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German Pages 251 [252] Year 1989
atron
Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste
Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele
Band 3
Michael Raab
»The music hall is dying.« Die Thematisierung der Unterhaltungsindustrie im englischen Gegenwartsdrama
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989
Für Christof Κ. Arnold
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Raab,
Michael:
The music hall is dying : die Thematisierung der Unterhaltungsindustrie im englischen Gegenwartsdrama / Michael Raab. - Tübingen : Niemeyer, 1989 (Theatron; Bd. 3) NE: GT ISBN 3-484-66003-1
ISSN 0934-6252
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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I. Kapitel Trevor Griffiths' Thesendrama: Comedians
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II. Kapitel Dramatische Biographien: Daniel Farson, Tony Staveacre, Alan Plater und Heathcote Williams
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Daniel Farsons proletarische Heldenbiographie: Marie Tony Staveacres Slapstick-Anthologie: Fred Kamo's Army. Alan Platers Music Hall-Revue: On Your Way, Riley! Heathcote Williams' Monodrama: Hancock's Last Half Hour..
III. Kapitel Persönlichkeitsdramen: John Osborne, Catherine Hayes, Les Blair und Terry Johnson 1. 2. 3. 4.
The Entertainer: Die Music Hall als Symbol für England Not Waving: Cabaret als Medium individueller Selbstverwirklichung Four in a Million: Entertainment als soziale Aufstiegsmöglichkeit und aus Berufung Unsuitable for Adults: 'Alternative comedy als Paradigma für zeitgenössische Verhaltensweisen
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Schluß
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Bibliographie
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Ah, what is man! Wherefore does he why? Whence did he wince? Whither is he withering? (Dan Leno)
Einleitung
Angesichts der Tatsache, daß den Menschen immer mehr Freizeit zur Verfügung steht, gewinnt die Unterhaltungsindustrie an Bedeutung, und es ist noch kein Ende dieser Entwicklung abzusehen. Eine der ersten Institutionen, die es von ihrer Besucherresonanz her rechtfertigten, den Begriff "Massenunterhaltung" zu gebrauchen, war die englische Music Hall, die ihre Blütezeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte. Charakteristika des Showgeschäfts wie der Starkult traten zu dieser Zeit erstmals in Erscheinung. Im Unterschied zu heutigen Veranstaltungen waren die Reaktionen des Publikums jedoch in weitaus größerem Maße Teil des Entertainments, konnte die Music Hall als eine sehr gesellige Veranstaltungsform mit engem Bezug zwischen den Zuschauern und den auftretenden Künstlern gelten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hatte diese Ausprägung von 'live-entertainment' gegen die Konkurrenz immer mächtigerer neuer Medien zu kämpfen, von denen sie schließlich verdrängt wurde: zunächst gegen den Film, dann gegen den Rundfunk und schließlich vor allem gegen das Fernsehen und die Videotechnik. Lediglich bei Rock- und Popkonzerten sowie Auftritten von Komikern oder Kabarettgruppen werden die Zuhörer heute noch in vergleichbarer Weise beteiligt. Im britischen Fernsehen sind zu einem großen Teil amerikanische Produktionen zu sehen, die - mitunter in direkter Abhängigkeit von Werbefirmen - für den dortigen Markt konzipiert wurden und erst in zweiter Linie auch auf ein internationales, mit dem 'American way of life' vertrautes Publikum spekulieren. Eigenheiten wie regionale Besonderheiten und Dialekte werden durch importierte Unterhaltungssendungen eingeebnet und Möglichkeiten der Identifikation eingeschränkt. Es steht zu befürchten, daß sich dieser Nivellierungsprozeß in den kommenden Jahren mit der Einführimg des Satellitenfernsehens noch verstärken wird. Die Erfahrung von derartigen Verlusten ist Impetus für die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Massenunterhaltung auf praktischem und theoretischem Gebiet. So gibt es ein neues Interesse an der Kleinkunst und der Kneipenkultur, wobei Unterhaltungskünstler versuchen, an ältere Formen wie die Music Hall anzuknüpfen und das Publikum aus seiner Konsumentenrolle herauszuführen, indem es etwa zum Mitsingen angeregt wird. In England finden Programme, die sich bemü1
hen, heutigen Zuschauern einen Eindruck von der Music Hall zu vermitteln, wie die Veranstaltungen des Londoner Players' Theatre oder die 'Sunday Variety Nights' des Theatre Royal, Stratford East, nach wie vor Anklang. Den meisten Entertainern geht es jedoch nicht um eine museale Rekonstruktion, sondern um die Weiterentwicklung der Kunst ihrer Vorgänger mit der Gegenwart angemessenen Mitteln. In diesem Zusammenhang berufen sich viele aber weiterhin auf die Tradition der Music Hall. In theoretischer Hinsicht führt die Rückbesinnung auf die Frühzeit der Vergnügungsindustrie zu einer möglichst genauen Erforschung der Alltagswelt der unteren Bevölkerungsschichten und ihrer Unterhaltungsbedürfnisse, wofür in England hauptsächlich Untersuchungen zur 'popular culture' stehen. Dabei erfuhr auch die Music Hall, die zuvor im Vergleich zur Theaterszene nur ungenügend gewürdigt worden war, stärkere wissenschaftliche Beachtung und konnte nicht länger als trivialer Zeitvertreib für ein Publikum abgetan werden, dem die Bildung für den Besuch von Theater- oder Opernaufführungen fehlte. Ein Spezifikum der Beschäftigimg mit der Unterhaltungsindustrie in Großbritannien ist, daß sie nicht nur mittels kritischer Diskurse geleistet wird, sondern auch im Theater. Dieser Themenschwerpunkt englischer Gegenwartsdramatiker findet auf deutschen und französischen Bühnen bisher noch keine Entsprechung.1 Erscheinungsformen der Massenunterhaltung werden dabei in ganz unterschiedlicher Weise thematisiert. So liegen beispielsweise mehrere Stücke über das Verhalten von Fußballfans oder die Situation in der Rockmusik-Branche vor, zwei Bereichen, in denen Angehörige der Unterschicht als Akteure und als Rezipienten besonders häufig vertreten sind. Der Dramatiker Stephen Poliakoff beschäftigt sich mit Formen der Vermarktung, indem er in The Summer Party' einen Blick hinter die Kulissen des Rockgeschäfts ermöglicht und Verhaltensweisen von Musikern und Veranstaltern im Umfeld eines großen Konzertereignisses darstellt oder in City Sugar3 und American Days4 die zynische Einstellung eines einflußreichen Rundfunkmoderators mit der Erwartungshaltung von dessen Hörern kontrastiert. Die psychische Situation von Exponenten der
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Einen Ausnahmefall stellt die Figur des ehemaligen Jongleurs Karl in Thomas Bernhards Stück "Der Schein trügt" (Frankfurt/Main 1983) dar. Eines der wenigen außerhalb Großbritanniens entstandenen Dramen über einen Music Hall-Star ist "Die Überquerung des Niagara-Falls" (1968), in dem der peruanische Autor Alonso Alegria den international bekannten Seiltänzer Blondin (1824-1897) auftreten läßt. Das Zwei-Personen-Stück Alegrias wurde in den siebziger Jahren auch von verschiedenen Bühnen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik aufgeführt. Stephen Poliakoff: The Summer Party, London 1980. Ders.: Hitting Town und City Sugar, London 1978 (revised edition). Ders.: American Days, London 1979.
Rockszene thematisieren David Hare in Teeth'n'Smiles5 und Barrie Keefe in Bastard Angel6 jeweils am Beispiel einer alternden Leadsängerin, die in eine künstlerische und persönliche Krise gerät. Vor allem die Rolle der Zuschauer analysieren Stücke, die sich mit dem Fußballsport auseinandersetzen wie Peter Tersons Zigger Zagger7 und Barrie Keefes Abide With Me,8 in deren Mittelpunkt die Hoffnungen und Wünsche junger Fans stehen. Ein gesteigertes Interesse an diesem Thema war nach den tragischen Ereignissen vor dem Endspiel um den Europapokal der Landesmeister zwischen Juventus Turin und dem FC Liverpool 1985 im Brüsseler Heysel-Stadion zu registrieren, bei denen nach schweren Ausschreitungen 39 Menschen ums Leben kamen. So setzt Nick Perry in Arrivederci Millwall die Reise junger englischer Schlachtenbummler zur Weltmeisterschaft 1982 in Spanien in Bezug zum Falkland-Feldzug, der im gleichen Jahr stattfand, und zu rechtsradikalen Bestrebungen in Großbritannien.9 Eine weitere Spielart von Stücken über Fußball beschäftigt sich näher mit den von den Fans verehrten Stars. Martin Allen beispielsweise kontrastiert in Red Saturday den Aufstieg eines jungen Mittelfeldspielers mit dem Niedergang der Karriere eines ehemaligen Torjägers. 1 In Stücken zu diesen beiden Bereichen thematisieren Dramatiker Formen der Freizeitgesellschaft und damit auch der Unterhaltungsindustrie, das Auftreten von Managern und Stars sowie die Bedeutung der Rockmusik und des Fußballsports für die Fans. Diese Themenschwerpunkte gelten auch für die Auseinandersetzung mit theaterspezifischen Traditionen, wobei die Darstellung der Music Hall als paradigmatisch gelten kann. Das Interesse britischer Dramatiker an der Music Hall resultierte zunächst hauptsächlich aus einer verbreiteten Unzufriedenheit mit der Aufführungspraxis im englischen Theater, die von Gesellschaftskomödien ä la Oscar Wilde und Noel Coward oder von Klassiker-Inszenierungen dominiert wurde. Autoren auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zur Durchbrechung eingeschliffener Erwartungshaltungen und 5 6 7 8 9
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David Hare: Teeth'n'Smiles, London 1976. Barrie Keefe: Bastard Angel. London 1980. Peter Terson: Zigger Zagger, London 1970. Barrie Keefe: Abide With Me, zweites Stück der Trilogie "Barbarians", London 1977. Nick Perry: Arrivederci Millwall und Smallholdings, London 1987. Perry gewann für sein Fußball-Stück 1985 den Samuel Beckett Award für das beste Erstlingswerk eines Dramatikers. Die Uraufführung fand im November 1985 durch die Theatertruppe "The Combination" im Londoner Albany Empire statt. Anhänger des FC Millwall gehören zu den berüchtigsten 'football hooligans' Großbritanniens. Martin Allen: Red Saturday, London 1985. Auch die Stars anderer Sportarten erregen zunehmend die Aufmerksamkeit britischer Dramatiker. Louise Pages Stück "Golden Girls" (London 1984) hat etwa die Mitglieder einer weiblichen Leichtathletik-Staffel zu Hauptfiguren.
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Rezeptionsweisen stießen dabei auf die Music Hall, die einen Fundus äußerst bühnenwirksamer Mechanismen bereithielt, die weder realistischer Illusionsförderung noch dem Wiedererkennen von Bildungsgütern verpflichtet waren.11 Die Möglichkeit, Distanz wie Engagement mit sehr theatergemäßen Mitteln beim Publikum zu erzeugen, hatte in England die Music Hall jahrzehntelang erfolgreich erprobt. Die Aufarbeitung theatralischer Erfahrungen der Music Hall ließ diese bald auch als historische Unterhaltungsinstitution in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit englischer Dramatiker rücken. Die klassische Music Hall vermochte es, auf eigenständige und vor allem unterhaltende Weise ein Massenpublikum anzusprechen. Die Zuhörer konnten in den Halls des viktorianischen und edwardianischen England sowohl eskapistischen Wunschvorstellungen nachgehen, als auch den eigenen Lebensbereich in Songs und Sketchen thematisiert fmden. Akrobatische und tänzerische Darbietungen sowie Bauchredner oder Dompteure vervollständigten ein Programmangebot, das durch große Vielfalt gekennzeichnet war. Die Geschichte der englischen Music Hall begann in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts.12 Obwohl es auch zahlreiche Veranstaltungsorte in der Provinz gab, besonders in den Industriereviereö Nordenglands13 und den Badeorten an der Süd- und Westküste, war London eindeutig das Zentrum, von dem aus neue Entwicklungen ihren Ausgang 11 12
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Bereits zuvor hatten einzelne deutsche Dramatiker wie Bertolt Brecht für ihr eigenes Theater der Illusionsdurchbrechung auf die Tradition des Bänkelsangs und der Jahrmarktsmoritaten zurückgegriffen. Zur Geschichte der Music Hall vgl. u.a. P.H. Fitzgerald: Music Hall Land. An Account of the Natives, Male and Female, Pastimes, Songs, Antics and General Oddities of that Strange Country, London 1890; Charles Douglas Stuart und A J . Park; The Variety Stage. A history of the Music Halls from the earliest period to the present time, London 1895; Maurice Willson Dishen Winkles and Champagne, Batsford 1938; Sidney Theodore Felstead: Stars who made the halls. A Hundred Years of English Humour, Harmony and Hilarity, London 1946; Harold Scott; The Early Doors. Origins of the Music Hall, London 1946; Walter Macqueen-Pope: The Melody Lingers on. The Story of the Music Hall, London 1950; Jacques Charles: Cent ans de Music Hall. Histoire generale du Music Hall, de ses origines ä nos jours, en Grande-Bretagne, en France et aux U.SA., Genf 1956; Clarkson Rose: Red Plush and Grease Paint, London 1964; Raymond Mander und Joe Mitchenson: British Music Hall. A Story in Pictures, London 1965; Samuel McKechnie: Popular Entertainment Through the Ages, New York 1969, S. 153-173; David F. Cheshire: Music Hall in Britain, Newton Abbot 1974; Martha Vicinus: The Industrial Muse, London 1974, S. 238-285; Henry Chance Newton: Idols of the 'Halls·, London 1928, Nachdruck Wakefield 1975; Roy Busby: British Music Hall. An Illustrated Who's Who from 1850 to the Present Day, London 1976, S. 6-13; Ulrich Schneider Die Londoner Music Hall und ihre Songs 1850-1920, Tübingen 1984. Manche nordenglischen Komiker wie Frank Rändle wählten Präsentationsweisen, die formal rauher und inhaltlich kritischer waren als die ihrer Kollegen in London. Auf diesen regionalen Unterschied verwies erst kürzlich wieder Manfred Pfister in seiner Besprechung von Ulrich Schneiders Studie "Die Londoner Music Hall und ihre Songs 1850-1920", in: Anglia, Band 105, Heft 1/2,1987, S. 257-259, hier S. 258.
nahmen. Die Music Hall konnte im wesentlichen als eine großstädtische Institution gelten. In der Hauptstadt boten sich mehr Auftrittsmöglichkeiten und wurden höhere Gagen gezahlt als anderswo. Folglich zog es auch regional erfolgreiche Künstler nach London, die jedoch auf ausgedehnten Tourneen zu Gastspielen wieder in ihre Heimatorte zurückkehren konnten. Entstanden war die Music Hall aus drei unmittelbaren Vorgängern: den 'pleasure gardens', 'song-and-supper-rooms' sowie den 'tavern concerts'.14 Elemente dieser Einrichtungen gingen in die Unterhaltungsform ein, deren organisatorische Grundlage von frühen Impresarios wie Charles Morton, dem 'Father of the Halls',15 gelegt wurde. Morton, der zuvor in seinem Pub 'harmonic meetings' veranstaltet hatte, eröffnete 1852 in London die Canterbury Music Hall. Er ließ erstmals Frauen allgemein und nicht nur zu besonderen 'Ladies' Nights' zu und brach mit der Gewohnheit, den Eintritt als 'wet money5 mit Getränken verrechnen zu lassen. Damit war ein entscheidender Schritt zur Professionalisierung der Auftretenden getan. Bereits in den 'song-and-supper-rooms' hatte sich allmählich eine Elite besonders begabter Sänger herausgebildet, die von geschäftstüchtigen Lokaleigentümern engagiert wurden. Morton erkannte, daß es in London ein Potential von Interessenten gab, die mehr wegen der Darbietungen als zum Essen und Trinken kamen, wobei jedoch die gesellige Atmosphäre und die Möglichkeit des Alkoholkonsums, die nach dem 'Theatres Act' von 1843 das Privileg derjenigen Theater war, die keine Sprechstücke aufführten,16 weiterhin ihre Anziehungskraft behielten. Das Programm umfaßte zunehmend nicht nur musikalische Auftritte. Es reichte zumeist von Ballett- und Operneinlagen17 bis zu burlesken und akrobatischen Darbietungen und wollte im Verlauf eines Abends den verschiedensten Ansprüchen genügen. Die Darsteller mußten besondere Anstrengungen unternehmen, um die Aufmerksamkeit eines Publikums zu erregen, das nicht wie im Theater zum ausschließlichen Besuch der Vorstellung kam, sondern auch um Freunde zu treffen und sich mit diesen zu unterhalten. Es war wichtig, gleich zu Beginn den Kontakt zu
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Vorformen der Music Hall sind im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht von Interesse. Es sei daher lediglich auf die entsprechenden Kapitel in den unter (8) genannten Studien zur Geschichte der Music Hall verwiesen, darunter vor allem auf Harold Scott: The Early Doors, S. 20-132. Vgl. zur Lebensgeschichte Mortons: William Morton und Henry Chance Newton: Sixty years' stage service, being a record of the life of Charles Morton, 'the Father of the Halls', London 1905. Eine kompakte Zusammenfassung der rechtlichen Stellung der Music Hall gibt Ulrich Schneider in: Die Londoner Music Hall und ihre Songs 1850-1920, S. 48ff. So erlebte beispielsweise Gounods Faust-Oper ihre britische Premiere in Mortons Canterbury Music Hall.
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den Besuchern zu gewinnen, wenn es der Auftretende vermeiden wollte, von der Bühne gebuht zu werden.18 Schon in der frühen Music Hall gab es Performer aller Sparten: Seiltänzer, Jongleure, Entfesselungskünstler ('escapologists'), Trapezartisten, Frauen in Hosenrollen ('male impersonators'), Tänzerinnen, Zauberer, Dompteure und Bauchredner. Am höchsten in der Beliebtheitsskala standen jedoch die Vertreter eines Rollenfachs, das sich erst in der Music Hall herausgebildet hatte: die 'character comedians'. Der Anteil von Gesang und 'patter', dem gesprochenen Teil des Auftritts, war bei ihnen jeweils unterschiedlich bemessen. Männliche und weibliche Künstler wie die 'lions comiques', 'coons' und 'serio comediennes'19 folgten jedoch ansonsten fest umrissenen Rollenschemata, ohne daß dies individuelle Gestaltungsmöglichkeiten zu sehr beeinträchtigte. Auf dem Feld der auf Cockney-Charaktere spezialisierten 'coster comedians'20 beispielsweise konkurrierten zwei Performer um die Ehre des beliebtesten Interpreten: Gus Elen und Albert Chevalier. Elen porträtierte mit Witz und Selbstironie illusionslose Figuren, deren Umgangsformen dennoch von Solidarität und einer rauhen Herzlichkeit gekennzeichnet waren.21 Chevalier, 'the Coster Laureate', spezialisierte sich dagegen auf glatte, gezähmte Cockney-Versionen vom Typ biederer Familienvater. Bei ihm heilte wie im heutigen Schlager die Liebe alle Wunden, während ansonsten in den Songs zumeist streng zwischen der Zeit der Brautwerbung und dem Ehealltag unterschieden wurde.22 Die rührseligsten seiner Lieder interpretierte er "with such oleaginous dollops of sentiment",23 daß selbst Ormiston Chant, führendes Mitglied der 'purity league' und gewissermaßen die Mary Whitehouse jener Epoche, Gefallen an ihnen finden konnte. Das Publikum, von dem 18
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Die rabiateste Methode, um einen beim Publikum durchgefallenen Performer möglichst schnell von der Bühne zu bringen, hatte die Workman's Hall in Stratford East, die dafür eigens einen "Rausschmeißer'' in den Kulissen postierte, der den unglücklichen Performer von der Bühne zerrte; s. S. Theodore Felstead: Stars who made the halls, S. 60. Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Rollentypen gibt Ulrich Schneider in: Die Londoner Music Hall und ihre Songs 1850-1920, S. 135ff. Ein 'coster' war ein Straßenhändler, der mit einem Eselskarren durch London fuhr, vor allem im Süden der Stadt beheimatet war, und Obst und Gemüse verkaufte. Die 'costers' waren in den Music Halls, wie überhaupt im Theaterpublikum des 19. Jahrhunderts, sehr zahlreich vertreten; s. Ulrich Schneiden Die Londoner Music Hall und ihre Songs 1850-1920, S. 152f. Roy Busby bemerkt über Elen: "His cockney songs were far truer to life than the idealised and rather mawkish emotions expressed by his rival, Albert Chevalier. Although full of pathos they were rescued from cloying sentiment by a sharp dash of irony" (British Music Hall, S. 48). Gerade diese ironische Haltung zu Teilen des eigenen Materials fehlte Chevalier völlig. Vgl. Ulrich Schneiden Die Londoner Music Hall und ihre Songs 1850-1920, S. 186ff. sowie Jacqueline S. Bratton: The Victorian Popular Ballad, London 1975, S. 159ff. Colin Maclnnes: Sweet Saturday Night, London 1967, S. 130.
Chevalier keine differenzierte Reaktion, sondern uneingeschränkte Einfühlung in die Protagonisten seiner Lieder erwartete, brach bei Auftritten des Sängers des öfteren in Tränen aus. Der Appell an eine derartig platte Identifikation wäre bei den beiden größten 'character comedians' der Music Hall, Marie Lloyd und Dan Leno, unmöglich gewesen. Leno war ein Künstler mit ungewöhnlichen mimischen Ausdrucksfähigkeiten, die er bei seinen ausufernden Monologen behutsam einsetzte, während Chevalier beinahe jedes Wort seiner Songs szenisch zu vergegenwärtigen suchte und dabei chargierte.24 Wo der 'Coster Laureate' das Vorstellungsvermögen seines Publikums weit unterschätzte, vertraute Leno gerade darauf. Wenn er auf der Bühne stand, schien noch das unscheinbarste Objekt "with an almost uncontrollable life of its own"25 ausgestattet zu sein. Sein Repertoire bestand aus zahlreichen Charakterstudien, die ihn zumeist in der Rolle des Opfers zeigten: His material was the sum of all the small things in the life of his class. It was full of babies' bottles, Sunday clothes, pawnshops, lodgings, cheap holidays and the like. There was no change in this material after he had ceased to be affected by all these problems.26 Leno war, wie einige andere Music Hall-Stars, auch als Darsteller in den alljährlichen 'Christmas Pantomimes' äußerst populär. Songs und Sketche ließen sich problemlos integrieren. Die 'pantomimes' mit ihren Harlekinaden und ihrem slapstickartigen Humor können als Vorläufer der Music Hall gelten und bewahrten durch das Engagement von Künstlern wie Dan Leno wiederum auch für die Music Hall charakteristische Techniken, die bis heute in den nur in der Weihnachtszeit auf dem Spielplan stehenden Vorstellungen fortleben. Das gilt etwa für das Mitsin24 25 26
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S. Max Beerbohm: Around Theatres, London 1953, S. 437f. Martha Vicinus: The Industrial Muse, S. 276. Harold Scott: The Early Doors, S. 176. Zur Biographie Lenos vgl. J. Hickoty Wood: Dan Leno, London 1905 sowie Gyles Brandreth: The Funniest Man On Earth. The Story of Dan Leno, London und North Pomfret 1977. Das Buch von Brandreth diente als Grundlage für Daniel Farsons Stück "The Funniest Man in the World", das am 8. November 1977 im Theatre Royal, Stratford East, uraufgeführt wurde (vgl. die Kritiken von Jeremy Treglown, The Times, 9.11.1977, Michael Coveney, Financial Times, 9.11.1977; John Barber, Daily Telegraph, 10.11.1977 sowie Tony Coult in: Plays and Players, 2/1978, S.41). Da weder der Autor, die Regisseurin Ciaire Venables noch das Theatre Royal eine Kopie des Stücks aufbewahrten, und es auch nicht im 'manuscript department' der British Library archiviert ist, konnte es für die vorliegende Arbeit leider nicht berücksichtigt werden. Farson räumt jedoch freimütig ein, das beste an seinem Werk wären die zitierten Originalmaterialien Dan Lenos gewesen (Gespräch mit dem Verfasser, 5.9.1985). Zur Geschichte der 'pantomime' vgl. u.a. Albert Edward Wilson: Christmas Pantomime. The Story of an English Institution, London 1934 sowie Derek Salberg: Once Upon a Pantomime, Luton 1981.
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gen des Lied-Refrains seitens des Publikums, eine Art der "audience participation", die Laurence Senelick als "perhaps the most enduring and vital feature of music-hall performances" bezeichnet.28 Dan Lenos Pendant unter den weiblichen Darstellern war Marie Lloyd, die 'Queen of the Halls'. Ihr Repertoire umfaßte sowohl Songs für 'serio comediennes' als auch Charakterstudien. Wie keine andere Sängerin vermochte sie es, in der Rolle des 'naughty girl' selbst den harmlosesten Liedzeilen noch zahlreiche, vor allem sexuelle Zweideutigkeiten abzugewinnen. Als Programm hätte über ihren Auftritten der Titel eines ihrer bekanntesten Songs stehen können: "Every little movement has a meaning of its own",2 wobei ihre Körpersprache jedoch nichts mit der überdeutlichen Projektion eines Albert Chevalier gemein hatte. Im Gegensatz zur unverblümten Vulgarität der 'bawdy songs' in den 'song-and supper-rooms'30 kam es nunmehr darauf an, Anspielungen in scheinbar unverfänglichen Zeilen unterzubringen - eine Technik, die stark an die Phantasie des Publikums appellierte. Diese Kunst beherrschte die Sängerin meisterlich, entwickelte sich aber gegen Ende ihrer Karriere immer mehr zur 'character comedienne' mit auch beachtlichen schauspielerischen Fähigkeiten. Um Künstler wie Dan Leno und Marie Lloyd wurde ein Starkult getrieben, und die Hauptattraktionen konnten hohe Gagenforderungen stellen. Da die begehrtesten Darsteller an mehreren Orten gleichzeitig gefragt waren und ihre Auftritte jeweils nur wenige Minuten dauerten, vervielfältigten sich die Einnahmemöglichkeiten, indem man innerhalb Londons im Wagen von einer Music Hall zur anderen fuhr, um vier oder gar fünf Auftritte pro Abend abzuwickeln. Gerade Künstler, die aus ärmeren Verhältnissen kamen, konnten jedoch oft nicht mit ihrem Geld haushalten oder verteilten es freigebig an Notleidende und Schmarotzer, die ihre Bedürftigkeit nur vortäuschten. Sowohl Dan Leno als auch Marie Lloyd vergaßen ihre eigenen finanziell schwierigen Anfänge nicht und versuchten zu helfen, wo immer sie konnten, wobei vielleicht auch das schlechte Gewissen über den so plötzlich erworbenen Reichtum eine Rolle gespielt haben mag.31
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Laurence Senelick: "A Brief Life and Times of the Victorian Music Hall", in: Harvard Library Bulletin, 19 (1971), S. 375-398, hier S. 379. Techniken, die später in der Music Hall weiterentwickelt wurden, wie Versuche, das Publikum zum Mitsingen zu animieren, verwendeten allerdings bereits 'pantomime clowns' wie Grimaldi; vgl. Richard Findlaten Grimaldi. King of Clowns, London 1955, S. 138ff. Das Lied ist abgedruckt und interpretiert in: Peter Davison: Songs of the British Music Hall. A Critical History of the Songs and Their Times, New York 1971, S. 102ff. Vgl. George Speaight (Hrsg.): Bawdy Songs of the Early Music Hall, Newton Abbot 1975. S. Daniel Farson: Marie Lloyd and Music Hall, London 1972, S. 39.
Nur wenige herausragende Performer vermochten es, kontinuierlich 'top of the bill' zu bleiben. Die Konkurrenz um die Spitzenengagements war ähnlich hart wie im heutigen Showgeschäft. Grundlegende Rechte und Mindestgagen konnten die Music Hall-Künstler erst im Gefolge eines Streiks in London 1907 festschreiben lassen, bei dem Marie Lloyd und andere Stars als 'pickets' vor den großen Music Halls im West End standen. Daß sich die Streikenden bei dieser Auseinandersetzung hauptsächlich mit einigen wenigen mächtigen Impresarios konfrontiert sahen, war die Folge eines Konzentrationsprozesses im Management. Verschärfte Feuerschutzbestimmungen hatten 1878 zur Schließung zahlreicher kleinerer Veranstaltungsorte geführt. Die großen Häuser beherrschten zunehmend das Geschäft, und Neubauten wurden mit umfangreicheren Auditorien konzipiert. Die Intimität der Atmosphäre der kleineren Music Halls und der dadurch leichter mögliche Kontakt zwischen Auftretenden und Publikum gehörten weitgehend der Vergangenheit an. Nur in den weniger opulent ausgestatteten Gebäuden außerhalb des West End hielten sie sich etwas länger.32 Das Publikum teilte sich fortan auf dem eigenen sozialen Status entsprechende teure oder weniger exklusive Halls auf, wodurch auch das Bürgertum als Klientel gewonnen werden konnte. Unweigerlich hatte diese Veränderung der Zusammensetzung des Publikums auch Auswirkungen auf die inhaltliche Gestaltung, vor allem auf die Texte der Komiker. Die Entwicklung führte weg von der Darstellung alltäglicher Begebenheiten ohne großen Aufwand an Ausstattung, wie sie vor allem für die Kunst Dan Lenos und Marie Lloyds typisch gewesen war, und hin zu harmloser Unterhaltung für die ganze Familie in einem glamouröseren Rahmen. Im 20. Jahrhundert fächerte sich die Unterhaltungsindustrie dann zunehmend auf, da es sich als nicht länger möglich erwies, so vielfältige Formen, wie sie die klassische Music Hall charakterisiert hatten, unter einem Dach zu vereinen. Dabei lebten Merkmale der Music Hall aber auch in neuen Medien wie Film, Rundfunk und Fernsehen fort. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Music Hall beruht unter anderem auf der Tatsache, daß diese Institution sich im Gegensatz zu früheren populären Unterhaltungsformen wie dem Volkstheater der Shakespearezeit, der commedia dell'arte und den diversen Ausprägungen des Jahrmarkttheaters, bevor ihre Verbürgerlichung einsetzte, gezielt an 32
S. Harold Scott: The Early Doors, S. 180f. Die Bühne des Coliseum hatte beispielsweise eine Portalbreite von 80 Fuß, und die Entfernung von der Rampe bis in die letzte Reihe des zweiten Ranges betrug IIS Fuß. Die Vergleichswerte für eine kleinere Music Hall wie das Holborn Empire lauten 30 bzw. 80 Fuß (Roger Wilmut: Kindly Leave the Stage! The Story of Variety 1919-1960, London 1985, S. 89). Wilmut bezeichnet das Coliseum entsprechend als "a tribute to megalomania which still stands and perhaps makes a better opera house [als das derzeitige Domizil der English National Opera, M.R.] than ever it did a Variety Hall" (ders., S. 15).
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ein proletarisches Publikum richtete. Aufgrund dieser besonderen Zielgruppe erregte sie in den letzten Jahren das Interesse von Verfassern sozialgeschichtlicher Untersuchungen zur 'popular culture', die Aufschluß über die damaligen Londoner Unterschichten und ihre Freizeitbedürfnisse zu gewinnen suchten. Arbeiten wie die Richard Hoggarts33 und Raymond Williams'34 ordnen die Music Hall in einen größeren historischen Zusammenhang ein. Recherchen zur Vergnügungsindustrie im 19. Jahrhundert geben Informationen über die organisatorischen Grundlagen. Inhaltliche Charakteristika der Programme werden hauptsächlich anhand der Analyse der Songs und der Monologe von Komikern bestimmt, die ihren Hauptanteil ausmachten. Die theatergeschichtliche Rezeption der Music Hall orientiert sich bei ihrem methodischen Zugriff entweder an sozialgeschichtlichen Modellen oder an der Lebensgeschichte einzelner Künstler. Dabei wird die Music Hall jedoch zumeist als lediglich historische Erscheinung ohne jegliche Relevanz für die Gegenwart behandelt. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang die häufige Einschränkung des Untersuchungszeitraums auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie die Zeit unmittelbar vor und nach dem ersten Weltkrieg, die den Niedergang der Music Hall als Institution mit Anziehungskraft auf ein Massenpublikum genauso außer acht läßt wie das Fortleben von Elementen der Music Hall-Tradition in anderen Unterhaltungsformen. Diese zeitliche Begrenzung gilt auch für die neueste und umfangreichste deutsche Arbeit zu diesem Thema, die Habilitationsschrift von Ulrich Schneider.35 In lediglich biographisch orientierten Darstellungen und Erinnerungsbüchern wird demgegenüber des öfteren auf das Fortbestehen der Music Hall-Tradition bis heute verwiesen. Bis auf wenige Ausnahmen können Werke dieser Art jedoch nicht als wissenschaftlich bezeichnet werden, da sie dazu neigen, die Music Hall und ihre Künstler in nostalgischem Licht zu zeigen. Die Tatsache, daß sich Publikationen zur Music Hall in England nach wie vor gut verkaufen, spricht für ein Interesse am Thema, auf das auch Dramatiker zählen können. Ihre Auseinandersetzung mit der Music Hall verläuft auf zwei Ebenen: Nicht nur im Repertoire von Komikern finden sich Darstellungsformen dieser Unterhaltungsinstitution wieder, sondern auch in der Arbeit von Stückeschreibern wie Samuel Beckett, John Arden oder Harold Pinter. Formengeschichtliche Analysen in der Art der Untersuchungen Peter Davisons bemühen sich um das Aufzei33 34 35 36
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Vgl. u.a. Richard Hoggart: The Uses of Literacy, Harmondsworth 1958. Vgl. u.a. Raymond Williams: The Long Revolution, London 1961, besonders S. 265f. Ulrich Schneiden Die Londoner Music Hall und ihre Songs 1850-1920, Tübingen 1984. Peter Davison: Contemporary Drama and the Popular Dramatic Tradition in England, London 1982 sowie ders.: "Contemporary Drama and Popular Form", in:
gen solcher Traditionslinien. Diese Form des Weiterlebens der Music Hall ist philologisch bereits weitgehend gewürdigt worden und soll daher nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Bisher noch kaum erforscht ist dagegen der thematische Rückgriff auf die Music Hall in Stücken, die nicht nur formale Anleihen bei dieser Institution nehmen, sondern sie auch selbst zum Mittelpunkt der Analyse machen. Zu klären ist in diesem Zusammenhang, ob auch die Dramatiker der Music Hall mit nostalgischen Gefühlen begegnen wie die Verfasser romantisierender Erinnerungsbücher, ob sie ein dokumentarisches Interesse an ihr haben wie die Autoren sozialgeschichtlicher Untersuchungen, ob sie mit ihren eigenen Mitteln die Tradition der Music Hall weiterentwickeln wollen wie zahlreiche Komiker oder welche anderen Motive sie zur Reflexion der Music Hall-Tradition anregen. Neben den Gründen für die Motivation der Dramatiker bei der Auswahl ihres Themas müssen des weiteren die Probleme erörtert werden, die bei der Aufarbeitung der Music Hall in einem anderen Medium, dem Theater, entstehen, wobei die historische Music Hall gerade in Konkurrenz zu den Bühnen stand, die 'straight plays' spielten, und beide Institutionen in der Regel von verschiedenen Publikumsschichten frequentiert wurden. Während früher ein regelmäßiger Besucher der Music Hall kaum ins Theater ging und umgekehrt die Theaterbesucher die Halls als Schauplätze einer in ihren Augen niedrigen Kunstform mieden, lebt die Music Hall heute als theatralisierter Gegenstand und mit ihrem Formenrepertoire ausgerechnet im Theater weiter, ein Übertragungsprozeß, der nicht ohne Vermittlungsprobleme ablaufen kann. Ansätze zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragestellungen existieren nur in Aufsätzen zu einzelnen Stücken. Die Forschung konzentriert sich dabei bisher auf die Analyse von Dramen bekannter Autoren, die auch außerhalb Großbritanniens gespielt werden, wie John Osbornes The Entertainer37 und Trevor Griffiths' Comedians. In Untersuchungen zu diesen Werken wird zwar auf das Motiv der Music Hall und seine Funktionalisierung eingegangen, in der Regel aber nur punktuell auf Parallelen zu Stücken mit ähnlichen Themen verwiesen, ohne daß dies interpretatorisch vertieft würde. Einen Schritt in dieser Richtung unternimmt lediglich Manfred Pfister in einem Beitrag vor allem zu Comedians,39 der am Rande auch auf Osbornes Stück eingeht. Auch Pfisters Anmerkungen zur Behandlung des Komischen und der Music Hall im englischen Ge-
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Aspects of Drama and Theatre, Five Kathleen Robinson Lectures Delivered in the University of Sydney 1961-1963, Sydney 1965 (ohne Hrsg.), S. 143-197. John Osborne: The Entertainer, London 1957, Repr. 1974. Trevor Griffiths: Comedians, London 1979. Manfred Pfister "Trevor Griffiths' Comedians. Zur Thematisierung des Komischen und der Music Hall im modernen englischen Drama", in: Heinrich F. Plett (Hrsg.): Englisches Drama von Beckett bis Bond, München 1982, S. 313-332.
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genwartsdrama beschränken sich jedoch auf die beiden populärsten Stücke zu diesem Thema. Der Autor versucht zwar, Aufschlüsse über die Motivation von Osborne und Griffiths bei ihrer Beschäftigung mit der Music Hall zu gewinnen, bezieht sich aber in seinen Ausführungen nur auf diese beiden Dramatiker, ohne weitere Stücke mit Unterhaltungskünstlern als Protagonisten zu erwähnen. Dramatisierte Biographien historischer Entertainer bleiben völlig außerhalb von Pfisters Gesichtsfeld, so daß sein Aufsatz schon vom schmalen Korpus der ausgewählten Stücke her nur sehr bedingt allgemeine Gründe für die Faszination benennen kann, die die Music Hall auf viele englische Dramatiker ausübt. Auf die Problematik, daß Osborne und Griffiths eine gezielt für ein proletarisches Publikum konzipierte Unterhaltungseinrichtung mit den Mitteln eines anderen Mediums vorstellen, geht Pfister gar nicht erst ein. Auch in anderen Veröffentlichungen wurden Music Hall-Stücke von Autoren ohne das internationale Renomm£ eines John Osborne oder Trevor Griffiths bisher so gut wie überhaupt nicht beachtet und nur von der britischen Theaterkritik in sehr kursorischer Form rezipiert. Es erscheint in diesem Zusammenhang als bezeichnend, daß auch eine Bibliographie zur Music Hall,40 die mit dem Anspruch auf Vollständigkeit auftritt und noch die entlegensten kurzen Zeitungsartikel auflistet, sich bei der Nennung von Stücken auf The Entertainer sowie einige wenige Musicals und historische Dramen beschränkt, bei denen das Thema nur am Rande hineinspielt. Zur Behebung dieses Defizits werden für die vorliegende Untersuchung auch Texte hinzugezogen, die nur als Theaterskript zugänglich sind. Um die dürftige Materiallage zu diesen Werken zu verbessern, wurden Gespräche mit den Autoren geführt, aus denen Zitate auch Eingang in die Arbeit finden. Dramen von geringer künstlerischer Qualität, die lediglich in verklärender Manier Performer porträtieren und zur Problematisierung der Unterhaltungsindustrie nur wenig beitragen, werden dagegen nicht ausführlich vorgestellt, sondern nur im Anmerkungsteil kurz kommentiert.41 Obwohl historisches oder von den Autoren selbst verfaßtes fiktives Bühnenmaterial der porträtierten Künstler in die ausgewählten Stücke Eingang findet, kommt es in keinem Fall zu einer reinen Rekonstruktion eines Music Hall-Programms, die nur noch dokumentarischen Wert haben könnte und angesichts des veränderten politischen und sozialen Umfelds weitgehend funktionslos bliebe. Szenen, die "Theater im Thea40 41
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Laurence Senelick, David F. Cheshire, Ulrich Schneider: British Music Hall 18401923. A Bibliography and Guide to Sources with a Supplement on European Music Hall, Hamden/Connecticut 1981. Stücke, die wie Howard Barkers "Fair Slaughter" (London 1978) nur eine einzige Szene mit Bezug zur Music Hall enthalten oder wie Brian J. Burtons melodramatisches Kurzdrama "The Last Laugh" (Droitwich 1982) zwar im Milieu dieser Institution spielen, aber nichts Nennenswertes darüber aussagen, bleiben ganz ausgespart.
ter" bieten, sollen dem heutigen Publikum zwar einen Eindruck der Wirkungsmöglichkeiten der Music Hall geben, ginge es den Dramatikern jedoch vorrangig um eine ähnliche Befriedigung der Unterhaltungsbedürfnisse breiter Publikumsschichten, so müßten sie selbst 'comedy shows' oder Cabaret-Programme für heutige Entertainer schreiben und dabei die Möglichkeiten der Music Hall außerhalb des Theaters weiterentwikkeln. Dadurch, daß die Autoren jedoch, ihre Wiederbeschwörung von Music Hall-Auftritten begleitet von Informationen über das Privatleben der Performer und über Strukturen der Unterhaltungsindustrie vornehmen, kommen Präsentationsweisen ins Spiel, die über die reine Dokumentation hinausgehen und Rückschlüsse auf unterschiedliche Funktionalisierungen des Motivs der Music Hall gestatten. Dabei müssen sich die Dramatiker mit der Tatsache auseinandersetzen, daß diese Unterhaltungseinrichtung durch eine beträchtliche Widersprüchlichkeit charakterisiert war: Politisch war sie eindeutig konservativ, militaristisch und nationalistisch ausgerichtet und unterschied sich damit deutlich von den Zielsetzungen der politischen Massenbewegungen ihrer Zeit. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts trat sie beispielsweise in tagespolitischen Songs durchgehend für den konservativen Premierminister Disraeli ein und verlachte die in militärischen Angelegenheiten besonnenere und chauvinistischen Exzessen abgeneigte Politik von dessen liberalem Gegenspieler Gladstone. Dennoch wurde die Music Hall, abgesehen von einigen explizit politischen Liedern, nicht zum konservativen Propagandainstrument. Was für die meisten Zuhörer den Ausschlag gab, waren letztendlich nicht einzelne politische Stellungnahmen, sondern die Unterhaltungsqualitäten des Programms und die Möglichkeit, einen geselligen Abend zu verbringen. Für die Music Hall typische Formen der Komik wiesen dabei trotz der Staatstreue der Institution an sich auch gesellschaftskritische Elemente auf. So wurden Autoritätspersonen grob karikiert und die herrschende Sexualmoral auf der Bühne in Frage gestellt. Diese Dichotomie von reaktionären und anarchischen Inhalten charakterisiert auch diejenigen Lieder, die sich tagespolitischer Äußerungen enthielten und allgemeinere Themen behandelten. Einerseits existieren zahlreiche Songs, die den sozialen Hintergrund des Publikums berücksichtigen, andererseits jedoch - vor allem in der Niedergangsphase - auch genügend rein eskapistische Titel, die sich nicht sonderlich von heutigen Hitparadenschlagern unterscheiden. Bei der Music Hall handelte es sich also um eine Unterhaltungseinrichtung, die die divergentesten Ausdrucksformen und Inhalte unter einem Dach vereinte. Dennoch wird sie immer wieder in unzulässiger Verkürzung gegen spätere Unterhaltungsformen ausgespielt. Ein frühes und charakteristisches Beispiel dieser Art ist T.S. Eliots Nachruf auf Marie Lloyd: 13
With the decay of the music-hall, with the encroachment of the cheap and rapid-breeding cinema, the lower classes will tend to drop into the same state of protoplasm as the bourgeoisie. The working man who went to the music-hall and saw Marie Lloyd and joined in the chorus was himself performing part of the act; he was engaged in that collaboration of the audience with the artist which is necessary in all art and most obviously in dramatic art. He will now go to the cinema, where his mind is lulled by continuous senseless music and continuous action too rapid for the brain to act upon, and will receive, without giving, in that same listless apathy with which the middle und upper classes regard any entertainment of the nature of art. He will also have lost some of his interest in life.42 Raymond Williams betont demgegenüber zu Recht die inhaltliche Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Programme: It is common to make a sentimental valuation of the music-halls as expressing the spirit of 'Old England' (which is nonsense in that what they expressed was not old), or as signs of great cultural vitality. In fact the music-hall was a very mixed institution and there is a direct line from the chaos of the eighteenth-century theatre through the music-halls to the mass of material now on television and in the cinemas, which it is stupid to overlook. To complain of contemporary work of these kinds - from striptease shows to 'pop' singers and to use the music-hall as an example of contrasting vitality or health, is to ignore the clear evidence that it was the illegitimate theatres and the music-halls which established these kinds of entertainment. If you don't like it in one century you can't reasonably like it in another [...].43 Auch eine Darstellung der Music Hall als oppositioneller Kraft gegen das viktorianische Establishment oder als Träger proletarisch-revolutionärer Volkskunst widerspricht den historischen Fakten, obwohl sie sich mit einigen ihrer herausragenden Vertreter durchaus, etwa was Lebensfreude und Vitalität anbetraf, wohltuend von der offiziellen Prüderie viktorianischer Moralvorstellungen unterschied. Dieses Nebeneinander von für heutige Dramatiker attraktiven und eher problematischen Zügen erschwert die Verwendung der Music Hall als Modell für heutige Formen der Massenunterhaltung. Die Anziehungskraft auf ein breites Publikum war zweifellos vorhanden, die Mittel, mit denen sie erzielt wurde, gelten 42 43
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T.S. Eliot: "Marie Lloyd", in: Selected Essays, London 1932, Repr. 1951, S. 456-459, hier S. 458f. Raymond Williams: The Long Revolution, S. 265.
für die meisten der Autoren, die sich heute mit der Music Hall beschäftigen, jedoch des öfteren als suspekt. Von englischen Dramatikern wird die Music Hall in verschiedenem Sinne funktionalisiert: als Prototyp einer populären proletarischen Unterhaltungsinstitution, die sowohl nostalgisch verklärt, als auch für Aussagen über heutige Unterhaltung und ihr Publikum verwendet wird, als Symbol für den Zustand Englands im allgemeinen und als Medium der individuellen Selbstverwirklichung von Performern. Die verschiedenen Ausprägungen dieser Funktionalisierung werden im folgenden untersucht, und es wird dabei der Versuch unternommen, eine differenziertere Sicht auf die Geschichte und die charakteristischen Züge der Music Hall zu geben, als dies in einem einzelnen Theaterstück möglich ist. Die Auseinandersetzimg britischer Theaterautoren mit der Institution Music Hall und ihrer Geschichte läßt sich unter drei thematische Schwerpunkte ordnen: Eine Möglichkeit besteht darin, daß Dramatiker, die gleichzeitig dem Unterhaltungsbedürfnis des Publikums entgegenkommen, die Tradition der sinnlichen Erfahrbarkeit bestimmter Unterhaltungsformen auch praktisch auf ihre Tauglichkeit heute überprüfen. Dabei schaffen sie eine kritische Distanz gegenüber den Mechanismen des Unterhaltungsgeschäfts. Am deutlichsten erscheint diese Intention bei einem Autor wie Trevor Griffiths, dessen Drama Comedians Komikformen, die auf eine Veränderung des Bewußtseins der Zuhörer abzielen, mit solchen konfrontiert, die lediglich an verbreitete Vorurteile appellieren. Mit dieser Gegenüberstellung fordert Griffiths das Publikum auf, sich über die eigene Rezeption von Komik klarer zu werden. Gleichzeitig thematisiert er allgemeine Charakteristika der Unterhaltung, ohne diese allerdings begrifflich in einen theoretischen Diskurs zu überführen. Die Erstellung einer umfassenden Komiktheorie ist daher für das Verständnis von Griffiths' Stück irrelevant und wird deshalb auch in der vorliegenden Arbeit nicht angestrebt. Philosophische oder psychologische Untersuchungen aus diesem Bereich werden für die Analyse nur hinzugezogen, sofern sie von Relevanz für die ausgewählten Stücke sind, wie im Falle von Comedians etwa die Überlegungen Freuds und Reiks über die subversive und befreiende Wirkung von Witzen. Die zweite Form der Auseinandersetzimg mit der Music Hall im englischen Gegenwartsdrama unternimmt ihre Historisierung. Heutige Dramatiker versuchen sich mittels einer theatralischen Form der Spurensicherung an der Erinnerung an eine ansonsten verschüttete Vergangenheit. Dies führt zu biographisch angelegten Stücken, die sich mit der Lebensgeschichte von Unterhaltungskünstlern beschäftigen, die in der Bevölkerung zum Teil noch immer einen legendenumwobenen Ruf haben. Die Autoren verwenden dabei in der Regel Sketche und Lieder aus
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tatsächlichen Auftritten ihrer Figuren, wodurch die Dramen teilweise dokumentarischen Charakter erhalten. Daniel Farson porträtiert mit Marie Lloyd die berühmteste Music Hall-Sängerin der Zeit vor dem ersten Weltkrieg.44 Die Hauptfigur von Tony Staveacres Fred Karno's Army45 ist ein Impresario, der zwar weitgehend in Vergessenheit geriet, wobei aber frühere Mitglieder seiner Truppe, wie Charlie Chaplin, Stan Laurel oder Max Miller, zu Stars des Showbusiness avancierten. Einem heutigen britischen Publikum zumindest noch durch Wiederholungen ihrer Filme gegenwärtig sind Arthur Lucan und Kitty McShane, zwei Variety-Entertainer, die ihre größten Erfolge zwischen 1930 und 1950 feierten und die Alan Plater als Protagonisten seines Stücks On Your Way, RileyΖ46 wählte. Eine regelrechte Renaissance mit zahlreichen Sendeterminen der BBC erlebte dagegen Mitte der achtziger Jahre Tony Hancock, der zum Teil noch immer als "Britain's greatest comedian"47 betrachtet wird, obwohl seine Blütezeit als Fernsehkomiker bis in die fünfziger Jahre zurückdatiert. Hancock beging 1968 Selbstmord, und Heathcote Williams stellt in seinem Stück Hancock's Last Half Hour4* Überlegungen darüber an, wie sich der Performer unmittelbar vor seinem Freitod verhalten haben könnte. Im Zusammenhang mit der Analyse dieser vier dramatischen Biographien wird gleichzeitig ein Abriß über die Geschichte der Music Hall gegeben. Obwohl die klassische Music Hall in den fünfziger Jahren nach der Schließung der letzten Halls zu existieren aufhörte, werden auch spätere Unterhaltungsformen in anderen Medien, wie Hancocks Fernsehkomik, für die vorliegende Untersuchung berücksichtigt, da sie formal nach wie vor in der Music Hall-Tradition stehen. Das gilt auch für die letzte Gruppe von Stücken, die den Zeitraum bis in die Gegenwart mit ihren 'cabaret clubs' und den Veranstaltungsorten der 'alternative comedy scene' abdeckt. Diese dritte Ausprägung der Rezeption ist gekennzeichnet durch die Aufarbeitung der Music Hall-Tradition anhand einer modernen Theateraufführung, die Music Hall-Nummern auf die Bühne bringt, aber in Persönlichkeitsentwürfe einbettet. Zeitgenössischen Bühnenfiguren wird in diesem Falle eine historische Dimension verliehen, da die Tradition der Music Hall bei Auftritten heutiger Komiker jeweils mitzudenken 44 45 46 47
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Daniel Farson: Marie, unveröffentlichtes Theaterskript, The Man in the Moon Theatre, London 1985. Tony Staveacre: Fred Karno's Army, unveröffentlichtes Theaterskript, The Bristol Old Vic Theatre Royal 1984. Alan Pater: On Your Way, Riley!, unveröffentlichtes Theaterskript, Theatre Royal, Stratford East 1982. Die Londoner Stadtillustrierte Time Out kündigte auf der Titelseite ihrer Ausgabe für die Woche vom 20.-26. Februar 1986 einen Beitrag über Hancock mit den Worten "Why this man is still Britain's greatest comedian" an. Heathcote Williams: Hancock's Last Half Hour, London 1977.
ist. Dokumentarische Genauigkeit ist dabei jedoch weniger wichtig als bei den dramatischen Biographien. Da keine Rücksicht auf überlieferte Tatsachen zu bestimmten Entertainern genommen werden muß, besteht eine größere künstlerische Gestaltungsfreiheit, was nicht nur für die Darstellung der Figuren, sondern auch für die Präsentation der Music Hall an sich gilt. Diese gewinnt noch stärker symbolhaften Charakter als in den Werken der zweiten Stückgruppe. Anhand ihres Niedergangs kann dadurch beispielsweise auch auf parallel laufende gesellschaftliche Entwicklungen verwiesen werden. Das früheste Werk, das sich dieser dramaturgischen Methode bedient, ist John Osbornes The Entertainer aus dem Jahre 1957. Fünfundzwanzig Jahre später knüpft Catherine Hayes mit Not Waving49 an Osborne an, indem sie gleichfalls eine Hauptfigur auftreten läßt, die gegen die Zeichen der Zeit eine überkommene Bühnenpersona zu konservieren versucht. Hayes' Jill Jeffers stehen keine Music Halls mehr zur Verfügung, sondern nur noch kleinere Klubs, in denen auch die vier Entertainer auftreten könnten, deren Alltags- und Bühnenleben Les Blair in Four in α Million50 porträtiert. Während Blairs Figuren sich hauptsächlich an gängigen amerikanischen Vorbildern orientieren, thematisiert Terry Johnson in Unsuitable for Adults51 eine jüngere britische Variante des Unterhaltungsgeschäfts, die 'alternative comedy scene'. Von besonderem Interesse für die Autoren der vier ausgewählten Persönlichkeitsdramen ist das Verhältnis zwischen den porträtierten Performern und ihrer Bühnenrolle,52 dessen Aufdecken eine kritische Distanz zum Geschäft mit der Unterhaltung herstellt und gleichzeitig die Identifikation mit der Figur ermöglicht. Zwischen einem Darsteller im Sprechtheater und einem Komiker besteht ein grundlegender Unter49 50 51 52
Catherine Hayes: Not Waving, London 1984. Les Blair: Four in a Million, unveröffentlichtes Theaterskript, Royal Court Theatre, London 1981. Terry Johnson: Unsuitable for Adults, London 1986. Terminologische Schwierigkeiten ergeben sich in der vorliegenden Arbeit bei der begrifflichen Differenzierung zwischen historischen oder fiktiven Entertainern sowie deren Bühnenpersona, die wiederum beide im Theater von einem Schauspieler vorgeführt werden. Wenn in dieser Untersuchung von historischen Performern gesprochen wird, so handelt es sich um Künstler, die uns aus Biographien und Gesamtdarstellungen zur Music Hall bekannt sind. Unter Bühnenpersona wird der jeweilige Rollentypus verstanden, den ein historischer oder fiktiver Entertainer auf der Bühne verkörpert, wie Arthur Lucans alte Wäscherin Old Mother Riley' oder Archie Rices 'Gentleman-Conferencier'. Um Verwechslungen zwischen den realen Personen und den Protagonisten der Stücke zu vermeiden und aufzuzeigen, welchen Präsentationsmodus die Autoren für ihre Figuren wählen, wird bei den dramatischen Biographien die Darstellung der Lebensumstände von Komikern strikt von ihrer Gestaltung durch die Dramatiker getrennt. Noch komplexere Zusammenhänge sind bei den Persönlichkeitsdramen zu beachten, in denen fiktive Entertainer Stars aus der Unterhaltungsbranche als Kollegen reklamieren. Um allzu unbeholfene lexikalische Konstruktionen zu vermeiden, wird jedoch dieser Unterschied nicht in jedem Fall gesondert betont, zumal er in der Regel aus dem Zusammenhang hervorgeht.
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schied. Ein Schauspieler gestaltet im Lauf seiner Karriere eine Vielzahl von Rollen, die er jeweils von Grund auf neu erarbeiten muß. Dabei gibt es Akteure, die sich chamäleonartig zu verwandeln wissen, wie Laurence Olivier, und solche, die lediglich einen fest umrissenen Typus variieren. John Gielgud etwa ist ein Darsteller, der auf diese Art in den verschiedensten Rollen immer er selbst blieb. Der Music Hall-Komiker entwikkelt eine Bühnenpersönlichkeit, die nichts mit der Privatperson zu tun zu haben braucht, und bleibt bei Auftritten oft sein ganzes Leben lang dieser persona treu, da das Publikum Abweichungen von einem einmal liebgewonnenen Rollenklischee nur ungern akzeptiert. Die Differenz zwischen Bühnenpersona und realer Persönlichkeit ist ein offensichtlicher Grund für die Beliebtheit von Figuren wie Archie Rice oder Jill Jeffers bei Dramatikern, Schauspielern und dem Publikum, für die sie wegen ihrer Mehrschichtigkeit eine Herausforderung darstellen. Der Komiker als Bühnenrolle bietet in dieser Hinsicht ein noch dankbareres Objekt als Charaktere, die sich nur verstellen, um bestimmte Zwecke zu erreichen, wie Jago oder Richard III. Der Analyse der Darstellung von Entertainern aus der Music HallTradition durch britische Dramatiker wird zum Abschluß dieser Untersuchung mit Neil Simons The Sunshine Boys ein amerikanisches Beispiel für die Präsentation von Unterhaltungsstars im Gegenwartsdrama gegenübergestellt. Anhand dieses Vergleichs werden Charakteristika der Verwendung des Music Hall-Motivs durch englische Stückeschreiber zusammengefaßt und Gründe für die anhaltende Attraktivität einer vor über 130 Jahren entstandenen Unterhaltungsinstitution als Gegenstand der theatralischen Aufarbeitung benannt. Über die Gestaltung von Aspekten der Music Hall-Geschichte hinaus dienen die Dramen ihren Autoren auch zur Reflexion pro domo, zur Frage nach der Funktion der modernen Unterhaltungsindustrie, zu der auch das Theater gehört. Dieser inhaltliche Bezug zur Problematik zeitgenössischer Unterhaltungsinstitutionen soll in den folgenden Kapiteln genauso erhellt werden wie das formale Problem der Aufarbeitung einer Form von Entertainment wie der Music Hall mit den Mitteln des zeitgenössischen Theaters. Am Anfang dieser Untersuchimg steht Trevor Griffiths' Stück Comedians, da es Positionen zwischen Anpassung und Widerstand in bezug auf Publikumserwartungen und das gesellschaftliche Umfeld, auf das Komik trifft, absteckt, die sich in der Geschichte der Music Hall von Beginn an bis zu ihrem heutigen Weiterleben in 'comedy clubs' immer wieder gegenüberstanden.
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Neil Simon: The Sunshine Boys, New York 1973.
I.
Trevor Griffiths' Thesendrama: Comedians
Trevor Griffiths thematisiert in seinem Stück Comedians einen Abendkurs für angehende Unterhaltungskünstler. Anhand dieser Ausgangssituation fragt er nach der Nutzbarkeit der Music-Hall-Tradition für eine sich als aufklärerisch verstehende Komik. Der Autor, der zu den führenden Vertretern der "zweiten Welle"1 zeitgenössischer britischer Dramatiker gehört, stellt eine rein affirmative, eine liberal-aufklärerische sowie eine von radikaler Verweigerungshaltung geprägte Position nebeneinander. Sammy Samuels und George McBrain sind die beiden einzigen Absolventen des in Manchester abgehaltenen Komiker-Kurses, die Verträge des Londoner Talentsuchers und Repräsentanten der Entertainer-Vereinigung 'CA.M.F.', Bert Challenor, erhalten. Entsprechend dessen Ansichten von den Aufgaben eines Unterhaltungskünstlers liegt ihren Auftritten eine Art von Komik zugrunde, die sich darauf beschränkt, an im Publikum verbreitete Vorurteilsstrukturen zu appellieren. Challenors Antagonist ist Eddie Waters, ein alter Entertainer und Leiter des Kurses, der verlangt, ein Komiker müsse mit seiner Kunst gerade gegen Vorurteile angehen, indem er sie den Zuschauern bewußt werden läßt. Mick Connor und Ged Murray, zwei Schüler, die Waters' Anweisungen folgen, werden von Challenor abgelehnt, obwohl sie auch nicht talentloser sind als ihre opportunistischen Kollegen. Der begabteste der Kursteilnehmer schließlich, Gethin Price, ein junger Lastwagenfahrer, mißachtet bei seinem Auftritt sowohl die von Waters als auch die von Challenor vorgegebenen Spielregeln und stellt damit den Eskapismus des 'CA.M.F.'-Vertreters genauso in Frage wie die Wirkungsmöglichkeiten der vorsichtig-aufklärerischen Tendenz seines Lehrers. 7
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Die Bezeichnung "zweite Welle" ist durch den Titel von John Russell Taylors Untersuchung "The Second Wave. British Drama for the Seventies" (London 1971) zu einem häufig verwendeten Topos geworden. Ihr werden hauptsächlich linksorientierte Autoren wie Griffiths, Howard Brenton, David Hare und David Edgar zugerechnet. Zur "ersten Welle" zählten Ende der fünfziger Jahre vor allem John Osborne, Arnold Wesker und John Arden. Zum Phänomen des Eskapismus in der Literatur vgl. D.W. Harding: "Psychologische Prozesse beim Lesen flktionaler Texte", in: Hartmut Heuermann, Peter Hühn und Brigitte Röttger (Hrsg.): Literarische Rezeption. Beiträge zur Theorie des TextLeser-Verhältnisses und seiner empirischen Erforschung, Paderborn 1975, S. 72-88, hier S. 84. Die Thesen Hardings lassen sich auch auf die Rezeption von affirmativer Komik im Sinne Challenors übertragen.
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Den Anstoß zu Trevor Griffiths' Stück gab die populäre TTF-Serie The Comedians. Bei ihren Entertainern sah der Autor ein ungewöhnliches Maß im Haß am Werke, was Angriffe auf gesellschaftliche Minderheiten betraf.3 In seinem Drama läßt er Angehörige betroffener Gruppen selbst als angehende Komiker auftreten: zwei Iren, einen Juden, einen Milchmann, einen 'bower boy\ Eddie Waters fordert seine Schützlinge dazu auf, in den 'acts', die sie im Laufe des Kurses vorbereiten, ihre eigene Situation zu problematisieren und dem Publikum vor Augen zu führen. Der 70jährige Waters, 'the Lancashire Lad', war selbst einmal ein bekannter Komiker, dessen Erfolge jedoch auf den Norden Englands begrenzt blieben. Sein Kollege Challenor unterstellt ihm, nicht ehrgeizig genug gewesen zu sein: "He didn't... want enough", (Comedians, S. 32). Eine Besichtigimg des Konzentrationslagers Buchenwald unmittelbar nach Ende des zweiten Weltkriegs und die Erfahrung, daß ein anderer englischer Komiker am Abend darauf schon wieder einen Witz über einen Juden erzählen konnte,4 führte Waters zu der Auffassimg: "there were no jokes left. Every joke was a little pellet, a... final solution" (S. 64). Diese Erkenntnis traf ihn in seinem Selbstverständnis als Komiker. Obwohl er selbst nicht mehr auftritt,5 bietet er für ein geringes Honorar Abendkurse für den Nachwuchs an. Er propagiert eine didaktische Komik, der freudianisches Gedankengut zugrundeliegt: A real comedian - that's a daring man. He dares to see what his listeners shy away from, fear to express. And what he sees is a sort of truth, about people, about their situation, about what hurts or terrifies them, about what's hard, above all, about what they want. A joke releases the tension, says the unsayable, any joke pretty well. But a true joke, a comedian's joke, has to do more than release tension, it has to liberate the will and the desire, it has to change the situation (S. 20). 3 4
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Trevor Griffiths: "Transforming the Husk of Capitalism", Interview mit Catherine Itzin und Simon Trussler, in: Theatre Quarterly 22/1976, S. 25-46, hier S. 44. In einer für das Liverpool Everyman Theatre 1987 umgeschriebenen feministischen Version, in der Waters sowie die Nachwuchskomiker zu Frauen wurden, war dieser Entertainer Challenor, der Ella Waters auf ihrer Tournee durch das Nachkriegsdeutschland begleitete. Vgl. zur Inszenierung von Kate Rowlands die Kritiken von Charlotte Keatley: "Comedians", in: Financial Times, 2.4.1987; Eric Shorter "The women's turn", in: Daily Telegraph, 31.3.1987; Ian Williams: "Sit-down comics", in: Independent, 30.3.1987 und Irving Wardle: "Comedians", in: The Times, 28.3.1987. Über Waters' Karriere und ihr Ende nach dem Zweiten Weltkrieg werden im Stück keine genauen Informationen gegeben. Es erscheint jedoch als bezeichnend, daß er der Erwartung des Ansagers im Bingo-Klub nicht entspricht und darauf verzichtet, einige Witze zur Auflockerung des Publikums zu erzählen, was auch seinen Schützlingen zugute gekommen wäre.
In Waters' Augen kommt der Komik eine therapeutische Funktion zu, sie offeriert den Zuhörern Lebenshilfe: Most comics feed prejudice and fear and blinkered vision, but the best ones, the best ones ... illuminate them, make them clearer to see, easier to deal with. We've got to make people laugh till they cry. Cry. Till they find their pain and their beauty. Comedy is medicine. Not coloured sweeties to rot their teeth with (Comedians, S. 23). Im Sinne psychoanalytischer Theorien soll das Publikum die eigenen Ängste erkennen und damit umgehen lernen.6 Gleichzeitig wird auf negative soziale Erscheinungen wie Borniertheit und Vorurteile im zwischenmenschlichen Bereich aufmerksam gemacht.7 Personen, die sich derartiger Verhaltensweisen schuldig machen, werden dem Gelächter preisgegeben.8 Als beispielhaft für Waters' Auffassung von Komik kann der Auftritt Mick Connors gelten, der bei seinem vorbereiteten Material bleibt und nicht versucht, es im Bewußtsein der gegenläufigen Erwartungshaltung Challenors zu verändern. Der aus der Republik Irland stammende Connor entwickelt eine Bühnenpersona, die nicht allzuweit von dem Privatmann Connor entfernt ist. Er schildert zum Teil persönlich gemachte Erfahrungen als diskriminierter Ausländer in England. Das ermöglicht ihm Distanz zur eigenen Situation, die dadurch leichter ertragbar wird, und gibt ihm gleichzeitig Gelegenheit, die Aufmerksamkeit des Publikums auf dessen Vorurteile, etwa gegenüber Iren auf Wohnungssuche, zu lenken. Der Zuschauer soll sich selbst in die Lage des Fremden und Neuankömmlings in einem anderen Land versetzen. Um diesen Zweck zu erreichen, nimmt der Komiker es in Kauf, sich als den Gedemütigten und Beschimpften darzustellen, dem die Tür vor der Nase zugeschlagen wird. Eine zweite Angriffsfläche für Connor bietet die Kirche, sowohl in Irland als auch in England. Den irischen Priestern wirft er Trunkenheit und Lüsternheit beim Abnehmen der Beichte sowie finanzielle Vorteilnahme im Amt vor. Ihre englischen Kollegen charakterisiert er gleichfalls als gierig auf intime Details aus dem Privatleben der Gläubigen oder als blasiert und gelangweilt. Connor hat zweifellos recht mit seinen Klagen über die Auswirkungen der restriktiven kirchlichen Vorschriften zur Empfängnisverhütung in Irland, es ist jedoch auch nicht zu übersehen, daß er sich zwar bemüht, Vorurteile gegenüber Einwanderern abzu6 7 8
Vgl. besondere Theodor Reik: Lust und Leid im Witz. Sechs psychoanalytische Studien, Wien 1929, S. 106 und 112f. S. in diesem Zusammenhang Jurij Borew: Über das Komische, Berlin (DDR) 1960, S. 73. S. Henri Bergson: Das Lachen, Meisenheim 1948, S. 75.
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bauen, aber bei seiner Kritik an der Kirche selbst wieder auf stereotype Auffassungen und grobe Verallgemeinerungen zurückgreift. Die Komik seines Auftritts resultiert dabei hauptsächlich aus seiner karikierenden Darstellung einzelner Priester. Eddie Waters ermutigte Connor offensichtlich dazu, sich inhaltlich auf wenige Grundargumente zu beschränken und diese anhand mehrerer Beispiele zu erläutern, wobei um ein Vorurteil in Frage zu stellen, andere in Kauf genommen werden, sofern sie dem eigenen Anliegen dienen. Da Waters selbst keine Demonstration seines Könnens gibt, deutet lediglich Connors 'act' auf die von dem alten Entertainer gewünschte Darstellungsweise hin. Bei den übrigen Teilnehmern des Kurses fällt es schwerer, festzustellen, inwieweit und aus welchen Gründen bestimmte Teile ihres Auftritts von Waters gebilligt wurden. Sammy Samuels beginnt zwar mit vorbereitetem Text, sucht aber bald sein Heil in der Improvisation, um seine Chancen bei Challenor nicht zu beeinträchtigen. Der Anfang seines 'act' enthält derart viele Klischees über das jüdische Milieu, aus dem der angehende Komiker kommt, daß sich lediglich vermuten läßt, Waters habe ihm geraten, zunächst ein Vorurteil zu bedienen, um es anschließend nach und nach zu unterminieren. Der Auftritt der Brüder Phil und Ged Murray wird zum Fiasko, da Phil versucht, es Samuels gleichzutun und mitten in einem einstudierten Sketch auf Challenors Linie einschwenkt, sein Bruder sich jedoch hartnäckig weigert, auf diese Veränderung einzugehen. Aufgefordert, einen rassistischen Witz über einen wegen Vergewaltigung angeklagten Pakistani zu erzählen, fällt Ged kurzentschlossen aus der ihm zugedachten Rolle als Bauchrednerpuppe seines Bruders und veranlaßt diesen, den diskriminierenden Gag selbst vorzubringen. Die fehlende Harmonie des Duos ist allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits so offensichtlich geworden, daß solche Anbiederungsversuche die Zuhörer nur noch peinlich berühren. Daß einige Waters-Schüler den Grundsätzen ihres Lehrers abschwören werden, um sich Challenors Ansichten anzunähern, deutet sich bereits vor der Fahrt in den für die Probeauftritte gebuchten Bingoklub an, als Challenor den Bewerbern einige Ratschläge mit auf den Weg gibt: Don't try to be deep. Keep it simple. I'm not looking for philosophers, I'm looking for comics. I'm looking for someone who sees what the people want and knows how to give it them. It's the people pay the bills, remember, yours, mine ... Mr. Water's. We're servants, that's all. They demand, we supply. Any good comedian can lead an audience by the nose. But only in the direction they're going. And that direction is, quite simply ... escape. We're not missionaries, we're suppliers of laughter (Comedians, S. 33).
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Die 'Comedy Artists and Managers Federation', die Challenor vertritt, wurde mit der Zielsetzung gegründet, Entscheidungsgewalt darüber zu erhalten, wer berechtigt ist, als Komiker aufzutreten und wer nicht. Daß sie eng mit den Veranstaltern zusammenarbeitet, empörte Eddie Waters9 und führte dazu, daß er der Vereinigung nicht beitrat. Ein Monopol der 'CA.M.F.' ließ sich zwar nicht durchsetzen, für Nachwuchskünstler ist es dennoch von Belang, aufgenommen zu werden, da die Organisation die Interessen ihrer Mitglieder vertritt, indem sie ihnen über Agenten in der Frühphase einer Karriere besonders wichtige Auftrittsmöglichkeiten vermittelt. Bert Challenor war, wie sein Gegenspieler Eddie Waters, selbst als Entertainer aktiv, bevor er seine organisatorische Tätigkeit aufnahm. Er trat vor allem im Londoner Raum als 'Cockney Character' auf, ein Rollenfach, zu dem sein Lebensstil mit Übernachtungen in teuren Hotels ("Like the best", Comedians, S. 59) in deutlichem Kontrast steht. Im Gegensatz zu Waters' Insistieren auf inhaltlichen Kategorien ist sein einziges Kriterium der Erfolg beim Publikum, das er gleichzeitig verachtet. Nach der Urteilsverkündung im dritten Akt faßt Griffiths' Bühnenfigur ihr Credo noch einmal prägnant in "four golden rules" zusammen: One. All audiences are thick, collectively, but it's a bad comedian who lets 'em know it. Two. Two laughs are better than one. Always. Three. You don't have to love the people, but the people have to love you. Four. Sell yourself. If you're giving it away, it won't be worth having (S. 58). Ernsthaftigkeit und Predigerton auf der Bühne lehnt Challenor ab. Gefallen findet er hauptsächlich an den abgeschmacktesten Witzen über "the wife, blacks, Irish, women" (S. 56). Entsprechend erhalten diejenigen Komiker, die diese Erwartungshaltung am besten bedienen, auf Anhieb Verträge von ihm, während die übrigen seine Ratschläge berücksichtigen und mit verändertem Material noch einmal vorspielen sollen. Bei den erfolgreichen Kursteilnehmern differenziert Griffiths deutlich zwischen Sammy Samuels und George McBrain. Der Jude Samuels ist die eindeutig am negativsten konzipierte Figur des Stücks. Während bei seinen Mitbewerbern der Sprung ins Entertainment-Geschäft eine beträchtliche Verbesserung ihrer finanziellen Lage im Vergleich zu bisherigen Tätigkeiten wie Bauarbeiter, Milchmann, Versicherungsvertreter, Werftarbeiter und LKW-Fahrer bedeuten würde, ist er von vornherein materiell abgesichert und u.a. selbst Besitzer eines kleinen Klubs, in 9
"They wanted to control entry into the game. I told 'em no comedian (odd, particular emphasis) worth his salt could ever 'federate' with a manager. (Pause, sniff.) And as far as I'm concerned no comedian ever did..." (Comedians, S. 14).
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dem aufzutreten er allerdings als unter seiner Würde bezeichnet. Samuels will ganz nach oben, ins Palladium, mit welchen Mitteln auch immer. Im ersten Akt läßt Griffiths ihn betont arrogant agieren. Auf penetrante Weise versucht Samuels es immer wieder, Gethin Price zu provozieren. Er ist der erste, der sich von Waters lossagt: "Fortunately I've managed to keep my distance" (Comedians, S. 34). Den Umschwung während seines Auftritts leitet er bezeichnenderweise mit einem von George McBrain gestohlenen Witz ein. Danach wendet er sich entschieden von Waters' Absicht ab, ein einzelnes Stereotyp in Frage zu stellen und teilt ganz im Sinne Challenors in reihendem Stil kräftig nach allen Richtungen aus: Die Iren werden als dumm und die Westinder als Menschenfresser diffamiert, Feministen als sexuell unbefriedigt, Schwarze als besonders potent dargestellt.10 Samuels' Bühnenpersona als vulgärer und selbstgefälliger Macho erscheint als nicht allzu verschieden von seinem Auftreten in den Szenen, die im Klassenzimmer spielen. Am Ende sind weder George McBrain noch Phil Murray bereit, mit ihm auch nur noch ein Bier trinken zu gehen, wobei sich McBrain betont aggressiv von Samuels distanziert und die Übereinstimmung zurückweist, die sein Kollege wegen ihres ähnlichen Verhaltens im Bingoklub insinuiert. Der aus Belfast stammende Hafenarbeiter McBrain kündigt bereits im Klassenzimmer nach Challenors Ansprache an: "I'll think of something. Well known you know for my flexibility. In any case (Frank Carson voice) it's the way that I tell 'em" (S. 34). Mit seinem einstudierten Text hält er sich nicht lange auf, als er bemerkt, daß das Publikum auf einleitende Bemerkungen über "this very honest Jew" oder "this very brilliant Irishman" (S. 46) nicht reagiert. Auch er bedient menschenverachtende und anti-irische Vorurteile, auch wenn er nicht wie Samuels hauptsächlich 'one-liners' aneinanderfügt, sondern erne glaubwürdige Bühnenpersona entwirft und die einzelnen Erzählstränge miteinander verbindet. Gleichzeitig erreichen seine Pointen nicht den Grad von Misanthropie wie die von Samuels.11 McBrains mehrfach wiederholtes Motto lautet: "A comic's a comic's a comic" (S. 59). Er würde alles sagen, sofern es Lachen und Applaus stimulierte.12 Bereits im ersten Akt tritt er auf als die Verkörperung eines "comic hunger".13 Er strahlt Selbstvertrauen, Kraft und Temperament aus, versucht Konfliktsituationen zu entschärfen, die durch Samuels' ungerechtfertigte Angriffe auf Price entstanden sind, und ist 10 11 12 13
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Für ein besonders krasses Beispiel für die Schwarzen von englischen Komikern unterstellte außergewöhnliche sexuelle Leistungsfähigkeit s. Harry Secombe: Twice Brightly (London 1974), S. 81. Um Aktionen wie das öffentliche Verbrennen von Büstenhaltern durch Feministinnen zu verspotten, behauptet Samuels etwa, er habe den seiner Frau angezündet, während sie ihn noch trug (s. Comedians, S. 41). John Lahr: "Comedians", in: Plays and Players, 11/1975, S. 30-32, hier. S. 30. Ebd.
sich am Ende völlig darüber im klaren, daß er Waters verraten hat, um eine bessere Arbeit zu finden. Auf Ged Murrays Bemerkung "You knew what to do all right" antwortet er ärgerlich: "So when do I get the thirty pieces of silver? (He bangs the desk with his fist, a harsh, half-self-punishing gesture.) I don't want inquests, I want work" (Comedians, S. 54). Durch McBrains Distanzierung von Samuels räumt Griffiths der Figur noch einen halbwegs würdevollen Abgang ein. Wie aus den vorbereitenden Notizen Trevor Griffiths' zu Comedians hervorgeht,14 war es seine ursprüngliche Absicht, hauptsächlich die Positionen Waters' und Challenors und ihre Auswirkungen auf die Kursteilnehmer zu thematisieren. In einem frühen Stadium der Konzeption sollte das Stück mit der Ankunft des Prüfers enden. Während des Schreibens entdeckte der Autor jedoch "a completely new play"15 und eine dritte Einstellung neben derjenigen des Lehrers und des 'CA.M.F.'Repräsentanten. Vehikel für diese zusätzliche Auffassimg ist Gethin Price, der Lieblingsschüler von Eddie Waters, der sich in der Woche vor dem entscheidenden Auftritt entschlossen hat, vom bisher Erarbeiteten abzugehen und auf der Grundlage eines vom Kursleiter ausgeliehenen Buches etwas völlig Neues zu gestalten. Ihm ist es wichtig, sich auf der Bühne selbst auszudrücken, nichts von Waters Initiiertes und Beeinflußtes vorzustellen: "I just wanted it to be me talking out there. I didn't want to do something we'd worked on [...] I can't paint your pictures (Points to eyes.) These see" (S. 62). Gleichzeitig ist die Unterstellung seiner Mitbewerber unrichtig, Waters habe Price über den Prüfer informiert, damit der junge Komiker sich bereits entsprechend umstellen konnte. Sein 'act' schockiert sowohl das Publikum als auch Challenor, Waters und die übrigen Nachwuchs-Entertainer, mit Ausnahme des gutmütig-toleranten Ged Murray. Nach einer pantomimischen Eröffnung besteht der Auftritt vor allem aus der Konfrontation zwischen dem weißgeschminkten Performer mit Skinhead-Frisur und zwei Schaufensterpuppen, einem jungen, elegant gekleideten Paar, mit dem er in typischem Unterschichtsjargon ins Gespräch zu kommen versucht. Griffiths gestaltet die Szene nach einem Sketch des Schweizer Clowns Grock, 6 in dem dieser als abgerissener Musiker vor der Pariser Oper die Aufmerksamkeit eines Paares in großer Robe erregen möchte, das sich bemüht, ein Taxi herbeizuwinken. Zunächst schenken die beiden ihm keine Beachtung, schließlich gelingt es ihm aber doch, sie zum Lachen zu bringen. Grocks Botschaft lautete: Wie groß die sozialen Unter14 15 16
Der Dank des Verfassers gilt Trevor Griffiths, der ihm diese handschriftlichen, unpaginierten Notizen freundlicherweise zur Verfügung stellte. Die Aufzeichnungen werden im folgenden als "preparatory notes" zitiert. Trevor Griffiths, Interview m. d. Verf., 9.9.1985. Ebd.
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schiede auch immer sein mögen, es besteht die Möglichkeit, sie durch Komik zu überwinden.17 Gethin Price jedoch verhält sich den beiden Puppen gegenüber zunehmend aggressiv, je länger er sie vergeblich zu einer Reaktion zu bewegen versucht. Gegen Ende des Auftritts heftet er der Frau eine Blume mit einer Nadel ans Kleid, auf dem sich danach ein sich schnell vergrößernder Blutfleck abzeichnet. Price bricht in irres Gelächter aus und bemerkt über die männliche Puppe: "I suppose I shoulda just kicked him without looking at him" (Comedians, S. 51), bevor er auf einer Minivioline die ersten Takte der 'Internationale' spielt. Damit verändert der Komiker den versöhnlichen Abschluß der Sketche des Schweizer Clowns zu einer proletarischen Kampfansage an die finanziell besser gestellten Schichten der Bevölkerimg. Wie nicht anders zu erwarten, bezeichnet Challenor Prices Vorstellung als "repulsive" und "aggressively unfunny" (S. 58). Waters gesteht ihm zwar Brillanz in der Ausführung zu, bemängelt aber: "It was ugly. It was drowning in hate" (S. 63). Demgegenüber wirft Price seinem Lehrer vor, dieser habe die Härte, die er früher einmal als Komiker besaß, genauso verloren wie den Kontakt zu seiner sozialen Herkunft: "We're still caged, exploited, prodded and pulled at, milked, fattened, slaughtered, cut up, fed out. We still don't belong to ourselves. Nothing's changed. You've just forgotten, that's all" (S. 63). Den Erklärungsversuch Waters' anhand seiner Erfahrungen beim Besuch des Konzentrationslagers Buchenwald weist Price zurück. Im Gegensatz zu den Juden, die noch im Angesicht des Todes keinen Widerstand geleistet hätten, sagt er von sich: "I stand in no line. I refuse my consent" (S. 66) und setzt seine Hoffnungen auf einen revolutionären Umbruch. Trevor Griffiths sieht seine Arbeitsweise als Dramatiker gekennzeichnet durch "a dialectical take on life: I've always thought in terms of dialogue, or dialectically [...] about opposites, about the possibility of opposites for ideas".19 Über die Gefahr, in Schematismus zu verfallen, ist er sich bewußt und will ihr dadurch gegensteuern, daß er klare Lösungen vermeidet: "I'll probably never complete a play in the formal sense. It has to be open at the end: people have to make choices, because if you're not
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In Variationen dieses Grundmodells demütigte der Clown auf der Bühne stereotype Oberschichtsfiguren, bevor er die Situation ins Lächerliche wendete und somit bereinigte. Prices Vergleich der eigenen Situation im heutigen Großbritannien mit der eines Juden in einem deutschen Konzentrationslager ist insofern problematisch, als es sich um zwei nicht miteinander vergleichbare Ausgangslagen handelt. Trevor Griffiths: 'Transforming the Husk of Capitalism", Interview mit Catherine Itzin und Simon Trussler, in: Theatre Quarterly, 22/1976, S. 32.
making choices, you're not actually living"." Zur Präsentation seiner Bühnenfiguren merkt der Autor an: [SJince my notion of character is not nineteenth century, that's to say my interest in character is not basically psychological but social, sociological and political, I have to find ways both of allowing identifications and establishing critical distances from character in action.21 Im folgenden soll versucht werden zu klären, inwieweit die von Griffiths in Comedians eingeführten drei Grundpositionen auf die Einstellung von historischen Unterhaltungskünstlern zu übertragen sind und inwiefern die auftretenden Figuren differenzierte Charaktere oder lediglich das Sprachrohr für vom Autor gegenübergestellte Haltungen darstellen. Zur Illustration des Komikverständnisses seiner fiktiven Entertainer führt Griffiths in seinem Stück vor allem drei historische Performer als repräsentative Vertreter für verschiedene Arten von Komik ein: Frank Rändle, Grock und Max Bygraves. Über deren Bekanntheitsgrad sagt er: "The first is known only by older people, the second virtually by nobody, the third by practically everyone". Rändle steht für eine Tradition anarchisch-subversiven Entertainments in der englischen Music Hall-Geschichte, die zwar Autoritätsfiguren lächerlich macht, jedoch auf explizite politische Aussagen verzichtet. Im Norden des Landes war er so populär, daß er als 'Emperor of Lancashire' bezeichnet wurde. Seinen als Billigproduktionen hergestellten Filmen gelang es zum Teil, internationale Kinoerfolge wie Vom Winde verweht in Städten wie Manchester oder Birmingham auf die Warteliste zu verbannen. Obwohl Rändle in den dreißiger Jahren einmal kurzzeitig als bestbezahlter Variety-Entertainer Englands die Hauptattraktion im Palladium darstellte, schaffte er im Süden und in London jedoch nie den großen Durchbruch, da seine Auftritte dort als zu derb und vulgär galten. Die größten Triumphe feierte der Komiker während der Urlaubszeit in Badeorten wie Blackpool. Für ein Arbeiterpublikum von zum Teil 3.000 und mehr Zuschauern galt er als "representative for millions and millions of people with no voice in popular culture"23. Griffiths hat Erinnerungen aus der eigenen Jugendzeit an Randle-Auftritte und zeigt sich vor allem von den Publikumsreaktionen nachhaltig beeindruckt, die er 20 21 22 23
Zit. in: John Bull: New British Political Dramatists. Howard Brenton, David Hare, Trevor Griffiths and David Edgar, London 1985, S. 118-150, hier. S. 118. Trevor Griffiths: "Countering Consent: An Interview with John Wyver", in Frank Pike (Hrsg.): Ah! Mischief: The Writer and Television, London 1982, S. 30-40, hier S. 39f. Interview m. d. Verf., 9.9.1985. Ebd.
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von der Geräuschentwicklung her mit dem An- und Abschwellen der Meeresbrandung vergleicht. Die Zuschauer seien keine "silent reverent witnesses" gewesen, sondern "contributors to an explosive entertainment". Die Bühnenshow beschreibt der Autor als "incredibly carefully constructed and yet not mechanical or manipulative but politically completely unselfconscious".24 Dabei kam der Performer mit einem sehr eingeschränkten Repertoire von Standardgags aus und variierte im Laufe seiner Karriere hauptsächlich drei Sketche als "old boatman", "old hiker" und als Hauptfigur in "Grandpa's Birthday", einer Nummer, in der er die für ihn typische "glottal music of gurgling lecherous senility"25 perfektionierte. Aufgrund seiner satirischen Darstellung prätentiöser und autoritärer Verhaltensweisen gilt Rändle für den Dramatiker als Galionsfigur eines "anti-authoritarian, anti-establishment thrust"26 im britischen Entertainment-Geschäft. Gethin Price nennt den Performer als Vorbild, hat alle seine Filme gesehen und geht, trotz seiner sonstigen Kälte und Reserviertheit im Umgang mit den übrigen Figuren des Stücks, sogar so weit, vor Challenor und seinen Mitschülern eine enthusiastische RandleImitation zum besten zu geben. Challenor imponiert ihm zunächst, als er bestätigt, mit dem Starkomiker zusammen aufgetreten zu sein, verliert jedoch später in den Augen Prices jeglichen Respekt, da er George Formby" als den wichtigeren, weil nicht nur im Norden erfolgreichen Künstler bezeichnet: "A man who doesn't rate Frank Rändle, what does he know?" {Comedians, S. 59). Prices zweite Identifikationsfigur ist der Clown Grock, den Auftritte auf Varietebühnen der ganzen Welt des öfteren auch nach England führten. Während der Nachwuchskomiker ansonsten immer wieder betont, er könne auf der Bühne nur seine eigene Sprache sprechen, ist er ohne weiteres bereit, die Grundzüge eines Grock-Auftritts zu übernehmen, da er eine große Verwandtschaft zu dessen Kunst fühlt: "Thing I liked was his ... hardness. Not like Chaplin, all coy and covered in kids. This book said he weren't even funny. He was just very truthful, everything he did" (S. 65). Die Charakterisierung des Clowns als hart und nicht einmal komisch muß in diesem Zusammenhang überraschen, denn der Großteil der Auftritte Grocks war eher geprägt von einer harmlosen Verspieltheit, die ihn besonders bei einem Kinderpublikum beliebt machte, als von subversiver Komik im Stile Frank Randies. Der Clown war be24 25 26 27
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Interview m. d. Verf., 9.9.1985. Jeff Nuttall: King Twist. Α Portrait of Frank Rändle, London 1978, S. 50. Interview m. d. Verf., 9.9.1985. George Formby war der Prototyp des linkischen, aber liebenswürdigen jungen Mannes, der trotz der eigenen Unbeholfenheit letztlich alle kritischen Situationen heil übersteht und am Ende des Films seine Angebetete für sich zu gewinnen vermag. Seine harmlose, glatte und leicht infantile Komik war in ganz England populär.
rühmt für Sketche, in denen er die Tücke eines Objekts überwand, indem es ihm etwa nach zahlreichen vergeblichen Versuchen schließlich doch gelang, einen in die Luft geworfenen Geigenbogen aufzufangen. Oder er spielte auf einem von seinem Stuhl aus mit den Händen zunächst nicht erreichbaren Klavier, das er unter großen Anstrengungen verschoben hatte, anstatt einfach den Stuhl ein wenig näher heranzurücken. Ansatzpunkte, die die Einschätzung Prices rechtfertigen, finden sich allenfalls in den Sketchen Grocks mit Partnern wie Antonet, die auf dem Dualismus von weißem Clown und August beruhten. Renate Jurzik unterscheidet zwischen der "Maske des August, des lustigen Clowns, der als obszöner Trunkenbold an die trunkenen Silenen, die Gefährten des Weingottes erinnert" und der "weiße[n] Maske des traurigen Clowns, die wie alle weißen Masken - den Tod beschwört".28 Der weiße Clown, von der Bühne in den Zirkus verbannt, dünkt sich stets etwas Besseres als der "dumme August", ist eleganter gekleidet als dieser und seinem Partner sozial überlegen. Der August wiederum ironisiert das prätentiöse Verhalten des weißen Clowns als eine Art "Kind, das gegen die Perfektion rebelliert und seinen Instinkten nachgeht. Gleichzeitig ist er unentbehrlich für den weißen Clown, dessen Stütze, Regressionsfigur. Die Sympathie des Publikums ist stets auf seiten des August".29 Daß Grock in der Rolle des letzteren auftrat, brachte ihm, genau wie seine schrullige Verspieltheit, die Zuneigung der Zuschauer ein. Price jedoch legt auf Sympathiebekundungen auf der Bühne oder aus dem Publikum keinen Wert. Er muß von Anfang an wissen, daß er von den Puppen, die er anspricht, keine Antwort erwarten kann. Griffiths konstatiert: "He cuts off Grock's humanism. You can't have a bigger stereotype than a dressed dummy".30 Dennoch werde das Erblicken der Wunde am Oberkörper der Frau für ihn zu einem "existential moment he hasn't come to terms with yet".31 Was die Charakterisierung Grocks in Comedians angeht, so spricht der Autor von "a necessary distortion in favour of hardness" und hält es für völlig legitim seitens eines Dramatikers, "to appropriate some of Grock's practices of the past for his own purposes". "
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Renate Jurzik: Der Stoff des Lachens. Studien über Komik, Frankfurt/Main und New York 1985. S. 8. Dies.. S. 184. Interview m. d. Verf., 9.9.1985. Ebd. Ebd. Die gesellschaftskritische Komik, die Griffiths bei Grock herausstellt, war von einem Mann, der in seinen Memoiren nicht müde wird, die eigene bürgerliche Biederkeit zu betonen und sich als gerissener Geschäftsmann präsentiert, der die Mechanismen einer Ellbogengesellschaft nicht in Frage stellt, sondern emphatisch gutheißt. nur in eingeschränktem Maße zu erwarten: vgl. Grock (d.i. Adrien Wettach): Life's a Lark. London 1931.
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Der dritte "pole of cultural reference"33 in Griffiths' Stück ist Max Bygraves,34 dessen Kirnst für Challenor als das Nonplusultra zeitgenössischen britischen Entertainments gilt: "Perhaps we can't all be Max Bygraves. But we can try" (Comedians, S. 33). Der Performer gilt als "archetype of Southern blandness".35 Als Cockneyjunge in einer heruntergekommenen Londoner Hafengegend aufgewachsen, verlor er schon zu Beginn seiner Karriere den Kontakt zu seiner Herkunft. Nachdem er anfangs noch "cheeky and insolent"36 aufgetreten war, kultivierte Bygraves bald das Image des netten bürgerlichen Jungen von nebenan, das er bis ans Ende seiner Karriere beibehalten konnte, da sein Gesicht auch in fortgeschrittenem Alter erstaunlich jugendhafte Züge bewahrte. Seine größten Erfolge erzielte er mit Songs wie "Tulips from Amsterdam", sentimentalen Nummern im Stile von "You Need Hands" sowie Kinderliedern, die auch an das Gemüt von erwachsenen Zuhörern appellierten: His songs for children conjured up a crazy but reassuring nurseryrhyme world where pink and blue toothbrushes talk and fall in love; where lovely lasses and handsome lads live happily ever after in places with exotic names like 'Gilly-Gilly-Ossenfeffer-KatzenellenBogen-by-the-sea'; where life's biggest disappointment is to finish a lollipop and find that all you have left is the stick, as useless as a yoyo without any string 37 Wenn Bygraves auf der Bühne gelegentlich sentimentale Lieder leicht ironisierte, so stets ohne die Gefühle seiner Zuhörer zu verletzen. Auch inhaltlich stimmten seine satirischen Anspielungen mit gängigen moralischen Klischees überein, etwa wenn er zu Frank Marcus' Lesbenstück The Killing of Sister George gespielt naiv anmerkte: This 'George' is a woman she lives with a girl Explain that to me if you please There were no sub-titles - 1 got in a whirl I don't understand Lebanese.
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Trevor Griffiths, Interview m. d. Verf., 9.9.1985. Griffiths verzichtet darauf, auch Formby zu nennen, da dieser für ihn lediglich eine weniger smarte Variante zu Bygraves darstellt. Robert Cushman: "The comedians and their critic", in: The Observer, 23.2.1975. Trevor Griffiths, Interview m. d. Verf., 9.9.1985. John Fisher: Funny Way to Be A Hero, London 1970, S. 255. Zit. in: Max Bygraves: I Wanna Tell You a Story. An autobiography, London 1976, S. 164.
Verantwortlich für die große Popularität Bygraves' waren seine sparsam dosierten Fernsehauftritte, 39 während er Live-Shows regelrecht scheute, vor allem in Klubs, was er in seiner Autobiographie mit leicht herablassenden Kommentaren über ein zu schnell betrunkenes Publikum begründet, das in alkoholisiertem Zustand nicht in der Lage sei, sein differenziertes Bühnenmaterial genügend zu würdigen.40 Bei Gastspielen in großen Häusern hatte er jedoch nur selten Probleme, seine Zuhörer mitzureißen und konnte sich selbst Bemerkungen über den eigenen Lebensstandard leisten, die weniger beliebten Künstlern leicht übelgenommen worden wären: I don't mean to be big about this, but at thirty-five I had a house in London, a house in the country, three of the loveliest kids, an adorable wife. I had a few quid in the bank, all my tax was paid up to date, and I was riding around in a Rolls Royce. But do you think I was happy? Do you? You're bloody right I was!41 Bygraves, der sich mittlerweile fast völlig aus dem Unterhaltungsgeschäft zurückgezogen hat, übte auf dem Höhepunkt seiner Karriere auch hinter den Kulissen großen Einfluß aus. Als Hauptattraktion einer Show bestimmte er weitgehend die Zusammensetzung des Programms, wobei seine Auswahl selbstverständlich von den eigenen Kriterien, wie gute Unterhaltung auszusehen habe, bestimmt war. Doch nicht nur für Nachwuchsperformer, die sich daran interessiert zeigten, mit ihm zusammen aufzutreten, hatte Bygraves Vorbildfunktion. Aufgrund der gewinnenden Persönlichkeit, die er zu projizieren in der Lage war, galt er über lange Jahre hinweg als die typische Verkörperung des charmanten Entertainers im Abendanzug, obwohl andere Performer bei ihren Songs größere stimmliche Möglichkeiten und für ihr "patter"42 bessere Texte besaßen. Seine Ausnahmestellung wird auch dadurch unterstrichen, daß Bygraves von 1950 an zu insgesamt siebzehn der alljährlich stattfindenden 'Royal Variety Performances' eingeladen wurde,4 deutlich mehr als jeder andere britische Unterhaltungskünstler. Die Übereinstimmung seiner Vorstellung von Komik mit der Challenors ist bis zur, wenn auch bei Bygraves deutlich vorsichtiger ausgedrückten, Herablassung gegenüber dem Publikum offensichtlich. 39 40 41 42 43
Bygraves ging einmal sogar so weit, einen Auftritt aus der Aufzeichnung einer 'Royal Variety Performance' vor der Ausstrahlung herausschneiden zu lassen (s. John Fisher Funny Way to Be a Hero, S. 248f.). Vgl. Max Bygraves: I Wanna Tell You A Story. S. 167f. Zit. in: John Fisher: Funny Way to Be a Hero, S. 251. Unter "patter" versteht man den gesprochenen Teil des Auftritts eines Komikers. Bygraves entwickelte einige Blasiertheit bezüglich seiner Treffen mit Angehörigen des Königshauses; s. I Wanna Tell You Α Story, S. 143.
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Griffiths ordnet also zwei der drei historischen Persönlichkeiten, die er als kulturelle Bezugspunkte für sein Stück bezeichnet, Gethin Price, die dritte Bert Challenor zu. Auffallend ist, daß Eddie Waters ohne entsprechende Zuordnung bleibt, wenn man davon absieht, daß er wie Bygraves, mit dem er ansonsten nichts gemein hat, den Kontakt zu seinen sozialen Wurzeln verloren hat.44 Als Vorbild für die Figur benennt Griffiths einen ihm bekannten anarchistischen und atheistischen Lehrer, der sich durch große Toleranz und Gesprächsbereitschaft auch gegenüber politischen Gegnern ausgezeichnet habe 4 5 Einen mehr äußerlichen Anstoß zur Konzeption der Figur gab die Information von einigen Beteiligten an der Serie The Comedians, daß ein alter Komiker im Hinterzimmer eines Pubs in Manchester Stunden gäbe. Griffiths überraschte dabei der Gegensatz zwischen der Hochachtung der Entertainer für ihren idealistischen Kollegen und ihren eigenen diskriminierenden Auftritten in der Fernsehshow. In seinen ersten Skizzen für das Stück stattet der Autor Waters mit einer Kindheit als Sohn eines "comedian, juggler, coon, magician" aus, als dessen Assistent er zeitweise gearbeitet habe. Dadurch sei er in die Entertainment-Welt hineingewachsen und zeitlebens in ihr tätig gewesen. Griffiths attestiert der Figur "keen sense of his own history, and of the larger movements of world history within which his life has been contained". Andererseits merkt er an: "A talented man, but somewhere not quite 'hard', not leninist enough to press that talent beyond its humanity towards success or perfection". Für ihn ist er ein "Gethin Price gone soft" 47 Von den gewalttätigen Zügen seines Schülers unterscheide er sich durch eine pazifistische Einstellung. Während Price die direkte Aktion suche, sei Waters zu einem Theoretiker geworden, "a kind of unconscious ...] who [...] has lost contact with any comic impulse he had in the Auch im Unterricht fallen Waters' spärliche Versuche, witzig zu sein, äußerst mager aus. Seine Bitte um mehr Ruhe, da es in den anderen Klassenzimmern vielleicht Leute gäbe, die schlafen wollten, gehört zum Standardrepertoire jedes Schullehrers. Auf ähnlichem Niveau bewegt sich eine zweite Ermahnung: "Bloody hell, what is this? We'll do sewing if you like" (Comedians, S. 15). Die einzige Aussage, die den trockenen Humor verrät, den man von einem Komiker erwarten darf, fällt im Zusammenhang mit dem Auftauchen des Pakistanis Patel, der lesen lernen 44 45 46 47 48
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Price wirft Waters vor, er sei nicht mehr "in touch with what made you ... hunger, diphteria. filth, unemployment, penny clubs, means tests, bed bugs, head lice" (Comedians. S. 63). Interview m. d. Verf., 9.9.1985. S. Pat Silburn: "Gambit Interview", in: Gambit. 29/1976, S. 30-36, hier S. 31. Interview m. d. Verf., 9.9.1985. Zit. in: Stephen Dixon: "Joking apart", in: The Guardian, 19.2.1975.
möchte, von einem Bibliotheksangestelken jedoch auf einen Kurs "Reading to Learn [...] a class in literary appreciation for intending students of the Open University" (Comedians, S. 23) verwiesen wurde. Daraufhin bemerkt der alte Entertainer: "[H]e probably had a sense of humour" (S. 24). Peter Ansorge unterstellt, die Tatsache, daß Waters nicht komisch genug sei, deute auf einen Konstruktionsfehler Griffiths' hin,49 übersieht dabei jedoch, daß der Verlust der Fähigkeit, unterhaltsam sein zu können, als bewußtes Charakterisierungsmittel eingesetzt wird. Waters ist zwar noch von den therapeutischen Möglichkeiten der Komik überzeugt, kann diese Auffassung aber nur predigerhaft weitergeben, ohne daß er zu einer praktischen Demonstration fähig wäre. Der ehemalige Komiker behauptet, alles könne zum Thema eines Witzes gemacht werden, es komme lediglich darauf an, wie er erzählt werde. Selbst wenn Ged Murrays Kind mit einer Behinderung auf die Welt gekommen wäre, hätte dies immer noch "a worthy subject for the comic's wit" (S. 30) abgegeben. Ein Entertainer solle nicht über den Schmerz der anderen lachen und über den eigenen in Tränen ausbrechen. Ein historisches Ereignis, das Waters' These allerdings widerspricht, ist der Völkermord der Nazis. Der Altstar bemerkt gegenüber Price, die Übung, im Klassenzimmer an irgendetwas zu denken, wie privat es auch immer sein möge, um es anschließend möglichst unterhaltsam zu erzählen, sei von ihm nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland entwickelt worden. Es läßt sich jedoch vermuten, er selbst habe aufgehört, als Komiker zu arbeiten, weil es ihm nicht gelang, diese Erfahrung auf der Bühne zu verarbeiten. Nach Auschwitz sind für Eddie Waters eigentlich keine Witze mehr möglich, und dennoch unterrichtet er Nachwuchskünstler, damit diejenigen, die auch weiterhin erzählt werden, möglichst von Vorurteilen frei bleiben. In seinem Unterricht vertritt Waters eine moralische Position, die zwei Dinge außer acht läßt: zum einen die Karriereaussichten seiner Schützlinge, zum anderen die Tatsache, daß Komik nicht immer auf die gleichen äußeren Bedingungen trifft. Der Kursleiter sieht sich mit einem pädagogischen Grundproblem konfrontiert, das Griffiths aus seiner Erfahrung als Lehrer heraus 50 sicherlich nicht fremd war: Soll er die Schüler seinem eigenen moralischen Kodex entsprechend erziehen und damit riskieren, daß sie an den Anforderungen der Praxis scheitern oder soll er sie auf eine Weise ausbilden, die den Realitäten eines als zynisch empfundenen Entertainment-Geschäfts Rechnung trägt? Waters entscheidet sich ausschließlich für die erste Möglichkeit. Noch unmittelbar vor den Prüfungsauftritten läßt er sich auf eine Diskussion über McBrains Ausspruch 49 50
Peter Ansorge: "Comedians", in: Plays and Players, 11/1975, S. 23. Griffiths unterrichtete acht Jahre lang in verschiedenen Institutionen und war weitere sieben als "Further Education Officer" für die BBC in Leeds tätig.
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"A comic's a comic's a comic" ein und muß erst von Price darauf hingewiesen werden, daß es vielleicht sinnvoller sei, in dieser Situation konkret zu arbeiten (s. Comedians, S. 14). Er differenziert zwischen "comic art" und "the world of 'entertainment' and slick success" (S. 20). Es sei besser, der persönlichen Verantwortung als Komiker treu zu bleiben, als auf billige Weise Erfolg zu haben. Dabei sieht Waters die eigenen inhaltlichen Kriterien als überzeitlich an, so als bleibe das gesellschaftliche Umfeld, auf das der Komiker trifft, unveränderlich. Daß es Verhältnisse geben kann, in denen seine liberal-aufklärerische Haltung nichts auszurichten vermag, kommt ihm nicht in den Sinn. Er wird seinen Schülern weiterhin die gleichen Maßstäbe zu vermitteln suchen, auch wenn sie aus einem völlig anderen Kulturkreis kommen, wie der Pakistani Patel, den er am Schluß des Stücks einlädt, an seinem nächsten Kurs teilzunehmen.51 Griffiths gesteht der Haltung seiner Figur "great qualities and great virtues" zu, stellt aber gleichzeitig fest: "It is an extremely lonely position but it seems to me also an increasingly irrelevant position".52 Während die Charakterisierimg Eddie Waters' von einigen Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet ist, wie vor allem der für einen Komiklehrer bemerkenswerten Behauptung, eigentlich dürfe man gar keine Witze mehr erzählen, ist Bert Challenor als Figur kompakter konzipiert. Seine Porträtierung wirkt jedoch ähnlich holzschnittartig wie Waters' Bemerkung über ihn: "He's an agents' man. Which means he has power" (S. 13). Er stellt die absolute Gegenfigur zum Leiter des Kurses dar. Waters insistiert einseitig auf inhaltlichen Kriterien, Challenor kennt nur Karrieregesichtspunkte, wertet "by the values of market capitalism and not of liberal idealism". In den vorbereitenden Notizen zu seinem Stück bezeichnet der Autor die Figur als "a cunt, but clever" und beschreibt sie mit den Attributen "cynical [...], talentless, but with a sort of eye".54 In einem Interview kurz vor der Uraufführung betonte er: "[H]is stance is certainly not sent up in the play",55 und er gesteht dem 'C A.M.F.'-Repräsentanten eine Reihe von durchaus plausiblen Argumenten zu. Diese werden aber durch die Vulgarität und das prätentiöse Auftreten des Prüfers deutlich relativiert, auch wenn Griffiths sich karikaturistische Mittel versagt und in seiner Verurteilung der Figur nicht so weit geht wie im Falle von Sammy Samuels.
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Griffiths selbst deutete wahrend einer Diskussionsveranstaltung im Londoner ICA an. "that the liberal tradition (represented by Eddie) is maybe moving into a new area and thereby preventing blacks achieving their own revolution", zit. in einem Artikel Michael Billingtons (ohne Überschrift) in: The Guardian, 20.2.1976. Pat Silburn: "Gambit Interview", S. 32 John Bull: New British Political Dramatists, S. 144. Trevor Griffiths: "preparatory notes". Zit. in: Stephen Dixon: "Joking apart".
Größere Defizite der Konzeption, als sie durch die Undifferenziertheit des Porträts Challenors bedingt werden, zeigen sich allerdings bei der unzureichenden Darstellung der Vereinigung, die der ehemalige Entertainer repräsentiert. Ihre Bedeutung für die Karriere junger Komiker wird zwar behauptet, Näheres zur Organisationsform jedoch nicht mitgeteilt.56 Außer der Zusage, an einen Agenten vermittelt zu werden, erhalten McBrain und Samuels keine weiteren Einblicke in die Arbeitsweise der 'CA.M.F.'. Wie stark deren Monopolstellung tatsächlich ist, bleibt ebenso unklar wie die Aussichten von abgewiesenen Bewerbern, auf eigene Faust Arbeit und Agenten zu suchen. Challenor wird zwar von Waters wegen seiner bereitwilligen Kooperation mit den Impresarios kritisiert, allerdings macht der Autor weder deutlich, welche Leute mit welchen Interessen hinter dem Talentsucher stehen, noch ob dessen sehr dezidierte Äußerungen zum Wesen der Komik von den übrigen Repräsentanten und Mitgliedern der 'CA.M.F.' geteilt werden. Für die Haltung Challenors zum Beruf des Entertainers stellt sich das gleiche Problem wie bei Eddie Waters: sie ist einseitig und läßt in ihrem dogmatischen Anspruch keine Zwischenlösungen zu. Wie Waters bereit ist, für das Festhalten an der reinen Lehre den Erfolg zu opfern, meint Challenor, dieser sei ausschließlich bei sklavischem Bedienen der Erwartungshaltung des Publikums zu erzielen. Waters erweitert die existierende Trennung in E- und U-Kultur um eine gleichartige Aufspaltung des Unterhaltungsgeschäfts in höhere und niedere Komik und gesteht nur der von ihm selbst verfochtenen Ausprägung eine moralische Existenzberechtigung zu; Challenor glaubt an die Unvereinbarkeit der Vermittlung ernsthafter Inhalte mit dem Erfolg bei den Zuhörern. Für beide Auffassungen finden sich in Komikerkreisen schwerlich Entsprechungen. Kaum ein Entertainer dürfte derart von pathetischem Sendungsbewußtsein erfüllt sein wie Waters oder so sehr von Zynismus und Menschenverachtung wie Challenor, obwohl sich Annäherungen an dessen Position noch leichter finden ließen. Griffiths rechtfertigt diese Extreme mit der von ihm angestrebten möglichst deutlichen dialektischen Gegenüberstellung von Meinungen. Es bleibt allerdings offen, ob der Konzeption des Stücks im Falle der Positionen Waters' und Challenors nicht differenziertere Standpunkte zugute gekommen wären, ohne daß diese den gewünschten Gegensatz allzusehr hätten verwischen müssen.57 Ihre übertrieben dezidierten Auffassungen beeinträchtigen auch die Glaubwürdigkeit von Waters und Challenor als Bühnenfiguren. Beide er56 57
Griffiths bemerkt zwar in seinen "preparatory notes": "CAF growing in importance as 'quality-controllers' of comedians in work etc.", nichts dergleichen fand jedoch Eingang in das Stück. Die Gegenüberstellung der Positionen Gramscis und Kabaks in "Occupations" (London 1980) ist demgegenüber weitaus differenzierter gestaltet.
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scheinen mehr als Sprachrohr für einander entgegengesetzte Auffassungen, denn als differenzierte Persönlichkeitsentwürfe. Challenor ist die kohärentere Figur, wird allerdings über die allgemeine Charakterisierung als snobistischer Funktionär hinaus kaum individualisiert. Über seinen Gegenspieler bemerkt ein Kritiker zu Recht: "Waters spouts about comedy with a glibness that no practising comic would ever do".58 Ihm ist nicht einmal wie Challenor ein bestimmter Typus im Unterhaltungsgewerbe zuzuordnen. Griffiths überträgt Gedankengut, das er für repräsentativ für die liberal-aufklärerische Tradition hält, auf einen Entertainer, den er, als Resultat einer dramaturgisch gewagten Vorgeschichte, zum reinen Theoretiker werden ließ.59 Ein wenig mehr Eigenleben als die beiden Entertainment-Veteranen erhalten die Schüler, die deren unterschiedliche theoretische Vorstellungen in die Tat umsetzen. Der soziale Aufstiegswunsch ist mitnichten "as exotic a notion as has been proposed in a long time",60 sondern in der britischen Gesellschaft nach wie vor eine der wenigen Möglichkeiten neben dem Profifußball und der Rockmusik, die auch Angehörigen der Unterschicht die Chance gibt, ans große Geld zu kommen. Griffiths setzt die einzelnen Kursteilnehmer deutlich voneinander ab: Auf der Gewinnerseite stehen mit George McBrain ein trotz einer gehörigen Portion Opportunismus letztendlich doch sympathischer Proletarier und mit Sammy Samuels ein kriecherischer, sozial abgesicherter Selbständiger. Die durchgefallenen Kandidaten umfassen mit Phil Murray einen permanent mißmutigen und erfolglosen Karrieristen, mit Mick Connor einen 58 59
John Lahr: "Comedians", S. 30. Während die bisherigen Darsteller Challenors mit der Rolle kaum Probleme hatten, auch wenn sie aus der zweiten Reihe kamen, scheiterten an Eddie Waters bereits einige erstrangige Akteure. Auffallend ist dabei eine deutliche Tendenz, in Rührseligkeit zu verfallen und die Figur zu sentimentalisieren. Diese Tendenz war besonders bei Jimmy Jewel in der Uraufführung in Nottingham, die anschließend auch im Londoner National Theatre sowie im West End zu sehen war, zu beobachten. Jewel, selbst ein bekannter Komiker, berichtet in seinen Memoiren, daß er und Dave Hill als Gethin Price bei der letzten Vorstellung im West End über weite Strecken des dritten Akts völlig in Tränen aufgelöst spielten. Auffällig sind in diesem Zusammenhang auch inhaltliche Fehlinformationen, wie die Behauptung, Waters erhalte ausgerechnet von Gethin Price eine Pfeife zum Abschied geschenkt und nicht von Ged Murray. Außerdem wurde für dieses Geschenk gerade nicht unter den Schülern gesammelt; s. Jimmy Jewel: Three Times Lucky, London 1982, S. 164. Vergleichbare Rührung befiel auch Heinz Schubert in Zadeks Hamburger Regiearbeit, was Benjamin Henrichs zu dem Kommentar veranlaßte: "Ein Stück, das drei Akte lang vorführt, wie peinigend Witze sein können, demonstriert am Ende (vorsätzlich oder unfreiwillig?), daß auf dem Theater ein guter Mensch oft noch schwerer zu ertragen ist als ein schlechter Witz" ("Weh dem, der lacht!", in: Die Zeit, 2.2.1978). Diese darstellerischen Probleme brachten in den beiden erwähnten Inszenierungen sowie besonders auch bei der Broadway-Produktion Mike Nichols' mit Milo O'Shea eine weitere Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Schüler und Lehrer in Richtung auf Price mit sich.
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Douglas Watt: " Comedians' bitter fun", in: Daily News, 29.11.1976.
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geborenen Verlierer und mit Ged Murray einen naiv-aufrichtigen Komiker, der Talent hat, aber wohl kaum die in diesem Gewerbe nötige Ellbogenmentalität. Abgesehen von der leicht denunziatorischen Darstellung Sammy Samuels' erscheint es zumindest im Hinblick auf die Kursteilnehmer verständlich, wenn ein Kritiker feststellt, Griffiths' "plot [...1 pays its respects as much to people as to the abstractions they embody". Zu behaupten, der Autor wäre "brilliant at writing the play he was less interested in writing - the play about life, rather than the play, running concurrently, about comedy and politics",62 geht jedoch sicherlich zu weit. Zuzustimmen ist Irving Wardles Aussage, "the surrounding social detail rings true",63 und Griffiths bemüht sich in seinen Szenenanweisungen zur Ausstattung um ein Optimum an Detailgenauigkeit.64 Angesichts der genauen Zeichnung des sozialen Hintergrunds der Kursteilnehmer und der theatralischen Qualitäten des Stücks erscheinen auch der Vorwurf der Theorielastigkeit und die Behauptung, Comedians sei für "a university dissertation rather than a theatre" geeignet,65 als ungerechtfertigt. Dennoch wirken Informationen zum Privatleben der Figuren, wie die Krankheit von McBrains Frau, häufig nur aufgesetzt und nicht so sicher funktionalisiert wie Ged Murrays Schilderung von der Geburt seines Kindes (s. Comedians, S. 28f.). Es wäre unredlich, von Griffiths eine genaue psychologische Durchdringung der Figuren etwa im Tschechowschen Sinne66 zu verlangen, die er von vornherein nicht anstrebt und für theaterhistorisch weitgehend überholt hält. Gemessen werden kann er nur an dem Anspruch, "typical characters representative of social, political and historical forces"67 in seinen Stücken einzusetzen. In dieser Hinsicht läßt sich zusammenfassend feststellen, daß die Gruppe der Nachwuchskomiker durchaus als repräsentativ für die unterschiedlichen Motivationen und Fähigkeiten tatsächlicher Aspiranten in diesem Milieu gelten kann. Challenor ist zwar eher eindimensional gezeichnet und seine berufliche Tätigkeit durch zu wenig 61 62 63 64
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Irving Wardle: "Comedians", in: The Times, 25.2.1975. Clive Barnes: "The Weighty Matter of Comedy Gets Wry Treatment in 'Comedians'", in: The New York Times, 29.11.1976. Irving Wardle: "Comedians". Griffiths selbst sieht das Stück als "end of a working mode", die Rhetorik und eine naturalistische Milieuschilderung in den Mittelpunkt stellte und die anschließend von "more imagistic and impressionist work" abgelöst wurde; Interview m. d. Verf., 9.9.1985. John Barber: "Training comics as intellectual art", in: The Daily Telegraph, 25.9.1975. Daß Griffiths zu derartiger Charakterzeichnung durchaus in der Lage ist, bewies er mit seiner Bearbeitung von Tschechows "Der Kirschgarten" (London 1978). Griffiths bezieht sich in diesem Zusammenhang wie auch bei seiner Realismusauffassung auf Georg Lukäcs' "Theorie des Romans"; s. Mike Poole und John Wyver. Powerplays. Trevor Griffiths in Television, London 1984, S. 3.
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Informationen über die 'C A.M.F.' nur umrißhaft vermittelt, jedoch insgesamt glaubwürdiger charakterisiert als Eddie Waters, dessen Argumentationsweise einem liberalen Geschichtslehrer angemessener wäre als einem Komiker mit jahrzehntelanger Berufserfahrung. Die für die Analyse von Comedians wichtigste und interessanteste Figur ist jedoch der Gegenspieler von Challenor und Waters: Gethin Price. Obwohl Price mit Frank Rändle und Grock gleich zwei historische Vorläufer zugeteilt bekommt, unterscheidet sich das Komikverständnis der Figur in zweierlei Hinsicht beträchtlich sowohl von der seiner beiden Vorbilder als auch de facto jedes anderen Entertainers: Price will gar nicht komisch sein, und er legt auf Kontakt zum Publikum während der Vorstellung kernen Wert. Zwar beansprucht er Grock als Prototyp für die Geringschätzung der Zuhörer, übersieht dabei jedoch, daß der Clown die Absicht zu unterhalten nie aus dem Auge verlor und seine Technik auch in den Sketchen, auf denen Prices 'act' basiert, auf der Identifikation des Publikums mit dem Performer beruhte, sei es in der Rolle des August oder als Bettelmusikant. Price aber interessieren die Zuschauer keineswegs, im Gegenteil, er genießt die Ablehnung, Verstörung und Schockwirkung, die sein Auftritt hervorruft: "It was all ice out there tonight. I loved it. I felt... expressed" (Comedians, S. öSf.).68 Ihm kommt es in erster Linie darauf an, seine eigene aufgestaute Aggression auszudrücken, und wenn er inhaltlich überhaupt etwas vermitteln will, dann die Notwendigkeit zu absoluter Härte im Klassenkampf, demonstriert durch sein Verhalten gegenüber den Puppen, die seine Haltung ohnehin nicht in Frage zu stellen vermögen. Das High Society-Pärchen kann schwerlich für die Anwesenden im Bingo-Klub stehen, Zuhörer, die aus ähnlichen Verhältnissen wie Price stammen, potentielle Verbündete also, denen er aber nichts zu offerieren hat als eine Demonstration des eigenen Hasses und Zerstörungswillens, die mehr abschreckend als motivierend für andere wirkt. Prices Auftritt strahlt eine große körperliche Bedrohung aus, und ein Kritiker verglich ihn zu Recht mit den "besten, finstersten Kubrick-Szenen".69 Auch Zuschauer, die sich selbst an die Stelle der Schaufensterpuppen versetzen, können seine Ausführung jedoch entweder als ästhetisch brillant genießen oder sie inhaltlich ablehnen und wie Challenor dem Nachwuchskomiker den Rat geben, erst einmal mit sich selbst klarzukommen, bevor er gedenkt, sich regelmäßig vor Publikum zu produzieren: "If you want to get on, lad, you'd better sort a few problems out first. Get some distance, 68
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Aufschlußreich in dieser Hinsicht ist Prices Veränderung der fünften Zeile von Robert Frosts Gedicht "Fire and Ice" von "But if it [d.h. "die Welt", M.R.] had to perish twice" zu: "But if I had to perish twice"; s. Albert-Rainer Glaap: Das englische Drama seit 1970. Limburg 1979, S. 59. Benjamin Henrichs: "Weh dem, der lacht!".
see what I mean. Don't give us your hang-ups straight. Too hot to handle" (