Theater im Medienzeitalter: Das postdramatische Theater von Elfriede Jelinek und Heiner Müller 3895285870, 9783895285875


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German Pages [175] Year 2019

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Kapitel 1. Bestandsaufnahme postfaschistischer Gesellschaften
1. Die DDR: Heiner Müller. „An der Negation des Bestehenden arbeiten“
1. 1. Die gescheiterte Revolution
1. 2. Die erhoffte Revolution
1. 3. Die Auferstehung der Revolution
2. Österreich: Elfriede Jelinek. „Es wird alles unter den Teppich gekehrt“
Kapitel 2. Postmoderne Medienlandschaft
Kapitel 3. Das postdramatische Theater
1. Das postdramatische Theater als Ort des Eingedenkens
2. Die postdramatische Figur
2.a. Die postdramatische Figur: ortlos und tiefenlos
2.b. Die postdramatische Figur als Sprachprodukt
3. Das postdramatische Theater und Performance
Siglenverzeichnis
Bibliografie
Danksagung
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Theater im Medienzeitalter: Das postdramatische Theater von Elfriede Jelinek und Heiner Müller
 3895285870, 9783895285875

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AV

Dagmar Jaeger

Theater im Medienzeitalter Das postdramatische Theater von Elfriede Jelinek und Heiner Müller

AISTHESIS VERLAG –––––––––––––––––––––––––––––––

Bielefeld 2019

Abbildung auf dem Umschlag: ‚Playhouse‘ von Janet Cardiff (Foto: Franz Wamhof).

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Als Print-Ausgabe: 2007, ISBN 978-3-89528-587-5

© Aisthesis Verlag Bielefeld 2019 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-8498-1475-5 www.aisthesis.de

Inhalt Einleitung ...................................................................................................

7

Kapitel 1 Bestandsaufnahme postfaschistischer Gesellschaften ........................

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1.

Die DDR: Heiner Müller. „An der Negation des Bestehenden arbeiten“ ........................................................

19

1. 1. Die gescheiterte Revolution ......................................................

23

1. 2. Die erhoffte Revolution .............................................................

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1. 3. Die Auferstehung der Revolution .............................................

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2.

Österreich: Elfriede Jelinek. „Es wird alles unter den Teppich gekehrt“ .................................................................

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Kapitel 2 Postmoderne Medienlandschaft .............................................................

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Kapitel 3 Das postdramatische Theater ................................................................. 105 1.

Das postdramatische Theater als Ort des Eingedenkens ..... 112

2.

Die postdramatische Figur ...................................................... 139

2.a.

Die postdramatische Figur: ortlos und tiefenlos ................. 139

2.b.

Die postdramatische Figur als Sprachprodukt .................... 152

3.

Das postdramatische Theater und Performanz .................. 157

Siglenverzeichnis ....................................................................................... 164 Bibliografie ................................................................................................. 165 Danksagung ................................................................................................ 174

Einleitung In seinem Buch Postdramatisches Theater über das Theater der letzten dreißig Jahre führt Hans-Thies Lehmann den Begriff „postdramatisch“ ein, mit dem er die Transformation des Theaters im Hinblick auf die Medienkultur besser zu fassen sucht. Was mit dem viel zitierten Begriff „postmodern“ umschrieben ist, weist, so Lehmann, nicht auf die Tatsache hin, dass das zeitgenössische Theater tatsächlich dem Dramatischen eine Absage erteilt hat. Das postdramatische Theater wirft die Frage nach dem Jenseits des Dramas, nicht jedoch unbedingt nach dem Jenseits der Moderne auf.1 Daher verdeutlicht der Begriff post-dramatisch die Sprengung des bisherigen Rahmens des Dramatischen. Lehmann ortet das dramatische Theater in der Mimesis, in der Nachahmung des Lebens und des menschlichen Verhaltens. Diese sollen in einem spannungsgeladenen Geschehen auf die Bühne gebracht werden und sich logisch von der ersten bis zur letzten Szene entfalten. Bei dem Prinzip der Mimesis spielt die Illusionsbildung eine wichtige Rolle. Auf der Bühne des dramatischen Theaters wird eine Welt gezeigt, die es darauf anlegt, dass der Zuschauer durch Phantasie und Einfühlung die Illusion in eine andere Welt mitvollzieht. Zugleich steht das dramatische Theater unter der Vorherrschaft des Textes. Es geht hierbei um die Frage, auf welche Weise der Text auf die Bühne gelangt. Illusion, Repräsentation und Nachahmung der Wirklichkeit sind somit Grundprinzipien des dramatischen Theaters. Kurz: Dramatisches Theater ist ein Abbild des Realen und schafft so einen affektiven und sozialen Zusammenhang zwischen Bühne und Publikum.2 Gegen diese Prinzipien des Dramatischen wendet sich das postdramatische Theater, obwohl Lehmann immer wieder betont, dass die Postdramatik das Weiterwirken und die Wiederaufnahme von älteren Ästhetiken miteinschließt. Ausschlaggebend für das postdramatische Theater ist die Absage an eine Handlung, die sich logisch entfaltet, und die Perfektion des Dramas auf der Basis eines Textes hinsichtlich Illusionsbildung und Wirklichkeitsrepräsentation. Wenn der Ablauf einer Geschichte mit ihrer internen Logik nicht mehr im Mittelpunkt steht, wenn die Komposi1

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Hans-Thies Lehmann. Postdramatisches Theater. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, 1999. 29. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, 20-22.

8 tion des Bühnengeschehens nicht mehr eine Abbildung der Welt darstellt, und wenn die Bühne nicht der Ort der Abschrift des Textes ist, dann steht das zeitgenössische Theater konkret vor neuen Fragen jenseits des Dramatischen. Dabei nimmt das postdramatische Theater im Theaterbetrieb selbst eine Randstellung ein: „Während die großen Theater unter dem Druck der gängigen Normen der Unterhaltungsindustrie dazu tendieren, kaum Abweichungen vom problemlosen Fabel-Konsum zu wagen, praktizieren konsequent neuere Theaterästhetiken die Absage an die eine Handlung und die Perfektion des Dramas […]“.3 Lehmann rückt in seiner Analyse eine autonome Theatralik in den Mittelpunkt, die er durch die traditionelle Vorherrschaft des Textes in den Hintergrund gedrängt sieht. Er möchte über die Dimension des Textes hinaus auch die theatralische Realität untersucht wissen. Die hier vorliegende Arbeit trägt der konkreten Theatererfahrung Rechnung, indem die wichtige Rolle des Rezipienten und die Aufführungspraxis beleuchtet werden. Im Zusammenhang mit einer begrifflichen Definition und Abgrenzung zum allgemeinen Terminus „postmodern“ ist von Bedeutung, dass der Begriff Postdramatik die Funktion des zeitgenössischen Theaters besser wiedergibt, und so auf eine veränderte Theateridee hinweist, die auf gesellschaftliche Veränderungen der Wahrnehmungsformen antwortet. Die konkrete ästhetische Problemstellung der Poetik des Postdramatischen ist Reflexion nicht nur einer fragmentierten, sondern auch einer durch das Bild ersetzten, zur Fiktion gewordenen Realität im Medienzeitalter. Somit problematisiert das postdramatische Theater das Verhältnis von Realität, Fiktion und Imagination. Indem das illusionsbildende Spiel wegfällt, stellt das „Postdrama“ durch Zitatmaterial, die Auflösung des dramatischen Ich, Bildercollagen und monologe Sprachflächen seine eigene Fiktionalität in den Mittelpunkt: Nur Drama jenseits des Dramatischen, in der Absage an Handlung und der Abkehr von Illusionsbildung, bringt die zur Fiktion und zum Abbild gewordene Wirklichkeit und die damit einhergehenden Veränderungen der Wahrnehmungsbedingungen zum Ausdruck. Hierbei stellt das Postdrama die Frage nach den Bedingungen der Sinn-und Bedeutungskonstruktion, die die Bilderüberflutung und Wirklichkeitssimulation der Medien gerade verdecken möchten. Die Reflexionen über die Mechanismen der Fiktionalisierungsvorgänge, die im Postdrama zur Sprache kommen, sind daher Kritik an der Art der Bedeutungsproduktion der Massenmedien. Das postdramatische Theater 3

Ebd., 30.

9 hinterfragt nicht nur die Wirklichkeitssimulation und die Illusion einer ganzen, heilen und geschlossenen Welt, die in den bewegten Bildern des Films vermittelt werden, sondern macht den Rezipienten darüber hinaus zum Bedeutungsproduzenten. Durch die Sichtbarmachung der Vorgänge der Fiktionalisierung muss der Rezipient eine eigene Konstruktion von Bedeutung und Sinn leisten, dagegen wird im Falle der Medien seine Subjektivität oft ausgeblendet. Evozieren die Massenmedien die sofortige Umsetzung in visuelle und akustische Bilder und in vorkonditionierte Abbilder, muss der Rezipient des Postdramas hingegen eine Codierung erst vornehmen. Die vorliegende Studie untersucht die Theaterstücke der bekanntesten Vertreter des deutschsprachigen Postdramas, der Österreicherin Elfriede Jelinek und des Deutschen Heiner Müller unter den Vorzeichen der Medienkultur. Hierbei stützt sich die Arbeit auf Lehmanns Untersuchung und erweitert zugleich durch die Analyse der Werke von Jelinek und Müller den Begriff des Postdramatischen. In der Erweiterung des Begriffs auf eine postdramatische Textstruktur stellt diese Untersuchung vor, wie politisches Theater in der Postmoderne aussehen kann. Die Studie möchte auf diese Weise einen weiteren Beitrag zu der Poetik der Postdramatik liefern. Das Postdramatische, so mein Argument, ist im Text selbst schon angelegt und schafft damit erst die Voraussetzung für eine veränderte Bedeutungsproduktion auf der Bühne. Dabei geht es nicht um eine erneute Vorherrschaft des Textes über andere Elemente, die eine Aufführung zu bieten hat; vielmehr geht es um Texte, in denen die Absage an ihre Vorherrschaft verankert ist. Die Mediengesellschaft als Vertreter des Postfaschismus wirft die Frage nach dem Umgang mit dem geschichtlichen Faschismus einerseits, und nach der verdeckten medialen Fortführung des Faschismus andererseits auf. Hierbei gilt es vor allem, auf bestimmte Strategien zu achten, und weniger die Mediengesellschaft schlechthin als „postfaschistisch“ zu bezeichnen. Wenn bestimmte Wahrnehmungsmuster den Faschismus über mediale Klischees transportieren, dann ist nach den Darstellungsformen und den Suggestionen zu fragen, die die Unterwerfung unter bestimmte Lebensentwürfe und -wünsche und den Vergeltungsdrang gegen alles Andere und Fremde evozieren. Um gesellschaftlich als Übermittler politisch relevanter Kritik zu fungieren, muss das Theater ästhetische Vorgehensweisen entwickeln, die den Tendenzen der Massenmedien entgegen wirken: Wahrnehmung und Denken, Imagination und Erfahrung dürfen nicht etwa verwischt, sondern müssen streng ausei-

10 nandergehalten werden. Diese Strategien sind im Postdrama zu finden. Somit zeigt diese Arbeit die wiederholte Thematisierung des Faschismus in den Werken Jelineks und Müllers im Kontext einer Dramenanalyse, die darlegt, dass Faschismuskritik über das Thematische hinaus in der Struktur des Textes zu finden ist. Dieser neue Beitrag zur Jelinek- und Müllerforschung stellt die Strategien des postdramatischen Theaters dar, die Fragen nach den Formen der Wahrnehmungsmuster auf der Ebene der Textstruktur zur Sprache bringen, und die so die Bedingungen der Wahrnehmung und die Konstruktion von Bedeutung offen darlegen. Im Vorliegenden werden die Texte von Elfriede Jelinek und Heiner Müller vor dem Hintergrund einer ostdeutschen und österreichischen nationalen Identität untersucht, die sich von der Vergangenheit des Nationalsozialismus und von der Wirkungskontinuität des Faschismus distanziert. Beide Dramatiker schreiben gegen eine solche Nationalidentität und weisen in ihren Theaterstücken auf die Verdrängung der Geschichte des Nationalsozialismus und die Kontinuitäten des Faschismus hin. Es geht dem Marxisten Müller dabei um die Beschreibung eines Bruchs mit der katastrophalen deutschen Geschichte. Durch die Wirkungskontinuitäten von Preußentum und Nationalsozialismus ist das Projekt eines Sozialistenstaates zum Scheitern verurteilt. Daher bleibt die öffentliche Konstruktion, ein „antifaschistischer“ Staat zu sein, in theoretischen und staatslegitimatorischen Überlegungen stecken und fungiert Müller zufolge als Mittel, die eigenen Verwicklungen während der Nazizeit abzutun. Die Suche nach einem echten Neuanfang für ein sozialistisches System ist Müllers utopische Suche nach der Revolution. Utopie und Revolution fehlen hingegen im Werk Jelineks völlig. Wenn Müller in seinen Dramen auf die preußischen und faschistischen Kontinuitäten in der DDR hinweist, und den gesellschaftlichen Neuanfang sucht, dann konzentriert sich Jelineks Anliegen auf das Aufweisen eines permanent verschwiegenen Faschismus im Österreich der Gegenwart. Die öffentliche Beteuerung, dass Österreich 1938 durch den Anschluss an das Dritte Reich eines der ersten Opfer des Naziregimes gewesen ist, hilft, die damaligen Verstrickungen zu vertuschen und unter dem Deckmantel der historischen Unschuld weiterhin faschistische Politik zu betreiben. Mit dem erweiterten Begriff des Postdramatischen wird das politische Anliegen der Autoren, zum einen das Aufzeigen faschistischer Kontinuitäten im Sozialismus und die Suche nach der Revolution, zum anderen die Darstellung des Faschismus im Kontext der Konstruktion der historischen Unschuld im Gegenwartsösterreich, auf die Ebene der Text-

11 struktur gebracht. Wichtiges Element hierfür ist die Zitatmontage und die Auflösung des dramatischen Ich. In ihren Texten thematisieren die Dramatiker explizit die Fortführung des Faschismus in ihren Ländern, machen jedoch darüber hinaus durch das Textherstellungsverfahren der Zitatmontage und der Verschiebung von Ichreferenz und Diskursinstanz diese Kontinuitäten auch strukturell sichtbar. Das Textherstellungsverfahren durchzieht in mehr oder weniger radikaler Form die hier zur Diskussion stehenden Theaterstücke von Jelinek und Müller. Die Zitatmontage zeigt den Text und die szenische Darstellung als Konstruktion. Es ist nicht nur der Konnex zwischen Text und Darbietung, der aufbricht, sondern auch jegliche Geschlossenheit des Gesprochenen wird durch die Zitatmontage gesprengt. Somit eröffnet der Text erst durch seine eigene Fragmenthaftigkeit die Möglichkeiten anderer theatralischer Elemente. Zugleich verliert der Dramentext auf diese Weise seine Funktion als führendes Element. Die Abkehr von der Geschlossenheit des postdramatischen Textes liegt demnach in der Abwesenheit der zitierten Prätexte. Hierbei ist schon verwendetes Sprachmaterial ein Element der Postdramatik, weil es jegliche Illusion einer spontanen Rede oder einer authentischen Darstellung verwehrt. Der Entfaltung einer Handlung, der Illusionsbildung und der Repräsentation der Wirklichkeit werden in einem Text eine Absage erteilt, der sich durch zitierte Sprache teilweise oder völlig zusammensetzt. Jegliche Aktion oder Handlung, die sich unter dem Vorzeichen einer montierten Sprache entfaltet, lehnt von Vorneherein die Mimesis von Handlung und Wirklichkeit ab. Die Rede ist von einem künstlerischen Verfahren, das als Strategie der Bedeutungserweiterung und der Sinnkomplexion verstanden wird. Die veränderte Qualität des postdramatischen Textes liegt in der referentiellen Spannung, die der neue Text zu dem bereits vorliegenden Prätext postuliert. Es geht also um eine semantische Explosion, die in der Berührung der Texte miteinander geschieht. Die Rolle des Rezipienten, der die entstandenen Brüche kompensieren muss und vieldeutige Sinnspuren erst beim wiederholten Mal entdeckt und aufdecken kann, ist hierbei relevant. Der Rezipient muss dann die Vielzahl der überlagerten Zitate erst für sich produktiv machen. Die präformierten Sprachteile entziehen sich der herkömmlichen Bedeutung und werden in neuer Konstellation erneut beleuchtet. Die Formen der Wahrnehmung und die Bedeutungsproduktion werden offen zur Schau und zur Debatte gestellt. Zitatmontage ist hierbei Zeitmontage: Die zumeist stillgeschwiegene Geschichte

12 wird u.a. in der Zitatmontage aufgerufen und im gegenwärtigen Zusammenhang einer Revision und Kritik unterworfen. Wenn Müller in seinem Drama Hamletmaschine (1977) beispielsweise die Shakespearefigur Hamlet zitiert, dann verlagert er den Kampf der Intellektuellenfigur um gesellschaftliche Veränderung in seinen DDR-Kontext. Im „Heraufholen“ der Geschichte in Form der bekannten literarischen Figur Hamlet überträgt der Autor die Rolle des klassichen Intellektuellen ins 20. Jahrhundert und macht sie für den spezifischen Zusammenhang der DDR verfügbar: Mit der Kontemplation über diese Rolle entlarvt der Schriftsteller die Erziehungsdiktatur der DDR, die nicht etwa antifaschistische Züge trägt, sondern an totalitäre Gefüge des Preußentums und des Naziregimes anknüpft. Jelinek lagert philosophische Prätexte in ihre Dramen ein; so zitiert sie zum Beispiel Martin Heidegger in Totenauberg (1991). In der Montage kommt ein faschistischer Intellektueller zu Wort, der seine faschistische Vergangenheit leugnet. Sein Diktum „Denken ist Handeln“ wird in den Zusammenhang der Marktwirtschaft gebracht und bindet in dieser Bedeutungserweiterung kapitalistische und faschistische Verhaltensweisen aneinander. In die Diskurse von Gesundheit, Heimat-und Naturverbundenheit, die dieses Stück zum Thema hat, flicht Jelinek die Nazisprache über wertes und unwertes Leben. In den Kontext der Gegenwart gestellt, entlarvt die Autorin das Fortbestehen des Faschismus in den Diskursen der natur-und sportverbundenen Alpen-und Skination. Das postdramatische „Subjekt“ ist tot, lediglich schon verwendetes Sprachmaterial wird artikuliert. Es ist aus allem Leben, aller Authentizität und Autonomie entlassen und erweist sich als sprachliches Produkt, das sich durch zitierte Sprache konstituiert. Dem zugrunde liegt ein im Text angelegtes Verfahren der Verschiebung von Ichreferenz und Diskursinstanz. Diese Verschiebung kommt beispielsweise in Hamletmaschine folgendermaßen zum Ausdruck: Die Figur, die als Ophelia eingeführt ist, sagt: „Hier spricht Elektra“. Im Text ist das so strukturiert: OPHELIA: „Hier spricht Elektra“ (HM 23). In anderen Stücken klafft die Ichreferenz und die Diskursinstanz völlig auseinander. So wird die Figur in Jelineks Wolken.Heim (1988) nie als Figur eingeführt, vielmehr beginnt das Sprechen unmittelbar. Der postdramatische Text verwehrt durch die Verschiebung von Ichreferenz und Diskursinstanz dem Autor die Position des alleinigen Sinnstifters, wogegen der dramatische Text gerade in der Überlagerung der Ichreferenz und der Diskursinstanz den Autor als eigentlichen Sinnstifter der Aussagen im dramatischen Spiel verhüllen möchte. Die Bedeutungskonstruktion, die die Figur im dramatischen

13 Theater durch die völlige Überlagerung von Ichreferenz und Diskursinstanz von vorneherein leistet, wird im postdramatischen Text problematisiert. Auf diese Weise wird nicht nur die Produktion von Sinn, sondern auch die Subjektkonstitution offen dargelegt. Bei dem Verfahren der Verschiebung von Ichreferenz und Diskursinstanz ist zu konstatieren, dass die Abkehr des dramatischen Ich mit der Abkehr von dramatischer Handlung einhergeht. So lässt sich in der Szene „Landschaft mit Argonauten“ des Postdramas Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1982), in Bildbeschreibung (1984), und in Müllers Dramenkollektion Wolokolamsker Chaussee I-V (1984-86) eine völlige Verschiebung zwischen Ichreferenz und Diskursinstanz feststellen. Diesen Dramen ist eine sich entfaltende Handlung fern. Interessant ist hierbei, dass Müllers Suche nach Einlösung eines gesellschaftlichen Umschwungs in diesen Stücken in weite Ferne rückt. Jelineks Wolken.Heim, Erlkönigin (1999), Das Lebewohl (2000) und Bambiland (2003) vollziehen ebenfalls diese Verschiebung: Referenzlose Zustände werden von einem postdramatischen Ich vorgetragen, das sich durch zitierte Sprache konstituiert. Jelinek selbst hat hierzu den Begriff der „Sprachflächen“ geprägt. Wenn jedoch eine Überlagerung von Ichreferenz und Diskursinstanz im Text vorhanden ist, dann treten die Körper der Figuren als Handlungsträger in Erscheinung. Die im Text angelegte Verschiebung von Ichreferenz und Diskursinstanz steht demnach in direktem Zusammenhang mit der Abkehr einer dramatischen Handlung. So erhält in den Stücken Jelineks und Müllers, in denen diese Verschiebung nicht vollständig vollzogen ist, die Handlung eine gewisse Bedeutung. Hierbei vollzieht sich Handlung am und durch den Körper der Figur. In Jelineks Burgtheater (1984) und Präsident Abendwind (1988) treten Körper in Aktion, mit denen zugleich die Entfaltung einer Handlung zu verzeichnen ist, so dass diese beiden Stücke in die Kategorie des Dramatischen einzuorden sind. Müllers Die Schlacht (1951/74), Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei (1977) und Germania 3 Gespenster am toten Mann (1996) nehmen diesbezüglich eine Zwischenposition ein. Die Handlung ist fragmentiert und die Szenen entfalten keinen aufeinander bezogenen Plot. Vielmehr stehen die Szenen unverbunden nebeneinander, obgleich hier die Verschiebung zwischen Ichreferenz und Diskursinstanz nicht stattgefunden hat. Mit Der Auftrag (1979) und Anatomie Titus Fall of Rome (1984) stellt Müller Stücke vor, die die Körper als Handlungsträger mit der Suche nach der Revolution verknüpfen. Dabei zeichnen sich die Träger der Re-

14 volution sogar durch eine spezifische Körperlichkeit aus: So artikuliert die Figur Sasportas in Der Auftrag: „Ich höre mit den Poren, meine Haut ist schwarz“ (AF 65). Über den Revolutionär Aaron in Anatomie Titus Fall of Rome wird geschrieben: „[D]IE NACHT DES NEGERS SEIN GESCHLECHT TRÄUMT AFRIKA SEIN SAMEN EINE BLITZSPUR“ (ATR 140). Das utopische Moment ist demnach an einen Handlungsträger geknüpft. Der Schrifsteller beschreibt auf diese Weise ein Subjekt, das fähig ist, in geschichtliche Abläufe aktiv einzugreifen. Obwohl sich eine Handlung entfaltet, schieben die Elemente wie der Erinnerungsmodus, der die Zentralperspektive durch eine Retrospektive ersetzt, die häufig unterbrochenen Handlungen, beispielsweise die Fahrstuhlszene in Der Auftrag, und die verwendete Montage von Zitaten diese beiden Stücke dennoch ins Jenseits des Dramatischen. Das erste Kapitel dieser Studie unternimmt eine Bestandsaufnahme der postfaschistischen Gesellschaften DDR und Österreich, bei der Verbindungen zwischen einzelnen Werken der Autoren hergestellt werden sollen, um so die fortlaufende Faschismuskritik zu verdeutlichen, die die gesamten hier vorgestellten Dramen durchzieht. Die Faschismuskritik ist eine klare Markierung eines Theaters, das quer zum öffentlichen Diskurs über Identität und Vergangenheitsdarstellung verläuft. Nicht verwunderlich ist es daher, dass fast keine Theaterstücke Müllers in der DDR aufgeführt werden durften; Jelineks Stück Burgtheater löste einen regelrechten Skandal aus. Im Jahre 2000 untersagte Jelinek, aus Protest gegen die Koalition der rechtsradikalen Freiheitlichen Partei mit der Regierungspartei, das öffentliche Aufführen ihrer Stücke an österreichischen Theatern, ein Verbot, das sie später wieder aufhob. In 1.1. verdeutlicht die Dramenanalyse den Wirkungszusammenhang zwischen Preußentum und Nationalsozialismus in der DDR. Die Zerrissenheit innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts markiert für Müller eine Wende für die gesamte sozialistische Weiterentwicklung. Die Schwäche und Gespaltenheit der sozialistischen Arbeiterbewegung nutzen die Faschisten für ihren eigenen politischen Aufschwung. Dies macht die für Müller tragische Tatsache ersichtlich, dass man aus einem Kommunisten einen Nazi machen kann. Über die antagonistische Spannung zwischen Überwindung preußischer und nationalsozialistischer Strukturen und Freisetzung revolutionärer Energien für einen sozialistischen Staat gelangt der Dramatiker zur Dritten Welt, aus der er echte politische und gesellschaftliche Änderung erhofft.

15 Die Analyse einzelner Dramen Jelineks führt in 1.2. die Wirkungskontinuität des Faschismus in Österreich nach 1945 vor Augen. Jelinek zufolge haben sich die Politiker des Naziregimes unbehelligt in das Nachkriegsösterreich herübergerettet und betreiben heute immer noch die gleiche braune Politik. Der offiziellen Konstruktion, Österreich sei durch den Anschluss an das Dritte Reich 1938 erstes Opfer der Hitlerdiktatur gewesen, wird in den Dramen jeglicher Boden entzogen. Jelinek entlarvt die scheinbar unschuldigen Österreicher als Opportunisten während des Naziregimes, die zu ideologischen Mitvollstreckern werden. Darüber hinaus weist die Autorin auf das scheinbar unpolitische Künstlertum hin, das sich in den Dienst nationalsozialistischer Ideologie stellt. Somit prangert sie die Mittäterschaft von bekannten Persönlichkeiten an, die sich dem Faschismus verschrieben haben und ihre Position dazu missbrauchten. Die Dramatikerin erweitert ihre Faschismuskritik um die Diskurse von Tourismus, Sport und Gesundheit. Finden die Österreicher ihren Nationalstolz gerade in dem Image einer Alpen-und Skination, so zeigt Jelinek in ihren Stücken, dass sich der Faschismus in diese Diskurse eingeschrieben hat. Die Schriftstellerin entwirft einen Grundzug eines „faschistoiden“ Charakters, der sich in einer Ichbesessenheit äußert. Das Kapitel stellt im Verlauf dar, wie dieser Identitätsentwurf durch eine aggressive Sprache der Ausgrenzung alles um sich ordnet. Jelinek zufolge ist Auschwitz kein tragisches Ereignis der Vergangenheit, sondern wird in der Ermordung von Ausländern im Österreich der Gegenwart fortgesetzt. Wie die Künstler auf der Bühne des Dritten Reiches, so sind es heute vor allem die Medien, die zu ideologischen Vollstreckern werden, da sie Mord- und Sportmeldungen sowie Kriegsberichterstattung und Unterhaltung nahtlos aneinander reihen. Die Faschismuskritik der beiden Autoren wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit dahingehend untersucht, wie sie sich in die Struktur der Texte selbst eingeschrieben hat. Dabei werden die Dramen in den zeitgenössischen Kontext der Medienkultur gestellt, denn nur ein verändertes Theater und eine veränderte Theatralität kann auf die Veränderung der Wahrnehmungsmuster durch die Massenmedien Antwort geben, in denen Faschismus transportiert wird. Das zweite Kapitel „Postmoderne Medienlandschaft“ geht auf die Veränderungen in den Wahrnehmungsformen ein, die durch das Aufkommen der reproduzierenden Medien Film und Fotografie am Anfang des 20. Jahrhunderts eingeläutet wurden und sich rasant zu den heutigen Bildmedien entwickelten. Es wird dazu Walter Benjamins klassischer Aufsatz zur Veränderung der Wahrnneh-

16 mungsmuster herangezogen.4 Die Abtrennung der Botschaft im Film von den vom Zuschauer gemachten Erfahrungen in der Wirklichkeit ist für Benjamin kardinal, um durch das Medium Film Suggestionen zu vermitteln, die Macht und Politik nutzen können. Er analysiert deshalb die faschistische Medieninszenierung der Nationalsozialisten als markantestes Beispiel für die Instrumentalisierung der Medien zugunsten der Politik. Der Totalitarismus in der filmischen Selbstinszenierung der Nazis bestehe vor allem darin, dass sie gekonnt die Wahrnehmung und das Denken auf eine Ebene bringen und Imagination und Erfahrung verwischen. Mit dem Begriff der „Hyperrealität“ konstatiert Jean Baudrillard die verschwindende Distanz zwischen Lebenswelt und Medienwelt.5 Baudrillard zufolge reproduzieren die Massenmedien nicht die Wirklichkeit in Form einer Gegenwelt, sondern produzieren Wirklichkeit und erlangen so eine neue Art von Authentizität in Form von Autoreferenzialität. Schlussfolgernd stellt Baudrillard fest, dass Fragen nach der Kritikfähigkeit und Wahrhaftigkeit nicht mehr zur Debatte stehen, wenn die mediale Wirklichkeit nicht mehr abhänigig ist von einem äußeren Referenzobjekt in der echten Wirklichkeit, denn weder kann die Botschaft nach moralischen Kriterien beurteilt noch in ihrem Wahrheitsgehalt überprüft werden. Mit den Studien von Sigrid Lange und Georg Seeßlen stellt Kapitel 2 zudem die Frage nach den Strategien des Populärfaschismus in der heutigen Mediengesellschaft in den Vordergrund. Mit den Strategien der Zitatmontage und der Auflösung der dramatischen Figur problematisiert das postdramatische Theater die Grenzaufhebung zwischen Wahrnehmung, Bedeutungs- und Sinnkonstruktion und Imagination. Indem das postdramatische Theater seine Artifizialität zur Schau stellt, reflektiert es über die Mechanismen der Fiktionalisierungsvorgänge und fungiert auf diese Weise als Kritik an der Art der Bedeutungsproduktion der Medienkultur. Kapitel 3.1. rückt dazu das wesentliche Textherstellungsverfahren der Zitatmontage in den Mittelpunkt. Das im Kontext der Gegenwart aufgerufene Zitat der Vergangenheit holt die verdrängte Geschichte aus der Vergessenheit. Auf diese Weise treffen sich die beiden Dramatiker mit den geschichtsphilosophischen Überlegungen Benjamins. Das postdramatische Theater wird zu einer Stätte des „Eingedenkens“, in der ein bestimmtes Ereignis aus der 4

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Walter Benjamin. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977. Jean Baudrillard. Simulations. New York: Semiotext(e), 1983.

17 Vergangenheit zur aktuellen Auslegung in der Gegenwart gemacht wird. Das „Heraufholen“ der Geschichte wird zum einen auf der Makrostruktur der Texte vollzogen, bei der Figuren aus Prätexten oder geschichtlichen Ereignissen im Kontext der Gegenwart zitiert werden, und zum anderen auf der Mikrostruktur der Texte durch die Montage von Zitaten. Hierbei ist das Eingedenken die gegenwärtige Erfahrung verdrängter Vergangenheit. Die Kollision zweier Zeitebenen in Form des zitierten Rückgriffs auf ein vergangenes Ereignis kann den Rezipienten veranlassen, eine neue Auslegung der Vergangenheit vorzunehmen, die jenseits öffentlich vorbestimmter und vorkonditionierter Klassifikationen steht. Durch die Vergegenwärtigung des Nebeneinanders von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird dieser momentane Augenblick zu einem Raum, in dem die Erfahrung der eigenen Historizität die Wirklichkeit nicht länger als Abbild erscheinen lässt. Das postdramatische Theater als politisches Theater entwickelt daher eine Befähigung mit dem Umgang des standardisierten Abbilds. Kapitel 3.2.a. und 3.2.b. stellen die Auflösung des dramatischen Ich in den Mittelpunkt. Als sprachliches Produkt weist das postdramatische Ich keinerlei Grenze zwischen Innenleben und Außenwelt auf. Die Grenze zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten ist nicht mehr eindeutig auszumachen. Hierbei verliert das postdramatische Ich einen Standpunkt, von dem aus es die Welt erfassen und beschreiben kann. Die Suche nach einem Standpunkt problematisiert die gesellschaftliche Grenzauflösung von Realität und Fiktion. Einblicke in die Subjektkonstitution werden mit dem Verfahren der Verschiebung der Ichreferenz und Diskursinstanz ermöglicht, bei der die postdramatische Figur als ideologisch aufgeladenes Sprachprodukt entlarvt wird. Verdeutlicht an der Theaterarbeit von Robert Wilson und Thirza Bruncken zeigt die Untersuchung der Aufführungspraxis in Kapitel 3.3, wie ein solches textuelles Verfahren auf die Bühne gebracht wird, bei dem die eigenständige Regie einen Gegenpol zur Spielvorlage darstellt.

Kapitel 1 Bestandsaufnahme postfaschistischer Gesellschaften Auch die Millionenverluste des vergangenen Krieges, auch die Millionen getöteter Juden können nicht daran hindern, daß man es satt hat, sich an diese Vergangenheit erinnern zu lassen. Alexander und Margarete Mitscherlich Die Unfähigkeit zu trauern

In seinem Buch The Unmasterable Past. History, Holocaust, and German National Identity stellt Charles Maier fest, dass aus der Frage nach der nationalen Identität („Wer sind wir?“) zwangsläufig eine andere hervorgeht und mit dieser verbunden ist, nämlich die Frage nach der Verdrängung der Vergangenheit („Was haben wir geleugnet?“).1 In diesem Sinne sind die zur Diskussion stehenden Theaterstücke von Elfriede Jelinek und Heiner Müller sowohl Bestandsaufnahme als auch Beurteilung einer deutschen und österreichischen nationalen Identität, die sich als unschuldig hinsichtlich ihrer Nazivergangenheit begreift. Es ist sowohl die Verdrängung der Geschichte des Terrors des deutschen Faschismus als auch das Sich-Fremdstellen gegenüber der Wirkungskontinuität der nationalsozialistischen Ideologie gegen die sich die schriftstellerische Arbeit der beiden Autoren wendet. Die folgenden Ausführungen stellen die literarische Arbeit von Jelinek und Müller in einen größeren geschichtlichen sowie politischen Zusammenhang. Die schriftstellerische Produktion der beiden politisch linksorientierten Autoren wird als Kritik gegen die Konstruktion eines Antifaschismus-Diskurses in der DDR und des Mythos der historischen Unschuld in Österreich gesehen. Die Konstruktion einer antifaschistischen Identität einerseits und einer Opferidentität andererseits ist der Versuch beider Länder, sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu lösen und zu distanzieren. Jelinek und Müller kritisieren diesen Umgang mit der Nazivergangenheit, denn in ihren Texten deuten sie gerade auf Kontinuitäten dieser Vergangenheit in die Gegenwart hin. Ihre Œuvres stellen so die öffentliche Konstruktion einer vom Nationalsozialismus abgetrennten Identität in Frage.

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Charles Maier. The Unmasterable Past. History, Holocaust, and German National Identity. Cambridge: Harvard University Press, 1997. 149.

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1. Die DDR: Heiner Müller. „An der Negation des Bestehenden arbeiten“ Der Antifaschismus der sowjetisch besetzten Zone und späteren DDR artikuliert sich in der Abgrenzung zu einem von der DDR als faschistisch deklarierten Westdeutschland und im Mythos der kommunistischen Widerstandskämpfer der DDR-Literatur.2 Dieser Antifaschismus war die Legitimation des DDR-Systems bis 1989, eine Konstruktion, die nicht zuletzt in dem „antifaschistischen Schutzwall“, der Berliner Mauer, zum Ausdruck kam. In den Worten Bernhard Giesens: Anti-Fascism was the official state ideology of the GDR – and one was very proud of having, through a radical new beginning, demarcated the boundaries against the Holocaust past so obviously that the questions of guilt and vengeance could be shifted to the other German state, beyond the „anti-Fascist protective wall“.3

Jegliche Diskussion um mögliche (und offensichtliche) Ähnlichkeiten zwischen dem Dritten Reich und der DDR im politischen Denken und Verhalten und in der Repräsentation des Staates werden unterdrückt.4 Die Werke des „sprachmächtigste[n] und politisch […] anspruchsvollste[n] Dramatiker[s] im deutschsprachigen Raum“5, Heiner Müller, sind von der deutschen Geschichte und vor allem von der DDR-Geschichte nicht zu trennen: „Ich rede immer nur von dem Staat, an dem ich primär interessiert bin: die DDR. Und da befinden wir uns in einer Zeit der Stagnation, wo die Geschichte auf der Stelle tritt“.6 Müllers Umgang mit der Vergangenheit ist als pessimistisch, apokalyptisch, zynisch und depressiv beschrieben worden. 1986 konstatiert Genia Schulz, dass 2

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Jennifer E. Michaels. „Confronting the Nazi Past“. Beyond 1989. Re-reading German Literature since 1945. Hg.v. Keith Bullivant. Providence: Berghahn, 1997. 5. Vgl. auch: James Ward. „Remember when it was the ‚Antifascist Defense Wall‘? The Use of History in the Battle for Public Memory and Public Space“. The Berlin Wall. Representation and Perspectives. Hg.v. Ernst Schürer, Manfred Keune und Philip Jenkins. New York: Peter Lang, 1996. 18. Bernhard Giesen. Intellectuals and the Nation. Collective Idenity in a German Axial Age. Cambridge: Cambridge U Press, 1993. 154. Jennifer E. Michaels, „Confronting the Nazi Past“. 7. Genia Schulz. Heiner Müller. Stuttgart, Metzler, 1980. 15. Heiner Müller. Gesammelte Irrtümer. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, 1986. 54.

20 Müllers Werk zu einer „Dekonstruktion des Geschichtsdenkens wie des Geschichtsdramas“7 tendiere. Geschichtliches Denken ist wesentlicher Bestandteil des Müller’schen Œuvre. Der Dramatiker besteht auf eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, insbesondere mit dem deutschen Faschismus und betont die Aktualität dieser Geschichte auch in einem sozialistischen Staat: „Das Thema Faschismus“, so Müller schon 1975, ist aktuell und wird es, fürchte ich, in unsrer Lebzeit bleiben. […] Heute ist der gewöhnliche Faschismus interessant: wir leben auch mit Leuten, für die er das Normale war, wenn nicht die Norm, Unschuld ein Glücksfall.8

Über Müllers Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte schreibt Ingrid Haag: Vergangene Barbarei in einen Schnittpunkt mit gegenwärtiger und zukünftiger bringen – dies ist das Vorhaben H. Müllers. In dieser Formel verdichtet sich noch ein anderer Aspekt. Nicht nur gegenwärtige und vergangene Ereignisse werden zusammengezogen, in ihnen „schneidet sich“ gleichzeitig die Geschichtserfahrung des Subjekts, denn Geschichte schreiben kann Müller nur indem er sich mitschreibt. Im Zentrum, sozusagen im Brennpunkt seiner subjektiven Geschichtserfahrung steht die Barbarei des Hitlerfaschismus und die brennende Frage nach deren Überwindung.9

Wenn Müller zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit die Anfänge der DDR nachvollzieht, in denen der Aufbau des sozialistischen Landes hauptsächlicher Gegenstand seiner Überlegungen ist, wendet er sich in seiner Beschäftigung mit der Antike, dem deutschen Faschismus und dem Preußentum von einer spezifischen Beschreibung der DDR-Geschichte ab. Vielmehr setzt Müller seit den siebziger Jahren voraus, dass die DDR nicht allein aus ihrer eigenen Geschichte, sondern als Produkt der deutschen Vorgeschichte, Preußentum und Faschismus zu begreifen ist. „Man kann ein DDR-Bild nicht geben, ohne die DDR im Kontext 7

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Genia Schulz. „Ein Bier und vor dir steht ein Kommunist, Flint. Zur Dialektik des Anfangs bei Heiner Müller“. Dialektik des Anfangs. Spiel des Lachens. Hg.v. Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn: Bouvier, 1986. 28. Heiner Müller. Theater-Arbeit. Berlin: Rotbuch, 1975. 124-125. Ingrid Haag. „Poetische Verdichtung im Drama. Am Beispiel Heiner Müllers“. Cahiers d’etudes germaniques. 25 (1993). 121.

21 der deutschen Geschichte zu sehen, die zum größten Teil auch eine deutsche Misere ist“.10 So gelten Müllers Stücke aus den fünfziger Jahren, wie Der Lohndrücker (1956) und Die Korrektur (1958), noch dem sozialistischen Aufbau der DDR. Der Weg der DDR von einer faschistischen Vergangenheit zu einem sozialistischen Staat wird ohne Alternative gesehen und vorbehaltlos angenommen. Helen Fehervary drückt Müllers Schwierigkeit mit dem Neubeginn der DDR hinsichtlich der Ähnlichkeiten zwischen Faschismus und Sozialismus in ihrem Kommentar zum Stück Der Lohndrücker so aus: „Dem klischeeartigen Gegensatz zwischen Nazideutschland und sozialistischem Umbruch, der schließlich in das Paradies der DDR überleitet, wird bewusst aus dem Weg gegangen.“.11 Mit Der Lohndrücker wird Müller in der DDR bekannt. Sozialismus wird in diesem Stück als eine Aufgabe der Praxis angesehen, die von allen täglich neu gestaltet werden muss und bei der das Theater als Impulsgeber fungiert. In diesem Stück ist der Arbeiter und Aktivist Balke Hauptfigur, der sich durch seinen Fleiß in der Nachkriegszeit im Betrieb auszeichnet. Die anderen fürchten, dass Balke durch seinen Eifer die Arbeitsnorm erhöht und dadurch den Lohn drückt. Die Situation spitzt sich zu, Balke wird als Lohndrücker beschimpft. Der neue Parteisekretär erkennt in Balke den Vorarbeiter, der ihn unter den Nazis denunziert und ins KZ gebracht hat. Sein Parteiauftrag lautet jedoch, den Aktivisten Balke im Interesse des Sozialismus zu schützen. Müller zeigt in seinem Drama die Widersprüche, die sich nicht einfach in einen glatten realexistierenden Sozialismus umsetzen lassen. Am Ende von Der Lohndrücker wird die Idee des Sozialismus gerettet: „Ich dachte, du willst den Sozialismus alleine machen. Wann fangen wir an?“ – „Am besten gleich. Wir haben nicht viel Zeit“ (LH 34). Der Schriftsteller nimmt mit seinem Drama eine Position gegen die Erziehungsdiktatur des Staates ein, die ihren eigenen Sozialismus der Bevölkerung aufdrücken möchte. Die Gegenposition, die der Theatermann hier bezieht, kommt schon in der Einleitung des Dramas zum Ausdruck: „Das Stück versucht nicht, den Kampf zwischen Altem und Neuem, den ein Stückeschreiber nicht entscheiden kann, als mit dem Sieg des Neuen vor dem letzten Vorhang abgeschlossen darzustellen; es versucht, ihn in 10 11

Heiner Müller, Gesammelte Irrtümer, 32. Helen Fehervary. „Heiner Müllers Brigadenstück“. Zum Drama in der DDR: Heiner Müller und Peter Hacks. Hg.v. Judith R. Scheid. Stuttgart: Klett, 1981. 21.

22 das neue Publikum zu tragen, das ihn entscheidet“ (LH 4). Im Gegensatz zu seinen folgenden Stücken, die so gut wie alle erst einmal in der DDR verboten wurden, passiert Der Lohndrücker die Zensur und erlebt mit der Uraufführung vier weitere Vorführungen, bevor auch dieses Stück abgesetzt werden muss. Müllers Kritik an einem starren und rigiden Sozialismus, der die unbewältigte Vergangenheit des Nationalsozialismus und dessen Fortbestehen in den politischen Strukturen durch einen „Antifaschismus“ legitimierte, wird seit den sechziger Jahren immer lauter. Hierin liegt die grundsätzliche Abweichung Müllers von Bertolt Brecht. Brecht schwieg zu einem rigide geführten Sozialismus. Der Anspruch einer marxistischen „historischen Notwendigkeit“, wie sie die brechtsche Parabel beschreibt, wird von Müller abgelehnt.12 In den sechziger Jahren wendet sich Müller der Antike zu, um den Zeitpunkt der „blutigen Startlöcher“ der Menschheit zurückzuverfolgen, wie zum Beispiel in den Stücken Philoktet (1964) und Ödipus Tyrann (1966). Mit der Darstellung der grausamen Menschheitsgeschichte begreift der Autor Geschichte als gewaltige historische Dimension, in welcher die spezifische DDR-Geschichte und deren Verlauf integriert werden muss.13 Müller wird 1972 von Ruth Berghaus, damalige Intendantin des Berliner Ensembles, mit dem Auftrag versehen, Fjodor Gladows Roman Zement für die Bühne umzuschreiben. Er führt sein Anliegen einer Zurückverfolgung der blutigen Menschheitsgeschichte mit dem Sozialismus zusammen, indem er in Zement untersucht, wo mit der Idee des Sozialismus in der Geschichte der Menschheit gebrochen wurde. Mit diesem Stück etabliert sich Müller im Theater und wird im Laufe der siebziger Jahre national wie international zum wichtigsten deutschsprachigen Theaterautor nach Brecht. Mit Germania Tod in Berlin (1956/71) und Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei verarbeitet Müller die deutsche Geschichte. In Germania Tod in Berlin werden Ereignisse der deutschen Geschichte mit der Geschichte der DDR in direkte Verbindung gebracht, in Leben Gundlings stehen das Scheitern

12

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Theo Girshausen. „Reject it or possess it: On Heiner Müller and Bertolt Brecht“. Modern Drama 23.4 (1981). 418. Marianne Streisand. „Das Theater braucht den Widerstand der Literatur. Heiner Müllers Beitrag zu Veränderungen des Verständnisses von Theater in der DDR“. Weimarer Beiträge 34.7 (1988). 1165.

23 des Humanismus und die Erblasten einer Autoritätshörigkeit im Mittelpunkt. Indem er die Kontinuitäten der deutschen Misere in den Kontext der DDR verlagert, entwickelt der Dramatiker ein Geschichtsbild, das am marxistischen Geschichtsmodell festhält. Die Hoffnung auf einen gesellschaftlichen Umbruch liegt für ihn nach wie vor in der Revolution. Die Hoffnung auf Umsturz ist grundlegend im Schreiben Müllers, wie Frank Hörnigk feststellt: Es ist das Bild einer versteinerten Hoffnung, […]. Aber es ist eine Hoffnung, der einzig mögliche Entwurf einer Utopie. Er hält der Geschichte stand, indem er sie benennt und sich mit ihr auseinandersetzt […] und notwendig die historisch vorhandenen Schranken gesellschaftlicher Emanzipation vorzeigend, den Kommunismus nicht als Ausweg, sondern als „wirkliche Bewegung“ formulierend.14

Mit seiner Geschichtsdarstellung der gescheiterten sozialistischen Revolution sowie der Wirkungskontinuitäten des Faschismus läuft Müllers Geschichtsbild völlig quer zur öffentlichen Staatsrepräsentation. Er zieht die Konstruktion eines Antifaschismus in Zweifel, die als Grundlage hat, die DDR als rechtmäßige Erbin aller revolutionären, progressiven und humanistischen Traditionen, und vor allem als Erbin der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung zu sehen. Deshalb nennt David Bathrick Müllers schriftstellerische Tätigkeit ein Projekt, das „[p]ushed against the grain of official representations into distorted fantasies, perverted memories, sordid images – the untold stories“.15 Bathrick sieht das kritische Potential der Texte Müllers in genau dieser querverlaufenden Präsentation von Geschichte. 1. 1. Die gescheiterte Revolution Das Scheitern der DDR begründet der Schriftsteller mit der fehlgeschlagenen sozialistischen Revolution des Jahres 1918. In der Ermordung der Arbeiterführer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht 1919 sieht Müller den Enthauptungsschlag gegen die gesamte deutsche Arbeiterbewegung, 14

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Frank Hörnigk. „Texte, die auf Geschichte warten…. Zum Geschichtsbegriff bei Heiner Müller“. Heiner Müller Material. Göttingen: Steidl, 1989. 127. David Bathrick. The Powers of Speech: The Politics of Culture in the GDR. Lincoln: University Press of Nebraska, 1995. 103.

24 von der seitdem keine politische Kraft oder Identität ausgeht.16 Mit dem Thema des Bruderstreits setzt der Dramatiker diese These szenisch um. Den Konflikt der Brüder in Die Schlacht spitzt Müller in Germania Tod in Berlin zu und bringt ihn in Germania 3 Gespenster am toten Mann mit dem Bruderpaar Stalin/Hitler auf einen polemischen Höhepunkt. Der Autor greift in verschiedenen Variationen das Motiv des Bruderstreits auf, das so, wie Georg Wieghaus formuliert, „zur bedeutsamen Chiffre für die selbstzerstörerische Zerrissenheit und Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung [wird]“.17 Das nationale Image eines antifaschistischen Staates wird mit der Beschreibung des Bruderkonflikts als bloße Konstruktion entlarvt, denn eine klare Trennung zwischen Faschist und Antifaschist ist laut Müller gar nicht möglich. Der Bruderzwist in der Szene „Die Nacht der langen Messer“ des Stückes Die Schlacht zeigt die Ambivalenz innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Die Schlacht beschreibt den Zeitraum vom Reichstagsbrand bis zu der Eroberung Berlins durch die Rote Armee (1933-1945) und stellt extreme Brutalität und Gewalt dar, die in völliger Entmenschlichung gipfeln. Hier legt Müller die konkreten Erscheinungsformen des Faschismus frei, nämlich Brutalität und Gewalt, zu dem auch das gewalttätige Umfunktionieren linker Energie für eigene Zwecke gehört. FrankMichael Raddatz schreibt zu Die Schlacht: Über die Sujets von Kindermord, Gattenmord, Brudermord und Kannibalismus wird jeweils ein und dieselbe Frage, die ohne den Anklang von Angst und Verzweiflung nicht vorstellbar ist, transportiert: Gibt es ein moralisches Tabu, das die faschistische Gesellschaft prinzipiell nicht bereit ist zu brechen? […] [D]urch die ästhetische Konstruktion [kann] der deutsche Faschismus als Zäsur in der Geschichte des Schreckens gewertet werden.18

Müller verdeutlicht, wie der Faschismus die regressiven Tendenzen verstärkt, d.h. wie der Faschismus der deformierten inneren Natur des Menschen zur Realisierung verhilft. Somit bestimmt sich der deutsche Faschismus Raddatz zufolge als Revolte gegen einen zivilisatorischen 16

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Heiner Müller. Ich bin ein Neger. Eine Diskussion mit Heiner Müller. Darmstadt: Jürgen Häuser, 1994. 11. Vgl auch: Heiner Müller. Jenseits der Nation. Berlin: Rotbuch, 1991. 8-9. Georg Wieghaus. Zwischen Auftrag und Verrat. Werk und Ästhetik Heiner Müllers. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1984. 218. Frank-Michael Raddatz. Dämonen unterm Roten Stern: Zur Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers. Stuttgart: Metzler, 1991. 58.

25 Zwang und gegen gesellschaftliche Repressionen, ohne jedoch Herrschaft an sich in Frage zu stellen.19 Während Müller die Beziehung zum Körper durchaus als emanzipatorisch interpretiert, wie mit dem Auftreten von nicht-europäischen Figuren in späteren Dramen noch zu sehen ist, zeigt sich in Die Schlacht die innere Natur der Deutschen als deformiert und von Autoritätshörigkeit bestimmt. Dies, schreibt Raddatz, wirft die Frage nach einer spezifischen Geschichte des Körpers in Deutschland auf: „Mit der Thematisierung von Gewalt und Körperdressur […] stellt sich Müller diesem Problem und verleiht seinen Bildern über den Faschismus historische Kohärenz“.20 Somit wird die Beziehung zu Gewalt und Mord ins Zentrum der Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus gestellt. In der Eingangsszene „Nacht der Langen Messer“ bittet in der Nacht des Reichstagbrands ein zur SA Gehörender (B) seinen Bruder (A), ihn umzubringen. Wie sein Bruder war B ein klassenbewusster Arbeiter, wurde aber von den Nazis verhaftet und gefoltert. Nach seiner Entlassung wird er von seinen sozialistischen Genossen als Verräter angesehen und verliert jeglichen Rückhalt in seiner Gruppe. Als er erneut verhaftet wird, zerbricht er an dem Verlust von Schutz, Heimat und Solidarität, die ihm seine Genossen verwehren. In den Folterkammern der Nazis verrät er beim zweiten Mal die Namen seiner Genossen, wird also zum Verräter, zum Täter, zum Nazi. Müller deutet hier auf das Versagen in den sozialistischen Reihen einerseits, auf die Aufhebung einer exakten Unterscheidung zwischen Kommunist und Nazi andererseits: „Ich hab mir auf den Grund gesehen. Die Nacht der langen Messer fragt wer wen. Ich bin der eine und der andre ich. Einer zu viel. Wer zieht durch wen den Strich“ (SH 11). Durch das Hakenkreuz, das die Nazis B in die Brust einritzen, trägt dieser die unerträgliche Wahrheit mit sich umher: Nämlich die, dass man aus einem Kommunisten einen Nazi machen kann. Die zerbrochene Identität von B rührt von der Unfähigkeit der deutschen Arbeiterbewegung her, dem in der Haft gewesenen Genossen Klassensolidarität zu bieten. Somit ist das Zerbrechen der Identität von B und sein Überlaufen zu den Nazis den Kommunisten genauso zuzuschreiben wie den Nazis selbst. A erkennt jedoch, dass seine Position gegenüber seinem Bruder nicht von moralischer Überlegenheit herrührt, sondern lediglich dem glücklichen Zufall entspringt, nicht mit den Nazis verbunden gewesen zu sein. 19 20

Frank-Michael Raddatz, Dämonen, 70. Ebd., 71.

26 Die Ausgangssituation der ersten Szene in Die Schlacht ist identisch mit der Szene „Der Entlassene“ in Brechts Drama Furcht und Elend des Dritten Reiches (1938). Hier beschreibt Brecht die Einsicht eines aus dem Lager entlassenen Kommunisten, der das Misstrauen seiner Genossen als unüberwindbar ansieht. Müller führt Brechts versöhnliche Szene, bei der der Entlassene gerade nicht an seiner Ausschließung zerbricht, in eine komplexere Konstellation: Die Schlacht „negiert eindimensionale Faschismuserklärungen und fordert […] den Rezipienten zu erneuter Reflexion heraus“.21 Durch den Verlust seiner Identität in Müllers Szene kann sich B nicht selbst umbringen. Ausschlaggebend für dessen Todeswunsch ist die Wiederherstellung seiner menschlichen Würde, wobei sein politisches Fehlverhalten in den Hintergrund gerückt wird, „B will im Tod wieder (wie) A werden, wieder Opfer – jetzt aber der richtigen Seite […]“.22 Der Tod bietet den alleinigen Schutz vor einem Rückfall. Folglich definiert sich die faschistische Identität dadurch, dass der Mensch seiner Würde beraubt wird. Müller spricht dem Todeswunsch emanzipatorische Kraft zu, denn der Inhumanität des Faschismus wird mit Bs Tod der höchste Ausdruck menschlicher Freiheit entgegengehalten. Mit dessen Bitte an A, den Mord auszuführen, wird der Kommunist A selbst von seinem eigenen Versagen eingeholt: wenn er ihn nicht tötet, wird B seine Genossen foltern, tötet er ihn, macht er sich selbst zum Mörder. Dazu schreibt Genia Schulz: Müller treibt die körperliche und psychologische Unauflösbarkeit des Vorgangs so weit, dass sich historische Wahrheit wieder einem mythischen Modell zu nähern scheint: die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung, dann Deutschlands, wird zur beklemmend „ewigen“ Szene des Bruderkampfes, die politischen Konflikte erscheinen auf der äußersten Spitze ihrer gedanklichen Durchdringung wieder als Urgemetzel: der Bruder mordet den Bruder (selbst).23

Wenn Brecht also noch das Augenmerk auf den Widerstand gegen den Faschismus lenkt, so beschreibt Müller im Bruderzwist gerade die Auflösung einer klaren Trennung zwischen Kommunist und Nazi. 21 22 23

Ebd., 54. Genia Schulz, Heiner Müller, 120. Ebd., 120-121.

27 Im zehnten Bild, „Die Brüder 2“, in Germania Tod in Berlin greift Müller den brüderlichen Konflikt erneut auf. Die Zerrissenheit innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung beschreibt er als schwerste Hypothek, die die DDR übernehmen musste. Mit einer neuen Variante des Bruderstreits verdeutlicht der Autor zugleich die Unabgeschlossenheit der Geschichte, er betont so die immer bestehende „Korrekturbedürftigkeit der Geschichte“.24 Während die sowjetischen Panzer in Berlin einfahren und den Aufstand des 17. Juni 1953 unterdrücken, treffen sich die Brüder in einem Gefängnis: „Weißt du noch. Ich stand in deiner Tür. Ich war dein Bruder“ (GTB 70), erinnert der Nazi seinen Bruder. Der Nazi ist wegen seiner Kriegsverbrechen inhaftiert, der Kommunist ist vom DDR-Staat wegen seiner ideologischen Abweichungen eingekerkert worden. Zwanzig Jahre zuvor hatte sich der Kommunist geweigert, seinen Nazibruder zu töten und hatte dadurch „[d]en zum Überleben Gezwungenen als Mensch erst wirklich getötet“.25 Mit der Illusion des Bruders über den Kommunismus, „bei uns wird nicht geschlagen“ (GTB 71), wird die komplexe Gespaltenheit des DDR-Staats offensichtlich: Der Kommunist befürwortet die sowjetischen Panzer, die 1953 in die DDR rollen. Er ist für den Arbeiterstaat, aber gegen dessen Bevölkerung. Im Gefängnis muss der Kommunist erkennen, dass sein Ideal, die Freiheit der Arbeiter und aller Menschen, mit den Panzern verteidigt werden muss, so aber nicht mehr das freiheitliche Ideal, sondern die Unfreiheit bedeutet. In dieser Zerrissenheit verschwimmt eine klare Aufrechterhaltung eines so genannten Antifaschismus. Der Kommunist wird von seinem eigenen sozialistischen Staat eingesperrt, obwohl er den Kommunismus verkörpert und verteidigt. Darum kreuzen sich in der Figur des Kommunisten der Verfechter des wahren Sozialismus mit dem Befürworter der sowjetischen Panzer, in ihm verbindet sich der aufrechte Glaube an den Sozialismus mit dem Verhalten eines Landesverräters. Als ‚Lump‘, ‚Russenknecht‘ und ‚Vaterlandsverräter‘ erschlagen die Insassen und der Nazibruder den Kommunisten, der für sie die staatliche Unterdrückung verkörpert. Seine letzten Worte lauten: „Wer bin ich“ (GTB 74). Er artikuliert somit auf gleiche Weise wie der Nazibruder in Die Schlacht : „Ich bin der eine der andre ich“ (SH 11), dass keine klare Linie zwischen Faschist und Antifaschist gezogen werden kann. Müller fasst diesen Augenblick in einem kurzen Prosatext zusammen: 24 25

Georg Wieghaus, Zwischen Auftrag, 217. Norbert Otto Eke. Heiner Müller. Stuttgart: Reclam, 1999. 165.

28 Schotterbek, als er, an einem Junimorgen 1953 in Berlin, unter den Schlägen seiner Mitgefangenen aufatmend zusammenbrach, hörte aus dem Lärm der Panzerketten, durch die preußisch dicken Mauern seines Gefängnisses gedämpft, den nicht zu vergessenden Klang der Internationale.26

Müller spitzt den Bruderkonflikt weiter zu. In seinem letzten Stück Germania 3 Gespenster am toten Mann, in dem teilweise länger zitierte Texte von Kleist, Hölderlin, Kafka und vor allem Brecht auftauchen, wird in der Auferstehung der Toten der Bruderzwist auf den polemischen Höhepunkt getrieben. Stalin und Hitler werden als Brüder dargestellt, die sich gegenseitig umbringen wollen. Die Verflechtung und gegenseitige Bedingung des deutschen Faschismus und des Stalinismus sind der Rahmen des Stückes. In der 1. Szene drückt die Figur Ernst Thälmann mit seiner Frage an Walter Ulbricht die Grundstimmung des Dramas aus: „Was haben wir falsch gemacht?“ (GG 8). Der Auftritt von Rosa Luxemburg am Ende dieser Szene gibt eine Antwort auf diese Frage. Damit verweist der Schriftsteller gleich zu Anfang von Germania 3 Gespenster am toten Mann auf seine immer wieder artikulierte These, dass in der Ermordung der KPD-Führer der Enthauptungsschlag gegen den gesamten deutschen Sozialismus vollzogen wurde. Das Ende des Stückes greift den Anfang noch einmal auf. Mit dem Auftritt der Figur des roten Riesen wird die Hoffnung auf Änderung begraben. Der Glaube an eine Umsetzung des Sozialismus liegt am Schluss von Germania Tod in Berlin, wie noch zu sehen ist, mit dem Verweis auf die rote Rosa noch in erreichbarer Nähe; rund zwanzig Jahre später wird diese Zuversicht in Germania 3 Gespenster am toten Mann zu Grabe getragen: Aus der roten Rosa ist der rote Riese geworden. Somit ist in Müllers letztem Stück die Ernüchterung über die verpasste Chance einer Realisierung des Sozialismus durch die Wiedervereinigung 1990 nicht zu überlesen. In der Fortsetzung des Bruderzwistes in Germania 3 Gespenster am toten Mann legitimiert sich die linke Gewalt durch die Bedrohung von rechts. Mit der Frage eines russischen Soldaten in Szene drei spricht Müller die tödliche Alternative an, auf der die Entstehung der DDR basiert: „Wer ist dir lieber, Stalin oder Hitler?“ (GG 15). Die Aufhebung dieser nur scheinbar antagonistischen Kräfte ist für Müller nur mit dem Untergang, 26

Heiner Müller. Germania Tod in Berlin. Berlin: Rotbuch, 1977. 15. Genia Schulz verweist in ihren Ausführungen auf diesen Kurztext Müllers, vgl. Genia Schulz, Heiner Müller, 135.

29 der totalen Vernichtung beider Seiten möglich. Nicht mehr im einseitigen, sondern nur im gegenseitigen Brudermord sieht der Schriftsteller nun eine eventuelle Lösung, denn sowohl Stalin als auch Hitler sind Totengräber der sozialistischen Idee. So sagt ein russischer Soldat: 2

Mein Glück sind die Deutschen Weil Russland ist mehr als der Gulag und Stalin bricht Hitler das Genick mit unseren Dreimal von ihm gebrochenen Knochen.

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Amen. (GG 18)

Mit der zweiten Szene „Panzerschlacht“ verteidigt Stalin seine Gewaltherrschaft mit der Bedrohung durch den deutschen Faschismus. „Braun gegen Rot Rot gegen Braun wäscht weiß/ Den Leichenteppich aus drei Kontinenten“ (GG 12). Die Gegner Stalin und Hitler treten als verfeindete Brüder auf. STALIN. Hitler, mein Freund von gestern. Bruder Hitler. Verbrennst du meine Dörfer. Das ist gut. Weil sie dich hassen, werden sie mich lieben. Deine Blutspur wäscht meinen Namen weiß. […] Dein Krieg ist ihre Hoffnung auf den Weg Nach Deutschland in deiner Panzerspur. Du hast Die Schleusen aufgesprengt, jetzt kommt die Flut. (GG 13)

Diese Szene ist an die vierte „ES BLIES EIN JÄGER WOHL IN SEIN HORN“ gekoppelt, in der die Hitlerfigur einen Monolog hält. Beide Monologe der Herrscher zeigen die Gleichheit ihrer Gewalt und ihres Totalitätsanspruchs. Zugleich spricht Hitler die ewige Wiederkehr der Geschichte der Katastrophen an: „[…] meine Hände sind blutig wie die Hände aller großen Männer der Geschichte blutig sind, Alexander Cäsar Friedrich der Große Napoleon (leise) Stalin“ (GG 32). Mit dem Sieg Stalins über Hitler kann sich Stalins Gewaltherrschaft nicht länger als Kampf gegen den deutschen Faschismus legitimieren. Stalins wahre totalitär-diktatorische Politik kommt zum Vorschein. In Vorausdeutung darauf erklärt die Hitlerfigur: HITLER […] Stalin Der Rattenkönig mit dem Riesenrücken Noch schmeckt ihm sein Sibirien Nicht mehr lange Dein Rücken wird dein Buckel sein nach mir Wenn sie die Leichen zählen deine und meine

30 Willkommen in der Hölle Bolschewik Sie werden wissen was sie an uns hatten Wenn überall der Mensch den Menschen frißt. (GG 29)

Der Kommunismus als Stalinismus und somit als Hölle und nicht etwa als ersehnte Befreiung von den Faschisten wird nach der Niederlage Hitlers in Germania 3 Gespenster am toten Mann besonders deutlich. In „Die zweite Epiphane“, Szene sechs, wird die Enttäuschung nach dem Zweiten Weltkrieg über den Kommunismus veranschaulicht. Ein Kommunist kommt aus dem Konzentrationslager nach Hause, um dort einen russischen Soldaten vorzufinden, der seine Frau vergewaltigt. Im Glauben, richtig zu handeln, erschlägt er den Russen, wird aber für diese Tat verhaftet. Die erwartete Heilszeit, die Epiphane, die durch den Sieg über die Faschisten anbrechen soll, bleibt aus. Vielmehr wird dem Kommunisten durch die Vergewaltigung vor Augen geführt, dass nicht etwa der Kommunismus, sondern die Zeit der Gewaltherrschaft des Stalinismus angebrochen ist; dies ist, schreibt Norbert Otto Eke, eine „unerwartete Schreckenserfahrung, die seine alten Orientierungs- und Ordnungsmuster schlagartig außer Kraft setzen“.27 Der Kommunist erfährt durch seine Verhaftung und seine Deportation in das Konzentrationslager Workuta, dass eine andere Zeit angebrochen ist, in der seine kommunistischen Wertmaßstäbe nicht mehr gelten. Nachdem er in Workuta niedergeschlagen worden ist, wird er zynisch begrüßt: „Willkommen in der Heimat, Bolschewik“ (GG 47). Die Niederlage der Faschisten bedeutet zwar das Ende der faschistischen Gewalt, wird aber mit einer neuen Gewalt, der des Stalinismus, eingetauscht: [D]ie Heimkehr des Kommunisten aus dem Lager führt in ein anderes Lager; sein Weg führt aus dem Terror in den Terror, aus dem KZ in den Gulag, wo er als nach wie vor ‚gläubiger‘ Kommunist zum Zeugen […] seines Glaubens wird: die Heimat des Kommunisten ist die Hölle, sein Paradies der Gulag.28

Die von rechts kanalisierten linken Kräfte werden gegen die Sowjetunion genutzt; im Sieg des Bruders Stalin über Hitler kommen sie, laut Müller, in der Maske der Roten Armee wieder nach Deutschland. Im Anschluss des deutschen Sozialismus an Stalin (als Sieger über Hitler) und an den Moskauer Machtapparat werden die deutschen Kommunisten geschlagene Sieger auf eigenem Boden. 27 28

Norbert Otte Eke, Heiner Müller, 262. Ebd., 262.

31 1. 2. Die erhoffte Revolution Der echte Bruch mit der Geschichte des Nationalsozialismus wird in Germania Tod in Berlin durch die Gründung der DDR als noch nicht eingelöstes Versprechen dargestellt. Da diese Hoffnung im Vordergrund steht, meint Wieghaus, nicht entscheiden zu können, ob es „ein Stück über verpaßte Chancen ist, ein Stück über die Trauer um gescheiterte Hoffnungen, […] oder ob es auf eine Differenz, einen Fortschritt hindeutet“.29 Es ist genau das antagonistische Kräftespiel zwischen der Überwindung der Vergangenheit und der Freisetzung revolutionärer Energie, das hier im Mittelpunkt steht. In der Verwendung historischer Themen und Figuren – es wird die deutsche Revolution von 1918, der deutsche Faschismus, der Nibelungenmythos genauso wie die deutsche Teilung thematisiert – geht es Müller jedoch nicht um den Anspruch von historischer Wahrheit. Der historische Stoff ist vielmehr ein Materialienfundus, bei dem es nur in soweit um die Wiederbelebung der Vergangenheit geht, als dass verdeckte Zusammenhänge ans Licht gebracht werden, die für den Theatermann von Bedeutung sind, um ihre Spuren in der Gegenwart aufzuzeigen. Müllers Dramaturgie der Überspitzung will „den Alptraum der Geschichte loswerden“30, und folgt dem Prinzip, eine Szene aus der deutschen Geschichte vor 1945 mit einer Parallelszene aus der DDR-Geschichte zu verbinden. Somit läuft das Argument Matias Mieths am eigentlichen Sachverhalt vorbei, wenn er Müllers Preußenbild als unoriginell und unstimmig beschreibt. Mieth bezeichnet die Sichtweise, den Faschismus als logisches Resultat der deutschen Geschichte zu sehen, als in der DDR der fünfziger Jahre verbreitet.31 Dabei verkennt er jedoch, dass Müller in der Darstellung der Kontinuitäten die DDR selbst als Verlängerung der deutschen Geschichte von Preußentum und Nationalsozialismus sieht. Tacitus’ „Germania“ ist seit ihrer Wiederentdeckung im 16. Jahrhundert die allegorische Figur des Nationalbewusstseins der Deutschen, das je nach geschichtlicher Epoche zwischen Vaterlandseuphorie und tiefer Resignation schwankt. Je nach Einstellung der Schriftsteller zu ihrem Volk und Land ändert sich das Bild von Germania, von der Reichheroine mit Flammenschwert und wehrhafter Rüstung zur „stolzen Mutter 29 30 31

Georg Wieghaus, Zwischen Auftrag, 222. Heiner Müller. Rotwelsch. Berlin: Merve, 1982. 58. Matias Mieth. Die Masken des Erinnerns. Zur Ästhetisierung von Geschichte und Vorgeschichte der DDR bei Heiner Müller. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1994. 145-146.

32 der Nation“. In Müllers Stück kommt es zu einer totalen Zerstörung von Germania. In Szene sieben, „Die Heilige Familie“, erscheint Germania weder als allegorische Gestalt für die glänzende Zukunft der Nation, noch als Mutter- oder Brautfigur. Stattdessen tritt sie als farcehafte Amme im Führerbunker auf und hilft mit einer riesigen Zange dem schwangeren Goebbels bei der Geburt eines Contergan-Wolfes. Hitler wird wegen dieser Missgeburt wütend und bindet Germania vor ein Geschütz, das diese zerfetzt. Müller sieht hierin das Ende aller bisherigen Vorstellungen über Germania und weist auf eine Epoche hin, die mit allem Vergangenen bricht. Die Geschichtsbilder, die der Schriftsteller in Germania Tod in Berlin gegenüberstellt, beleuchten jeweils Krisen, Schlüsselsituationen und Wendepunkte: das Scheitern der Revolution 1918, die Gründung der DDR, den Kessel von Stalingrad, die „Geburt“ der BRD, der 17. Juni 1953. Mit der geschichtlichen Bezugnahme einzelner Szenen zueinander, die schon in den Titeln zum Ausdruck kommt, entwirft Müller ein Bild der DDR, das diese in ihre Vorgeschichte einbettet. Die zentrale Frage, die er mit dieser Art der Szenenkonstellation aufwirft, heißt: Wie weit entfernt ist die DDR eigentlich vom Stalingrader Kessel, vom Stalinismus, und von einem Obrigkeitsstaat? Anders formuliert: Das Grundproblem, schreibt Andreas Keller, „ergibt sich aus den Konflikten der Gesellschaft zwischen tradierten Belastungen und den anvisierten Zielen“.32 Die Szenenkonstruktion von Germania Tod in Berlin lässt das Drama als „Vergegenständlichung eines komplexen Erinnerungsvorganges“33 erscheinen und hinterfragt immer wieder, ob die DDR wirklich das Versprechen eines echten Neuanfangs halten kann. Schon in Müllers Drama Die Umsiedlerin (1956/64) wird mit dem Auftreten der Gespenster Friedrich II. und Hitler explizit zum Thema, dass die Hoffnung auf einen Bruch mit der deutschen Vergangenheit in Zweifel gezogen wird. Letztendlich wird dieses Versprechen nicht eingelöst. Robert von Dassanowsky-Harris konstatiert: A principal current in the „Misere“ of Germania is the author’s love/hate attitude towards the leader figure in German history, apparent in the near cliché imagery of the Prussian-fascist connection dominating the work; however it is also present in the 32

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Andreas Keller. Drama und Dramaturgie Heiner Müllers zwischen 1956 und 1988. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1992. 224. Georg Wieghaus, Zwischen Auftrag, 221.

33 author’s consideration of the GDR as a dashed socialist hope, one which was artificially constructed and which consequently owes little to Marxist dialectics. At the roots of this continued „Misere“ is Müller’s accusation that it is the unchanging German mind that continues to inhibit true change.34

Die Verschränkung von Alt und Neu kommt u.a. in den Szenen „Straße 1 und 2“, „Brandenburgisches Konzert 1 und 2“, „Hommage á Stalin 1 und 2“ und in „Tod in Berlin 1 und 2“ zum Ausdruck. Raddatz will in dieser Verklammerung eine Verbindung von Politik und Triebgeschichte sehen, die die Geschichte auf eine ausschließlich subjektive Ebene stellt und das marxistische Geschichtsmodell den zu blutrünstigen Monstern deformierten Individuen überlässt.35 Die ersten beiden Szenen, „Die Straße 1. Berlin 1918“ und „Die Straße 2. Berlin 1949“, verbinden die gescheiterte kommunistische Revolution von 1918/19 mit der Gründung der DDR im Jahre 1949. In der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts sieht Müller, wie schon wiederholt genannt, einen wesentlichen Ausschlag für den Ausverkauf der sozialistischen Idee in Deutschland. Was 1919 von der Basis nicht erfolgreich durchgesetzt werden konnte, wird 1949 von oben herab, gerade ohne Basis, in einer quasi verordneten Revolution implementiert. Der Autor stellt dar, wie Kinder in der Szene „Die Straße 1. Berlin 1918“ trotz Teilnahme ihrer Väter Schilder gegen den Spartakusaufstand tragen, um Geld zu verdienen und ihren Hunger zu stillen. Ihre Väter nehmen am Aufstand teil, um ihnen eine bessere Zukunft ohne Hunger zu erkämpfen. Jedoch wird der Spartakusaufstand im Jahre 1919 niedergeschlagen, die Kinder werden um ihren Lohn betrogen. Des Weiteren muss sich die DDR bei ihrer Gründung 1949 selbst Beifall aus den Lautsprechern spenden. Da die echte Basis fehlt, gibt sich der Staat durch den abgespulten Beifall Eigenlegitimation. In der Verbindung der Ereignisse von 1919 und 1949 deutet der Dramatiker auf die akute Gefahr hin, dass autoritäre Denk-, Verhaltens- und Staatsformen weitergeführt werden und der Sozialismus als progressiver Gegenentwurf zum Faschismus in theoretisch-ideologischen Konstruktionen stecken bleibt. Die Figur des Alten in Szene 2 fungiert als Brücke zwischen der geschei34

35

Robert von Dassanowsky-Harris. „The Dream and the Scream: ‚Die deutsche Misere‘ and the unrealized GDR in Heiner Müller’s Germania Tod in Berlin“. New German Review 5/6 (1989/90). 15. Frank-Michael Raddatz, Dämonen, 74.

34 terten Revolution und der noch bestehenden Hoffnung auf einen echten Umschwung: ALTER mit Kind auf dem Rücken. Hier haben wir Berlin, der Kaiserhure Die Fetzen vom Kartoffelbauch gerissen Den Preußenflitter von der leeren Brust. Die Kaiserhure war Proletenbraut Für eine Nacht, nackt im Novemberschnee Vom Hunger aufgeschwemmt, vom Generalstreik Gerüttelt, mit Proletenblut gewaschen. Wir standen wieder hier im Januar drauf Der Nebel stieg, die Hand fror am Gewehr Der Schnee fiel sieben Stunden ohne Aufhörn. Die Bonzen saßen warm im Schloß, berieten. Wir warteten im Schnee, der weiß wie nie kam Von keinem Rauch aus keinem Schlot geschwärzt. Wir wurden weniger. In der achten Stunde Schmiß der und jener sein Gewehr weg, ging. Im Schloß die Bonzen ritten auf den Stühlen Und stimmten Karl und Rosa an die Wand. Wir schlugen die Gewehre an den Bordstein Krochen zurück in unsre Mauerlöcher Und rollten den Himmel wieder ein. Der Präsident. Ein Arbeiter wie wir. (GTB 38)

Als ehemaliger Spartakist wartet der Alte mit seinem Hinweis auf den Präsidenten jetzt auf die Einlösung seiner sozialistischen Hoffnungen im neuen Staat DDR. Der erste Staatsmann und Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, war wie er ebenfalls ein ehemaliger Spartakist und Arbeiter. Jedoch werden Gegenrufe wie „Russenstaat“ erstickt, und Figuren des Staatssicherheitsdienstes überwältigen diejenigen, die die Fahnen des neuen Staates DDR niederreißen wollen. Auch hier wird gezeigt, dass der Neuanfang eine Konsolidierung schon bestehender, autoritärer Verhältnisse ist und keine eigentliche Abgrenzung zu vergangenen Gesellschaftsstrukturen darstellt. „Hommage á Stalin 1“ zeigt die Überblendung von Schlachten der Vergangenheit. Im Kessel von Stalingrad treffen die toten Feldherren der europäischen Geschichte aufeinander; der Auftritt von Cäsar, Napoleon und Hitlers Soldaten verdeutlicht die immer wiederkehrende Geschichte der Katastrophen und Kriege. Durch die Ansiedlung historischer Katastrophen im Totenreich veranschaulicht Müller, dass das mögliche Neue

35 immer wieder dem Angriff des Alten, des Toten, ausgesetzt ist. Geschichte ist Raddatz zufolge „nicht durch ihre Geschichtlichkeit vorbei (tot), sondern muss erst noch […] überwunden werden“.36 Mit den Nibelungen Volker, Hagen und Gernot, die sich auch in Stalingrads Kessel einfinden, weist der Schriftsteller auf die destruktive Natur einer deutsch-nationalen Geschichte hin. Gleich einer Zeitraffung werden hier Vergangenheit und Gegenwart beliebig zusammengezogen und zu Bildern verdichtet. Auf diese Weise bringt Müller die Kontinuität der katastrophalen deutschen Geschichte im Schnittpunkt auf die Bühne. Die Fragestellung also lautet, wie Raddatz richtig formuliert, [w]ie kann das Neue von Überformung durch das Alte und seine Tradition […] geschützt werden. (Vor-)geschichte wird demnach nicht primär unter dem Aspekt der Beerbung und der Verlängerung relevant, sondern aus der Position des Neuen steht vielmehr ihre Dekonstruktion zur Debatte.37

Mit dem Titel der Szenenfolge „Hommage á Stalin 1 und 2“ verweist Müller sarkastisch auf die Deformation der Idee des Sozialismus durch den Stalinismus. Zwar ist Stalin Sieger über Hitler und den Faschismus, zugleich jedoch ist er es mit seiner Gewaltpolitik, der die echte sozialistische Idee begräbt. „Hommage á Stalin 2“ spielt am Tag von Stalins Tod (5. März 1953). BETRUNKENER. Ja. Grad heut hab ich Einen getroffen. Sitzt im Ministerium. Staatssekretär oder wie das jetzt heißt. Der Junge hat es weit gebracht: ganz oben. Aber mich hat er gleich erkannt. Bist dus, Chef. Immer der Alte, sag ich. Und er: Komm, wir machen Ein Faß auf. Ich mit. Seine Frau war giftig Als wir mit Bier auf dem Parkett den Kessel Rekonstruieren wollten, unsern Kessel. Er hat sie eingeschlossen in der Küche. Dann haben wir den Kessel rekonstruiert. Und nach der vierten Flasche frag ich ihn: Kannst du noch robben, Willi, altes Schwein. Und was soll ich dir sagen, du glaubst es nicht: Der konnte noch. So gut war meine Schule. 36 37

Frank-Michael Raddatz, Dämonen, 83. Ebd., 84.

36 Schüttet Bier auf den Tisch. Das ist die Wolga. Hier ist Stalingrad. AKTIVIST. Das ist mein Bier. BETRUNKENER. Dich interessierts nicht, was. Der Krieg ist nicht zu Ende. Das fängt erst an. Mich kratzt es nicht mehr. Ich kenn den Arsch der Welt Von innen und von außen. Ab. (GTB 55)

Der Betrunkene ruft den Schrecken des Stalingrader Kessels ins Gedächtnis zurück, und stellt die Verbindung zur Parallelszene „Hommage á Stalin 1“ her, die das Greuel von Stalingrad szenisch vor Augen führt. Paul Gerhard Klussmann kommt zu einem entgegengesetzten Schluss. Er argumentiert, dass „der deutsche Heldenmythos ein für allemal ein Ende gefunden hat und daß den Nachkommen von SIEGFRIED, GUNTHER und HAGEN keine Chance für neue Kriegsspiele der Selbstvernichtung sich eröffnet“.38 Klussmann ist der Ansicht, Müller wolle das Ende der Selbstzerstörung nach dem Zweiten Weltkrieg darstellen und die Abgrenzung der sozialistischen Gesellschaft zu der grausigen Vergangenheit zeigen. Klussmann übersieht jedoch den Kontext und die Verklammerung der beiden Szenen, die gerade das Fortdauern des Schlachtens verdeutlichen und somit die Verstrickungen der DDR in eine kriegerische Vergangenheit betonen. Denn der Hinweis am Ende von „Hommage á Stalin 1“ Der Lärm geht weiter bis zum nächsten Bild (GTB 51) veranschaulicht, dass der Sozialismus nur wenig von den brutalen Kämpfen entfernt ist. Diese Erblast wird mit der Utopie des Sozialismus konfrontiert, die die Figur des Schädelverkäufers versinnbildlicht. Der Dramatiker lässt aber auch in ihr die Brüchigkeit des deutschen Sozialismus erkennen: Erst als der Schädelverkäufer, ehemaliger Historiker, den Fehler seiner Anhängerschaft an den Nationalsozialismus und die fehlleitende Kraft dieser Bewegung wahrnimmt, wird er immun gegen diese Verführung, „gegen das Leichengift der zeitlichen Verheißung“ (GTB 57). Er hält dem Staat DDR einen Totenschädel als Erinnerungsstück entgegen: „Wie kann man dem Marxismus noch vertrauen, der sich in der Analyse des Faschismus so grundsätzlich täuschte?“39. Das Utopische artikuliert er durch Vergilverse, „schon entsteigt ein neues Geschlecht dem erhabenen 38

39

Paul Gerhard Klussmann. „Deutschland-Denkmäler: Umgestürzt. Zu Heiner Müllers Germania Tod in Berlin.“ Deutsche Misere einst und jetzt. Hg.v. Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn: Bouvier, 1982. 169. Genia Schulz, Heiner Müller, 132.

37 Himmel“ (GTB 57) und er weist im Schatten vom Stalinismus auf den noch nicht eingelösten Sozialismus in der DDR hin. Die Verklammerung der Szenen 3 und 4 („Brandenburgisches Konzert 1 und 2“) deutet auf eine weitere Kontinuität der Vergangenheit in die Geschichte der DDR hin. Der Geist Friedrich II. geht im Sozialismus um. In Szene 3 wird der Preußenkönig als Clown parodiert und entpuppt sich nicht als aufgeklärter Monarch, sondern als kriegsliebender, diktatorischer Herrscher, der Unterwürfigkeit von seinen Untertanen erzwingt und diese in die Kriegsschlacht treibt. Mit dem Auftreten des preußischen Königs als Vampir in Szene 4 verweist Müller auf eine Fortsetzung von Strukturen, die über den Nationalsozialismus hinausgehen und im Preußentum ihre Wurzeln finden. Vampir Friedrich versucht eine Fortführung seiner Herrschaftsstrukturen in der DDR, wenn er den zum Helden der Arbeit gekürten Maurer angeht und ihn zu erdrosseln versucht. Erfolgreich schlägt der Maurer den Vampir in die Flucht. Mit dieser Tat scheint ein echter gesellschaftlicher Umschwung vonstatten zu gehen, die Idee des Sozialismus scheint die Erbschaft der Diktatur tatsächlich hinter sich zu lassen. Der angestrebte Abbruch mit der preußisch-faschistischen Vergangenheit scheint darin noch bestärkt zu werden, dass der Maurer gerade deshalb zum Helden der Arbeit ausgezeichnet worden ist, weil er in korrekter Erfüllung des Plans das Reiterstandbild des Preußenkönigs von Berlin nach Potsdam transportierte. Die Demontage des Preußischen und der Erfolg des Maurers, den Geist Friedrichs in die Flucht zu schlagen, werden jedoch daraufhin von einem versuchten Mord am Maurer überschattet. Überall in der Gesellschaft finden sich Elemente, die der eigentlichen Idee des Sozialismus zusetzen. So der Maurer: „Sie wollten mich zum Denkmal umarbeiten. Das Material kam aus dem vierten Stock“ (GTB 47). Wie die Figur des Maurers, so steht auch die Hilse-Figur, die zwei Szenen später ihren ersten Auftritt hat, für den „reinen“ Sozialismus, für einen Arbeiterstaat ohne Klassenunterschiede. Dazu Hilse, eine Anspielung auf Gerhart Hauptmanns Hilse in Die Weber: „Erkennst du mich. Ich bin der ewige Maurer. Die Pyramiden in Ägypten, eine Festung gegen die Zeit, sind meine Handschrift“ (GTB 78). Auch der Arbeiter Hilse wird körperlich bedroht. Diese achte Szene mit dem Titel „Das Arbeiterdenkmal“ beschreibt noch einmal die akute Gefährdung der sozialistischen Idee und die Zerrissenheit innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Hilse ist der „Märtyrer einer unbegriffenen Geschichte“40, er ist 40

Ebd., 134.

38 der einzige Arbeiter, der sich der Arbeitsniederlegung vom 17. Juni 1953 nicht anschließt. Alle Arbeiter wollen mit ihrem Streik einen anderen Sozialismus in der DDR vorantreiben, nur Hilse lässt sich nicht zu einer Teilnahme am Streik verleiten. Er nimmt den Auftrag der Regierung ernst und fühlt sich bis zur Selbstaufgabe verpflichtet, den Fortschritt seines Staates voranzutreiben. Hilses Obrigkeitsdenken, das noch aus der vorsozialistischen Zeit stammt, ist für ihn identisch mit der Erfüllung der Arbeiterinteressen. In dem Moment aber, in dem die Regierungsforderungen nicht mehr in jeder Hinsicht mit den Zielen und Wünschen der Arbeiterschaft übereinstimmen, entsteht für Hilse ein Widerspruch, den er nicht lösen kann. Unbeirrt führt er seine Arbeit fort, bis er von Jugendlichen daran gehindert, angegriffen und durch nach ihm geworfene Steine verletzt und fast umgebracht wird: Die sozialistische Idee in Deutschland findet sich als Denkmal wieder. Die siebte Szene ist die Achsenszene des aus dreizehn Bildern bestehenden Stücks Germania Tod in Berlin. In dieser Szene „Die Heilige Familie“ bringt ein von Hitler geschwängerter Goebbels unter Mithilfe von Germania einen verkrüppelten, weißgewaschenen Wolf zur Welt: die BRD. Mit der Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland versinnbildlicht der Dramatiker die westdeutsche Fortsetzung und erneute Auferstehung der Geschichte der Katastrophen. Müller veranschaulicht hier seine Auffassung über das westliche Deutschland. Ein Bruch mit der katastrophalen deutschen Geschichte ist im westlichen Teil Deutschlands gar nicht erst möglich. Die sechs Szenen vor diesem Bild beschreiben Müllers Versuch, einen echten sozialistischen Gegenentwurf zu der preußisch-faschistischen Traditionslinie zu skizzieren. Die sozialistische Gegenbewegung schließt mit der Gründung der DDR zwar an das brüchige, aber in Teilen noch aufrechterhaltene Projekt der Novemberrevolution von 1918/19 an und ist so, im Gegensatz zur BRD, ein Neuanfang. Somit zeigt Müller trotz Erblasten in den ersten sechs Szenen die Möglichkeit eines echten Neuanfangs. Durch die erstellte Parallele zur Novemberrevolution wird kenntlich gemacht, dass sich die DDR an eine antifaschistische Tradition bindet. So sind die Aktionen des Maurers, die utopischen Verse des Schädelverkäufers und die Figur Hilse Hinweise auf einen Neubeginn. Die mögliche Umsetzung des Sozialismus käme den offiziellen Deklarationen der DDR als antifaschistischer Staat in der Praxis gleich. Ein solcher emanzipatorischer Traditionsbruch mit dem katastrophalen Kulturerbe rückt in den Szenen acht bis dreizehn jedoch in utopische

39 Ferne. In der achten Szene wird die reine Idee des Sozialismus, versinnbildlicht in der Figur Hilse, fast gesteinigt. Hilses Krebstod in der letzten Szene begräbt die Idee eines identitätsformenden Sozialismus. Hierbei gibt Müller seine Hoffnung auf Umschwung nicht völlig auf, jedoch formuliert er sie noch vager als in den ersten sechs Szenen. Das Ursprungsideal des deutschen Sozialismus, Hilse, stirbt am Makel des Stalinismus, eine von Moskau diktierte SED (=Krebs), von dem die Partei wegen ihres Identitätsverlusts bestimmt wird: „Wir sind eine Partei, mein Krebs und ich“ (GTB 76). Genia Schulz führt an, dass „Tod in Berlin 2“ eine Analogie zum Schluss von Hauptmanns Drama Die Weber ist, wobei Müller in seinem Stück das Schicksal Hilses zu Ende führt. Kreisförmig geht der Text, so Schulz, auf seinen Anfang zurück, zuerst zu der gescheiterten Novemberrevolution, dann zur Spaltung der Arbeiterbewegung. Dies verdeutliche das Scheitern aller revolutionären Aufstände in Deutschland einerseits und das Unvermögen der Arbeiter andererseits, den Nationalsozialismus zu bekämpfen und zu besiegen.41 Trotz allem hat Hilse in seiner Todesstunde eine Vision. Er sieht in der am Krankenbett stehenden Prostituierten die Wiederkehr der ermordeten Rosa Luxemburg. Müller zeichnet hier trotz Hoffnungslosigkeit die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Transformation an den entfernten Horizont. Das Mädchen ist eine vom Maurer geschwängerte Hure, wobei der Maurer zuerst glaubte, sich in eine „Heilige“ verliebt zu haben. Die Dialektik „Reinheit“ und „Deformation“ weist auf die noch unbekannte Zukunft, auf das ungeborene Kind. Raddatz erweitert die Vision Hilses, in der die Hure in eine Heilige umgewandelt wird, zu einer Emanzipation der Frau im Allgemeinen. Den Weg von der Hure zum Mädchen sieht er als Weg der Emanzipation und verbindet das Konzept der deutschen Arbeiterbewegung mit der Emanzipation der Frau.42 Keller sieht in der Vision Hilses eine zukünftige Sphäre, in der die Kämpfe innerhalb des Sozialismus aufhören, die deutsche Spaltung aufgehoben und damit die Belastung der Vergangenheit überwunden ist.43 Die Koppelung der Vision des „ewigen Maurers“ mit dessen Tod zeigt nochmals am Schluss von Germania Tod in Berlin, dass das Kräftespiel noch nicht ausgefochten ist.44 Diese Kopplung deutet auf die zukünftige Möglichkeit hin, den Sozialismus tatsächlich in die Realität umzusetzen. 41 42 43 44

Genia Schulz, Heiner Müller, 137. Frank-Michael Raddatz, Dämonen, 96. Andreas Keller, Drama und Dramaturgie, 208. Georg Wieghaus, Zwischen Auftrag, 227.

40 In seinem sechs Jahre später geschriebenen Drama Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei aus dem Jahre 1977 artikuliert Müller seine These über die Erblasten der DDR noch ausdrücklicher. Nach Meinung des Theatermanns gehen die Erblasten, die nicht in das verordnete Bild der staatlichen Geschichtskonstruktion passen, über den Nationalsozialismus hinaus. Obwohl sich die DDR als Spätprodukt der emanzipatorischen Aufklärung konstruiert, zeigt Müllers Leben Gundlings gerade die Widersprüche und das katastrophale Erbe der deutschen Aufklärung. Müllers Polemik wendet sich in Leben Gundlings gegen die Wurzeln einer „deutschen“ Mentalität, die in der Abrichtung des Körpers und in der Überhöhung der Rationalität im Zeitalter der Aufklärung zu finden sind. Somit zielt nach Müller die Aufklärung nicht auf die Realisation von Glücksansprüchen freier Individuen ab. Wolfgang Emmerich stellt heraus: Der Müller des Gundling-Stücks will […] das wirkliche Greuelmärchen nachzeichnen, das seiner Meinung nach die deutsche Variante von Faschismus produziert hat: den Prozess der Internalisierung subjektloser, gewalttätiger, menschenverachtender Wirklichkeitsproduktion.45

Die Kriege und Massenvernichtungen im 20. Jahrhundert, vor allem aber auch die totalitären Systeme, wie das Hitlerregime und die DDR, sind laut Müller die Konsequenzen dieser Erbschaft und ziehen die Entwürdigung und Vernichtung des Subjektiven und Menschlichen nach sich. Auf die Ähnlichkeit seines Arguments mit der Arbeit von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in Dialektik der Aufklärung (1944) ist in der Forschung hingewiesen worden.46 Im Zerbrechen des Individuums zeigt Müller in Leben Gundlings die Grundvoraussetzung für das spätere Funktionieren in einem totalitären System. Diese körperdisziplinierenden Maßnahmen sind die Voraussetzungen für aggressive und selbstzerstörerische Tendenzen, von denen die deutsche Geschichte und die DDR-Geschichte seit dem Preußentum geprägt ist. In der Demütigung Gundlings, Professor für Geschichte und 45

46

Wolfgang Emmerich. „Der Alp der Geschichte: ‚Preußen‘ in Heiner Müllers Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“. Deutsche Misere einst und jetzt. Hg.v. Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn: Bouvier, 1982. 125. Arlene A. Teraoka. The Silence of Entropy or Universal Discourse. The Postmodern Poetics of Heiner Müller. New York: Peter Lang, 1985. 76-79.

41 Rechtswissenschaften am Hof Friedrich Wilhelms I., zeigt der Soldatenkönig, wie mit den Ideen der Aufklärung umzugehen ist: „[I]m historischen Modell Gundling [ist] ein Modell gefunden, das die Zurichtung des Intellektuellen zu Herrschaftszwecken demonstriert“.47 Durch die systematische Erniedrigung des Intellektuellen und Repräsentanten der Aufklärung lernt der junge Friedrich II. von seinem Vater die Nichtigkeit der humanistischen Ideen und der Versittlichung des Einzelnen: FRIEDRICH WILHELM lacht: Nehm Ers als ein Exempel, was von den Gelehrten zu halten ist. Und für die Regierungskunst, die er lernen muß, wenn ich zu meinem Gott gehe, wie der Hofprediger sagt, oder in mein Nichts. Dem Volk die Pfoten gekürzt, der Bestie, und die Zähne ausgebrochen. Die Intelligenz zum Narren gemacht, daß der Pöbel nicht auf Ideen kommt. Merk Er sichs, Er Stubenhocker, mit seinem Puderquasten und Tragödienkram. Ich will, daß Er ein Mann wird. Kaut Er wieder Seine Nägel? Ich werd Ihm. (LG 12)

Die Ohnmacht des Intellektuellen zeigt die volle Inanspruchnahme des Staates, seinem Volk gegenüber als alleinige Institution in der Persönlichkeitsformung und Erziehung richtungsweisend zu sein. „Auch der Intellektuelle der DDR“, schreibt Schulz, steht vor der Wahl, entweder im besser verstandenen Emanzipationsinteresse seinen Staat zu kritisieren und ihm die sozialistischen Ideale entgegenzuhalten oder die machtpolitische degenerierte Gestalt des realen Sozialismus zu internalisieren, sich zum ‚Rädchen und Schräubchen‘ (Lenin) des sozialistischen Kulturbetriebs zu machen und damit Teilhabe an der Macht zu erringen – unter Preisgabe von Substanz an emanzipatorischer Phantasie.48

Leben Gundlings verdeutlicht, wie Friedrich II. im Laufe seiner Kindheit und Jugend am eigenen Leib erfährt, was die Erziehung seines Vaters bedeutet. Dem künstlerisch veranlagten Friedrich II. wird jegliche Form von Kunst und Körperlichkeit ausgetrieben. Seine homosexuellen Neigungen und musischen Veranlagungen laufen dem autoritären Anspruch des Vater(staat)s zuwider. In der körperlichen Abrichtung Friedrichs II. und in der Ermordung seines Freundes Katte macht der Vater(staat) seinen absoluten Anspruch geltend. Das Individuum wird vom Staat, und vom Staat allein bestimmt: „Ich werd Ihm das Arschficken austreiben und das 47 48

Wolfgang Emmerich, „Der Alp der Geschichte“, 128. Genia Schulz, Heiner Müller, 144.

42 Französischparlieren. Halt er sich grade. Ich will einen Mann aus Ihm machen und einen König. Und wenn ich Ihm alle Knochen im Leib zerbrechen muß dazu“ (LG 15). Die Tötung seines Geliebten Katte stellt eine entscheidende Wende im Leben Friedrich II. dar. Die Hinrichtung versinnbildlicht das Abtöten alles Körperlichen, Künstlerischen und Subjektiven. Friedrich II. ist kein autonomes Subjekt mehr: FRIEDRICH WILHELM steht auf: Das war Katte./ FRIEDRICH: „Sire, das war ich“ (LG 16). Vielmehr identifiziert sich Friedrich II. von nun an mit dem Staat und mit seiner von ihm zugeschriebenen Position: „Ich wollte, ich wär mein Vater“ (LG 16). Er ist ein genauso ruchloser Herrscher wie sein Vater geworden. Die Unterdrückung von natürlichen Bedürfnissen und die Verinnerlichung von „preußischen“ Normen in der Abschaffung des Humanen zugunsten einer „Männlichkeit“ züchtet Gewaltbereitschaft und Brutalität. Die Verwertbarkeit des Menschen in einem totalitären System wie Preußen ist in der absoluten Hörigkeit des Einzelnen dem Staat gegenüber angelegt. Dazu Emmerich: Schon vor mehr als 250 Jahren, zu einer Zeit also, als „bürgerliche Gesellschaft“ noch nicht einmal begonnen hatte sich zu entfalten, setzt Müller ein prinzipiell deformiertes – weil instrumentelles, dem Staatszweck unterworfenes – Verhältnis zwischen Volk, Intellektuellen und denen, die die Richtlinien der Politik bestimmen, an; womit schon vorgezeichnet ist, daß Müller PreußenDeutschland bürgerliche Aufklärung im emphatischen Sinne generell abspricht.49

In der darauffolgenden Szenenüberschrift ACH WIE GUT DASS NIEMAND WEISS DASS ICH RUMPELSTILZCHEN HEISS oder DIE SCHULE DER NATION Ein patriotisches Puppenspiel verdeutlicht Müller die Wirkungskontinuität von Preußen nach Stalingrad. In einer von Friedrich II. – nun ein Abbild seines Vaters – geführten Schlacht marschieren Soldaten in Wehrmachtsuniform ins Feuer. Die Brutalität Friedrichs II. drückt sich in einer von Müller grotesk übersteigerten Handlung aus: Der Preußenkönig erteilt jedem aus der Schlacht zurückkehrenden Soldaten eine Zensur, und nur die Toten erhalten die Note eins. Es geht Müller hier […] um die bruchlose Kontinuität, ja Identität von Preußentum und Faschismus: Die Preisgabe der Selbstbestimmung zugunsten autoritärer Fremdbestimmung […] prä49

Wolfgang Emmerich, „Der Alp der Geschichte“, 129.

43 figuriert die gleichgerichtete faschistische Wirklichkeitsproduktion 150 Jahre später.50

Auf die Demütigung und letztendliche Vernichtung des Intellektuellen Gundling folgt im Schlussbild ein weiterer Repräsentant der Aufklärung: Gotthold Ephraim Lessing. Mit dieser Figur vollendet Müller das Bild einer nicht stattgefundenen Aufklärung, deren Repräsentanten als Verbesserer und ästhetische Erzieher vor den Mächtigen als hilflose Narren dastehen. Das Projekt einer bürgerlichen Aufklärung wird von dem Dramatiker in diesem Stück als gescheitert erklärt. So trägt die Lessingfigur vor: „Die Geschichte läuft auf toten Gäulen ins Ziel“ (LG 34). Mit der Verabschiedung der Hoffnung auf eine Revolution durch die Vernunft schwingt hier auch eine Kritik am Marxismus mit, dessen Ideologie auf die fortschreitende Verbesserung der Menschheit basiert. Die Kontinuität der Erziehungsdiktatur verdeutlicht Müller mit dem Kurzdrama Der Findling, fünfter und letzter Teil seiner Dramenreihe Wolokolamsker Chaussee. Hier wird ein überzeugter Kommunist in den Kriegsjahren von einem Nazi impotent geprügelt. Nach dem Krieg lebt der Kommunist in der DDR und adoptiert einen Sohn, der die Lücke in der Familie schließen soll. Jedoch rebelliert der Sohn gegen die Ideologie des Vaters und wird, in Parallele zu Friedrich II., durch körperliche Abrichtung zu einem staatsentsprechenden Funktionieren gezwungen. In dieser Abrichtung stellt der Schrifsteller in Der Findling die konkreten Erscheinungsformen einer Erziehungsdiktatur im 20. Jahrhundert als Verlängerung des preußischen Erbes dar. Mit Der Findling kommt der Ausverkauf der DDR klar zum Ausdruck, und Grund hierfür ist, wie Pam Allen schreibt, die staatliche Unterdrückung der problematischen Vergangenheit.51 Im Text wird deutlich, dass der Traum von einem gesellschaftlichen Umbruch mit der Existenz des „Arbeiter- und Bauernstaates“, auf einen „Sozialismus ohne Panzer“ (F 68), nicht eingelöst worden ist. Julia Hells Analyse einzelner Texte aus der DDR basiert auf den in Erscheinung tretenden Körper kommunistischer Väter. In ihrem Buch Post-Fascist Fantasies zeigt sie, dass die ideologische Formation des Antifaschismus-Diskurses in Phantasien transportiert wird, die ihren Kern in der Kleinfamilie haben. Als Kommunisten stehen die Väter im Mittelpunkt, die das ungebrochene männliche Erbe an die Söhne weitergeben 50 51

Ebd., 137. Pam Allen. Heiner Müllers ‚Wolokolamsker Chaussee‘: Confronting the Past with Poetic Counterstrategies. Dissertation Indiana University, 1990. 96.

44 sollen. In der Familie resultiert die Identifikation mit dem Körper des Vaters in der Phantasie eines post-faschistischen Körpers. Die Konstruktion antifaschistischer Väter fungiert laut Hell in der DDR-Literatur als wichtigste Ikone für die Legitimation des antifaschistischen Diskurses. Hell zeigt, dass Sexualität als Teil der Subjektivität definiert ist, die das Subjekt an seine faschistische Vergangenheit bindet. Das neue Subjekt, der post-faschistische Körper, ist daher ein Ergebnis ausgelöschter Sexualität. Hell deutet so den Antifaschismus nicht nur als einen politischen Diskurs, sondern auch als in die Psyche des post-faschistischen Subjekts eingeschrieben, „[a]nd the body ist the object around which unconscious fantasies about the past crystalize“.52 In Der Findling steht eine Vater-Sohn-Beziehung im Mittelpunkt. Der post-faschistische Körper des Vaters ist von der Vergangenheit gekennzeichnet: Sein Geschlecht wurde ihm von einem Nazi in den Kriegsjahren verstümmelt. Somit sind die Spuren der Vergangenheit in seinen Körper eingeschrieben. Folgt man Hells Interpretation, so wird in der Zertrümmerung des Geschlechts das neue, post-faschistische Subjekt hergestellt, das von seiner eigenen Sexualität losgelöst ist. Die Weitergabe des kommunistischen Erbes an die nächste Generation kann daher aber nicht auf natürliche Weise geschehen. Der Kommunist adoptiert einen Sohn, der die entstandene Lücke in der Familie zu schließen hat: Ein Bündel Elend Ich kam aus dem Lager Zerprügel mein Geschlecht Kein Kind mehr Du Warst meine Zukunft Alles haben wir In dich hineingestopft Das ist der Dank (F 70)

Jedoch gibt es für den Adoptivsohn keinen Ort einer Identifikation. Der von Sexualität gelöste Körper des Vaters wird als ortlos beschrieben, als „Gespenst in Uniform“ (F 75), er wird vom Sohn wie folgt wahrgenommen: „Ich sah nur seinen Schatten Licht im Rücken“ (F 68). Eine Identifikation mit dem Vater, der das Erbe des Kommunismus weitergeben soll, kommt durch die Ortlosigkeit des väterlichen Körpers nicht zustande. Durch das Schattendasein des Vaters beschreibt Müller einen Kommunismus, der nicht mehr identitätsspendend ist: Wie redet man mit einem Leitartikel Und wie umarmt man ein Parteiprogramm […] 52

Julia Hell. Post-Fascist Fantasies. Psychoanalysis, History, and the Literature of East Germany. Durham: Duke University Press, 1997. 255.

45 Mein Vater eine leere Uniform Und manchmal ein Gespenst in meinem Nacken Dreh dich nicht um Dehnvater ist ein Schlächter […] Willst du heraus aus deiner Uniform Aus deinem Würgegriff mit Schlips und Kragen Weißt du ob du darunter noch ein Mensch bist. […] Ein Gespenst in Uniform das schlägt und tritt. (F 71, 72, 73, 75)

Der identifikationslose Kommunismus gibt dem Sohn keinen Halt. Er wünscht sich, seinen leiblichen Vater zu finden: „Genosse Vater Und mein Vater nicht/ Wie oft hab ich gewollt du wärst mein Vater/ statt der Genosse der mich adoptiert hat“ (F 69). Indem er den post-faschistischen Körper seines Vaters nicht ausfindig machen kann, rebelliert der Sohn gegen den Vater. Deshalb muss die Identifikation durch körperliche Gewalt von außen herbeigeführt werden. Doch versucht der Sohn der körperlichen Abrichtung zu entgehen: „Ich sagte Ich will eine Tochter sein“ (F 72). Sein Wunsch, aus seinem Körper auszusteigen und einen anderen anzunehmen, den einer Frau, ist mit den homosexuellen Neigungen Friedrich II. in Parallele zu setzen, der durch seine Homosexualität seine Individualität ausdrücken möchte. So wie Friedrich Wilhelm aus seinem Sohn einen Mann und einen König machen will („Und wenn er Ihm alle Knochen im Leib zerbrechen muß dazu“, LG 15), bricht auch der Vater dem Findling „das Kreuz“: Der Sohn bezahlt seine skeptische Haltung dem (Vater-)Staat gegenüber mit Jahren im Zuchthaus, in das er wiederholt unter tätiger Mithilfe seines Vaters eingeliefert wird. Die erzieherischen Maßnahmen der DDR gegen ideologisch Andersgesinnte machen auch nicht vor Mord halt. In Analogie zur staatlichen Hinrichtung von Friedrichs Freund Katte verliert auch der Sohn in Der Findling seinen besten Freund: „Mein bester Freund erschossen an der Mauer/ Er hat sie hinter sich Ich habe sie vor mir“ (F 74). Der hier beschriebene Vater-Sohn-Konflikt schließt den Kreis eines im 18. Jahrhundert angesiedelten staatlichen Totalitätsanspruchs. Die Brüchigkeit des kommunistischen Erbes wird in Der Findling als nicht auffindbarer Vaterkörper dargestellt, so dass nur durch brutale Gewalt am Körper des Sohnes ein staatgerechtes Funktionieren herbeigeführt werden kann. Die Absenz der Sexualität als trügerisches Zeichen des antifaschistischen Diskurses wird anhand des zertrümmerten Geschlechts verdeutlicht. Der Wunsch des Sohnes, „Ich wollt ich wär mein Vater“ (F 75), zeigt den Sieg des Vaterstaats über sein Volk, artikuliert aber zugleich die wiederholte Suche nach dem Körper des Vaters. Durch den

46 fehlenden Ort der Identifikation bleibt der Platz des Vaters schließlich unbesetzt. So endet der Text mit der erneuten Einlieferung des Sohnes ins Gefängnis: „Dann das Geläut des Telefons als er/ Den Hörer aufnahm und wählte die Nummer“ (F 75). Die Abwesenheit des väterlichen Körpers wird durch einen anderen Ort ersetzt: den des Gefängnisses. Dort wird der Dis-Identifikation die körperliche Abrichtung entgegensetzt, um das System DDR aufrecht zu erhalten. Die kommunistische Überzeugung des Vaters in Der Findling wird durch die Widersprüche des realexistierenden Sozialismus im Jahr des Mauerbaus zutiefst erschüttert. Dies treibt ihn in einen Selbstmordversuch, der vom Sohn mit der Hilfe der Staatssicherheit vereitelt wird. Der Vater möchte durch seinen versuchten Selbstmord sich und damit das verfehlte Projekt des Kommunismus aus dem Weg schaffen. Müller fügt seinem Text sieben Mal den Wunsch bei, vergessen zu können: „VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN“. Hier macht der Schriftsteller deutlich, dass das, was eigentlich vergessen werden soll, nämlich die verlorenen Ideale des Kommunismus, nicht vergessen werden kann. Der Staat DDR als direkter Nachfahre der preußischen Herrschaftsstrukturen lässt die Ideale des Kommunismus als untotes Gespenst durch die Abgründe der Erinnerung geistern: Wo das Gespenst des Kommunismus umgeht Klopfzeichen in der Kanalisation VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN Begraben immer wieder von der Scheiße Und aus der Scheiße steht es wieder auf VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN Dreht seine Runden und geht seinen Gang. (F 72)

Die Vergleiche, die Müller zwischen dem Preußentum und der Gegenwart der DDR zieht, sind im früheren Stück Leben Gundlings keinesfalls nur auf Europa beschränkt. In Leben Gundlings tritt die Lessingfigur im zweiten Bild der letzten Szene auf einem Schrottplatz im amerikanischen Dakota auf, das die USA als „gigantisches Spätprodukt der Aufklärung“53 zeigt. Die ausnahmslos profitorientierte amerikanische Gesellschaft ignoriert die menschlichen Belange. Lessings dramatische Figuren Nathan und Emilia tragen entleerte Zitate aus den beiden Lessingstücken vor. Seine Lehren von Harmonie zwischen Natur und Vernunft sind zu bloßen Worthüllen entstellt, die von Polizeisirenen übertönt werden. Emilia und 53

Genia Schulz, Heiner Müller, 147.

47 Nathan töten einander. Angedeutet durch den Ort des Geschehens und durch den zum Roboter degradierten letzten amerikanischen Präsidenten, dessen Auftritt musikalisch von Pink Floyds „Welcome to the machine“ untermalt wird, zeigt Müller, dass die Macht- und Staatsmaschine unbeirrt weitergelaufen ist, in der der Mensch auf der Strecke geblieben ist. Im letzten Bild in Leben Gundlings wird dem wortgewandten Aufklärer Lessing das Wort abgeschnitten. Mit der Überschrift „Apotheose Spartakus Ein Fragment“ betitelt Müller die Aktion Lessings, der im Sandkasten wühlt und Gliedmaßen ausgräbt; schließlich wird ihm eine Büste seiner selbst übergezogen. Ein entleertes Bildungsgut steht auf der Bühne. Die Utopie einer marxistischen und auf der Tradition der Aufklärung beruhenden Weltrevolution ist kaum noch vorstellbar. Anstatt der gewünschten Befreiung geht die Katastrophe weiter, die Müller mit der Stimmenprojektion kurz vor dem letzten Bild veranschaulicht: Begraben zwischen der „STUNDE DER WEISSGLUT TOTE BÜFFEL AUF DEN CANYONS GESCHWADER VON HAIEN […]“ und dem „SOHN DER TOTEN“ liegt die Utopie, „MENSCHEN AUS NEUEM FLEISCH“ (LG 36). Der Titel des letzten Bildes deutet auf die unerlöste Geschichte hin und verweist darüber hinaus auf den 71 v. Chr. niedergeschlagenen Sklavenaufstand unter der Führung von Spartakus und die gescheiterte Novemberrevolution der Spartakisten in Deutschland im Jahre 1918. Müller schließt sein Anti-Aufklärungsstück thematisch mit dem Scheitern der sozialistischen Bewegung in Deutschland. Mit der Darstellung der Nichtigkeit des Geschichtsoptimismus bürgerlicher Aufklärung in Leben Gundlings und Der Findling verdeutlicht Müller den Mythos einer Emanzipation, als deren Produkt sich die DDR versteht. Wenn noch die Figuren Hilse, der junge Maurer, der Schädelverkäufer und der Alte in Germania Tod in Berlin als Versinnbildlichung eines zu erwartenden Sozialismus fungieren, gibt es in dem Preußenstück und dem DDR-Kurzdrama keine derartigen Figuren mehr. Denn die Hoffnungsträger der Revolution, die Figuren Friedrich II. in Leben Gundlings und der Sohn in Der Findling, sind vom Staat zurechtgestutzte Teile eines Ideologieapparats. Müller zeigt die Unfähigkeit der sozialistischen Bewegung, einen echten Neuanfang zu schaffen. Die DDR und deren Selbstverständnis als antifaschistischer Staat wird somit aus den Angeln gehoben.

48 1. 3. Die Auferstehung der Revolution Obwohl Müller in der DDR stets den Staat sieht, in dem er eine grundsätzliche gesellschaftliche Veränderung für möglich hält, beschreibt er seit Ende der siebziger Jahre immer wieder den totalen Ausverkauf der DDR. Da der erhoffte gesellschaftliche Umschwung durch die Gründung und Existenz der DDR ausbleibt und von dem Marxisten Müller deshalb als geschichtlich stagnierender Staat gekennzeichnet wird, sucht der Theatermann spätestens seit Anfang der achtziger Jahre nach anderen Quellen gesellschaftlichen Umschwungs. In den Worten Richard Herzingers: „Heiner Müller’s central theme, indeed obsession, […] is the question of how the dying communist idea can be restored to life“.54 Müllers Dramen dieser Zeit, Der Auftrag und Anatomie Titus Fall of Rome, spiegeln seine Suche nach der Revolution außerhalb Europas wider. Anlässlich des Büchnerpreises stellt Müller 1985 in seiner Rede „Die Wunde Woyzeck“ einen Menschen vor, der für ihn eine Versinnbildlichung des unter der Vorherrschaft von Nationalsozialismus und Stalinismus instrumentalisierten deutschen Proletariats ist: „Woyzeck lebt, wo der Hund begraben liegt, der Hund heißt Woyzeck. Auf seine Auferstehung warten wir mit Furcht und/oder Hoffnung, daß der Hund als Wolf wiederkehrt. Der Wolf kommt aus dem Süden“.55 Die für den Dramatiker zugeschüttete Revolution wird durch den „Wolf des Südens“ freigelegt. Hier liegt die neue historische Kraft, die den Bruch mit Preußentum und Faschismus endlich vollziehen soll. Dazu schreibt Herzinger: Müller integrates his image of history a vitalist critique of civilization, developing a cultural-philosophical explanatory model for the failure of the revolution in Europe. The revolution, as Müller now sees it, has been unable to succeed because of its rationalist, alienated relationship to the elemental, to ‚life‘ and ‚death‘.56

In Der Auftrag steht mit Sasportas zum ersten Mal eine anti-europäische, anti-intellektuelle Figur im Mittelpunkt des Textes. Die europäi54

55

56

Richard Herzinger. „Deutschland ortlos: Heiner Müller’s Image of Germany in the Context of German Cultural Criticism“. Heiner Müller. ConTEXTS and HISTORY. Hg.v. Gerhard Fischer. Tübingen: Stauffenburg, 1995. 103. Siehe auch: Richard Herzinger. Masken der Lebensrevolution. Vitalistische Zivilisationsund Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. München: Fink, 1992. Heiner Müller. „Die Wunde Woyzeck“. Shakespeare Factory 2. Berlin: Rotbuch, 1989. 263. Richard Herzinger, „Deutschland ortlos“, 105.

49 schen Intellektuellen, wie Friedrich II., Lessing oder Gundling, werden durch die Figur Sasportas abgelöst.57 „Das Theater der weißen Revolution ist zu Ende. Wir verurteilen dich zum Tode, Victor Debuisson. Weil deine Haut weiß ist. Weil deine Gedanken weiß sind unter deiner weißen Haut“ (AF 56). Sasportas als Farbiger ist die Dritte-Welt-Revolution. Wenn Müller mit Leben Gundlings vor allem das Scheitern der europäischen Tradition beschreibt und so das Leerlaufen der Geschichte zur Sprache bringt, versinnbildlicht nun die Figur Sasportas den erhofften Bruch mit der gesamten europäischen Geschichte. Sasportas formuliert, wofür er steht und woher die Kräfte der Revolution kommen, die das Gegenteil einer europäischen, rationalen und technologisierten Welt sind: Mit jedem Herzschlag der Revolution wächst Fleisch zurück auf ihre Knochen, Blut in ihre Adern, Leben in ihren Tod. Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein, unsere Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt. Ich werde Wald sein, Berg, Meer, Wüste. Ich, das ist Afrika. Ich, das ist Asien. Die beiden Amerika bin ich. (AF 69)

Müller entwickelt so eine Gegensatzlogik, die im Anderen, Nicht-Europäischen, Nicht-Zivilisierten den Hoffnungsträger eines gesellschaftlichen Umschwungs im Sinne von Marx sieht. Zugleich entwirft er in dieser Logik das Leben selbst als Gegensatz zur Revolution. Die Revolution wird mit dem Tod gleichgesetzt. So heißt es in Der Auftrag acht Mal in großen Lettern: DIE REVOLUTION IST DIE MASKE DES TODES DER TOD IST DIE MASKE DER REVOLUTION. Sasportas als Versinnbildlichung der Revolution hat daher keine Angst vor dem Tod und ist fähig, eine authentische Erfahrung mit dem Tod zu machen. Somit kann und wird der schwarze Sasportas sterben, denn sein Körper und seine Geschichte ist ein und dasselbe.58 Er schreit: „Das Elend mit euch ist, ihr könnt nicht sterben. Darum tötet ihr alles um euch herum“ (AF 56). Im Gegensatz zum Afrikaner Sasportas hat der weiße Debuisson Angst vor dem Sterben, denn er hat keine authentische Beziehung zum Tod. Am Ende des Stückes gibt Debuisson die Revolution auf und wünscht sich, materielle Privilegien zu genießen. Der Preis dafür ist der Verlust seines Gedächtnisses und somit seiner Identität. „Debuisson griff nach der letzten Erinnerung, die ihn noch nicht verlassen hatte […] 57

58

Arlene A. Teraoka. EAST, WEST, and the Others: The Third World in Postwar German Literature. Lincoln: University of Nebraska Press, 1996. 111. David Bathrick, The Powers of Speech, 148.

50 Dann warf sich der Verrat auf ihn […]“ (AF 70). Die Ästhetisierung des Todes in Der Auftrag hat zur Konsequenz, dass Müller die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Alternative mit der Möglichkeit der Todeserfahrung gleichsetzt. Dazu schreibt Brad Prager: „In The Task Müller exchanges much of the historical specificity and context of his critique for his claim on a privileged and therefore transcendental or transhistorical access to death itself“.59 Müllers Antifaschismuskritik wird in Der Auftrag zu einer europäischen Zivilisationskritik weiterentwickelt und mit Anatomie Titus Fall of Rome 60 zu einer Missbilligung gegen den westlichen Kapitalismus ausgebaut. Diejenigen Elemente, die in diesen Texten als Metapher für die Revolution stehen – das Andere und Ausgegrenzte, das Unterdrückte, der Osten und der Süden, die Natur und der Körper, die Irrationalität und der Tod – können einen radikalen Bruch mit der (deutschen) europäischen Geschichte vollziehen und einen echten Neuanfang herbeiführen. Die Gegenbegriffe zur Revolution sind das Bekannte, das Akzeptierte, der Westen und der Norden, liegen in der körperlichen Abrichtung, Rationalität und dem Leben. Diese für die Revolution gegensätzlichen Elemente sind es nach Auffassung Müllers, welche die Wirkungskontinuität der ausverkauften europäischen Geschichte weiterführen. Hoffnung auf echte Änderung ist nur dann gegeben, wenn die beschriebenen „Triebkräfte“ der Müller’schen Revolution freigesetzt werden. Herzinger weist darauf hin, dass Müller hier an eine konservative Tradition anknüpft, die das Konzept „Leben“, „Natur“ und „Natürlichkeit“ gegen einen Rationalismus setzt, der die „organische Einheit“ des Lebens verweigert. Diese nach Herzinger „politische Romantik“ sieht den Westen als Synonym für die kulturelle Kolonialisation, deren Ursprung in der römischen Zivilisation liegt. Moderner Kapitalismus, Liberalismus und Industrialismus haben nach dieser Vorstellung ihren Ursprung im römischen Gesetz.61 So heißt es in Anatomie: „DAS GROSSE ROM DIE HURE DER KONZERNE“ (ATR 128), eine Zivilisation, die zerstört werden wird: „EIN NEUER SIEG VERWÜSTET ROM DIE HAUPTSTADT“ (ATR 126). Rom, Synonym für den Westen in Anatomie, ist durch die Ausbeutung der kolonisierten Länder reich geworden, doch 59

60

61

Brad Prager. „The Death Metaphysics of Heiner Müller’s The Task“. New German Critique 73 (1998). 80. Müller lehnt sein Stück an Shakespeares Titus Andronicus, siehe dazu: Arlene A. Teraoka. EAST, WEST, and the Others, 119-126. Richard Herzinger, „Deutschland ortlos“, 106.

51 wegen andauernden Machtkämpfen steht Rom kurz vor seiner Zerstörung. Der Farbige Aaron, als Sklave in die Metropole verschleppt, inszeniert durch Mord und Intrigen den Untergang Roms. Wie Sasportas, so handelt auch Aaron in Eigenregie und nimmt als Repräsentant der Dritten Welt eine zentrale Rolle im Stück ein. Die Revolution kommt zurück nach Europa und nimmt Rache am Westen: Aaron. DER NEGER IST SEIN EIGNER REGISSEUR ER ZIEHT DEN VORHANG AUF SCHREIBT DEN PLOT SOUFFLIERT LEHRT SEINE WÖLFE IHREN REISSZAHN ÜBEN AM REH DES TAGES TÖTEN SEINEN HIRSCH SIE LERNEN SCHNELL AN IHREM ERSTEN SCHULTAG ER SCHAUFELT IN DIE GRUBE WAS IHM QUER KOMMT UND MIT GEZINKTEN KARTEN SPIELT SEIN SPIEL AUF DEM THEATER SEINER SCHWARZEN RACHE (ATR 142)

Den radikalen Bruch mit der Wirkungskontinuität Roms (der Aufklärung, des Preußentums, des Nationalsozialismus) sieht Müller ab Mitte der 80er Jahre nur noch in der totalen Zerstörung des Westens gegeben. Dem Farbigen Aaron wird in Parallele zu Der Auftrag mit Titus Andronicus eine weiße Figur entgegengesetzt. In diesem Gegensatzpaar Aaron-Titus komplettiert Müller die Ästhetisierung des Todes. Der Römer Titus, „ROMS ERSTES SCHWERT“ (ATR 126) führt den Krieg gegen die unterdrückten Goten, „der Gote ist ein Neger ist ein Jude“ (ATR 222). Die Figur Titus versinnbildlicht die europäische Tradition. Wie Debuisson vertritt auch er das Leben; wenn er sich zum Kampf gegen die Goten rüstet, dann bereitet er sich auf einen Kampf mit den Toten aus dem Totenreich vor: „MAN TRITT INS TOTENREICH IN FORMATION […] DIE TOTEN STEIGEN AUS DER SCHEISSE ROMS“ (ATR 126). Die Revolution ist gleichgesetzt mit der Auferstehung der Toten. Dazu Teraoka: „[M]üller engages in a strategy of resurrection in which the dead victims „rise up“ to avenge themselves and to rewrite the literary masterworks of Europe“.62 Teraoka deutet Titus’ 62

Arlene A. Teraoka, EAST, WEST, and the Others, 133.

52 Selbstverstümmelung, die Ungerechtigkeiten, die ihm und seinen Kindern widerfahren, und sein Verrücktwerden gepaart mit Kannibalismus am Ende des Dramas als Vision, in welcher der Europäer selbst den Bruch mit seiner Tradition vollzieht. Er wird sich auf die Seite der Goten schlagen und gemeinsam mit ihnen Rom zerstören.63 Mit dem Sklaven Aaron, der Rom besiegt, „SCHLAGEN DIE GOTEN DIE HAUPTSTADT DER WELT MIT PFEILGEWITTERN AN DAS KREUZ DES SÜDENS“ (ATR 222). Der Dramatiker setzt hier seine These vom Überschwappen der Dritten Welt nach Europa szenisch um. Diejenigen, die von der Geschichte der Zivilisation und Rationalität an den Rand gedrückt und von ihr ausgeschlossen worden sind, so Afrika und Asien, kommen zurück und erobern den Westen. Der „Neger“, der eine andere Zeitrechnung hat, „DER NEGER SIEHT DAS RÖMISCHE TRAUERSPIEL AUS DER KULISSE SEINES WELTTHEATERS DER NEGER SCHREIBT EIN ANDRES ALPHABET GEDULD DES MESSERS UND GEWALT DER BEILE“ (ATR 156), siegt letztlich über die westliche Zivilisation und kann den Bruch mit der Geschichte endlich herbeiführen. Den Sieg beschreibt der Autor als eine Invasion der Wildnis, die über die Zivilisation wächst, „GRAS SPRENGT DEN STEIN DIE WÄNDE TREIBEN BLÜTEN“ (ATR 140). So deutet Müller das Scheitern der Oktoberrevolution in einen Sieg um und kann auch seinen Glauben an den Marxismus in Anbetracht des totalen Ausverkaufs aufrecht erhalten. Er konstatiert 1991: „Die eigentliche Funktion der Oktoberrevolution bestand darin, die Welt gegen Europa in Bewegung zu setzen. Der Preis dafür war das Einfrieren der Idee des Kommunismus“.64 Indem er in allen nicht-westlichen, anti-europäischen (sprich: nicht-kapitalistischen) Ländern eine Bastion gegen die römische Zivilisation sieht, erweitert Müller seine Kritik am Faschismus zu einer anti-kapitalistischen. Demnach wurden die revolutionären Kräfte zuerst vom Westen kanalisiert (Hitler als ewiger Römer) und dann in den Osten exportiert (Lenin und Stalin als kolonisierte Römer). Die sozialistische Revolution ist eine Revolte gegen den Kapitalismus und die westliche Welt geworden. Die einzige Entwicklung, die laut Müller noch vom Kapitalismus ausgeht, ist die „Hochzeit von Mensch und Maschine“.65 Die Maschine ist der Apparat, der die Revolution, d.h. die Geschichte exekutiert. Das 63 64 65

Ebd., 134. Heiner Müller, Jenseits der Nation, 79. Ebd., 87.

53 Zeitalter der Maschine ist für den Schriftsteller das logische Endprodukt von Rationalisierungsprozessen, deren Wurzeln in der Aufklärung liegen. Die Maschine ist der Inbegriff geschichtlichen Stillstands und menschlicher Entfremdung. Die Logik des Kapitalismus ist für Müller der Mensch als Rohstoff; mit dem Einsetzen des Zeitalters der Maschine in den hochentwickelten Technologieländern vollzieht sich die Verabschiedung des Humanen. Nur die klar unmaschinellen Kräfte, nämlich die „naturverbundenen“ und somit „authentischen“ Energien, wie sie in den Figuren Sasportas und Aaron veranschaulicht sind, können „die Hochzeit von Mensch und Maschine“ aufhalten. Die Maschine als letztes Stadium der Aufklärung arbeitet am Verschwinden des Menschen, sie bestimmt die Zeit, kolonisiert die Sinne und verhindert Erfahrung und Wirklichkeit. Für Müller ist Auschwitz die Konsequenz dieser Logik: „Auschwitz [ist] ein Industrieprodukt“.66 Müller beschreibt darüber hinaus die Berliner Mauer als „Zeitmauer“67, die ein Reservat biologischer Zeit gegen die westliche Beschleunigung darstellt. „Die Mauer“, schreibt Horst Domdey über Müllers Definition, „das sichtbare Symbol der Diktatur, erscheint hier anthropologisch legitimiert“.68 Die Revolution im Hinblick auf die Maschine muss das Verhältnis von Mensch und Technik auf ein humanes Niveau heben. Es ist die Revolution, die Versöhnung zwischen Mensch und Maschine bringt und den nächsten Schritt der Evolution des Menschen einläutet. Müller sieht die utopische Einheit zwischen Mensch und Maschine, wenn er schreibt: WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE ist nach GERMANIA und ZEMENT der Dritte Versuch in der Proletarischen Tragödie im Zeitalter der Konterrevolution, das mit der Einheit von Mensch und Maschine zu Ende gehen wird, dem nächsten Schritt der Evolution (der die Revolution voraussetzt und Drama nicht mehr braucht).69 66 67 68

69

Ebd., 84. Ebd., 39. Horst Domdey. „‚Maschine‘ in späteren Texten Heiner Müllers“. Heiner Müller – Rückblicke, Perspektiven. Hg.v. Theo Buck und Jean-Marie Valentin. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1995. 178. Siehe auch: Horst Domdey. „Historisches Subjekt bei Heiner Müller“. Spiele und Spiegelungen von Schrecken und Tod. Hg.v. Paul Gerhard Klussmann und Heinrich Mohr. Bonn: Bouvier 1990. 94. Heiner Müller. „Nachbemerkung zu Wolokolamsker Chaussee“. Die Schlacht. Wolokolamsker Chaussee. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, 1988. 84.

54 Domdey beschreibt den für Müller wichtigen Bedingungszusammenhang von Revolution und Evolution.70 Wenn eine Bejahung der Technik noch von Lenin artikuliert wird, „Sozialismus ist Arbeitermacht plus Elektrifizierung“71, sieht Müller diese Möglichkeit im Kapitalismus nicht mehr gegeben. Der Theatermann hält an einer marxistischen Weltanschauung fest und gibt das Konzept der Revolution als einzige Quelle des gesellschaftlichen Umschwungs nie auf. Die Revolution wird im Laufe seiner schriftstellerischen Tätigkeit umdefiniert, aber keinesfalls ortlos. Sie wird zuerst an Deutschland, dann an die DDR und schließlich an die Dritte Welt und die östlichen Länder gebunden. Wenn Müller die globale Entwicklung von einer industriellen zu einer hochtechnologisierten Welt beschreibt, dann versucht er, „diese[s] menschheitsgeschichtliche Großpanorama mit der Geschichte des Sozialismus zu vermitteln“.72 Der Begriff des „Westens“ bezieht sich später, in den achtziger und neunziger Jahren, nicht mehr nur auf Westdeutschland, sondern wird ausgebaut auf die gesamte westliche Welt. Im Westen findet sich Müllers erweitertes „Feindbild“: das des Faschisten und des Kapitalisten. Müllers Antifaschismuskritik hat sich in eine Zivilisationskritik verwandelt.

2. Österreich: Elfriede Jelinek. „Es wird alles unter den Teppich gekehrt“ Eine Konfrontation mit der Nazivergangenheit hinsichtlich der Verwicklung in Nazimachenschaften bleibt nach 1945 auch in Österreich aus. Auch hier wird ein Diskurs konstruiert, der mögliche und offensichtliche Verstrickungen mit dem Faschismus verschwinden lässt. Der Diskurs einer historischen Unschuld seit dem Zweiten Weltkrieg unterscheidet sich im Inhalt von dem Diskurs des Antifaschismus in der DDR, jedoch nicht im Zweck: In Österreich artikuliert man seine Unschuld gegenüber jeglichen Verstrickungen in das Terrorregime der Nazis und weist die Verantwortung den Deutschen zu. Die Republik war, so der Unschuldsdiskurs, mit dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich 1938 erstes

70 71 72

Horst Domdey, „Maschine“, 174-175. Ebd., 174. Ebd., 173.

55 Opfer der Nazidiktatur. Die Begeisterung von 1938, Teil des Reiches zu werden, wird durch diese Opferkonstruktion ausgeblendet.73 Die ersten Schritte einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte von 1938-45 werden erst während der Waldheim-Affäre 1986 unternommen.74 Die internationale Kontroverse um den österreichischen Präsidenten Waldheim, seine politische Ideologie während seiner Kampagne 1986 und seiner Amtszeit, sowie seine ehemaligen Beziehungen zum Naziregime während der Kriegsjahre 1941-45 in Griechenland, die in Verbindung mit der Deportation griechischer Juden stehen, machen Waldheim zu einem Symbol für Österreichs Versagen, die eigenen Naziverwicklungen aufgearbeitet zu haben.75 Die Behauptung, ein Opfer der Nazis gewesen zu sein, kann die österreichische nationale Identität als unschuldig erscheinen lassen. Die hier zur Sprache kommenden Texte Jelineks wenden sich gegen diese scheinbare historische Unschuld und enthüllen einen darunter liegenden faschistoiden Diskurs. Jelinek beschreibt ihre Auseinandersetzung mit dem totgeglaubten Faschismus als eine Besessenheit: Wir versuchen ständig, die Toten von uns abzuhalten, weil wir mit dieser Schuld nicht leben können; das kann ja niemand. Das ist eine kollektive Neurose. Je öfter man hört, man soll nicht mehr über Auschwitz reden, […] um so öfter wird es nicht tot sein. Heiner Müller ist zum Beispiel nie losgekommen von diesem Thema. Man wird immer besessen sein von dieser Geschichte. Also, ich bin es auf jeden Fall.76

Mit ihren Texten zeigt Jelinek die ungebrochene Wirkungskontinuität des Faschismus. Allyson Fiddler konstatiert hierzu: But it is not just the fascism of Austria’s past on which Jelinek casts a critical light. She also highlights what she sees as danger73

74 75 76

Charles Maier, The Unmasterable Past, 163. Vgl. auch: Richard Mitten. „Bitburg, Waldheim, and the Politics of Remembering and Forgetting“. From World War to Waldheim. Culture and Politics in Austria and the United States. Hg.v. David F. Good and Ruth Wodak. New York: Berghahn, 1999. 52. Richard Mitten, „Bitburg“, 69. Ebd., 52. Stefanie Carp. „Ich bin im Grunde tobsüchtig über die Verharmlosung. Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek“. 4.

56 ous latent fascism in modern Austrian society, and warns against the country’s susceptibility to such politics.77

Jelineks Geschichtskonstruktion läuft wie im Müller’schen Œuvre quer zum öffentlichen Geschichtsdiskurs. Die Schriftstellerin verliert bei dieser politischen Auseinandersetzung die ökonomischen Verhältnisse nicht aus dem Auge. Ähnlich wie Müller sieht Jelinek im kapitalistischen System die Ausbeutung des Menschen, doch sie insistiert: „Wie man weiß, gibt es keinen Mann, der so arm, ausgebeutet und kaputt ist, daß er nicht noch jemanden hätte, der noch ärmer dran ist, nämlich seine Frau“.78 Deutlich artikuliert Jelinek die ungebrochene Tradition faschistoider Mentalität im Nachkriegsösterreich mit dem Roman Die Ausgesperrten (1980) und dem Drama Clara S. (1984). Im Roman wird eine brutale Vaterfigur einer typischen Kleinbürgerfamilie in den Mittelpunkt gerückt. Der Vater erhält als Wachmann in Auschwitz sein geistiges wie moralisches Format. In Clara S. paart Jelinek in der Figur des D’Annunzio den Ästheten mit dem Faschismus, den Machtmenschen mit dem Patriarchat. Die macho-faschistoide Männlichkeit D’Annunzios weist auf die Korruption der Kunst für den Faschismus in ihrer Kommerzialisierbarkeit hin. Die unaufgearbeitete und stets verschwiegene Verstrickung der Österreicher in den Nationalsozialismus und die damit legalisierte historische Unschuld kommt u.a. auch in ihrem Roman Die Kinder der Toten (1995) zur Sprache. Jelinek stellt immer wieder den Erfolg einer „Entnazifizierung“ völlig in Frage, wenn sie zum Beispiel auf der ersten Seite ihres Romans Die Ausgesperrten auf die Nazis aufmerksam macht, die unbeschadet und unbehelligt nach dem Zweiten Weltkrieg die selben Machtpositionen besetzen.79 In ihrer Rede zum Heinrich-Böll-Preis 1986 wiederholt sie diese These. Im Mittelpunkt ihrer Ansprache „In den Waldheimen und auf 77

78

79

Allyson Fiddler. Rewriting Reality. An Introduction to Elfriede Jelinek. Providence: Berg, 1994. 100. Josef-Hermann Sauter. „Interviews with Barbara Frischmuth, Elfriede Jelinek und Michael Scharang“. Weimarer Beiträge 27.6. (1981). 109. Vgl. dazu: Ulrike Rainer. „The Grand Fraud ‚Made in Austria‘: The Economic Miracle, Existentialism, and Private Fascism in Die Ausgesperrten“. Elfriede Jelinek: Framed by Language. Hg.v. Jorun B.Johns und Katherine Arens. Riverside: Ariadne, 1994. 176. Vgl. auch: Sylvia Schmitz-Burgard. „Body Language as Expression of Repression: Lethal Reverberations of Fascism in Die Ausgesperrten“. Elfriede Jelinek: Framed by Language. Hg.v. Jorun B.Johns und Katherine Arens. Riverside: Ariadne, 1994. 218.

57 den Haidern“ stehen der damalige Bundespräsident Waldheim und der rechtsradikale Jörg Haider, dessen Partei (FPÖ) im Jahr 2000 eine Koalition mit der Regierungspartei eingeht. In den Waldheimen und auf den Haidern dieses schönen Landes brennen die kleinen Lichter und geben einen schönen Schein ab, und der schönste Schein sind wir. Wir sind nichts, wir sind nur, was wir scheinen: Land der Musik und der weißen Pferde. Tiere sehen dich an: sie sind weiß wie unsere Westen. Und die Kärntenanzüge zahlreicher Bewohner sind braun und haben große Taschen, in die man einiges hineinstecken kann.80

Der hier angesprochene schöne Schein demystifiziert Österreichs Konstruktion einer naturverbundenen Alpenrepublik. Das falsche Bild der Natur, das Reinheit, sprich ein von den Spuren der Vergangenheit gereinigtes Österreich vermitteln will, dekonstruiert Jelinek ebenfalls in ihrem Prosatext Oh Wildnis, oh Schutz vor Ihr von 1985.81 Die NS-Beziehungen bekannter Persönlichkeiten und Politiker, die sich unbeschadet von einer Karriere im Naziregime in hohe politische Ämter des Nachkriegsösterreichs hinüberretten konnten und die weiterhin unbehelligt braune Politik betreiben, prangert Jelinek in ihren Kurzdramen Präsident Abendwind und Das Lebewohl an. Satirisch verlegt Jelinek den Ort der Handlung in Präsident Abendwind, eine Bearbeitung von Johann Nestroys Häuptling Abendwind, auf eine Südseeinsel, auf der sich ein gekünstelt wienerisch sprechender Präsident Abendwind, alias Kurt Waldheim, mit Hilfe der Überzeugungskraft seiner Tochter Ottilie zur Wahl aufstellen lassen möchte. Im Vordergrund seiner braunen Politik steht für Abendwind nur eines: „Jetzt aber zu den brennenden Fragen der Gegenwart: Was essen mir heute z’mittog?“ (PA 19). Die Dramatikerin wiederholt in Präsident Abendwind die verdrängte Geschichte als Farce: Denn der Präsident und seiner Tochter entpuppen sich als Menschenfresser, die ihre Landsleute einsperren und danach essen, oder in Dosen abgefüllt ins Ausland exportieren. Die makabere Konsequenz faschistischer Politik wird hier in satirischer Nüchternheit vorgeführt: Faschismus bedeutet Menschenvernichtung. Kultur wird als Inbegriff einer zur Bestialität fortgeschrittenen Zivilisation gesehen, bei der das Prinzip des Verschlingens und Einverleibens an erster Stelle steht. So werden auch auf die In80

81

Elfriede Jelinek. „In den Waldheimen und auf den Haidern“. Rede zur Verleihung des Heinrich-Böll-Preises. In: Die Zeit, 5.12.1986, 50. Vgl. dazu: Allyson Fiddler, Rewriting Reality, 111-125.

58 sel kommende Touristen vom sirenenähnlichen Gesang der Frau Abendwind angelockt, um dann verspeist zu werden: „Wiener Blut, Wiener Blut […] Mit homs jo, mir homs jo,/ mir sans net, mir worns net/ Drum fohrns jo zu uns her“ (PA 21). Die Schuld am Verschwinden der Landsleute und Touristen wird vertuscht, „mir sans net, mir vorns net“ (PA 21). Abendwind selbst leidet unter chronischer Vergesslichkeit und entzieht sich so jeglicher Verantwortung und Schuld. ABENDWIND singt: Präsident sein das wär gut und fein. Ein Präsident ist nie allein. Hab mein ganzes Volk gefressen Und dann hab ich es vergessen. Kommt ein Gscherter übers Meer Fress ich ihn, das ist nicht schwer. Doch leichter noch als jedes Fressen Fällt euerm Präsidenten das Vergessen. OTTILIE fällt in den Refrain ein: Doch leichter noch als jedes Fressen Fällt euerm Präsidenten das Vergessen. (PA 23)

Hinzu tritt Hermann, alias Jörg Haider, der durch die Heirat mit Ottilie ein Bündnis mit der Macht schließen möchte: „Zuerscht wird dein Herr Vater Präsident, und hernach kann ich ihm vertreten“ (PA 28). Nachdem Abendwind die Wahl gewonnen hat, „gewählt ist gewählt“( PA 30), formuliert er seine Politik wie folgt: „Mir essen ihm auf, damit keiner was zum redn hat ieber unsereins. Hier bin ich und hier bleib ich. Hier brunz ich und hier speib ich! […] Gewalt ist Gewalt!“ (PA 31,33). Abendwind lädt den Präsidenten der Nachbarinsel, Apertutto, zum Staatsbesuch ein. Der verkappte Bayer Apertutto zeichnet sich durch großen Appetit aus, denn er freut sich nicht nur auf das Essen während seines Staatsbesuchs, bei dem ihm das geschlachtete Volk („Insulaner in Apfelsoß“ (PA 30) aufgetischt wird. Er hält zudem Anteile am Wurstimperium Abendwinds. Seine Marktanteile sichernd, verkündet der Kapitalist Apertutto die Pflicht eines jeden, zu kaufen. Apertutto steht in seiner faschistischen Politik Abendwind in nichts nach: „früher waren unsere Länder verschieden, doch schlicht, heute sinds beide gleich […]“ (PA 29). Seine Verwunderung darüber, dass ihm bei seinem Staatsbesuch keiner aus dem Volk Abendwinds zujubelt, wird durch seine eigene Menschenfresserei unwichtig. „Die einen fressen hier, die anderen fressen drüben/ und san sie dann fett, werden gfischt sie im Trüben“ (PA 29). Nur spielt

59 er dem Ausland gegenüber den Unschuldigen besser als Abendwind. Als dieses nämlich dessen braune Politik durchschaut – versinnbildlicht durch den Auftritt eines weißen Bären – gelingt es Apertutto, im Gegensatz zu Abendwind, sich vom Vorwurf des Kannibalismus respektive faschistischer Politik zu befreien, indem er sich zivilisiert gibt: „Mein Gott, was für eine indianische Gewohnheit!“ (PA 33). Zuvor warnt er Abendwind vor den Zivilisierten: „Passens auf […]. Jeden Tag kunntertens von den Zivilisierten entdeckt wern!“ (PA 31). Doch Abendwind hat die Scheinheiligkeit dem Ausland gegenüber noch nicht gelernt: „Mir Wilden haben auch unsare Kultur“ (PA 30). So wird er am Ende vom weißen Bären gefressen und muss dadurch sinnbildlich die politische Bühne räumen. Doch damit hat die Politik des Faschismus kein Ende, der Bär sitzt zufrieden und satt am Boden, Hermann und Ottilie, die nächste Generation der faschistischen Machthaber, und Apertutto tanzen zusammen einen Walzer um den Bären. Dieser ist nicht vollständig gegen die Faschisten vorgegangen; mit dem das Kurzdrama abschließenden Lied lachen Hermann und Konsorten dem Bären ins Gesicht: ALLE: Glücklich ist, wer vergißt, Was doch nicht zu ändern ist. Frißt die Braut Ungeschaut Frißt den Mann Gleich is tan! Frißt alle Leut, Ob dumm, ob gescheut! Schaun sich dann selber im Fernsehn an. Nimmst mit Appetit dein Volk zum Fressen mit. Sogar der arme Mann Stolz wird Nahrung dann Von an gwissen Herrn, Der frißt Menschen gern. Glücklich ist, wer vergißt Was doch noch zu ändern ist […]. (PA 34)

Fortsetzung dieses Stücks ist Das Lebewohl. Der vom Bären verschonte Hermann alias Jörg Haider tanzt immer noch unbehindert auf Österreichs politischer Bühne und verkündet uneingeschränkt faschistische Macht: „Verläßlich sind wir wie der Tod, jetzt sind wir da. […] Wir tanzen Polka, Ländler, Plattler, Reigen […] und unbekümmert fallen dazu

60 Schnee und Sonne“ (LW 10). Sein Monolog, sprich seine Rede ans Volk in Das Lebewohl enthüllt seine faschistische Macht-und Gewaltherrschaft. Sein Volk ist zu stummen, ewig lächelnden Kindern degradiert, die Haider als Kulisse und mundtote Zuschauer dienen. Das Volk wird nämlich nur noch als Kulisse gebraucht, denn Haider und seine politischen Freunde gehen davon aus: „Wir sind alle“ (LW 15). Die Scheinheiligkeit seiner Intentionen hat die Haiderfigur gelernt (Apertutto hat’s ihm vorgemacht). So stellt er seine angebliche Ungefährlichkeit in den Vordergrund, die aber im Grunde die Kontinuität der Faschismuspolitik unterstreicht: „[u]nd nichts wird bringen Gefahr. Es wird wie immer sein, nur von uns wirds kommen, die Opferkessel rot von Blut“ (LW 10-11). An anderer Stelle verkündet er: Ich telefonier, ich sprech, ich rede, einfach ehrlich, einfach ganz natürlich, als wollt ich selber mir sagen, daß sich nichts geändert hat und sich nichts ändern wird und engster Kontakt auch in Zukunft von mir gehalten sein wird, einfach ehrlich, wie schon immer zuvor. (LW 32)

Die Haiderfigur beschreibt sich nicht nur als einen, der gewählt wurde, nein, „wir sind ausgewählt“ (LW 11), was so klingt wie „auserwählt“. Der „Götterliebling“ (LW 16) Haider nimmt eine politische Position in Anspruch, die ihm als Erben von Abendwinds Politik ganz natürlich zusteht. Als Fortsetzer des Faschismus kann er die Schuld und Verstrickungen der Vergangenheit leicht abschütteln: „Wir schwören, wir warns nicht, und schon waren wirs wirklich nicht“ (LW 11). Nachdem das Volk mundtot oder gar vernichtet worden ist, kann Haider am Schluss seiner Rede seiner Politik freien Lauf lassen. Bei seinem politischen Vorhaben geht es um keinen anderen als um ihn und die Befriedigung seiner Machtgelüste. Fiddler stellt dar, wie Jelinek Zitate Jörg Haiders in Das Lebewohl eingearbeitet hat und so gekonnt Haiders Egoismus, Sexismus und seine Selbstverherrlichung in den Vordergrund rückt.82 Im wiederholten Ausruf „Ich“ zeigt der Text gegen Ende den krankhaften Egoismus und Wahnsinn, der sich mit dem Rufen nach dem Vater paart. Die Textsyntax mit ihren kurzen, abgeschnittenen Sätzen und Ausrufen verstärken den Machtanspruch und den Siegeszug der Figur: 82

Allyson Fiddler. „Staging Jörg Haider. Protest and Resignation in Elfriede Jelinek’s Das Lebewohl and other recent texts for the theatre“. Modern Language Review 97.2 (2002). 361-364.

61 Die Freiheit vertreib: ich, das Dunkel seh gar nicht: ich […] In den Spiegel schauen können will: ich auch mich. Zögern will nicht auch: ich. Mein Vater sein will auch: ich Sag nicht Mutter! Sag Vater! Sag nicht Mutter! Sag Vater! Und zieh dein Schwert! […] Alle niedermachen, will auch: ich. Alle sein, will auch: ich. […] Die Freiheit sein will auch: ich. Vaters Kind sein will auch: ich. Sags Mutter, sags Vater, sags Mutter, sags Vater. Sag ich. Sag doch: ich! Die ganze: Zeit! (LW 34, 35)

Das Aufzeigen der Mittäterschaft ist Thema von Burgtheater. Jelineks Kritik wendet sich darin gegen die Vergangenheit des Burgtheaters, das neben den Salzburger Festspielen als Zentrum österreichischer Kultur und Unterhaltung schlechthin gilt und in dem gleichnamigen Drama von 1984 als Metapher für den Opportunismus während des Naziregimes steht. Die hier entlarvte öffentliche Konstruktion, erstes Opfer Hitlers zu sein, ist genauso Mittelpunkt wie die Dekonstruktion einer scheinbar unschuldigen und unpolitischen Kunst wie auch eines überhöhten und somit wenig examinierten Status, den das Burgtheater in Österreich genießt. Diese Kritik bringt Jelinek den Namen einer „Nestbeschmutzerin“ ein. Viele Rezensionen betrachten das Stück Burgtheater als Angriff auf das berühmte Burgschauspielerehepaar Paula Wessely und Attila Hörbiger, deren Namen aber im Stück nicht genannt werden. Das Drama zeigt die familiäre Situation einer Burgtheaterfamilie während des Hitlerregimes. Die Protagonisten sind Käthe und ihr Mann Ivan, Ivans Bruder Schorsch und die Töchter der Eheleute, Mitzi, Mausi und Putzi, sowie ein Zwerg, der ‚Alpenkönig‘. Im ersten Teil des Dramas, der im Jahre 1941 spielt, bringt die Familie klare antisemitische und pro-nationalsozialistische Neigungen und ihre Liebe zum Großdeutschen Reich zum Ausdruck: „Wir wollen hier keine Juden und Ausländer!“ (BT 115). Zudem wollen sie das Burgtheater in die Dienste der Nationalsozialisten stellen: „Mir missen jetzt ernsthaft dafier Klampfen, daß ein jedes Blitzmädel und ein jeder Hitlerjunge sagen kann und das zurecht: Unser Burgtheater! (BT 134). Interessant ist die Figur des Alpenkönigs á la Ferdinand Raimund (Der Alpenkönig und der Menschenfeind ), der im „Allegorischen Zwischenspiel“ seinen Auftritt hat. Der Zwerg wird als „rote Pest“, „Bolschewik“ und „Vertreter des Weltjudentums“ tituliert. Wie in Raimunds Spiel, so will auch hier der Zwerg in die Geschicke der Familie eingreifen („Ich arbeite an ihrer Biographie“, BT 146) und bittet die Familie um finanzielle Unterstützung für die Widerstandskämpfer. Doch wird er von dieser brutal zusammengeschlagen. Die

62 Worte des Alpenkönigs, der hilflos Zitate von Schiller und Goethe zu stammeln beginnt, stehen im krassen Gegensatz zu der faschistischen Sprache der Burgtheaterfiguren, die so die Aggressivität einer volkstümlichen Sprache und deren scheinbarer „Gemütlichkeit“ zutage fördern. Die „wunderbare daitsche Sprache, die Sprache Goethes und Schillers“ (BT 134) wird als Sprache der Vernichtung aufgedeckt. Ähnlich wie die Gundlingfigur in Müllers Leben Gundlings steht auch hier der Zwerg als Vertreter der humanistischen Sprachtradition der brutalisierten Faschistensprache hilflos gegenüber. Den Schiller- und Goethe-Zitaten des Alpenkönigs werden „Volksweisheiten“ entgegengesetzt, die zu erneuten brutalen Vorgehensweisen auffordern: KÄTHE: Falott! Krambambuli! Sie ergreift einen Schürhaken, schlägt auf den König ein, der fährt sich mit dem Arm über die Gesichtsbandagen und verschmiert das Blut im Gesicht. ALPENKÖNIG undeutlich: Hier ist gut ruhn! Ein klare Quelle, ein Trunk kühlen Wassers, und schon get es mit frischen Kräften vorwärts. Grüß Gott. Er wird niedergeschlagen. KÄTHE: Gigerl! Krispindl! Schlawiner! Wiener! ALPENKÖNIG undeutlich stammelnd: Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein. Er wird von Käthe geschlagen und schreit auf. ISTVAN: Es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht. SCHORSCH: Es ist noch nicht aller Tage Abend. ISTVAN: Frisch gewagt ist halb gewonnen. Alpenkönig schreit laut. KÄTHE: Weißt du wies am besten schmeckt? Frisch gekocht und reingedeckt! SCHORSCH: Der Ausländer wird anlassig! KÄTHE: So gebietets ihm doch Einhalt, Burschen! ALPENKÖNIG klangvoll, wenn auch etwas atemlos: Geben Sie Gedankenfreiheit! Lachkrampf von Käthe und den beiden Brüdern. Sie fallen einander atemlos vor Lachen in die Arme, Käthe lacht sie liebevoll aus. KÄTHE: Burschen seids gscheit, seids staad! Seids Idealisten! Der Alpenkönig will flüchten, aber die beiden Männerversperren ihm den Weg, der König tropft Blut um sich herum. Als der König noch einmal hochkommt, wirft sich Istvan auf ihn und ringt mit ihm auf dem Boden. Dabei beschmiert auch Istvan sich kräftig mit Blut.Käthe betrachtet den Alpenkönig: Rotzfrech, der Lümmel! Aber aufgeweckt. SCHORSCH betrachtet die Kämpfer: Mecht mer gor net glauben, daß der a Jud is.

63 KÄTHE: Mecht mer ihm net ansehen, wenn mas net wissert. Das Bündel Alpenkönig liegt still da. (BT 148)

Die hinterlassenen Blutspuren und blutigen Wickel des Alpenkönigs kommentieren die Konsequenz des Nationalsozialismus von Mord und Verbrechen, durch die dessen Mittäter, die Wessely-Hörbigers, immer wieder laufen und welche die Scheinheiligkeit ihrer Unschuld unterstreicht: „A Hetz muaß sein! So glocht hamma nimma seit dem Anschluß! (BT 147), „Die heilige Energie des Vulkes. Daitschland erwoche! Wen die Götter lieben“ (BT 135). Mit der Ankunft der Russen 1945 im zweiten Teil des Stückes versucht die Familie verzweifelt, ihre nationalsozialistische Haltung zu verbergen und ihre Teilnahme an Propagandafilmen zu vertuschen. Als sie erfährt, dass eine Angestellte den Zwerg versteckt hat, um ihn vor einer Deportation ins Konzentrationslager zu schützen, versucht die Familie mit dieser Tatsache öffentlich ihre Unschuld zu demonstrieren: „Dieser Zwerg muss schlussendlich unseren unibierlegten Polenfülm weitmochen“ (BT 173). Der Zwerg stimmt der Verschleierung der Tatsachen zu, mit der Bedingung, eine der Töchter heiraten zu können. Doch wird diese Täuschung unwichtig, denn Schorsch findet eine Fotografie, auf der er den österreichischen Widerstandskämpfern einen Scheck überreicht: I hab mi schlußendlich, finf vor Zwölfe, no fotografieren lossen, wia i an Scheck fier die esterreichischen Patrioten unterschrieben hob. Olles fier Esterreich, domit es wieder rein und scheen werdet! […] A tuli Idee wor des, gö jo! (BT 180)

Jelinek verarbeitet in ihrem Stück bekannte Fakten aus der Biographie der Familie Wessely-Hörbiger; zum einen die Familienstruktur: Die Hörbigers haben drei Töchter, eine davon, Christine Hörbiger, ist eine Burgund Fernsehschauspielerin, die heute in Österreich und Deutschland Bekanntheit und Ansehen genießt. Attila Hörbiger hatte einen Bruder Paul, der ebenfalls ein Burgschauspieler war. Zum anderen ist Schorschs Idee, sich in der letzten Minute noch fotografieren zu lassen, eine Analogie zu Attila Hörbigers Festnahme durch die SS im letzten Kriegsmonat wegen seiner Kollaboration mit dem österreichischen Widerstand. Der Text des Dramas enthält weitere Hinweise auf die Nazibeziehungen des Schauspielehepaars, denn er zitiert Passagen von Nazipropagandafilmen, in der Wessely die Hauptrolle spielte.83 Einer dieser Filme, Die Heimkehr (1941), 83

Marlies Janz. Elfriede Jelinek. Stuttgart: Metzler, 1995. 63.

64 im Stück als „Polenfülm“ bezeichnet, gehört zu den herausragensten Beispielen von Nazipropaganda. Hier sagt Wessely: Denkt daran, wie schön es dann sein wird, wenn alles um uns herum wieder deutsch sein wird! Wenn ihr in ein Geschäft geht, dann hört ihr niemals mehr Jiddisch oder Polnisch, nur noch Deutsch! Und nicht nur das Dorf, in dem wir leben, wird deutsch sein, alles, alles!84

Nach dem Weltkrieg verlor Wessely aber keineswegs an Popularität. Erschreckend wandlungsfähig spielte sie 1947 sogar die Hauptrolle als Jüdin im anti-Nazifilm Engel mit der Posaune. Jelinek kritisiert hier nicht nur eine so genannte unpolitische Kunst und Künstler, die sich bloß als Komödianten auf einer Bühne sehen wollen. Sie zeigt die Akteure des Burgtheaters als ideologische Vollstrecker des Holocaust. Jelinek attackiert zugleich den heute immer noch völlig unbehelligten und herausragenden Status des Burgtheaters. Trotz bereitwilliger Verfügbarkeit für die Nazis und ihre Propaganda gilt das Burgtheater nach wie vor als erste Nationalbühne Österreichs. Die Sprache in Burgtheater stellt einen wesentlichen Teil der bitterernsten Parodie (Jelinek nennt ihr Stück „Posse mit Gesang“) dar, in die sich der Faschismus eingeschrieben hat. Mit der künstlichen Dialektform, eine Anlehnung an das Wienerische, die Jelinek hier konstruiert, zeigt sie die faschistische Politisierung von Sprache. So werden die Horrorseiten des Volkscharakters gezeigt, die im Dialekt gespeichert sind.85 Jelinek lässt die Sprache selbst sprechen, die erst in ihrer Künstlichkeit den Faschismus klar zeigt, den sie sonst unterschwellig transportiert. Mit dieser Künstlichkeit oder Montage der Sprache (aus dem Wort „Zauberflöte“ wird zum Beispiel „Saubertöte“, aus „Schauspielerin“ wird „Sauschlitzerin“ usw.)86 richtet die Autorin ihr Augenmerk auf die Ideologisierung der Sprache und deren Umwandlung in eine Sprache der Menschenvernichtung. Am Ende des Dramas formiert sich die Vernichtungssprache zu einer solchen Dichte, dass die gesamte österreichische Sprache und Kultur Werkzeug der Vernichtung und des Krieges wird. Das, was eigentlich nicht ausgesprochen und vertuscht werden soll, fällt den Figuren förmlich aus dem Mund. Es ist die Sprache, welche die Figuren als „Schauobjekte“ vorführt; in der sprachlichen Sichtbarmachung 84 85 86

Zitiert nach: Allyson Fiddler, Rewriting Realtiy, 104. Allyson Fiddler, Rewriting Reality, 109. Ebd., 103.

65 ihrer faschistischen Mentalität können die Figuren nicht anders als ihren Faschismus „zur Schau“ zu stellen. Sie können nichts mehr verbergen. Dadurch wird die Bühne Schauplatz einer Sprache des Hasses, bei dem den Figuren und auch dem Publikum der Spiegel vorgehalten wird. Ulrike Haß stellt dazu fest: „Das Publikum ermöglicht das debile, infantile, hässliche und faschistoide Milieu seiner Helden. […] Die Schauspieler im Spiegel und ihr Schauplatz als Spiegel des Publikums, das beide verdient“.87 Zugleich weist Jelinek mit ihrer sprachlichen Kunstform auf die Gemeinsamkeit der Propagandasprache der Nazis und der Sprache der Heimatfilme und –romane der Nachkriegszeit hin, die im Österreich der fünfziger Jahren sehr populär waren. Die heftige Reaktion, die dieses Stück in Österreich auslöste, beweist die Kraft, mit welcher es an dem Nationalimage der Österreicher als Unschuldige kratzt. Der Monolog der toten Schauspielerin in Erlkönigin ist die Weiterführung von Burgtheater und verdeutlicht die Wirkungskontinuität des Faschismus in die Gegenwart Österreichs hinein. Obwohl auch in Erlkönigin keine Namen explizit genannt werden, ist eindeutig, dass es sich auch hierbei um eine Dramatisierung von Paula Wessely handelt, die im Mai 2000 starb. Die Sprache der Wesselyfigur braucht jedoch nicht mehr durch Montage entlarvt zu werden. Im Gegensatz zu den Figuren in Burgtheater zeigen die Äußerungen der Erlkönigin auch ohne Sprachdekonstruktion, was man sonst stets verheimlichen will: das Bündnis mit den Nationalsozialisten, ihre ideologische Mittäterschaft als Künstlerin und den latenten Faschismus der Österreicher. Die Titelheldin des Dramas wird, einer alten Sitte entsprechend, dreimal im Sarg um das Burgtheater getragen, dabei hält sie als verstorbene Burgschauspielerin quasi aus dem Totenreich heraus einen seitenlangen Monolog. Jelinek schreibt in ihrer Nachbemerkung zu dem Stück Erlkönigin über diese Figur: „Sie spricht sozusagen den Epilog zu meinem Theaterstück Burgtheater, dessen Hauptfigur sie ist, und zwar weil sie eben nicht totzukriegen ist und daher einfach immer weiterredet“.88 Mit der Verwendung von „Weiterreden“ verweist Jelinek auf das Weiter-Leben des Faschismus in Österreich. Da sich Wessely als bekannte Schauspielerin zum Instrument der nationalsozialistischen Ideologie gemacht 87

88

Ulrike Haß. „Grausige Bilder. Große Musik. Zu den Theaterstücken Elfriede Jelineks“. Text+Kritik 117 (1999). 38. Elfriede Jelinek. „Nachbemerkung“. Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes. Reinbek: Rowohlt, 1999. 85.

66 hat und somit der weiteren Existenz einer solchen Ideologie den Weg bahnte, wird sie zur Mitvollstreckerin des Holocaust. Das Bündnis der Erlkönigin mit der Macht, mit den Nationalsozialisten, wird von ihr immer wieder betont: „Meine Premieren in Anwesenheit der höchsten Uniformierten, die Vormieter der Ewigkeit. Leute mit Armbinden, Ordner, die den Schlüssel zu dieser Ewigkeit hatten und Millionen durchwinkten“ (EK 7). Und weiter spricht sie: Andererseits braucht die Macht keinen Namen, auch wenn sie manchmal welche bekommt. Sie tritt dann unter diesen Namen nur auf, lebt aber woanders. Sie hat auch das Recht sich auszuruhen. Wir sind ihre Künstlernamen! (EK11)

Gestützt durch das Bündnis der Macht, übt die Burgschauspielerin Macht über die Masse Mensch, über ihre Zuschauer aus: Früher haben sie noch geschaudert vor dem Großen, das immer gleich hinter mir stand und mir jederzeit zu Hand war. Daher mein Rückgriff auf die Menschenmasse als solche. […] Deswegen hab ich das Große immer gesucht und mich dann genau davorgestellt! (EK 20)

In den Rollen, die sie spielt, möchte die Figur gleich dem Volk sein, eine aus dem Volk spielen. Diese Identifikation mit „ihrem“ Volk geht so weit, dass sich die Figur über das Volk erhebt. In dieser Scheinidentifikation drückt sich die Ich-Besessenheit aus, mit der Jelinek die faschistische Mentalität beschreibt. „Auch ich bin das Volk. Ich bin ganz allein das Volk. Ich ganz allein bin ein ganzes Volk, weil ich so vielseitig bin“ (EK 19). Ihre faschistoide Mentalität drückt sich zudem in einer latenten Gewaltbereitschaft aus, die sich in einer Drohung gegenüber ihrem Publikum äußert: „Meine lieben Wiener! Ich bin eine von Ihnen! Es soll keiner wagen, sich etwa vor mich zu stellen. Er würde sonst merken: er ist verschwunden“ (EK 20). In ihrem Bündnis mit nationalsozialistischer Macht verführt sie das Publikum, das ideologisch durch die Bühnenschauspielerin abgerichtet wird. Sie wickelt ihr Publikum wie „Einwickelpapier“ um ihre Finger, und macht die Zuschauer so unfähig, die „Stricke zu durchbrechen“, mit denen die Schauspielerin sie fesselt (EK 21, 28). Zugleich hält die Schauspielerin ihr Publikum für dumm, weil es gerade die ideologische Infiltrierung widerstandslos aufnimmt. Mit der Verführung ihres Publikums macht sich die Schauspielerin zur ideologi-

67 schen Vollstreckerin. Jelinek schreibt zur Erlkönigin: „Im ersten Teil hat eine Täterin gesprochen, die nie eine sein wollte […]“.89 Als Schauspielerin ist sie zum Instrument der Nazis geworden, die Verführung hat gewirkt, das Publikum ist ideologisch eingeebnet. Der Prozess der ideologischen Gleichschaltung wird mit der Reifung eines Weines verglichen: Der Zuschauer läßt sich jetzt, da er gereift ist und zum zweihundertsiebzigsten Mal aus der Geschichte gelernt hat, endlich recht süffig trinken. Auf ihm ist, als er noch in seinen Trauben und im Reifen war, viel herumgetrampelt worden. Er weiß ein für allemal, was er zu sagen hat, wenn er uns sieht. (EK 25)

Der Zuschauer wird schließlich in seiner faschistischen Mentalität der Burgschauspielerin so ähnlich, dass diese gar nicht mehr gebraucht wird: „Das Volk als sein eigener Schauspieler. Jeder sein eigener Hauptdarsteller! Braucht mich eh nicht mehr. […] Inzwischen gehört das Volk wieder sich selbst und weiß, was sich gehört“ (EK 25). Die ideologische Gehirnwäsche bereitet die Atmosphäre, faschistoide Mentalität zu erzeugen und zu dulden. Die Nationalsozialisten als Akteure auf den politischen Bühnen Österreichs hatten Erfolg bei ihrem Publikum, den Österreichern, die selbst Hauptdarsteller auf den landeseigenen Bühnen geworden sind. Somit sind sie nicht Opfer der Nazis, sondern Mittäter. Die Kontinuität des nationalsozialistischen Gedankenguts in die Gegenwart Österreichs ist mit der Verbindung zwischen Burgtheater und Erlkönigin gezogen. Die Erlkönigin drückt es folgendermaßen aus: „Etwas wie ich durfte schon immer hier, in Wien, Niederösterreich und dem östlichen Burgenland sowie in ganz Deutschland bleiben und wird immer hier bleiben“ (EK 27). Darüber hinaus stellt Jelinek die Existenz des Faschismus im Österreich der Gegenwart am Sprachdiskurs selbst dar; das Aufdecken der faschistischen Grundzüge in der Sprache ist somit wichtiger Bestandteil ihrer Faschismuskritik. So wie sie in Burgtheater die Sprache zerschneidet, um die faschistische Mentalität ihrer Benutzer ans Tageslicht zu befördern, so deckt die Autorin zudem in der „Mythoszertrümmerung“ die Wirkungskontinuität des Faschismus auf und entlarvt die Mechanismen, die faschistische Mentalität weiterführen und „züchten“. Denn unter dem Deckmantel der Mythen „Künstlertum“, „Heimat“ und „Natur“ wird die Reinheit, sprich Unschuld, vorgetäuscht, um den in der Sprache 89

Elfriede Jelinek, „Nachbemerkung“, 2.

68 unterschwelligen Faschismus ungehindert fortzusetzen. Marlies Janz hat in ihrer Forschung auf die Mythoszertrümmerung in Jelineks Schreiben hingewiesen. Janz stellt in ihrer Diskussion Mythen wie die des unschuldigen Künstlertums, Natur und Sexualität in den Vordergrund.90 In einer weiteren Analyse stellt sie heraus, dass die Beteuerung einer historischen Unschuld in der Verbindung von Faschismus und Mythosbildung steht.91 Jelinek selbst schreibt in ihrem Essay Die endlose Unschuldigkeit von 1970 über die „müten“, die es zu enthüllen gilt. In dem Text beruft sie sich unter anderem auf Roland Barthes’ 1964 erschienenes Werk Mythen des Alltags, das eine ideologiekritische Sprachanalyse ist, in der die Herrschaftsmechanismen durch die permanente Schaffung neuer Mythen entlarvt werden. Die Schriftstellerin spricht in ihrem Essay „von Dingen, die sich in den Begriffen einnisten“ und definiert den „trivialmütos“: trivialmüten: deren hauptprinzip die vaterinhalte in kultur & individuum sind bilden zentrale machtgelenke der gesellschaft monopolitisch institutionalisierte kontrollinstanzen aus in denen sich die gemeinsamen interessen von machthabern treffen. die öffentlichkeit wird gemacht.92

Die Mythen sollen aufgebrochen werden, um die darunter verborgene Macht sichtbar zu machen. Das „Gras“, welches über die Dinge wächst, will sie abgrasen: „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein, damit kein Gras mehr wächst, wo meine Figuren hingetreten sind“.93 Das Gras, das über die Vergangenheit gewachsen ist, verhindert die Freilegung des braunen Bodens und fördert die Züchtung neuer Mythen. In ihrem Drama Totenauberg nimmt Jelinek eine solche Mythoszertrümmerung vor. Die Mythoszertrümmerung nimmt den Figuren die Unschuld und entlarvt sie als Täter. Margarete Sander führt in ihrem Buch zum Textherstellungsverfahren in Totenauberg im Detail vor, wie die Theaterfrau das Bild des Mythos zerschlägt und ihn als Dekor vorführt. 90 91

92

93

Marlies Janz, Elfriede Jelinek. Marlies Janz. „Die Geschichte hat sich nach 45 entschlossen, noch einmal von vorne zu beginnen…: Elfriede Jelineks Destruktion des Mythos historischer Unschuld“. Elfriede Jelinek. Die internationale Rezeption. Hg.v. Daniela Bartens. Graz: Droschl, 1997. Elfriede Jelinek. Die endlose Unschuldigkeit. Prosa-Hörspiel-Essay. Schwifting: Schwiftinger Galerie Verlag, 1980. 50. Elfriede Jelinek. „Ich schlage sozusagen mit der Axt drein“. TheaterZeitSchrift 7 (1984). 14.

69 Folgt man, so Sander, der Definition Roland Barthes’, so geschieht die Mythosbildung dahingehend, dass Geschichte in etwas Ewig-Endgültiges umgewandelt wird. Das Bild, das Produkt der Mythosschaffung, wird von Jelinek zerstört, um dadurch dem Begriff seine Geschichte zurückzugeben.94 Hier also wendet sich die Dramatikerin gegen eine Geschichtsschreibung, die das Vergangene als etwas „Gegebenes“ darstellt. Durch das Aufbrechen kann die durch den Mythos verklärte Vergangenheit hinterfragt und neu beleuchtet werden. Schon im Titel des Stücks, eine Anspielung auf Martin Heideggers Schwarzwaldwohnort Todtnauberg, wird der Mythos „Berg“ als Ort der Erhebung über andere, als Ort des Herrschens und der Herrschaft, entlarvt. Dem Begriff Berg wird im Titel das Wort „Toten“ eingelagert. Die Unschuld des Mythos ist genommen. Ein „Toten-au-berg“ ist ein Berg voller Leichen. Diese Entlarvung bekommt einen konkreten geschichtlichen Bezug: Es sind die Leichen der im Krieg Gefallenen und Toten der Gaskammern. Im dritten und vierten Bild sieht man zerfetzte Körper an der Flanke des Berges (TA, 39, 44, 51). Durch die von Jelinek in Totenauberg vorgenommene Mythoszertrümmerung wird das öffentlich repräsentierte Bild Österreichs als eine „reine“, d.h. reingewaschene Alpenrepublik zerstört. Karl Wagner äußert sich über Jelineks schriftstellerische Tätigkeit: Gerade die Echtheit und Natürlichkeit, die mit den Alpen und damit metonymisch für ihre Bewohner assoziiert wird, […] wird von überaus erfolgreichen Genres wie Heimatroman und Heimatfilm bevorzugt. Deren vermeintliche Natürlichkeit wird gerade von Elfriede Jelinek mit großer Beharrlichkeit als höchst artifizielle Veranstaltung kenntlich gemacht.[…] Jelinek manipuliert die Repräsentation (und die Repräsentanten) von Österreich –Repräsentationen in einer Weise, daß deren Täuschungen sichtbar werden. […] Die österreichischen Landschaften und Provinzen erscheinen in diesen Texten nicht als Natur, sondern als historisches Palimpsest. Als „Archive des Schweigens und des Verschwiegenen“ bergen sie die Zeugnisse verübter und/oder geduldeter Gewalt.95 94

95

Margarete Sander. Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek. Am Beispiel ‚Totenauberg‘. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1996. 125-128. Vgl. zum Thema „Mythos“ auch: Maria E. Brunner. Die Mythenzertrümmerung der Elfriede Jelinek. Neuried: Ars Una, 1997. Karl Wagner. „Österreich – eine S(t)imulation. Zu Elfriede Jelineks Österreich-Kritik“. Elfriede Jelinek. Dossier 2. Hg.v. Kurt Bartsch und Günther A. Höfler. Graz: Droschl, 1991. 79, 81, 86.

70 Die Autorin konzipiert in Totenauberg ihre Figuren als Träger von Ideen, die diese unabhängig voneinander dem Leser/Publikum in Form von Redeblöcken oder Sprachflächen vorstellen. Vor der Kulisse einer Alpenlandschaft artikulieren die Figuren eine Denkstruktur, die an eine Ausgrenzungsideologie anknüpft, und die der Blut-und Bodenideologie des deutschen Faschismus entspricht. Diese Ideologie breitet den Anspruch und die Forderung einer „reinen“ und „gesunden“ Natur aus, die mit der Forderung einer „reinen Rasse“, einem „reinen Volkskörper“ und einer „reinen Heimat“ eng verbunden ist. Dies impliziert die Ausgrenzung alles Fremden, welches als „krank“ definiert wird. Die junge Frau äußert den Anspruch auf Leben, den sie als Gesunde verkörpert. Mit diesem Anspruch verbindet sie das Anrecht auf Besitz und Unterwerfung der Natur: Ich bin gesund […] Ich bin ganz Ich. […] Die Natur ist uns zugewiesen, und nun wollen wir sie aufs Schönste ausgestatten lassen. […] Nur wertvolle Frauen können der Welt auch etwas schenken. […] Ich bin guten Muts, ich bin guten Bluts. […] Solange es meinem Kind gut geht, darf es leben. […] Wäre dieses Kind krank, eine künftige Person, die nichts weiß von sich, hätte es auch keinen Zuspruch mehr nötig. […] Denn es würde nicht Gebrauch machen von seiner gediegenen Abstammung, die ich bin! (TA 29-32)

Schon im ersten Bild wird diese ideologisch aufgeladene Denkhaltung aufgedeckt. Mit den auftretenden Hannah Arendt- und Heideggerfiguren wird der historische Zusammenhang erschlossen. Es werden dem Rezipienten in diesen Figuren zwei gegensätzliche Positionen vor Augen geführt: zum einen Arendts Stellung als jüdische Intellektuelle, die Fremde, die aus dem Dritten Reich Vertriebene, zum anderen Heidegger, Parteimitglied der NSDAP und Rektor der Universität Freiburg, sichtlich fasziniert vom völkischen Denken der Nationalsozialisten. Heidegger wird in einem Gestell gezeigt, aus dem er sich im Laufe des Stückes zu befreien sucht. Mit dem „Gestell“ wird auf Heideggers gleichnamigen Begriff Bezug genommen, mit dem er die Technik bezeichnet, die den modernen Menschen gefangenhält. Arendt kehrt in Totenauberg in ihre Heimat zurück, um dort ihren ehemaligen Lehrer und Geliebten Heidegger zu besuchen. Sie hält ihm Beziehungen zu den Nazis und sein schuldhaftes Verhalten vor, durch das er Studenten zum Kriegsdienst und Opfertod aufrief. Ohne auf diese Vorwürfe einzugehen, hält der alte Mann einen Vortrag über die Natur, bei dem er zwei grundsätzliche Unterscheidungen vornimmt. Aus seiner Sicht haben die seiner „wir“-Gruppe Angehö-

71 renden berechtigte Besitzansprüche an die Natur, können diese also unterwerfen. Die Besitzansprüche der „Anderen“ hingegen sind nicht nur unberechtigt, sondern geradezu schädlich. Mit dieser Gegenüberstellung enthüllt Heidegger klar die gleiche Ideologie, mit der er Überlegenheit gegenüber dem Anderen, dem Fremden, legitimiert. Der Gesamtmythos Natur stellt die Alpen als das Reine und Frische dar. Die Heimat ändert sich nie, sie ist ewig gültig und somit „reine Natur“. Es kommt zu einem Zirkelschluss: Heimat ist Natur und Natur ist Heimat. Jelinek zerstört diesen Mythos, in dem sie ihn als Stilleben, als Standbild, als Bühnenbild vorführt, als unbewegliches Monument. So kann sie den Mythos als erstarrtes Bild entlarven, die Künstlichkeit des Mythos aufdecken. Den Trachtenkostümträgern, die sich als Natur verkaufen, wird ihre Unschuld genommen.96 Die Blut- und Bodenideologie des Faschismus, die das „Reine“ über das Fremde stellt, kommt zum Vorschein. In ihren Ausführungen zeigt Sander, wie sowohl der Mythos Natur als auch der Mythos Heimat eine Ordnung schaffen, die eine Eingliederung und damit eine Ausgrenzung ermöglichen.97 Beide Mythen erheben den Anspruch auf eine Reinheit, der gleichbedeutend mit Unversehrtheit und damit Gesundheit ist. Der Anspruch der Unversehrtheit wird zu einer ewigen Gültigkeit erhoben und fordert, im Besitz von Wahrheit zu sein. Die Mythen funktionieren nur durch ihren Gegenpol, durch den eine Hierarchisierung ermöglicht wird. Dem Mythos Heimat wird die Heimatlosigkeit entgegengesetzt. Die Heimatlosigkeit wird mit der Fremde und dem Fremden gleichgesetzt. Während die Heimat Unversehrtheit impliziert, beinhaltet das Fremde Unreinheit und muss ausgegrenzt werden. Das „Wir“ ist ausschlaggebend für das Gefühl, das dem Mythos Heimat eingepflanzt ist und das durch die Festlegung eines „Anderen“ möglich ist: Daraus entsteht ein mit völkischer Ideologie aufgeladener Mythos Heimat, der zum einen biologisch-rassisch festgelegt wird und zum anderen mit einem Elitedenken verknüpft ist und damit ein hohes Potential an Aggression und Haß in sich trägt.98

Auch das Gegensatzpaar Heidegger – Arendt, der Vertreter der Bodenständigkeit und der Provinz gegen die Emigrantin und Kosmopolitin, 96 97 98

Margarete Sander, Textherstellungsverfahren, 129-131. Ebd., 140-142. Ebd., 141.

72 beinhaltet diese Logik. Machtansprüche und Besitzverhältnisse entstehen, aus dem fremde Menschen ausgeschaltet werden müssen: die Fremden werden zu Opfern. Die Konsequenz dieser Ideologie ist die Vernichtung der Fremden, welche in Jelineks späterem Drama Stecken, Stab und Stangl (1996) zum Ausdruck gebracht wird. Ähnlich wie Müller sucht auch Jelinek den Entstehungsort einer IchMentalität, die den Ausgangspunkt eines faschistoiden „Volkscharakters“ darstellt. In ihrem Stück Wolken.Heim zeigt die Schriftstellerin Figuren, die durch ihren Identitätsentwurf die Ideologie der Ausgrenzung produzieren und dadurch Regime wie das Dritte Reich ermöglichen. Die in Wolken.Heim verarbeiteten Zitate von Hegel bis Heidegger zeigen, dass Jelinek den Entstehungsort einer „faschistischen Mentalität“ in der Tradition und Wirkung der Aufklärung sieht. So lautet ihr Kommentar über Wolken.Heim: „It also lies at the heart of a text like Wolken.Heim, in which one can see that twentieth-century German history developed from this seemingly innocent history of the nineteenth century“.99 In den zitierten Reden und Vorlesungen verarbeitet Jelinek Passagen von Friedrich Hölderlins Oden und Hymnen, Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation, Georg Wilhelm Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Des Weitern zitiert sie Heideggers Rektoratsrede und Briefe der RAF. Diese Zitate fließen manchmal unverändert, manchmal verändert in Monologe eines kollektiven „Wir“ zusammen. Dieses „Wir“ konstituiert sich durch seine Sprache, die Auskunft über die Intentionen des „Wir“ gibt: Es ruft auf, gegen alles Fremde vorzugehen. Die Ideologiekritik, die vor allem bei den unveränderten Zitaten gelingt, bringt den unterschwelligen Faschismus zu Tage. Fichtes Rede konstruiert die Idee der Authentizität der deutschen Sprache im Gegensatz zu der der „Ausländer“, Hegels Vorlesungen zeugen von einer germanozentrischen Ideologie, Heideggers Rede enthüllt Naziideologie. Mit der Verschmelzung der Zitate zu einem „Wir“ verbindet Jelinek das Ideengut des 19. Jahrhunderts mit dem des 20. Jahrhunderts. In ihrer Analyse zu Wolken.Heim zeigt Margarete Kohlenbach, wie Jelinek zum Beispiel die Zitate von Hölderlin umändert, um ihre Ideologiekritik herauszuarbeiten.100 Die Theaterfrau 99

100

Brenda L. Bethman. „My Characters Live only Insofar as They Speak: Interview with Elfriede Jelinek. Women in German Yearbook 16. Hg.v. Patricia Herminghouse and Susanne Zantop. Lincoln: University of Nebraska Press, 2000. 63. Margarete Kohlenbach. „Montage und Mimikry. Zu Elfriede Jelineks Wolken.Heim“. Elfriede Jelinek. Dossier 2. Hg.v. Kurt Bartsch und Günther A. Höfler. Graz: Droschl, 1991. 129.

73 entlarvt somit die nur scheinbar aufklärerische Botschaft von Fichte oder Hegel. Kohlenbach kritisiert zurecht, dass Jelinek in den Zitaten historische Tiefe und Differenziertheit in den einzelnen Positionen herauskürzt und die unterschiedlichen Zitate somit vereinheitlicht.101 Jedoch ist es in der Konstruktion der Zitate gerade Jelineks Anliegen, das Gedankengut freizulegen, das nur vorgibt, emanzipatorisch zu sein, um eine Sprache zu denunzieren, „die sich alles und jedes – vom faschistischen bis zum RAF-Diskurs – einzuverleiben vermag […]“.102 Im alleinigen Besitz der Sprache entwirft sich das „Wir“ immerzu: „Wir gehören uns“, „wir sind hier“, „wir sind wir“, „wir sind bei uns zuhaus“, „wir bezeugen uns: wir sind hier. Uns gehören wir“, „wie wir, wie wir“, „wir, wir, wir“. Die Folge von „Wir“-Aussagen lässt, wie Heide Helwig zeigt, auf eine Besessenheit seiner selbst schließen103, bei dem sich das „Wir“ als sein eigenes und einziges Gravitationszentrum sieht. Die Aussagen des „Wir“ korrespondieren mit den Motiven des Zuhauseseins und der Heimat und feiern das „Wir“ als sein eigenes, „aus sich selbst gespeiste[s] Sinnzentrum, als ‚Mitte‘“.104 In dieser Selbstbehauptung, die Janz eine musikalische Ideologiekritik nennt105, negiert das „Wir“ zugleich alles andere und grenzt sich ab: „Wir sind nicht die anderen“ (WH 141). Es ordnet also die Dinge aggressiv um sich, bei denen das „Wir“ die Mitte darstellt und alles andere auslöscht. „Wir sind wir und scheuchen von allen Orten die anderen fort“ (WH 139). Daher ist alles andere, das nicht zum „Wir“ gehört, namenlos und sprachlos, im Grunde abwesend. Die Sprache und Existenz des „Anderen“ wird verweigert. Die Figurenperspektive fusioniert durch den alleinigen Besitz der Sprache mit der auktorialen Erzählerstimme. Helwig nennt diese Sprache die „Verwendung und Vulgarisierung […] einer aggressiv aufgeladenen Zwecksprache der Ausgrenzung“.106 Die nachdrückliche Selbstbehauptung produziert automatisch die Ab- und Ausgrenzungsideologie. In der Pervertierung dieser Eigensucht glaubt das „Wir“ einerseits, ohne das Fremde auskommen zu können, andererseits sieht es in der möglichen Öffnung 101 102 103

104 105 106

Margarete Kohlenbach, „Montage“, 142. Marlies Janz, Elfriede Jelinek, 124. Heide Hellwig. „Mitteilungen von Untoten. Selbstreferenz der Figuren und montierte Identität in Hörspielen und Theaterstücken von Elfriede Jelinek“. Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 25.2 (1994). 401. Heide Hellwig, „Mitteilungen“, 401. Marlies Janz, Elfriede Jelinek, 127. Heide Hellwig, „Mitteilungen“, 402.

74 gegenüber dem Anderen den Verlust des Eigenen. Im „Wir sind nicht die anderen“ formuliert sich ein Sprach- und Existenzbesitzer und macht sich auf diese Weise zum alleinigen Herrscher über alle anderen. Die Konsequenz hieraus ist die erhöhte Selbstbesessenheit und faschistische Ideologie. Auf diese Weise untermauert das „Wir“ durch den Besitz von Vernunft und Geist die Ausgrenzung der Fremden: „Der Geist aber ist das bei sich selbst sein. Wie wir. Wie wir“ (WH 138). „Wir sind wir und scheuchen von allen Orten die anderen fort. Es rinnt uns Geist von der Stirne“ (WH 139). „Wir brauchen nur uns! Bei den Negern aber führt nichts zum Bewusstsein eines Höheren“ (WH 141). Und schließlich: Und finden außerdem im Osten die slawische Nation, die wir nicht sind! [… ] Ein Teil von ihr ist von der westlichen Vernunft erobert worden. Dennoch bleibt diese ganze Masse aus unserer Betrachtung ausgeschlossen, weil sie bisher nicht als ein selbständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Vernunft in der Welt aufgetreten sind. (WH 143)

Das Feiern eines aus sich selbst hervorgebrachten „Ich“ und die damit verbundene Produktion der Ausgrenzung ist der Grundcharakter der Figuren, der die gesamten Texte Jelineks durchzieht. So fungiert analog die Selbstbezeugung der Heideggerfigur und der Frauenfigur in Totenauberg als Ausgrenzung: „Wir, als Menge! Wir häufen uns! […] Wir sind das Da“ (TA 19). „Wir sind nicht mehr allein, wir ahnen uns im Größeren: das gefällt uns! Wir können retten und dem Zerstörten eine erneue Gestalt geben: unsre! […] Wir sind die Erlöser, die in allem gegenwärtig sein wollen“ (TA 21). Auch in Das Lebewohl ist der aggressive Ichentwurf der Haiderfigur mit Ausgrenzungsideologie verknüpft: „Wir sind ausgewählt […] Wir sind jetzt da“ (LW 11). „Wir sind gegen viele […] Wir sind alle […] ich will, ich will, ich bin bereit“ (LW 16). „Keine Bewegung mehr, keine ohne mich, doch jetzt sind wir schon ALLE. Die andern sind mehr noch. Wir aber sind ALLE!“ (LW 19) Die Figur in Erlkönigin zeigt genau das gleiche Konzept: „Auch ich bin das Volk. Ich bin ganz allein das Volk“ (EK 19). Die Gleichheit der Phrasen dieses Selbstentwurfs lässt die Ichbestimmung als eine imitierte Nachahmung des alten und immer gleichen Grundprinzips, fast als die eines Wiederholungsrituals erscheinen. Es ist dieser Selbstentwurf, der in den Texten Jelineks im Vordergrund steht und die Sprache der Vernichtung und Ausgrenzung erzeugt. An den aggressiven Selbstentwurf ist das Vergessen gekoppelt. In dem unablässigen Versuch der Figuren, sich zu definieren und zu be-

75 haupten, herrscht ein völliger Gegenwartsbezug, der einen riesigen Verdrängungsmechanismus darstellt. Das Ich produziert eine Ideologie, als hätte es den Nationalsozialismus und seine mörderischen Konsequenzen für Millionen von Menschen nie gegeben. Den Figuren sind alle Elemente entzogen, die sie in ein anderes Verhältnis zu sich selbst setzen könnten. Immer ist es ausschließlich ein bestätigendes und selbstverherrlichendes Verhältnis, das keine Distanz des Ich zu sich selbst aufkommen lassen kann. Im Figurenmodell sind per se keine Reflexionen über eigene Gedanken oder Verhaltensweisen sowie über vergangene Ereignisse angelegt. Daher ist eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit grundsätzlich nicht möglich, „schuldlos sind unsere Hände“ (WH 141); die Heideggerfigur in Totenauberg setzt sich mit der Vergangenheit nicht auseinander: „[E]in Zuhaus: Da wir es haben, müssen wir nie denken, was geschehn ist. Es war nicht! Wir sind da, nehmen uns Aufenthalt und vergessen alles übrige. […] Unschuldig macht die Natur, und der Mai macht alles neu. Es war nicht“ (TA 78). „Was kommt, ist noch nicht da. Nichts war. Ich habe nichts gehört. Ich erinnere mich nicht […]“ (TA 86). Im selben Jargon lehnt die Haiderfigur jegliche Auseinandersetzung und Verantwortung der Vergangenheit gegenüber ab. In Das Lebewohl gibt Haider kund: „Wir schwörn, wir warens nicht […] Alter Mord. Neuer Mord. Gar kein Mord. Egal“ (LW 11). „[W]ir warens nicht und unsere Väter warens auch nicht“ (LW 13). Die Erlkönigin auf gleiche Weise: „Ja die Dichtung. Manchmal ist sie praktisch. Immerhin ermöglicht sie es mir sagen zu können, ich sei gar nicht wahr gewesen“ (EK 30). Bruchstücke einer erinnerten und zugleich abgewehrten Geschichte werden nur ansatzweise von den Figuren genannt. Diese Bruchstücke lassen die Vergangenheit aber durch den jeweiligen Ichentwurf und dessen Absolutheitsanspruch nicht akut werden. Die erinnerten Fragmente der abgewehrten Vergangenheit werden hinter den aggressiven Absolutheitsanspruch zurückgedrängt und zugleich hinter den Mythos der reinen Natur (Heidegger) oder hinter den Unschuldsmythos des Künstlertums (Erlkönigin) gestellt. Die Ideologie der Ausgrenzung, die in Menschenvernichtung endet, ist ungebrochen: Die heimtückische Ermordung von vier in Österreich lebenden Roma am 4. Februar 1995 durch eine von Neonazis gelegte Sprengfalle in Oberwart im österreichischen Burgenland ist die Grundlage für Jelineks Stück Stecken, Stab und Stangl. Eine Handarbeit. Bei dem Versuch der vier Männer, eine Tafel mit der Aufschrift „Roma, zurück nach Indien!“ zu entfernen, wurde ein an der Tafel versteckter Spreng-

76 satz gezündet. Die Männer waren auf der Stelle tot. Für Jelinek ist die Ermordung der Roma die Fortsetzung von Auschwitz: One can, however, write texts, like I tried to do in Stecken, Stab und Stangl, in which Auschwitz or the German concentration camp hangs over everything like a threat, because of the continuity of history, that is, its tendency to constantly repeating itself. In other words, one must always think of, or can do nothing but think of the German concentration camp. That would not necessarily be the case with every subject matter, but it is certainly the case in a text based on a political murder, like that of the four Roma, which is a type of mass extermination.107

In einem anderen Interview betont die Dramatikerin die Konsequenzlosigkeit für die Mörder, die sich auf Gleichgültigkeit seitens der Bevölkerung stützen können: Für mich ist die Ermordung der Roma das katastrophalste Ereignis der Zweiten Republik. Ein Meuchelmord an vier unschuldigen und unbeteiligten Männern, die ohnehin schon ein unglaubliches Maß an Verfolgung in diesem Land hinnehmen müssen. Die Leute, die sie damals verfolgt haben, sind immer noch da.108 Das Stück spielt in der Fleischabteilung eines Supermarktes. Die Kunden werden gebeten, ihre Meinung über die Ermordung der Roma zu äußern. Jede Figur verharmlost den Mord und spielt ihn herunter. Das Stück ist eine Montage aus Zitaten, neben Aussagen von Franz Stangl, Staberl, Heidegger und Haider ist das Stück mit Gedichten von Paul Celan durchzogen. Die Montage wird schon im Titel des Stückes ersichtlich: „Stecken und Stab“ spielt auf den biblischen Psalm 23 Davids an, dessen trostreiche Botschaft im Kontext des Stückes unterlaufen wird. Das Wort „stecken“ kann ebenfalls mit dem Wort „verstecken“ oder „Dreck am Stecken“ sowie mit „anstecken“ im Sinne von „explodieren“ in Verbindung gebracht werden.109 „Stangl“ bezieht sich auf Franz Stangl, den österreichischen Kommandanten von Treblinka. Er ist mit einem zynischen Zitat in das Stück eingegangen: „Es gab Tage, wo ich 107 108 109

Brenda L. Bethman, „My Characters live“, 63. Stefanie Carp, „Ich bin im Grunde“, 2. Barbara Kosta. „Murderous Boundaires: Nation, Memory and Austria’s Fascist Past in Elfriede Jelinek’s Stecken, Stab und Stangl“. Writing against Boundaries. Nationality, Ethnicity and Gender in the German speaking Context. Hg.v. Barbara Kosta und Helga Kraft. New York: Rodopi, 2003. 88.

77 an die 18.000 habe durchrennen lassen müssen“ (ST 58), wobei er das Krematorium meint. „Stangl“ spielt zudem auf den Kolumnisten der Kronen Zeitung namens Staberl an, dessen rechtspopulistische Hetzartikel das politische Klima in Österreich verschärften. Jelinek nennt Stecken, Stab und Stangl eine Handarbeit. Während des Stückes sind die Figuren ständig dabei, sich miteinander zu verhäkeln. Es entsteht eine Decke, unter der sich die faschistoiden Figuren verstecken können, die Schuld wird somit unter die Häkeldecke gekehrt. Zugleich kommt die buchstäbliche „Verstrickung“ der Figuren zum Vorschein. Die Schuld der Vergangenheit und das Verstecken eines gegenwärtigen Faschismus kommt immer wieder aus der Versenkung nach oben. Jelinek dazu: Denn diese Decke über unsere Geschichte wird immer wieder aufreißen, so lange, bis wir diese Herausforderung wirklich annehmen und uns ihr stellen. […] Es wird alles unter den Teppich gekehrt, so wie die österreichische Geschichte ja auch unter dem Boden liegt.110

Die Ermordung der Roma wird im Stück in den Nachrichten gemeldet. Fast gleichzeitig mit diesen Mordmeldungen kommen Sportmeldungen über den Sender: Unsere Kameras, die Kameras des ORF, […] die auf diese Toten gerichtet wurden […] Und zwar sind diese Kameras, in einem abwechslungsreichen Muster, einmal auf die Särge gerichtet und dann wieder auf besagten Vor-äh, Vorausläufer auf seinem neusten Snowboard […]. (ST 38)

Die Berichterstattung über die Ermordung wird zu einem Ereignis, welches man von einer Berichterstattung über ein Sportereignis nicht mehr unterscheiden kann. Mord und Sport werden gleichwertige Sensationsmeldungen, „Eintrittskarten für die Besichtigung der Toten“ (ST 36) werden gekauft und „bitte nicht drängen“. Barbara Kosta schreibt über Jelineks Kritik an den Medien in Stecken, Stab und Stangl: As the ‚superego of mass communication‘ […] it [the culture industry-DJ] shapes collective memory and profiles characters of national culture who are rooted in narratives that work towards national ends. In this play as in most of her writing, Jelinek is concerned with the influence of culture industry on perception. Her critique of the culture industry aligns her […] with contemporary 110

Stefanie Carp, „Ich bin im Grunde“, 2-3.

78 postmodern theories of the media that draw attention to the dilution of public discourse through the media themselves. […] [J]elinek reprents their nation-building function – particularly when considering the local media.111

Jelineks Medienkritik richtet sich gegen die Verharmlosung der Morde, die von den Medien als Unterhaltungsspektakel dargestellt und ausgeschlachtet werden. Diese Kritik kommt u.a. in dem Stück In den Alpen (2002) zum Ausdruck, und wird in Bambiland zu einer Kritik an der medialen Kriegberichtserstattung ausgebaut. In dem Sensationsklima zeigt Jelinek in Stecken, Stab und Stangl wiederholt, dass sich die Figuren von den Fremden abgrenzen: „Wieso ist denn dann der Fremdenstrom bei uns so zurückgegangen? Da müssen wir doch glatt auf die Fremdesten unter uns zurückgreifen“ (ST 36), „Roma, zurück nach Indien!“ (ST 25). Der aggressive Selbstentwurf, der Ausgrenzungsideologie produziert, ist auch hier die Grundlage des Figurenmodells. In Stecken, Stab und Stangl wird der Sport als Ausdruck der aggressiven Selbstbehauptung einerseits und als Mechanismus der Verdrängung andererseits gesehen: „Im Schnee sind wir schon recht bald wieder zu Ansehen gekommen. […] [E]r ist der Mann an unserem Ruder, damit wir endlich einmal über uns und unseren Mangel hinwegkommen“ (ST 24). Der Sport ist hier auch die Weiterführung des Mythos der reinen Natur und Heimat, der Österreich als unschuldige Sportnation erscheinen lässt. Der Sport, so stellt Michael Ott fest, gewinnt eine „immense soziale und politische Bedeutung; seine Spektakel begründen geradezu soziale, nationale, geschlechtliche oder ethnische Identitäten“.112 So fungiert der Typus des Sportlers in den Texten Jelineks als Typus des faschistischen Mannes. Den faschistisch-militaristischen Kult des starken Mannes verbindet die Dramatikerin in Stecken, Stab und Stangl mit dem Heimat- und Bergsteigermythos. Sie verlagert mit dem sportlich disziplinierten Körper das Männerideal in den Faschismus zurück. In der Naturbegeisterung, dem Körperkult und der autoritätslüsternen Eingliederung in die disziplinierte Masse sieht schon Siegfried Kracauer den besten Nährboden für faschistische Ideologie. Klaus Theweleits Männerphantasien (1977) und Susan Sontags Diskussion über Leni Riefenstahls Olympiafilm vergegenwärtigen den historischen Kontext des Sportlerkults gepaart mit 111 112

Barbara Kosta, „Murderous Boundaries“, 83. Michael Ott. „Über Sport, Theatralität und Literatur“. Theatralität und die Krise der Repräsentation. Hg.v. Erika Fischer-Lichte. Stuttgart: Metzler, 2001. 464.

79 seiner Kommerzialisierung in den Medien. Der daraus resultierende Sexismus in seiner breiten Palette von Erniedrigung über Vergewaltigung bis hin zum Mord ist in den Männerfiguren von Krankheit oder Moderne Frauen (1987) angelegt113 und wird in den Sportlern, Bergsteigern und Skiläufern in Totenauberg, Stecken, Stab und Stangl sowie in Ein Sportstück (1998) dargestellt. Ein Sportstück entlarvt den Mythos des Sports als unschuldige „Körperertüchtigung“: [B]y showing the aggression, hostility, and blind obedience inherent in the team mentality, which is depicted as being overly racist, anti-Semitic, and sexist. Belonging to a group implies exclusion of others; adulation of strength and body implies scorn of weakness and the mind.114

Ein Sportstück setzt die Analogie von Sport zu Krieg und Gewalt in Szene. Dem Sport ist von vorneherein die Gewalt miteingeschrieben; Sport ist immer schon und immer noch Gewalt und Gewaltausübung. So nennt Jelinek im Programmheft zur Uraufführung von Stecken, Stab und Stangl 1996 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg „Meine Feinde, die Sportler“. In Österreichs Darstellung als Sportnation zeigt sich darüber hinaus der Widerspruch in der vorgetäuschten Akzeptanz von Fremden. Man heißt Skitouristen willkommen, da sie Geld bringen, will aber eigentlich unter sich sein und bleiben. Dazu eine Figur in Stecken, Stab und Stangl: In der Abgeschiedenheit unserer Ferienorte versammeln wir alle mit uns Zusammengehörigen. Doch da bleiben uns immer so viele übrig, die nicht zu uns gehören und trotzdem herkommen wollen. Seit gestern sind schon wieder fünfundzwanzig Stück in einem Kühlwagen hier angekommen, plus drei, die schon am Autobahnrastplatz ausgekippt worden sind. (ST 31)

Im Stück werden die Toten ständig von den Figuren angesprochen („Meine Herren Tote“, „Liebe Tote“, „Liebe herrenlose Tote“), ohne dass die Toten selbst oder die Familie der Ermordeten je zu Wort kommen. Die faschistoiden Figuren der Live-Sendung des ORF sind hier al113

114

Vgl. dazu: Sigrid Berka. „Das bissigste Stück der Saison: The Textual and Sexual Politics of Vampirism in Elfriede Jelinek’s Krankheit oder Moderne Frauen“. The German Quarterly 68.4 (1995): 372-388. Linda DeMeritt. „Staging Superficiality: Elfriede Jelinek’s Sportstück. Postwar Austrian Theater. Text and Performance. Hg.v. Linda DeMeritt and Margarete Lamb-Faffelberger. Riverside: Ariadne, 2002. 265.

80 leinige Sprachbesitzer, und auf diese Weise kommt die Sprachlosigkeit und Abwesenheit der Fremden, wie schon in Wolken.Heim, auch hier zum Ausdruck. Die ortlosen Fremden werden jedoch durch die Anrede der Sprachbesitzer andauernd auf die Bühne der Live-Sendung zitiert. Dazu Evelyn Annuß: Was Elfriede Jelineks Arbeit […] befragt, ist das stumme Nachleben der Opfer im Zitat unter der Verfügungsgewalt der Lebenden. Im inszenierten Schweigen der zitierten Opfer liegt das ethische Moment dieser Arbeit.115

Im Text wird die Ermordung der Roma an Auschwitz gespiegelt und deckt so die faschistische Wirkungskontinuität auf, welche der Tat zugrunde liegt: Wir sind beschenkt und überzogen von Ihnen, meine Herren Opfer! […] Ein ganzes Geschlecht ist inzwischen hier verwest, jawohl, und jetzt sind sogar noch vier Neue dazugekommen, und doch: man riecht nichts. (ST 41)

Jedoch wehren die Figuren die immer wieder an die Oberfläche kommende Erinnerung an die Naziverstrickungen ab, indem sie Entschuldigungen vorbringen. Eine Kundin gibt zum Beispiel die historische Unschuld der Österreicher kund, indem sie den Staatsbesuch des österreichischen Bundespräsidenten in Israel kommentiert: Unrecht hatte der Bundespräsident aber insofern, als er ja logischerweise die heute lebenden Österreicher vertritt, die aber schon auf Grund ihres Lebensalters in erdrückender Mehrheit mit Hitler gar nichts mehr zu tun haben konnten. Einmal muß Schluß sein. (ST 55)

Es tauchen Celan-Zitate im Text auf, die als „Wider-Rede“ und „GegenGesang“116 fungieren, damit sich die Sprache über die Ermordung der Roma nicht beruhigt. Hierbei ist die Sprache Celans nicht mit der aggressiven Sprache der Figuren zu vereinen; durch die eingelegten Celan-Zitate kommt den Figuren die Erinnerung an die Opfer ungewollt und völlig 115

116

Evelyn Annuß. „Im Jenseits des Dramas. Zur Theaterästhetik Elfriede Jelineks“. Text+Kritik 177 (1999). 49. Stephanie Kratz. „Von babylonischen Mauern, Nachbarskindern und freundlichen Planeten bei Elfriede Jelinek“. Anführen-Vorführen-Aufführen. Texte zum Zitieren. Hg.v. Volker Pantenburg und Nils Path. Bielefeld: Aisthesis, 2002. 269.

81 unvermittelt ins Gedächtnis und bildet einen Gegendiskurs zu deren aggressiver Sprache. In ihrem Essay zu den Zitaten Celans in Stecken, Stab und Stangl kommt Janz dagegen zu dem Schluss, dass diese als Versinnbildlichung der Opfersprache von den Täterfiguren total vereinnahmt werden und so die Opfer zum Verschwinden bringen. Selbst dort, wo sich die Zitate nicht der Sprache anpassen, leisten sie keinen Widerstand mehr, da sie einfach uninteressant geworden sind.117 Doch sprechen die Celan-Zitate aus den Figuren wie „Wirts-körper“118, die keinen Zugriff auf die störenden Wörtern haben. Daher wird die „Stabilität der […] Rede durch diese unverfügbaren Worte anscheinend erheblich beeinträchtigt […]“.119 Die Zitate sind in ihrer Unlesbarkeit unvergesslich, sie sind „Unfug“ und „fremde Wiedergänger-Worte“120, die als Verschlucktes immer wieder unvermittelt auftauchen, beispielsweise bei der Fleischerfigur: leiernd, uninteressiert, ganze Silben verschluckend als läse er aus einer Zeitung vor: „Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens. Vor jedem der wehenden Tore blaut dein enthaupteter Spielmann“ (ST 60). Hier steht die Opfersprache im Kontrast zur Tätersprache und ist nicht assimilierbar. Auch an andere Stelle hat sich die Erinnerung an die Opfer verselbständigt: „Hände und Füße sahen aus dem Grab heraus, derart schlecht waren sie mit Erde bedeckt“ (ST 62). Und: Eine Erinnerung hab ich noch: schaun Sie, der Hügel dort drüben. Es scheint eine Gruppe von Menschen […], die sich, da sies noch nicht fassen können, daß sie tot sind, aus ihren Gruben erheben und die Erde nachlässig von den Leichenhemden schnippen. (ST 59)

In den Alpen thematisiert erneut Ausgrenzung, Sport, Tourismus und die Medien. Das Stück ist eine Reaktion auf den Unfall einer Gletscherbahn am 11. November 2000. In der Bahn bricht ein Brand aus, alle 155 Insassen, die auf dem Weg zum Skifahren auf dem Kitzsteinhorn waren, verbrennen in kürzester Zeit. Nachforschungen ergeben grobe Sicherheitsmängel der Bahn und Fahrlässigkeit des Personals. Jelinek sieht darin ein Indiz für die Gier nach Profitmaximierung im Fremdenverkehr. Im Stück kommt eine Gruppe toter Skiläufer zu Wort, die in einer Tal117

118 119 120

Marlies Janz. „Das Verschwinden des Autors. Die Celan Zitate in Elfriede Jelineks Stecken, Stab und Stangl“. Celan-Jahrbuch (1999). 288-291. Stephanie Kratz, „Von babylonischen Mauern“, 270. Ebd., 270. Ebd., 270.

82 station warten. Es stellt sich heraus, dass sie in einem Warteraum sind, der der Warteraum zum Jenseits ist. In der Mitte des Stückes tritt ein alter Mann hinzu, der den Dichter Celan repäsentiert. Jelinek fügt ihrem Text Zitate aus dem Alpinismus ein, „Brennstäbe“, wie Jelinek diese Zitate nennt, „die in den Text-Reaktor, der da vor sich hinkocht, […] einen Ausschluß [manifestieren] […]: de[n] kollektive[n] Ausschluß der Anwesenheit anderer“.121 In die Sprache des Alpenismus sieht Jelinek den Antisemitismus von vorneherein und seit seinen frühsten Anfängen eingeschrieben. Mit dem Auftreten der Celanfigur tritt den Skifahrern jemand entgegen, der nie dazugehören durfte. Die Zitate aus Celans „Gespräch im Gebirg“ stellen wie schon in Stecken, Stab und Stangl die Opfersprache in einen Kontrast zur Tätersprache. Der Ausgeschlossene darf nicht teilhaben an der Natur, die „rein“ ist und in der der Fremde keinen Platz hat: Still wars also, still dort oben im Gebirg. Nicht lange wars still, denn wenn der Jud daherkommt und begegnet einem zweiten, dann ist es bald vorbei mit dem Schweigen, auch im Gebirg. Denn der Jud und die Natur, das ist zweierlei, immer noch, auch heute, auch hier. (IDA 44)

In dem Stück werden ebenfalls die Medien kritisiert, die aus dem Unfall ein Medienspektakel machen: „So ein Ereignis ereignet sich schließlich nicht oft, das ist beste Werbung, zur Hauptsendezeit“ (IDA 11). Darüber hinaus wird in Frage gestellt, ob ein Ereignis überhaupt authentisch bleiben kann, wenn Kameras erscheinen. In Bezug auf den Trauergottesdienst für die Opfer des Unglücks sagt eine Figur: „[E]s werden […] Männer und Frauen erscheinen, die beinahe in die Kamera schluchzen, indem sie nicht zu wissen vorgeben, daß es Kameras sind, vor denen sie da so furchtbar weinen“ (IDA 20). In ihrer Analyse von Pressestimmen zu den Stücken Stecken Stab und Stangl und In den Alpen kommt Elisabeth El Refaie interessanterweise zu dem Schluss, dass Jelineks Kritik an journalistischen Praktiken und ihre Ironisierung der Mediendiskurse von Rezensenten oft missverstanden werden.122 Mit Bambiland baut Jelinek ihre Kritik an den Massenmedien weiter aus. Die Medien, welche aus Mord und Tod ein Unterhaltungsspektakel 121

122

Elfriede Jelinek. „Nachbemerkung“. In den Alpen. Drei Dramen. Berlin: Berlin Verlag, 2002. 254. Elisabeth El Refaie. „Dramatist with a talent for dramatization: Elfriede Jelinek’s Manipulation of the Media“. German Life and Letters 57.3 (2004). 341.

83 machen und den Zuschauer nicht etwa über diese Taten aufklären, sondern ruhig stellen, werden hier mit dem Krieg und der Kriegsführung in direkten Zusammenhang gebracht. Die Medien sind nun Verbündete der Kriegsführer und -treiber. Jelinek bezieht sich in Bambiland auf den Irakkrieg im Jahre 2003, in dem Kriegsberichtserstatter, sogenannte „embedded journalists“, Teil der US-Armee waren und von der Front direkt berichteten. Nie zuvor gab es ein solch nahes Verhältnis zwischen dem Militär und den Medien. In Bambiland beleuchtet Jelinek diese Beziehung kritisch und stellt die Frage, inwieweit die Medien überhaupt noch unabhängig über den Irakkrieg Berichterstattung leisten können, begeben sie sich doch in unmittelbare Nähe zur kämpfenden Armee und geben dadurch eine Distanz und einen unabhängigen Standpunkt auf. Die Kontrolle der öffentlichen Darstellung des Krieges liegt somit völlig in den Händen des Militärs. Darüber hinaus kritisiert Jelinek mit ihrem Drama, dass die Kriegsdarstellung durch die noch nie zuvor existierende Nähe der Reporter zu Gefechten dem Fernsehzuschauer eine Gleichzeitigkeit und somit Echtheit des Geschehens vermittelt, „[h]autnah dabei zu sein, wenn die Söhne erbeuten die Stadt“ (BL 24) und die Kriegsdarstellung als Unterhaltungsspektakel präsentiert wird. Somit wird die öffentliche Repräsentation des Krieges an den Unterhaltungserwartungen des Zuschauers gemessen, nicht aber an der Objektivität und Genauigkeit des jeweiligen Kriegsgeschehens, „[d]amit wir auch im Dunkeln sehen, wie einschlägt der Blitz im Strom des feindlichen Heers“ (BL 17). Dem Zuschauer wird der Krieg in für ihn abgefasste Bilder und Geschichtchen erzählt und erklärt, die nichts mehr mit der Realität, geschweige denn mit Brutalität und echtem menschlichen Leid zu tun haben: Der Zuschauer konsumiert den Krieg. Die Repräsentation der Gefechte als Medienspektakel verharmlost das Kriegsgeschehen und verwischt die Grenzen zwischen Realität und Phantasie in eine Hyperrealität: „Realität ist graduell nur Scheinbarkeit, und zwar gemessen an der Stärke des Anteils, den wir dem Schein geben. Aus. Ich habe meinen ganzen Anteil dem Schein gegeben. Jetzt bin ich zufrieden“ (BL 83). Der Titel verweist auf die Disneyfigur „Bambi“ und auf Disneyland, die als Metapher für Gesellschaften stehen, in der die Realität zu einer Simulation geworden ist.123 Bambiland ist eine anti-kapitalistische Kritik am Krieg, dessen Ziel eine Profitmaximierung ist, „[e]s ist absolut ungerecht, zu behaupten, wir 123

Vgl. dazu: Jean Baudrillard, Simulations, und meine Ausführungen dazu in Kapitel 2.

84 machten mir diesem Krieg unsere Profite, weil wir nämlich auch mit vielen andren Kriegen unsere Profite machen“ (BL 61). Der Text kritisiert das Bündnis zwischen der Regierung, dem Militär und den Firmen, die zusammen einen imperialistischen Krieg anzetteln. Die Ähnlichkeit zu George W. Bush und Vize-Präsident Dick Cheney, die Ölgeschäfte betrieben, liegt auf der Hand. Die Öl- und Baufirma „Halliburton“, mit der Dick Cheney früher geschäftliche Verbindungen hatte und die von der US-Regierung mit einem Millionenauftrag im Irak versehen wurde, steht in Bambiland als Symbol für eine korrupte Regierung, die mit Krieg eigenen Profitinteressen nachgeht: „[D]enn Aufbauen ist wichtiger als Kaputtmachen, das ist eine menschliche Konstante. Und wenns ans Aufbauen geht, dann ist Halliburton, der teure, angenehme Konzern schon da“ (BL 58). Die Sprache in Bambiland imitiert die der Medien, dem Text sind Zitate von CNN, George W. Bush, Heidegger, Friedrich Nietzsche und der Bibel eingelegt. Jelinek bezieht sich darüber hinaus am Anfang des Textes ausdrücklich auf Aischylos’ Perser, ein Text, der die Schlacht um Salamis im Jahre 480 v.Chr. aus der Sicht der Verlierer darstellt. Mit der Wahl dieses Textes stellt Jelinek die Komplexität des Krieges dar, der sich nicht nur in die einfache Kategorie Sieger/Verlierer einordnen lässt. Durch die Vielzahl der gegensätzlichen Stimmen, die sich zu einem Chor formieren, wird die Grenze zwischen Sieger und Verlierer verwischt. Der Text verwehrt dadurch eine eindeutige Perspektive und eine simple Präsentation einer Kriegsgeschichte oder eines Kriegshelden. Der Leser/ Zuschauer ist daher ständig gezwungen, sich im Text neu zu orientieren. So appelliert Bambiland im Chor an ein „wir“, „das „Volk“, paradoxerweise gleich an „uns“, an uns „alle“, die wir nicht nur Leser, sondern auch Fernsehzuschauer und Ölverbraucher sind“.124 Mit dem ersten Satz „[s]chon durchdringt schon dringt hindurch die Sonne, erster Bote des Leids“ (BL 15) setzt Jelinek den zweiten Golfkrieg in den historischen Kontext der griechisch-persischen Kriege der Antike und geht zugleich über die Mediensprache der Verharmlosung hinaus. So konstatiert Bärbel Lücke: Es ist vor allem das immer wieder beschworene Leid – eine quasianthropologische Konstante in allen über die Jahrtausende erlitte124

Bärbel Lücke. „Der Krieg im Irak als literarisches Ereignis: Vom Freudschen Vatermord über das Mutterrecht zum islamistischen Märtyrer“. Weimarer Beiträge 50.3 (2004). 366.

.

85 nen Kriege –, mit dessen Benennung in diesem ersten Satz über alle Disney-Bambiland-Szenarien hinweg an die Toten gemahnt wird – in einem Akt gleichsam archaischen Eingedenkens.125

Indem Bambiland die Sprache der Medien imitiert, werden die ideologischen Agendas der Medien als Sprachrohr der Kriegsführer freigelegt, die unter dem Deckmantel einer Objektivität über den Krieg berichten. Darüber hinaus offenbart Jelinek durch die Imitation der Mediensprache und unter Benutzung einer Vielzahl von Zitaten aus unterschiedlichsten Bereichen – zum Beispiel aus der Religion, der Politik, der Sexualität und der Technik – wie sehr die Medien genau diese Bereiche mischen und zu einer Narration verwischen, sodass man am Ende gar nicht mehr weiß, worum es im Irakkrieg eigentlich geht. Die Kritik beider Schriftsteller an der ungebrochenen und vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossenen Wirkungskontinuität des Faschismus in Österreich und der DDR bettet die vorgestellten Theaterstücke in einen politischen Kontext, der völlig quer zur nationalen Identität der (Ost-) Deutschen und Österreicher steht. Müllers Schreiben gilt vornehmlich dem sozialistischen Projekt, das wegen der ungebrochenen Tradition von Preußentum und Nationalsozialismus in der DDR scheitert. Die DDR ist für den Marxisten Müller die Verlängerung dieser Tradition, bei welcher der Staat nur vordergründig durch die Konstruktion des Antifaschismus mit der deutschen Vergangenheit bricht. Jelineks Vorhaben wendet sich vor allem gegen die Konstruktion der historischen Unschuld der Österreicher gegenüber ihrer NS-Vergangenheit, die dem gegenwärtigen Faschismus den nötigen Deckmantel bietet. Beide Dramatiker beschreiben den Faschismus als menschenverachtend und menschenvernichtend. Jelinek gelingt Faschismuskritik am besten, wenn sie die Konsequenzen des Faschismus als Farce präsentiert: Menschenfressende Politiker (Präsident Abendwind) brauchen eigentlich ihr Volk nicht mehr (Haider-Figur in Das Lebewohl: „Wir sind alle“). Müller stellt die Wirkung der Faschisten als Sieger über die Kommunisten im ewigen gegenseitigen kriegerischen Abschlachten dar. Der Zweite Weltkrieg, hier vor allem der Kampf um Stalingrad (Germania Tod in Berlin, Germania 3 Gespenster am toten Mann), und die Teilung Deutschlands (die Berliner Mauer als Denkmal für Rosa Luxemburg) werden immer wieder als Konsequenzen des deutschen Faschismus zitiert. 125

Bärbel Lücke, „Der Krieg im Irak als literarisches Ereignis“, 364.

86 Das Stück Die Schlacht verdeutlich, dass Müller den Faschismus als Gewalt sieht, die auf die sittliche Substanz der Bevölkerung abzielt, d.h. durch die faschistische Herrschaftsgewalt versagen Formen wie Solidarität, Gemeinschaft und Zusammenhalt. Unter dem Druck von Gewalt hält die sozial-emotionale Bindung des Bruderpaares A und B nicht stand. Dabei steht für den Dramatiker der Verrat im Mittelpunkt, der durch die faschistische Gewalt herbeigeführt wurde und die Solidarität und Gemeinschaft sprengt, wie mit dem Bruder B demonstriert wird. Zudem zeigt Müller mit dem Bruderstreit eine weitere, durch den Faschismus hervorgerufene und geförderte Haltung, nämlich die der Selbsterhaltung und des angepassten Verhaltens. Bruder A lässt die Zerstörung seiner Beziehung zum Bruder zu, da er selbst Ausgrenzung von der Gruppe fürchtet. Faschistische Herrschaft führt zum Abbau des Humanen und der Humanität. Interessant ist, dass dem Verrat der Wunsch zu sterben entgegengesetzt wird. Im Todeswunsch des Bruders B beschreibt der Schriftsteller einen Gegenentwurf zur Selbsterhaltung, die für ihn eine Form von Opportunismus mit der Herrschaftsgewalt der Faschisten ist. Im Tod besiegt der Bruder B quasi die faschistische Gewalt. Die Möglichkeit, sich über das eigene Leben zu erheben, hat für Müller emanzipatorische Bedeutung. Der Tod wird in späteren Werken zur Revolution ausgebaut. Im Gegensatz zu Müller konstruiert Jelinek ihre Figuren als grundsätzlich faschistoid. Der Selbstentwurf der Figuren, so zum Beispiel in Wolken.Heim, Totenauberg oder in Das Lebewohl, zeigt den Faschismus als Existenzvorlage. Die Ausschließlichkeit, mit der im Identitätsentwurf der Faschismus angelegt ist, lässt bezweifeln, ob jemals Humanität und das Humane existiert haben. Diese Entmenschlichung der Figuren lässt auch die Frage nach Leben und Tod, und vor allem die Ästhetisierung von Tod wie im Müller’schen Œuvre, nicht zu. Die Figuren in Jelineks Texten üben, wie in den Dramen Müllers, faschistische Gewalt aus, jedoch weniger, um Gemeinschaft oder Solidarität zu zerstören, denn die faschistoide Haltung der Bevölkerung entspricht der der Mächtigen. Die Autorin betont den brutalen Fremdenhass und die aggressive Ausgrenzung der Anderen, Müller dagegen hebt die Selbstvernichtung in den eigenen Reihen als Konsequenz des Faschismus hervor. Beide Schriftsteller zeigen darüber hinaus, dass es die braune Politik letztendlich auf die Eliminierung der Bevölkerung abgesehen hat. Während Müller dies mit Selbstvernichtung, gegenseitigem Abschlachten und kriegerischen Auseinandersetzungen darstellt, zeigt dies Jelinek satirisch mit dem Kannibalismus der braunen Politiker.

87 Sowohl Jelinek als auch Müller ziehen das 19. Jahrhundert heran, um die Wirkungskontinuität von faschistoiden Verhaltensweisen zu demonstrieren. Müller stellt dies in seinem Stück Leben Gundlings dar, bei dem vor allem die körperliche Dressur und Abrichtung für die Zerstörung des Subjektiven und Menschlichen und das damit einhergehende (körperliche) Funktionieren ausschlaggebend ist. Faschistoide Verhaltensweisen, wie Brutalität und Gewalt, schreiben sich somit in den Körper ein. Der Körper transportiert die faschistische Ideologie, der menschliche Körper wird ideologisiert. Jelineks Wolken.Heim zeigt mit der Verwertung von Zitaten einflussreicher Intellektueller aus dem 19. Jahrhundert die Verlängerung völkischen Gedankenguts in die Gegenwart auf. Es ist die Sprachkonstruktion der verwendeten Zitate, die das so sichtbar gemachte faschistoide Gedankengut transportiert. Die sprachliche Demontage, auf der das Augenmerk der Autorin liegt, entlarvt den Faschismus. Somit ist es nicht der Körper in den Texten Jelineks, sondern die Sprache, in die sich der Faschismus einschreibt und durch die er transportiert wird. In der Ästhetisierung des Todes in den späteren Texten Müllers, so in Der Auftrag und Anatomie Titus Fall of Rome, verdeutlicht der Theatermann den Vollzug des Bruchs mit der Wirkungskontinuität nicht nur der deutschen, sondern auch der gesamten europäischen Geschichte. Die Figur Aaron in Anatomie kommt daher aus dem Totenreich; schon Sasportas in Der Auftrag hat im Gegensatz zu der europäischen Figur Debuisson eine „authentische“ Beziehung zum Tod. Müller sieht den Tod als Gegenentwurf zur rationalistischen Tradition der Aufklärung, bei der die Ökonomie des Kapitalismus als Endprodukt der Aufklärung den Tod und dessen Erfahrung ausklammert. Wenn in der Ökonomie des Kapitalismus der Todesbegriff hinderlich ist, so folgert Müller, kann nur allein der Tod die kapitalistische Ökonomie beenden. Indem der Tod revolutionäre Energie besitzt, werden Tod und Utopie unwiderruflich miteinander verschränkt. Mit Der Auftrag und Anatomie Titus Fall of Rome wird das nie befreite europäische Proletariat mit der Bevölkerung der Dritten Welt eingetauscht und zum neuen revolutionären Subjekt. Das hier entworfene Revolutionsmodell ist zugleich die Revolte des Körpers gegen die rational strukturierte Welt, die nur abgerichtete und dressierte Körper produzieren kann. Mit dem Einführen der Figur Sasportas in Der Auftrag lehnt Müller explizit die Synthese von Rationalität und Revolution ab. Der Figur ist die Revolution als Körperrevolte eingebaut. Daher richtet sich die Position des schwarzen Sasportas gegen die des weißen Intellektuellen und Sklavenhalters Debuisson als Repräsentant von

88 Rationalität und Privateigentum, und nicht gegen die des Bauern Galloudec. Im Gegensatz zu Sasportas hat Debuisson nur deshalb Angst vor dem Tod, weil er als körperlich Abgerichteter der Todeserfahrung enteignet worden ist. Wenn die Revolution der Bruch mit den bisherigen Verhältnissen (Abschaffung des Privateigentums) ist, so korrespondiert das damit wiederhergestellte „natürliche“ Verhältnis zum Tod mit der Rekonstruktion von gesellschaftlichen Naturverhältnissen. Revolution ist demnach die Wiederaneignung des eigenen Todes und ist identitätsstiftend. Im krassen Gegensatz dazu liefern Jelineks Texte weder eine Programmatik der Utopie noch fungieren ihre Figuren als Hoffnungsträger. Vielmehr zeigt die Autorin, was der Tod ist: das Ende des Lebens. Als ideologische Vollstreckerin des Holocaust spricht die Erlkönigin aus dem Totenreich. Als Tote, die immer weiterredet, bringt sie den Fremden genau das, was sie versinnbildlicht: den Tod. Auch die „Wir“-Stimme in Wolken.Heim spricht einen Monolog, der die Konsequenzen dessen, was die Stimme formiert, verdeutlicht, nämlich Tod und Vernichtung der nicht zum „Wir“ Gehörenden. Der Tod ist an eine präzise Struktur gebunden, die Faschismus heißt. Der Faschismus ist in den Texten der Österreicherin eine Allegorie des Todes. Jeglicher Gegenentwurf zum Akzeptierten und Bekannten endet in den Texten Jelineks in der Vernichtung der nicht Dazugehörenden oder ihnen wird von vorneherein die Existenz (die sprachliche Existenz) verweigert. So kommt in Wolken.Heim lediglich das sich aggressiv formierende „Wir“ zur Sprache, alle anderen neben dem „Wir“ haben keinen Platz. Die Opfer des Bombenanschlags in Stecken, Stab und Stangl werden aus ihren Gräbern hervorzitiert, ohne jedoch jemals zu Wort zu kommen oder eine von der Sprache der Täter unabhängige Existenz zu haben. Ein utopisches Programm ist in den Texten Jelineks abwesend, die Hoffnung auf Revolution, Erlösung und grundsätzliche Änderung der Herrschaftsverhältnisse wird absolut negiert. Während sich Müller um ein utopiegeleitetes Konzept bemüht, stellt Jelinek dar, dass jegliche Herrschafts- und Sprachdiskurse nicht naturgegeben sind, sondern dass diese Diskurse ihre Herrschaft lediglich durch den Mythos konsolidieren. Ein Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen läuft in den Jelinek’schen Dramen auf gerader Linie in die Vernichtung, während Müller im Gegensatz dazu mit den Figuren Sasportas und Aaron (antiintellektuell, anti-europäisch, anti-rational) gerade den Fremden und Nicht-Dazugehörenden die Kraft zuschreibt, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.

89 Jelinek entlarvt und kritisiert mit der Schreibweise des Nichtentwurfs jegliche literarische Diskurse – und dazu gehört auch der von Müller –, die in ihrem Programm die aufrechterhaltende Utopie als Befreiungsbewegung der Gegenwart und Zukunft sehen. So sind für Jelinek auch der Tod und die Revolution, die für Müllers spätere Texte die hauptsächliche Komponente eines gesellschaftlichen Umschwungs darstellen, nichts anderes als die ewige Wiederkehr des Mythos von Tod und Revolution. Wenn durch Revolution in den Augen Müllers endlich die Gleichheit aller Menschen eingeläutet wird, dann kann das für Jelinek nur sentimental sein. Der Mythos der Revolution liefert in den Augen der Autorin dem Humanismus und den Revolutionären das nötige Alibi, verschleiert aber zugleich historisch wie politisch bedingte Unterschiede und verhindert dadurch gerade das Aufdecken von sozialen Ungerechtigkeiten. Laut Jelinek holt vielmehr der Menschlichkeitsmythos der Gleichheit aller den Anderen, zu dem sich der Österreicher hingezogen und zugehörig fühlen soll, aus der Wirklichkeit heraus und macht ihn in Parallele zu den schwarzen Kämpfern und Revolutionären Sasportas und Aaron zu einem exotischen Objekt. Der Andere wird derart entstellt, d.h. in einer so unwirklichen und abstrakten Art vorgeführt, dass der Fremde keinerlei Gefahr mehr für den österreichischen Kleinbürger darstellt und ihm daher Einlass in die „große Familie der Menschen“ gewährt wird. Die Mythoszertrümmerung führt das darunter liegende Gegeneinander der Menschen und das Gegenteil von Gleichwertigkeit vor, wie die Ungleichheit und Ungerechtigkeit von Mann und Frau, Österreicher und Ausländer, etc. Die utopische, klassenlose Gesellschaft und der universale Mensch als Leitbild für den Trivialmythos hat in den Texten Jelineks ein für alle mal ausgedient. Beide Schriftsteller verdeutlichen in ihren Figuren die Schuldhaftigkeit des Vergessens und konstruieren durch ihre Theatertexte eine Bühne des Erinnerns. Die Jelinek’schen Figuren täuschen im Vergessen ihre Unschuld gegenüber den NS-Verstrickungen vor und betreiben weiterhin unter dem Deckmantel des Vergessens und der historischen Unschuld faschistoide Politik. Das Vergessen und die Vergesslichkeit sind eindeutige Merkmale der Figuren, in Burgtheater genauso wie in Präsident Abendwind, Totenauberg, Stecken, Stab und Stangl und Das Lebewohl. Die Figuren beschließen durch ihr permanentes Vergessen und Verdrängen der Vergangenheit, dass die Geschichte einfach noch mal von vorne beginnt, mit ihnen als Unschuldige. Das Vergessen fungiert als Reinwaschen jeglicher Schuld und Verwicklung in den NS-Terror: Unschuld durch Ge-

90 dächtnisschwund also. Daher konzipieren die Figuren Jelineks ein Alibi, welches entweder mit dem Selbstentwurf des „Ich“ einhergeht (Wolken.Heim, Totenauberg), sich hinter dem Mythos des unschuldigen Künstlertums versteckt (Burgtheater, Erlkönigin), oder auch durch Unschuldsphrasen wie „Einmal muß Schluß sein“ (ST 52), „Wir machen ja nichts“ (LW 12) geschaffen wird. Durch diese Rechtfertigungen müssen die Figuren eine Erinnerung gar nicht erst leisten. Die Bühne fungiert bei Jelinek als Ort, welcher den Zuschauern einen Spiegel vorhält und sie auffordert, Erinnerungsarbeit zu leisten. Müller konstruiert das Vergessen als Strafe für den Austritt aus der für ihn wichtigen geschichtlichen Bewegung. Vergessen, in den Augen Müllers, heißt Stillstand der Geschichte. An der Figur Debuisson in Der Auftrag wird dies besonders deutlich. Debuisson verrät die Revolution und verliert deshalb seine Erinnerung, d.h. den Verlust seiner Identität. Im Gegensatz zu Sasportas steht Debuisson ernüchtert vor der Möglichkeit einer Revolution. Der Widerspruch zwischen dem Einleiten eines humanen Lebens für alle Menschen durch die Revolution und die zu dieser Durchsetzung geforderten Opfer ist für Debuisson nicht lösbar. An dieser Stelle nimmt Debussion die Haltung des Nichtmehrwissenwollens ein (vgl. AF 66-67). Die Revolution wird eingetauscht gegen Glücksverlangen (Besitz, Lust, Genuss). Mit der Niederlage der Revolution in den Augen Debuissons wird das Gestern und das Morgen zur ewigen Gegenwart. Diese ewige Gegenwart ist hier die Metapher für das Vergessen, d.h. für den Geschichtsverlust. Dieses Verhalten ist schuldhaft, denn Debuisson ordnet die Ziele der Revolution (Entbehrungen) den eigenen Wünsche nach Glück unter und verrät den Auftrag. Mit der Figur Debuisson verdeutlicht Müller, dass der Ausfall des Gedächtnisses an den Verlust jeglicher Verbindung zur Revolution gebunden ist. Müllers Theater ist ein Erinnerungsraum, der die verlorene Verbindung zur Revolution ins Gedächtnis ruft, immer auch an die Vorstellung gebunden, dass die Revolution den Bruch mit dem Faschismus (und der ganzen europäischen Geschichte der Katastrophen) einläutet. Trotz Unterschiede im Jelinek’schen und Müller’schen Œuvre ist festzuhalten, dass das Theater für beide Dramatiker eine Stätte ist, an der die Aufarbeitung der Geschichte beginnt. Es ist ein Ort, an dem eine kollektive Auseinandersetzung mit einer vergesslichen Gegenwart gesucht wird. Hierbei muss sich das zeitgenössische Theater als Ort des Erinnerns von den Massenmedien absetzen, die Erkenntnis, Erfahrung und Handeln mehr und mehr durch ein standardisiertes und vorgeformtes

91 Abbild ersetzen. Wenn die Dramen von Jelinek und Müller den politischen Widerstand gegen den Faschismus zum Gegenstand haben, dann muss das Theater auf die medienbegünstigte Verdrängung von Vergangenheit und Gedächtnis sowie auf die Grenzverwischung zwischen Bild und Wirklichkeit, zwischen Politik und Ästhetik antworten.

Kapitel 2 Postmoderne Medienlandschaft Hitler [ist] vielleicht ein vulgärer, aber doch typisch deutscher Künstler […], der sich nur – zu unser aller Unglück – im Medium geirrt hat. Statt einen Film zu drehen, hat er die Realität als Regisseur komponiert und mit einem ganzen Volk als Schauspieler und Komparserie den Untergang Europas inszeniert, wobei ihm […] das Vernichtungswerk großartig gelungen ist. Iring Fetscher über Hans Jürgen Syberbergs Film Hitler, ein Film aus Deutschland.

In einem Brief an Oscar A.H. Schmitz konstatiert Walter Benjamin: „[D]ie wichtigen, elementaren Fortschritte der Kunst sind weder neuer Inhalt noch neue Form – die Revolution der Technik geht beiden voran“.1 Wichtigste Neuerung in der Kunst sind die durch die Technik hervorgebrachten Massenmedien, denn diese strukturieren die Wahrnehmungsmodi grundsätzlich um. Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) ist ein klassisches Dokument für die Veränderung der Vermittlung von Kunst und ihrer Wahrnehmung, die sich durch die Medien Film und Fotografie am Anfang des 20. Jahrhunderts einstellen und zu der ab Mitte der zwanziger Jahre das Theater Stellung nehmen musste. In seinem Aufsatz entwickelt Benjamin Kategorien einer Kunstpraxis, die sich aufgrund der Reproduktionstechnologie in ihrem Gebrauchs- und Funktionswert grundsätzlich geändert hat und sich an den veränderten Wahrnehmungsbedürfnissen der Massen orientiert. Er analysiert zugleich die politische Selbstinszenierung der Nationalsozialisten vor allem mittels Film, welche die Reproduktionsmedien gekonnt für sich in Anspruch nehmen. Mit der Entwicklung der beliebig reproduzierbaren Kunstformen der Fotografie und des Films, schreibt Benjamin in seinem Aufsatz, verliert das Kunstwerk seine Echtheit, seine Einzigartigkeit und sein Eingebettetsein in einen Traditionszusammenhang: das Kunstwerk verliert seine Aura. Der Kultwert des Kunstwerkes wird wegen seiner Reproduzierbarkeit durch einen Warenwert ersetzt. Mit dem Verlust von Aura wird 1

Walter Benjamin. „Erwiderung an Oscar A.H. Schmitz“. Gesammelte Schriften. Hg.v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Vol II.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974. 753.

93 ein neues Verhältnis der Kunst zum Rezipienten wie des Rezipienten zum Kunstwerk konstituiert. Um die Änderung in der Wahrnehmung zu verdeutlichen, vergleicht Benjamin in seinem Essay die Position des Zuschauers im Film mit der des Publikums im Theater. Der Bühnenschauspieler präsentiert sich dem Publikum durch seine eigene Person, während der Filmschauspieler sich durch eine filmische Projektion präsentiert. Das Publikum ist durch die Kamera ersetzt. Das Filmpublikum erhält die Position eines durch keinerlei persönlichen Kontakt mit dem Darsteller gestörten Begutachters. Dieser fühlt sich in den Darsteller ein, indem er sich in den Apparat einfühlt, der wiederum einer Folge von Stellungnahmen durch den Kameramann, Cutter etc. unterworfen ist. Die Aura der Darstellung fällt weg. Im Gegensatz zum Theater oder zur Malerei bietet der Film jedoch eine weitaus größere Analysierbarkeit, „die Leistungen, die der Film vorführt, [sind] viel exakter und unter viel zahlreicheren Gesichtspunkten analysierbar, als die Leistungen, die auf dem Gemälde oder auf der Szene sich darstellen“.2 Die bessere Analysierbarkeit des Dargestellten ist durch die Fähigkeit einer höheren Isolierbarkeit wie Großaufnahme, Zeitlupe etc. im Film gegeben. Somit ist die Hauptbedeutung des Filmausschnitts im Vergleich zu einer Bühnenszene in der Tendenz zu sehen, „die gegenseitige Durchdringung von Kunst und Wissenschaft zu befördern“.3 „So wird handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die zu der Kamera als die zum Auge spricht“.4 Die Position des Filmzuschauers zum Film ist eine völlig andere als die des Gemäldebetrachters zum Gemälde oder die des Bühnenzuschauers zur Bühne: Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich einem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden.5

Die Wirkung, die damit verbunden ist, beschreibt Benjamin, indem er Duhamel zitiert: „Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will. Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken ge2 3 4 5

Walter Benjamin. „Das Kunstwerk“, 35. Ebd. Ebd., 36. Ebd., 38.

94 setzt“.6 Die Schockwirkung des Films beruht auf der Veränderung im Assoziationsablauf, bei dem die Bilder ständig variieren und anders geleitet werden. Die Aufgaben, die dem menschlichen Wahrnehmungsapparat durch den Film gestellt werden, können auf dem Wege der bloßen Optik, der Kontemplation, gar nicht gelöst werden, sie werden aber allmählich durch die Gewöhnung bewältigt. Es ist die Rezeption in der Zerstreuung, in der die veränderten Aufgaben der Aufnahme und Verarbeitung von äußeren und inneren Eindrücken bewältigt werden. Vor Benjamin hat Ernst Jünger bereits im Jahre 1932 den Film als einen der wichtigsten medientechnischen Gründe für die Tatsache genannt, dass sich heute „der Mensch wie unter lautlosen und unsichtbaren Kommandos zu bewegen beginnt“.7 „Wir nähern uns Zuständen“, schreibt Jünger 1934, in denen eine Nachricht, eine Warnung, eine Androhung in wenigen Minuten jedes Bewußtsein erreicht haben muß. Hinter dem Vergnügungscharakter der totalen Mittel, wie die des Films und des Rundfunks, verbergen sich besondere Formen der Disziplin.8

Das Publikum nimmt zwar die Haltung des Beobachters und Begutachters ein, jedoch wird in ihr Aufmerksamkeit nicht mit eingeschlossen. Die Kunst, die sich der Zerstreuung bedient und die Massen mobilisiert, ist im Film zu finden. Benjamin schreibt: „Das Publikum ist ein Examinator, doch ein zerstreuter“.9 Das Ideal des Authentischen, und das ist das Anliegen Benjamins, ist nicht in der Frage einer identischen Wiedergabe der Realität zu suchen, sondern in Vermittlung der Realität, denn der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion ist seit jeher bei den traditionellen Künsten zu finden und bleibt auch dort nicht verborgen. Mit dem Auftreten des Films ist das Neue in der Vermittlung der Kunstbotschaft zu suchen. Es ist die Relation zwischen der Erfahrung des Zuschauers und der im Kunstmedium gegebenen Mitteilung, die bei den traditionellen Künsten die ausschlaggebende Rolle spielt. Mit dem Medium des Films jedoch ändert sich die Beziehung zwischen erfahrener und vorgetäuschter Wirklichkeit. Die im Film gezeigte Wirklichkeit hat nicht mehr unbedingt eine Referenz zu der vom Zuschauer gemachten Erfahrung in der Wirklich6 7 8

9

Ebd., 39. Ernst Jünger. Der Arbeiter. Herrschaft und Gewalt. Stuttgart: Klett, 1982. 138. Ernst Jünger. „Über den Schmerz“. Werke. Vol V.1. Stuttgart: Klett, 1980. 185. Walter Benjamin, „Das Kunstwerk“, 41.

95 keit. Dies bezeichnet Benjamin als Zerstreuung. Bleibt diese Referenz aus, ist die Kritikfähigkeit des Zuschauers zu dem Gezeigten nicht gegeben. Dazu Rolf Tiedemann: „Die Zerstreutheit ist Tatsache, aber sie gerade schließt die Möglichkeit von Spontaneität aus. Was in ihr endgültig liquidiert wird, ist die Fähigkeit zur kritischen Rezeption“.10 Mit der Veränderung der Wahrnehmungsformen tritt zudem, so konstatiert Benjamin, ein verändertes Verhältnis von Kunst und Politik zutage. Der Funktionswandel der Kunst setzt die Zerstörung von Aura voraus und zieht die Ästhetisierung des politischen Lebens nach sich, [I]n dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich die gesamte soziale Funktion von Kunst umgewälzt. An der Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt […] ihre Fundierung auf Politik.11

„So definiert sich jedes Medium historisch und so auch dessen Gebrauch“, bemerkt Hermann Haarmann, die Inanspruchnahme der Apparatur im Dienste faschistischer Propaganda verkehrt das daran Fortschrittliche in pure Regression. Deshalb auch liefen, wie Benjamin mit beklemmendem Weitblick anmerkt, alle Versuche der Ästhetisierung der Politik zusammen in einem Punkt: Dieser eine Punkt ist der Krieg.12

Die Ästhetisierung des politischen Lebens, wie sie die Faschisten durch das Medium des Films vorantreiben, gipfelt im Krieg, er ist für Benjamin die ästhetische Vollendung des l’art pour l’art: Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus vorantreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.13 10

11 12

13

Rolf Tiedemann. Studien zur Philosophie Walter Benjamins. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1965. 111. Walter Benjamin, „Das Kunstwerk“, 18. Hermann Haarmann. „Walter Benjamins Beitrag zur Entkrustung das Faschismus – ein vergeblicher Versuch?“ Preis der Vernunft. Literatur und Kunst zwischen Aufklärung, Widerstand und Anpassung. Hg.v. Klaus Siebenhaar und Hermann Haarmann. Berlin: Medusa, 1982. 100. Walter Benjamin, „Das Kunstwerk“, 44.

96 Benjamin führt den propagandistischen Gebrauch der Massenmedien, die dadurch in Bewegung gesetzten Massen und den Krieg zusammen. In einer Fußnote hält er dazu noch einmal fest: Hier ist, besonders mit Rücksicht auf die Wochenschau, deren propagandistische Bedeutung kaum überschätzt werden kann, ein technischer Umstand von Wichtigkeit. Der massenweisen Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen besonders entgegen. In den großen Festzügen, den Monstreversammlungen, in den Massenveranstaltungen sportlicher Art und im Krieg, der heute sämtlich der Aufnahmeapparatur zugeführt werden, sieht die Masse sich selbst ins Gesicht. […] Kaders von Hunderttausenden lassen sich von der Vogelperspektive aus am besten erfassen. Und wenn diese Perspektive dem menschlichen Auge ebensowohl zugänglich ist wie der Apparatur, so ist doch an dem Bilde, das das Auge davonträgt, die Vergrößerung nicht möglich, welcher die Aufnahme unterzogen wird. Das heißt, daß Massenbewegungen, und so auch der Krieg, eine der Apparatur besonders entgegenkommende Form des menschlichen Verhaltens darstellen.14

Benjamins Beobachtungen der Ästhetisierung der Politik, die zum kardinalen Herrschaftsinstrument der Faschisten mittels Film gehört, wird von ihm als Versuch der Faschisten gesehen, „unter Umgehung der realen (politischen) Bedürfnisse und Forderungen der Massen deren Erfüllung im Schein zu suggerieren“.15 Somit erhoffen sich die Nazis die politische Ruhigstellung einerseits und die Realisierung der faschistischen Intentionen andererseits. Im Film könne das gegenwärtige Anliegen der Massen, schreibt Benjamin, befriedigt werden, nämlich „die Dinge sich räumlich und menschlich näher zu bringen […] wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von der Reproduktion ist“.16 Die Aufhebung der Aura leitet die Veränderung der Wahrnehmung ein, „deren ‚Sinn für das Gleichartige in der Welt‘ so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt“.17 In der technokratisch geplanten Wiederholung politisch-propagandistischer und symbolischer Abläufe, die dem gesamten Bereich faschistischer Öffentlichkeit einen rituellen Charakter geben, kann der Faschismus sich 14 15 16 17

Ebd., 42. Hermann Haarmann, „Walter Benjamins Beitrag“, 86. Walter Benjamin, „Das Kunstwerk“, 15. Ebd., 16.

97 immer erneut mit Ewigkeitswerten ausstatten.18 So spielen neben der filmischen Inszenierung die Neubelebung traditioneller Mythen, Symbolund Kultformen eine wichtige Rolle: [I]m Falle Hitlers verstärkt das Medium [Film] die Imitation eines religiösen Ritus und trägt – etwa duch die Evokation des Heldenmythos ‚vom Trommler zum Führer‘ – zur Erzeugung eines charismatischen Führers bei […].19

Die Perfektionierung dieser medialen Selbstinszenierung des Naziregimes findet ihren Ausdruck in den Reichsparteitagen und in der Olympiade. Die Anstrengung der faschistischen Führung läuft dahingehend, „die tatsächliche Ziellosigkeit ihres Handelns durch nationale Symbole zu überformen, die ein historisch und soziokulturell begründetes Bedürfnis der Massen ansprach“.20 Der Ästhetisierung der Politik stellt Benjamin die Politisierung der Kunst entgegen und sieht in Bertolt Brechts epischem Theater die Antwort auf die Politisierung der Kunst. Das epische Theater, so Benjamin in seinen Ausführungen über Brecht und sein Theater, wendet sich gegen die Prinzipien der Illusionsvortäuschung. Das anti-illusionistische Theater Brechts lehnt die Flucht in eine Illusionswelt ab, durch die sich der Film und das bürgerliche Illusionstheater auszeichnen. So imitiert das Theater mit der Unterbrechung der Handlungen, der die Verfremdung zugrunde liegt, zum einen den Film, zum anderen gibt das epische Theater dem Zuschauer die Position zurück, die Benjamin im Film aufgehoben sieht: die eines kritischen, unzerstreuten Beobachters. Benjamins kunsttheoretischer Essay über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und seine hier formulierte Kritik an dem Medium des Films und seinen Einsatz für die Politik des Faschismus ist natürlich aus heutiger Sicht veraltet. „So ist die Ästhetisierung der Politik“, schreibt Sigrid Lange, „durch die Vermittlung in den Medien heute 18

19

20

Ansgar Hillach. „Der Anteil der Kultur an der Prägung faschistischer Herrschaftsmittel. Was leistet Benjamins Diagnose des Faschismus?“ Walter Benjamin. Hg.v. Norbert W. Bolz und Richard Faber. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1985. 253. Dirk Tänzler. „Ritual und Medium. Zur filmischen Inszenierung politischer Reden Hitlers und Roosevelts“. Wahrnehmung und Medialität. Hg.v. Erika Fischer-Lichte, Christian Horn et.al. Tübingen: Francke, 2001. 122. Ansgar Hillach, „Der Anteil der Kultur“, 259.

98 selbstverständlicher Alltag jedweder Partei“.21 Trotzdem ist mit dem Auftreten der Massenmedien das Theater und seine Ästhetik mit den von Benjamin formulierten Änderungen im Wahrnehmungsmodus konfrontiert. In der heutigen Bilderflut und totalen Ästhetisierung der Lebenswelt durch die Massenmedien verschärfen sich sogar die Fragestellungen Benjamins zum Medium Film und zu dessen Einsatz für Politik und Meinungsbildung. Lange legt in ihren Ausführungen die ästhetischen Strategien dar, welche die Nationalsozialisten in Propagandafilmen, Unterhaltungsfilmen und den Wochenschauen verwenden. Das perfekte Selbstbild der Nazis schafft Leni Riefenstahl mit der „Dokumentation“ Triumph des Willens aus dem Jahre 1935 über den 6. Parteitag der NSDAP. Lange zufolge wird hier die Wirklichkeit durch die ideologische Mythologisierung von Hitler und seiner Botschaft substituiert, in dem der Diskurs einer altdeutschen Saga bemüht wird. Hierzu zitiert Lange den Eingangstext aus Riefenstahls Film: Am 5. September 1934/ 20 Jahre nach dem Ausbruch des Weltkrieges/ 16 Jahre nach dem Anfang des deutschen Leidens/ 19 Monate nach dem Beginn der deutschen Wiedergeburt/ kam Adolf Hitler wiederum nach Nürnberg/ um Heerschau zu halten über seine Getreuen.22

Danach sieht man Hitler unter den Klängen eines Symphonieorchesters per Flugzeug aus den Wolken zur Erde schweben. Lange schreibt, Riefenstahl habe vorgeführt, „wie ‚faschisierte Wahrnehmung‘ in der faschistischen Praxis als hybride Selbstmythisierung umschlägt“.23 Zugleich gewinnt in dem Film die Masse gleichsam eine symbolhafte geometrische Struktur, die sich zum Ornament formt. In dieser totalen Repräsentation droht sich die reale Gegenwelt aufzulösen. Riefenstahls Film, wie auch die Olympiade von 1936, trägt deutlich agitatorische Züge, wobei Riefenstahl weniger darauf bedacht ist, Information zu vermitteln, als vielmehr „der erlebten Realität eine imaginäre Über-Wirklichkeit aufzustülpen“.24 21

22 23 24

Sigrid Lange. Authentisches Medium. Faschismus und Holocaust in ästhetischen Darstellungen der Gegenwartsliteratur. Bielefeld: Aisthesis, 1999. 57. Sigrid Lange, Authentisches Medium, 70. Ebd., 71. Ebd., 72.

99 Dem Spielfilmkonzept Goebbels liegt das gleiche Prinzip zugrunde. Mit den Filmen ist ein Rahmen für eine Imagination geschaffen, in dem das Wunschbild Wirklichkeit werden kann. Daher lässt Goebbels dem Kino das, was es ist, nämlich die Projektion eines Illusionsraumes, in dem sich träumen lässt. Die Formung der Wirklichkeit durch die Imagination perfektioniert die Idee vom Film als Hyperrealität. Goebbels stellt dar, was Jean Baudrillard später theoretisch formuliert: Die Ausgangsrealität ist nicht mehr unbedingt von Nöten. Hier erreicht der Film eine neue Qualität von Wirklichkeit und Kunst. In der Medienforschung besteht heute allgemeiner Konsens darüber, dass sich die Rolle des Films während der Nazizeit nicht nur auf die Vermittlung extremer ideologischer Inhalte beschränkte. Seine ideologische Wirkung erzielte der Faschismus gerade durch die vermeintlich unpolitische Unterhaltung. Anders jedoch, und hier kommen die klassischen Ausführungen Benjamins zur Medientheorie zum Tragen, ist der deutsche Nationalsozialismus ohne seine mediale Repräsentanz unvorstellbar. Lange fragt in ihren Ausführungen zum Faschismus, Massenkultur und Wirklichkeit der Medien, ob die Monopolisierung durch das Goebbelsche Ministerium nicht […] als Vorstufe der marktwirtschaftlich selbstregulierten und gleichwohl geistig monotonen gegenwärtigen Medienlandschaft zu begreifen ist, die einer Gleichschaltungszentrale nicht mehr bedarf.25

Lange stellt die Frage, ob die Durchsetzung der Medienlandschaft „genau in dem Sinne als faschistisch zu qualifizieren ist, in dem heute die „Hyperrealität“ der Medien andere Formen von Wirklichkeit absorbiert zu haben scheint“.26 Insofern nimmt der Faschismus Formen an, die nicht antimodern, sondern spezifisch postmodern sind. Hat sich nun die Mediengesellschaft gegen die nationalsozialistische Ideologie etabliert oder ist umgekehrt ihre Durchsetzung genau in dem Sinne als faschistisch zu qualifizieren, indem die Hyperrealität der Medien andere Formen von Wirklichkeit angenommen hat? Wenn also der Faschismus spezifisch postmoderne Züge entwickelt haben sollte, dann ist das Anliegen des postdramatischen Theaters sowohl ein anti-mediales als auch ein anti-faschistisches. 25 26

Ebd., 57. Ebd.

100 In der heutigen Informationsgesellschaft der totalen Medialisierung der Wahrnehmung aufgrund der Entwicklung der Bildmedien konstatiert Baudrillard einen Fiktionscharakter alles Wirklichen. Er verweist auf die Veränderungen in der Wirtschaft (das Aufkommen der Warenwelt) und Technologie (das Auftreten der Technologien der Reproduzierbarkeit und der elektronischen Medien) als Katalysatoren für Simulation. In seinen Ausführungen in Simulations stellt er fest: „Simulation is no longer that of a territory, a referential being or substance. It is the generation by models of a real without origin or reality: a hyperreal“.27 Die Wirklichkeit ist ästhetisiert, und zwar so weit, dass die Wahrnehmung zwischen einer simulierten und einer authentischen Lebenswelt verschwindet. Die elektronischen Medien saugen quasi durch ihre Verfügungsgewalt über Raum und Zeit die ursprünglichen Dimensionen von Wirklichkeit auf. Soziale, kulturelle und geschichtliche Räume stürzen in einer künstlichen Wirklichkeit zusammen. In ihrer Perfektion herrscht die künstliche Wirklichkeit als absolute Simulation und läutet so die Auflösung der Realität ein, die schließlich kein Referenzobjekt mehr darstellt. Gleichzeitig beinhaltet diese Simulation eine erinnerungs- und zukunftslose Qualität, so dass der Begriff „Gegenwart“, der die Ebenen der Zukunft und Vergangenheit impliziert, durch den augenblicklichen Moment ersetzt wird. Baudrillard sieht die Voraussetzung von Wirklichkeit, Erfahrung und Authentizität in einer postmodernen Medienwelt nicht mehr gegeben. Die Erfahrung von Realität wird hier ersetzt durch die Herrschaft eines in sich geschlossenen, auf kalkulierten Wahrnehmungscodes basierenden Systems. Die Erfassung der Welt ist daher nicht mehr als eine authentische, subjektive Handlung denkbar, sondern wird von vorneherein durch ihr standardisiertes und präformiertes Abbild konditioniert. Die Erfassung und Interpretation der Welt ist auf diese Weise mehr und mehr der Gefahr der Manipulation ausgesetzt; die Diskussion um die kritische Urteilskraft des Einzelnen ist, mit Baudrillard gedacht, somit vom Tisch. Das Fehlen eines Bezugspunktes, im Falle der Medien der fehlende Bezugspunkt zur Wirklichkeit, beschreibt Baudrillard als Kennzeichen der Postmoderne. Das Ergebnis ist die schon erwähnte Hyperrealität, in der Nachrichten vom Massenmedium Fernsehen und das tägliche Leben von soap operas geschaffen werden. Baudrillards Beschreibung dieser Ästhetisierung der sozialen Umwelt entlässt den Diskurs der binären Gegen27

Jean Baudrillard, Simulations, 2.

101 sätze, wie zum Beispiel Wahrheit/Lüge oder Wirklichkeit/Fiktion. Mark Poster kommentiert in einer Sammlung von Baudrillards Essays dazu: A simulation is different from a fiction or lie in that it not only presents an absence as a presence, the imaginary as the real, it also undermines any contrast to the real, absorbing the real within itself. […] The media (for Baudrillard) present an excess of information and they do so in a manner that precludes response by the recipient. The simulated reality has no reference, no ground, no source.28

Als Beispiel für die Hyperrealität führt Baudrillard in Simulations Disneyland an, das als Phantasielandschaft die Wirklichkeit simuliert. Aufgrund seines Status als Vergnügungspark distanziert sich Disneyland von der echten Wirklichkeit und lässt die Realität vor seinen Toren. Eine Referenz braucht Disneyland nicht mehr. Baudrillard schreibt: But the Disney enterprise goes beyond the imaginary. Disney, the precursor, the grand initiator of the imaginary as virtual reality, is now in the process of capturing all the real world to integrate it into its synthetic universe, in the form of a vast „reality show“ where reality itself becomes a spectacle [vient se donner en spectacle], where the real becomes a theme park. The transfusion of the real is like a blood transfusion, except that here it is a transfusion of real blood into the exsanguine universe of virtuality. After the prostitution of the imaginary, here is now the hallucination of the real in its ideal and simplified version.29

In seiner Arbeit Tanz den Adolf Hitler. Faschismus in der populären Kultur kennzeichnet Georg Seeßlen die „postdemokratische Mediengesellschaft“30 als neues historisches Phänomen. Die postdemokratische Mediengesellschaft beinhaltet eine Herrschaftsstruktur, die zur „Faschisierung der Wahrnehmung“31 führt. Seeßlen bezieht sich unter anderem auf Theodor W. Adorno, der die schwindende Bedeutung der Kunst in direktem Zusammenhang mit der rapiden Verbreitung der Unterhaltungsindustrie sah. Das Zusammenspiel beider Phänomene als „Kulturindus28

29

30

31

Mark Poster. „Introduction“. In: Jean Baudrillard. Selected Writings. Hg.v. Mark Poster. Standford: Standford University Press, 1988. 6-7. Jean Baudrillard. „Disneyworld Company“. Georg Seeßlen. Tanz den Adolf Hitler. Faschismus in der populären Kultur. Berlin: Klaus Bittermann, 1994. 19. Georg Seeßlen, Tanz den Adolf Hitler, 14.

102 trie“ galt für Adorno als Wegbereiter für den Faschismus. Adorno setzte die Kunst gegen eine Massenkultur und stellte dar, dass es nicht die Inhalte, sondern die ästhetische Struktur ist, die Kunst und Unterhaltungsprodukte unterscheidet. Adornos Verständnis von Kunst als Widerstandspotential, das ein vernunftgeleitetes Subjekt als Maßstab voraussetzt, scheint in der Postmoderne als überholt. Doch führt Adornos Argument zu den gleichen Schlussfolgerungen, zu denen Benjamin kam, nämlich zu Grenzverwischungen zwischen dem Ästhetischen und Politischen, und zu einer Ästhetik der Massenkultur, die ein generell neues Wahrnehmungsmuster nach sich zieht. Die Perfektion der Medienwelt, so schließt Seeßlen an, lässt somit keine Instanz zwischen Realität und dem medialen Surrogat mehr zu; der Zuschauer und die Bilderwelt sind eins geworden, das „Angeschaute wird zum Anschauenden, vom Bild zum Spiegel, und möglicherweise liegt auch darin wieder der Ansatz der Faschisierung der Wahrnehmung durch den Ausschluß der Erfahrung“.32 Seeßlens Argumentation zielt auf die unmittelbare Weitergabe eines Rezeptionsverhaltens ab, welches mit den Entschuldigungs- und Verdrängungsmechanismen zusammenhängt. Das bedeutet für den Umgang mit der Vergangenheit, dass die faschistische Schuld und Verstrickung weder geleugnet noch akzeptiert wird, sondern in einen Zustand der Unzugänglichkeit versetzt wird. Postfaschismus bedeutet also die medienbegünstigte Verdrängung der Vergangenheit, bei der die Faschisierung der Wahrnehmung gerade auf dem Ausschluss von Erfahrung beruht. Seeßlen weist in der Fortsetzung seiner Studien im 1996 erschienenen Buch Natural Born Nazis auf die Weiterführung des Faschismus durch faschistische Bilder in den Massenmedien hin. Trugschluss sei, schreibt Seeßlen, anzunehmen, dass die faschistische Bildmaschinerie mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ebenfalls zu einem Einhalt gekommen sei. Vielmehr tauchen faschistische Bilder in neuen Variationen auf und sind in der Medienlandschaft Deutschlands, die zugleich einen bedeutenden Einfluss auf die Medienlandschaft Österreichs hat, tief integriert. Die Medienlandschaft ist „das politisch entschärfte und privat verschärfte Fernsehen des Faschismus“33, in der Fortsetzung des „Sozialklimbims“ ist die Organisation des Unterhaltungsfilms oder der Filmserie (wie Arzt32 33

Ebd., 113. Georg Seeßlen. Natural Born Nazis. Faschismus in der populären Kultur 2. Berlin: Klaus Bittermann, 1996. 59.

103 serien, Familienserien, Feriengeschichte) die verdeckte Weiterführung des faschistischen Unterhaltungsfilms. In Unterhaltungssendungen der neunziger Jahre wird auf gleiche Art und Weise die Rekonstruktion des „alten Glücks“ vollzogen, wie dies in den alten faschistischen Unterhaltungsfilmen der Fall war. Seeßlen führt als Beispiele hierfür die mythische Aufrechterhaltung der unschuldigen, natürlichen und als deutsch erkennbare Provinz gegenüber der verbrecherischen Stadt an, oder die Aufrechterhaltung der Mutter- und der Arztrollen, die laut Seeßlen zu den zwei größten deutschen Problemlösern gehören. Er kommt zum Schluss, dass sich „das Fernsehen des Jahres 1939 in Deutschland nicht sonderlich von dem des Jahres 1996 [unterschied]“.34 Festzuhalten ist, dass die Wirkung der medialen Bilder auf eine Verschiebung von bewusst analysierenden zu unbewusst funktionierenden Wahrnehmungsformen abzielt. Das Fortschreiten der Medienlandschaft läutet die Grenzverwischung zwischen Realität und Bild ein; die gewünschte kritische Urteilskraft des Medienkonsumenten steht in direktem Zusammenhang zu gemachter Erfahrung. Je weniger das Gesehene an der Wirklichkeit gemessen und kontrastiert werden kann, desto ungehinderter kann Film und Fernsehen als Ideologiemaschinerie eingesetzt werden. Wenn sich die mediale Bilderflut in der postmodernen Medienlandschaft zur eigenständigen Realität erhebt und tatsächlich der Zuschauer die Fähigkeit verliert, die Suggestionen der Medienwelt kritisch zu beleuchten, dann leben wir in einer „Hyperrealität“ Baudrillards, die sich gegen die Wirklichkeit durchsetzt hat. Lange kommt zu dem Schluss, dass die postmoderne Retrospektive auf die Moderne einen Prozess der allgemeinen Ästhetisierung der Lebenswelt [erkennt], in der Ästhetik zum Gebrauchswert wird und die mediale Wirklichkeit die Stelle des Künstlers übernimmt.35

Die gewünschte Rezeptionsästhetik des postdramatischen Theaters und der politischen Kunst überhaupt postuliert den kritischen Zuschauer: Statt der Verdrängung soll die Integration von Erfahrung im Mittelpunkt stehen. Folglich muss die Rolle der Kunst in einer mediengesteuerten Kultur eine Befähigung entwickeln, mit der Konditionierung eines am Abbild orientierten Handelns umzugehen. Somit steht das Erlangen einer Wirklichkeitskompetenz durch die Befragung der Sinngrenzen und 34 35

Georg Seeßlen, Natural Born Nazis, 58. Sigrid Lange, Authentisches Medium, 64.

104 der rein sinnlichen Wahrnehmung, so Wolfgang Welsch, an erster Stelle von Kunsterfahrung. Welsch stellt der Regulierung der Wahrnehmung, die er „Anästhetisierung“ nennt, ein „ästhetisches Denken“36 entgegen. Genau in diese Richtung zielt die Kunstauffassung des postdramatischen Theaters von Elfriede Jelinek und Heiner Müller.

36

Wolfgang Welsch, „Zur Aktualität ästhetischen Denkens“. Ästhetisches Denken. Stuttgart: Reclam, 1990. 63-68.

Kapitel 3 Das postdramatische Theater Das einfache Anschauen ist inzwischen das allerschwierigste. Peter Handke

Das zeitgenössische Theater definiert sich im Kontrast zu den Massenmedien, die durch die technische Reproduzierbarkeit gekennzeichnet sind. Bestimmt ist das Theater durch die gleichzeitige Anwesenheit von Schauspieler und Publikum, also durch die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption. So stellt die Theaterwissenschaftlerin Erika FischerLichte fest: For theatre to occur, the actors and spectators must gather together in a specific place for a specific duration of time. The new media, on the other hand, free their users (spectators) from time and space. […] In theatre, production and reception are concurrent processes: whilst the physically present actors execute certain actions, present signs, the physically present spectators react directly by receiving the actions in one way or another and interpreting the signs in whatever way they choose. […] The new media, on the contrary, work with images of human bodies, objects and events which are created by technology or electronics and which can be reproduced at will. Interaction between the user and the representation of a person (whether one who acts as a fictive persona or as a real person) in the receptive process is as impossible as interaction between the user and the producer of the images. In fact, the producer communicates with the spectator along a one-way track. […] Moreover, while the camera prescribes the focus and perspective to the viewers, the theatre spectators can let their eyes wander over the performance and choose the focus and perspective for themselves.1

Gegen das Funktionieren des Menschen durch die Mechanisierung der Sinnlichkeit setzt das postdramatische Theater einen Erfahrungsraum, 1

Erika Fischer-Lichte. „The Return of the Text: Implied Ethics of Postmodern Theatre“. Ethics and Aesthetics. The Moral Turn of Postmodernism. Hg.v. Gerhard Hoffmann und Alfred Hornung. Heidelberg: Carl Winter, 1996. 293294.

106 der es in der Theateraufführung möglich macht, authentische Erfahrung jenseits der vorgeformten begrifflichen Formulierungen zu machen. Dabei wird dem Rezipienten eine hervorgehobene und wichtige Rolle zugedacht, nämlich die eines bedeutungskonstituierenden Subjekts. Fischer-Lichte schreibt dazu: Postmodern theatre elevates the spectator to absolute master of the possible semioseis. […] Postmodern theatre bestows the sovereignty […] on its individual spectator […]. And since these processes are carried out by any spectator in the presence of other spectators who execute their own semioseis leading to, in each case, other results, postmodern theatre […] realizes and demands a community in which the totally divergent life-projects of the individual members, all of equal rights and value, can peacefully coexist with each other side by side.2

Theater, so Fischer-Lichte weiter, ist daher ein Ereignis, weil es sich als solches durch seine Grundunterschiede zu den reproduzierbaren Massenmedien abhebt und differenziert. Rezeption vollzieht sich hier durch die subjektive Unterbrechung des Raum-Zeit-Kontinuums. Der Blick des Zuschauers, sein Haltepunkt und die Dauer und Auswahl des Fokussierens auf die auf der Bühne präsentierten Materialien schafft ein subjektives Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Phantasievermögen, das von der besondern Bedürfnisstruktur des individuellen Zuschauers geprägt ist. Die Unterbrechung, die der Blick des Zuschauers vornimmt, hat wenig mit dem Montageverfahren Bertolt Brechts oder Erwin Piscators zu tun, bei dem die Schnitte stets vorgegeben sind. Im zeitgenössischen Theater leistet vielmehr der Zuschauer die Montagearbeit selbst.3 Man könnte auch wie Hans-Thies Lehmann argumentieren, dass die Medien nur eine neue Spielart der Illusionsmaschinerien darstellen, die das Theater schon immer kannte. Es ist zu konstatieren, so Lehmann in seinem Buch Postdramatisches Theater, daß das Theater immer auch Technik und Technologie gewesen ist, Theater als „Medium“ im Sinne einer spezifischen Technologie der Darstellung, bei der die neue Medientechnologie lediglich ein weiteres Kapitel davon darstellen.4 2 3

4

Erika Fischer-Lichte, „The Return of the Text“, 300. Erika Fischer-Lichte. Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen: Francke, 1993. 433. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, 413.

107 Andererseits könnten die Medien durch ihre Techniken der Illusionierung tatsächlich eine entscheidende Zäsur in der Theatergeschichte markieren.5 Jedoch verwischt das Theater in der Auseinandersetzung mit dem Film die grundsätzliche Grenze zwischen Theater und Film nicht. „Es zeichnet sich ab, daß nicht die Imitation der Medienästhetik, nicht Simulation, sondern das Reale und die Reflexion die Chance des postdramatischen Theaters ist“.6 Lehmann nennt die nur im Theater gegebene Realität das „TheatReale“7, die in den Grundelementen des Theaters zu finden ist. Die Elemente des TheatRealen umfassen Bühne, Spieler und Zuschauerraum. Aus der Gegebenheit des TheatRealen, der Distanz zum Dargebotenen, der Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption und der permanenten Veränderung wird die eigentliche künstlerische Leistung ermöglicht. Die Möglichkeit des permanenten Veränderns als Prinzip der künstlerischen Produktion ist bei den Massenmedien von vorneherein ausgeschlossen: Hier sitzt der Zuschauer dem Resultat einer Produktion gegenüber, die in seiner Abwesenheit stattfand. Im Kontrast zu den Massenmedien ist darüber hinaus festzuhalten, dass dem postdramatischen Theater die Wirklichkeit als Referenzgröße im Sinne von Realitätssimulation fehlt. Auf diese Weise stellt sich das Theater selbst als Konstruktion dar; gleichzeitig reflektiert es den Fiktionscharakter alles Wirklichen. Brechts politisches Theater zielt im Gegensatz zum postdramatischen Theater beispielsweise gerade auf die Sichtbarmachung der Realitätsstrukturen mittels Verfremdungstechniken ab, um dem Zuschauer zu zeigen, dass die Wirklichkeit ein historisches und somit veränderbares Produkt ist. Samuel Becketts Drama hingegen, zum Beispiel Warten auf Godot (1952), drückt den Zweifel am Vorhandensein einer objektiv zugänglichen Realität aus und trägt dadurch der Unmöglichkeit einer Wirklichkeitsrepräsentation Rechnung. Die Bedeutung von Warten auf Godot reduziert sich auf die theatralische Präsenz selbst, auf das bloße Dasein der Figuren auf einer konkreten Bühne. Somit wird bei Beckett die reale Theatersituation letzte Bezugsebene. In Peter Szondis klassischer Arbeit Theorie des modernen Dramas (1956) ist wie bei Brecht ebenfalls die Rede von der Wirklichkeit als absolute Bezugsgröße, die in der Polarität zwischen realistischer und anti-realistischer Repräsentation der Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. In Szondis 5 6 7

Ebd. Ebd., 409. Ebd., 370.

108 Arbeit geht es um die Positionierung des modernen Dramas, das zu einer realistischen Repräsentation der Welt gerade nicht mehr fähig ist. Szondis Analyse zeigt, dass das Theater seit der Renaissance die Einheit von Schauspielerei, Dekoration, Sprache und Geste beinhaltet; eine Einheit, die eine eindeutige begriffliche Perspektive und Repräsentation der Welt erstellt. Hierbei ist auch die Kunst der Schauspieler auf deren Absolutheit ausgerichtet, „[d]ie Relation Schaupieler-Rolle darf keineswegs sichtbar sein, vielmehr müssen sich Schauspieler und Dramagestalt zum dramatischen Menschen vereinen“.8 Die Einheit von Ort, Zeit und Handlung gestaltet hierbei eine absolut lineare Sequenz. Seit der Renaissance konstituiert sich der Dialog Szondi zufolge als alleiniges Element des dramatischen Netzes. Im modernen Drama von beispielsweise Henrik Ibsen, August Strindberg und Gerhart Hauptmann stellt Szondi die Auflösung des stabilen Konstrukts der früheren Schauspiele fest. Die Subjekte der modernen Stücke sind nicht mehr fähig, sich in einer Dialogform objektiv zu situieren und zu beschreiben, d.h. sie können die Repräsentation der Wirklichkeit mittels Dialog nicht mehr herstellen. Die dramatische Form wird fragmentiert, die lineare Sequenz der Handlung wird aufgehoben. Das moderne Drama verabschiedet sich von der Annahme, dass Sprache, Raum und Zeit aufgrund einer eindeutigen und einzigen Perspektive geordnet sind, welche die Wirklichkeit beschreibt und dem Zuschauer Orientierung gibt und ihn an sich bindet, indem er in eine Illusionswelt geführt wird. Die Fähigkeit der Wirklichkeitsabbildung sieht Szondi im modernen Drama nicht mehr gegeben. Daher entwickeln moderne Dramatiker Formen der anti-realistischen Repräsentation von Wirklichkeit, wobei jedoch Wirklichkeit an sich als Bezugsgröße bestehen bleibt. Der Verlust der Wirklichkeit als nachzuahmende Referenzgröße findet im Theater der letzten Jahrzehnte seinen Ausdruck in der gehäuften Verwendung von Prinzipien, die Richard Hornby „metadramatische Prinzipien“ nennt und Folgendes umfassen: Das Drama als System stellt einen intertextuellen Bezug mit früher entstandenen literarischen und nicht literarischen Texten und mit Kultur im Allgemeinen her. Dies bezeichnet Hornby als Drama/Kultur-Komplex, der die Interpretationsgröße darstellt.9 Die Bezugsebene ist hier also nicht ausschließlich und 8

9

Peter Szondi. Theorie des modernen Dramas: 1880-1950. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974. 16. Richard Hornby. Drama, Metadrama, and Perception. Lewisburg: Bucknell University Press, 1986. 17.

109 immer weniger die Wirklichkeit, sondern zum Beispiel die fiktive Struktur der früher entstandenen Texte. Hornby bezieht sich auf die strukturalistischen und poststrukturalistischen Ansätze, die binäre Gegensätze wie realistisch/anti-realistisch ins Visier nehmen. Das Drama, so die Kritik der Post-/Strukturalisten, fundiert seine Polarität realistisch/anti-realistisch auf den Begriff der Mimesis, mit dem Aristoteles die Nachahmung der Wirklichkeit meint und bei der die Künste die Wirklichkeit kopieren. Eine realistische Abbildung der Wirklichkeit ist definiert als „lebensnah“, die anti-realistische als „lebensentfernt“. So fordert Konstantin Stanislawski, ein Realist, die Anwendung von nicht stereotypisierten, nicht clichéhaften, nicht künstlichen Rollen, wogegen Brecht, der Antirealist, von den Schauspielern fordert, sich nicht mit den Rollen zu identifizieren, sein Theater war nicht illusionistisch, nicht aristotelisch. Diesen Gegensatz sieht Hornby im Metadrama aufgehoben: „The whole tenor of contemporary aesthetics is nonmimetic. This is […] not the same thing as being antimimetic. The mimetic aspect of art is not denied, but it is no longer seen as its defining trait“.10 Das postdramatische Theater problematisiert das Verhältnis von Fiktion und Realität, indem Realität nicht mehr absolute und alleinige Referenzgröße ist. Hierbei ist jedoch nicht beabsichtigt, Theater und Wirklichkeit zu verschmelzen, sondern einen Erkenntnisraum zu schaffen, der die Mechanismen der Erzeugung von Abbildern und deren Bedeutung erkennbar macht. Kurz: Da die Realität immer mehr eine Sphäre der Imagination darstellt, die von den Medien verwaltet wird, öffnet das postdramatische Theater kompensatorisch Erkenntnis- und Erfahrungsräume. Hierzu werden die Fiktionalitätsvorgänge vorgeführt, indem das Theater seine Artifizialität zur Schau stellt und den Rezipienten zum Sinnstifter erhebt, der aktiv an einer Bedeutungskonstitution teilnimmt. Im Vorzeigen der Artifizialität geht es jedoch um eine andere Stoßrichtung als die der Überführung des Theaters in die Lebenswirklichkeit, wie sie die historische Avantgarde proklamierte, die sich gegen die bürgerliche Kultur richtete und welche die Negation der Autonomie der Kunst nach sich zog.11 Das Theater der historischen Avantgarde versuchte das bürgerliche Kultursystem zu unterwandern, das sich am bürgerlichen Individuum als Leitbild orientierte. Es sollte ein Volkstheater entstehen, dessen Orientierungspunkte die neuen Bedürfnisse der Massen waren. 10 11

Richard Hornby, Drama, 16. Peter Bürger. Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974. 63-73.

110 Die einsetzende Technisierung und Automatisierung in der Lebenswelt sowie die neuen Medien Film und Rundfunk hatten gerade erst begonnen, das Wahrnehmungsvermögen zu verändern. Doch die Rahmenbedingungen und die Forderungen der historischen Avantgarde, nämlich die Aufhebung einer sauberen Trennung zwischen Kunst und Alltagsleben, high culture und low culture, Theater und Leben, sind so in der Postmoderne nicht mehr gegeben. Denn seit den sechziger Jahren hat sich längst eine Massenkultur herausgebildet, allerdings nicht durch ein neues Volkstheater, sondern durch die Verbreitung der neuen Massenmedien Film, Rundfunk, Schallplatte, Fernsehen. Die technische Bearbeitung des Wahrnehmungsvermögens war im Alltag bereits so weit forgeschritten, daß eine ununterbrochene gleichzeitige und vielfach divergierende Beanspruchung von Auge und Ohr als „normal“ empfunden wurde.12

Hier nun erhebt das postdramatische Theater den Anspruch, den Einzelnen von den Folgen der Massenkultur wie Isolation, Anonymität und totaler Vermassung, „zu heilen“ und „authentische Erfahrungen“ zu ermöglichen.13 In der gezielten Auseinandersetzung mit den Massenmedien gewinnt das Theater so in gewisser Weise einen Autonomiecharakter zurück, der sich durch die Ästhetik und Selbstreflexion gegen die Massenkultur definiert. Das zeitgenössische Theater ist Fischer-Lichte zufolge anthropologisch aufgebaut und setzt die Wiederentdeckung der Leiblichkeit einerseits, die der Sprachlichkeit andererseits in den Mittelpunkt. Die Aufmerksamkeit des Theaters der Gegenwart auf Körper und Sprache, die sich im postdramatischen Text in der Abtrennung von Körper und Sprache niederschlägt, ist als Widerstand gegen den herrschenden Trend der Medien zu verstehen, der die Wirklichkeit durch das Abbild ersetzt. Im Abbild ist weder der Körper als gesellschaftliche Präsenz enthalten, da er wesentlich durch die Telekommunikationsnetze ersetzt ist, noch die Sprache als Kommunikation, die mehr und mehr als Geräuschskulisse wahrgenommen wird.14 Auch Lehmann konstatiert, dass der dramatische Prozess nicht mehr zwischen, sondern am Körper stattfindet, was eine „Dekomposition des Menschen“ auf der Bühne nach sich zieht. Diese 12 13 14

Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte, 414. Ebd. Ebd., 432-436.

111 Verschiebung „dürfte in der Absicht zu finden sein, mit theatralischer Körperlichkeit der Entkörperlichung entgegenzuwirken, die allerorten zu beobachten ist“.15 Zudem stellt auch Lehmann eine „Ästhetik des Wortmaterials“ als Zeichen des postdramatischen Theater fest, eine Sprache, die nichts anders mehr transportiert als sich selbst, eine Parodie auf die collagierte Sprache der Medien.16 Indem das postdramatische Theater die Aufmerksamkeit auf seine Theatralität lenkt, beharrt es darauf, dass sinnliche Wahrnehmung ästhetische Wahrnehmung ist. Die gleichzeitige Anwesenheit von Zuschauer und Schauspieler im selben Raum markiert die Bedingung von ästhetischer Wahrnehmung schlechthin. Es stellt sich die Frage, wie das postdramatische Theater das Verhältnis von Realität und Fiktion umsetzt. Theater und Literatur weisen sich ja durch den nie explizit hervorgehobenen Grundsatz des Fiktiven aus. Die Eigentümlichkeit des Akts des Fingierens besteht darin, so Wolfgang Iser, dass er „die Wiederkehr lebensweltlicher Realität im Text bewirkt und gerade in solcher Wiederholung dem Imaginären eine Gestalt verleiht […]“.17 Der Unterschied zwischen fiktiver Welt und Realität findet sich in der Wahrnehmung der Textwelt als eine fiktive und somit sekundäre Welt. Da sich aber das zeitgenössische Theater als artifizielles Konstrukt darstellt, gibt es seine eigentliche traditionelle Definition auf. In einer Wirklichkeit, die immer mehr zur Fiktion wird, verzichtet Kunst durch die Zurschaustellung ihrer Artifizialität auf ihre traditionelle Fiktionaldefinition, denn sonst wäre sie auswechselbar mit der Wirklichkeit. Kunst bleibt in einer zur Fiktion gewordenen Wirklichkeit nur dann unersetzlich, wenn sie sich gegen das Fiktive definiert. Kunst muss, schreibt Odo Marquard, eine „Antifiktion“ werden: Sie tritt dann sozusagen das Attribut, das Fiktive zu sein, an die Realität ab und geht zugleich auf die Suche nach einer neuen Definition. Die Konsequenz ist also […]: die Kunst bleibt […] unersetzlich nur dann, wenn sie sich ‚gegen‘ das Fiktive definiert: als Antifiktion, was immer das des näheren bedeutet.18 15 16 17

18

Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, 364. Ebd., 263. Wolfgang Iser. „Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im Fiktionalen Text?“ Funktionen des Fiktiven. Hg.v. Dieter Henrich und Wolfgang Iser. München: W. Fink, 1983. 122. Odo Marquard. „Kunst als Antifiktion – Versuche über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive“. Funktionen des Fiktiven. Hg.v. Dieter Henrich und Wolfgang Iser. München: W. Fink, 1983. 53.

112 Es ist das Wahrgenommenwerden als Antifiktion, das die postdramatischen Texte von Jelinek und Müller thematisieren, indem sie die Kennzeichen der Fiktion als solche darstellen. Das zeitgenössische Theater bringt genau das zur Sprache, was in der zur Fiktion gewordenen Wirklichkeit tatsächlich Fiktion und Non-Fiktion ist. Der Fiktionscharakter der Kunst reflektiert zugleich den Fiktionscharakter der Kultur und hält somit dem Zuschauer einen Spiegel vor und zeigt ihm dadurch, wie Subjekt- und Bedeutungskonstruktion funktionieren. Die Kenntlichmachung des Fiktiven wird in den Theatertexten von Jelinek und Müller durch den Zitatcharakter der Dramen auf der Makround Mikrostruktur und durch die Abschaffung der dramatischen Rollenfigur erreicht. Hierbei wird der Fokus von der Darstellung auf das Dargestellte umgeleitet. Die Produktionsästhetik der Zitatmontage, wie auch die Auflösung eines dialogisierenden dramatischen Ich, sind wesentliche Merkmale des postdramatischen Theaters. Die Zitatmontage ist Zeitmontage. In der Zitatmontage wird ein Rückgriff auf vergangene und vor allem aus dem öffentlichen Geschichtsdiskurs verdrängte Ereignisse geleistet, die durch die referentielle Spannung zum Präkontext oder Prätext neu interpretiert werden. Das postdramatische Theater fungiert auf diese Weise als Ort des Eingedenkens.

1. Das postdramatische Theater als Ort des Eingedenkens Der Perspektivenwechsel von einer Zentralperspektive zu einer Retrospektive in der Zitatmontage macht die Sprechakte des Dramas als Konstruktion erkenntlich; eine Objektivität, Authentizität und vor allem Spontaneität gegenüber dem Dargestellten wird so verweigert. Das Sprechen, das zum Teil aus einer Anhäufung von Zitaten besteht, gibt seine Originalität preis. Eine solche Zitatsprache lenkt die Aufmerksamkeit auf die formale und konstruierte Gestaltung des Werks; zum anderen wird so die unoriginelle Sprache der Medien kopiert. Zugleich ergibt sich aus der Zitatmontage ein konstruiertes Ineinanderschieben der Werke der Vergangenheit mit dem zeitgenössischen Text. Der Text entlässt die Wirklichkeit als einzige und absolute Bezugsebene, und stellt andere Ebenen des Bezugs her, wie zum Beispiel die fiktive Struktur der früher entstandenen Texte. Das Textherstellungsverfahren, das sich hier niederschlägt, kann mit dem Begriff Intertextualität beschrieben werden, den Manfred Pfister zu

113 fassen versucht. Bei dem Bezug auf einzelne Prätexte, Gruppen von Prätexten und diesen zugrunde liegenden Sinnsystemen stellt Pfister heraus, dass Intertextualität vor allem dann vorliegt, wenn nicht nur dem/der Autor/in bei der Abfassung der Texte die Verwendung der Prätexte bewusst ist, sondern wenn auch der Rezipient mehr oder weniger bewusst die Verwendung früherer Texte nachvollzieht.19 Die Erkenntnis der veränderten Qualität, die sich durch die referentielle Spannung zum Prätext ergibt, ist für Pfister wichtig für das Textverständnis. Die Strategie der Bedeutungserweiterung oder der Sinnkomplexion muss vom Rezipienten erkannt werden, um das Sinnpotential des Textes auszuschöpfen. Das Aufdecken einer Sinnspur, die beim erstmaligen Rezipieren verschlossen bleibt, muss dann durch mehrmaliges Lesen oder Zuschauen kompensiert werden, kann aber auch dem Rezipienten in seiner Gänze verschlossen bleiben. Dabei steht weder die Frage nach den Intentionen des Autors, so Pfister, noch die der Rezeptionssteuerung durch den Text selbst an erster Stelle. Die komplexe Überlagerung von Sinnbezügen in den Texten Jelineks und Müllers verschränkt sich daher gegen eine einfache Aufnahme und Sinnkonstitution und steht so im Gegensatz zur passiven und stets gelenkten Bildinterpretation der Massenmedien. Die Montage von früher entstandenen literarischen und nicht-literarischen Texten, der Rückgriff auf literarische Figuren und das Zitieren von Ereignissen aus der Geschichte stellen Geschichts- und Bedeutungskonstruktionen als veränderbar dar. Die beiden Dramatiker verabschieden so ein Geschichtsbild, welches „naturgegeben“ und objektiv ist. Die Revision schon vorhandener Textvorlagen – so lehnt sich Müllers Der Auftrag an Anna Seghers Das Licht auf dem Galgen an, und Anatomie Titus Fall of Rome hat Shakespeares Titus Andronicus zur Vorlage, Die Hamletmaschine hat u.a. Hamlet als Spielvorlage, Jelineks Wolken.Heim und Totenauberg bedienen sich beispielsweise philosophischer Texte – zeigt eine neue Bedeutungskonstruktion eines früheren Materials im gegenwärtigen Kontext. Was sich hier in der Makrostruktur der Texte abspielt, wiederholt sich in der Zitatmontage in der Mikrostruktur. So werden zum Beispiel Celan-Zitate in Stecken, Stab und Stangl und In den Alpen einmontiert; in den Texten Müllers finden sich endlose Eigen-, Shakespeare- und Brecht-Zitate. Es entsteht eine Kollision der fiktiven Struktur der älteren 19

Manfred Pfister. „Konzepte der Intertextualität“. Intertextualität: Formen, Funktionen. Hg.v. Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen: Niemeyer, 1985. 20-24.

114 Zitate mit dem fiktiven Kontext der zeitgenössischen Zitate. Das ältere Zitat wird zur Bezugsebene für das Neuentstehende. Danach wird das ältere Zitat durch den neuen Kontext, in dem es sich jetzt befindet, einer Revision und Kritik unterzogen. Die Produktionsästhetik der Zitatmontage leistet eine Kollision des Vergangenen mit dem Kontext der Gegenwart, bei der das Vergangene in der Gegenwart neu interpretiert und somit aktualisiert wird, wobei die Gegenwart als Wirklichkeit wahrgenommen werden kann, die eben nicht durch Fiktion und durch das Abbild ersetzt ist. Hier treffen sich die beiden Dramatiker mit den geschichtstheoretischen Überlegungen Walter Benjamins. Im Wechselbezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart konstruieren Jelinek und Müller im Sinne Benjamins einen Umgang mit Geschichtlichem in der Gegenwart, der die Krise der Gegenwart, nämlich die Wirkungskontinuität des Faschismus, nicht zuletzt unter Mithilfe der Medien, in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Mit dem „Heraufholen“ einer unbequemen Vergangenheit schaffen die Theaterautoren einen Ort des Gedächtnisses und des Gedenkens, welcher in provozierender Weise einen Gegenpol zum öffentlichen Umgang mit historischer Erinnerung in Deutschland und Österreich darstellt und zugleich der Ruhigstellung durch die Massenmedien entgegenwirkt. In der Konstruktion der Vergangenheit für die Gegenwart wird die Gegenwart als Wirklichkeit erkannt und somit ein Ort aktueller Erkenntnis (Jelinek) und aktuellen Handelns (Müller). Historisches Gedächtnis, das durch den Wirklichkeitsverlust verloren zu gehen scheint, wird hierbei als essentiell angesehen, um die Gegenwart als solche wahrzunehmen und möglicherweise verändernd in diese einzugreifen. Benjamin beschreibt seine Geschichtskonstruktion in 18 Thesen in der 1940 kurz vor seinem Freitod abgefassten Schrift Über den Begriff der Geschichte. Seine Erörterungen sind von den erschreckenden Ereignissen des Vorjahres geprägt, dem Bündnis der stalinistischen UdSSR mit dem faschistischen Deutschland im so genannten Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 und dem Kriegsausbruch im September 1939. Benjamin versucht den Faschisten das zu entreißen, was diese in Beschlag genommen haben: die Stabilisierung und Rechtfertigung bestehender Verhältnisse. Der Philosoph spricht von der politischen Situation als Ausnahmezustand, der zur Regel geworden ist. Benjamin folgt in seiner Sicht einer katastrophalen Geschichte der jüdischen Tradition. Aus dieser Sicht ist die Vorstellung, die Geschichte als fortlaufend zu beschreiben, dass es immer so weiter geht, gleichzusetzen mit der Katastrophe. Die Katastrophe des Kontinuums der Geschichte kommt im Ausnahmezustand zum Aus-

115 druck, von dem in der achten These Benjamins die Rede ist und mit dem er das nationalsozialistische Regime meint. Kia Lindroos schreibt dazu: For Benjamin, catastrophe is immanent in every present situation that does not question itself. This self-understanding would create the critical distance to the course of time and history, and confronting catastrophe leads to something, which in theological terms could be called redemption. In a political situation this leads to revolution, as it actualizes the increasing gap between past experience and future expectations.20

Benjamins Beitrag Über den Begriff der Geschichte ist Widerstand gegen den Faschismus, und wendet sich gegen die Konsolidierung der bestehenden Verhältnisse, indem die Erinnerung an das Vergangene hinzugezogen wird. Die Neubestimmung des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander und ihr Verweisungszusammenhang zwischen den Zeitebenen führt in die Gegenwart. Der Philosoph prangert vor allem die Fortschrittsgläubigkeit an, die für ihn das gängige Geschichtsverständnis verewigt. Nach diesem gängigen Verständnis ist die Zukunft als Endpunkt eines linearen und gesetzmäßigen Prozesses konzipiert, bei dem die Gegenwart als faktisch unzulänglich und als Durchgangsstadium projiziert wird. Akute notwendige Gegenwartsänderungen werden so in eine (noch) unerreichbare Zukunft verlegt. Die Gegenwart wird hier bloß als Vorlauf auf ein festgelegtes Ende der Geschichte gesehen. Benjamin spricht demnach von einer „homogenen“ und „leeren“ Zeit der gängigen Geschichtsschreibung, die ein ewiges Bild der Vergangenheit und Zukunft zeichnet. In der dreizehnten These schreibt er: Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden.21

Nur im Bruch mit dem Fortschrittsdenken etabliert sich eine neue Auffassung der historischen Zeit, bei der das Subjekt seine Daseins- und 20

21

Kia Lindroos. Now-Time/Image Space. Temporalization of Politics in Walter Benjamins Philosophy of History and Art. Jyväskylä: Jyväskylä University Press, 1998. 74. Walter Benjamin. „Über den Begriff der Geschichte“. Gesammelte Schriften. Hg.v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Vol I.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974. 701.

116 Glücksansprüche nicht auf eine Zukunft vertagen muss, sondern das konkrete Dasein zum entscheidenden Handlungsraum wird. Nur wenn das Subjekt seine Gegenwart als Freiheitsraum für noch nicht zu Ende gebrachte Handlungsprozesse erfährt, kann es die Gegenwart als Ort aktueller Entscheidungsvorgänge nutzen und opfert nicht seine Freiheit einem scheinbar unaufhaltsamen Fortschritt des Vergangenen in die Zukunft, bei der die Gegenwart lediglich Durchgangsstadium ist. Das Kontinuum der Geschichte muss „aufgesprengt“ werden, die Geschichte muss „gegen den Strich gebürstet“ werden. Benjamin in seiner sechsten These: Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ‚wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialisten geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt.22

In der aktuellen Krise der Gegenwart konstituiert das Subjekt die Vergangenheit neu, in dem das Vergangene in einer anderen Konstellation zusammentritt. Das Vergangene ist somit nicht bloß die Vorgeschichte der gegenwärtigen Katastrophen, sondern sie ist, in einer neuen Konstellation, zugleich die Vorgeschichte der bevorstehenden Freiheit. Es ist nicht die Gegenwart, die das Erbe der Vorfahren antritt und die Wirkungskontinuität fortsetzt und übernimmt, sondern Benjamin beschreibt hier eine Gegenwart, die mit diesem Erbe bricht, und so im Gewesenen die verschütteten Utopien freisetzt, die in der Vergangenheit unerfüllt geblieben sind. Diesem Augenblick der Diskontinuität schreibt Benjamin außerordentliche Sprengkraft zu. Er setzt gegen die Fortschrittsgläubigkeit die rückwärtsgewandte Utopie, die in der plötzlichen Aktualisierung die nicht eingelösten Freiheitshoffnungen des Vergangenen in der Gegenwart aufdeckt. Statt das Vergangene dem Fortschritt zu opfern, erfasst der „historische Materialismus“, wie Benjamin seine Geschichtskonstruktion nennt, in der Vergangenheit Strukturen revolutionären Protests und Unterdrückung. Diese Strukturen bestimmen auch die eigene Gegenwart. Der historische Materialist erkennt seine Gegenwart als jene Zukunft, die durch die Aktualisierung der in der Vergangenheit uneingelösten revolutionären Energien die Erlösung bringt. 22

Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, 695.

117 In bewusster Konstruktion legt der historische Materialist ein bestimmtes in der Vergangenheit liegendes Ereignis auf die Gegenwart bezogen aus, bei dem die Erinnerung an das vergangene Geschehen mit der aktuellen Erfahrung und Krise der Gegenwart korrespondiert. Zugleich gewinnt in einer Wirklichkeit, die immer mehr Fiktion wird, das Erkennen derselben als konkreter Erkenntnis- und Erfahrungsraum an Bedeutung. Benjamin thematisiert diese Konstruktion des Vergangenen und seinen utopischen Gehalt in der vierzehnten These: Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von der Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene.23

Die Übereinstimmungen, die zwischen der Französischen Republik von 1789 und der Römischen Republik bestehen, werden hergestellt, indem die Akteure im Vollzug eines revolutionären Umbruchs Verbindungen zu einer scheinbar längst abgeschlossenen Vergangenheit und ihrer bestimmten Gegenwart erstellen. Quer zur Kontinuität des Geschichtsverlaufs etabliert sich ein neues Verhältnis zu einer bestimmten, längst vergangenen Tradition, die im zitierten Rückgriff als Vorläufer des Heute kenntlich wird. Mit „Jetztzeit“ meint der Philosoph also die Gegenwart des Subjekts, die auf ein mit ihr korrespondierendes, vergangenes Ereignis zurückgreift und es als Antizipation seines eigenen Zustands begreift. Somit ist die Jetztzeit die Herstellung von Geschichte wie auch die plötzliche und momentane Stillstellung des historischen Ablaufs in der Gegenwart, bei der verschiedene Zeitebenen gleich einer Zeitraffung nebeneinander stehen. Die Jetztzeit beschreibt einen im Augenblick erstarrten Moment, in dem dem Subjekt blitzartig ein bestimmter historischer wie auch ein gegenwärtiger gesellschaftlicher Zusammenhang erhellt wird: „[D]as wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten“.24 Benjamin 23 24

Ebd., 701. Ebd., 695.

118 nennt diesen Moment die „Dialektik im Stillstand“ und meint damit, wie er am Verfahren des epischen Theaters Brechts erläutert, die Wahrnehmung einer momentanen einzigartigen Konstellation, die der historische Augenblick bietet. Dazu äußert er sich in der sechszehnten These: „Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten“.25 Die Auffassung der revolutionären Praxis als Rückwendung auf vergessene Energien beruft sich zwar auf die von Marx formulierte Befreiung als Ende der menschlichen Vorgeschichte, doch steht sie auch im Spannungsverhältnis zum Marxismus. Der Materialismus sieht die Gegenwart nicht nur als Ort von Klassenauseinandersetzungen, sondern er begreift sie zugleich als Entscheidungsraum für gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen durch eine Rückwendung und Aktualisierung der unerlösten Vergangenheit. Somit basiert die revolutionäre Unterbrechung der Geschichte im Materialismus nicht auf dem tödlichen Vertrauen in einen geschichtlich gesetzmäßigen Fortschritt und dem damit verbundenen Verweis einer Erlösung in der Zukunft. Vielmehr wird die Gegenwart aus der Perspektive der verschütteten Energien der Vergangenheit interpretiert und im Hier die Möglichkeiten einer revolutionären Praxis diskutiert. Benjamin setzt gegen die marxistische Haltung eines scheinbar naturgegebenen Progresses die der erlösenden Erinnerung. Der Marxismus soll sich demnach seines Geschichtsdeterminismus entäußern und zu einer Reflexion über die Gegenwart als Ort aktuellen Handelns kommen. In der rückgewandten Utopie wird zudem die Auffassung deutlich, dass eine revolutionäre Unterbrechung der katastrophalen Wirkungskontinuität aus der Erinnerung an das Leid der unterdrückten Vorfahren hervorgeht. In diesem Kontext spricht Benjamin vom „Eingedenken“. Fast nur beiläufig erwähnt er in der fünfzehnten Geschichtsthese und im dazugehörenden Anhang B diesen Begriff.26 In seiner Abhandlung Der Erzähler (1936) definiert der Philosoph den Begriff „Eingedenken“ aus dem Gegensatz zwischen dem „verewigten Gedächtnis“ des Romanciers (Eingedenken) und dem „kurzweiligen des Erzählers“27 (Erinnerung). Er 25 26 27

Ebd., 702. Ebd., 701. Walter Benjamin. „Der Erzähler“. Gesammelte Schriften. Hg.v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Vol II.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974. 454.

119 verwendet den Begriff in seiner Abhandlung Über einige Motive bei Baudelaire (1939) als Figur für Erfahrung. Hier schreibt er: Es sind die Tage des Eingedenkens. Sie sind von keinem Erlebnis gezeichnet. Sie stehen nicht im Verband der übrigen, heben sich vielmehr aus der Zeit heraus. Was ihren Inhalt ausmacht, hat Baudelaire im Begriff der correspondances festgehalten. […] Was Baudelaire mit den correspondances im Sinn hatte, kann als eine Erfahrung bezeichnet werden, die sich krisensicher zu etablieren sucht. […] Die correspondances sind die Data des Eingedenkens. Sie sind keine historischen, sondern Data der Vorgeschichte. Was die festlichen Tage groß und bedeutsam macht, ist die Begegnung mit einem früheren Leben.28

Das Eingedenken ist also nicht nur ein bloßes Erinnern, sondern im Eingedenken wird dem sich erinnernden Subjekt eine gewesene Erfahrung zuteil. An anderer Stelle schreibt Benjamin: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. […] Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht“.29 In der Übernahme eines ganz bestimmten vergangenen Moments in eine bestimmte Gegenwart steht das Eingedenken für eine Erfahrung, die insbesondere auch an das vergessene Leid der Vorfahren erinnert, das die Geschichte bestimmt hat und die Gegenwart des Interpreten immer noch bestimmt. Das Eingedenken ist Prinzip einer materialistischen Konstruktion von Geschichte. Im Eingedenken wird die Geschichte dem Konzept der Unabgeschlossenheit und Offenheit unterworfen. Zwar ist das vergangene Unrecht geschehen, die Erschlagenen sind erschlagen worden. Doch besteht Benjamin darauf, was seither abgeschlossen ist wieder in die Unabgeschlossenheit zurückzuführen. Nicht nur der Sieger kann an eine Kontinuität anknüpfen, sondern indem sich das Subjekt aus aktueller Perspektive an die Geschichte der Niederlage erinnert, sind die vergangenen Niederlagen der Besiegten nicht endgültig verloren. In der Möglichkeit einer offenen, unabgeschlossenen Geschichte, die somit als stets 28

29

Walter Benjamin. „Über einige Motive bei Baudelaire“. Gesammelte Schriften. Hg.v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Vol I.2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974. 637-639. Walter Benjamin. „Anmerkungen zu „Über den Begriff der Geschichte“. Gesammelte Schriften. Hg.v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Vol I.3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974. 1241.

120 veränderbare (Interpretations-)Größe vorgeführt wird, kann in der Jetztzeit an die Geschichte der Besiegten angeknüpft werden. Das, was den Besiegten in der abgeschlossenen Geschichte verwehrt bleibt und nur den Siegern vorbehalten war, nämlich die Möglichkeit eines Anknüpfens an das Vergangene, kann durch das Eingedenken nun umgewandelt werden, indem der Wille der besiegten Vorfahren in einer neuen Konstellation dem erinnernden Subjekt verfügbar ist. Die Toten kehren wieder, wenn in ihrem Namen Geschichte vollzogen wird. Daher ist es auch das Anliegen des vielzitierten Engels der Geschichte in der neunten These, die Toten zu wecken, um so an die verschüttete Geschichte der Besiegten anzuknüpfen: Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.30

Der Engel möchte an die Niederlagen der Geschichte anknüpfen, kann aber nicht, da ihn der Sturm, welcher der Fortschritt ist, weitertreibt. Denn die Fortschrittsgläubigkeit sieht die Gegenwart als bloßes Durchgangsstadium an und verweist auf eine zukünftige Erlösung. Somit wird die Geschichte zur Geschichte der Sieger: Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.31

Das postdramatische Theater als Ort des Eingedenkens knüpft an die verschüttete Tradition der Besiegten im Sinne Benjamins an. Jelinek und Müller machen die verlorene Geschichte der Besiegten verfügbar, indem sie sich als schreibende Subjekte aus ihrer bestimmten gegenwärtigen Krisenlage (der Wirkungskontinuität des Faschismus) an die Geschichte des Leids und der Niederlage erinnern. Mit den Worten VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN, die mehrmals in Der Findling 30 31

Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, 697. Ebd., 698.

121 auftauchen, führt Müller die Art und Weise vor, mit der die Sieger mit Geschichte umgehen. Das willentliche Vergessen des Kindertraums eines „Sozialismus ohne Panzer“ (F 68) heißt bei Müller, die Versuche einer Revolution zu begraben. Das Eingedenken an vergangene Ereignisse als ästhetische Strategie des postdramatischen Theaters zielt auf das Erinnern und Erfahren einer unerledigten Geschichte ab. Mit der Auferstehung der Toten in den Texten von Jelinek und Müller lässt die Zeitmontage die Gegenwart als realen Erkenntnis- und Handlungsraum erkennbar werden. Die Reaktivierung des historischen Gedächtnisses in der Kollision zweier Zeitebenen ist folglich Hilfsmittel, die Gegenwart als Wirklichkeitsraum zu erfahren: Durch die Vergegenwärtigung des Nebeneinanders von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird dieser momentane Augenblick zu einem Raum, der die Besetzung der Zeit mit bloßer Gegenwart verwehrt. Durch die Erfahrung der eigenen Historizität lässt dieser Raum die Wirklichkeit nicht länger als vorkonditioniertes Abbild dastehen. Die Kollision der Zeitebenen kommt in den Texten Jelineks mit der Vergegenwärtigung der toten Opfer der Geschichte zum Ausdruck. Es sind vor allem die Opfer des Holocaust und des gegenwärtigen Faschismus, die als körperlose und sprachlose Abwesende zitiert werden. In den Texten Müllers ist es die Auferstehung der Besiegten, die an ihre verschüttete Geschichte anknüpfen. Das Auftreten von explizit toten Figuren auf der Ebene der Erinnerung verweist wiederum auf die Künstlichkeit des Dargestellten und verleiht zugleich dem Eingedenken Ausdruck. Die Zitatkonstruktion in der Makro- und Mikrostruktur der postdramatischen Texte der beiden Dramatiker zielt deshalb nicht auf das Bewahren einer tradierten Erinnerung ab, sondern die Konstruktion von Zitaten hat das Ziel, diese zu transformieren. Somit wird die kanonisierte Bedeutung von vergangenen Texten und Kontexten einer Revision unterzogen; es werden die „Kulturgüter“, wie sie im Prozess der Überlieferung entstanden sind, kritisch beleuchtet und so aus dem geschichtlichen Kontinuum herausgesprengt. Mit dem untoten deutschen „Wir“ in Jelineks Wolken.Heim wird zum Beispiel die kanonisierte Bedeutung der Arbeiten von Fichte und Hegel mittels Montage einer Analyse unterzogen. Ergebnis der Revision ist nicht etwa Emanzipation, sondern regressive Deutschtümelei. Die Forschung ist auf Müllers Adaption des Geschichtsengels Benjamins sowie auf Parallelen des Geschichtsverständnisses zwischen Benja-

122 min und Müller eingegangen.32 Müllers Text „Der glücklose Engel“33 knüpft an die neunte These Benjamins an, verkehrt aber die Perspektive des Engels. Die Vergangenheit wird nun hinter dem Engel angeschwemmt, während sich vor ihm die Zukunft staut. Im Gegensatz zur Erstarrung des Engels in der Benjamin’schen Beschreibung wird Müllers „glückloser Engel“ von der Last der vor ihm liegenden Zukunft erdrückt. Der Dramatiker beschreibt den Moment, in dem der Engel zur Ruhe kommt, wobei genau hier ein Neubeginn der Geschichte angesiedelt werden könnte: „wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem“.34 Nicht nur die Vergangenheit wird als Gewaltgeschichte thematisiert, sondern auch die Wichtigkeit der momentanen Einlösung der utopischen Zukunftsvisionen steht zur Diskussion: „Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortsetzt und seinen Flug anzeigt“.35 Im Gedenken der Opfer in der Gegenwart, durch das ein reaktualisierender „Dialog mit den Toten“ entsteht, muss der Ausbruch aus dem geschichtlichen Prozess erst neu gedacht werden. „Dahinter steht die Überzeugung“, schreibt Frank Hörnigk, in einem Prozeß kollektiver Anstrengung endlich an den Punkt gelangt zu sein, wo die Last der geschichtlichen aufgetürmten Trümmer abgebaut werden könnte – und mit ihnen auch jene Ängste und Verdrängungen, die immer wieder verhinderten, sich der Widersprüchlichkeit der ganzen Geschichte zu stellen – um sie loszuwerden.36 32

33 34 35 36

Vgl. dazu: Frank Hörnigk. „Texte, die auf Geschichte warten“. 123-137; Katharina Keim. Theatralität in den späten Dramen Heiner Müllers. Tübingen, Niemeyer, 1998. 151-154; Jeanette R. Malkin. Memory-Theater and Postmodern Drama. Ann Arbor: University of Michigan Press, 1999. 25-29, 88-89; FrankMichael Raddatz, Dämonen, 174-184. Weitergreifende Diskussion über Benjamin/Müller in: Horst Domedy. „Historisches Subjekt bei Heiner Müller“. 104-107; Fritz Iversen und Norbert Servos. „Sprengsätze. Geschichte und Diskontinuität in den Stücken Heiner Müllers und Walter Benjamins“. Die Hamletmaschine. Heiner Müllers Endspiel. Hg.v. Theo Girshausen. Köln: Prometh, 1978. 128-138; Francine Maier-Schaeffer. „Utopie und Fragment: Heiner Müller und Walter Benjamin“. Heiner Müller-Rückblicke, Perspektiven. Hg.v. Theo Buck und Jean Marie Valentin. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1995. 19-37. Heiner Müller. „Der glücklose Engel“. Rotwelsch. Berlin: Merve, 1982. 87. Heiner Müller, „Der glücklose Engel“, 87. Ebd. Frank Hörnigk, „Texte, die auf Geschichte warten“, 132.

123 Der Untertitel des Müller’schen Dramas Der Auftrag lautet: Erinnerung an eine Revolution. Er stellt den Leitbegriff des Erinnerns in den Vordergrund und bringt das Benjamin’sche Erinnerungsdenken zur Geltung. Der Inhalt des Stückes thematisiert Erinnerung: Drei Emissäre – der ehemalige Sklave Sasportas, Debuisson, Sohn eines Sklavenhändlers sowie Galloudec, ein Bauer aus der Bretagne – sind von Frankreich mit dem Auftrag nach Jamaika geschickt worden, dort einen Sklavenaufstand gegen die britische Krone zu organisieren. Zu Anfang des Stückes erhält der im Versteck lebende Revolutionär Antoine einen vom Totenbett aus geschriebenen Brief Galloudecs, der ihn über das Scheitern des Auftrags unterrichtet. Antoine, ernüchtert von Galloudecs Schreiben, erinnert sich an das Scheitern der Französischen Revolution: „Ich war dabei, als das Volk die Bastille gestürmt hat. Ich war dabei, als der Kopf des letzten Bourbonen in den Korb fiel. Wir haben die Köpfe der Aristokraten geerntet. Wir haben die Köpfe der Verräter geerntet“ (AF 45). Die Handlungen der Französischen Revolution und die der Emissäre auf Jamaika sind längst vorüber, werden aber in der Kollision mit der Gegenwart durch den Text/auf der Bühne aktualisiert. Buchstäblich spielt sich das Drama in der Erinnerung der Figur Antoines ab. Aus dem anfänglichen Brief wird ersichtlich, dass Sasportas ums Leben gekommen ist und Galloudec den Brief in seinem Totenbett schrieb. Aus der Erinnerung Antoines werden die Ereignisse und die Figuren „ins Leben gerufen“. So nehmen die Figuren von vorneherein tote Rollen, Rollen von Toten an. Es sind diese Figuren, die Antoine in seiner Erinnerung trifft. Antoines persönlicher Erinnerungsakt wird auf der Bühne zu einer kollektiven Erinnerung. Müller strukturiert seinen Text als Rückblick auf eine vergangene Episode der Revolutionsgeschichte, die als unmittelbarer dramatischer Vorgang auf die Bühne der Gegenwart kommt, und so in einer Krisenzeit der geschichtlichen Stagnation einen Ort des Eingedenkens darstellt. Somit verhandelt das Stück sein Thema in einer tätigen Erinnerung und es ist daher „eine offene dramatische Konstruktion, in die das Publikum notwendig seine Erfahrungen einbringen muß“.37 37

Norbert Otto Eke. Heiner Müller. Apokalypse und Utopie. Paderborn: Schöningh, 1989. 111. Eke teilt das Stück in drei Ebenen auf, in eine realistische, eine surreale und in eine Ebene des Kommentars. In meiner Diskussion ist die realistische Ebene von Interesse, welche die Antoine-Szene, die Ankunft auf Jamaica und den Verrat des Auftrags zum Inhalt hat.

124 Im Erinnerungsakt selbst kommt die Spannung zwischen Vergessenwollen und Erinnertwerden zum Ausdruck. Antoine weist zuerst jegliche Verbindung zu den Emissären und dem Auftrag zurück: „Ich kenne keinen Galloudec. […] Ich weiß von keinem Auftrag. Ich vergebe keine Aufträge“ (AF 44). Erst als er den Namen Sasportas hört, gibt er sich als Revolutionär und Auftraggeber zu erkennen. Aber auch dann will er nicht in einen „Dialog mit den Toten“ treten, will sich nicht erinnern: [W]as wollt ihr von mir. Was kann ich für deinen Beinstumpf. Und für deinen Strick. Soll ich mir ein Bein abschneiden. Willst du, daß ich mich danebenhänge. […] Was wollt ihr von mir. Geht. Geht weg. Verschwindet. Sag du es ihnen, Frau. Sag ihnen, sie sollen weggehn, ich will sie nicht mehr sehn. Seid ihr noch da. (AF 46)

Indem die Toten der vergangenen Niederlagen Antoine nicht loslassen, kommt die Erinnerung an das revolutionäre Scheitern zurück. So kann nur die Erinnerung im Namen der Opfer die geschichtliche Erstarrung verhindern. Im Moment des Beischlafs zwischen Antoine und seiner Frau tritt der Engel der Verzweiflung auf, eine Weiterführung des Benjamin’schen Geschichtsengels: Ich bin der Engel der Verzweiflung. Mit meinen Händen teile ich den Rausch aus, die Betäubung, das Vergessen, Lust, Qual der Leiber. Meine Rede ist das Schweigen, mein Gesang der Schrei. Im Schatten meiner Flügel wohnt der Schrecken. Meine Hoffnung ist der letzte Atem. Meine Hoffnung ist die erste Schlacht. Ich bin das Messer mit dem der Tote seinen Sarg aufsprengt. Ich bin der sein wird. Mein Flug ist der Aufstand, mein Himmel der Abgrund von morgen. (AF 46-47)

Der Engel der Verzweiflung ist die Versinnbildlichung der Erinnerung des Vergangenen als konkretes Erlebnis in der Gegenwart: [W]ith the […] appearance of the Angel of Dispair, Antoine experiences the past not as a logical progression, a chain of events, but in its entirety […]“.38 Sodann treten die Toten, Sasportas, Debuisson und Galloudec, als verkörperlichte Erinnerung in Erscheinung: „Wir waren auf Jamaika angekommen […]“ (AF 47); die Geschichte fängt noch einmal an. Mit ihrem Auftritt beginnt der Flug des Engels von neuem. Die Geschichte kommt wieder in Bewegung, wenn der Engel die Särge der Toten und Opfer aufbricht: „Geschichte kann beginnen. Ihr Ort heißt jetzt Afrika, Asien, 38

Jeanette R. Malkin, Memory-Theater, 88.

125 Lateinamerika, die dritte Welt“.39 Das „Wiederhochholen“ der Niederlagen in die Gegenwart ist das emanzipatorische Moment des Erinnerns. Somit beschreibt Müller den Engel der Verzweiflung gerade nicht, wie Jeanette Malkin annimmt, als passiven Zeugen der Geschichte, der keine Macht hat, in das Geschehen einzugreifen.40 In der Erinnerung der Figur Antoine knüpft Müller an das vergangene Scheitern an und bringt die nicht zu Ende geführte Revolution in die Gegenwart, um mit ihr in dieser einen Bruch mit der Wirkungskontinuität der Geschichte der Katastrophen herbeizuführen. In seinem Drama Anatomie Titus Fall of Rome holt Müller das Alte Rom in die Gegenwart. Mit der Wiederkehr der toten Römer und Goten setzt der Autor am vergangenen Aufstand der Goten gegen die Römer an und bringt die Revolte in das „Rom der Gegenwart“, den Kapitalismus, um den Toten zu gedenken: „Die Toten sind nicht gern allein das Opfer“ (ATR 128). Das Heraufholen eines blutigen Aufstandes aus der Vergangenheit stellt dessen Unabgeschlossenheit zur Diskussion: „Es ist der Brauch/ Die Schatten unserer Toten zu versöhnen/ die unten schrein/ Rom hörst du meinen Schrei“ (ATR 128). Die Massengräber der Opfer der Geschichte stellen ein unerschöpfliches Reservoir der Tradition der Revolution, an die Müller hier anknüpft. Auf diese Weise ermöglicht der Dramatiker die Fortsetzung der unabgeschlossenen Geschichte und überlässt diese nicht nur den Siegern: „[D]IE SIEGER MIT MUSIK/ STOPFEN DIE TOTEN INS FAMILIENGRAB/ DIE TRAUER FRAGT NACH RACHE BLUT“ (ATR 128). Die Auferstehung der Opfer wird mit dem Auftreten Aarons eingeleitet, „ER BRAUCHT PLATZ FÜR SEINEN MONOLOG“ (ATR 137). So wie Aaron sich buchstäblich Platz verschafft, so ist die Wiederkehr der Geschichte der Opfer mit der buchstäblichen Vereinnahmung der Orte der Gegenwart beschrieben: DIE PANTHER SPRINGEN LAUTLOS DURCH DIE BANKEN […] IM SCHLAMM DER KANALISATION TROMPETEN DIE TOTEN ELEFANTEN HANNIBALS DIE SPÄHER ATTILAS GEHN ALS TOURISTEN DURCH DIE MUSEEN UND BEISSEN IN DEN 39 40

Frank Hörnigk, „Texte, die auf Geschichte warten“, 131. Jeanette R. Malkin, Memory-Theater, 89.

126 MARMOR MESSEN DIE KIRCHEN AUS FÜR PFERDESTÄLLE UND SCHWEIFEN GIERIG DURCH DEN SUPERMARKT (ATR 140/141)

Im Kampf der Goten gegen die Römer wird der Kampf um die Geschichte und ihre Fortsetzung demonstriert. Die Besiegten fechten erneut ihren Kampf aus und stellen ihr Anliegen in der Gegenwart zur Debatte. Trotz der totalen Zerstörung Roms scheinen die Römer durch die Krönung Lucius zum neuen Kaiser den Kampf gegen die Goten gewonnen zu haben. Mit der Tötung Aarons wird dieser Sieg noch bestärkt. Durch die Wahl der grausamen Tötungsmethode jedoch überlagert das Moment der ewig Geschlagenen, der Opfer und Verlierer, das der ewigen Sieger: Aaron wird lebendig bis zum Nacken eingegraben und so dem Hungertod ausgesetzt. Sein Körper versinnbildlicht dadurch direkt die Verbindung zu den in der Erde liegenden Toten, die auf ihre Geschichte warten. In der Erde wird der Körper Aarons zuerst zu Staub, dann in eine Wüste verwandelt, die sich schließlich über ganz Rom ausbreitet und die Stadt besiegt. In der Rückkehr der Wüste als Naturgewalt beschreibt Müller auf Benjamin’sche Weise die buchstäbliche Auferstehung des besiegten Toten, der wiederkommt und die unerlöste Geschichte weiterführt: WÄHREND DER NEGER IN DIE ERDE WÄCHST VERWANDELT LANGSAM VOM GEWÜRM DER TIEFE IN STAUB DER SICH ZUR WÜSTE SAMMELT UND WÄCHST ÜBER ROM SCHLAGEN DIE GOTEN DIE HAUPTSTADT DER WELT MIT PFEILGEWITTERN AN DAS KREUZ DES SÜDENS AUS MASSENGRÄBERN LAUTLOS APPLAUDIERT (ATR 222,223)

Im Namen der Opfer, die lautlos aus ihren Gräbern applaudieren, versinnbildlicht Aarons Tod, die Rückkehr zu den Toten und seine Verwandlung in die Wüste den Benjamin’schen Engelsflug. Müllers Hamletmaschine stellt ein weiteres Erinnerungsdrama dar, wobei hier die Erinnerung an das Vergangene die Figuren in ihre Rollen

127 ein- und aussteigen lässt. Hiermit wird die Künstlichkeit des Textes vorgeführt. Wenn die drei Emissärfiguren in Der Auftrag quasi von Antoine erinnerte Rollen annehmen, also Rollen von Toten spielen, so schlüpft die Figur, die Hamlet spielen soll, nicht gleich in ihre Rolle, sondern erinnert sich zuerst an ihr Spiel: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste Europas […]“ (HM 11). Im Zuge ihres Redens vergegenwärtigt sich die Figur ihre imaginäre Rolle, ihre Hamletrolle. Die Erinnerung an diese Rolle bewirkt eine prinzipielle Reflexion über die Rolle des Intellektuellen im Geschichtsprozess. Daher verdeutlicht die Erinnerung in Hamletmaschine Müllers Nachdenken über seine eigene gesellschaftliche Position und Wirkung als linksintellektueller Schriftsteller. Einzelne Szenen aus dem Drama Shakespeares, wenn auch fast bist zur Unkenntlichkeit montiert, werden hier zitiert: so das Begräbnis des Vaters, das noch vor Beginn des Shakespeare’schen Dramas liegt, der Auftritt des Gespenstes des Vaters und das Spiel der Truppe in Hamlet, die sogenannte „Mausefalle“, bei der der neue König des Mordes überführt werden soll. Mit der Überschrift „Familienalbum“ beginnt der erste Teil von Hamletmaschine. Der Titel leitet den Monolog Hamlets ein und deutet darüber hinaus auf Bilder (Fotos des Albums) der Vergangenheit, die es sich zu vergegenwärtigen gilt. Der erste Satz schon lässt sich als radikale Negation des Intellektuellen lesen, „im Rücken die Ruinen Europas“, der den Diskurs nicht für sich gewonnen hat: „Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA“ (HM 11). Im anfänglichen Erinnerungsspiel öffnet Hamlet in Parallele zu dem Engel der Verzweiflung in Der Auftrag den Sarg seines Vaters: Ich stoppte den Leichenzug, stemmte den Sarg mit dem Schwert auf, dabei brach die Klinge, mit dem stumpfen Rest gelang es, und verteilte den toten Erzeuger FLEISCH UND FLEISCH GESELLT SICH GERN an die umstehenden Elendsgestalten. Die Trauer ging in Jubel über, der Jubel in Schmatzen, auf dem leeren Sarg besprang der Mörder die Witwe. (HM 11)

Mit der Öffnung des Sarges, dem Sprung zurück in die Vergangenheit, versucht Hamlet eine neue, andere Geschichte zu schreiben, die nicht die ewige Geschichte der Väter ist, sondern revolutionären Impetus besitzt. Dennoch bleibt dieser neue Antrieb, ausgedrückt durch das in Jubel übergehende Schmatzen, in der Gesellschaft erfolglos. Der erinnerte Hamletmythos ist Spielmaterial für die Konstituierung des geschichtlichen Gedächtnisses, welches auf das Versagen des Intel-

128 lektuellen Hamlet, gesellschaftlichen Umschwung herbeizuführen, hinweist. Die Erinnerung an seine (frühere) Rolle lässt ihn erkennen, dass er immer noch im herrschenden Rollenspiel die Position einnimmt, die keinerlei Veränderung einleitet. Danach erfolgt eine Verschiebung der Zeit (Ich war Hamlet/ I’M GOOD HAMLET), mit der Hamlet seine ewige Rolle des versagenden Intellektuellen annimmt: „I’M HAMLET GI’ME A CAUSE FOR GRIEF“ (HM 11). Zugleich deutet Müller hier auf die referentielle Spannung zwischen der erinnerten Hamletrolle und dem Spielmodell in der Gegenwart. Obwohl Hamlet die immer wiederkehrende Geschichte der Väter von sich weist – der Vater tritt als Gespenst auf („Was willst du von mir. Hast du an einem Staatsbegräbnis nicht genug […] Was geht mich deine Leiche an“ HM 11/12) – kann er lediglich im Zuge der Erinnerung seine wirkungslose Rolle sehen: Er spielt immer noch Hamlet. In Anlehnung an das Spiel im Spiel in Hamlet, wird auch hier die Sinnlosigkeit des Spielens veranschaulicht. Zu Horatio, einem weiteren Intellektuellen, sagt die Hamletfigur: DU KOMMST ZU SPÄT MEIN FREUND FÜR DEINE GAGE/ KEIN PLATZ FÜR DICH IN MEINEM TRAUERSPIEL. […] Ich wußte, daß du ein Schauspieler bist. Ich bin es auch, ich spiele Hamlet. (HM 13)

Wegen seines Scheiterns kann Hamlet die Opfer der Geschichte lediglich weiter in die Vergangenheit zurückstoßen und an die Zukunft verweisen: „Ich will die Leiche in den Abtritt stopfen, daß der Palast erstickt in königlicher Scheiße“ (HM 13). Die zweite Intellektuellenfigur, Horatio, nimmt wie Hamlet im dritten Bild „SCHERZO“ die Position des Engels der Geschichte ein: Ein Engel, das Gesicht im Nacken: Horatio (HM 15). Horatio als Engel umarmt Hamlet und tanzt mit ihm, bis sie im Tanz erstarren. Diese Erstarrung verdeutlicht das Versagen beider Intellektuellen und ist die Versteinerung der Hoffnung auf gesellschaftlichen Umschwung. So pervertiert Müller das Bild des historischen Materialismus auch an anderer Stelle: Hamlet in Hurenpose ist Hinweis auf Benjamins sechzehnte These, Hamlet als „Hure des ‚es war einmal‘“41, als erstarrtes Bild der Vergangenheit, das nicht an den Niederlagen der Geschichte ansetzt. Die durch die Erinnerung eingeleitete Erkenntnis des Versagens befähigt Hamlet schließlich, aus seiner Rolle auszusteigen. Vor dem Hinter41

Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, 702.

129 grund gescheiterter Revolutionen (russische Revolution 1917, Ungarnaufstand 1956) im vierten Bild „PEST IN BUDA SCHLACHT IN GRÖNLAND“ kommt Hamlet zu der Erkenntnis, dass sein Drama nicht mehr stattfindet, dass seine Vorstellungen vom Sozialismus in der Gegenwart nicht eingelöst worden sind: „Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. […] Mein Drama findet nicht mehr statt“ (HM 17). Er erkennt die Kluft zwischen Realität und sozialistischem Anspruch und kann dadurch zum ersten Mal sein wahres, nicht mehr entfremdetes Gesicht sehen. Hamlet legt ein für alle mal seine Maske und sein Kostüm ab. Er emanzipiert sich folglich über die Erinnerung an seine Rolle („Ich war Hamlet“) und das Erkennen seiner ewigen Rolle des versagenden Intellektuellen (I’M HAMLET) zum Aussteiger aus diesem Spiel („Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr“). Somit bringt die Reaktualisierung der Vergangenheit erst einmal die Erkenntnis der eigenen Erfolglosigkeit und Niederlage. Zugleich ist sie Reflexion darüber, wie der Intellektuelle seine traditionelle Rolle verändern muss, um sich erfolgreich in den Geschichtsprozess einbringen zu können. Diese Vergegenwärtigung der eigenen Niederlage befähigt Hamlet trotzdem nicht, an das eigene Scheitern anzuknüpfen, um es für die Gegenwart zu nutzen. Erst muss das starre Bild der Geschichte, das bloß an die Zukunft verweist, zertrümmert werden. Darum zerstört Hamlet die Köpfe der Klassiker Marx, Lenin und Mao, die das ewige Bild der Vergangenheit transportieren, indem sie die Einlösung ihrer Politik in die Zukunft verweisen, konkrete Probleme der Gegenwart jedoch ausklammern. Durch die Erinnerung formuliert Müller ein Vermächtnis, das mit der Gegenwart und Zukunft konfrontiert nach einer Einlösung sucht. Erinnerung bleibt im Fall Hamlets jedoch lediglich Erinnerung an die Vergangenheit und kann nicht für die Gegenwart genutzt werden. Erst der Engel der Verzweiflung in Der Auftrag verwandelt Antoines Erinnerung in eine geschichtliche Bewegung, wobei Sasportas zum Träger der Utopie wird. Die Figur Aaron stellt in Anatomie Titus Fall of Rome buchstäblich den Flug des Engels dar, indem sein Körper in die Erde eingesenkt wird und so das Element ist, das ein Ereignis der Vergangenheit in der Gegenwart für die Gegenwart aktualisiert. Die Gegenwart soll hier Handlungsraum werden: Indem Müller revolutionäre Ereignisse der Geschichte auf die Bühne seiner Gegenwart stellt, schließt er an vergangene revolutionäre Energien an und macht diese für seine DDR-Gegenwart verfügbar, die für ihn bisher vor allem von geschichtlicher Stagnation

130 durch die Fortsetzung von Katastrophen geprägt wird. In der Reaktualisierung erkennt der Rezipient, dass seine Gegenwart aktueller Handlungsraum sein kann. Im Fall Jelinek ist die Forschung noch kaum auf Parallelen im Geschichtsverständnis zu Benjamin eingegangen.42 Das mag mit der totalen Utopielosigkeit und dem Fehlen jeglicher Hoffnung auf Änderung zu tun haben, die in den Werken Jelineks stets zum Ausdruck kommt. Benjamins Arbeit hingegen ist grundsätzlich von einem Utopie- und Erlösungsgedanken geprägt. Der Vergleich der Geschichtskonstruktion Jelineks mit der Benjamins kann deshalb nicht davon ausgehen, dass Jelinek mit dem Heraufholen der Geschichte im Sinne Benjamins einen Neuanfang beschreiben möchte. Die Jelinek’sche Geschichtskonstruktion führt nicht auf einen möglichen Handlungsraum hin, den Benjamin wie auch Müller in dem Heraussprengen des Geschichtskontinuums mittels Revolution sehr wohl zu beschreiben versuchen. Vielmehr ist es das Anliegen Jelineks, aus der Krise der Gegenwart heraus durch ihr Schreiben einen Erkenntnisraum zu schaffen, der die unerledigte Geschichte erneut thematisiert. Dies geschieht vor dem Hintergrund des öffentlichen Geschichtsdiskurses der historischen Unschuld, der dem latenten, von Jelinek unermüdlich attackierten Faschismus in Österreich Aufschwung gibt. Das Anknüpfen an die Niederlage der Besiegten ist für Jelinek nur ex negativo möglich. Die Tradition der Geschlagenen, vor allem die Opfer des Holocaust und des gegenwärtigen Faschismus, sind aus dem offiziellen Gedächtnis gelöscht. Ihre Tradition ist so verschüttet und verschwiegen, dass sie lediglich als Stätte des Negativen beschrieben werden kann. Jelinek spricht von den vielen Stimmen, die bereits vorgesprochen haben, von Geistern, die sie herbeizitiert hat.43 Mit der Auferstehung der Toten unterzieht Jelinek die Geschichte der Sieger einer Revision. Sie holt in den Gespensterbildern in Totenauberg die Holocaustopfer zurück, in Stecken, Stab und Stangl werden die Opfer des Holocaust und des gegenwärtigen Faschismus aus der Verdrängung und dem Vergessen geholt. So fungiert Jelinek in ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin selbst als „Engel der Geschichte“. In der Erweckung der Toten zeigt Jelinek wie Benjamin die geschichtliche Unabgeschlossenheit; in der unerledigten 42

43

Einzig mir bekanntes Beispiel ist Margarete Sanders Arbeit zum Textherstellungsverfahren. 91-93. Elfriede Jelinek. „Sinn egal, Körper zwecklos“. Stecken, Stab und Stangl. Raststätte. Wolken.Heim. Neue Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt, 1997. 9, 12.

131 Aufarbeitung erinnert auch Jelinek an das Scheitern der Besiegten. Sie vollzieht im Negativen Geschichte im Namen der Opfer. Durch ihre Negativität sind die wiederkehrenden Opfer im Gegensatz zu Müllers Figuren sprachlos und körperlos. Sie kommen, wie Evelyn Annuß feststellt, entweder als körperlose Stimmen oder stumme Körper aus der Vergangenheit zurück.44 Im Eingedenken an die Abwesenden wird der Körper der Opfer durch das Auseinanderklaffen ihrer Seh- und Hörbarkeit auf die Bühne gestellt. Es sind folglich Ortlose, deren Wiederkehr geschildert wird. Sprachgeschehen wird in Totenauberg deutlich von den faschistischen Figuren dominiert, die in Sprachflächen ihre Monologe auf der Bühne halten, ohne jedoch miteinander zu reden. Wie schon erwähnt und u.a. bereits an den Stücken Burgtheater und Wolken.Heim demonstriert, legt die Sprache faschistisches Gedankengut frei. Der Sprachbesitz entwirft eine Identität, die keinen Platz für andere freilässt. Somit sind die faschistoiden Figuren in Totenauberg die alleinigen Sprachbesitzer, und deshalb auch die einzigen Sprecher. Ihre Opfer bleiben stumm. Jelinek gedenkt der Opfer jedoch während ihres Dramas und stellt diese auf der Bühne als stimmenlose, auf der Filmleinwand zudem als körperlose Wesen dar. Die Regieanweisung in der Szene „Totenauberg“ liest sich wie folgt: Während die Sportler sich auf die Piste begeben, verschwinden sie von der Filmleinwand, wo jetzt ein alter Dokumentarfilm erscheint, aber sehr diskret, jüdische Menschen sammeln sich zum Transport, man muß dafür eine sehr zivile Stelle suchen (TA 37). Man sieht dann, während sich die beiden menschenfressenden Gamsbärtlerfiguren auf der Bühne über einen Körper hermachen, wie auf der Leinwand Menschen gedemütigt werden. In einem weiteren Bild, „Unschuld“, zeigt die Leinwand zuerst das Interieur eines ländlichen Schlosses, Geige und Klavier Spielende sind zu sehen. Während dieser Filmszene ziehen stumme Menschen in Reisekleidung und mit Reisegepäck in einem unaufhörlichen Strom über die Bühne: die Opfer des Holocaust. Diese erscheinen dann nochmal als stumme und körperlose Wesen auf der Filmleinwand: Über die Leinwand gehen jetzt wieder, in endlosem Zug, die Menschen aus den alten Filmen (TA 77). Die Toten im Drama sind als sprachlose und ortlose Gespenster zitiert, die zudem keinen Körper besitzen, wenn sie auf der Leinwand als Projektion erscheinen. In der Verlebendigung der Toten durch ihre Abwesenheit kommen sie als gespensterhafte Wesen zum Vorschein. Im Eingedenken an die Toten stellt 44

Evelyn Annuß, „Im Jenseits des Dramas“, 46.

132 die Autorin die Notwendigkeit und gleichzeitig die Unmöglichkeit des Anknüpfens an die totale Auslöschung der Opfer der Geschichte dar. Das Zitieren der Opfer im gegenwärtigen Kontext von Sport und gesellschaftlicher Bildungskultur stellt eine neue Konstellation in der Gegenwart her. Nicht länger wird Sport als Körperertüchtigung und Kultur als emanzipiertes Bildungsgut gesehen, sondern mit dem unvermittelnden Heraufzitieren der Opfer des Holocaust werden sie neu ausgelegt: In Sport und Bildungskultur hat sich der Faschismus eingeschrieben. In Jelineks Geschichtskonstruktion wird auf diese Weise ein gesellschaftlicher Zusammenhang anders beleuchtet. Obwohl keineswegs eine konkrete Erlösung oder bevorstehende Freiheit zur Debatte steht, eröffnet sich in der Rückwendung der Geschichte ein Erkenntnisraum für die Gegenwart, der einen Entscheidungs- oder Handlungsraum nach sich ziehen könnte. Wenn Überlieferung Vergessen ist, dann können die Österreicher im Unschuldslicht erscheinen. Ein Kunde sagt in Stecken, Stab und Stangl: „Überliefern ist zugleich Vergessen. Endlich stellt uns einer wieder in unsere vergangene Größe hinein und bringt uns, wenn auch etwas spät, zum Vollzug“ (ST 63). Die Toten, die ermordeten Roma in Oberwart, sind in noch radikalerer Form als in Totenauberg sprachlos und körperlos. Sie kommen lediglich in der Sprache der Lebenden „zum Vorschein“. So inszeniert Jelinek auch hier ein Schweigen der Toten, das im völligen Gegensatz zur „tatsächlichen“ körperlichen und sprachlichen Auferstehung der Toten in den Texten Müllers steht. Die Toten in Stecken, Stab und Stangl werden buchstäblich in die Live-Sendung des ORF zitiert; lediglich in der Sprache und Ansprache der Lebendigen gewinnen sie szenische Präsenz, wie zum Beispiel in den immer wiederkehrenden Anreden: „Werte Herren Tote, meine Herren Verstorbenen, liebe Tote, liebe herrenlose Tote, meine Herren Opfer, liebe Verstorbene“. In der körperlichen wie auch sprachlichen Abwesenheit zeigt Jelinek auch hier die notwendige, aber unmögliche Anknüpfung an die Tradition der Unterdrückten, die nie ganz sterben können, aber auch nie ganz leben dürfen. Im Eingedenken an die Ermordeten in Oberwart 1995 kommt die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Zeitebenen zum Ausdruck. Der Rückgriff auf die Vergangenheit aktualisiert die Geschichte der Besiegten, um die Gegenwart zu erkennen. Zum einen die Verkommenheit der österreichischen rechtspopulistischen Medien, zum anderen die Fortsetzung des Holocaust durch die Ermordung der vier Männer in Oberwart. Die Zeitraffer, welche die unterschiedlichen Zeitebenen darstellt und die toten Opfer auferstehen lässt, zeigt die Mediensprache in einem neuen

133 Licht. Die Presse mit ihrer Sensations- und Konsumsprache („Einmal muß Schluß sein, meine lieben Verstorbenen! Wir haben auch Feuer im Angebot. Wählen Sie unter fünf verschiedenen Brandbeschleunigern! […] Winkewinke ins Spital […], ST 51) verwischt Mord, Sport und Nachrichten so sehr, dass daraus eine flache Unterhaltungssendung wird, welche die Morde völlig verharmlost und die Ruhigstellung ihrer Zuschauer nach sich zieht. Auf diese Weise sind auch die Medien die Vollstrecker des gegenwärtigen Faschismus. Im zitierten Rückgriff auf die Ermordung der Juden in den Konzentrationslagern wird der Mord an den Roma im Holocaust gespiegelt: „Warum also hätten sich die Nazis bei der Ausrottung der jüdischen Häftlinge die Komplikation antun sollen, alle Juden zu vergasen – wenn es doch so leicht war, sie auf andere, einfachere Weise umzubringen!“ (ST 44), „Das heißt, es war vernünftig, so viele Leute umzubringen, und zwar gleich so maßlos viele, und jetzt kommen sogar noch vier zu den anderen dazu“ (ST 42). Der Mord in Oberwart ist keineswegs ein Einzelfall oder eine Sensation gleich eines Sportereignisses, sondern er ist durch das Eingedenken an die Opfer die Fortsetzung des Holocaust. Das Eingedenken findet sich in der Mikrostruktur der Texte von Müller und Jelinek mittels Zitatmontage wieder. Im Folgenden möchte ich exemplarisch Beispiele für die Zitatmontage in der Mikrostruktur anführen, gezeigt an Hamletmaschine und an Totenauberg. Die Hamletfigur ist der Prototyp des neuzeitlichen Intellektuellen. Schon der Titel Hamletmaschine verweist auf die Unmenge der Zitate und Bezüge, die sowohl auf die kulturgeschichtliche Überlieferung, als auch auf die Rezeption und Interpretation des Hamlettextes abheben. Der Müller’sche Text überdeckt den Prätext fast völlig und reduziert ihn auf seine Bedeutung als exemplarisches Muster für einen bestimmten Verhaltenstypus. Im Eingedenken an die Hamletfigur wird dieser Verhaltenstypus auf den Kontext des 20. Jahrhunderts erweitert. Das Selbstzitat aus Müllers Text Der Bau, das im ersten Bild eingebaut ist, stellt sogleich die Beziehung zur DDR-Realität dar.45 In Der Bau spricht der Ingenieur Hasselbein von sich selbst als „Hamlet in Leuna“, als „zweiter Clown im kommunistischen Frühling“. Diese letzte Anspielung der Hasselbeinfigur stellt eine Beziehung zu Shakespeares Hamlet her, bei dem im 5. Akt zwei Clownfiguren auftreten. Mit der Verschränkung der Zitate „OH MY PEOPLE WHAT HAVE 45

Theo Girshausen, „Notate zur Hamletmaschine. Die Hamletmaschine. Heiner Müllers Endspiel“. Köln: Prometh, 1978. 10.

134 I DONE UNTO THEE“ und „SOMETHING IS ROTTEN IN THIS AGE OF HOPE“ (HM 11) zeigt Müller ein allegorisches Sinnbild für die Befindlichkeit des Intellektuellen in der DDR-Realität: „SOMETHING IS ROTTEN“ auch in einem Staat, der im Zeitalter sozialistischer Hoffnung sein Versprechen als Arbeiterstaat nicht einlöst. Darauf spielt ebenfalls das Hamletzitat „Dänemark ist ein Gefängnis“ (HM 13) an. Auch das vierte Bild „Pest in Buda Schlacht um Grönland“ verlängert das Hamletthema in die Gegenwart des 20. Jahrhunderts und spricht vor dem Hintergrund des Sozialismus das Problem der Identitätssuche an. Auch hierbei findet die Stellung des Intellektuellen besondere Beachtung: HAMLET Der Ofen blakt im friedlosen Oktober A BAD COLD HE HAD OF IT JUST THE WORST TIME JUST THE WORST TIME OF THE YEAR FOR A REVOLUTION Durch die Vorstädte Zement in Blüte geht Doktor Schiwago weint Um seine Wölfe IM WINTER MANCHMAL KAMEN SIE INS DORF ZERFLEISCHTEN EINEN BAUERN legt Maske und Kostüm ab. (HM 17)

Hamlet artikuliert in diesem Bild nur noch Sprachfetzen, die aus variierten Elementen bestehen. Der Anfang des Monologs ist ein verfremdetes Zitat von T.S. Eliots Gedicht The Journey of the Magi. Die Erkältung, „A BAD COLD“, die hier angesprochen ist, verweist auf die ausbleibende gesellschaftliche Veränderung. Das von Müller in das Eliot-Zitat eingefügte Wort REVOLUTION, welches das Wort „journey“ aus dem Originaltext ersetzt, spricht die russische Oktoberrevolution von 1917 an und lassen alle anderen gescheiterten Umwälzungsversuche, wie den 17. Juni 1953 und den Ungarnaufstand 1956, anklingen: „JUST THE WORST TIME OF THE YEAR FOR A REVOLUTION“. Das Eigenzitat aus Zement (IM WINTER MANCHMAL KAMEN SIE INS DORF) und das zitierende Aufrufen der Schiwagofigur stellen den Hamletmonolog ebenfalls in den Kontext der russischen Revolution. Die Passage fügt die Zitate zusammen, deren Anhäufung eine Erinnerung an einzelne Prätexte evoziert, aber im neuen Kontext lediglich vom Scheitern berichtet. Sie zeigt das Unvermögen des (ehemaligen und gegenwärtigen) Intellektuellen zu agieren. Die Handlung, eine Veränderung des Systems ein-

135 zuleiten, schlägt fehl, Hamlets Drama, „wenn es noch stattfinden würde, fände in der Zeit des Aufstands statt“ (HM 17). Die Unfähigkeit des Handelns wird in diesem Bild in einem zweiten Schritt an einer Gegenwart gespiegelt, die mehr und mehr Abbild ihrer selbst ist und damit als Handlungsraum immer weniger erkannt wird. Fernsehen Der tägliche Ekel Ekel Am präparierten Geschwätz am verordneten Frohsinn […] An den Lügen die geglaubt werden Von den Lügnern und niemanden sonst Ekel An den Lügen die geglaubt werden Ekel An den Visagen der Macher gekerbt […] Geh ich durch Straßen Kaufhallen Gesichter Mit den Narben der Konsumschlacht Armut […] Hoffnung der Generationen In Blut Feigheit Dummheit erstickt Gelächter aus toten Bäuchen Heil COCA COLA […] (HM 19, 21)

Der Konsum zeigt sich hier als neue Religion, die alle anderen religiösen Traditionen schluckt. Darüber hinaus bindet Müller ähnlich wie Jelinek Konsum und Konsumverhalten an den Faschismus („Heil COCA COLA“). Der Konsumfaschismus erzeugt den Massenmenschen und zieht dessen Ruhigstellung nach sich. Die Ablehnung einer Massenkultur und eines Massenkonsums veranlasst den Rückzug des Ästhetischen und Politischen ins Private, gegen den sich ja vor allem der Intellektuelle stellen sollte. Demgegenüber werden Modellfiguren aufgerufen: ICH WAR MACBETH DER KÖNIG HATTE MIR SEIN DRITTES KEBSWEIB ANGEBOTEN ICH KANNTE JEDES MUTTERMAL AUF IHRER HÜFTE RASKOLNIKOW AM HERZEN UNTER DER EINZIGEN JACKE DAS BEIL FÜR DEN/EINZIGEN/ SCHÄDEL DER PFANDLEIHERIN (HM 21)

Zitierte Figuren, wie zum Beispiel der Königsmörder Macbeth oder Raskolnikow aus Fjodor Dostojewskis Schuld und Sühne, verfehlen wie Hamlet und der intellektuelle Künstler der Gegenwart die Chance, verändernd in die Gegenwart einzugreifen. Raskolnikows Mord trifft lediglich eine einzelne Person, verändert das System selbst aber nicht. Folglich erteilt Müller der Position des Künstlers als gesellschaftsverändernde Kraft eine radikale Absage: „Zerreißung der Fotografie des Autors“ (HM 21). Die gesellschaftliche Neugestaltung ex negativo ist letzter Ausweg des

136 Schriftstellers Müller, eine gesellschaftliche Praxis des Handelns herbeizuführen, in der die Wirklichkeit als Handlungsraum und die eigene Rolle des Einzelnen, vor allem die des Intellektuellen, erkannt und reflektiert wird. Marianne Streisand zufolge zeigt Hamletmaschine die Subversion durch Literatur und ist nicht etwa eine Absage an Literatur oder Theater. Nach Streisand zielt Müllers Stück auf eine Absage an die analytischen Impulse ab zugunsten von „Freiräumen der Fantasie“, die sich gegen die vorfabrizierten Klischees und Standards der Medien richten. Sie konstatiert: Das Theater, das Müller hier vorschlägt, ist eines, das im Rezeptionsvorgang in hohem Maße abhängt vom konkreten Erfahrungs- und Erwartungshorizont des Zuschauers, das dem Einbringen von dessen Subjektivität Freiräume lassen will.46

In Jelineks Totenauberg werden literarische Zitate u.a. von Celan und Thomas Bernhard verwendet, sowie Texte von Arendt und Heidegger. Die Heideggerfigur ist hier der Prototyp des intellektuellen Faschisten, der durch das Verdrängen seiner indirekten Mittäterschaft die Geschichte nach 1945 neu beginnen lässt. Heideggers Treffen mit Celan, der seine Eltern durch den Holocaust verlor, wird in Totenauberg zitierend reaktualisiert. Celan besucht Heidegger in Todtnauberg, um von ihm ein „erlösendes“ Wort zu hören. Heidegger hatte nach 1945 nie Stellung zu den Verbrechen der Nationalsozialisten bezogen. Sowohl die Wanderung der beiden als auch Celans Eintragung in das Hüttenbuch wird in Totenauberg zitiert: „Aufs Hochmoor! Sich ins Hüttenbuch einschreiben, Hochmoorsoldaten ohne Spaten, dafür mit Wanderstöcken, die grinsenden Totenköpfe auf die Kniebundhosen gesenkt“ (TA 12). Im Eingedenken an diese Begegnung wird die Verdrängung und eingeforderte Erinnerung zum Thema. Die späte Versöhnung Arendts mit Heidegger zu seinem 80. Geburtstag ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Jelinek vergangene Ereignisse in ihren Text eingebaut: „Jetzt aber ist es Zeit zu feiern! Wir haben uns wiedergefunden“ (TA 89). Die Montage eines Zitats von Arendt aus ihrem Aufsatz „Was ist Existenzphilosophie?“, in dem die Philosophin kritisch zu Heideggers Denken Stellung nimmt, erweitert in Totenauberg den Sinn des Zitats um den Kontext des Kapitalismus.47

46 47

Marianne Streisand, „Das Theater braucht den Widerstand“, 1173. Margarete Sander, Textherstellungsverfahren, 100.

137 Denken ist Gebrauchtwagen-Handeln! Bitte lernen: die vielen Marken, die es gibt in einer Epoche. Allein schon vor den Toyotas und Hondas und ihren Spielarten verhalten Sie sich wie der Schöpfer vor der Erschaffung der Welt. (TA 12)

Wie Sander feststellt, wird das „vorgegebene Sein“ bei Arendt durch japanische Markenartikel ersetzt. Aus Heideggers Diktum „Denken ist Handeln“ ist ein „Handeln mit“ geworden, aus Heideggers Sein werden Gebrauchtwagen. Der Schöpfer Heidegger wird in der Zitatmontage zu einem Schöpfer von Fertigteilen. Das Sein wird zur beliebig austauschbaren Ware, zum Massenprodukt.48 Die Einbindung der Kritik Arendts an Heideggers Philosophie in einen neuen Kontext der Marktwirtschaft bindet kapitalistische und faschistische Verhaltensweisen aneinander. In der Montage von Konsumwörtern wird diese Verbindung wiederholt hergestellt, so zum Beispiel: „Das Sein ist die Ware des Seienden“ (TA 42). Die Montage, welche die Sprache mit Konsum und Warenwirtschaft durchmischt, wird darüber hinaus zu einer weiteren neuen Bedeutung verlängert. In die Sprache des Konsums sind die Diskurse über Gesundheit, Heimatverbundenheit und Tourismus eingeflochten. Dies setzt nun den rassischen Nazi-Diskurs über Gesundheit und den gegenwärtigen Vollkostgesundheits-Diskurs in Verbindung zueinander. Der Faschismus wird verlängert in die zeitgenössischen Diskurse von Gesundheit, Sport, Ökologie und Tourismus. So folgert Janz, dass eine aktuelle Erscheinungsform des Faschismus in einem Gesundheits-Diskurs besteht, der das angeblich ‚gesunde‘ Leben mit der Fähigkeit zum Konsum gleichsetzt und die Nicht-Konsumenten nicht nur als ‚Kranke‘, sondern letztlich als ‚lebensunwertes Leben‘ ausgrenzt.49

Heidegger wird in der Zitatmontage zum eigentlichen Hauptangeklagten. Sein Denken dient nichts anderem als der Zerstörung der Welt. Im Kontext der Gegenwart ausgesprochen, wird dem faschistoiden Denkansatz Heideggers aktuelle Bedeutung zugemessen: nicht nur damals, sondern auch heute ist Faschismus wirksam. Der alte Mann alias Heidegger ist im Stück in ein Gestell geschnallt. „Ge-stell“ ist der Heideggerische Begriff für Technik, wie er ihn in seinem Aufsatz „Die Frage nach der Technik“ anführt. Mit dem Verfahren, 48 49

Ebd., 101. Marlies Janz, Elfriede Jelinek, 135.

138 das Gestell als solches aufzurufen und der Heideggerfigur überzuschnallen, zitiert Jelinek Heidegger während des gesamten Dramas. Er wird zur Allegorie seiner selbst, zum personifizierten Sein. Heidegger ist das verkörperte Zitat.50 Für Heidegger gewährleistet erst die Heimatverwurzelung ein zureichendes Verhältnis zur Technik. 51 In der Verbindung mit dem Gesundheits- und Euthanasie-Diskurs wird nun Heideggers Technikbegriff, das „Ge-stell“, zur Massenvernichtung erweitert: „Sie haben mit ihrer Technik, diesem düsteren Ort, von dem Sie besessen sind, nicht etwas entstehen, sondern Millionen Menschen verschwinden lassen“ (TA 83). Die Massenvernichtung wird darüber hinaus vor einer Wirklichkeit gespiegelt, die längst zu ihrem Abbild geworden ist, so dass der Holocaust im Simulakrum verschwindet: „Das Schreckliche wird gähnend Wirklichkeit, reckt sich und schaut träge über die Menge vor den Kartenschaltern, die sich geduldig voranschiebt zu den leeren Tribünen hin, von wo etwas schreit […]“ (TA 81). Und an anderer Stelle kommentiert die Figur: „Komischer Film, in dem die Person, die eben noch fröhlich gelacht hat, um ihr Sein gebracht wird“ (TA 83). Die Zitatmontage ist die Produktionsästhetik, in die sich das Eingedenken eingeschrieben hat und die die vergessene Vergangenheit und die verschwiegenen Diskurse in der Gegenwart aktualisiert. Es wird nicht nur die kanonisierte Bedeutung von literarischen sowie philosophischen Texten und Diskursen kritisch beleuchtet; durch die Zitatmontage wird darüber hinaus eine Änderung im Rezeptionsvorgang selbst vorgenommen. Durch die Ineinanderschiebung von Werken der Vergangenheit in den zeitgenössischen Text verändert sich die Position des Rezipienten. Ein linearer Lese- und Zuschauvorgang wird mittles Großschreibung und Variation von deutscher und englischer Sprache (Müller), durch Klangbilder und durch die Konstruktion von Kunstdialekten (Jelinek) stets unterbrochen. Die Wahrnehmung ist auf die sprachliche Materialität umgeleitet, so dass die Fokussierung auf das Dargestellte in den Hintergrund rückt und dadurch die Möglichkeit des Bewusstwerdens des Wahrnehmungsvorgangs selbst besteht. Das Aufbrechen eines ungestörten Lese- und Zuschauervorgangs löst eine Erfahrung aus, bei der sich der Rezipient als Bezugspunkt und Sinnstifter erfährt. Die Aufnahme des fiktiv Dargestellten wird nicht länger durch die Ausblendung der Subjektivität des Rezipienten durchgeführt, wie es vornehmlich bei den 50 51

Margarete Sander, Textherstellungsverfahren, 111. Marlies Janz, Elfriede Jelinek, 134.

139 Medien der Fall ist. Erfährt sich der Rezipient durch die Montage der Zitate als Sinnstifter, verändert sich die Haltung zum Dargestellten, denn er wird sich seiner subjektiven und historisch bedingten Bedeutung konstituierenden Rolle seiner Welt bewusst.

2. Die postdramatische Figur Die Konstruktion der postdramatischen Figur soll nun in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt werden. Wie die Zitatmontage verweist die Zurschaustellung der Artifizialität des theatralischen Rollenspiels und der postdramatischen Figur den Rezipienten auf den Fiktionscharakter des Dargestellten. Es werden tote Figuren vorgeführt, die aus aller Individualität, Authentizität und Autonomie entlassen sind. Darüber hinaus hat die postdramatische Figur keine Grenze zwischen Innerlich- und Äußerlichkeit. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine objektive Position innehat, von der aus die Welt erfasst und beschrieben werden kann. Die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Beobachter und Beobachtetem, ist nicht mehr eindeutig auszumachen. Dies führt zur Unfähigkeit der Figur, ihren eigenen Standort zu bestimmen. Sie ist somit ortlos und tiefenlos. Des Weiteren ist die kommunizierende Rollenfigur abgeschafft. Die postdramatische Figur ist ausschließlich sprachliches Produkt und kann sich nur allein durch Sprache konstituieren. Wenn die Figur aufhört zu sprechen, hört sie auf, zu exisiteren. Da die Sprache der Figuren Zitatmaterial ist, wird authentische und spontane Rede von vorneherein ausgeschlossen. 2.a. Die postdramatische Figur: ortlos und tiefenlos In seinem Buch Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism thematisiert Fredric Jameson das Problem, sich weder lokalisieren noch orientieren zu können. Diese Unfähigkeit führt Jameson auf die Veränderungen in der gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft zurück, auf eine „chaotische“ Grenzverwischung zwischen high culture und der so genannten Massen- und Kommerzkultur, welche die Kultur mit allen Formen der Massenmedien und der Warenwelt verbindet. Mit dieser Erweiterung des kulturellen Raumes nimmt Jameson eine grundsätzliche Revision in der Erfahrung von Raum an sich wahr. Der neue, postmoderne Raum ist Jameson zufolge von einer Tiefenlosigkeit gekennzeichnet, die sich in

140 einer gegenwärtigen Besessenheit mit Flachheit und Oberflächlichkeit artikuliert, aus der eine Distanzlosigkeit resultiert. Jameson verdeutlicht den postmodernen Raum, den Hyperraum, in seiner Analyse des Westin Bonaventura Hotels in Los Angeles von John Portmann. Die enorm große Lobby des Hotels „aspires to being a total space, a complete world, a kind of miniature city“52, ersetzt die städtische Landschaft. Jameson beschreibt sich in dieser Riesenhalle als verloren, „[y]ou are in this hyperspace up to your eyes and your body“.53 Der Verlust der Fähigkeit sich im Hyperraum des Hotels selbst zu lokalisieren ist für Jameson gleichzeitig der Verlust einer kritischen Distanz, eines Aussichtpunktes oder Referenzpunktes, von dem aus Kritik geleistet werden könnte. „What the burden of our preceding demonstration suggests, however, is that distance in general (including ‚critical distance‘ in particular) has very precisely been abolished in the new space of postmodernism“.54 In dieser Unübersichtlichkeit gilt es, den postmodernen Raum zu vermessen, um eine eigene Position ausmachen zu können. Jameson schlägt eine „aesthetic of cognitive mapping“ vor, eine Art kulturelle Kartographie als politisch-ästhetische Antwort auf die gegenwärtige Situation. Die Arbeit eines kulturellen Kartographen ist der Versuch, eine Positionsbeschreibung und somit eine Orientierung im postmodernen Raum zu leisten. Die Vermessung des postmodernen Raums ist für Jameson die einzig plausible Art einer politischen wie ästhetischen Aktion innerhalb des neuen Raums: [T]he new political art – if it is indeed possible at all – will have to hold the truth of postmodernism, that is to say, to its fundametnal object – the world space of multinational capital – at the same time at which it achieves a breakthrough to some as yet unimaginable new mode of representing this last, in which we may again begin to grasp our positioning as individual and collective subjects and regain a capacity to act and struggle, which is at present neutralized by our spatial as well as our social confusion. The political form of postmodernism, if there ever is any, will have as its vocation the invention and projection of a global cognitive mapping on a social as well as a spatial scale.55 52

53 54 55

Frederic Jameson. Postmodernism or, the Cultural Logic of Late Capitalism. 8th ed. Durham: Duke University Press, 1999. 40. Frederic Jameson, Postmodernism, 43. Ebd., 48. Ebd., 54.

141 Indem das postdramatische Theater die Auflösung der Grenze zwischen Betrachtersubjekt und Bildobjekt zum Ausdruck bringt und problematisiert, ist das Theater Schauplatz der kulturellen Neubestimmung des Ich. Müllers postdramatische Texte Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten und Bildbeschreibung thematisieren die von Jameson beschriebene Unfähigkeit des Subjekts, eine Positionsbestimmung vorzunehmen. Zugleich ermöglichen sie hierdurch Einblicke in die Entstehung und das Funktionieren von Subjekt und Subjektivität. Auf diese Weise vermisst Müller als politischer Künstler den postmodernen Raum. Bildbeschreibung definiert das traditionelle Verhältnis zwischen Betrachter und Bildobjekt um; es lässt sich keine genaue Subjekt-Objekt-Grenze mehr ausmachen. Die Fokussierung auf den Perzeptionsvorgang in Bildbeschreibung führt zur Frage, wie Subjektkonstitution überhaupt zustande kommt. Mit der Verabschiedung einer Trennung zwischen Beobachter und Beobachtetem verschwindet jegliche Objektivität und definiert den Beobachter als Teil der beobachteten Welt. Der Text verdeutlicht die Mechanismen der Entstehung von Subjektivität, denn die Wirklichkeitsproduktion und -auffassung wird als subjektive und veränderbare Größe sichtbar gemacht. Bildbeschreibung lässt sich wie kein anderes Stück Müllers nach dem Muster des Films verstehen, mit Totale, Großaufnahme etc. Der Text, der aus einem einzigen Satz besteht, fährt gleich einer Kamera ein Bild ab, wobei der Blick der Kamera von allen Seiten und Perspektiven über das Bild läuft, so dass eine einzige Quelle des Sehens ausbleibt. Eine kritische Distanz zum Gesehenen ist nicht mehr vorhanden. Die Theatralik des durch die Kamera beschriebenen Bildes resultiert aus der Dramatisierung eines Raums, in dem „sich das Subjekt nicht als zentriert, sondern als widersprüchliche Vorstellungs-Landschaft erfährt“56, aus dem Vor- und Rückwärtslaufen des Filmes, der so Vermutungen, Erinnerungen und Fantasien imitiert. Mit dem Genre der Bildbeschreibung – dem Text liegt eine Zeichnung einer Bühnenbild-Studentin aus Sofia zugrunde – bezieht sich das Drama direkt auf ein Bild. Die für sein Theater charakteristische Intertextualität wird von Müller hier durch die buchstäbliche Beschreibung eines Bildes zur „Intermedialität“ ausgebaut.57 56

57

Hans-Thies Lehmann. „Theater der Blicke. Zu Heiner Müllers Bildbeschreibung“. Dramatik der DDR. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987. 189. Vgl. Florian Faßen. „Images become Texts become Images: Heiner Müllers Bildbeschreibung“. Heiner Müller ConTEXTS and HISTORY. Hg.v. Gerhard Fischer. Tübingen: Stauffenburg, 1995. 169.

142 Die Spannung des Textes entsteht zwischen dem im Bild festgehaltenen Augenblick und der verbalen Interpretation, die Zeit- und Raumdimension sprengt. Es werden Vermutungen geäußert, wie es zu dem erstarrten Moment des Bildes gekommen ist. Der Moment, der das Bild festhält, ist derjenige, bei dem der Film zu einem Stillstand kommt. Die darauf folgenden Vermutungen spulen den Film zurück und geben dem Zuschauer Varianten des Zustandekommens der dargestellten Situation. Eine Sequenz lässt den Film sogar buchstäblich rückwärts laufen. Schon in der dritten Zeile weist Müller auf die Konstruktion hin, die an die Errichtung einer Film- oder Theaterkulisse erinnert: „Zwei riesige Wolken schwimmen darin, wie von Drahtskeletten zusammengehalten, jedenfalls von unbekannter Bauart“ (BB 7). Und weiter heißt es: „Auch die Wolken, wenn es Wolken sind, schwimmen vielleicht auf der Stelle, das Drahtskelett ihre Befestigung an einem fleckig blauen Brett mit der willkürlichen Bezeichnung HIMMEL“ (BB 7). Die Haarfarbe der Frauenfigur ist im Scheinwerferlicht des Films nicht auszumachen, „das Haar lang und strähnig, blond oder weißgrau, das harte Licht macht keinen Unterschied“ (BB 8). Gesucht wird in diesem Stück „die Lücke im Ablauf, das Andere in der Wiederkehr des Gleichen, das Loch in der Ewigkeit, der vielleicht erlösende FEHLER“ (BB 13), gesucht wird der Ausbruch aus dem immer gleichen (filmischen) Ablauf, aus dem Kontinuum der Geschichte der Katastrophen. Der Ausbruch aus diesem immer gleichen Ablauf, der zur Erstarrung führt, wird mit den vier Varianten erreicht, die nebeneinander stehen und das Zustandekommen des Bildes auf gleiche Weise erklären können. Diese unterschiedlichen Möglichkeiten werden wie Filmsequenzen abgespult, bei denen sich der Regisseur noch nicht entschieden hat, welche der Sequenzen schließlich in den Film kommen wird. Auch der buchstäbliche Rücklauf des Films ist eine Unterbrechung des Kontinuums. Die Zeit als Linie, als kreisende Wiederkehr oder als Ewigkeit wird aufgebrochen. Das Bild wird von einer ortlosen Stimme (dem Kameraauge) interpretierend beschrieben. Von Anfang an jedoch werden dem Blick die Worte „augenscheinlich“, „vielleicht“, „bei genauerem Hinsehen“, „kann sein“, „kann geschlossen werden“ beigefügt. Sehen ist letztendlich eine Vermutung, ein Folgern; das Gesehene bleibt in letzter Instanz Interpretation. Arlene A. Teraoka weist darauf hin, dass dem Text dreizehn Mal das Wort „oder“ beigefügt wird, das immer wieder neue Sichtweisen, Per-

143 spektiven und Meinungen zum Ausdruck bringt.58 Eine Landschaft, ein Haus, Bäume werden genannt, ein Vogel sitzt auf einem Baum, sein Schnabel und Blick sind gegen eine Frau gerichtet, welche die rechte Bildhälfte beherrscht. Die Frau ist Opfer eines Überfalls oder Unfalls, ihr Blick ist auf den Boden gerichtet, ihr linker Arm scheinbar verletzt, der „Handansatz vom Bildrand abgeschnitten, die Hand kann eine Klaue sein, ein (vielleicht blutverkrusteter) Stumpf oder ein Haken“ (BB 8). Daraufhin fährt die Kamera an der Figur eines Mannes entlang, der, den rechten Fuß halb über der Türschwelle, im Begriff ist, aus dem Haus zu treten. Lehmann stellt fest, dass in der Beschreibung der Frau und der Darstellung des Mannes nicht etwa die fixierte Wirklichkeit des Bildes vollendet und abgeschlossen ist. Vielmehr ist in der Bewegung der Figuren (die Frau „wächst aus dem Boden“ und „verschwindet darin“, der Mann erscheint auf der Türschwelle des Hauses und verschwindet wieder, BB 8) die Wiederkehr des Gleichen eingebaut.59 Es ist die ewige Wiederholung der gleichen Filmsequenz, die dort repetiert wird und so das Bild erstarren lässt. Erst nach der Einführung des Mannes, der aus einem Haus tritt und einen Vogel in der Hand hält, setzt eine „unaufhörliche Bewegung“ (BB 8) ein, die dem davor statischen Bild Dynamik gibt. Diese unaufhörliche Bewegung löst die ständige Wiederholung, die das Bild erstarren lässt, ab, und der Film läuft ein wenig weiter, um dann wieder zum Stillstand zu kommen. Wie der Mann aus dem Haus tritt […], bis die eine unaufhörliche Bewegung einsetzt, die den Rahmen sprengt, der Flug, das Triebwerk der Wurzeln Erdbrocken und Grundwasser regnend, […] die Gardine weht heraus der Sturm scheint aus zwischen Baum und Frau, […] in den Bäumen keine Spur von Wind. (BB 8,9)

Es wird versucht, das Zustandekommen der Bildsituation zu erklären. Die erste Möglichkeit ist ein Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau, bei dem das Weinglas umstürzt und sich beide ineinander verbeißen; die zweite Variante ist der Mord des Mannes an der Frau, bei dem das Gesicht der Frau auf das Weinglas schlägt und es umkippen lässt. Vermutungen über das Blut werden angestellt, es könne eventuell auch von einem Schnitt am Hals der Frau herrühren. Danach läuft der Film buch58

59

Arlene A. Teraoka. „Writing and Violence in Heiner Müller’s Bildbeschreibung“. Vom Wort zum Bild. Das neue Theater in Deutschland und in den USA. Hg.v. Sigrid Bauschinger und Susan L. Cocalis. Bern: Francke, 1992. 180. Vgl. Hans-Thies Lehmann, „Theater der Blicke“, 192.

144 stäblich rückwärts, „wenn das zerbrochene Glas sich zusammensetzt aus den Scherben und die Frau an den Tisch tritt, am Hals keine Narbe“ (BB 11). Eine dritte Möglichkeit des Zustandekommens der dargestellten Bildsituation beschreibt, wie die Frau den Vogel tötet, indem sie ihm die Kehle durchbeißt und Blut als Nahrung der Toten in das Weinglas schüttet. Die vierte Variante ist die Auferstehung der Toten, die „Bewegung [kehrt] sich um“ (BB 12). Die Auferstehung weist erneut auf das Anderslaufen des Filmes hin: „Oder kehrt die Bewegung sich um, wenn die Toten vollzählig sind, das Gewimmel der Gräber in den Sturm der Auferstehung, […] die Heimkehr der Eingeweide aus dem Nichts“ (BB 12). Mit der Auferstehung der Toten lebt die Schuld der Geschichte weiter, die Lebenden fühlen die Last des Gewesenen und wollen von der Auferstehung nichts wissen, die Toten sind die Feinde der Lebendigen: „ICH HABE DIR GESAGT DU SOLLST NICHT WIEDERKOMMEN TOT IST TOT“ (BB 13). Eine von Gewalt beherrschte Szene tritt immer mehr hervor, wenn nun das Bild als „eine Versuchsanordnung“ beschrieben wird, bei der die Rohheit des Entwurfs ein Ausdruck der Verachtung für die Versuchstiere Mann, Vogel, Frau, die Blutpumpe des täglichen Mords, Mann gegen Vogel und Frau, Frau gegen Vogel und Mann, Vogel gegen Frau und Mann [ist]. (BB 13)

Die Versuchsanordnung deutet erneut auf die Kulissenhaftigkeit des Bildes: „Das Stahlnetz die Laune eines nachlässigen Malstifts, der dem Gebirge die Plastik verweigert mit einer schlecht ausgeführten Schraffur“ (BB 12,13). Am Punkt des gegenseitigen Mordes ist die Bildbeschreibung an eine vollkommene Blockade gekommen, „the point of no return“.60 Nun beginnt sich das textuelle Ich zu formieren. Jedoch erweist es sich als Apparatur, als eine „Maschine des Blickens“61, bei welcher der gesamte Blick eine Frage wird, die bloße Vermutungen zulässt: „An welchem Gerät ist die Linse befestigt, die dem Blick die Farbe aussaugt, in welcher Augenhöhle ist die Netzhaut aufgespannt, wer ODER WAS fragt nach dem Bild“ (BB 14). „In diesem Moment ist das Selbst nicht mehr bei sich, eingeschlossen, sondern verstreut „sich“ über die Szene seiner Vorstellung […], indem es als gespiegeltes existiert“.62 In der Verstreuung kommt 60 61 62

Hans-Thies Lehmann, „Theater der Blicke“, 195. Ebd., 198. Ebd.

145 das Sehen von überall, aus den unterschiedlichsten Perspektiven der Kamera. Das Ich entpuppt sich dann auch als allgegenwärtige Kamera, als „das Auge, [das] ALLES GESEHN“ (BB, 9), das alles aufgenommen und das Subjekt bzw. eine eindeutige Position des Sehens abgelöst hat: IM SPIEGEL WOHNEN, ist der Mann mit dem Tanzschritt ICH, mein Grab sein Gesicht, ICH die Frau mit der Wunde am Hals, rechts und links in Händen den geteilten Vogel, Blut am Mund, ICH der Vogel, der mit der Schrift seines Schnabels dem Mörder den Weg in die Nacht zeigt, ICH der gefrorene Sturm. (BB 14)

Das Auge der Kamera, von allen Seiten und aus unterschiedlichen Perspektiven das Bild betrachtend, kann keinen eindeutigen Bezugspunkt, keine Quelle des Sehens, festmachen. Es kann sich nicht lokalisieren. Müller blendet somit die dargestellte Szene und die Szene der Darstellung ineinander, „[v]ermittelt über die Thematik des Sehens wird der Betrachter des Bildes zum Zuschauer einer Szene, trifft sich mit und entfernt sich von den Protagonisten der Szene“.63 Die Allgegenwärtigkeit des Kamerablickes löst die eindeutige Quelle des Sehens ab. Die Ortlosigkeit des textuellen Ich kommt ebenfalls in Müllers Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten zum Ausdruck. Das Drama besteht aus drei Szenen, „Medeamaterial“, „Verkommenes Ufer“ und „Landschaft mit Argonauten“. Mit dem Argonauten-Medea-Mythos beginnt für Müller die Geschichte der Kolonisierung und Unterdrückung, die hier auch zu einer Unterdrückung der Frau ausgeweitet wird.64 Der in der ersten Szene thematisierte Zivilisationsmüll stellt die Verbindung zwischen dem Mythos und der Gegenwart her. Die gegenwärtige Umweltzerstörung führt Müller auf das Uraltprinzip des zerstörerischen Umgangs der Menschen miteinander zurück, das die Zerstörung der Natur durch den Menschen mit einschließt. Dieses Prinzip liegt Müller zufolge im Argonauten-Medea-Mythos verankert und wird mit der Medeafigur versinnbildlicht. In Szene zwei vergegenwärtigt Medea aus der Erinnerungsperspektive das vergangene Abschlachten, ist aber selbst keine Handlungsträgerin. Mit dem Mord an ihrem Bruder ist sie trotz Unterdrückung keine Revolutionärin, sondern verewigt lediglich das ewige Morden und Schlachten. 63 64

Ebd., 189. Vgl. Alexandra von Hirschfeld. Frauenfiguren im dramatischen Werk Heiner Müllers. Marburg: Tectum, 1999. 59-67. Und: Klaus Teichmann. Der verwundete Körper. Zu Texten Heiner Müllers. Freiburg: Burg, 1986. 197-206.

146 Im dritten Teil des Dramas, „Landschaft mit Argonauten“, artikuliert das textuelle Ich: „Soll ich von mir reden Ich wer/ Von wem ist die Rede wenn/ Von mir die Rede geht Ich Wer ist das“ (M 98). Die gültigen Maßstäbe einer Selbstvergewisserung sind abhanden gekommen. Die Landschaft, die hier beschrieben wird, ist Vision einer zukünftigen Zeit, in der die Zerstörung der Natur und die völlige Technologisierung der Umwelt als Resultat der Vernunft vollendet ist. Müller schreibt in der Regieanweisung zum Stück: „LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN [setzt] die Katastrophe voraus, an der die Menschheit arbeitet“ (M 101). Die Technik hat sich verselbständigt, das Subjekt hat keinerlei Kontrolle mehr. Das textuelle Ich ist nicht nur sich selbst fremd geworden, sondern hat auch jeglichen Zugang zu seiner Umwelt verloren. Petra Waschescio beschreibt daher den dritten Teil von Verkommenes Ufer als Ausdruck totaler Entfremdung zur Natur.65 Da der Mensch seinen Ursprung vergessen hat, wird er selbst zum Material: „Verschleiß ist eingeplant“ (M 99). In der Verbindung von Kapitalismus und Technologie sieht Müller das Zeitalter der Maschine eingeläutet, bei dem der Mensch nicht mehr gebraucht wird. Dazu sagt er in einem Interview mit Robert Weimann: Nun legen die Theoretiker der Postmoderne großen Wert darauf, daß die Fiktion in das reale Leben mehr und mehr eintritt. […] Der Trend der Medien ist ja eher die Ersetzung der Wirklichkeit durch das Abbild. Man braucht letztlich in der Verlängerung Wirklichkeit nicht mehr. Und eigentlich ist es eine Vorbereitung auf den Moment, wo der Computer übernimmt.66

Die Übernahme durch den Computer lässt mit dem Verschwinden des Menschen zugleich nur noch Gegenwart zu. „Und was der Kapitalismus schafft, ist diese Besetzung mit Gegenwart. Vergangenheit wird ausgelöscht, Zukunft braucht man auch nicht, wenn man genug Gegenwart hat“, stellt Müller fest.67 Müllers Enttäuschung über die Realität des Sozialismus wird in der dritten Szene von Verkommenes Ufer in Zusammenhang mit der zersetzenden Wirkung des Kapitalismus und der Medienkultur gebracht: 65

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67

Vgl. Petra Waschescio. Vernunftskritik und Patriachatskritik: Mythische Modelle in der deutschen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: Aisthesis, 1994. 40. Robert Weimann. „Gleichzeitigkeit und Repräsentation. Ein Gespräch mit Heiner Müller“. Postmoderne-globale Differenz. Hg.v. Robert Weimann und Hans Ulrich Gumbrecht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991. 199. Robert Weimann, „Gleichzeitigkeit“, 205.

147 Erinnerung an eine Panzerschlacht/ Mein Gang durch die Vorstadt Ich/ Zwischen Trümmern und Bauschutt wächst/ DAS NEUE Fickzellen mit Fernheizung/ Der Bildschirm speit Welt in die Stube/[…] Parade/ Der Zombies perforiert von Werbespots. (M 99)

Eine objektive und distanzierte Haltung zur Realität kann auch in Verkommenes Ufer nicht aufrecht erhalten werden. Das textuelle Ich lokalisiert sich in Analogie zur Allgegenwart der Kamera in Bildbeschreibung an unterschiedlichen Orten und hat keine eindeutige Identität. [W]er ist das Im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell Oder anders Ich eine Fahne ein Blutiger Fetzen ausgehängt Ein Flattern Zwischen Nichts und Niemand Wind vorausgesetzt Ich Auswurf eines Mannes Ich Auswurf einer Frau […] Ich Traumhölle Die meinen Zufallsnamen trägt Ich Angst Vor meinem Zufallsnamen […] Ich meine Seefahrt Ich meine Landnahme […] Ich mein Tod. (M 98)

Das textuelle Ich versucht sich zu konstituieren; es gelingt aber zuerst nur die Beschreibung der technologisierten Landschaft. Im Gegensatz zu Bildbeschreibung kommt es in Verkommens Ufer letztendlich zu einer Ichkonstitution. Eine Ich-Bildung fällt mit dem Tod zusammen. In der Todeserfahrung, der Müller emanzipatorische Wirkung zuspricht, findet sich das textuelle Ich und geht zum ersten Mal als eindeutige Quelle des Sehens, Redens und Erfahrens hervor. Es erhält in diesem Moment einen eindeutigen Bezugspunkt, nämlich den menschlichen Körper: „Die Schüsse knallten in meine torkelnde Flucht/ Ich spürte MEIN Blut aus MEINEN Adern treten […] (M 101). Somit wird mit dem Auftreten des Körpers die Grenzverwischung zwischen Subjekt und Objekt überwunden; er ist Ausdruck utopischen Hoffens. Mit dem Erscheinen des menschlichen Körpers kann ein Standort ausgemacht werden. Die eindeutige Referenz von Sehen und Sprechen wird in Bildbeschreibung nicht gefunden, „FREMD IM EIGENEN KÖRPER“ (BB 14). Die Allgegenwart des Kameraauges, das von unterschiedlichen Perspektiven die Landschaft beleuchtet, wird in Verkommenes Ufer durch die Selbstfindung, sprich Ortsbestimmung, des textuellen Ich abgelöst. Wenn der Film reißt und das Echte nicht länger durch Simulation ersetzt

148 wird, kann sich das Ich konstituieren und lokalisieren. Die Fähigkeit der Positionsbeschreibung ist jedoch auch in Verkommenes Ufer nur temporär. Nachdem sich die Figur durch ihren Körper konstituiert hat, sinkt sie wieder in die Landschaft, wird wieder Teil der zu beobachtenden Welt: „Und MEINEN Leib verwandeln in die Landschaft/ MEINES Todes“ (M 101). Die Figur muss eine übergeordnete objektive Perspektive wieder abgeben: „Dünn zwischen Ich und Nichtmehr Ich die Schiffswand“ (M 98). Müller thematisiert das Verschwinden einer autoritären Ich- und Autoreninstanz und kopiert zugleich eine Wirklichkeit, die zum Simulacrum geworden ist. Die in Bildbeschreibung und Verkommenes Ufer beschriebenen Landschaften bleiben ohne Bezugspunkt und somit ohne Tiefe. Nur im Tod konstituiert sich das textuelle Ich zeitweise, und kann eine Standortbestimmung vornehmen. Die Grenzüberschreitung vom Anschauenden zum Angeschauten, wie sie in den beiden Dramen Müllers artikuliert wird, spiegelt das kulturelle Phänomen der Hyperrealität und des Hyperraums, die eine Aufhebung der Trennung zwischen Realität und Fiktion vollziehen und durch das Fehlen einer eindeutigen Referenz eine Standortbestimmung unmöglich machen. Indem der Akt des Wahrnehmens und die wahrgenommene Landschaft gleichermaßen die postdramatische Figur bilden, wird die Weise der kulturellen Perzeption von Wirklichkeit in der Realität kopiert, die ja gerade eine Aufhebung der Distinktion zwischen Realität und Fiktion vollzieht. Bleibt eine Standortsbestimmung aus, wird Kunst zur Ware und läutet ihre absolute Funktionslosigkeit ein. Ein Theater, dass keine kritische Reflexion zum Dargestellten beim Zuschauer hervorrufen kann, wäre im Medienzeitalter erledigt. Doch der kulturellen Praxis einer passiven Rezeption von vorgefertigten und durch die Massenmedien evozierten Denk- und Handlungsmustern wird eine Absage erteilt. Indem Müller die Vorgänge der Subjekt- und Subjektivitätsbildung in den Mittelpunkt stellt, gewinnt der Rezipient Einblick in die Konstruktion und das Funktionieren von Subjektivität, welche die Interpretation der Welt nach sich zieht. Zugleich veranlasst die Aufgabe der Perzeptionsperspektive des textuellen Ich den Rezipienten dazu, seine Rezeptionsperspektive zu überdenken und seine unbeteiligte Rezeptionshaltung aufzugeben. Die ästhetisch-kartographische Vermessung des postmodernen Raums ruft die Erfahrung mit eigener Sinnproduktion und subjektiven Kommunikationsformen hervor und ist ausschlaggebend für die politische Funktion der hier vorgestellten Texte des postdramatischen Theaters.

149 An Jelineks Theaterstücken Der Tod und das Mädchen I-V. Prinzessinnendramen (1999-2003) soll die Ästhetik der Oberflächenstruktur der postdramatischen Figur exemplarisch dargestellt werden, die mit der Flachheit eines Bildes verglichen werden kann. Hierzu wird noch einmal die Arbeit von Jameson herangezogen. In seinem Buch über die Logik der Postmoderne vergleicht Jameson das Bild „Ein Paar Schuhe“ von Vincent Van Gogh mit dem Bild „Diamond Dust Shoes“ von der Popikone Andy Warhol. Jameson stellt fest, „[W]arhol’s work in fact turns centrally around commodification“, und konstatiert zu „Diamond Dust Shoes“, „[t]he first and most evident is the emergence of a new kind of flatness or depthlessness, a new kind of superficiality in the most literal sense […]“.68 In der Warhol-Darstellung ist jegliche Subjektivität und Emotion, jegliches Leben verschwunden. Somit kann man für dieses Bild keinen größeren Kontext, keine Narrative erstellen, wie zum Beispiel die Schuhe in den Kontext eines abendlichen Balls oder Tanzsaals oder einer Modenschau bringen. Sie sind zur Ware geworden, und zur Ware buchstäblich verflacht. Was bleibt ist eine Welt der „toten Erscheinungen“, in der jegliche Tiefe und Leben fehlt. Daran zeigt sich „some […] fundamental mutation in the object world itself – now become a set of texts or simulacra – and the disposition of the subject“.69 In Parallele dazu sind Jelineks Prinzessinnen tiefenlose und leblose Produkte. Sie sind tote Erscheinungen. In Analogie zu Warhols Bild verbinden die Sprachflächen der Prinzessinnenmonologe Entertainment, Waren- und Medienkultur miteinander. Die sechs Prinzessinnen, deren Tode man aus Märchen und Musik, Literatur und Medien kennt, oszillieren zwischen Fantasie und Wirklichkeit, Medienereignissen und Medienpräsentation. In der Spannung zwischen Oberflächlichkeit, Tradition und Medienkultur stellen die Figuren die heutige Verkürzung der Realität in Entertainment und Unterhaltung dar. Eine weitere Parallele zu Warhol kann in Jelineks medialer Eigeninszenierung anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2004 gesehen werden. Jelinek erscheint nicht selbst, um den Preis in Empfang zu nehmen, sondern verliest ihre Rede via Videoprojektion, bei der sie sich als Autorin Elfriede Jelinek inszeniert: heutige Literaturproduktion ist Medienproduktion. Die Prinzessinnen haben ihr Vorbild in Märchenfiguren sowie in bekannten Persönlichkeiten aus dem 20. Jahrhundert. Schneewittchen und 68 69

Frederic Jameson, Postmodernism, 9. Ebd.

150 Dornröschen sind den Figuren aus Grimms Märchen nachempfunden, Rosamunde ist eine Anspielung auf den aus dem 19. Jahrhundert stammenden und längst vergessenen Text Rosamunde von Helmina von Chezy, zu dem Franz Schubert die Musik schrieb. Jackie spielt auf das Leben und den Mythos Jacqueline Kennedy Onassis an, deren Mode in den 60er Jahren zum Markenzeichen wurde. Sie spricht aus dem Jenseits, hat gleich eine ganze Schar von Toten im Schlepptau und blickt mit Bitterkeit auf ihr Leben und das einer anderen Toten, Marilyn, der Geliebten ihres Mannes. Im letzten Drama Die Wand kommen Ingeborg und Sylvia zu Wort, die für die toten Autorinnen Bachmann und Plath stehen. Der Titel ist dem gleichnamigen Roman von Marlen Haushofer aus dem Jahre 1962 entlehnt und stellt den Status von Literatur und das weibliche Schreiben in Frage. Die fünf Texte enthüllen, dass jeglicher Unterschied zwischen high culture (Märchen, Literatur) und popular culture (Entertainment, Mode) hinfällig ist. Kultur und literarische Tradition treffen sich mit der populären Kultur und werden in den Prinzessinnendramen zu einer Mischung aus Trivialität und Unterhaltung. Die toten Erscheinungen sind zu ihrem Mythos geworden und können lediglich immer nur ihren Mythos weiterproduzieren. Schneewittchen basiert auf dem Grimm’schen Märchen und ist zugleich eine Anspielung auf alle anderen Reproduktionen des Märchens – nicht zuletzt ist es von Disney hundertfach reproduziert und vermarktet worden. Schneewittchen und der im Stück auftretende Jäger sind zwei groteske, aus Wolle gestrickte Figuren. Die Regieanweisung lautet: Zwei riesige, popanzartige Figuren, die zur Gänze aus Wolle gestrickt und dann ausgestopft sind, eins als Schneewittchen, eins als Jäger mit Flinte und Hut, sprechen ruhig miteinander, die Stimmen kommen, leicht verzerrt, aus dem Off. (PR 9)

Die Bühnenfiguren und Stimmen sind getrennt, während die Figuren ihre Reden über das Märchen und dessen Vermächtnis („Meine Geschichte gibt es schon seit Jahrhunderten, keine Ahnung, was daran so lustig oder aufregend sein soll“, PR 10) sowie über die heutige Wirklichkeit halten. Als „Wahrheitssucherin“ (PR 9) ist Schneewittchen „fürs Leichte zuständig“ (PR 9), nachdem sie von ihrer Schönheit besessen war. Die Puppen, das Gesagte und die darunter liegende Tradition stehen in einem Spannungsverhältnis, in dem sich die Tradition langsam in Luft auflöst: Die Figur Schneewittchen spielt und entfaltet sich gegen den Mythos Schneewittchen. Übrig bleibt das Triviale. Dabei kippt die

151 Figur aus ihrem eigentlichen (traditionellen) Zusammenhang völlig heraus und wird tiefenlos. In allen fünf Dramen repräsentiert die männliche Figur den Tod, die weibliche steht für den Prinzessinnenmythos, der überlebt, getötet wird und wieder aufersteht. Gleichzeitig wird die Figur flach und tiefenlos, je mehr der Mythos greift und je mehr sie Ware wird. Das Ideal der Weiblichkeit, die schöne Frau, wird durch die Massenmedien und die Popkultur endlos produziert und reproduziert. Dabei verkürzen die Massenmedien die Wirklichkeit auf den Mythos von Weiblichkeit. So sagt Schneewittchen: „Die Schönheit will nämlich immer auf der Welt bleiben, am besten in Illustriertenblättern“ (PR 15), und Dornröschen: „Ich tauche auf Coverfotos auf, aber auch die können mir nicht beweisen, wer ich bin. Vielleicht sind alle Menschen, die es gibt, Prinzessinnen und Prinzen“ (PR 29). Jeder will Dornröschen sein: Bei mir sind Sie richtig, ich bin kein Ebenbild von jemand anderem. Die anderen, im Fernsehen, sind vielmehr Ebenbilder von mir. Sie wissen nicht, daß jeder von ihnen ihrerseits das einzige ist, was als Ich zugleich kein anderes ist, nein, die wollen alle ich sein. […] Man hat mir vor dem Einschlafen eingeschärft, daß die beste Erfahrung die eines Körpers sein soll, der man möglichst nicht selber sein sollte. (PR 35)

Wie vielleicht in keinem anderen Text knüpft Jelinek Entertainment, Medien, Popkultur und heutige Realität so sehr aneinander wie in den Prinzessinnendramen. Dabei zeigt sie am Mythos des Weiblichkeitsideals, dass jegliche Dichotomie zwischen high culture and low culture, Realität und Massenmedien, nicht länger existiert. Vielmehr wird Kultur, Tradition und Realität von den Massenmedien aufgesogen und zur Trivialität verkürzt. Als Wahrheitssucherin versucht Schneewittchen, Schönheit gegen Wahrheit einzutauschen, wird aber vom Jäger getötet. Der Mythos kann nicht dekonstruiert werden, sondern wird lediglich ständig reproduziert. Jelineks 1998 verfasstes Essay „Die Prinzessin in der Unterwelt“ wurde kurz nach Prinzessin Dianas Tod in Die Zeit zum erstenmal gedruckt und findet sich am Ende der Prinzessinnendramen anstelle eines Nachworts wieder. Mit dem Tod von Diana, Prinzessin von Wales, im Sommer 1997 stirbt auch der Innbegriff des Prinzessinnenmythos im 20. Jahrhundert: „Eine Frau, schon zu Lebzeiten transzendiert ins Überirdische, muß jetzt hinunter“.70 Endlos produziert und reproduziert 70

Elfriede Jelinek. „Die Prinzessin in der Unterwelt“. Der Tod und das Mädchen I-V. Prinzessinnendramen. Berlin: Berlin Taschenbuch, 2003. 148.

152 von den Massenmedien, wird Diana auch aus der Unterwelt Einfluss nehmen: „Das Kornmädchen, das sich in die Gewalt eines dunklen Prinzen […] begeben hat, damit den Leuten in seinen Bildern das ewige Leben geschenkt wird“.71 Die Leute tauchen ein in eine simulierte Realität über Diana, die in einem fort abgelichtet, abgedruckt, gefilmt und fotografiert wurde; sie erhalten ewiges Leben mittels dieser Bilder. Jelinek stellt Persephone neben Diana, die griechische Göttin, die aus der Unterwelt über Bilder und die Fruchtbarkeit herrscht. Wie die griechische Göttin wird auch Diana das Leben der Leute aus der Unterwelt lenken. In den Bildern von Diana und der Erwartung, in der Popkultur und den Massenmedien Identifikationsfiguren zu finden, werden wir Prinzessinnen: Und wir können nur als Wahrheit dulden, was in Übereinstimmung mit uns ist. So werden wir Prinzessinnen […] da wir die Bilder von dieser einen als Vorlage bekommen haben, aber als eine, die uns immer nur hinter sich verbirgt, je mehr wir sie hochhalten, um zu studieren, wer wir selbst gerne sein würden.72

Hinter der Vielzahl der Bilder verblasst die eigene Identität und kommt gar nicht mehr zum Vorschein. 2.b. Die postdramatische Figur als Sprachprodukt Das Fehlen einer Autoreferentialität des textuellen Ich führt zur Frage, auf welche Weise sich überhaupt die postdramatische Figur konstituiert. Wie sich schon Katharina Keim in ihrer Analyse zum Rollenbegriff auf die Überlegungen Émile Benvenistes stützt, sollen auch hier zur Beantwortung dieser Frage die Ausführungen von Benveniste herangezogen werden, die dann auf den postdramatischen Rollenbegriff übertragen werden.73 Benveniste definiert die sprachliche Äußerung als Selbstidentifikation. Sprachliche Äußerung ist zugleich die Subjektivität des Subjekts, Sprache „is the capacity of the speaker to posit himself as ‚subject‘“.74 In anderen Worten, die Sprache ist das Instrument mit dem sich das Subjekt erst herstellt: „It is in and through language that man constitutes himself as a subject, because language only establishes the concept of 71 72 73 74

Elfriede Jelinek, „Die Prinzessin in der Unterwelt“, 150. Ebd., 153. Katharin Keim, Theatralität, 55-56. Émile Benveniste. Problems in General Linguistics. Coral Gabes: University of Miami Press, 1971. 224.

153 ‚ego‘ in reality, in its reality“.75 Diese Definition hat immense Konsequenzen für die Interpretation des Ichs, denn „there is no other objective testimony to the identity of the subject except that which he himself thus gives about himself“.76 Das Subjekt ist somit lediglich durch seine eigene Sprache konstituiert, und hat darum keinen Referenzpunkt außerhalb von sprachlicher Artikulation. Sprache, so Benveniste, ist also möglich, weil jeder Sprecher sich als Subjekt konstituiert, indem er/sie sich auf das „Ich“ bezieht. Das Personalpronomen „Ich“ bezieht sich dabei gerade nicht auf ein Individuum: I refers to the act of individual discourse in which it is pronounced, and by this it designates the speaker. It is a term that cannot be identified except in what we have called elsewhere an instance of discourse and that has only a momentary reference. The reality to which it refers is the reality of the discourse. It is in the instance of discourse in which I designates the speaker that the speaker proclaims himself as „subject“. And so it is literally true that the basis of the subjectivity is in the exercise of language. […] Language is so organized that it permits each speaker to appropriate to himself an entire language by designating himself as I.77

Somit erfährt die Ichreferenz, d.h. der Bezug auf die dramatische Figur im Text, der diese als Figur einführt, und das Sprechen einer Figur, die Diskursinstanz, im postdramatischen Theater immer häufiger eine Verschiebung. Schon in Leben Gundling kommt diese Entwicklung zum Ausdruck. Die Lessingfigur wird auf der Bühne als Lessing geschminkt, um dann das Folgende zu lesen: „Mein Name ist Gotthold Ephraim Lessing. Ich bin 47 Jahre alt. […] Ich fange an, meinen Text zu vergessen. Ich bin ein Sieb. Immer mehr Worte fallen hindurch“ (LG 33). Indem der Lessingschauspieler seine Rolle vorliest, scheint er nicht autorisiert, in die Rolle zu schlüpfen. Er repräsentiert seine Rolle nicht in der Einheit von Ichreferenz und Diskursinstanz, vielmehr konstituiert die Figur, so schreibt Robert Weimann, [a] profound rupture between material and idea, image and meaning, form and signification. […] What Müller has in mind is, literally, a strategic refusal to authorize meaning, to preclude representation in which material and idea, signifier and signified, are 75 76 77

Émile Benveniste, Problems, 224. Ebd., 226. Ebd.

154 brought together meaningfully at all. From this position, language is first and foremost material with which the audience is expected to work so as to make and explore their own experiences.78

In Hamletmaschine vollzieht sich die Verschiebung von Ichreferenz und Diskursinstanz schrittweise, wie Keim feststellt: Zuerst wird die Rollenidentität als eine überholte Identität dargestellt: „Ich war Hamlet“; sodann distanziert sich der Sprecher von seinem Sprechen: „Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr“; zuletzt erfolgt eine totale Ablösung von Ichreferenz und Diskursinstanz: „OPHILIA: Hier spricht Elektra“.79 In Wolokolamsker Chaussee wird diese Ablösung beibehalten. Hier werden die Figuren nicht länger als Figuren eingeführt, vielmehr beginnt das Sprechen unmittelbar, wobei die Diskursinstanz zwischen Vater und Sohn erst bei wiederholtem Lesen auszumachen ist. Auch in Jelineks Stücken wie Wolken.Heim, Erlkönigin, Das Lebewohl und Bambiland werden die Figuren lediglich durch ihr Sprechen eingeführt. In Wolken.Heim und Bambiland konstituiert die sprachliche Äußerung zudem ein Kollektiv, das sich in der Sprache zu einem „Wir“ zusammenfindet. In den genannten Dramen verläuft die Diskursinstanz folglich ohne Referenz zu einem Ich. Die Ichreferenz und die Diskursinstanz werden nicht länger als eine identische Kategorie angesehen, somit kann sich das „Ich“ tatsächlich nur durch das eigene Sprechen, wie Benveniste erläutert, konstituieren. Jelinek weist selbst auf die Verschiebung von Ichreferenz und Diskursinstanz hin: „Die Figuren sprechen nicht aus sich heraus. Sie sind keine Personen, keine Menschen, sondern Sprachschablonen. Sie konstituieren sich aus dem, was sie sagen […]“.80 In einem anderen Interview erläutert Jelinek: Die Figuren sind nur Kleiderbügel, auf die ich die Sprache hänge. […] Es gibt keine Biographie, es gibt kein Ich; meine Figuren haben auch kein Ich, weil das individuelle Handeln mit dem Roman des 19. Jahrhunderts ein Ende hatte.81 78

79 80

81

Robert Weimann. „(Post)Modernity and Representation: Issues of Authority, Power, Perfromativity“. New Literary History 23 (1992). 957-958. Katharina Keim, Theatralität, 56. Anke Roeder. „Ich will kein Theater. Ich will ein anderes Theater. Gespräch mit Elfriede Jelinek“. Autorinnen: Herausforderung an das Theater. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989. 143. Hans-Jürgen Heinrichs. „Gespräch mit Elfriede Jelinek“. Sinn und Form 56.6. (2004). 760.

155 Demnach hört die Figur auf zu exisitieren, wenn sie zu sprechen aufhört. Zugleich ist die Sprache, die die postdramatische Figur hervorbringt, keine authentische oder subjektive Sprache. Durch die Zitatmontage tritt zutage, dass die dramatische Rede ein reproduzierter Sprachdiskurs ist. Die Sprachbenutzer sind somit Sprachrohre eines schon vorhandenen Sprachmaterials. Es ist ein „fremdes Sprechen“. Den Figuren werden viele Stimmen und Zitate aufgedrückt, die Maja Sibylle Pflüger als „soufflierte Rede“ bezeichnet.82 Die Überlagerung vieler Texte, aus der ein neuer entsteht, weist keine eindeutige Sinn stiftende Quelle auf. Daher verschwindet der Autor als Sinn stiftende Instanz. Die Sprachartikulation ist Hinweis darauf, dass „das Subjekt als System von Strukturen, als [ein] in Sprachstrukturen eingegliedertes Produkt“83 fungiert, und keine autonome Ichinstanz darstellt, wie sie im traditionellen Drama durch die Überlagerung von Ichreferenz und Diskursinstanz praktiziert wird. Die Sprachschablonen oder Sprachflächen werden auf ihren ideologischen Charakter abgehört, eine Subjektkonstitution jenseits der Versprachlichung von Ideologie findet nicht statt. So steht in der postmodernen Poetik, wie Linda Hutcheon ausführt, die ideologische Natur des Subjekts im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Das Subjekt zu situieren heißt, die Ideologie des Subjekts anzuerkennen, heißt, es innerhalb seines sprachlichen Zusammenhangs zu sehen, aus dem zugleich der historische wie soziale Zusammenhang hervorgeht, „to reinsert the subject into the framework of its parole and its signifying activities“.84 Auf diese Weise ist das Subjekt weniger ein Subjekt seiner Rede, als vielmehr ein gesprochenes Subjekt, das in seiner sprachlichen Konstitution seine Ideologie wie auch seine Historizität spricht. Man könnte den Figuren des postdramatischen Theaters dieses Motto zuschreiben: Ich spreche, also bin ich. Und: Ich spreche, was ich bin. Und zwar konsumierende austauschbare Massenmenschen einer Ideologieindustrie. Zu den Figuren Jelineks schreibt Yasmin Hoffmann:

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Maja Sibylle Pflüger. Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek. Tübingen: Francke, 1996. 43. Yasmin Hoffmann. „Hier lacht sich die Sprache selbst aus. Sprachsatire – Sprachspiele bei Elfriede Jelinek“. Elfriede Jelinek. Dossier 2. Hg.v. Kurt Bartsch und Günther A. Höfler. Graz: Droschl, 1991. 52. Linda Hutcheon. The Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction. New York: Routledge, 1988. 159.

156 [Die] Industrie der Simulation […] für die der Einzelne nur als Konsument in Betracht gezogen wird, für die die Unterscheidung von privat und öffentlich, Original und Kopie, bewusst, selbstbewusst, unbewusst, sowie der Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung vollkommen irrelevant ist, weil sie danach strebt, jeden für sich in eine fensterlose Monade zu verwandeln, um ihr den Blick auf die Welt direkt ins Haus zu liefern.85

In Müllers Findling wird Ideologie als ein Doktrinarismus gewertet, mit welchem die Figuren unzertrennbar verbunden sind. Es konstituiert die Figur: „Er predigte MIT MARXUNDENGELSZUNGEN“ (F 67). Ideologie als Ausgrenzungsideologie ist das Thema in Jelineks Stücken. Die gesprochenen Subjekte in Wolken. Heim, Erlkönigin und Das Lebewohl artikulieren alle in mehr oder weniger abweichender Form ihre faschistoide Ideologie. Der sprachliche Selbstentwurf der postdramatischen Figur ist somit Ideologieentwurf. Es ist hierbei wichtig nochmals festzuhalten, dass die gesprochenen Subjekte keine kritische Distanz zu sich selbst aufbauen können, d.h. sie haben keinen Referenzpunkt außerhalb von sich selbst. Somit enthält der Text ausschließlich Monologe, die seitenweise der ideologischen Selbsterzeugung des Subjekts gewidmet sind. Das wird besonders deutlich durch die Jelinek’schen Figuren demonstriert. Das „Wir“ in Wolken.Heim ist seine eigene Mitte, bei sich zu Haus, die Erlkönigin und die Haiderfigur in Das Lebewohl beschreiben sich als Volk, als Mitte, als ALLE. Da kein anderer Referenzpunkt als das eigene Sprechen vorhanden ist, ist eine Position der Kritik und die Fähigkeit zur Kritik, die vom postdramatischen Ich ausgeht, von vorneherein ausgeschlossen. Das Fehlen eines binnendramatischen Kommunikationspartners lässt deshalb den Rezipienten zum direkten Ansprechpartner werden, der sich dadurch als Bezugspunkt erfährt und dem zugleich der ideologischen Sprach- bzw. Subjektentwurf vor Augen geführt wird. Wenn das traditionelle Theater den eigentlichen Aussagestifter durch Überlagerung von Ichreferenz und Diskursinstanz verhüllt, nämlich den Autor des Stückes, macht das postdramatische Theater explizit zum Thema, wer oder was der eigentliche Sinnstifter von Aussagen ist. Es thematisiert das Subjekt als ideologisches Sprachkonstrukt, das weder das Produkt eines autonomen Subjekts noch das eines Autors ist. Vielmehr legt das postdramatische Theater Zeugnis über die sich sprachlich 85

Yasmin Hoffmann, Elfriede Jelinek. Sprach- und Kulturkritik im Erzählwerk. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1999. 19.

157 manifestierten Machtstrukturen ab, bei denen das Ich Produkt der herrschenden Diskursformen ist. Die Elemente der Ichkonstitution erweisen sich somit als nie endende Fortführung von Herrschafts- und Machtstrukturen. Das postdramatische Theater untergräbt jedoch in der Zurschaustellung konstruierter, artifizieller Figuren die Autorität der gezeigten Ideologie. Denn indem die postdramatischen Texte ihre Artifizialität zeigen, weisen sie darauf hin, dass jeglicher ideologischer Diskurs kulturell wie historisch konstruiert, und nicht etwa naturgegeben ist. Die Abschaffung der dramatischen Rollenfigur ist daher Reflexion der gesellschaftlichen Strukturen. Die ästhetische Darstellung einer Subjektkonstitution auf ausschließlich sprachlicher Ebene kann auf die eigene Internalisierung von vorgeschriebenen Rollen hinweisen. Da der Rezipient im postdramatischen Theater Sinn und Bedeutung konstituieren und dadurch zwangsläufig einen Standpunkt beziehen muss, kann die ästhetische Darstellung der Unfähigkeit einer Positionsbeschreibung und die Vorführung der Subjektkonstruktion als Vorbedingung gesehen werden, eine eigene Selbstdistanzierung vorzunehmen, die an die Interpretation und Auffassung der Lebenswirklichkeit gebunden ist. Bei der Darstellung der Verabschiedung zwischen Beobachter und Beobachtetem und eines textuellen Ich, das lediglich Sprachprodukt ist, geht es nicht nur um die Auflösung der Idee von Objektivität, sondern es wird auch die Frage nach der Verantwortlichkeit für das Wahrgenommene und das Gesprochene gestellt.

3. Das postdramatische Theater und Performance Die leibliche Verkörperung ist das Prinzip jedes Theaters, der Körper des sprechenden Subjekts ist Mittelpunkt einer jeden Theateraufführung. Das Besondere am Schauspielwesen ist, dass die künstlerische Kommunikation zwischen ihm und dem Text immer über den Körper stattfindet, der Text wird am Schauspielerleib vollzogen. Der Körper wird zum Signifikanten und Interpreten des vorliegenden Textes. Die physische Erscheinung markiert hierbei die Grenze zwischen einem Innen und Außen. Diese Funktion ist aber in Gefahr, wenn der Text selbst, wie dargelegt, keine Differenz zwischen einem Innen und Außen aufweist. Die Schreibpraxis einer postdramatischen Figurenkonstitution eliminiert den Körper, denn die Figur existiert nur während und durch ihr Sprechen. Jelinek wendet sich klar gegen die konventionelle Repräsentationsfunk-

158 tion des Schauspielers: „Die Schauspieler bedeuten sich selbst und werden durch sich definiert. Und ich sage: Weg mit ihnen!“86 Mit einer hoch elaborierten Sprache schreibt das postdramatische Theater gegen die kulturelle Neubestimmung des menschlichen Körpers an, nämlich gegen seine Funktionslosigkeit. Seine gesellschaftliche Funktionslosigkeit zieht das Verschwinden des Leibes nach sich. Folglich befindet sich der Körper im Theater in einem andauernden Prozess der Auflösung. Den Prozess der leiblichen Auflösung am Schauspielkörper darstellen heißt eine Verschiebung zwischen Körper (welcher der Ichreferenz gleichkommt) und Stimme (der Diskursinstanz) einzuleiten. Wenn Jelinek noch in Burgtheater oder Müller in Germania Tod in Berlin den Körper inszenieren, wenden sie sich in postdramatischen Stücken wie zum Beispiel Der Findling, „Landschaft mit Argonauten“ in Verkommenes Ufer und Wolken.Heim sowie Das Lebewohl gegen jeglichen figuralen Körper. Ein Körperdiskurs bleibt hier aus. Noch in Burgtheater vollziehen die Figuren ihre Handlungen vorwiegend durch körperliche Aktivitäten und am menschlichen Leib, es wird geschlagen und getreten. So auch in Germania Tod und Berlin und Leben Gundlings: Der Körper wird als Handlungsträger in Szene gesetzt, der Körper wird diszipliniert. Anders in den Stücken Wolken.Heim und Der Findling. Hier versprachlichen sich die Figuren im abstrakten Denkraum und entkörperlichen sich mittels Sprachmaterial. Mit zitiertem Sprachmaterial konstruieren die Autoren Typen und Prototypen, die nichts anderes sind bzw. sprechen als es die Machtmechanismen vorgeben. Die Figuren sind völlig anti-leiblich, jeglicher Körperlichkeit und daraus folgender Innerlichkeit wird eine Absage erteilt. Corina Caduff bezeichnet diese Figurenkonstruktion treffend als „entgrenzte Textfiguren“.87 Der Körper ist zwar auf der Bühne anwesend, ist aber im postdramatischen Text nicht angelegt. In der Trennung von Körper und Sprache wird diese Verschiebung auf der Bühne dargestellt. Die gesprochenen Worte stehen nicht länger in Verbindung zum Schauspielerkörper. Jegliche Bedeutungskonstruktion, die die dramatische Figur im traditionellen Theater von vorneherein leistet, wird hier verabschiedet, „the shift of the focus […] – that is, from the meaning that may be constituted – to the 86

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Elfriede Jelinek. „Ich möchte seicht sein“. Gegen den schönen Schein. Hg.v. Christa Gürtler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990. 161. Corina Caduff. „Kreuzpunkt Körper: Die Inszenierung des Leibes in Text und Theater“. Das Geschlecht der Künste. Hg.v. Corina Caduff und Sigrid Weigel. Köln: Böhlau, 1996. 171.

159 semiotic process – that is, to the process by which meaning may be produced – is triggered by postmodern works of art“.88 Im Folgenden wird kurz dargestellt, wie die Verschiebung der Ichreferenz und der Diskursinstanz im postdramatischen Theater auf die Bühne gebracht wird, um einen neuen, kreativen Raum, ein „aesthetic mapping of space“ im Sinne Jamesons auszumachen. In der folgenden Darstellung einzelner Inszenierungen von Postdramen wird ersichtlich, dass der Text grundsätzlich Bedeutungsoffenheit und Performance miteinschließt. Das bedeutet einen emanzipatorischen Umgang mit dem postdramatischen Text, der eine eigenständige Regie als Gegenpol zum Text verlangt. Müllers eigene Inszenierung der Dramencollage Mauser-Quartett-Der Findling 1991 am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg basiert auf der Trennung zwischen Körper und Stimme. In der Findlings-Inszenierung wird die Rolle des Sohnes und die des Vaters von je drei Darstellern gespielt. Der Sprechtext wird zu einem chorischen Dialog zwischen diesen beiden Darstellergruppen. Die Pluralität und die Kollektivität der Sprechinstanzen lassen einen Sprachraum entstehen. Weitgehend losgelöst von dem einzelnen Schauspielerkörper können hier die Ereignisse einer unbewältigten Vergangenheit dargestellt werden. Übrig bleibt die physische Präsenz des Schauspielerkörpers, wobei seine Repräsentationsfunktion in den Hintergrund rückt. In den achtziger Jahren schreibt Müller in einer Anmerkung zum ersten Drama der Wolokolamsker Chaussee: „Die Rolle des Kommandeurs sollte nach Möglichkeit doppelt besetzt werden, mit einem Schauspieler (K1) […] und einem jungen Schauspieler bzw. einer Schauspielerin. […] Die Schauspieler sollen alternieren können. Die Textaufteilung zwischen K1 und K2 ist Probearbeit“.89 Interessant ist auch Robert Wilsons Inszenierung der Hamletmaschine 1986 am Thalia Theater in Hamburg. Die Abtrennung von Körper und Stimme führt hier dazu, dass das Gesprochene nur in sekundärer Weise eine bedeutungsproduzierende Funktion besitzt. Die Bildlichkeit und die visuellen Zeichen rücken in den Vordergrund. In der Aufführung sind fünfzehn Spieler zu sehen. Die dramatische Rede wird chronologisch vorgeführt, wobei acht Männer die Hamletfigur sprechen, sieben Frauen die Opheliafigur. Die Stimmen werden häufig durch einen Verstärker in 88

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Erika Fischer-Lichte. The Show and the Gaze of Theatre. A European Perspective. Edited and transl by Jo Riley. Iowa City: University of Iowa Press, 1997. 318. Heiner Müller. „Anmerkung zu Russische Eröffnung“. Die Schlacht. Wolokolamsker Chaussee. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, 1988. 85.

160 den Raum projiziert. Durch die Trennung von Rollentext und Spielern und durch die teilweise mikrophonische Verstärkung wird die im Text angelegte Verschiebung zwischen Ichreferenz und Diskursinstanz deutlich. Alle körperlichen Bewegungen sind primär durch akustische oder rhythmische bestimmt; so wird zum Beispiel jeder neue Auftritt eines Spielers oder die Änderung im Gesichtsausdruck eines Spielers mit dem Aufeinanderschlagen von Holzstöckchen eingeleitet. Der Körper wird in der Wilson-Inszenierung Teil eines Bewegungsmechanismus. Die Bewegungschoreographie wird in geringfügigen Abweichungen fünfmal wiederholt. Dazu wird das Geschehen auf einer Drehbühne dargestellt, die viermal gedreht wird. Im Verlauf der gleichbleibenden Choreographie wird das Geschehen mittels drehbarer Bühne aus unterschiedlichen Perspektiven erfahrbar gemacht. Zudem werden die Bewegungen zu großen Teilen in Zeitlupenbewegungen durchgeführt. Das Zeitlupentempo und der Bewegungsrhythmus, eingeleitet durch die Holzstöckchen, zeigen eine Differenz zwischen Bühnenzeit und dargestellter Zeit. Die auf diese Weise erfahrbar gemachte Relativität der Zeit und die Abhängigkeit der Wahrnehmung vom Betrachterstandpunkt dargestellt durch das Drehen der Bühne führen dem Zuschauer seine Bedeutung konstituierende Position vor Augen. Darüber hinaus spielt der Einsatz von Licht eine wichtige Rolle. In der Inszenierung der Hamletmachine fällt es von oben oft auf einzelne Performer, deren Körper so zusätzlich ausgestellt werden. Durch den Lichteinsatz ist der Körper des Schauspielers ständig vom „Verschwinden“ bedroht, denn durch den flächigen Bühnenhintergrund und den Einsatz von Licht entsteht der Eindruck, als würde sich die Körperlichkeit des Performers in der Flächigkeit des Bildes auflösen; die Dreidimensionalität des Körpers droht in der Bildfläche zu verschwinden.90 Ein weiteres Beispiel ist die Inszenierung des Stückes Stecken, Stab und Stangl von Elfriede Jelinek. Das Stück wurde am Deutschen Schauspielhaus Hamburg im Jahre 1996 von Thirza Bruncken uraufgeführt. Thirza Bruncken geht kritisch mit dem Text Stecken, Stab und Stangl als Spielvorlage um. Bruncken kürzt den Text, stellt Passagen um und verteilt sie auf 90

Vgl. dazu die sehr ausführliche Beschreibung der Wilson-Inszenierung in: Katharina Keim, Theatralität, 172-185. Vgl. auch: David Barnett. Literature versus Theatre. Textual problems and theatrical realization in the later plays of Heiner Müller. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1998. 93-112. Barnett stellt verschiedene Inszenierungen der Hamletmaschine vor, u.a. die von Wilson.

161 andere Sprecher. Einzelne Abschnitte werden mehrfach von unterschiedlichen Performern gesprochen, andere chorisch oder sogar durch Rückwärtssprechen verzerrt. Das Fernsehshow-Konzept wird beibehalten, indem sich zu Beginn der Aufführung ein Talkmaster vor dem Vorhang frontal ans Publikum wendet und von dem Medienspektakel um den Bombenanschlag auf die vier Roma berichtet. Im Verlauf des Stückes übernimmt er immer wieder die Rolle des Moderators, dessen Kommentare teils sarkastisch sind, teils den Mord verharmlosen. Die vier ermordeten Roma kommen, im Gegensatz zum Text, als reale Figuren auf die Bühne. Sie bleiben jedoch während ihres Auftritts stumm. Die vier Darsteller entsprechen durch ihre farbigen Anzüge dem Stereotyp des Zigeuners. Auf Anweisung des Moderators werfen sie sich sternförmig auf die Bühne. In dieser Simulation des Attentats wird die Präsentation des Mordes durch die Medien dargestellt. Das Nachstellen des Mordes evoziert bei den Figuren jedoch keinerlei Reflexion oder gar Trauer, sondern jeder möchte bloß an dem Spektakel teilhaben, versinnbildlicht im Hüpfen einer Figur, die über die Füße des einen liegenden Zigeuners hin- und herspringt. Auffallend ist der Schaumstoffboden, der zwei Drittel des vorderen Bühnenraums einnimmt. Die Figuren bewegen sich hüpfend, tanzend und springend auf diesem elastischen und ständig nachgebenden Untergrund. Dieser Schaumstoffboden soll die unter der Erde liegenden Toten versinnbildlichen. Besonders deutlich wird dies vor allem dann, wenn einer der Performer – als wolle er die Toten hören – am Boden horcht und dabei mit nachdenklicher Stimme ein Gedicht von Celan zitiert. Hier wird veranschaulicht, wie bei einer Figur die Erinnerung ungewollt und unkontrolliert „hochkommt“, während die anderen Figuren durch ihr Hüpfen der Toten nicht gedenken wollen und dadurch spielerisch die Morde verharmlosen. Die horchende Figur übernimmt während des Stückes immer wieder den Part eines Nachdenklichen, der durch das Rezitieren der Celan-Zitate im Gegensatz zu den anderen Figuren steht. Diese artikulieren einen aggressiven Verharmlosungsdiskurs, der sich vom Tonfall des Celan-Rezensenten völlig unterscheidet. Durch ihren nachdenklichen Sprachgestus markiert die Figur die sich im Verschwinden befindende, aber nie ganz auszulöschende Erinnerung an die Opfer des Faschismus. Die Regisseurin behandelt einzelne Celan-Zitate anders als den übrigen Text, obwohl der unterschiedliche Sprachgestus der Opfer- und Tätersprache nur in einzelnen Szenen und nicht während des gesamten Stückes durchgehalten wird.

162 Die vorgestellten Inszenierungen verdeutlichen, dass Performance und andere theatralische Elemente einen gleichrangigen, wenn nicht herausragenden Stellenwert gegenüber dem Text haben. Der Text ist nicht mehr bloße Spielvorlage. Im postdramatischen Text ist die Absage an die Dominanz des Textes verankert, indem eine homogene Zusammenführung von Text und Bühne mittels Verschiebung von Ichreferenz und Diskursinstanz verwehrt wird. So ist der kritischen (und politischen) Wirkung der postdramatischen Texte von Jelinek und Müller erst dann Rechnung getragen, wenn eine eigenständige und kommentierende Verwendung anderer performativer Elemente in der theatralischen Realisierung in den Mittelpunkt gerückt wird. In der Verschiebung von Sprache und Körper entsteht ein Raum jenseits vorgeformter Bilder und Rollen; die Erschließung dieses neuen Raumes fällt dem Rezipienten zu. Der entstandene Zwischenraum von Stimme und Körper ist, so konstatiert Sabine Wilke, „[a]n alternative moment […] in the form of a displaced interpretation of the text. […] The rift between body and voice is thus a means of inscribing a critical difference into the theatrical landscape“.91 Auch Sue-Ellen Case sieht die Verschiebung von Theater zu Performance im Riss zwischen Sprache und Körper gekennzeichnet. Die subversiven Elemente finden sich, so Case in ihrer Analyse zu Hamletmaschine, im gesprochenen Text. Demgegenüber wird das Bühnengeschehen als Produkt des Kapitalismus dargestellt (Ophelia in Mullbinden als verpackte Ware).92 Gerade in den Bühnenanweisungen sieht Case die Performance angelegt, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen sollen: Tiefsee. Ophelia im Rollstuhl. Fische Trümmer Leichen und Leichenteile treiben vorbei (HM 23); Auf der Schaukel die Madonna mit Brustkrebs (HM 17). Dazu Case: These suggestions are so technically absurd that they call for the performers to conceive of something quite different, but somehow appropriate. Through these kinds of decisions, the performance becomes more and more distant from the text. The author can no longer script the text where the performance appears – the performance runs loose from the text.93 91

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93

Sabine Wilke. „The role of art in a dialectic of modernism and postmodernism: the theatre of Heiner Müller“. Paragraph 14.3 (1991). 286. Sue-Ellen Case. The Domain-Matrix. Performing Lesbian at the End of the Print Culture. Bloomington: Indiana University Press, 1996. 143. Sue-Ellen Case, The Domain-Matrix, 141.

163 Indem die Performance in diesem Riss nicht nur den Platz der traditionellen Bühne besetzt, sondern zusätzlichen Raum belegt, der innerhalb des Skripts angelegt ist, kopiert laut Case die Performance das Wachstum des globalen Kapitalismus, der sich jeglichen Raum imperialistisch aneignet.94 Es ist der Raum zwischen Sprache und Körper, der die Bedeutungsproduktion und Subjektkonstitution dergestalt offensichtlich darlegt, dass das postdramatische Theater ein Gegenmodell zu der Wahrnehmungsästhetik und -praxis der Gegenwart etablieren kann. Das zeitgenössische Theater durchkreuzt die durch die Massenmedien evozierte Tendenz der sofortigen Umsetzung visueller sowie akustischer Bilder und diskursiv vorgegebener Klassifikationen. Der Rezipient kann sich seiner sinngebenden Instanz bewusst werden, denn er muss eine Codierung vornehmen und wird fähig, die Realität als Wirklichkeit wahrzunehmen und einen Standpunkt zu beziehen. Hierdurch vermisst er den postmodernen Raum, der ein Gedächtnisraum des Vergangenen, Vergessenen und Verdrängten ist.

94

Ebd., 138.

Siglenverzeichnis Elfriede Jelinek BL BT EK IDA LW PA PR ST TA TM WH

Bambiland Burgtheater Erlkönigin In den Alpen Das Lebewohl Präsident Abendwind Prinzessinnendramen (Der Tod und das Mädchen I-V) Stecken, Stab und Stangl Totenauberg Die endlose Unschuldigkeit Wolken.Heim

Heiner Müller AF ATR BB F GTB GG HM LG LH M SH

Der Auftrag Anatomie Titus Fall of Rome Bildbeschreibung Der Findling Germania Tod in Berlin Germania 3 Gespenster am toten Mann Hamletmaschine Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei Der Lohndrücker Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten Die Schlacht

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166 –, „Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten“. Herzstück. Berlin: Rotbuch, 1983. 91-101. –, „Bildbeschreibung“. Shakespeare Factory 1. Berlin: Rotbuch, 1985. 7-14. –, „Der Lohndrücker“. Der Lohndrücker. Philoktet. Die Schlacht. Stuttgart: Klett, 1986. 4-34. –, Gesammelte Irrtümer. Franfurt a.M.: Verlag der Autoren, 1986. –, „Der Findling“. Die Schlacht. Wolokolamsker Chaussee. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, 1988. 67-75. –, „Die Schlacht“. Die Schlacht. Wolokolamsker Chaussee. Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, 1988. 9-26. –, „Anatomie Titus Fall of Rome“. Shakespeare Factory 2. Berlin: Rotbuch, 1989. 125-225. –, „Die Wunde Woyzeck“. Shakespeare Factory 2. Berlin: Rotbuch, 1989. 261-263. –, Zur Lage der Nation. Berlin: Rotbuch, 1990. –, Jenseits der Nation. Berlin: Rotbuch, 1991. –, Ich bin ein Neger. Eine Diskussion mit Heiner Müller. Darmstadt: Jürgen Häuser, 1994. –, Germania 3 Gespenster am toten Mann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1996.

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Danksagung Die vorliegende Studie ist die leicht erweiterte Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im Mai 2001 an der University of Massachusetts Amherst vorgelegt habe. Für die großzügige finanzielle Unterstützung, die diese Publikation möglich machte, danke ich Jing Wang von Foreign Languages and Literatures am Massachusetts Institute of Technology. Vielen weiteren Personen gilt mein Dank, die durch ihre Anregungen, Hinweise, Ideen, Gespräche sowie durch tatkräftige und seelische Unterstützung dieses Buch ermöglichten, besonders: Sara Lennox, meine Doktormutter, Irma Bala, Sigrid Berka, Brenda L. Bethman, Silvia Cabal, Susan L. Cocalis, Glen Franklin, Evie und Walter Hopkins, Janet Lenze, Sabine Jaeger de Llibre, Lisbeth Loescher, Chisato Murakami, Anita Raja, und James E. Young. Meine Eltern Julia und Dieter Jaeger unterstützten mich während meiner langjährigen Studienzeit in Deutschland und den USA und machten mir stets Mut, ihnen gilt mein besonderer Dank. Bei den Studenten meines MIT-Seminars „Opening the Text“ bedanke ich mich. Ihr kreativer Umgang mit Jelinek- und Müllerdramen zeigte, dass das postdramatische Theater grundsätzliche Fragen an das Menschsein im 21. Jahrhundert stellt. Birgit Klöpfer vom Aisthesis Verlag danke ich für ihre Arbeit bei der Textkorrektur. Mein inniger Dank für seine Geduld und Unterstützung vor allem in der Abschlussphase dieses Projekts gilt meinem Mann James Wann, dem ich dieses Buch widmen möchte. Dagmar Jaeger Cambridge, im Juni 2006