K. & Uhlig, K. (1995). Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters zwischen 1945 und 1970. Konzepte, Entwicklungen, Modelle. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Bern, Paris, Wien: Lang. Fangauf, H. (10. Mai 2003). Grußworte zur Eröffnung der BadenWürttembergischen Theatertage 2003.
15 In diesen vier Wörtern liegt die ganze Philosophie des Theaters: einfacher, höher, leichter und fröhlicher.
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Fischer-Lichte, E. (2003). Performativität und Ereignis. Tübingen, Basel: Francke. Hentschel, I. (1988). Kindertheater. Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel. Hentschel, I. (1996). Jugendtheater im Kontext der Generationen. In J. Richard (Hrsg.), Jugend-Theater (S. 102-129). Frankfurt a. M. Hentschel, I. (2002). Theater in der E-Welt oder der Kampf um die Wirklichkeit. In J. Richard (Hrsg.), Netkids und Theater. Studien zum Verhältnis von Jugend, Theater und neuen Medien (S. 139-158). München. Hoffmann, C. (1976). Theater für junge Zuschauer. Sowjetische Erfahrungen – Sozialistische deutsche Tradition – Geschichte in der DDR. Berlin: Akademie-Verlag. Mollenhauer, K. (1996). Grundfragen ästhetischer Bildung. Weinheim und München. Osten, S. (1988). Mit den Kindern im Wald. Ein Projekt für Kinder. In E. Bohn & S. Schröder, Theater des Zorns und der Zärtlichkeit. Erfahrungsräume zwischen traditionellem Theaterbetrieb und alternativen Theaterprojekten (S. 212 - 219). Bielefeld: Theaterlabor. Schauburg München. Von www.Schauburg.net/php/newsseite.php?newsnr=12 abgerufen am 28. März 2003. Schedler, M. (1973). Schlachtet den blauen Elefanten! Bemerkungen über das Kinderstück. Weinheim, Basel: Beltz. Schneider, W. (1993). Gewaltprävention und Suchtprophylaxe auf der Bühne. In Fundevogel, Nr. 103 (S. 5-14). Schulte, M. (Hrsg.) (1979). Alles von Karl Valentin. München: Piper.
„Der Gegensatz von Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit!“ Spielverlust und Deep Play Über performative Paradigmenwechsel im Theater der Gegenwart
D IE E NTWICKLUNG
ZUM
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Was geschieht mit dem Spiel in Zeiten einer, „Entkunstung“ der Kunst und eines Wirklichkeitstheaters, das zunehmend Laien, Nicht-Schauspieler und alltägliche Vorgänge auf die Bühnen bringt? Was wird aus dem Grundvorgang theatralen Rollenhandelns und ästhetischer Erprobungen, wenn Kunst und Theater sich aus ihren exklusiven Räumen heraus bewegen und sich direkt in gesellschaftliche Felder einmischen und anstelle von Akten des Fingierens immer häufiger direkte soziale Praxis inaugurieren? Der gegenwärtig zu beobachtende Prozess des Zurückdrängens traditioneller ästhetischer Praxen und die Ausweitung des Theatralitätsbegriffs verbunden mit der Infragestellung des Kunstbegriffs haben Auswirkungen auf das Schicksal des Spiels und des Spielerischen. Dabei wird nicht ausschließlich das Terrain der Künste berührt, sondern in einem weiteren Sinne auch unsere lebensweltlichen Orientierungen. Theater ist wie die Kunst überhaupt ein Seismograf gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Hier werden Wahrnehmungsweisen, Kommunikationspraxen, Körpererfahrungen, Visionen, aber auch Verdrängungen und Ausschlüsse, mithin Verschiebungen in unseren Weltverhältnissen auffindbar. So lassen sich ästhetische Entwicklungen im Gegenwartstheater in kulturwissenschaftlicher Perspektive zeitdiagnostisch betrachten. In diesem Sinne möchte ich die Tendenz, die sich als Einbruch der Wirklichkeit in die Sphären des Theaters bezeichnet, genauer reflektieren und dabei in den Blick nehmen, was aus dem Paradigma des Spiels und der Verwandlung
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wird, das über so lange Zeit das Theater beherrscht hat. Ich werde zunächst den Paradigmenwechsel vom Spiel zur Performance erläutern und einige Modelle für den Einbruch der Wirklichkeit in die Theaterkunst vorstellen, um dann das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und Alltagserfahrung zu avisieren; weiterhin das Paradigma des Spiels, des „Als ob“, das für das traditionelle Theater so lange gültig war befragen, eine spieltheoretische Akzentverschiebung vorstellen und anschließend das Konzept des Deep Plays, das geeignet scheint, einen Spielbegriff dergestalt zu erweitern, das Wirklichkeit und Spiel konvergieren, darlegen.
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Eine Publikation, unter dem dramatisierenden Titel Reality strikes back. Tage vor dem Bildersturm (Tiedemann & Raddatz, 2007), herausgegeben von Kathrin Tiedemann und Frank Raddatz, ist durchaus programmatisch zu verstehen. Inszenierungen wie die von Rimini Protokoll, die erklärtermaßen dem Schauspielertheater den Kampf ansagen und Experten des Alltags auf ihre Bühnen holen oder die Bühne gleich unter dem Einfluss eines erweiterten Theatralitätsbegriffs in der Wirklichkeit erkennen, erhalten immer stärkere Aufmerksamkeit. So wurde die Hauptversammlung der Aktionäre der Daimler AG am 8. April 2009 in Berlin, um einleitend nur ein Beispiel von vielen herauszugreifen, von der Gruppe Rimini Protokoll vorab zum Bühnenstück erklärt. Unter den 7800 normalen Aktionären und Aufsichtsräten befanden sich 200 Theatergäste, die per Emailverfahren die Chance erhalten hatten, anstelle der Aktionäre einen Platz in der Veranstaltung einzunehmen. Das Wissen um die Anwesenheit der bloßen ,Zuschauer‘ oder ,falschen‘ Aktionäre würde zu einem Perspektivwechsel der Beteiligten führen, so die Hoffnung der Künstler. Es ist unverkennbar: Das Theater hat Wirklichkeitshunger. Es kündigt einem ehernen Gesetz der Theaterkunst, dem magischen ‚Als ob‘ und seinem Spielcharakter die Gefolgschaft und provoziert dennoch immer wieder die Frage danach, ob die Akteure jeweils ,echt‘ oder nur ,gespielt‘, fingiert sind. Zunächst einige Vorbemerkungen zu den Begriffen Wirklichkeit und Spiel. Mit dem Titel dieses Beitrags ist bewusst eine Polarität angesprochen, die im künstlerischen und wissenschaftlichen Diskurs zurzeit nicht eben aktuell ist.1 Spiel und Wirklichkeit bezeichnen zwei Begriffe, zwei Phänomene, die sich
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Stattdessen hat die Theaterwissenschaft unter dem Eindruck der Theatralitätsforschung den Begriff der Inszenierung fokussiert.
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dadurch auszeichnen, dass sie ihre Reichweite, ihr Territorium, enorm ausgedehnt haben und stetig erweitern. Von daher werfen sie im wissenschaftlichen Diskurs beträchtliche Probleme auf, was jedoch kein Grund sein sollte sie zu vermeiden.2 Die Allgegenwart medialer Spielwelten mit ihrem elektronischen Simulationspotential ist schon lange nicht mehr aus unserer empirischen Realität wegzudenken. Seit Sigmund Freud wissen wir, dass auch unsere Träume, Phantasien und Ängste zu unserer Wirklichkeit gehören (von Freud stammt das Zitat im Titel dieses Beitrags). Wir können also im philosophischen Sinne einen sehr weiten Wirklichkeitsbegriff in Anschlag bringen. Dennoch operieren wir in unserer lebensweltlichen Orientierung mit einem sehr viel engeren Begriff von Wirklichkeit. Mit Wirklichkeit wird im allgemeinen Sprachgebrauch die Gesamtheit des Realen bezeichnet. Real ist dabei das, was auch außerhalb des Denkens existiert, d.h. unabhängig vom nur Gedacht-Sein. Inhalte von Vorstellungen, Gefühlen, Wünschen, Wahrnehmungen u. Ä. gelten im Alltagsverständnis zunächst einmal als nicht der Realität zugehörig. Auf der anderen Seite kommen wir kaum umhin, den Wirklichkeitsbegriff auch in Anspruch zu nehmen, wenn wir Phänomene wie Spiel und Imagination fassen wollen. In der einfachsten Definition, die aber – wie wir weiter unten noch sehen werden – nicht ausreichen wird, das Phänomen Spiel hinreichend zu kennzeichnen, trennt ein Rahmen das Spiel aus der Wirklichkeit heraus. Wie eine perforierte Linie wirkt die Spielverabredung als signifikante Grenze zwischen dem, was in den Bereich des Wirklichen gehört, und jenen Erfahrungen, die in den Bereich des Spiels gehören und die damit per definitionem folgenlos für das wirkliche Leben sein sollen. (Bateson, 1981)
V OM S CHAUSPIEL
ZUR
P ERFORMANCE
Ich möchte jene Grenze genauer in Augenschein nehmen, die in der derzeitigen Entwicklung des Theaters und der Theaterpädagogik zunehmend überschritten oder sogar vollständig in Frage gestellt wird, wenn Theater mit Hilfe von Laien-
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Wie Helmar Schramm im Anschluss an seine umfassende Darstellung der Spieltheorien vorschlug. Vgl. Helmar Schramm, Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996: Akademie Verlag. Umgekehrt pointiert Ruth Sonderegger, die spielästhetische Unendlichkeit, die spieltheoretische Diskurse letztlich nur als „unreine“ zulasse. Ruth Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels, Frankfurt a. M. 2000: Suhrkamp. Beide Positionen sind ihrerseits Teil des Spiels.
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darstellern und ,Experten des Alltags‘ immer häufiger den ,Als-ob‘-Modus des Spiels verlässt und sich direkt der Wirklichkeit des Lebens zuwendet. Dabei wird der Schauspieler, wie Boris Groys (2007) es meines Erachtens sehr zutreffend charakterisiert, zum „Ready-made“ auf der Bühne. Es ist keine kunstvolle Verwandlung, kein Schauspielhandwerk nötig, um zu aufmerksamkeitserregenden Inszenierungen und Begegnungen zu kommen. Im Ready-made platzierte bekanntlich Marcel Duchamps Alltagsgegenstände, beispielsweise ein Urinoir, in einen Kunstraum (Fountain 1913) und erklärte sie durch den Rahmenwechsel zum Kunstwerk. Heute bietet das Theater Räume, in die Personen eintreten und sich als Objekte ästhetischer Wahrnehmung präsentieren können. Dass der Kunstbegriff dabei bisweilen auch ganz aufgegeben wird, gehört zu dieser Entwicklung. So heißt es in der bildenden Kunst etwa heute etwas sei „too arty“, was durchaus pejorativ gemeint ist. Die Parallele zwischen bildender Kunst und Theater ist nicht zufällig. Theater geht denselben Weg wie die Gegenwartskunst hin zur Wirklichkeit. Die Prozesse einer „Entkunstung“, der Eröffnung von realen Begegnungs- und Erfahrungsräumen, verlaufen weitgehend parallel. Denken wir an die Performance des Publikumslieblings der 12. documenta 2007, des chinesischen Künstlers Ai Wei Wei, der in seinem Beitrag 1001 Fairytale exakt 1001 Menschen aus China nach Kassel reisen ließ und ihnen dort einen Aufenthalt ermöglichte. Außerdem brachte er 1001 restaurierte Stühle aus der Zeit der Qing Dynastie mit, auf denen die Besucher der Ausstellung in den verschiedenen Räumen Platz nehmen konnten. Mit diesem teuersten Kunstwerk der documenta Geschichte wird das Leben selbst zur größten Kunst deklariert und, wie ich meine, zugleich ihre Grenze markiert. Gleich wie man diese Entwicklung im Einzelnen titulieren will, ob mit dem bekanntermaßen erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys als Soziale Plastik oder dem von Nicolas Bourriaud geprägten Topos Relational Aesthetics (Bourriaud, 2002), der den intersubjektiven Begegnungsaspekt zeitgenössischer Kunstprojekte in Abgrenzung zu Konzeptkunst hervorhebt, nach dem Ende des 2. Jahrtausends sind in der zeitgenössischen Kunstpraxis wie auch in den Diskursen darüber insgesamt Verschiebungen zu beobachten: vom Denken zum Sein, vom Wissen zum Fühlen, vom Abwesenden zum Präsenten, vom Spiel zur Wirklichkeit und von der Kunst zum Alltag.
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Die Theaterkunst ist auf dem Weg von der Darstellung, von der Repräsentation zur Aktion, zum Vollzug, zum Sein und nähert sich daher dem Leben an, von dem sie sich so kunstvoll im Verlaufe der Geschichte zu trennen versucht hatte. Anstelle der Bühnenfiktion, des magischen ,Als ob‘ des traditionellen Rollenschauspiels finden wir reale Handlungen auf der Bühne mit realen Materialen und Vorgänge in Echtzeit ebenso wie die Einbeziehung der aktuellen Theatersituation in die Inszenierung wie Veränderungen in der Schauspielkunst, in der wirkliche Handlungen – wie bereits früher seit den 60er Jahren in der Performancekunst entwickelt – den Modus des ,Als ob‘ der Rollenfiktion ersetzen. Teil dieser Entwicklung ist nicht selten eine serielle, am Minimalismus orientierte Ästhetik. Die Grenzen zu den Nachbarkünsten werden fließend, die Erlebniswelten der elektronischen Medien angesprochen und ihre Techniken einbezogen ebenso wie Alltagshandlungen und -abläufe. Die in den Kulturwissenschaften und in der Theaterwissenschaft gebräuchliche Terminologie „Performanz“ trägt den veränderten ästhetischen Konzeptionen Rechnung. Der Begriff betont die Ereignishaftigkeit, den lebendigen Prozess der künstlerischen Veranstaltung. Theater wird weniger als Bild der Welt, als Repräsentation kulturell verbürgter Bedeutung, sondern als lebendiges Geschehen an bestimmten Orten, Räumen und zwischen bestimmten Akteuren und Zuschauern inszeniert und betrachtet. Dabei wird kunstgeschichtlich betrachtet die Performancekunst Modell bildend. (Fischer-Lichte, 2004) Ich will nur einige Beispiele mit unterschiedlichen Fokussierungen nennen: Aktion In der Inszenierung der Orestie von Michael Thalheimer am Deutschen Theater (UA 2006) ist es unverkennbar die Bodyperformance bis hin zum Actionpainting, die ästhetisch Modell stand. Auf einer Sperrholzbühne ohne Tiefe werden in jeder Vorstellung mehr blutig-rote Spuren hinterlassen. Wir sehen ein Actionpainting in Echtzeit, dem jede neue Aufführung weitere Farbflecke hinzufügt. Hier schließt sich kein Vorhang und es beginnt nicht alles immer wieder von vorn. Wie in der Performance Kunst dürfen sich die Schauspieler nicht schützen vor Schmerz, Dreck, Erniedrigung. Konstanze Becker schüttet sich als Klytaimnestra einen Kanister Theaterblut über den Kopf. Die Darsteller waten durch die rote Farbe, müssen zusehen, auf der mehrere Meter hohen schmalen Bühnentrasse nicht auszugleiten. Sie setzen sich mit unmittelbaren Erfahrungen auseinander und erreichen dadurch im Idealfall eine Intensität, der sich die Zuschauer nicht entziehen können. (Hentschel, 2007) Es steht dabei nicht länger
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nur die fingierte Bühnenhandlung im Zentrum, sondern die Wirklichkeit des theatralen Ereignisses, des Aufführungsgeschehens selbst, seine Performanz. Begegnung in Echtzeit Dabei tritt die lebendige Begegnung von Zuschauern und Schauspielern in einem Raum in den Vordergrund bis hin zur Belebung ritueller Settings, wie wir sie aus dem Theater der Erfahrung der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts beispielsweise von Jerzy Grotowski und dem Living Theatre kennen. Die gemeinsame Tafel, die immer wieder zum Bühnenort wird, an der Schauspieler und Zuschauer in einer gemeinsamen Situation des Mahls vereint werden, wie in Michael Thalheimers Inszenierung von Thomas Vinterbergs Das Fest3, wo Zuschauer und Schauspieler gemeinsam an einem Tisch sitzen und eine Geburtstagsgesellschaft bilden, ist ein Symbol für die reale Interaktion. Reale Materialien Dazu gehören die Verwendung echter, roher Materialien und nackter Körper sowie die Wahl spezifischer theaterferner Orte, wie auch in der Site-Specific Performance, in der physische und symbolische Besonderheiten von Orten benutzt werden. Theater hat die Chance, diejenigen Erfahrungen zu artikulieren, die nicht durch die elektronischen Medien verfügbar sind: und das ist die physische Präsenz von lebendigen Darstellungen und Begegnungen. Nicht der imaginäre, der semantische, sondern der physikalische und energetische Körper und entsprechende Räume werden fokussiert. Das eben entspricht der Kunstform der Performance: Nicht mittels Zeichen, Kostüm und Bühnenbildfiktion so tun als ob, sondern wirklich zu handeln. Deswegen muss der Schauspieler nackt sein, nicht nur so tun, als sei er nackt. Deswegen muss er am besten selbst Feuerwehrmann sein, statt nur einen Feuerwehrmann zu spielen, am besten selbst Hartz-IV-Empfänger, statt einen zu simulieren.4
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Das Fest in der Inszenierung von Michael Thalheimer am Staatsschauspiel Dresden hat als Vorbild den gleichnamigen Dogma-Film von Thomas Vinterberg. Die Uraufführung fand im Herbst 2000 am Dortmunder Schauspielhaus statt. Die Dresdner Inszenierung von Das Fest wurde zum Berliner Theatertreffen 2001 eingeladen. Film und Drehbuch Thomas Vinterberg/Mogens Rukow, 1998.
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Volker Lösch setzte in seiner Inszenierung Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?, UA 24.10.2008, Deutsches Schauspielhaus Hamburg 2008, 20 Hartz-IVEmpfänger als Darsteller ein.
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Laien im Bühnenraum So holt man Menschen wie Ready-mades in der bildenden Kunst auf die Bühne. Experten des Alltags sind streng genommen die Zuschauer selbst, die potentiell zum Bühnenakteur werden können. In einer anderen Inszenierung könnten sie selbst es sein, die dort vor das Mikrophon treten. Es müsste nur das Thema stimmen! Leider ist diese Theaterform bisher noch vom Sprechen dominiert und häufig frontal arrangiert, so dass es nicht zufällig ist, wenn Daniel Wetzel, ein Teil der Rimini Protokoll Trias, in einem Interview das Publikum als Hörende bezeichnet. (Wetzel, 2007, S. 160-174) Begehbare Spielwelt für Zuschauer und Schauspieler Der Zuschauer kann zum Akteur in einer mit Hilfe von Laien und Berufsschauspielern inszenierten Installation werden, wobei sich die Grenzen zum LiveRollenspiel hin verschieben. Bei dem Projekt Erscheinungen der Martha Rubin5, konzipiert und inszeniert von Signa Soerensen/Arthur Köstler, handelt es sich um eine Nonstop-Performance-Installation in einer künstlichen Stadt namens Rubytown. In einer Halle wurden kleine Behausungen, Geschäfte, eine Bühne, eine Peepshow, eine Bar, ein Restaurant gebaut. Eine Spezialeinheit des Militärs überwacht die Siedlung und kontrolliert den Zugang von Fremden. Die Installation wird in drei Zyklen bis zu 84 Stunden ununterbrochen von mehr als 40 Darstellern bewohnt und bespielt. Die Zuschauer können in Ruby Town bleiben, solange sie wollen. Sie können die Bewohner besuchen, bei ihnen essen, trinken, einkaufen oder vielleicht sogar dort übernachten. Die Haltung der Besucher pendelt zwischen Ausstellungsbesuch, intensiver Teilnahme an Erlebnissen, tanzen, essen, reden. Keiner weiß genau, was als nächstes geschehen wird. Was verbindet diese Beispiele? In jedem von ihnen auf seine Weise steht das Spiel auf dem Spiel. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Spiel verschwimmen. Zugunsten der wirklichen Aktion, der realen Interaktion wird das ,Als ob‘ als grundlegendes Prinzip des Spiels und des theatralen Rollenhandeins in den Hintergrund gedrängt. Es geht nicht vollständig verloren, aber es verlagert sich. Performatives Theater scheint dem Spiel Raum zu nehmen und seinen Charakter zu verändern.
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UA 13. Oktober 2007, Schauspiel Köln. Museum Halle Kalk.
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A LLTAGSERFAHRUNG
UND
K UNST
An dieser Stelle ist es angebracht, einen Perspektivwechsel vorzunehmen, vom Theater weg auf die Gesellschaft zu schauen. Der Einbruch der Wirklichkeit in die Kunst, die „Entkunstung“ der Kunst hat eine gesellschaftliche Entsprechung: Es ist nämlich zugleich auf gesellschaftlicher Ebene eine Veralltäglichung ästhetischer Praxis auf verschiedenen Ebenen zu beobachten sowie eine Ästhetisierung ökonomischer Prozesse von der Performance der Aktien bis zum Verkauf von Duschgel und Kaffeemaschinen. Das Internet ermutigt die öffentliche Kommunikation von Amateuren. Es ermöglicht in zahlreichen Formaten den Austausch von Texten, Filmen, Bildern, Musik, die nicht mehr den Weg der institutionell vorgeprägten und verengten Selektion nehmen müssen. Dem experimentellen Spiel mit Texten, Bildern, Gedanken, Tönen, Filmen etc. ist schier keine Grenze gesetzt. Joseph Beuys’ Diktum „Jeder ist ein Künstler“ wird in Zeiten von Youtube, Flickr und Facebook bequem zu Hause realisierbar. Interessanterweise finden wir parallel zu dieser gesellschaftlichen und medialen Ausweitung künstlerischer Laien- und Amateurpraxis auch in den Künsten und vor allem im Theater, das wir hier in den Blick nehmen, die Tendenz Laien, Amateure und Nichtkünstler auf die Bühnen bzw. in die Bühnenräume zu holen und damit zugleich von einem Teil der handwerklichen Tradition der Schauspielkunst Abstand zu nehmen. Dahinter steht ein Bündel von Motiven: 1. eine Aufwertung des Alltags gegenüber der großen Kunst, die mit Unzugänglichkeit und Klassenzugehörigkeit identifiziert wird, 2. ein Unbehagen an der großen Kunst, die sich nicht mehr in der Gültigkeit der großen historischen Erzählungen rechtfertigen kann, 3. der Gedanke der Partizipation von vielen Menschen, Richard Shusterman sieht hier auch die Demokratisierung von Kunst und Medien als einen Prozess, der durch die Konsum- und Massengesellschaft vorangetrieben wird. (Shusterman, 2000), 4. der Versuch, in den sich im Hinblick auf Multikulturalität und Migration verändernden Gesellschaften die kulturell diversen Gruppen auch kennen zu lernen und ihnen ein Sprachrohr zu bieten. Als letzter Punkt lässt sich die Wissens- und Informationsgesellschaft anführen, in der wir daran gewöhnt sind, Wissen in unpersönlicher Form aufzunehmen, damit ständig in Form von Fernsehen und Talkshows vollgestopft zu werden, sodass die Möglichkeit, Wissen im lebendigen personalen Austausch von so genannten Experten des Alltags vermittelt zu bekommen, zum Desiderat wird. Ich
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denke hier an den erfolgreichen „Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen“, als Mobile Akademie von Hannah Hurtzig ins Leben gerufen.6 Dem Einzug des Alltagslebens auf die Bühnen und in die Künste entspricht auf der anderen Seite ein Prozess der Ästhetisierung der Alltagswelt, der vor allem kommerziell und medial organisiert ist. Interessanterweise ist der Erfahrungsmodus des ‚Als ob‘, der für Tagträume und Phantasien, Spiele und Künste reserviert war, auch in der Alltagserfahrung selbst virulent. Mit dem Lacoste-shirt fühle ich mich, als ob ich reich sei, mit dem neuen Fahrradhelm trete ich in die Pedale, als ob ich ein guter Radfahrer bin, mit dem neuen Duschgel Shower Sport federe ich schon morgens wie ein Sportler in den Knien ... In der Ästhetisierung der Alltagswelt sind die Grenzen zwischen Phantasie und Realität, Wirklichkeit und ihrer Simulation fließend, hybrid. Die Bereiche und Erfahrungen, die früher den Momenten des Heraustretens aus dem Alltag, also der Kunst, dem Spiel und dem Fest reserviert waren, werden in der Eventkultur der Erlebnisgesellschaft – ich denke hier an die Arbeiten von Gerhard Schulze (Schulze, 1992) – alltäglich verfügbar (sofern man sie bezahlen kann). Wir sollen nicht nur arbeiten, sondern unsere Arbeit als Selbstverwirklichung betreiben, wir wünschen uns permanent viel Spaß, ob beim Brötchen-Holen, Tanken oder Treppe putzen, alles soll Vergnügen machen, und wenn wir es nicht schaffen, unser Alltagsleben derart lässig, genussreich und sinnlich zu inszenieren, sind wir Versager und müssen die für solche Fälle vorgesehenen professionellen Berater aufsuchen und ihre professionelle Kompetenz in Anspruch nehmen. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielerisch und angstfrei konsumiert. So wird Spiel in der Spaßgesellschaft zur Spielerei. Ästhetik zur Affirmation des Alltags, dem wir nicht entrinnen können. Kunst und Spiel stellen kein attraktives Gegenkonzept mehr dar. Angesichts medialer Simulacren entsteht ein Bedürfnis nach Wirklichkeit. Aber auch das Unbehagen, dass die Rollenspiele des Theaters häufig „nur“ Spiel, also nicht wirklichkeitswirksam und -mächtig sind, ist ein Motiv, sich vom Modus des ,Als ob‘ in der Kunst ab und der Wirklichkeit zuzuwenden.
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Beispielsweise anlässlich der Wiener Festwochen 2008: Hannah Hurtzig/Mobile Akademie SCHWARZMARKT für nützliches Wissen und Nicht-Wissen Nr. 10. Wer wird schuld gewesen sein. Eine Installation mit 100 Expertinnen und Experten „Durchgehend geöffnet! Buchen Sie 1 Experten für 1/2 Stunde um 1 Euro!“.
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V ERLANGEN
NACH
G EGENWARTSERFAHRUNG
Was bedeutet der Paradigmenwechsel? Der Philosoph Robert Spaemann erkennt als Hintergrund des Wirklichkeitshungers der Kunst die durch die Medienpräsenz initiierten Verschiebungen in unseren Weltverhältnissen. (Spaemann, 2000) War das Theater über Jahrhunderte die mediale Form der Vergegenwärtigung entfernter Welten, so ist diese Aufgabe heute an die Bildmedien Film, Fernsehen, Internet übergegangen. In Zeiten elektronischer Medien mit ihren nahezu unbegrenzten Möglichkeiten von Illusionserzeugung sind wir dabei, den realen wirklichen Raum im physikalischen Sinne des Worts zu verlieren. Kunst erinnert, wie Robert Spaemann konstatiert, an das, was verloren geht: die reale Gegenwart von Körper, Raum und Handlung. Martin Seel konstatiert „dass es uns nach einem Sinn für die Gegenwart unseres Lebens verlangt“, dass wir „die Gegenwarten, in denen wir sind, auch als spürbare Gegenwarten erleben wollen.“ (Seel, 2001) Durch rituelle Strukturen und performative Aktionen versucht sich die Theaterkunst gegenwärtig in einer von elektronischen Medien erzeugten Bilderflut zu erden. Der Flüchtigkeit der elektronischen Bilder setzt sie die reale Aktion entgegen. In der engen Kommunikation zwischen Bühne und Publikum werden die massenmedialen Erfahrungen der Visualisierung und Entsubstantiierung unterlaufen. Dem Theater bleibt es vorbehalten, diejenigen Erfahrungen zu artikulieren, die nicht durch die elektronischen Medien verfügbar sind: Und das ist die physische Präsenz von lebendigen Darstellungen und Begegnungen und die lebendig und gegenwärtig erfahrbare Versammlung: Sozialität. Das Ereignis des Zusammenkommens an einem Ort ist wichtiger als das, was dort passiert, was gezeigt wird. Theater wird wahrgenommen als Ort der Versammlung, worauf HansThies Lehmann aufmerksam gemacht hat. (Lehmann, 1999) Von einem Buch, wie „Das Kapital“ nicht nur gehört zu haben, sondern es selbst einmal in Händen gehalten und darin geblättert zu haben, wie es dem Publikum in den Aufführungen von Rimini Protokoll ermöglicht wird – ein Genuss ganz besonderer Art. Reale Aktionen geben dem Zuschauer ein Realitätsgefühl, das eine öffentliche Beglaubigung erfährt. Wirklichkeit ist – wie Robert Spaemann ausführt – keine Eigenschaft. Deswegen ortet man sie häufig als eine Art von Widerstandserfahrung. Das Wirkliche mache sich für uns, so Max Scheler, durch Widerständigkeit bemerkbar. Die Unterscheidungsfähigkeit von Subjekt und Objekt, Realität und Phantasie ist psychologisch betrachtet, gebunden an Grenzerfahrungen. Wirklich ist, was unentrinnbar ist. In der Allgegenwart der Bilder, umgeben vom schönen Schein der Werbungs-, Waren- und Medienwelten, entsteht offenbar die Sehnsucht nach einer ‚wirklichen Wirklichkeit‘. Die Reality-Shows des Fernse-
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hens bis hin zu den so genannten Doku-Soaps zeugen tagtäglich von diesem Bedürfnis nach dem Life-Event. Dem trägt auch die zeitgenössische Kunst derzeit Rechnung, von biografisch orientierten Theaterproduktionen bis zur performativen Praxis des Schauspiels. Aber ermöglichen sie die Erfahrung lebendiger Gegenwart, wie Martin Seel es ausdrückt? Befriedigen die Strategien, die als Einzug der Wirklichkeit in die Bühnenräume gepriesen werden, den Wirklichkeitshunger? Offenbar leiden wir nicht nur an materiellen Dingen, nicht an dem, was wir mit Händen greifen können, sondern auch an einer Form von Unwirklichkeit (nicht nur die kinderpsychologischen Praxen können davon reden), in der wir uns verloren fühlen, wenn uns nicht jemand schüttelt und in die Wirklichkeit wirft. Der Dreck ist wirklich, der Schmerz ist wirklich, der Körper in seiner Begrenztheit ist wirklich; die Begegnung ist wirklich, in der wir schockhaft begreifen, dass wir nicht begreifen.
D IE W IRKLICHKEIT
DES
S PIELS
Ein Wirklichkeitsgefühl erlange ich aber in der Regel nicht im Alltagsleben selbst, sondern in jenen Situationen, wo ich aus den unbewusst und routinemäßig vollzogenen Prozessen heraustrete. Und eine solche Gelegenheit ist das Theater, ist das Spiel. Auch im Spiel kann ich wirkliche Erfahrungen machen: Die Situation ist fiktiv, die Erfahrung, die Emotion ist echt, in einem Schon- und Schutzraum, im Spielraum. Ich kann sicher sein, dass man mich im Spiel wie im Theater nicht foltert, nicht verletzt und wegen meines Verhaltens nicht aus meinem Job entlässt. Der Zuschauer, der z. B. in Ruby Town unterwegs ist, weiß, dass das dort anwesende Militär ihn nicht seiner Freiheitsrechte berauben wird, er weiß, dass er dort nicht verhungern und verdursten wird, er weiß, dass er jederzeit gehen, d. h. das Terrain des Spiels verlassen kann. Ein Spiel konstituiert sich immer in einem abgesteckten Raum und Rahmen, den man wieder verlassen kann. Was ist ein Spiel? Was ist das Wesentliche daran, wenn wir von Spielen sprechen? Das Spiel (v. althochdt.: spil für „Tanzbewegung“): „Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des „Andersseins“ als das „gewöhnliche Leben“, heißt es bei dem Kulturtheoretiker Johan Huizinga. (Huizinga, 1991, S. 37)
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Spiel ist der Grundvorgang des Theaters. Ein Hin und Her zwischen Bühne und Zuschauer, uns und den anderen. Und Spiel ist auf beiden Seiten: auf der der Spieler/Performer/Darsteller wie auf der von Zuschauern/Besuchern/Teilnehmern. lm Spiel machen wir die Erfahrung, dass neben der im Alltag gültigen Realität andere Wirklichkeiten möglich sind. Spielen ist immer verbunden mit dem Konstituieren und Akzeptieren unterschiedlicher, nebeneinander möglicher Wirklichkeiten! Deswegen hat es nebenbei bemerkt eine so hohe Bedeutung in Lern- und Bildungsprozessen. Spiel erweitert Erfahrungsmöglichkeiten und enthüllt zugleich die anthropologische Basis meiner Existenz. Ich ist auch ein anderer und könnte noch viele andere sein. Indem ich eine Figur spiele, kann ich sie verkörpern und mit meinem Bewusstsein daneben stehen. Es ist ein Nebeneinander widersprechender, sich ergänzender, multipler Erfahrungen. Dieses Verhältnis von Spieler und Figur oder Spieler und Rolle ist ein Verhältnis des Sowohl-als-auch. Ich bin weder das eine noch nur das andere. Und die Bewegung zwischen beiden Polen ist es, die das Wesen der Spielerfahrung ausmacht. Es ist ein Oszillieren zwischen Hier und Dort, zwischen A und B, zwischen mir und dem anderen. Das vor allem ist die Erfahrung des Dazwischen, des In between oder in der Terminologie von Victor Turner „betwixt and between“. Auf dieser Erfahrung basiert die Kunst des Theaters und aus ihr entspringen ihre wichtigsten Effekte, sowohl für den Spieler wie den Zuschauer. Der Zuschauer ist es, der auf der Bühne seiner Imagination im Theater mitspielt. Spiel setzt ein Bewusstsein darüber voraus, dass es sich um ein Spiel und nicht um die Lebenswirklichkeit selbst handelt. In einem Liverollenspiel – als solches würde ich die Inszenierung Ruby Town charakterisieren – ist eben diese Unterscheidungsmöglichkeit nicht mit Sicherheit gegeben. In der Dauerperformance von SIGNA wird der Besucher/Teilnehmer/Zuschauer Teil einer Inszenierung, die er selbst nicht kontrollieren kann. Der Hypernaturalismus löst dann auch kafkaeske Gefühle aus. Es liegt im Ermessen jedes einzelnen Teilnehmers, inwieweit er/sie die individuellen Spielräume des Fingierens ausnutzt, mitspielt oder aber darauf verzichtet. Ob diese Installationen den Wirklichkeits- oder den Unwirklichkeitssinn schärfen, wie Kirsch behauptet, sei dahingestellt. Sie erweitern den Bereich dessen, was wir als Spiel bezeichnen und zugleich beschränken sie ihn. Sebastian Kirsch beschreibt seine Erfahrung als eine Art Spaltung, die im Zuschauer selbst stattfindet. „Man ist nicht man selbst, aber auch nicht jemand anderes.“ (Kirsch, 2008, S. 11) Die Zweiwertigkeit der Erfahrung aber, von der auch in der inszenierten Stadt etwas bleibt, ist eine Erfahrung, die dem Spiel und dem Medium Theater eigen ist. Es ist die Erfahrung des Schauspielers, der sich zugleich als Ich und nicht Nicht-Ich erfährt. Der Zuschauer/Besucher von Ruby Town kann nicht auf
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eine professionelle handwerkliche Basis zurückgreifen, die dem Schauspieler zur Verfügung steht. Als Zuschauer/Besucher/Teilnehmer ist er dem Geschehen sozusagen ohne professionelle Distanz ausgesetzt. Aber wenn wir den Bezirk von Ruby Town, für den wir mit unserer Eintrittskarte die Zugangsberechtigung erworben haben, verlassen, sind wir aus dem Spiel. Und haben wir eigentlich gespielt? Die Blogs, die während der Installation im Netz in Tagebuchform veröffentlicht wurden, zeigen, dass der Spielcharakter zugunsten von Alltagserfahrungen zurücktritt.7 In der Ästhetisierung der Alltagswelt, die wir vom beleuchteten Fabrikschornstein, über die inszenierten Einkaufszonen bis zur künstlichen Dorfinstallation erleben, wird der Unterschied zwischen Alltag und Fest vermischt. Die Gelegenheiten, Alltagserfahrungen zu durchbrechen, werden, da die ästhetischen Brüche in die Spaßkultur bereits eingebaut sind, zunehmend seltener.
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Siehe aus dem Tagebuch während der Berliner Inszenierung: „Dienstag, 6. Mai, 13-18 Uhr: In Ruby Town muss der Zuschauer für das Erlebnis wirklich arbeiten. Nachdem ich in der Kusturicaschen Umgebung herumgegangen war und sowohl die Schokolade aus meiner Kindheit als auch die Lieblingsplatte meiner Großeltern entdeckt habe (hier findet jeder etwas aus dem eigenen Land!), habe ich enttäuscht bemerkt, dass hier nicht so viel passiert. Diese eklektische Welt ist zugleich authentisch (man findet hier nichts, was nicht von draußen kommen würde) und künstlich (man findet dieses Dorf außer der Lokhalle nirgendwo). Freue ich mich darüber, dass ich das Erlebnis einer exotischen und fremden Welt ohne Risiko erleben kann oder jammere ich darüber, dass diese Authentizität und Fremde auch nur eine Mischung von Marquez bis Borges und also eine Second-Hand-Sache ist? An diesem Punkt muss ich mich dazu entscheiden, aktiver an dem Spiel teilzunehmen: hingehen und nachschauen, plaudern und quatschen, schnuppern und schnüffeln, und spielen, spielen und spielen. Schließlich habe ich hinter dem langweiligen Alltag und den offiziellen Geschichten doch einiges gefunden: die Vorlesung eines Märchens, Marthas persönliche Beratung bei Partnerbeziehungsproblemen und gute Stimmung im Restaurant. Das hat die Mühe gelohnt. Aber auch darüber hinaus gab es noch etwas: eine verschämte Bewegung in der Peepshow, einen flehentlichen Blick gen Himmel und einen verstörenden Augenblick. Ob dies zu den jeweiligen Schauspielern selbst gehört hat? Bin ich jetzt ein Voyeur, wenn ich hinter ihre Rollen geguckt habe? Aber auch sie haben doch damit gespielt!“ Krisztian Faluhelyi (http://www.berlinerfestspiele.de/de/archiv/festivals2008/ 03theatertreffen08/tt_08_talente/tt_08_festivalzeitungonline/tt_08_ztg_tagebuch/tt_08 _ztg_tagebuch.php). (19.3.2010).
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D ER P REIS
DER
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Wir scheinen die Kunst – ich meine den Begriff hier im weitesten Sinne bezogen auf eine Sphäre des Heraustretens aus den alltäglichen Bezügen mittels Inszenierungen – zu brauchen, um uns das Leben nahe zu bringen. Dazu gehört heute vor allem das Soziale, das im Leben flüchtig, umso mehr in der Kunst wiederkehrt und damit das traditionelle Verhältnis von Kunst und Leben umkehrt. Aber das Theater zahlt einen Preis für seinen Weg in die Wirklichkeit: Was heißt es, wenn auf den Bühnen nicht mehr gespielt wird, wenn Situationen, Konstellationen wie Ready-mades inszeniert werden, wenn keine spielerische Transformation stattfindet, sondern immer häufiger nur Rahmenwechsel? Hier möchte ich auf einige kritische Aspekte hinweisen, was das Wirklichkeits- und Doku-Theater angeht: - Die Phantasie, die wir dabei investieren, beschränkt sich auf das real machbare. - Soziale Plastik statt spielerischer Entwürfe. - Pure Gegenwart statt Vergegenwärtigung. - Enthistorisierung. - Die Spielfreude, die Lust an der Verwandlung, auch verwandeln zu sehen (eine wichtige Genussquelle nach Sigmund Freud) weicht dem Vergnügen an der Selbstdarstellung. - An die Stelle des Spiels als freier Exploration tritt die gezielte Recherche8. - Und das Gemeinschaftliche? Ist hier nicht häufig Selbstinszenierung eher gefragt als Gemeinschaftserfahrung? Im griechischen Theater heißt es, die Tragödie einer Person ist die Tragödie der Gemeinschaft. Aber nicht deshalb, weil uns das gesagt wird, ist das so, sondern weil der Chor als Vertreter der Gemeinschaft dieses Miteinander ausdrückt und die Zuschauer im Mitleiden die gemeinsame – heute würden wir sagen: Betroffenheit – bestätigen. In der Bereitschaft, sich auf die Vorgänge und Ereignisse auf der Bühne einzulassen, seine Aufmerksamkeit, seine Emotionen und Phantasien zu investieren, macht das Publikum die Tragödie zu seiner Sache. Wenn das Spiel zwischen den Polen entspannte Distanzierung, wie wir sie im Humor fin-
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Neben Rimini Protokoll sind hier die Produktionen von Jürgen Kuttner und Tom Kühne! als Form einer theatralen Recherche zu nennen. Fordlandia. Eine Fließbandproduktion dokumentiert die Geschichte des Niehler-Ford-Werks in der gleichnamigen Siedlung (UA 13.10.2007, Museumshalle Kalk/Köln). Die VideoschnipselVorträge des Kulturwissenschaftlers und früheren Radiomoderators Kuttner in der Volksbühne reduzieren demgegenüber die Theatralität zugunsten der Information.
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den, und tiefer Selbstvergessenheit aufgespannt ist, so scheint – hier folge ich wieder der Analyse von Boris Groys – dem heutigen Zeitgeschmack eine belustigte Distanznahme, ein etwas schräger Blick, eine bizarre Perspektive auf die Welt zu entsprechen. Und wirken – etwas provokativ gefragt – nicht all diese Laien auf den Bühnen immer auch ein wenig schräg, seltsam, belustigend und bieten uns damit die Möglichkeit augenzwinkernder Distanznahme an?
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PLAY ALS
D IMENSION
DES
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UND DER
K UNST
Spiel vollzieht sich in playing acts, die immer wieder die Botschaft senden: Dies ist Spiel. In den meisten Fällen müssen alle Spieler übereinstimmen darin, dass sie spielen. Es gibt metakommunikative Zeichen, die anzeigen, dass es sich um Spiel handelt. So ist das Setting einer Theateraufführung mit seiner abgegrenzten Bühne traditionell als ein solches Zeichen zu verstehen: Hier findet alles als Spiel und nicht als Wirklichkeit statt. Wir können feststellen, dass die metakommunikative Botschaft „Dies ist Spiel“ auch in den meisten Formen des Realitätstheaters nicht vollständig aufgegeben wird. Wir finden eine Art von Ironie, etwas, das schräg anmutet und uns wie ein Augenzwinkern die Verabredung anzeigt. Immer häufiger jedoch wird diese Verabredung durchbrochen und der Unterschied zwischen Spiel und Nichtspiel verschwimmt. Eben dann, wenn der Unterschied verschwimmt, spricht man in der ethnologischen Spieltheorie von deep play oder dark play. Deep play ist als Gegenkonzept zur Ironie und spielerischen Distanznahme, zur folgenlosen Spielerei zu verstehen. Ich möchte den Begriff des Spiels, wie ich ihn bis hierher ausgeführt habe, und wie er auch in der spieltheoretischen Literatur vorwiegend behandelt wird, durch den Begriff des deep play erweitern, wie er in Richard Schechners Buch „Performance Studies“ (Schechner, 2002) erläutert wird. Mit deep play werden Erfahrungen beschrieben, die an der Grenze zum Spiel stehen, was wir normalerweise den Spielen zuordnen: Es geht nämlich um Spiel und Spielerfahrungen, bei denen es uns ernst ist, von denen wir uns kaum distanzieren können. Deep play ist als Begriff vor 200 Jahren von dem Philosophen Jeremy Bentham eingeführt und im 20. Jahrhundert durch den Ethnologen Clifford Geertz weiterentwickelt worden, als er sich mit der Erforschung von Hahnenkämpfen in Bali und deren kulturellen Implikationen befasste. Deep play bezeichnet diejenigen Spiele, in denen der Spieler Risiken eingeht, die die möglichen Gewinne übersteigen. Es sind diejenigen Spiele, die man in der Schule nicht gerne sieht. Dazu gehört: Mit dem Feuer spielen, die Regeln brechen, spielen mit der Betonung auf Risiko, Täuschung, Thrill, aber auch Bergsteigen, Autorennen, Wetten, bis hin zum Kampf
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auf Leben und Tod. Clifford Geertz hebt am deep play einen nichtmateriellen Wert hervor.9 Deep play kann eine todernste Angelegenheit sein, bei der die Spieler – wie bei den Hahnenkämpfen in Bali – ihre Existenz vollständig ruinieren. Von daher ist deep play subversiv, an der Grenze das Spiel als Spiel zu zerstören, weshalb man auch von dark play spricht. Spiel ist nicht nur eine Aktivität, sondern- wie Richard Schechner betont- auch eine Stimmung, „mood“, im Deutschen würden wir hier von Gestimmtheit sprechen. Das Phänomen deep play bedeutet ein tiefes Involviertsein, eben nicht die spielerische Distanz und Leichtigkeit, das Schräge und Absurde, sondern das Eintauchen in eine andere Erfahrung, wie sie Michail Csikszentmihalyi mit dem Begriff des Flow beschrieben hat. (Csikszentmihalyi, 1990) Deep play is“ – wie Diane Ackerman ausführt – „taken to intense and transcendent
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heights. Thus, deep play should really be classified by mood, not activity. It testifies to how something happens, not what happens. Games don’t guarantee deep play, but some activities are prone to it: art, religion, risk-taking, and some sports – especially those that take place in relatively remote, silent, and floaty environments, such as scuba diving, parachuting, hang gliding, mountain climbing.“ (Ackermann, 1999, S. 12)
Zum Spiel gehört auch die Flow Erfahrung, das sich verlieren im Spiel, die Intensität des Thrills, des Wagnisses, aber auch die andere Zeiterfahrung als Erfahrung von Zeitlosigkeit und Verdichtung, die im Alltag nicht stattfindet, die eben das außeralltägliche Erleben kennzeichnet. Hier finden wir enge Verwandtschaft zum ästhetischen Erleben wie zur religiösen Erfahrung, aber auch zum erotischen Erleben, das ja ebenfalls häufig in Begriffen des Spiels beschrieben wird.10
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Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 2002: Suhrkamp, S. 107 f. (Interpretation of Cultures. New York 1973: Basic Books). Siehe auch Diane Ackerman, Deep Play, New York 1999: Random, die in ihrem Spielbegriff vor allem auf das Phänomen des Involviertseins abhebt und dabei die verschiedenen Dimensionen und Spielarten des Deep Play nicht mehr differenzieren kann von anderen Erfahrungen des Transzendierens, eine Schwierigkeit, in der sich das Problem der Spieltheorien, nämlich ihre Verlängerung in die Bereiche der Naturerfahrung, der Erotik, des ästhetischen und religiösen Erlebens wiederholt. Vgl. auch Helmar Schramm: Karneval.
10 Zur Zeitdimension ästhetischer Erfahrung als „Dauer“ vgl. Hans-Georg Gadamer, Die Aktualität des Schönen – Kunst als Spiel, Ritual und Fest, Stuttgart 1977: Reclam. Zur religiösen und erotischen Erfahrung vgl. Peter L. Berger, Erlösendes Lachen. Das
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P ERFORMANCE
ALS DEEP PLAY Die Faszination der Performancekunst liegt darin, dass hier nicht fiktiv gehandelt wird, sondern im Hier und Jetzt, dass der Performance-Künstler sich, wie Marina Abramović sagt, nicht schützt vor Dreck, vor Erniedrigung, vor dem direkten Kontakt mit dem Publikum, darauf seine eigenen Grenzen bis zur Selbstverletzung zu strapazieren.11 Lässt sich auf der einen Seite im Rahmen der Entwicklung zum Reality-Theater, wie sie hier beschrieben wird, ein Verlust des Spiels durch die zunehmenden Verfahren der Performance beobachten, so ist auf der anderen Seite auch ein durch Performance vertieftes Spiel zu konstatieren. Ein Spiel, das immer auf der Grenze zum Spiel beziehungsweise zur Wirklichkeit steht. Die Inszenierungen der Socìetas Raffaello Sanzio sind Beispiele eines deep play, einem Spiel, dem es ernst ist. Ein Rudel Schäferhunde bellt die alten Gemäuer des Palais des Papes in Avignon an, vor dem die weiträumige Bühne installiert ist. Ein Mann tritt vor, über das Gekläff der Hunde hinweg geht seine Stimme „Je m’apelle Romeo Castellucci!“ direkt zum Publikum. Es handelt sich um Romeo Castellucci, den Regisseur und Leiter der Truppe. Nachdem sein Ruf in der weiten Arena verhallt ist, steigt er in einen wattierten Anzug und lässt die Schäferhunde auf sich los. „Die Szene zitiert den Anfang von Dantes Göttlicher Komödie – bei Castellucci aber wird das Bild des Menschen, der sich freiwillig den Bestien übergibt, auch ein Bild für die Kompromisslosigkeit seiner Kunst.“ (Schneider, 2008) Später wird ein Schauspieler die vierzig Meter aufragende Fassade des Papstpalastes in schwindelerregende Höhe hinaufklettern, Minuten, die sich zur Zeitlosigkeit dehnen und bei den Zuschauern einen nachhaltigen
Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin/New York 1998: De Gruyter. Auf die Überschneidungen der Erfahrungsdimensionen von Spiel, Ästhetik, Komik, Religion und Erotik unter dem Gesichtspunkt der Flowerfahrung wie ihrer jeweiligen Abgrenzung zur Alltagserfahrung kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit, Frankfurt a. M., 5. Aufl. 1977, die sie als ,,Inseln“ inmitten der Alltagserfahrung beschreiben, die davon nicht unberührt bleiben, aber dennoch eigene Bezirke des Erlebens darstellen. 11 Hier sind die Performances von Marina Abramović, aber auch die Inszenierungen Jan Fabres zu nennen, in denen sich die Performer extremen Erfahrungen mit ihren Körpern aussetzen. Vgl. lngrid Hentschel, Performance als Rückkehr zum Ritual? Nackte Gewalt im zeitgenössischen Theater, in: lngrid Hentschel/Klaus Hoffmann (Hrsg.), Spiel, Ritual, Darstellung, Scena – Theater und Religion Bd. 2, Münster: LIT 2005, S. 113-133.
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Eindruck hinterlassen und in kaum einer der Kritiken der Aufführung beim Festival von Avignon 2008 unerwähnt bleiben werden. Ein Kind mit einem Wolfsfell über der Schulter tritt auf. Ein Ball fällt aus der Höhe herab und schlägt mit ohrenbetäubendem Geräusch immer und immer wieder auf: Ball, Erdkugel, Bild des Geworfenseins. In dieser Inszenierung von Dantes Inferno wird außer dem einleitenden Satz kein Wort gesprochen. Am Ende werden Bildschirme, schwere Fernsehgeräte aus der Höhe auf die Bühne stürzen und dort zerschellen, zu lesen war darauf „T“„O“„I“, TOI. Die Inszenierung geht vom Ich zum Du, vom Schauspieler zum Publikum. Geste und reale Aktion, Symbol und Material, Mensch, Tier und Architektur (des Papstpalastes) im Wechselspiel. Die Darsteller zeigen mit einer Geste an, dass sie sterben, sie fallen zu Boden und stehen am Ende wieder auf, genauso wie es dem Medium Theater entspricht, das was geschieht, zugleich zu negieren und als bloßes „Spiel“ zu entlarven, und doch wird am Ende ein echter Flügel verbrannt worden sein. Die Socìetas Raffaello Sanzio zeigt Performancekunst im Dienste einer Tragödie, die nicht im Modus der Sprache, des Mediums der Stellvertretung, des Abwesenden daherkommt, sondern in der Präsenz von Handlungen, die sich im Hier und Jetzt der Aufführung ereignen, die misslingen können, die das Publikum in Bann schlagen und tief involvieren. Deep play ist ein ernstes Spiel, deep play ist erfahrungswirklich. Für die Socìetas Raffaello Sanzio wie für Marina Abramović, die Großmutter der Performancekunst, wie sie sich selbst tituliert, gilt, was Romeo Castellucci, der Regisseur formuliert, wenn er auf die Risiken Bezug nimmt, denen er sich und die Spieler aussetzt: „Es handelt sich um eine Gefahrensituation, die essenziell für jede Kunsterfahrung ist. Auch in der Kunst muss man sich aufs Spiel setzen, sich der Gefahr ausliefern.“ (Castellucci, 2008)
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Es gibt auch einen „heiligen Ernst“ des Spiels. Laut der griechischen, aber auch der indischen Mythologie waren es die Götter, die das Spiel erfanden. Mit deep play wird das Spiel bezeichnet, dem es ernst ist, ein Spiel, in dem wir es wagen uns aufs Spiel zu setzen, ein Spiel, das sich zu Transzendenz und Utopie öffnet.12
12 Der Traditionsstrang des voraufklärerischen Spiels wie auch das dionysische Spiel wurde im Rahmen der spieltheoretischen Diskussion verdrängt. Vgl. Mihai Spariosu,
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Spiel wird in der Spaßgesellschaft zur unverbindlichen Spielerei. In immer neuen Spielformen variieren sich die Medienformate unablässig und setzen Phantasie in vorher nicht gekanntem Ausmaß frei. Eine Kreativitätsindustrie, in der der Umgang mit Fiktionalität, mit Phantasie und Spiel zur Alltagspraxis wird. Die damit einhergehende Explosion der Einbildungskraft ist im Medienzeitalter eine, wie Peter Handke es einmal ausdrückte, „ihrer Flügel beraubte Einbildungskraft“. Die virtuellen Räume der Computersimulationen führen zur Raumvernichtung. (Handke, 1996) So steigt die Bedeutung der wirklichen Räume, der physikalisch präsenten Räume, für die Kunst im Medienzeitalter im proportionalen Verhältnis zur zunehmenden Virtualisierung. Die Bewegung des Theaters hin zur Wirklichkeit des Alltagslebens in Form des Reality- und Doku-Theaters, die Überschreitung der Grenzen im Sinne eines Spielverlusts und Gewinns an realer Erfahrung, zur Wirksamkeit der Performance und eines vertieften Spiels im Sinne des Konzepts des deep play sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Spielformen des Theaters sind am ehesten geeignet, den ontologischen Bereich der Existenz auszudrücken. Einen Film zu betrachten oder eine elektronische Simulation oder jedes andere visuelle Medium produziert nicht in gleicher Weise das Gefühl der Beziehung menschlicher Wesen untereinander in Form einer geteilten Erfahrung im Augenblick der Aufführung. An dieser Stelle würde ich eine Formulierung aufnehmen, die ich bei Eugenio Barba und auch bei Hans-Thies Lehmann gefunden habe. Beide sprechen von einem „Tanz“ von Verstehen und Nichtverstehen, wenn sie die Erfahrung des Zuschauers im Theater charakterisieren wollen.13 Um zu artikulieren, was wir verstehen, dazu brauchen wir die Kunst nicht, auch nicht das Theater. Wir brauchen das Theater, um unser Nichtverstehen, unser Scheitern und unser Bemühen, uns in der Welt zu orientieren, miteinander zu teilen – Theater ist der geteilte Raum, die geteilte Erfahrung – und um für alles, was in die selbstverständliche und verwaltete Welt nicht passt, einen Ort zu haben. Deswegen leistet sich eine Gesellschaft immer noch Theater oder sollte es zumindest. Insofern ist dem Theater- und der Theaterpädagogik mehr deep play wünschen!
Dionysus Reborn. Play and the Aesthetic Dimension in Modern Philosophical and Scientific Discourse, lthaka/London: Cornell University Press 1989. 13 Eugenio Barba, Four Spectators, in: The Drama Review No. 125, New York 1990, S. 96-100; hier S. 99; vgl. Hans-Thies Lehmann, Ästhetik. Eine Kolumne. Über die Wünschbarkeit des Nichtverstehens, in: Merkur 48, 1994 Heft 538, S. 426-431.
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L ITERATUR Ackermann, D. (1999). Deep Play. New York: Random. Barba, E. (1990). Four Spectators. In The Drama Review No. 125 (S. 96-100; hier S. 99). New York. Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a. M. Suhrkamp. Bourriaud, N. (2002). Relational Aesthetics. Paris: Les Presses Du Reel. Castellucci, R. (2008). Das Haus muss brennen. Romeo Castellucci im Gespräch mit Lena Schneider und Frank Raddatz. In Theater der Zeit 63, Heft 9 (S. 1620). Csikszentmihalyi, M. (1990). Flow: The Psychology of Optimal Experience. New York: Harper and Row. Fischer-Lichte, E. (2004). Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Geertz, C. (2002). Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Groys, B. (2007). Boris Groys im Gespräch „Zur Situation des Geschmacks in unserer Zeit“ oder wie der Schauspieler zum Ready-made wird. In K. Tiedemann & F. Raddatz (Hrsg.), Reality (S. 2-35). Handke, P. (1996). Zurüstungen zur Unsterblichkeit. Theaterstück. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hentschel, I. (2007). Kind, Kunst und Kultur. Ingrid Hentschel im Gespräch. In IXYSILONZETT. Beilage der Zeitschrift Theater der Zeit 62, Heft. 1. Hentschel, I. (2005). Performance als Rückkehr zum Ritual? Nackte Gewalt im zeit genössischen Theater. In I. Hentschel & K. Hoffmann (Hrsg.), Spiel – Ritual – Darstellung, scena Theater und Religion Bd. 2 (S. 113 -132). Münster. Huizinga, J. (1991/1938). Homo Ludens. Vom Ursrpung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Kirsch, S. (2008). SIGNA oder der Sinn für die Unwirklichkeit. In Theater der Zeit 63, Heft 5 (S. 8-11, hier S.11). Lehmann, H.-T. (1994). Ästhetik. Eine Kolumne. Über die Wünschbarkeit des Nichtverstehens. In Merkur 48, Heft 538 (S. 426-431). Lehmann, H.-T. (1999). Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Schechner, R. (2002). Performance Studies. An Introduction. London: Routledge.
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Schneider, L. (2008). Mit der Bestie spielen. In Theater der Zeit 63, Heft 9 (S. 21-23 hier S. 21). Schulze, G. (1992). Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Campus. Seel, M. (2001). Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In J. Früchtl & J. Zimmermann (Hrsg.), Ästhetik der Inszenierung (S. 48-62, hier S. 53). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Shusterman, R. (2000). Pragmatist Aesthetics: Living Beauty, Rethinking Art, 2. Aufl. with a special introduction and a new chapter. New York: Rowman and Littlefield. Spaemann, R. (2000). Wirklichkeit als Anthropomorphismus. In Information Philosophie 28, Heft 4 (S. 7-19). Tiedemann, K. & Raddatz, F. (Hrsg.) (2007). Reality strikes back. Tage vor dem Bildersturm, Recherchen, Bd. 47. Berlin: Theater der Zeit. Wetzel, D. (2007). Helgard Haug und Daniel Wetzel im Gespräch. Wir suchen Darsteller mit Rollen, die sie schon geprobt haben. In K. Tiedemann & F. Raddatz (Hrsg.), Reality (S. 160-174).
Zwischen Ich und Welt Zeigen und Verbergen im Theater von und mit Jugendlichen1
Dieser Beitrag behandelt auch das Theater für, also Theaterproduktionen, die Erwachsene für ein Publikum von Jugendlichen spielen. Diese sind im eigentlichen Sinne auch als Theater mit Jugendlichen zu begreifen. Es gibt kein Theater ohne Publikum, auch Vorführtheater ist meinem Verständnis nach ein Theater, das mit seinem Publikum spielt. Dabei kann es allerdings dem Zuschauer manchmal eine üble Rolle zuweisen, die des passiven, ignorierten Adressaten, der nicht als Gegenüber, nicht als ein Mitspieler betrachtet wird, sondern als ein passives Neutrum. Um solches Theater geht es hier nicht. Im besten Falle spielt Theater immer für und mit seinem Publikum. Jugendtheater ist - wie es sich historisch vor allem seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts herausgebildet hat - ein Theater aus der Perspektive von jungen Menschen. Was aber ist die Perspektive der Jugendlichen? Wir wissen, dass Kindheit und Jugend ebenso wie Weiblichkeit und Männlichkeit auch gesellschaftliche und kulturelle Konstruktionen sind, voller Projektionen. Mithin sind wir immer in Gefahr, den Bildern, die wir uns von Jugend machen, zu erliegen, wenn wir über Jugendliche und ihr Theater sprechen. Dem scheint man zu entkommen, wenn man die Jugendlichen selbst fragt, wenn sie selbst Theater spielen oder in Erwachsenenproduktionen auch selbst mit den professionellen Akteuren auf der Bühne stehen. Aber ist ein Selbstbild immer verlässlicher als ein Fremdbild? Gehört nicht beides zusammen? Ist das immer ihre Wirklichkeit, die Jugendliche uns von sich 1
Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag anlässlich des Fachkolloquiums Theaterpädagogik – Theater mit Jugendlichen im Theater Agora, St. Vieth, Belgien, 15.10.2014.
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zeigen? Zeigt Realismus Wirklichkeit? Lässt sich unsere Welt auf Wirklichkeit reduzieren, so wie wir es gewohnt sind, beide vorschnell miteinander zu identifizieren: Welt und Wirklichkeit? Betrachtet man die letzten 25 Jahre der Entwicklungen des Theaters für und mit Jugendliche(n) und die Debatten und Reflexionen darum, so scheinen die dort formulierten Fragen nach der Wirklichkeit der Jugendlichen im Verhältnis zur gegenwärtigen Zeit durchaus aktuell. Allerdings werden heute als Akteure des Jugendtheaters zunehmend die Jugendlichen selbst benannt und als Protagonisten gefordert und weniger erwachsene professionelle Schauspieler, die lange im Fokus standen. Auch an den Formen hat sich viel geändert, Theaterpädagogik und professionelle Theaterproduktion haben sich angenähert, beide professionalisiert. Es sind immense Qualitätssteigerungen zu verzeichnen: in beiden Bereichen, in den theaterpädagogischen Projekten mit und von Jugendlichen ebenso wie im professionellen Vorführtheater. Die strukturelle Trennung von Kunstproduktion, Rezeption und Vermittlung ist in Bewegung geraten. Professionelles Theater und Theaterpädagogik wie auch Theatervermittlung haben sich angenähert, ebenso wie die Kunst und die Kunstvermittlung, ein Prozess der dort auch durchaus kritisch diskutiert wird. Ich möchte im Folgenden einige Überlegungen vorstellen, die tiefer gehen als es die tägliche Praxis häufig erlaubt und die vielleicht dazu beitragen mögen, sie zu reflektieren oder auch argumentativ zu fundieren. Ausgangspunkt sind folgende Fragen: Was ist die Grundlage, was verbindet all unser Nachdenken über Jugendtheater, über Theater, das Jugendliche spielen, und Theater das für Jugendliche gespielt wird? Jugend, was ist das? Jugendliche sind nach deutschem Recht definiert, Personen von 14 bis noch nicht 18 Jahren, (§ 7 Nr. 2 SGB VIII, § 1 I Nr. 2 JuSchG. Die gesetzliche Einordnung ist für eine Reihe von Lebenssachverhalten bedeutsam, wie Jugendarbeitsschutz, Jugendschutz, Jugendstrafrecht). Betrachtet man diese Lebensphase bezogen auf die psycho-physische Entwicklung, so beginnt Jugend mit 12 Jahren und der Beginn der Pubertät verlagert sich immer mehr nach vorne. Jugend ist heute schwer abzugrenzen von Erwachsenheit in einer Konsumgesellschaft, die
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zunehmend die Konturen zwischen den Generationen verwischt. Wir leben in einer Gesellschaft in der Jugendlichkeit zum Attribut, zum must have von Erwachsenen gehört, eine Gesellschaft, in der Kindheit und Jugend marktförmig definiert und inszeniert wird. Wer ist der Adressat von einem Jugendtheater, in dem die Jugendlichen selber spielen und agieren? Sind es die Jugendlichen oder auch die Erwachsenen? An wen sind die Botschaften gerichtet, die junge Menschen von der Bühne aus artikulieren? Wenn Theater ein Medium der Öffentlichkeit ist, um die Perspektive und die Anliegen junger Menschen öffentlich zu kommunizieren, in welchem Verhältnis steht dann diese Theateröffentlichkeit zu den medialen Öffentlichkeiten des Netzes? Wie gestalten sich die Verhältnisse zwischen Privatheit und Öffentlichkeit?
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Der Prozess des Theatervorgangs und des Theatermachens ist ein dialogischer Prozess: Er geht vom Ich zum Du der Mitspieler, aber auch vom Ich zum Du der Rolle und schließlich vom Schauspieler/Darsteller-Ich zum Zuschauer-Du. Immer aber beziehen wir uns in diesen dialogischen Situationen auf etwas Drittes, etwas, das die Schnittmenge zwischen mir und dem jeweiligen Du bildet. Etwas, das es ermöglicht, wenn ich „Tisch“ sage, dass Sie auch an einen Tisch denken mögen, gleichgültig welche Farbe er in Ihrer Vorstellung hat. Wenn ich „Berg“ sage oder dies mit einer Geste andeute, dass Sie an eine Erhebung in der Landschaft denken, ob verschneit, mit Blumen bewachsen oder von kargen Felsen gebildet. Dieses Dritte wird hier mit dem Begriff Welt bezeichnet. Ich und Welt machen das Grundverhältnis unserer Existenz aus. Dieses ist aber immer gebunden an personale Beziehungen: an ein Du, mit dem ich etwas aus der Fülle dessen was ich wahrnehme, teilen kann; einem Du, dem ich mich mitteilen kann. Wie kommt das Ich zur Welt? Wie begreift ein Jugendlicher die Welt? Wo ist die Welt für ihn? Draußen im Netz, auf der Straße, in der Familie, in Afrika oder Saudi-Arabien? Die Philosophin Hannah Arendt begreift Welt nicht nur als materielles Äußeres das uns umgibt, nicht nur die Erde und die Umwelt, sondern auch die Mitwelt und die Welt, die sich der Sichtbarkeit in Raum und Zeit entzieht, die Innenwelten des Menschen und seine kulturellen Hervorbringungen.
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„Die Welt ist vielmehr sowohl ein Gebilde von Menschenhand wie der Inbegriff aller nur zwischen Menschen spielenden Angelegenheiten, die handgreiflich in der hergestellten Welt zum Vorschein kommen. In der Welt zusammenleben heißt wesentlich, daß eine Welt von Dingen zwischen denen liegt, deren gemeinsamer Wohnort sie ist, und zwar in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet und trennt die Welt derjenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist.“ (Arendt, 2002, 65f.)
Warum ist es gerade Hannah Arendts Auffassung der Welt, die für den Zusammenhang dieses Beitrags bedeutsam wird? Denkt man an das Theater als einen spielerischen Prozess, als ein kommunikatives Geschehen zwischen den Mitspielern und auch zu den Zuschauern hin, dann scheint es nicht angemessen, diese kommunikativen Vorgänge zu idealisieren. Wir neigen leicht dazu - und auch die gegenwärtig von Anträgen und Evaluationen geforderte Rhetorik verführt immer wieder dazu - das Miteinander, den Konsens, das Einverständnis zu betonen. Aus Hannah Arendts Definition geht jedoch hervor, dass Welt zwar dasjenige ist, das uns verbindet, das zwischen uns steht: Aber als ein solches Zwischen-uns-Stehendes trennt es uns auch. Wir haben verschiedene Weltzugänge und verschiedene Perspektiven und dennoch teilen wir eine Welt. Das bedeutet: Unser Weltverhältnis ist paradox. Jugendliche haben noch keine fest ausgeprägten Weltzugangsweisen, sie suchen ihren Platz in der Welt, sie befragen sich und die anderen, sie schauen sich um und häufig zweifeln und verzweifeln sie. „Ich habe meine Privatsphäre und Du auch. Wenn Du wissen willst wie Pubertät ist, frag Google. Mach’s gut.“ Sagt ein Jugendlicher in der Inszenierung Before Your Very Eyes der britisch-deutschen Performancegruppe Gob Squad. Googelt man Bilder zum Suchbegriff „Jugendliche“, so sieht man nur erfolgsverwöhnte Gesichter, lachend, ewig schön, jung, frisch und glücklich. Das ist aber nur die äußere Seite. Jugend, bedeutet: Pickel, bedeutet: sich getrennt fühlen, im Konflikt zu sein mit den ehemals Vertrautesten, den Eltern, es bedeutet: Leistung erbringen zu müssen und bedeutet: sich finden zu wollen und zu sollen, es bedeutet: in einer Welt zu leben, die man nur schwer oder gar nicht beeinflussen kann, bedeutet: heimlich im Bett zu weinen und Samenergüsse zu haben, es bedeutet: zum ersten Mal tief verletzt zu sein, bedeutet: zu dick zu sein, bedeutet: eine Welt voller Krieg, Grausamkeit und Ungerechtigkeit im Fernsehen zu sehen, bedeutet: Unrecht zu erleben, bedeutet: Angst zu haben, es bedeutet: sich nicht auszukennen, bedeutet: unbedingt raus zu wollen, tanzen zu
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wollen, saufen zu wollen, Sex haben zu wollen, schön sein zu wollen, erfolgreich sein zu wollen, dabei sein zu wollen, und und und und... Erinnern Sie sich bitte selbst:……………………..! Und es gibt die „Maske der Erwachsenen“ (Benjamin, 1969, S. 15), die sich, wie Walter Benjamin einmal sagte, Erfahrung nennt. Alles hat der Erwachsene schon erlebt, alles weiß er schon, alles kann er problematisieren und im Vorhinein entwerten. In der eben schon erwähnten Inszenierung Before Your Very Eyes spielt die Gruppe mit echten Kindern zwischen 8 und 14 Jahren das Erwachsenwerden und Erwachsensein bis zum Altern durch. Sie haben das Stück zusammen mit den Kindern und Jugendlichen entwickelt. Die Kinder zeigen sich selbst als Kinder, als Jugendliche und als Erwachsene, die sie einmal selbst sein werden. Sie stellen sich selbst Fragen und sie stellen den als Erwachsenen verkleideten Mitspielern Fragen nach ihrem Leben. Die Kinder sind in ein Aquarium eingesperrt, durch Glasscheiben vom Publikum getrennt, sieht man sie sich verkleiden, zu Musik herumspringen, sich zu gebärden, so wie wir auch als Erwachsene Jugendliche sehen. Das Interessante an dieser Aufführung: die Kinder schauen sich selbst von außen an. Die Art wie sie ihr Leben darstellen, und dann das der Erwachsenen, ist ernüchternd. „Ich kann ein Motorrad kaufen, und meine Midlife-Crisis verleugnen. Ich kann sagen: In meiner Jugend... Ich kann sagen: ich habe ein Burn-out. Ich kann Beziehungen beginnen und beenden.“
In der einstündigen Inszenierung verengt sich der Horizont immer mehr. Vom anfänglich jugendlichen Gefühl der Kinder, dass alles möglich ist, bleibt nur ein zähes Weitermachen, ein Schrumpfen der Hoffnung darauf, dass das Leben und die Zukunft großartige Dinge bereithalten. Erwachsen zu sein stellen sich die Kinder in dieser Inszenierung als endlose, fürchterlich öde Stehparty vor.2 Heisst Erwachsensein immer Desillusionierung? Hier halten Jugendliche uns den Spiegel vor. Oder ist es so: dass Erwachsene Kinder benutzen, um sich selbst bzw. uns, dem erwachsenen Publikum den Spiegel vorzuhalten? Jedenfalls ist der Blick sowohl auf Jugendlichkeit wie auf
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Vgl. Peter Laudenbach, Na wie ist Dein Leben so gelaufen? In: Süddeutsche Zeitung Nr.101/ 3.5.2011, S. 13.
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Kindheit gleichermaßen desillusioniert. Ohne Zauber, Hoffnung und Zukunftsversprechen. Die Inszenierung ist wenig theatral, sie benutzt dokumentarische Videoaufnahmen der Kinder, die sie dann retrospektiv selbst kommentieren. Es wird viel gesprochen, getanzt, kaum gespielt. Insofern ist Before Your Very Eyes symptomatisch für einen Trend im derzeitigen Theater- und Theaterpädagogischen Betrieb. Es stellt sich die Frage der ästhetischen Sprache, der Theatersprachen, die benutzt werden um Wirklichkeit einzufangen. Sie ist aber kein kleinäugiges Tier, das man ein für alle Mal haben, kann wie Christa Wolf es einmal bezogen auf die Wahrheit ausdrückte. Mit welchen Mitteln, wie wird man der eigenen Wirklichkeit gewahr? Manchmal scheint es mir als sehe ich nur das Äußere der Jugendwelt auf der Bühne: rappende Jugendliche, die über ihre Pickel erzählen, die den Krieg thematisieren, die Talkshows auf die Bühne bringen. Jugendtheater präsentiert sich häufig als ein Problemtheater aus Sicht der Erwachsenen. Eine Sozialarbeiterperspektive, die uns Jugendliche als Problemfälle im sozialen Abseits, immer bedroht von Alkohol, Drogenmissbrauch oder von Gewaltbereitschaft zeigt. Das ist nur die andere Seite der Hochglanzjugendlichen, die uns Google präsentiert. Ich sehe aber nicht welches innere Verhältnis Jugendliche zu all den Phänomen und Problemen haben. Vielleicht sind sie uns und damit dem Erwachsenentheater viel näher als wir denken? Und ist Kunst nicht für die Bereiche unserer Existenz zuständig, die uns nicht auf einfache Weise zugänglich sind? Aber wie können sie das Gemeinsame und das Trennende, das Innere und das Äußere zur Darstellung bringen?
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In der Entwicklung des Menschen ist es das Spiel, das die Brücke zwischen Ich und Welt, zwischen Innen und Außen schlägt. Spielen hat maßgeblichen Anteil an der Konstruktion des Wirklichkeitssinns des Kindes, es ermöglicht das Lernen des Lernens, um mit dem Erziehungswissenschaftler Gerd E. Schäfer zu sprechen. Das Spiel ermöglicht es dem Kinde sich die Welt nach Maßgabe seiner jeweiligen Fähigkeiten anzueignen: ist es zu klein, um selbst zu kochen, so kocht es im Spiel für die Puppen. Hat es Angst vorm Zahnarzt, wird es selbst zum Zahnarzt. Fühlt es sich schwach, spielt es Monster. Auf dieser Fähigkeit des
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Fingierens, des ,So tun als ob‘, beruht die Theaterkunst: Spiel ist wie Mira Sack einmal sagte, die „Basisstation von Theater und Theaterpädagogik“. Und doch wird diese Basis heute sehr häufig verlassen, spielen die Jugendlichen gar keine Rollen mehr, sondern performen sich selbst. Diese Entwicklung, die ich einmal mit Spielverlust gekennzeichnet habe (vgl. Hentschel, 2010), ist auch im Theater für Erwachsene anzutreffen. In den Aufführungen beobachten wir häufig die Verwendung von Mikrophonen, von frontaler Publikumsansprache. Körpereinsatz, Rollenspiel, Verwandlung, Schauspiel sind weniger festzustellen. Diese Entwicklung wird häufig als performatives Theater bezeichnet, der Begriff ist aber in diesem Kontext nicht richtig benutzt: gemeint ist ein Theater, das sich von der Illusion entfernt und stattdessen die Wirklichkeit ins Visier nimmt. Die Entwicklung ist auch mit dem „Verlust der Maske“ beschrieben worden.3 Die Grenze zwischen Spiel und Nicht-Spiel wird fließend, ebenso die zwischen Amateuren und Profis. Das Jugendtheater wurde und wird stets beeinflusst durch die Ästhetiken und Spielweisen des Erwachsenentheaters, ebenso wie durch gesellschaftliche Veränderungen und Verwerfungen. Durch die Geschichte hindurch können wir feststellen, wie sich Themen, Stoffe und vor allem ihre Behandlung durch den Einfluss von Bildern von Kindheit und Jugend, durch Wissenschaft und Politik, aber auch durch Werbung und Ökonomie verändert haben. Theaterproduktionen für Jugendliche, aber vor allem auch Theaterproduktionen mit Jugendlichen fußen immer häufiger auf Recherchen in der Wirklichkeit der Jugendlichen. Der Bezug auf literarische Stoffe wird deutlich weniger, das kann man im Archiv der zum Theatertreffen der Jugend eingeladenen Inszenierungen ablesen.4 Die Basis der Inszenierungen mit und von Jugendlichen bilden Interviews, Beobachtungen, Kommentare aus Elternhaus, Nachbarschaft, Schule und Stadtteil. Parallel zu dieser Entwicklung ist in den Sozial- und Kulturwissenschaften ein Boom empirischer interviewbasierter Forschungsmethoden festzustellen. „Realistische Positionen“, so war jüngst unter dem Titel Facing Reality zu lesen, „sind für mich dadurch gekennzeichnet, dass sie aus empirischen Details des Stoffs der sozialen
3
Vgl. Schmidt, Christopher Alles, was tief ist. Hans Belting spricht in München über ,Theater und Maske‘. In: Süddeutsche Zeitung (162) 17.7.2010, S. 16.
4
http://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/bundeswettbewerbe/ theatertreffen_der_jugend/archiv_ttj/archiv_ttj_1.php (14.10.2014).
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Wirklichkeit ihre Konstruktionen errichten und diese auf die sozialen Verhältnisse der gegenwärtigen Wirklichkeit beziehen.“ (Taube, 2014, S. 8)
Realismus wird an Empirie geknüpft. Empirisch ist das mit den Sinnen erfahrbare, das beweis- und messbare, das Sichtbare. Es stellt sich die Frage: Worin unterscheidet sich ein solcher Realismus von dem Material, das Jugendliche tagtäglich in den Sozialen Netzwerken verbreiten? Die Bilder, die Tonaufzeichnungen, die Videos, die Selfies? Kunst und Ästhetik ist nicht nur Mittel der Präsentation: Die Kunst zeigt das, was anders gar nicht zu sehen ist. Wir brauchen die Kunst, weil sie uns das zugänglich machen kann, was wir auf andere Weise nicht erfahren können, nicht um uns das noch einmal zu zeigen oder zu bestätigen, was wir ohnehin täglich sehen. Das Ich ist nur zum Teil sichtbar, es enthält unsichtbare Anteile. In unserer Kommunikation, in unseren sozialen Beziehungen schwingen Geschichten mit, Erfahrungen, Erlebnisse, die nicht ans Licht treten. Empirische Wirklichkeit ist nicht gleich Welt. Wir neigen dazu trotz aller performativen Wenden die Jugendlichen und ihre Weltsicht zu versimpeln. Die Welt ist nicht eindeutig: unser Verhältnis zu ihr ist paradox. Wir sind Teil von ihr und sie ist uns zugleich fremd, sie verbindet uns als Mitmenschen miteinander und zugleich steht sie trennend zwischen uns. Das formuliere ich bewusst gegen eine harmonisierende Sicht, die vielen Jugendtheaterkonzepten zugrunde liegt. Hier sind Konflikte immer äußerlich verursacht. Es gibt aber einen existentiellen Konflikt: die Welt ist niemals dem Ich unmittelbar zugänglich, es gibt immer einen Bruch, die Verschmelzung von Ich und Welt, Innen und Außen gelingt und wird erfahrbar nur in extremen Rauschsituation, deswegen Trance, Tanz, Drogen und in der Liebe. Der von Marcel Cremer entwickelte Ansatz des Autobiografischen Theaters, das dem Spieler zugleich sehr nah und sehr fern ist, scheint ein geeignetes Beispiel, um das Paradoxe des Verhältnisses zwischen Ich und Welt zu beschrieben und auf der Bühne glaubwürdig darzustellen, für Profis ebenso wie für Jugendliche selbst.
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„Der größte Reichtum eines Menschen ist seine Geschichte“, betonte Marcel Cremer und das Theater Agora immer wieder. Und jeder Mensch, sei er noch so klein, hat Geschichten, von denen er berichten kann. Dazu können die verschiedenen Sprachen des Theaters mit ihren unterschiedlichen Spielweisen genutzt werden. Das Eigene muss fremd werden, zunächst auch uns selbst fremd werden, damit wir es begreifen können. Und es muss fremd werden, damit Zuschauer ihm nahe kommen können. Marcel Cremer hat in seinem Konzept des Autobiografischen Theaters immer wieder diese Notwendigkeit der Verfremdung betont. Ähnlich wie bei Brecht geschieht dies nicht aus im engeren Sinne didaktischen Gründen, sondern aus Gründen der Erkenntnis und des ästhetischen Genusses. Das Material des Eigenen und authentisch Erlebten muss die Verwandlung in ein Spiel erfahren. Aus den Eigennamen der Spieler entstehen in einem Workshop von Marcel Cremer Kunstnamen, alle mit Elementen aus dem Wort Kuscheltier verbunden: „Anne Reitleschuk Martina Tierkeschel Marcel Kuschek Fatma Scheltier Angelika Kuschtief“ (Cremer 1997, S.229)
Es wird zurzeit viel und verächtlich über das sognannte Illusionstheater geschrieben. Das ist hier ausdrücklich nicht gemeint, wenn vom Spiel die Rede ist. Es handelt sich um Prozesse der Transformation – nicht in ein Spiel, das billige Illusionsmacherei ist – sondern in ein Spiel, das Wirklichkeit enthält und enthüllt. Die Bedeutung des Spiels sowohl für die individuelle Entwicklung, wie für Kultur und Kunst, liegt in seiner transformativen Kraft. Spiel verflüssigt alle festen Verhältnisse, es ist prinzipiell offen nach allen Richtungen. Auch literarische Texte können als Herausforderung für unsere eigenen Erfahrungen dienen. Heute: Kohlhaas nach Kleist, die Koproduktion der Theater Agora und Marabu, in der Regie von Claus Overkamp ist ein wunderbares Beispiel für die vielschichtige Kraft transformativen Spiels zwischen Phantasie und Realität. In einem fremden Text ist eine ganz ureigene Stimmung, ein Bild, eine Sehnsucht, eine Furcht oder ein Konflikt zu entdecken, den wir als den unseren erkennen können. Das Ich ist mit der Welt verbunden, verwoben, so wie die Fa-
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sern eines Teppichs, aber immer in Bewegung. Ohne Bewegung gibt es kein Spiel. Aber nur zu spielen, reicht nicht: Theater entsteht erst dann, wenn es aufgeführt wird. In der öffentlichen Aufführung ereignet sich eine neue Qualität, die über die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem Eigenen der Gruppe untereinander und ihrem selbst gewählten Thema hinausgeht. Theater ist die Kunst der Veröffentlichung, nicht in einem Blog, sondern vor einer lebendigen Gemeinschaft, die hier und jetzt an einem Ort zusammenkommt. Man sollte die Dimension der Öffentlichkeit nicht unterschätzen. Sie ist nicht gleichzusetzen mit der Performance, die Jugendliche von sich selbst ständig in den Social Networks bieten. Vor einem Theaterpublikum handelt es sich um Kommunikation. Man spielt immer für und mit dem Zuschauer, der eine Resonanz gibt. Natürlich gibt es auch auf Facebook Resonanz. Aber da agieren wir sozusagen mit heruntergezogenem Visier. Es liegt sehr viel daran, diesen Gesichtspunkt der Öffentlichkeit in Bezug auf das Jugendtheater hier auszuführen, weil wir ja durch die immense Ausbreitung der Netzkultur und auch der NetzUnkultur mit Veränderungen unseres Verhältnisses zur Öffentlichkeit, aber auch zu unserer Privatheit, konfrontiert sind. Das ist nicht nur eine Frage der NSA und allgegenwärtigen Überwachung, sondern auch die nach unserer eigenen Praxis der Veröffentlichung unserer Person, unserer Lebenstätigkeit und Lebensumstände. Die Frage ist, ob die Veröffentlichung vieler Informationen über uns selbst überhaupt so etwas wie Öffentlichkeit herstellt. Wir neigen dazu, Öffentlichkeit mit Politik, zumindest mit der Voraussetzung von politischem Engagement zu identifizieren. Das ist aber angesichts der Medialen Öffentlichkeiten so nicht mehr haltbar und das hat Konsequenzen für das Theater als Ort von Öffentlichkeit.
Ö FFENTLICHKEIT UND P OLITIK
ZWISCHEN
S ELBSTDARSTELLUNG
Der Philosoph Volker Gerhard unterscheidet in seinem Buch Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins (2012) zwischen der Form der Öffentlichkeit, die wir mit dem Politischen identifizieren können und einem Bedürfnis des Menschen sich zu veröffentlichen. Das eine bezeichnet er als „zoon politicon“ und das andere als „homo publicus“. Die Selbstdarstellung auf Facebook und Theaterbühne ist nicht als der „homo politicus“, sondern der „homo publicus“ zu begreifen: Der Mensch ist ein
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auf Gemeinschaft angelegtes Wesen, ein „zoon politicon“, aber auch ein Wesen, das sich zeigt, wie Volker Gerhard jüngst vor allem auch bezogen auf die Netzkultur ausgeführt hat. Er beschreibt den Menschen als ein Wesen, das prinzipiell zur Welt geöffnet ist. Bevor wir privat werden und die Fähigkeit zur Privatheit haben, die Fähigkeit etwas zu verstecken, sind wir offen, öffentlich entblößt. Unser Realitätsgefühl ist davon abhängig, dass es Erscheinungen und öffentlichen Raum gibt, „in dem etwas aus dem Dunkel des Verborgenen und Geborgenen heraustreten kann [...] – das Licht der Öffentlichkeit dringt in das Innerste des Privatlebens, es erzeugt ein Zwielicht.“ (Arendt, 2002, S. 64)
Gerade in Zeiten des allumfassenden digitalen Netzes kommt der Privatheit und vor allem der Fähigkeit zur Privatheit große Bedeutung zu, so groß, wie sicherlich niemals zuvor in der Geschichte. „Die Möglichkeit uns dem Gesehen- und Gehörtwerden zu entziehen“, schrieb Hannah Arendt schon 1958, nachdem sie als Jüdin in den USA Zuflucht suchen musste, „uns zu verbergen ist eine Grundbedingung menschlicher Freiheit.“ (Arendt, 2002, S. 169) Wir sollten darüber nachdenken wieweit diese Grundbedingung Kindern und Jugendlichen heute vorenthalten wird, die ständig unter Beobachtung von Eltern, Erziehern und Experten stehen. Es erzeugt bisweilen ein komisches Gefühl, wenn Jugendliche auf der Bühne über ihre Pickel und ihren ersten Kuss sprechen. Was unterscheidet diese Darbietungen von den Posts auf Facebook? Hier komme ich wieder auf Marcel Cremer zurück: Der Reichtum der eigenen Biografie muss Kunst werden. Das heißt nicht, dass das Ästhetische nur ein bloßes Durchführungsproblem, ein Mittel zum Zweck, zur Verfolgung unserer pädagogischen, sozialen und politischen Absichten ist. Das Ästhetische, die Formgebung, hat einen Eigenwert. Wenn Erfahrung, wenn Wahrnehmung, wenn Erkenntnis spielerisch und künstlerisch verwandelt wird, dann ist es nämlich beides: Privat und Öffentlich, Meins und Deins, Ich und Du, es wird kommunizierbar, andere können sich in ihm wiederfinden. Das gelingt nicht im kruden Eins zu Eins. Wir brauchen im Theater den Umweg über die Form, die Figur, die Verwandlung, um uns mitteilen zu können. Die Welt, die zwischen uns steht, spielen zu können. Damit ich nicht sage: Deine Erfahrung, okay! Meine Erfahrung, auch okay! Das ist zu wenig. Die Formgebung kann auch durch die Verwandlung von Wahrnehmung in Sprache geschehen. Es ist überraschend, was auf den Poetry Slams an Erfahrungen (sprach)künstlerisch performt wird, während in vielen theaterpädagogischen
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Produktionen der Jugendlichen eine Fülle ungeformter Alltagssprache zu hören ist. An dieser Stelle wäre über unterschiedliche Schauspielmethoden zu sprechen. Häufig gibt es heute den theaterpädagogischen Methodenmix, das ist auch gut. Aber wissen wir wirklich mit welchen Methoden wir welche Bereiche unserer Erfahrung, der Ich-Erfahrung und der Welterfahrung, ausloten können? Die große in der Theaterpädagogik und in Schauspieltrainings entwickelte Methodenvielfalt wird in der Arbeit mit Jugendlichen häufig nur zum Anwärmen genutzt, zur Animation, und Inspiration, zum Cool up and down. Warum sollen Jugendlichen nicht die verschiedenen Theatersprachen mit ihrem Körper, ihren Sinnen und Stimmen artikulieren lernen? Das anthropologische Bedürfnis nach Veröffentlichung – sich zeigen, sich mit anderen teilen, sich mitteilen, Selfies machen und social networking betreiben – all das erfüllt aber noch nicht die Funktion des „zoon politicon“. Der Begriff meint ja: Wir sind soziale, auf Gemeinschaft angelegte und ausgerichtete Wesen. Das ist der eigentliche Kern der Politik, die sich mit der Gestaltung und öffentlichen Form dieser Sozialität befasst. Das Politische ist das Gemeinsame. Und das Gemeinsame ist mehr als die Selbstdarstellung der vielen Einzelnen – auch die erleben wir manchmal, wenn Jugendliche Theater spielen, lauter Ichs, auch einige Dus, aber kein Wir. Theater ist Gemeinschaftskunst, es ist eine soziale Kunst, sofern sie Ensemblearbeit ist. Das Politische ist zu verstehen als ein Gewebe sozialer Beziehungen, die wir bewusst gestalten, wie die Philosophie Hannah Arendts ausführt. Es wäre zu fragen: welche Öffentlichkeit möchte eine Jugendtheaterproduktion herstellen? Wen wollen die Jugendlichen wie und warum erreichen? Das Politische ist das Gemeinsame, das Öffentliche, wobei man Gemeinsamkeit nicht mit Gleichförmigkeit gleichsetzen darf. Auch hier finden wir ein Paradox. „Das von Anderen Gesehen- und Gehörtwerden“, schreibt Volker Gerhard, „erhält seine Bedeutsamkeit von der Tatsache, dass ein jeder von einer anderen Position aus sieht und hört.“ (Gerhard, 2012, S.71) Bei Hannah Arendt finden wir eine wichtige Konkretisierung dieses Gedankens: „Nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in der Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so daß die um sie versammelten wissen, daß ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten [...] Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch un-
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ter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.“ (Arendt, 2002, S. 72f.)
J UGENDTHEATER
ALS
D IALOG
Was bedeuten diese Überlegungen für die Praxis des Theaters von und mit Jugendlichen? „Die Geschichten, die wir erzählen, sind unsere Nachricht an die Welt. Momentaufnahmen aus unserem Leben und unserer Phantasie“, verkünden neun Hellersdorfer Jugendliche. Etwas muss sich ändern sagen sie. Etwas wird sich ändern. Von Jugendlichen können wir lernen: ihre Unbedingtheit, die Schonungslosigkeit ihres Fragens, die Energie ihrer Wut und die Phantasie ihrer Visionen, die noch nicht durch die „Maske des Erwachsenen“, namens Erfahrung gemildert und zugedeckt werden. Theater für, mit und von Jugendlichen kann in vielfältigen Variationen auftreten: • • • • • • •
Theater als Sprachrohr für die Interessen und Anliegen der Jugendlichen Theater als Methode (der Recherche, Forschung, des Lernens) Theater als geschützter Raum (der Pädagogik, der Therapie) Theater als Experimentierraum Theater als sozialer Raum der Begegnung Theater als Ort der Selbstrepräsentanz Theater als Ort, an dem sich ein „Wir“ artikulieren und in Beziehung zu den Zuschauern treten kann.
Eines „Wir“, das eine gemeinsame Welt, mit allem Trennenden der verschiedenen Perspektiven darstellt, eine Welt, die über die Gegenwart hinausreicht. Hier wäre noch ein Gedanke von Hannah Arendt anzufügen, der sich auf die Tradition bezieht: „Die Welt“ – so schreibt sie in ihrem Werk Vita activa oder vom tätigen Leben, „haben wir nicht nur gemeinsam mit denen, die mit uns leben, sondern auch mit denen, die vor uns waren und die nach uns kommen werden. Aber nur in dem Maße, in dem sie in der Öffentlichkeit erscheint, kann eine solche Welt das Kommen und Gehen der Generationen in ihr überdauern.“ (Arendt, 2002, S. 69)
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Zum Schluss sollen die Eingangsfragen wieder aufgenommen werden. Was ist die Grundlage, was verbindet all unser Nachdenken über Jugendtheater, über Theater, das Jugendliche spielen und Theater, das für Jugendliche gespielt wird? Es ist unser Verhältnis zwischen Ich und Welt, zwischen Innen und Außen, Ich und Du und das Spiel als ein Modus damit künstlerisch umzugehen, die Kunst des Spiels des Spiels als „Dazwischen“, als Vermittlung und Verbindung des Verschiedenen. Jugend, was ist das? Wir werden es nie wissen, sie formiert sich immer wieder neu. Was aber immer und überall der Fall ist: Jugendliche haben mehr Zukunft als Vergangenheit. Sie haben mehr und anderes aufs Spiel zu setzen als Erwachsene und sie haben uns etwas zu sagen. Gibt es ein Alleinstellungsmerkmal für Jugendtheater? Hat Jugendtheater etwas, das anderes Theater nicht hat? Wenn ja, worin besteht es? Und: Sollte das so bleiben oder sich womöglich verändern? Was das Alleinstellungsmerkmal angeht: Ja, Jugendtheater ist explizit für eine bestimmte Gruppe. Muss das so bleiben? Ja, die Jugendlichen haben Anspruch auf ihre eigene Perspektive und: Wir Erwachsenen brauchen sie: als Korrektur, als Antrieb. Aber die Jugendlichen haben in ihren Weltverhältnissen viel mit uns gemeinsam. Die Kommunikation zwischen den Generationen ist unverzichtbar, aber sie funktioniert am besten auf der Basis von Differenzen. Am besten, wenn wir Theaterhäuser für alle schaffen: für Große, Kleine, Dunkle, Helle, mit oder ohne Einschränkungen, behindert, mobil oder nicht.
L ITERATUR Arendt, H. (2002/1958). Vita activa oder vom tätigen Leben, i.O. The Human Condition. München: Piper. Assitej. (2013). Piraten der Performance? Jugendliche entern die Bühne. In W. Schneider (Hrsg.), IXYPSILONZETT Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater. Verlag Theater der Zeit. Benjamin, W. (1969). Über Kinder, Jugend und Erziehung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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Cremer, M. (1997). Mein Ich und mein Du – Momentaufnahmen des >Autobiografischen Theaters