Textwelt und Theologie des Johannesevangeliums: Gesammelte Studien 9783161590665, 9783161590672, 316159066X

Die Auslegung und das Verständnis des Johannesevangeliums haben in den letzten drei Jahrzehnten einen erheblichen Wandel

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German Pages 661 [674] Year 2021

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung
1. Perspektiven der Johannesforschung
1. Einführung
2. Das Johannesevangelium im frühen Christentum
2.1 Eine religions- bzw. geistesgeschichtliche Sonderstellung des Johannesevangeliums?
2.2 Wider die Isolierung des Corpus Johanneum im Kanon
2.3 Johannes und die Synoptiker
2.4 Das Corpus Johanneum im frühen Christentum
3. Die Textwelt des Johannesevangeliums
3.1 Komplexe Textkohärenz
3.2 Wiederholung, Variation und Amplifikation
3.3 Ironie und Rollenwechsel
3.4 Metaphorik, Symbolik und Ästhetik
3.5 Relekture, réécriture und rekursive Lektüre
3.6 Narration, Jesus-Begegnungen, Character Studies
3.7 Der johanneische Plot
3.8 Verschmelzung der Zeiten und Zeitsouveränität Jesu
3.9 Refraiming und Genre Bending
3.10 Decodierung und Neucodierung am Beispiel des Johannesprologs
4. Zur Theologie des Johannesevangeliums
4.1 Monotheismus, Christologie und reziproke Immanenz
4.2 Pneumatologie und österliche Anamnese
4.3 Schöpfungstheologie und Anthropologie
4.4 Kreuzestheologie und Soteriologie
4.5 Israel- und Schrifttheologie
4.6 Zeitdeutung: Eschatologie und Präexistenz Jesu Christi
4.7 Die philosophische Kompetenz des Johannesevangeliums
4.8 Spiritualität, Mystagogie und Mystik
4.9 Ethik und Ekklesiologie
5. Ergebnisse und Ausblicke
5.1 Das Johannesevangelium im frühen Christentum
5.2 Die Textwelt des Johannesevangeliums
5.3 Zur Theologie des Johannesevangeliums
5.4 Die hohe Kunst des Evangelisten: Einladung zum Glaubensweg
II. Relecture und réécriture
1. „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26). Die Messias-Regel des Täufers als johanneische Sinnlinie – aufgezeigt am Beispiel der relecture der Jüngerberufungen in der Begegnung zwischen Maria von Magdala und Jesus
2. Relecture und réécriture. Neue Paradigmen zu Methode und Inhalt der Johannesauslegung aufgewiesen am Prolog 1,1–18 der ersten Abschiedsrede 13,31–14,31
III. Ekklesiologie, Metaphorik und Ethik
1. Kinder Gottes und Freunde Jesu. Beobachtungen zur johanneischen Ekklesiologie
2. Mündiger Glaube. Zur Architektur und Pragmatik johanneischer Begegnungsgeschichten: Joh 5 und Joh 9
3. Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71. Exegetische Beobachtungen zu ihrem johanneischen Profil
4. „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35). Metaphorik und Eucharistiekatechese in Johannes 6,1–71
5. „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15). Die Diakonie Jesu und die Diakonie der Christen in der johanneischen Fußwaschungserzählung als Konterkarierung römischer Alltagskultur
6. „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevangelium
IV. Christologie
1. „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49). Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium
2. Abschied und neue Gegenwart. Exegetische und theologische Reflexionen zur johanneischen Abschiedsrede 13,31–17,26
3. Das hohepriesterliche Gebet Jesu. Exegetisch-theologische Beobachtungen zu Joh 17,1–26
4. „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30). Zum theologischen Potential und zur hermeneutischen Kompetenz der johanneischen Christologie
V. Immanenz und Mystik
1. „Rabbi, wo wohnst du?“ Zur Theologie der Immanenz-Aussagen im Johannesevangelium
2. Mystik im Johannesevangelium? Reflexionen zu einer umstrittenen Fragestellung
VI. Israel und Schriftheologie
1. Antijudaismus im Johannesevangelium? Ein Gesprächsbeitrag
2. Zwischen Buchstaben und Geist. Impulse der Johannesinterpretation Erik Petersons
3. „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35). Zur Auslegung und Theologie der Schrift Israels im Johannesevangelium
4. „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30). Beobachtungen zum kanonischen Anspruch des Johannesevangeliums
Bibliographie
Nachweise der Erstveröffentlichung
Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl)
Register der Autorinnen und Autoren (in Auswahl)
Sachregister (in Auswahl)
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Textwelt und Theologie des Johannesevangeliums: Gesammelte Studien
 9783161590665, 9783161590672, 316159066X

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor

Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) · Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)

452

Klaus Scholtissek

Textwelt und Theologie des Johannesevangeliums Gesammelte Schriften (1996–2020)

Mohr Siebeck

Klaus Scholtissek, geboren 1962; 1990 Promotion an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; 1999 Habilitation an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg; seit 2009 Vorsitzender der Geschäftsführung der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein, seit 2019 außerplanmäßiger Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. orcid.org/0000-0002-8025-3985

ISBN 978-3-16-159066-5 / eISBN 978-3-16-159067-2 DOI 10.1628/978-3-16-159067-2 ISSN 0512-1604 / eISSN 2568-7476 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­biblio­ graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Margaretha Lorenz Theresa

Vorwort Das Johannesevangelium zieht die akademische Aufmerksamkeit wie keine andere neutestamentliche Schrift auf sich: In den letzten 25 bis 30 Jahren ist eine kaum mehr zu überblickende Fülle an neuen Forschungsbeiträgen erschienen, die den Mainstream der Johannesforschung des 20. Jahrhunderts einer gründlichen und folgenreichen Revision unterziehen. Sicher geglaubte methodische, hermeneutische und theologische Annahmen halten einer vertieften Diskussion ihrer Prämissen und Ergebnisse nicht stand. Die neue Johannesforschung hinterfragt und beansprucht, klassische Positionen der Forschungsgeschichte zu widerlegen. Dabei zielt sie darauf, die komplexe Textwelt des Johannesevangeliums neu wahrzunehmen und differenzierter zu verstehen. So sind die kompositorischen und narrativen Strategien sowie die literarischen Stilmittel des Evangelisten viel zu wenig in den Blick gerückt bzw. weithin unterschätzt worden. Hier sind in der jüngeren Johannesforschung faszinierende methodische und inhaltliche Neuentdeckungen gelungen. Folgerichtig führen diese Neuansätze auch zu neuen Interpretationen der johanneischen Theologie. Diese Neubestimmung der johanneischen Textwelt und Theologie, ihre wesent­ lichen Argumente, ihre Forschungsdiskussionen, methodischen Ansätze und theologischen Schlussfolgerungen führt der neu erstellte Überblick in diesem Sammelband zu „Perspektiven der Johannesforschung“ ausführlich vor Augen. Hier finden sich exemplarische Diskussionen und Textinterpretationen zum gesamten Spektrum der johanneischen Theologie, die über einen noch immer nicht ausgeschöpften Reichtum verfügt. Der Verfasser hat sich an dieser Diskussion seit seiner Habilitationsschrift „In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften“ (HBS 21; Freiburg 2000) in zahlreichen Beiträgen (Forschungsberichten, Aufsätzen, Rezensionen) beteiligt und legt ausgewählte Aufsätze in diesem Band gesammelt neu vor. Neu verfasst wurde ein zweiter Beitrag zur Auslegung der Brotrede und hier insbesondere des johanneischen Verständnisses der Eucharistie in Joh 6 (vgl. den Beitrag III.4 in diesem Band: „Ich bin das Brot des Lebens“ [Joh 6, 35]. Metaphorik und Eucharistiekatechese in Johannes 6,1–71). Mein Dank gilt der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie hat im Jahre 2012 meine Umhabilitation angenommen und meine Ernennung zum außerplanmäßigen Professor durch den Senat und den Präsidenten der Universität im Jahre 2019 unterstützt. Mein besonderer Dank gilt dem Kollegen Karl-Wilhelm Niebuhr, dessen Weitsicht mich maßgeblich unterstützt hat. Ihm und dem Kollegen Manuel Vogel danke ich zudem für den kollegialen

VIII

Vorwort

Austausch im Café NT – ein über die Jahre hinweg hochanregendes Format und Labor für die exegetische Forschung. Ich danke dem Herausgebergremium der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament, stellvertretend für sie dem Hauptherausgeber Jörg Frey, für die Aufnahme des Bandes in diese renommierte Reihe. Die angesprochene Neupositionierung der Johannesforschung ist mit seinem Namen wie mit keinem Zweiten verbunden. Dem Verlag Mohr Siebeck und seinen Mitarbeitenden danke ich für die unbeirrbare Konsequenz, auch diesen Band in höchster Qualität zu gestalten. Mit Energie hat sich Daniel Meyer, Kollege im Café NT in Jena, Verdienste an der Manuskriptreife für die Drucklegung erworben. Ich danke Altbischof Christoph Kähler, der eine Tür geöffnet hat, eine Weichenstellung in Richtung Thüringen. Sodann danke ich vielen Verantwortlichen in den Aufsichtsgremien sowie Führungskräften und Mitarbeitenden des Diakonieverbundes der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein (www.diakonie-wl.de) für Vertrauen, Weitblick, Rückgrat, Leidenschaft und Nüchternheit – stellvertretend nenne ich den Weimarer Superintendenten Henrich Herbst. Möge dieser Band Leserinnen und Leser anregen, sich mit Sinn, Verstand, Herz und Zeit dem Johannesevangelium und seiner Botschaft zu nähern. Weimar, Ostern 2020 

Klaus Scholtissek

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

I. Einführung 1. Perspektiven der Johannesforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Das Johannesevangelium im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 2.1 Eine religions‑ bzw. geistesgeschichtliche Sonderstellung des Johannesevangeliums? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2.2 Wider die Isolierung des Corpus Johanneum im Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2.3 Johannes und die Synoptiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.4 Das Corpus Johanneum im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 3. Die Textwelt des Johannesevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3.1 Komplexe Textkohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3.2 Wiederholung, Variation und Amplifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3.3 Ironie und Rollenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3.4 Metaphorik, Symbolik und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3.5 Relekture, réécriture und rekursive Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.6 Narration, Jesus-Begegnungen, Character Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.7 Der johanneische Plot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3.8 Verschmelzung der Zeiten und Zeitsouveränität Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.9 Refraiming und Genre Bending . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.10 Decodierung und Neucodierung am Beispiel des Johannesprologs . . . . . . . 60 4. Zur Theologie des Johannesevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.1 Monotheismus, Christologie und reziproke Immanenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.2 Pneumatologie und österliche Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.3 Schöpfungstheologie und Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.4 Kreuzestheologie und Soteriologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4.5 Israel‑ und Schrifttheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4.6 Zeitdeutung: Eschatologie und Präexistenz Jesu Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.7 Die philosophische Kompetenz des Johannesevangeliums . . . . . . . . . . . . . . 119 4.8 Spiritualität, Mystagogie und Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.9 Ethik und Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5. Ergebnisse und Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.1 Das Johannesevangelium im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5.2 Die Textwelt des Johannesevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.3 Zur Theologie des Johannesevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 5.4 Die hohe Kunst des Evangelisten: Einladung zum Glaubensweg . . . . . . . . . . 145

X

Inhaltsverzeichnis

II.  Relecture und réécriture 1. „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26). Die Messias-Regel des Täufers als johanneische Sinnlinie – aufgezeigt am Beispiel der relecture der Jüngerberufungen in der Begegnung zwischen Maria von Magdala und Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Relecture und réécriture. Neue Paradigmen zu Methode und Inhalt der Johannesauslegung aufgewiesen am Prolog 1,1–18 und der ersten Abschiedsrede 13,31–14,31 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

III.  Ekklesiologie, Metaphorik und Ethik 1. Kinder Gottes und Freunde Jesu. Beobachtungen zur johanneischen Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2. Mündiger Glaube. Zur Architektur und Pragmatik johanneischer Begegnungsgeschichten: Joh 5 und Joh 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 3. Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71. Exegetische Beobachtungen zu ihrem johanneischen Profil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 4. „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35). Metaphorik und Eucharistiekatechese in Johannes 6,1–71 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 5. „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15). Die Diakonie Jesu und die Diakonie der Christen in der johanneischen Fußwaschungserzählung als Konterkarierung römischer Alltagskultur . . . 303 6. „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

IV. Christologie 1. „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49). Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 2. Abschied und neue Gegenwart. Exegetische und theologische Reflexionen zur johanneischen Abschiedsrede 13,31–17,26 . . . . . . . . . . . . . . 369

Inhaltsverzeichnis

XI

3. Das hohepriesterliche Gebet Jesu. Exegetisch-theologische Beobachtungen zu Joh 17,1–26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 4. „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30). Zum theologischen Potential und zur hermeneutischen Kompetenz der johanneischen Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412

V.  Immanenz und Mystik 1. „Rabbi, wo wohnst du?“ Zur Theologie der Immanenz-Aussagen im Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 2. Mystik im Johannesevangelium? Reflexionen zu einer umstrittenen Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

VI.  Israel und Schrifttheologie 1. Antijudaismus im Johannesevangelium? Ein Gesprächsbeitrag . . . . . . . . . 483 2. Zwischen Buchstaben und Geist. Impulse der Johannesinterpretation Erik Petersons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 3. „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35). Zur Auslegung und Theologie der Schrift Israels im Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 4. „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30). Beobachtungen zum kanonischen Anspruch des Johannesevangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . 554 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Nachweise der Erstveröffentlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 Register der Autorinnen und Autoren (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 Sachregister (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659

I. Einführung

1.  Perspektiven der Johannesforschung 1. Einführung Die folgenden Ausführungen stellen aktuelle Perspektiven der Johannesauslegung1 vor, deren exegetische und theologische Potentiale zunehmend in den Blick rü1  Zur Johannesforschung insgesamt vgl. die Literaturberichte von: J. Beutler, Methoden und Probleme heutiger Johannesforschung (1990), in: Ders., Studien zu den johanneischen Schriften (SBAB 25), Stuttgart 1998, 191–214; J. Frey, Grundfragen der Johannesinterpretation im Spektrum neuerer Gesamtdarstellungen, ThLZ 133 (2008), 743–760; K.  Haldimann / ​H .  Weder, Aus der Literatur zum Johannesevangelium 1985–1994, ThR 67 (2002), 328–348.425–456; 71 (2006), 91–113; U. Schnelle, Perspektiven der Johannesexegese, SNTU 15 (1990), 59–72; Ders., Ein neuer Blick. Tendenzen der gegenwärtigen Johannesforschung, BThZ 16 (1999), 29–40; Ders., Aus der Literatur zum Johannesevangelium 1994–2010, ThR 75 (2010), 265–303; 78 (2013), 462– 504; 82 (2017), 97–162; S. Petersen, Das andere Evangelium. Ein erster Wegweiser durch die Johannesforschung, ZNT 12 (2009), 2–11; J. G. van der Watt, Johannine research in Africa, part 1: An analytical survey; part 2: An annotated bibliography, die Skriflig/In Luce Verbi 49,2 (2015). Vgl. zudem: J. Painter, The Quest for the Messiah. The History, Literature and Theology of the Johannine Community (1991), 2nd rev. and enl. Edition, Edinburgh 1993; M. W. G.  Stibbe, John, Readings: A New Biblical Commentary, Sheffield 1993; R. A.  Culpepper, The Gospel and Letters of John, Nashville 1998; Ders., John. The Son of Zebedee. The Life of a Legend (1994), Minneapolis 2000; J. Frey, Art. „Johannes I. der Evangelist“, DNP 5 (1998), 1056–1058; Ch. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes, ZBK.NT IV/1–2, Zürich 2001; H. W.  Attridge, Art. „Johannesevangelium“, RGG4 4 (2001), 552–562; M. Morgen, Bulletin johannique, RSR 89 (2001), 561–591; R. E.  Brown, An Introduction to the Gospel of John, ABRL, hrsg. v. F. J. Moloney, New York 2003 (vgl. hierzu: F. J.  Moloney, Raymond Brown’s New Introduction to the Gospel of John. A Presentation – and some Questions, CBQ 65 [2003], 1–21); G. Van Belle / ​ J. G. van der Watt / ​P. Maritz (Hgg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel. Essays by the Members of the SNTS Johannine Writings Seminar, BEThL 184, Leuven 2005; J. G.  Van der Watt, An Introduction to the Johannine Gospel and Letters, London / ​New York 2007; P. A.  Anderson, The Riddles in the Fourth Gospel. An Introduction to John, Minneapolis 2011; J.-M. Sevrin, Le Jésus du quatrième évangile, Paris 2011; T. Thatcher / ​C. H. Williams (Hgg.), Engaging with C. H. Dodd on the Gospel of John Sixty Years of Tradition and Interpretation, Cambridge 2013; J. Verheyden / ​G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R. Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and Its Christology (FS G. Van Belle), BEThL 265, Leuven 2014; M. J. J.  Menken, Studies in John’s Gospel and Epistles. Collected Essays, Contributions to Biblical Exegesis and Theology 77, Leuven 2015; J.-M. Sevrin, Le Quatrième Évangile. Recueil d’études, BEThL 281, hrsg. v. G. Van Belle, Leuven 2016; M. Marcheselli, Studi sul evangelo di Giovanni. Testi, temi e contesto storico, Analecta biblica. studia 9, Rom 2016; U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK IV, Leipzig (11998) 5. neubearb. und erw. Auflage 2016; Ders., Einleitung in das Neue Testament, utb 1830, Göttingen 92017, 550–594 (Lit.); F. J.  Moloney, Johannine Studies 1975–2017, WUNT 372, Tübingen 2017; J. Frey, Johannesevangelium, in: J. Schröter (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 137–145; M. Labahn, Ausgewählte Studien zum Johannesevangelium. Selected Studies in the Gospel of John. 1998–2013, Biblical Tools and Studies 28, Leuven 2017; U. Schnelle, Das Johannesevangelium, in: D.-A. Koch u. a. (Hgg.), Der „Kritisch-exegetische Kommentar“ in seiner Geschichte, Göttingen 2018, 146–160; J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies, Oxford 2018; U. C. von Wahlde, John, Gospel of, in: EBR

4

1.  Perspektiven der Johannesforschung

cken und noch keineswegs ausgeschöpft sind. Diese Perspektiven sollen hier in unterschiedlicher Ausführlichkeit angesprochen, skizziert und profiliert werden. Im Hintergrund stehen die in diesem Sammelband publizierten eigenen Aufsätze, die eigene Monographie „In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften“2 mit den dort bezogenen inhaltlichen und methodischen Positionen sowie eigene Forschungsberichte.3 Aktuelle Perspektiven der Johannesforschung entstehen insbesondere durch eine erneuerte methodisch und hermeneutisch aufmerksame Zuwendung zur Textwelt des Johannesevangeliums (vgl. 3.). Die hier gewonnenen Beobachtungen und Erkenntnisse haben Folgen für die theologische Interpretation des vierten Evangeliums (vgl. 4.). Zuvor wird die Frage nach dem Ort des Johannesevangeliums im frühen Christentum reflektiert (vgl. 2.). Dieser Beitrag schließt mit Ergebnissen und Ausblicken (5.1–5.4).

2.  Das Johannesevangelium im frühen Christentum Das Johannesevangelium wurde aufgrund von verschiedenen Beobachtungen am Rand des neutestamentlichen Kanons verortet: Dazu wurden getrennt oder kombiniert soziologische, religionsgeschichtliche, sprachliche oder theologische Argumente angeführt. Diese sich mit den einleitungswissenschaftlichen Fragestellungen wechselseitig beeinflussenden Thesen können mit guten Gründen zurückgewiesen werden  – insbesondere dann, wenn sie zum dominierenden hermeneutischen Schlüssel der Johannesinterpretation aufgebaut werden.4 Diese Sicht ist in den folgenden Ausführungen zu begründen.

14 (2017) 509–551; R. Zimmermann, Breaking New Ground in John, WUNT, hrsg. v. D. T. Roth, Tübingen 2020 (in Vorbereitung). 2 K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000. 3  Vgl. K. Scholtissek, Johannine Studies. Surveying recent research with special regard to German contributions I–II, Currents in Research. Biblical Studies 6 (1998), 227–259; 9 (2001), 277–305; Ders., Neue Wege der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I–II, ThGl 89 (1999), 263–295; 91 (2001), 109–133; Ders., Johannes auslegen I–IV, SNTU 24 (1999), 35–84; 25 (2000), 98–140; 27 (2002), 117–153; 29 (2004), 67–118; Ders., Eine Renaissance des Evangeliums nach Johannes. Aktuelle Perspektiven der exegetischen Forschung, ThRv 97 (2001), 267–288; Ders., The Gospel of John in Recent Research, in: S. McKnight / ​G. R. Osborne (Hgg.), The Face of New Testament Studies. A Survey of recent Research, Grand Rapids 2004, 444–472. 4 Vgl. hierzu die Beiträge in: Th. Söding (Hg.), Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen, QD 203, Freiburg i. Br. 2003 (Lit.). In einleitungswissenschaftlichen Überblicken dominieren oft klassische Sichtweisen auf das Johannesevangelium; vgl. u. a. P. Pilhofer, Das Neue Testament und seine Welt, Tübingen 2010, 393–418; I.  Broer  / ​ U. Weidemann, Einleitung in das Neue Testament. Studienausgabe, 4. völlig überarbeitete und verbesserte Auflage, Würzburg 2016, 193–246; K. Dorn, Basiswissen Bibel. Das Neue Testament, utb 4384, Paderborn 2016, 88–97; K. Bormann, Theologie des Neuen Testaments. Grundlinien und wichtigste Ergebnisse der internationalen Forschung, utb 4838, Tübingen 2017, 325–357.

2.  Das Johannesevangelium im frühen Christentum

5

2.1  Eine religions‑ bzw. geistesgeschichtliche Sonderstellung des Johannesevangeliums? In verschiedenen Untersuchungen sind Einflüsse der christlichen Gnosis (Nag Hammadi, gnostischer Erlösermythos),5 des alexandrinischen Hellenismus, des palästinensischen bzw. hellenistischen Judentums, von Philo von Alexandrien oder aus Qumran angeführt und zur Interpretation des Johannesevangeliums verwendet worden. Für die Zurückweisung des gnostischen Einflusses auf das Johannesevangelium kann exemplarisch auf die Studie von Titus Nagel verwiesen werden, die sich ausführlich der Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert widmet.6 Heute kann die Diskussion zur Rezeptionsgeschichte des Johannesevangeliums auf die fortgeschrittene Edition der Nag-Hammadi-Texte zurückgreifen und auch methodisch differenzierter arbeiten. Im Blick auf die wiederholt postulierte bzw. diskutierte Frage nach gnostischen Zügen im Johannesevangelium votiert Nagel für die Gnostisierbarkeit johanneischer Begriffe und Texte, nicht aber für ihren tatsächlichen gnostischen Charakter. Die Deutung des Joh-Prologs bei Herakleon als Weg des Erlösers „von oben in eine ihm fremde Sphäre des Materiellen“ geschieht faktisch durch ein massives, sinnwidriges Umbiegen des johanneischen Textzeugnisses. Nagel betont: „Letztlich geht es dabei jedoch weniger um das Verstehen der joh. Intention als um die Deutung derselben im Sinne der Rezipienten.“ 7 Auch in den Nag-HammadiSchriften wird oft die bewusst intendierte polemisch formulierte Gegenposition zu den johanneischen Aussagen erkennbar (vgl. Prot 50,14–15; vgl. auch das gnostische Insistieren auf der Verfügbarkeit des Heils entgegen dem eindeutigen Zeugnis von Joh 3,8). Die Analysen von Nagel zeigen auf, dass das Johannesevangelium schon sehr früh und sehr breit in der frühen Kirche bekannt, rezipiert und verankert war: (a) in Kleinasien durch Athenagoras von Athen, Apollinaris von Hierapolis, Melito von Sardes, ActJoh und EpJac im letzten Drittel des 2. Jh., durch EpAp in der Mitte des 2. Jh., durch Ignatius von Antiochien und Papias von Hierapolis ca. 110–120 5  Vgl. weiterführend die Beiträge von A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus. Gnostische Johannesexegese im zweiten Jahrhundert, WUNT 146, Tübingen 2002; Ders., Gnostische Lektüre des Johannesprologs am Beispiel Herakleons, in: G. Kruck (Hg.), Der Johannesprolog, Darmstadt 2009, 107–130. Vgl. auch: A. H. B.  Logan, The Johannine Literature and the Gnostics, in: J. Lieu / ​ M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 171–185 (Lit.). 6 Vgl. T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert. Studien zur vorirenäischen Aneignung und Auslegung des vierten Evangeliums in christlicher und christlichgnostischer Literatur, ABG 2, Leipzig 2000; vgl. Ders, Zur Gnostisierung der johanneischen Tradition. Das „Geheime Evangelium nach Johannes“ (Apokryphon Johannis) als gnostische Zusatzoffenbarung zum vierten Evangelium, in: J. Frey / ​U. Schnelle Kontexte des Johannesevangeliums (Hg.), Das vierte Evangelium in religions‑ und traditionsgeschichtlicher Perspektive, WUNT 175, hg. unter Mitarbeit von J. Schlegel, Tübingen 2004, 675–693; R. Bergmeier, Zwischen Synoptikern und Gnosis – ein viertes Evangelium. Studien zum Johannesevangelium und zur Gnosis, NTOA 108, Göttingen 2015. 7  T. Nagel, Rezeption (s Anm. 6), 488.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

n. Chr.; (b) in Syrien durch Theophilus von Antiochien kurz vor 180 n. Chr., wahrscheinlich auch durch die nicht genau zu datierenden EvPhil und OdSal, eventuell auch durch PapEg 2, wahrscheinlich auch durch Ignatius von Antiochien; (c) in Rom durch Herakleon (160–180 n. Chr.), die ptolemäische Prologexegese (ca. 150–200 n. Chr.), EpFlor, Tatian und Justin (um 150 n. Chr.); (d) in Ägypten durch Herakleon (wenn sein Kommentar dort entstanden sein sollte), durch EpAp, PapEg 2; EpJac, EvVer, p52 (Mitte 2. Jh.). Die Datierung des Johannesevangeliums auf ca. 100–110 n. Chr. und die Abfassung desselben in Kleinasien erhalten von diesen Ergebnissen her wachsende Plausibilität. Im Ergebnis hält Nagel fest: Wenn sich für das Johannesevangelium in der christlich-gnostischen Literatur (im Unterschied zu den nichtgnostischen christlichen Schriften) insgesamt eine erheblich umfangreichere Rezeptionsgeschichte aufweisen lässt, liegt dies nicht an einer potentiellen Affinität des Johannesevangeliums zur Gnosis, sondern daran, dass sich in diesem Schrifttum eine überwiegende Anzahl von Schriften mit auslegender Tendenz findet. Offensichtlich bestand in diesem Traditionsbereich ein starkes Interesse, das Johannesevangelium im eigenen Sinn ‚auszulegen‘ und damit als legitimierende Instanz zu vereinnahmen (oder eben das Johannesevangelium polemisch zurückzuweisen). Aufgrund der heute vorliegenden, erheblich erschlosseneren und damit genaueren Quellenbasis zu den religionsgeschichtlichen Vergleichstexten und ihrer Entstehungszeit (vgl. nur die Umwälzungen in der Qumranforschung) und aufgrund weiterer methodisch gebotener Differenzierungen zum religionsgeschichtlichen Vergleich kann es nicht mehr darum gehen, genealogische Abhängigkeiten bzw. Einflüsse nachzuweisen oder zu bestreiten, sondern darum, „Analogien zu betrachten und nicht vorschnell genealogisch auszuwerten.“8 Dies gilt insbesondere auch für die Versuche, Texte aus Qumran, die – anders als der Substanzdualismus der Gnosis – einen biblisch beeinflussten ethischen Dualismus vertreten, für die Auslegung des Johannesevangeliums heranzuziehen. Nicht Texte aus Qumran, sondern der „von der biblischen Tradition geprägte, jüdisch-palästinensische Hintergrund“9 ist für das Johannesevangelium insgesamt maßgeblich. Der johanneische Dualismus unterscheidet sich erheblich von dem in sich mehrschichtigen dualistischen Denken der Texte aus Qumran: Die dualistischen „Sprach‑ und Denkformen im Corpus Johanneum“10 sind bei Johannes als Funktion der Chris 8 J. Frey,

Auf der Suche nach dem Kontext des vierten Evangeliums. Zur religions‑ und traditionsgeschichtlichen Einordnung (2004), in: Ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften I, WUNT 307, hg. v. J. Schlegel, Tübingen 2013, 45–87, 77.  9  J. Frey, Licht aus den Höhlen? Der ‚johanneische Dualismus‘ und die Texte aus Qumran (2004), in: Ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten (s. Anm. 8), 147–237, 163. 10  Vgl. hierzu ebd. 202–237. Vgl. die weiterführenden Ausführungen zum johanneischen Dualismus von J. Frey, Zu Hintergrund und Funktion des johanneischen Dualismus (2006), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 8), 409–482; Ders., Die johanneische Theologie zwischen ‚Doketismus‘ und ‚Antidoketismus‘, in: J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Erzählung und Briefe im johanneischen Kreis, WUNT II/420, Tübingen 2016, 127–156; Ders., Dualism and the World in the Gospel and Letters of John, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine

2.  Das Johannesevangelium im frühen Christentum

7

tologie, nicht aber der Eschatologie zu verstehen.11 Auch eine vermeintliche Prädestinationslehre im Johannesevangelium lässt sich nicht aus Qumran ableiten. Diese findet sich auch nicht im Johannesevangelium selbst.12 Religionsgeschichtlich ist das Johannesevangelium nicht in Auseinandersetzung mit bzw. Adaption der Gnosis oder des Doketismus zu verorten. Das religions‑ und geistesgeschichtliche Umfeld des Johannesevangeliums ist geprägt von den Heiligen Schriften Israels (Septuaginta), den frühjüdischen Schriften und der hellenistischen Geisteswelt.13 Es ist eine ungerechtfertigte Engführung, das Johannesevangelium monokausal in Abhängigkeit bzw. in Auseinandersetzung mit einem einzigen geschlossenen geistesgeschichtlichen Hintergrund erklären zu wollen.14 Studies (s. Anm. 1), 274–291. Vgl. auch: H. Merklein, Gott und Welt. Eine exemplarische Interpretation von Joh 2,23–3,21; 12,20–36 zur theologischen Bestimmung des johanneischen Dualismus (1996), in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 263–281; T. Onuki, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium. Ein Beitrag zur Frage nach der theologischen und pragmatischen Funktion des johanneischen „Dualismus“, WMANT 56, Neukirchen-Vluyn 1984; R. Kühschelm, Verstockung, Gericht und Heil. Exegetische und bibeltheologische Untersuchung zum sogenannten „Dualismus“ und „Determinismus“ in Joh 12,35–50, BBB 76, Frankfurt 1990. Vgl. weiterführend: Docetism in the Early Church. The Quest for an Elusive Phenomenon, WUNT 402, Tübingen 2018; R. Bieringer, The Passion Narrative in the Gospel of John. A Hotbed of Docetism?, in: Docetism in the Early Church (s. Anm. 10), 113–124. 11  Vgl. J. Frey, Licht (s. Anm. 9), 205; vgl. Ders., Hintergrund (s. Anm. 9), 409–482. 12  Vgl. J. Frey, Licht (s. Anm. 9), 230 f; Ders., Hintergrund (s. Anm. 9), 460–467.480. Die entgegengesetzte Meinung, der Evangelist denke von einem apriorischen kosmologischen und anthropologischen Dualismus, d. h. einer absoluten Prädestination, her, vertritt A. Stimpfle, Blinde sehen. Die Eschatologie im traditionsgeschichtlichen Prozess des Johannesevangeliums, BZNW 57, Berlin 1990. Vgl. zum Thema auch G. Röhser, Prädestination und Verstockung. Untersuchungen zur frühjüdischen, paulinischen und johanneischen Theologie, TANZ 14, Tübingen 1994 (vgl. hierzu die Rezension von J. Frey, in: ThLZ 122 [1997] 147–149). 13  Vgl. hierzu die hilfreiche Dokumentation: U. Schnelle (Hg.), Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Band I/2: Texte zum Johannesevangelium, hg. unter Mitarbeit von M. Labahn / ​M. Lang, Berlin 2001. Es handelt sich um eine vollständige Neubearbeitung des von Johann Jakob Wettstein 1751 und 1752 herausgegebenen Kommentarwerkes zum NT: J. J. Wettstein, Η Καινη Διαθηκη. Novum Testamentum Graecum editionis receptae cum lectionibus variantibus Codicum MSS., Editionum aliarum, Versionum et Patrum nec non commentario pleniore Ex Scriptoribus veteribus Hebraeis, Graecis et Latinis Historiam et vim verborum illustrante opera et studio Joannis Jacobi Wetsteinii, I–II, Amsterdam 1751.1752 (Nachdruck Graz 1962). Zum Neuen Wettstein vgl. auch die Würdigung von H.-J. Klauck, Wettstein, alt und neu. Zur Neuausgabe eines Standardwerks, BZ 41 (1997), 89–95. Vgl. auch G. Seelig, Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart. Studien zur Geschichte und Methode des religionsgeschichtlichen Vergleichs in der neutestamentlichen Wissenschaft, ABG 7, Leipzig 2001, 23–121. Vgl. auch die Ausführungen zum Corpus Hellenisticum (ebd. 122–259) und zur Methodik des religionsgeschichtlichen Vergleichs (ebd. 260–335). Unter Federführung von Karl-Wilhelm Niebuhr u. a. ist die Herausgabe eines weit umfassenderen Corpus Judaeo-Hellenisticum ad Novum Testamentum (= CJHNT) in Vorbereitung. 14  Auch für die johanneische Sprache der Immanenz führt der religionsgeschichtliche Vergleich nicht zu einer unterkomplexen, ‚einfachen‘ Herleitung: Immanenzaussagen in der antiken Religions‑ und Philosophiegeschichte, in der biblischen, jüdischen und frühchristlichen Tradition sind trotz sprachlicher Parallelen in ihrem jeweiligen Kontext zu interpretieren und unterscheiden sich inhaltlich z. T. sehr weitreichend; vgl. den Überblick und das Ergebnis bei K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), 23–130.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

2.2  Wider die Isolierung des Corpus Johanneum im Kanon Die Isolierung des Johannesevangeliums im neutestamentlichen Kanon ist forschungsgeschichtlich überholt und zurückzuweisen.15 Jörg Frey warnt zu Recht vor „vier ‚Torhütern‘, die einen angemessenen Zugang verstellen“16: den Ansätzen bei der Verfasserfrage, bei der Literarkritik, einer religionsgeschichtlichen bzw. religionspolitischen Vorentscheidung und bei einer einengenden Texttheorie. Positiv geht es um eine ideologiefreie Verbindung von literarischen, historischen bzw. zeitgeschichtlichen und theologischen Aussagen: „Es ist vielmehr damit zu rechnen, dass das Johannesevangelium auch eine eigenständige und kreative theologische Leistung darstellt, eine innovative Reflexion über den Weg Jesu von Nazareth, und dass es darin seinen Leserinnen und Lesern in der Sache neu zu denken geben will.“17

Das dezidiert theologische Interesse des vierten Evangelisten darf  – bei aller Priorität18  – nicht vorschnell und unterkomplex gegen die geschichtliche Verankerung der johanneischen Jesusüberlieferung ausgespielt werden.19 Im Sinne des Evangelisten sind es sowohl das konkrete geschichtliche Wirken Jesu in Wort und Tat als auch deren vertiefte Auslegung im Licht des Osterglaubens und des Geistwirkens, die die theologische Reflexion herausfordern, nähren, vorantreiben und rückbinden. Hilfreich und Scheinalternativen überwindend bietet sich hier das Konzept der geistgewirkten Erinnerung (memory) an.20 15  Vgl. den Sammelband: Th. Söding (Hg.), Johannesevangelium  – Mitte oder Rand des Kanons? (s. Anm. 4), hier 258–317: Th. Söding, Die Perspektive des Anderen. Das Johannesevangelium im biblischen Kanon. 16  J. Frey, Wege und Perspektiven der Interpretation des Johannesevangeliums. Überlegungen auf dem Weg zu einem Kommentar, in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 3–41, hier 32 (vgl. auch die engl. Übersetzung des Sammelbandes: Ders., The Glory of the Crucified One. Christology and Theology in the Gospel of John, Waco 2018); Ders., Theology and History in the Fourth Gospel, Tradition and Narration, Waco 2018. 17  Vgl. J. Frey, Wege und Perspektiven (s. Anm. 16), 39. 18 Vgl. J. Frey, Theology and History (s. Anm. 16), 206: „The point of my argument is that in John not history but theology has the priority: …“ (Hervorhebung im Original). 19  Vgl. zur Diskussion: R. T. Fortna / ​T. Thatcher (Hgg.), Jesus in Johannine Tradition, Louisville 2001; M. Labahn, Between Tradition and Literary Art. The Miracle Tradition in the Fourth Gospel (1999), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 291–313; Ders., Literary Sources of the Gospel and Letters of John, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 23–43; F. J.  Moloney, The Fourth Gospel and the Jesus of History, NTS 46 (2000), 42–58; sowie die Sammelbände: P. N. Anderson / ​F. Just/T. Thatcher (Hgg.), John, Jesus, and History, Bd. I: Critical Appraisals of Critical Views, SBL.SS 44, Leiden 2007; Bd. II: Aspects of Historicity in the Fourth Gospel, Early Christianity and Its Literature II, Leiden 2009; John, Jesus, and History, Bd. III: Glimpses of Jesus through the Johannine Lens, Early Christianity and Its Literature 18, Atlanta 2016; P. N.  Anderson, Das „John, Jesus, and History“-Projekt, ZNT 12 (2009), 12–26; Ders., The Fourth Gospel and the Quest for Jesus. Modern Foundations Reconsidered, The Library of New Testament Studies, London 2008; St. E. Porter / ​H. T. Ong (Hgg.), The Origins of John’s Gospel, Johannine Studies 2, Leiden 2016; J. Frey, Theology and History in the Fourth Gospel (s. Anm. 16). 20 Vgl. 4.2 und: J. Zumstein, Mémoire et relecture pascale dans l’évangile selon Jean (1991), in: Ders., Miettes exégétiques, MoBi 25, Genf 1991, 299–316; U. Schnelle, Historische Anschluß-

2.  Das Johannesevangelium im frühen Christentum

9

2.3  Johannes und die Synoptiker Die unbestreitbaren Eigenarten des Johannesevangeliums können anders und plausibler erklärt werden. Das Johannesevangelium steht mitnichten am Rande des neutestamentlichen Kanons.21 So setzt sich in der Forschung verstärkt die Annahme durch, dass das Johannesevangelium mindestens zwei (MkEv und LkEv) der drei synoptischen Evangelien gekannt hat,22 diese jedoch nicht ersetzen fähigkeit. Zum hermeneutischen Horizont von Geschichts‑ und Traditionsbildung, in: J. Frey / ​ U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. Anm. 6), 47–78; J. Frey, The Gospel of John as a Narrative Memory of Jesus, in: S. Butticaz / ​E. Norelli (Hgg.), Memory and Memories in Early Christianity. Proceedings of the International Conference held at the Universities of Geneva and Lausanne (June 2–3, 2016), WUNT 398, Tübingen 2018, 261–284; J. Zumstein, La mémoire créatrice des premiers chrétiens, ebd. 313–325; J. Schröter, Memory and Memories in Early Christianity. The Remembered Jesus as a Test Case, ebd. 79–96. – Vgl. auch U. Poplutz, Erzählen und Erinnern. Narratologische Analyseverfahren im Kontext neutestamentlicher Exegese, ThPQ 166 (2018), 366–373; Th. Söding, Das Vierte Evangelium und die Erinnerung an Jesus, ZThK 140 (2018), 131–148. Vgl. auch die Grundsatzdiskussion in: L. T. Stuckenbruck / ​St. Barton (Hgg.), Memory in the Bible and antiquity. The fifth Durham-Tübingen Resarch Symposium (Durham, September 2004), WUNT 212, Tübingen 2007; Chr. Landmesser / ​R. Zimmermann (Hgg.), Geschichts‑ und literaturwissenschaftliche Beiträge zum Geflecht von Faktizität und Fiktionalität, VWGTh 46, Leipzig 2017; J. Zumstein, Mémoire, histoire et fiction dans la littérature Johannique, NTS 65 (2019), 123–138. – Eve-Marie Becker stellt zu Joh 13 die provokante (und nicht plausible) These auf: „My claim is that, by omitting the narrative about the last supper, the Fourth Gospel manipulates memory. John installs a counter-memory that is particulary oriented against Luke, and he does this in order to present a farewell scene (John 13 and 14–17) and a passion narrative (John 18–20) that both ‚forget‘ the Eucharist and the narrative meaning it obtained in Luke“ (E.-M. Becker, John 13 as Counter-Memory. How the Fourth Gospel Revises Early Christian Historiography, in: K. B. Larsen [Hg.], The Gospel of John as Genre Mosaic, SANt 3, Göttingen 2015, 269–281, hier 275). 21 Vgl. dazu auch: K. B.  Larsen, Archetypes and the Fourth Gospel. Literature and Theology in Conversation London 2018, besonders 197: „In terms of both literature and theology, the FG is a work of some sophistication not easily reducible to sectarian concerns.“ 22   Vgl. u. a.: H. Thyen, Johannes und die Synoptiker (1992), in: Ders., Studien zum Corpus Ioanneum, WUNT 214, Tübingen 2007, 155–181; I. Dunderberg, Johannes und die Synoptiker. Studien zu Joh 1–9, AASF.DHL 69, Helsinki 1994; A. Denaux (Hg.), John and the Synoptics, BEThL 101, Leuven 1992; F. Neirynck, John and the Synoptics 1975–1990, ebd. 3–62; Ders., John and the Synoptics in Recent Commentaries, EThL 74 (1998), 386–397; M. Lang, Johannes und die Synoptiker. Analyse von Joh 18–20 vor markinischem und lukanischem Hintergrund, FRLANT 182, Göttingen 1998; M.  Labahn / ​M .  Lang, Johannes und die Synoptiker. Positionen und Impulse seit 1990 (2004), in: M. Labahn, Studien (s. Anm. 1), 3–78 (Lit); Th. Popp, Grammatik des Geistes. Literarische Kunst und theologische Konzeption in Johannes 3 und 6, ABG 3, Leipzig 2001, 298.434.441; I. D.  MacKay, John’s Relationship with Mark. An Analysis of John 6 in the Light of Mark 6–8, WUNT II/182, Tübingen 2004; M. Lang, Andersheit und Musterwissen. Beobachtungen zum Verhältnis Johannes und die Synoptiker anhand von Johannes 6,1–71, in: J. Verheyden / ​G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R . Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and its Christology (s. Anm. 1), 189–204, hier 203: „Andersheit und Musterwissen als Koordinaten dafür, das intendierte Anderssein aus produktionsästhetischer wie rezeptionsästhetischer Sicht in den Blick zu nehmen, haben verschiedene Strategien des Johannesevangeliums erkennen lassen, dies zu beschreiben: Das Johannesevangelium ist das andere, oder, wie Clemens von Alexandrien es formulierte, das geistliche Evangelium. Die zweite Seite, das Musterwissen, trat entweder in Gestalt der Synoptiker oder aber realhistorischer Hinweise in den Fokus.“; T. Engberg-Pedersen, The Messianic Secret in the Fourth Gospel. On the Fun-

10

1.  Perspektiven der Johannesforschung

will. Jörg Frey plädiert für die johanneische Kenntnis des MkEv und des LkEvs23 – zumal andere, nichtsynoptische Quellenschriften (u. a. Semeiaquelle) jegliche Evidenz verloren haben.24 Dabei ist mit einer „Transformation der Wortüberlieferung“, für die sich der Evangelist auf das Parakletwirken beruft, zu rechnen: damental Importance of Mark for John’s Rewriting of the Story of Jesus, in: J. Høgenhaven / ​ J. T. Nielsen / ​H. Omerzu (Hgg.), Rewriting and Reception in and of the Bible, WUNT 396, Tübingen 2018, 109–123; J. T.  Nielsen, Lukas und Johannes. Szenen einer Beziehung, ebd. 125–162; H. W.  Attridge, John and Other Gospels, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 44–62 (Lit.). Vgl. auch die Kontroverse „Kannte Johannes die Synoptiker?“: Einleitung von M. Vogel in: ZNT 23 (2009), 46; M. Theobald, „Johannes“ im Gespräch – mit wem und worüber?, ebd. 47–53, und H. Thyen, Das Johannesevangelium als literarisches Werk und Buch der Heiligen Schrift, ebd. 54–61. M. Theobald legt ein grundsätzlich anderes Paradigma für die Evangelienentstehung zugrunde: „Von hierher wird man die Evangelien-Produktion als einen internen Verdrängungsprozess deuten, als ein Ringen um die bessere und vollständigere Darstellung des Jesusgeschehens sowie die damit verbundene Interpretationshoheit: Welches Buch bringt das Jesusgeschehen wirklich angemessen zur Sprache? Matthäus und Lukas sind je für sich von einer solchen Überbietung des Markus her zu begreifen. Die Frage ist, ob man auch den Vierten Evangelisten in diesen literarischen Verdrängungsprozess mit einbeziehen kann – jetzt möglicherweise sogar angesichts von drei schon vorliegenden Büchern?“ (Ders., „Johannes“ im Gespräch [s. o.], 4). „Warum sollte das Vierte Evangelium also nicht zeitgleich mit dem Lukas‑ oder Matthäusevangelium entstanden sein, was möglich und denkbar ist, seitdem die Forschung auch den Synagogenausschluss der johanneischen Christen vom späteren Jamnia-Prozess und der Neugestaltung der birkat ha-minim abgekoppelt hat?! Mir scheint, wir müssen hier umdenken!“ (ebd. 52). Für die Unabhängigkeit von den synoptischen Evangelien plädiert u. a. P. Borgen, John and the Synoptics (1990.1992), in: Ders., Early Christianity and Hellenistic Judaism, Edinburgh 1996, 121–204; Ders., The Gospel of John. More Light from Philo, Paul and Archaeology, NT.S 154, Leiden 2014, 3–27 (vgl. bes. die Diskussion mit Michael Labahn; ebd. 23–27.293 et passim). 23 J. Frey, Das vierte Evangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition (2003), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 239–294; vgl. Ders., From the „Kingdom of God“ to „Eternal Life“. The Transformation of Theological Language in the Fourth Gospel, in: John, Jesus, and History, Bd. 3 (s. Anm. 19), 439–458. Vgl. auch: G. Blaskovic, Johannes und Lukas. Eine Untersuchung zu den literarischen Beziehungen des Johannesevangeliums zum Lukasevangelium, St. Ottilien 2000. 24  Vgl. F. Neirynck, The Signs Source in the Fourth Gospel. A Critique of the Hypothesis (1983), in: Ders., Evangelica II 1982–1991. Collected Essays, BEThL 99, Leuven 1991, 651–678; G. Van Belle, The Signs Source in the Fourth Gospel. Historical Survey and Critical Evaluation of the Semeia Hypothesis, BEThL 116, Leuven 1994; J. Frey, Das vierte Evangelium auf dem Hintergrund (s. Anm. 23), 255–257; G. Van Belle, The Criticism of the Miracles in the Fourth Gospel. A Reflection on the Ideological Criterion of the Semeia Hypothesis, in: T. Nicklas / ​ J. E. Spittler (Hgg.), Credible, Incredible. The Miraculous in the Ancient Mediterraean, WUNT 321, Tübingen 2013, 302–321. Für die Existenz einer „Zeichenquelle“ plädiert M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes Kapitel 1–12, RNT, Regensburg 2009, 32–42. Vertreten wird von einzelnen Autoren auch die zeitliche Priorität des Johannesevangeliums vor den synoptischen Evangelien: K. Berger, Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums, Stuttgart 1997; Ders., Das Evangelium nach Johannes und die Jesustradition, in: Th. Söding (Hg.), Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? (s. Anm. 4), 38–59; L. Hofrichter (Hg.), Für und wider die Priorität des Johannesevangeliums. Symposion in Salzburg am 10. März 2000, Theologische Texte und Studien 9, Hildesheim 2002, hier: 213–239: Th. Söding, Johanneische Fragen: Einleitungswissenschaft  – Traditionsgeschichte  – Theologie (ablehnend zur Johannespriorität).

2.  Das Johannesevangelium im frühen Christentum

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„Die johanneische Darstellung lässt sich nur angemessen bewerten, wenn man das von ihr selbst genannte Erkenntnismedium theologisch ernst nimmt – die aufgrund der österlichen Geisterfahrung erfolgte Anamnesis des Christusgeschehens im Horizont der Schrift.“25

2.4  Das Corpus Johanneum im frühen Christentum Die Verortung des Johannesevangeliums im frühen Christentum ergibt sich überzeugend, wenn ernst genommen wird, dass der Evangelist die seinen Gemeinden vertraute Jesusüberlieferung der synoptischen Evangelien unter Aufnahme und Vertiefung der in ihnen angelegten Verkündigung neu zu interpretieren unternimmt.26 Dazu werden die konkrete Situation und die Erfahrungen der johanneischen Gemeinden (bes. der Synagogenausschluss) konstitutiv beigetragen haben.27 Diese spiegeln sich in der johanneischen Literatur: dem Johannesevangelium, den drei Johannesbriefen sowie mit einer Sonderstellung der Johannesoffenbarung.28 25  J. Frey, Das vierte Evangelium auf dem Hintergrund (s. Anm. 23), 293 f; vgl. Ders., Heil und Geschichte im Johannesevangelium (2009), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 585–637, hier 625–632; Ders., Die johanneische Theologie als Klimax der neutestamentlichen Theologie (2010), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 803–833, hier: 831–833: „Die Hermeneutik der ‚Erinnerung‘: Das Verstehen der Geschichte Jesu im Rückblick“. 26 In dieser Perspektive kommentiert auch Ulrich Wilckens das Johannesevangelium: Ders., Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen (1998) 22000; vgl. Ders., Der Sohn Gottes und seine Gemeinde. Studien zur Theologie der johanneischen Schriften, FRLANT 200, Göttingen 2003. Charakteristisch für den Kommentar von Ulrich Wilckens ist der Bruch mit den seit Rudolf Bultmann dominierenden literarkritischen und religionsgeschichtlichen Auslegungsparadigmen (vgl. die Trennung bzw. Entgegensetzung von gegenwärtiger und zukünftiger Eschatologie, von Glaube und Sakrament, von Soteriologie und Ethik, von Christologie und Ekklesiologie). So hebe die „Vergegenwärtigung endzeitlicher Teilhabe am Leben … deren zukünftige Wirklichkeit keineswegs“ auf. „Es ist die Konzentration aller endzeitlich-vollkommener Heilswirklichkeit in der Person Jesu als des Sohnes Gottes, die die Vergegenwärtigung der Heilshoffnung bewirkt, ohne dass diese verblaßt …“ (338). Der leitende Grundansatz dieses Johanneskommentars versteht die Entstehung des Johannesevangeliums als „theologisch-vertiefende Interpretation“ (8) der synoptischen Evangelien, die der joh Gemeinde bekannt und vertraut gewesen seien. Der Evangelist erzählt z. B. die Einsetzung des Abendmahls nicht mehr, weil er diese schon in Joh 6,52–58 als bekannt voraussetzt und sie der Sache nach in 13,8 (Teilhabe an dem Heil, das Jesus gibt und selbst ist) aufnimmt. 27  Für die Auswertung der Verbindungen zwischen historischen bzw. sozialen Kontexten und der johanneischen Theologie vgl. die Beiträge zur Johannesforschung u. a. von R. E.  Brown, J. L.  Martyn, K. Wengst, W. A.  Meeks, M. de Boer. 28  Zur Chronologie der joh Literatur vgl. H.-J. Klauck, Der erste Johannesbrief, EKK XXIII/1, Zürich – Neukirchen-Vluyn 1991, 48 f; Ders., Der zweite und dritte Johannesbrief, EKK XXIII/2, Göttingen 1992, 22 f; Ders., Die Johannesbriefe, EdF 276, Darmstadt (1991) 21995; J. Beutler, Johannesevangelium, Johannesbriefe (1998), in: Ders., Neue Studien zu den johanneischen Schriften. New Studies on the Johannine Writings, BBB 167, Bonn 2012, 25–41; Ders., Der erste Johannesbrief als Zeugnis der johanneischen Schule (1998), ebd. 43–51; Ders., Die Johannesbriefe, RNT, Regensburg 2000, 18–20; Ders., Das Kernproblem der Johannesbriefe in der Rezeption des Johannesevangeliums in Briefform, in: J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Erzählung und Briefe (s. Anm. 10), 57–69; K. Scholtissek, Die relecture des Johannesevangeliums im 1. Johannesbrief, BiKi 59 (2004), 152–156; Th. K.  Heckel, Die Historisierung der johanneischen Theologie im Ersten Johannesbrief, NTS 50 (2004), 425–443; Ders., Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas, NTD X, Göttingen 2019, 183 f.233 f. Vgl. grundlegend: M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (mit einem Beitrag zur Apokalypse v. J. Frey), WUNT 67, Tübingen

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Freilich sind weitreichende Rückschlüsse von geschichtlich kaum mehr präzise zu greifenden Ereignissen wie dem Synagogenausschluss der johanneischen Gemeinde und der Entwicklung der johanneischen Christologie, wie sie z. B. J. Louis Martyn und Martinus de Boer vortragen, hochspekulativ.29 Das Johannesevangelium kann mit guten Gründen in der jüdischen Diaspora Kleinasiens angesiedelt werden.30 Dafür spricht auch die Analyse und Inter1993. Martin Hengel plädiert dafür, dass der Evangelist ein später Jünger des geschichtlichen Jesus aus Jerusalemer Tagen gewesen sei, ein Augen‑ und Ohrenzeuge Jesu, der sein Evangelium in einem langen Reifungsprozess verfasst habe, und dessen Schüler seine schriftliche Hinterlassenschaft dann herausgegeben haben. Der Evangelist, der auch für die Abfassung von 1–3 Joh verantwortlich ist, wird mit dem „Presbyter“ Johannes bei Papias (vgl. 2 Joh 1; 3 Joh 1) identifiziert. Mit dieser Position wendet sich Martin Hengel insbesondere gegen eine kollektiv und anonym gedeutete „johanneische Schule“; vgl. Ders., Das Johannesevangelium als Quelle für die Geschichte des antiken Judentums, in: Ders., Judaica, Hellenistica et Christinana. Kleine Schriften II, WUNT 109, Tübingen 1999, 293–334; J. Frey, Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften im Corpus Johanneum, in: M. Hengel, Die johanneische Frage (s. o. in dieser Anm.), 326–429; Ders., Das Corpus Johanneum und die Apokalypse des Johannes. Die Johanneslegende, die Probleme der johanneischen Verfasserschaft und die Frage der Pseudonymität der Apokalypse, in: St. Alkier / ​Th. Hieke / ​T. Nicklas (Hgg.), Poetik und Intertextualität der Apokalypse, WUNT 346, hg. in Zusammenarbeit mit M. Sommer, Tübingen 2015, 71–133; M. Karrer, Die Johanneischen Schriften und die Apokalypse. Beobachtungen zu einer komplizierten Beziehung, in: M. Labahn (Hg.), Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament. Eine Festschrift im Dialog mit Udo Schnelle, FRLANT 271, Göttingen 2017, 373–394; vgl. auch den Forschungsbericht von P. Müller, Die Johannesbriefe, ThR 83 (2018), 274–320. G. Strecker und U. Schnelle plädieren für die Reihenfolge: 2 Joh → 3 Joh → 1 Joh→ Johannesevangelium.: vgl. G. Strecker, Die Anfänge der johanneischen Schule, NTS 32 (1986), 31–47; Ders., Die Johannesbriefe, KEK XIV, Göttingen 1989; Ders., Theologie des Neuen Testaments, bearbeitet, ergänzt und herausgegeben von F. W. Horn, Berlin 1996, 439–573; U. Schnelle, Die johanneische Schule, in: F. W. Horn (Hg.), Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments (FS G. Strecker), BZNW 75, Berlin / ​New York 1995, 198–217; Ders., Einleitung (s. Anm. 1), 517–522 (Lit.); Ders., Das Evangelium nach Johannes (s. Anm. 1), 6–9; Ders., Die Reihenfolge der johanneischen Schriften, NTS 57 (2011), 91–113; Ders., Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n. Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion, utb 4411, Göttingen 22016, 350–366. 29  Vgl. J. L.  Martyn, History and Theology in the Fourth Gospel, Louisville 32003; Ders., The Gospel of John in Christian History. Seven Glimpses into the Johannine Community (Revised and Expanded), Johannine Monograph Series 8, hrsg. v. P. N. Anderson, Eugene 2019; M. de Boer, The Story of the Johannine Community and its Literature, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 63–82; Ders., Expulsion from the ­Synagogue. J.  L.  Martyn’s History and Theology in the Fourth Gospel Revisited (Main Paper, 74th General Meeting of SNTS, Marburg 2019). Eine kritisch-ausgewogene Sichtweise zu dieser Frage findet sich bei: M. de Jonge, Christology, Controversy and Community in the Gospel of John, in: D. G. Horell / ​Chr. M. Tuckett (Hgg.), Christology, Controversy and Community (FS D. R. Catchpole), NT.S 99, Leiden 2000, 209–229. 30 Udo Schnelle lokalisiert den Abfassungsort ebenfalls in Ephesus und datiert es in die Zeit 100–110 n. Chr. Das Johannesevangelium wird mit Ausnahme von Joh 4,2; 5,3b.4; 7,53–8,11 und Kap. 21 als literarische Einheit verstanden (Ders., Das Evangelium nach Johannes [s. Anm. 19, 15–17), womit andere literarkritischen Operationen wegfallen. Als schriftliche Vorlagen des Evangelisten Johannes lehnt Schnelle die „Semeia-Quelle“ ab, plädiert hingegen für das Markusevangelium und „in abgeschwächter Form“ für das Lukasevangelium als Quellen des Johannesevangeliums (vgl. ebd. 17–21). Religionsgeschichtlich weist er einen Einfluss der Gnosis zurück und rechnet mit drei prägenden Überlieferungssträngen: Altes Testament, antikes Judentum,

2.  Das Johannesevangelium im frühen Christentum

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pretation des Befundes zu den „Griechen“ in Joh 12,20 f ?31 einerseits sowie spiegelbildlich hierzu zu „den Juden“32 andererseits. Die „Griechen“ dienen dem Evangelisten als „Chiffre für die kleinasiatischen Adressaten des Evangeliums selbst“: „In den ‚Griechen‘, die den Irdischen nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber dann zum Erhöhten hin ‚gezogen‘

populär-philosophische Traditionen des griechisch-römischen Hellenismus (vgl. ebd. 21–26). Überzeugend stellt er das johanneische Denken als „geistgewirkte nachösterliche Anamnese“ des Christusgeschehens (ebd. 26–35) heraus  – ein theologisches Denken, in dem sich nicht nur räumliche und zeitliche Dimensionen verschränken: „Das johanneische Denken ist ein gleitendes Denken, das immer mehrere Dimensionen umfasst und durch künstliche Alternativsetzungen gerade nicht erfasst wird“ (ebd. 34). Der Evangelist ist kein „Augenzeuge des Lebens Jesu“, sondern gehört „zu einem Kreis geistbegabter Lehrer, die mit der Berufung auf den Parakleten die Gemeinde an die exklusive Lehrautorität Jesu banden“ (ebd. 6). Methodisch rekurriert Schnelle auf eine Erzähltheorie, die die textinterne und die textexterne Kommunikation zu unterscheiden und zugleich aufeinander zu beziehen weiß (vgl. ebd. 35–39). Vgl. weiterführend: J. Frey, Das Johannesevangelium und seine Gemeinden im Kontext der jüdischen Diaspora Kleinasiens, in: R. Deines / ​J. Herzer / ​K .-W. Niebuhr (Hgg.), Neues Testament und hellenistisch-jüdische Alltagskultur. Wechselseitige Wahrnehmungen. III. Internationales Symposium zum Corpus JudaeoHellenisticum Novi Testamenti 21.–24. Mai 2009, Leipzig, WUNT 274, Tübingen 2011, 99–132; M. C. de Boer, The Story of the Johannine Community and its Literature, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 63–82. – Zur Frage, ob und wie sich das vierte Evangelium mit der zeitgenössischen Kaiserpropaganda und ‑verehrung auseinandersetzt, vgl. die abwägenden Überlegungen bei: M. Labahn, „Heiland der Welt“. Der gesandte Gottessohn und der römische Kaiser – ein Thema johanneischer Christologie? (2002), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 260–287; vgl. Ders., Zwischen den Reichen. Zur komplexen Interaktion von frühem Christentum und römischer Herrschaft, in: Ders. / ​J. Zangenberg (Hgg.), Zwischen den Reichen. Neues Testament und Römische Herrschaft, TANZ 36, Tübingen 2002, 3–9 (gemeinsam mit J. Zangenberg); W. Carter, John and Empire. Initial Explorations, New York 2008; vgl. hierzu: F. J.  Moloney, Warren Carter, John and Empire. Initial Explorations; A Response, in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 57–68; St. Witetschek, Christus und Caesar bei Lukas und Johannes. Der Kaiserkult in Ephesos und das Neue Testament, MThZ 60 (2009) 51–61; Ders., Das Evangelium des Siegers. Ein ‚imperialer‘ Aspekt im Johannesevangelium, in: G. van Belle / ​J. Verheyden (Hgg.), Christ and the Emperor. The Gospel Evidence, BToSt 20, Leuven 2014, 315–336; W. Carter, Ideological Readings of the Fourth Gospel, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 202–219; L. J.  Hunt, Jesus Caesar. A Roman Reading of the Johannine Trial Narrative, WUNT II/506, Tübingen 2019. K. Jaroš plädiert für die Abfassung des Johannesevangeliums durch den Apostel Johannes zu Beginn der sechziger Jahre in Jerusalem und eine spätere Ergänzung des Kap. 21 durch den gleichen Verfasser in Ephesus; vgl. Ders., Das Evangelium nach Johannes. Einleitung und Kommentar, Aachen 2018, bes. 143. M. Frenschkowski, τὰ βαΐα τῶν φοινίκων (Joh 12,13) und andere Indizien für einen ägyptischen Ursprung des Johannesevangeliums, ZNW 91 (2000), 212–229, plädiert für Ägypten. 31  Vgl. J. Frey, „Heiden – Griechen – Gotteskinder. Zu Gestalt und Funktion der Rede von den Heiden im vierten Evangelium (1994), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 297–338. 32  Vgl. 4.3 und J. Frey, ‚Die Juden‘ im Johannesevangelium und die Frage nach der ‚Trennung der Wege‘ zwischen johanneischer Gemeinde und der Synagoge, in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 339–377. Frey diskutiert die Rolle der pauschalen Bezeichnung „die Juden“ im Johannesevangelium und kommt zu dem Ergebnis, dass die Entstehungssituation des Johannesevangeliums nach der Trennung von der Synagoge in der kleinasiatischen Diaspora des Judentums im politischen Kontext des späten ersten Jahrhunderts anzusiedeln ist (ebd. 365–372).

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

werden, mußten die kleinasiatischen Hörer der johanneischen Schule, die Adressaten des Evangeliums sich selbst und ihren ‚ekklesiologischen Standort‘ erkennen.“33

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums Die kritische Auseinandersetzung mit den Aporien der klassischen Johannesforschung, insbesondere hinsichtlich der literarkritischen Schichtenmodelle, führte forschungsgeschichtlich zu einer neuen Hinwendung zur Textwelt des Johannesevangeliums.34 Dabei hält die neuere Johannesforschung Ausschau nach Interpretationsansätzen, die nicht nur die Schwächen der herkömmlichen Zugangsweisen aufdecken, sondern die sich am Text des Johannesevangeliums selbst positiv aufweisen lassen und deshalb ihre Plausibilität aus eigener Argumentation gewinnen. Ein wichtiger Baustein für die Wahrnehmung der literarischen Kunstfertigkeit und der mit ihr verbundenen theologischen Konzeption des Johannesevangeliums ist die detaillierte Beobachtung und Auswertung anspruchsvoller literarischer Stilmittel des Evangelisten mit ihrer jeweiligen Leserführung.35 Während manche Stilmittel schon seit längerem im Blick der Forschung waren (z. B. die typisch johanneischen Missverständnisse36), entdeckt bzw. diskutiert die 33  J. Frey, Heiden (s. Anm. 31), 338. Vgl zur Frage auch U. B.  Müller, Die Heimat des Johannesevangeliums (2006), in: Ders., Studien zu Jesus und dem frühen Christentum, BZNW 231, hg. v. W. Kraus, Berlin 2018, 195–216; Ders., Zwischen Johannes und Ignatius. Theologischer Widerstreit in den Gemeinden der Asia (2007), ebd. 217–236; M. Hasitschka, Die Lokalisierung des Johannesevangeliums, in: J. Pichler / ​Chr. Rajić (Hgg.), Ephesus als Ort frühchristlichen Lebens. Perspektiven auf einen Hotspot der Antike, Regensburg 2017, 53–67; J. Beutler, Die Berufung des Andreas und des Philippus nach dem Johannesevangelium (Joh 1.35–46), NTS 65 (2019), 461–476. Vgl. auch den Sammelband: J.-D. Kaestli / ​J.-M. Poffet / ​J. Zumstein (Hgg.), La communauté johannique et son histoire. La trajectoire de l’évangile de Jean aux deux premiers siècles, Genf 1990; J. Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, ThLZ 122 (1997), 417–428. 34 Vgl. den Literaturbericht von J. Frey, Grundfragen der Johannesinterpretation (s. Anm. 1) mit einer Kapitelüberschrift: „Hinwendung zur Textwelt“. 35  Schon viele Jahrzehnte vor den modernen rezeptionsästhetischen Theorien erkennt Wilhelm Heitmüller die leser‑ bzw. hörerzentrierte Pragmatik des Johannesevangelium: „Die eigentliche Hörerschaft Jesu sind – die Leser der Evangelienschrift“ (Vgl. W. Bousset / ​W. Heitmüller [Hg.], Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt (1. Auflage 1905–1906; 2. Auflage 1905–1907 hg. v. J. Weiß), 3. Auflage Göttingen 1918, hier: Band IV, 1–184 (Johannesauslegung von W. Heitmüller); vgl. ebd. 1–9 („Die Johannes-Schriften. Einleitung“); vgl. Ders., Zur Johannes-Tradition, ZNW 15 (1914), 189–209). Und: Im Johannesevangelium geht es um „das kaum je erreichte und erreichbare Zeugnis von dem, was Jesus in einem Menschen wirken kann“, es geht um „ein Zeugnis, das Glauben sprüht und Glauben weckt auch da, wo seine theologische Einkleidung längst als veraltetes Kleid abgetan ist“ (IV, 30). Vgl. den Hinweis bei O. Merk, Beobachtungen zu Wilhelm Heitmüllers Auslegung des Johannesevangeliums, in: St. Schreiber / ​A . Stimpfle (Hgg.), Johannes aenigmaticus. Studien zum Johannesevangelium für Herbert Leroy, BU 29, Regensburg 2000, 173–181. 36  Vgl. nur: H. Leroy, Rätsel und Mißverständnis. Ein Beitrag zur Formgeschichte des Johannesevangeliums, BBB 30, Bonn 1968; J. R ahner, Missverstehen um zu verstehen. Zur Funktion der Missverständnisse im Johannesevangelium, BZ 43 (1999), 212–219; A. Dettwiler,

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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jüngere Forschung eine ganze Reihe weiterer Charakteristika der johanneischen Textwelt (vgl. im Folgenden 3.1–10): 3.1  Komplexe Textkohärenz 3.1.1  Kritik der klassischen Literarkritik Die klassische Literarkritik zum Johannesevangelium37 ist mit schwerwiegenden Gegenargumenten konfrontiert und ist forschungsgeschichtlich nicht nur aus Sicht des Verfassers überholt.38 Diese These ist im Folgenden exemplarisch auszuführen: Chancen und Grenzen johanneischen Literarkritik kommen in Auseinandersetzung mit der Monographie von Michael Theobald zu den Herrenworten im Johannesevangelium39 in den Blick: Theobald hat es sich zum Ziel gesetzt, aus dem Gesamt der johanneischen Jesusworte und ‑reden diejenigen Worte herauszufiltern und ihren überlieferungsgeschichtlichen Werdegang zu rekonstruieren, die als sogenannte „Herrenworte“ eine vorjohanneische Überlieferungsgeschichte haben. Die akribische Rekonstruktion der Stammbäume von Jesuslogien führe vom johanneischen Wortlaut über eine Vielzahl von Traditionsstufen in Einzelfällen bis zum historischen Jesus zurück.40

Fragile compréhension. L’herméneutique de l’usage johannique du malentendu, RvThPh 131 (1999), 371–384. 37  Vgl. u. a.: W. Schmithals, Johannesevangelium und Johannesbriefe. Forschungsgeschichte und Analyse, BZNW 64, Berlin / ​New York 1992; U. C. von Wahlde, The Earliest Version of John’s Gospel. Recovering the Gospel of Signs, Wilmington 1989; Ders., The Terms for Religious Authorities in the Fourth Gospel: A Key to Literary Strata?, JBL 98 (1979), 231–253; Ders., The Gospel of John and Letters of John, ECC 2 vols., Grand Rapids 2010. 38  In ausführlicher Weise sind Nachweise geführt bei J. Frey, Die johanneische Eschatologie I. Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1997; Ders., Die johanneische Eschatologie II. Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 110, Tübingen 1998; Ders., Die johanneische Eschatologie III. Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, WUNT 117, Tübingen 2000; vgl. hierzu die Ausführungen unter 4.6. Der hier vorgetragenen Sichtweise widerspricht die (Re‑)Konstruktion und Auslegung der ursprünglichen Gestalt des Evangeliums von Folker Siegert radikal: Ders., Der Erstentwurf des Johannes. Das ursprüngliche, judenchristliche Johannesevangelium in deutscher Übersetzung vorgestellt nebst 2 Nachrichten über den Verfasser und 2 Briefen von ihm (2./3. Joh.), Münsteraner Judaistische Studien 16, Münster 2004; Ders., Das Evangelium nach Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt. Wiederherstellung und Kommentar, SIJD 7, Göttingen 2008. 39 M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, HBS 34, Freiburg i. Br. 2002; vgl. Ders., Die Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh, NTA.NF 20, Münster 1988; Ders., Im Anfang war das Wort. Textlinguistische Studie zum Johannesprolog, SBS 106, Stuttgart 1983; Ders., Das Evangelium nach Johannes (s. Anm. 24); Ders., Studien zum Corpus Johanneum, WUNT 267, Tübingen 2010; Ders., „Spruchgut“ im Johannesevangelium. Bestandsaufnahme und weiterführende Überlegungen zur Konzeption von J. Becker, in: U. Mell / ​U. B. Müller (Hgg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS J. Becker), BZNW 100, Berlin 1999, 335–368; Ein weiterer Vertreter der klassischen johanneischen Literarkritik ist Jürgen Becker. 40 Vgl. M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 39), zu Joh *3,3.5 (78 f ); zu Joh *12,24–26 (ebd. 116); zu Joh 13 (ebd. 138.145.149 f ).

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Forschungsgeschichtlich setzt Theobald ein bei der Frage nach der Überlieferungsgeschichte der johanneischen Reden Jesu. Während die synoptische Tradition aufgrund der Zwei-Quellen-Theorie über vergleichsweise sichere Fundamente für die Rekonstruktion der synoptischen Jesusüberlieferung verfügt, fällt die Möglichkeit einer Gegenkontrolle beim Johannesevangelium aus, zumal Michael Theobald an der herkömmlichen Annahme festhält, dass das Johannesevangelium die synoptischen Evangelien nicht gekannt hat.41 Die Defizite der Bultmannschen Hypothese einer vorjohanneischen Quelle von Offenbarungsreden,42 die heute allgemein zurückgewiesen wird, führen Theobald zu der „Notwendigkeit einer Ablösung seines literarkritischen Paradigmas durch ein überlieferungskritisches.“43 Er lehnt die spezielle Bultmannsche These der Existenz von vorjohanneischen Offenbarungsredenquellen ab, nicht jedoch die literarkritische Methode, die er de facto über Bultmann hinaus verfeinert und noch erheblich ausbaut!44 Eine angemessene Überlieferungskritik johanneischer „Herrenworte“ setzt für Theobald bei sogenannten „Kernlogien“ ein, um die herum sich Schritt für Schritt Erweiterungen und Veränderungen anlagern. Die von Theobald verwendete Terminologie „Herrenworte“, „Kernlogien“, „Spruchpaar“, „Bezugs‑“ und „Kommentarworte“, „Rede‑ und Dialogkompositionen“ stammt aus der Synoptikerexegese bzw. der Erforschung der Logienquelle. Für die Rekonstruktionsaufgabe unterscheidet Theobald genau zwischen der Überlieferungskritik, deren Aufgabe es ist, „eine ursprünglich selbständige, in sich stehende und geformte mündliche Einheit, die jetzt in einem Text verschriftlicht vorliegt und dessen Grundstock bildet“45, zu erkennen und zu rekonstruieren. Dabei ist die Form‑ und Gattungskritik als Hilfe ebenso heranzuziehen wie ein vermuteter Sitz im Leben der jeweiligen Überlieferung. Die Traditionskritik hingegen wendet sich „Motiven, geprägten Zügen und Themen“46 zu, die Texte nicht genetisch, sondern inhaltlich miteinander verbinden. 41  M. Theobald spricht sich gegen eine Kenntnis der synoptischen Evangelien aus; vgl. Ders., Das Evangelium nach Johannes (s. Anm. 24), 76–81; Ders., Herrenworte (s. Anm. 39) 6 f.113.190.196 f.210.239–243. Widerlaufend hierzu verweist er im Verlauf seiner Untersuchungen jedoch auf die erstaunlich vielfältigen genetischen Gemeinsamkeiten zwischen johanneischen und synoptischen Herrenworten auf der vorevangeliaren Ebene. So nimmt er z. B. an, dass das Vaterunser als „Referenztext“ für Joh 17 anzusehen ist (vgl. ebd. 230). Gerade wenn M. Theobald mit einer „kreativen Fortschreibung“ von Herrenworten rechnet (im Sinne einer vertiefenden, explizierenden, überbietenden und kritischen Transformation; vgl. ebd. 237 f ), und eine „‚Exterritorialität‘ des joh Kreises im Vergleich zur sonstigen Landschaft der frühchristlichen Gemeinden“ ablehnt (ebd. 243), lässt sich dieses Verstehensmodell auch auf die mögliche Rezeption der ­Synoptiker anwenden (vgl. auch seine Einschätzung von Joh *10,1–5 als Aufgipfelung der Wirkungsgeschichte der synoptischen Überlieferungen von Christus dem Hirten; ebd. 379). 42  Vgl. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK II, Göttingen (11941) 211986; Ders., Art. „Johannesevangelium“, RGG3 3 (1959) 840–850. 43  M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 39), 6. 44 Vgl. auch Ders., Das Evangelium nach Johannes (s. Anm. 24), 70–74. 45  Ders., Herrenworte (s. Anm. 39), 19. 46  Ebd. 20.

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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Bevor Theobald sich der Überlieferungskritik zuwendet, beobachtet er auf synchroner Ebene die vielfältigen Wiederaufnahmen von Logien innerhalb des Johannesevangeliums: Dazu gehören Selbstzitate Jesu, Zitate von Jesusworten im Munde seiner Gesprächspartner bzw. durch den Erzähler in seinen Erzählkommentaren. Diesem johanneischen Phänomen ist bisher nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet worden und die Auswertung ist bei Theobald durchweg überzeugend (insbesondere die hier aufgewiesene johanneischen Parallelisierung von Jesus‑ und Schrift-Worten hinsichtlich ihrer ‚kanonischen‘ Autorität). Theobald spricht hier ausdrücklich von „kreativer Fortschreibung“, die auf ein tieferes und besseres Verstehen der Jesusüberlieferung zielt.47 Der Übergang zur diachronen Analyse beginnt bei dem Hinweis auf die „exponierte Stellung“ möglicher „Herrenworte“ in den Rede‑ und Dialogkompositionen des Johannesevangeliums sowie ihrer Einführung durch formelhafte Einführungswendungen. Als Kriterien seiner überlieferungskritischen Methode benennt er die Mehrfachbezeugung von „Herrenworten“ innerhalb und außerhalb des Neuen Testaments, die Kontextunabhängigkeit oder Suffizienz einer Überlieferungseinheit und Kriterien, die sich aus dem Verhältnis von Überlieferungseinheit und Kontext ergeben. Bei der Kürze der hier genannten Kriteriologie fällt der Verzicht Theobalds auf, seine methodische Arbeit, gerade hinsichtlich der ausgebauten Literarkritik, im gegenwärtigen Forschungsumfeld zu begründen. Die vielfachen Einwände gegenüber den Möglichkeiten einer johanneischen Literarkritik werden kaum bzw. nicht thematisiert und reflektiert.48 Michael Theobald bespricht die johanneischen Herrenworte, die auf einer synoptischen Basis aufruhen: Dazu zählen die Herrenworte mit synoptischen Parallelen49 und diejenigen Herrenworte, die als „Metatexte zu synoptischen Überlieferungen“ in Frage kommen.50 Sodann werden die dem Johannesevangelium eigenen Herrenworte, die keine synoptischen Parallelen besitzen, analysiert.51 Jedem einzelnen Herrenwort wird eine umfangreiche Einzelana Vgl. ebd. 41.  Es fällt auf, dass M. Theobald den Band I zur johanneischen Eschatologie von Jörg Frey, der sich mit der Forschungsgeschichte zum Johannesevangelium und hier insbesondere kritisch mit der Literarkritik auseinandersetzt, nicht zu kennen scheint, während die Bände II und III im Literaturverzeichnis Erwähnung finden. 49 Vgl. Joh 3,3.5 / Mt 18,3 / Mk 10,15 par. Lk 18,17; Joh 12,25 f / ​Mk 8,34 f / ​Q 14,27; 17,33; Joh 13,16 / Mt 10,24 [Q 6,40] und Joh 13,20 / Mt 10,40 [Q 10,16] / ​Mk 9,37 par (Joh 13,16 und 13,20 werden als vorjoh Spruchpaar verstanden); Joh 14,12–14 / Mk 11,24 und Joh 15,7; 16,24 / Q 11,9 f und Joh 20,23; vgl. Mt 16,19bc; 18,18. 50  Vgl. Joh 3,14 f / ​Mk 8,31; vgl. Joh 12,28a / ​Mt 6,9b par Lk 11,2c; Joh 21,22 f / ​Mk 9,1. 51 Ebd. 245. Dazu zählen die „Ich-bin“-Bildworte in Joh 6,35; 8,12; 10,9; 14,6, die hoheitschristologisch ausgelegt werden, Gleichnisse und weitere Bildworte (Joh 5,19b–20c; *10,1–5; 10,11– 13; 12,24; 15,1–8), Weisheitsworte (Joh 7,33 f; vgl. 8,21; 13,33; sowie Joh 7,37 f par Offb 22,17) sowie Verheißungs‑ und Trostworte (Joh 8,31bc.32; 8,51 par 52; 14,2–3). Vgl. auch: C. H.  Williams, I am He. The Interpretation of ‚Anî Hû‘ in Jewish and Early Christian Literature, WUNT II/113, Tübingen 2000; Dies., „I Am“ or „I Am He“? Self-Declaratory Pronouncements in the Fourth Gospel and Rabbinic Tradition, in: R. T. Fortna / ​T. Thatcher (Hgg.), Jesus in Johannine Tradition, Louisville 2001, 343–52. G. Bournique, La spécificité du Ego eimi absolu dans l’Évangile de 47 48

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

lyse seines johanneischen Kontextes, der Argumente für die Einschätzung als vorjohanneisches Spruchgut, der möglichen bzw. tatsächlichen synoptischen Parallelen und des von Theobald rekonstruierten Stammbaums gewidmet. Die Ausführungen schließen jeweils mit einer Interpretation der thematischen Entwicklung des Herrenwortes in den verschiedenen Kontexten vom frühesten bis zum johanneischen und gegebenenfalls frühkirchlichen Vorkommen. Theobald gibt durch seine nuancierenden Formulierungen (Konjunktive!) zu erkennen, dass vielen seiner Einzelurteile unterschiedliche Grade von Sicherheit bzw. Wahrscheinlichkeit zukommen. Schließlich kann er die für das Johannesevangelium typische literarkritische Aporie nicht umgehen, dass oftmals eine Kontexteinbindung und gleichzeitig eine Kontextspannung angenommen werden muss, deren literarkritische Rekonstruktion bis in den rekonstruierten Wortlaut hinein alles andere als sicher ist.52 Eine durchgehende Grundfigur der Überlieferungsgeschichte der johanneischen Herrenworte ist die wachsende bzw. teilweise erst für den johanneischen Zusammenhang gegebene Christologisierung der Herrenworte53, der in umgekehrter Richtung eine Entchristologisierung entspricht: So sei die Fußwaschung Jesu ursprünglich „als Ausdruck einer auch von seinen Jüngern zu übenden Gastfreundschaft“54 zu verstehen. Sekundär erst seien die saint Jean. Contribution à la christologie johannique, Strasbourg 2011; M. Reichardt, „Ich bin es“ … „das Brot des Lebens“ (Mk 6,50; Joh 6,20.35). Von den absoluten synoptischen zu den prädikativen johanneischen Ich-bin-Worten, in: W. Eisele / ​Chr. Schaefer / ​H.-U. Weidemann (Hgg.), Aneignung durch Transformation. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum (FS M. Theobald), HBS 74, Freiburg i. Br. 2013, 126–153. 52 Vgl. die Ausführungen M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 39), 103 mit Anm. 199, zu Joh 12,24–26; vgl. die Formulierung zu Joh 14,6: „trotz seiner kontextuellen Einbindung eine relative Isolation“ (ebd. 309). Bei der Auslegung von Joh 6,35 verwendet M. Theobald die singuläre Erwähnung des Themas „Dürsten“ in Joh 6 als ein Argument für die vorjoh Existenz dieses Logions (vgl. ebd. 249). Wie sehr sich diese Argumentation im Bereich von Hypothesen bewegt, zeigt sich daran, dass auch die gegenteilige Schlussfolgerung gezogen werden kann: 6,35 fin kann eine bewusste joh Prägung sein, die gezielt auf den Sachzusammenhang zwischen Joh 4,10.13–14 („lebendiges Wasser“) und Joh 6 („lebendiges Brot“) verweist. Und ist es wirklich so evident, dass der Weg-Spruch Joh 14,6 sich „aus dem Strom der ersten Abschiedsrede wie ein Fels“ (305) erhebt? Die klassische These, der Evangelist vertrete eine präsentische Eschatologie, die eine futurische Erwartung nicht (oder kaum mehr) kenne, spielt bei der Auslegung von Joh 14 und des rekonstruierten vorjohanneischen Spruches in *14,2 eine dominierende Rolle (ebd. 516–521.546 f.597 f; vgl. 271 f ). Um das eigene Profil von Joh 14,2bc herauszustellen, wird die Verwendung von παραλαμβανεῖν in 14,2 von den anderen Vorkommen dieses Verbs in Joh 1,11 und 19,16 abgegrenzt (vgl. 510). Das aber übergeht die familienmetaphorische Verwendung von παραλαμβανεῖν und λαμβανεῖν im Gesamt des Johannesevangeliums. Vgl. hierzu K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), 222–240 und „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, S. 205–229 in diesem Band. 53  Vgl. M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 39), 93–97.119 f.129.193.199.218.232.530–537. 54 Ebd. 149. Dass der ursprüngliche Kern der Fußwaschungserzählung in Joh 13 eine Jüngerbelehrung über die gebotene Gastfreundschaft gewesen sein soll, zeigt, wohin die bei Theobald vorausgesetzte regulative Idee der sukzessiven Christologisierung der Jesusworte und ihrer Kontexte in der Konsequenz führt. Die Entchristologisierung wird hier konsequent zu Ende geführt. Im Blick auf die synchrone Interpretation von Joh 13 kommt Michael Theobald zu ganz anderen Ergebnissen: Ders., Gastfreundschaft im Corpus Johanneum. Zur religiösen Transformation eines kulturellen Grundcodes der Antike, in: J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium, BThSt 130, Göttingen 2012, 171–216.

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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soteriologische Deutung (Joh 13,6–9) durch den Evangelisten und die ethische durch die spätere Redaktion (Joh 13,12–17) hinzugewachsen. Diese Auslegung der Fußwaschungserzählung in Joh 13 repetiert die klassische johanneische Literarkritik und die von ihr offen oder versteckt transportierten theologischen Interessen:55 Wieder werden die beiden Deutungen der Fußwaschung auf zwei hinzugewachsene Schichten verteilt. Das Bultmannsche Drei-Schichten-Modell von „Grundschrift – Evangelist – Kirchliche Redaktion“ wird sprachlich nur minimal variiert in „Überlieferung – Evangelist – Redaktion“56. dass sich die damit gegebene literarkritische Einschätzung zu Joh 13 „gegenwärtig“ „einer breiten Zustimmung erfreut“57, spiegelt gerade nicht den Konsens der neueren Johannesforschung wider.58 Die exemplarischen Rückfragen an die literarkritisch-traditionsgeschichtlichen Rekonstruktionen von Michael Theobald zeigen, dass der Grad des Hypothetischen mit jeder weiter zurückliegenden Traditionsstufe erheblich wächst, dass sich Wertungswidersprüche in den Ausführungen selbst zeigen und vielen Einzelargumentationen mit guten Argumenten widersprochen werden kann. Insgesamt entgehen viele literarkritische Urteile in der Johannesforschung nicht der Gefahr einer Zirkelargumentation: Theologisch widerstreitende Inhalte werden einerseits zur literarkritischen Trennung von Überlieferungsstadien herangezogen, andererseits aber gerade durch diese getrennten Stadien allererst in ihrer Existenz begründet. Dabei öffnet sich die Tür für theologische Projektionen: Nicht mehr Text55 Zur Auslegung der joh Fußwaschungserzählung vgl. auch den Beitrag „Ein Beispiel habe ich Euch gegeben …“ (Joh 13,15), S. 303–322 in diesem Band. Sodann: J. Zumstein, Le lavement des pieds (Jean 13,1–20). Un exemple de de la conception johannique du pouvoir, RTP 132 (2000), 345–360; J. Clark-Soles, Footwashing and History, in: John, Jesus, and History II (s. Anm. 19), 255–269. Ph. van den Heede, Das ὑπόδειγμα als Lehre in Joh 13,15, in: J. R. Backes u. a. (Hgg.), Orientierung an der Schrift. Kirche, Ethik und Bildung im Diskurs (FS Th. Söding), BThS 170, Göttingen 2017, 231–242; J. G. van der Watt, The meaning of Jesus’ washing the feet of his disciples (John 13), Neotest. 51 (2017), 25–39; B. Mathew, The Johannine Footwashing as the Sign of Perfect Love. An Exegetical Study of John 13:1–20, WUNT II/464, Tübingen 2018 (vgl. hierzu auch Anm. 631). 56 Vgl. M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 39), 137 f. 57 Ebd. 135. 58   Vgl. u. a. J. Zumstein, L’Évangile selon saint Jean, CNT IVa–b, Genf 2014 und (2007) 22016; Ders., Das Johannesevangelium, KEK II, Göttingen 2016, bes. 38–44; J. Beutler, Das Johannesevangelium, Freiburg i. Br. (2013) 22016 (portug. Übersetzung: São Paulo 2016; span. Übersetzung: Estella [Navarra] 2016; ital. Übersetzung: Rom 2016; engl. Übersetzung: Grand Rapids 2017); Ders., Neue Studien (s. Anm. 28). Vgl. weiterführend auch „Relecture und réécriture“, S. 173–202 in diesem Band. Vgl. auch W. Klaiber, Das Johannesevangelium I–II (Die Botschaft des Neuen Testaments), Göttingen 2017.2018. Literarkritischen Optionen steht W. Klaiber erkennbar reserviert gegenüber, schließt sie aber nicht aus, sondern zeigt in den Einzelauslegungen, dass sie weitgehend überflüssig sind (vgl. exemplarisch seine Auslegung von Joh 6). Schon der Aufbau des Johannesevangeliums sei „bemerkenswert konsequent“ (I, 17). Kap. 15–17 und 21 verdanken sich möglicherweise einer relecture des Textes: „Unsere Auslegung hat jedoch gezeigt, dass es sich dabei nicht um eine Umarbeitung des Evangeliums durch theologisch anders ausgerichtete Bearbeiter handelt, sondern um eine sehr bedachte Weiterentwicklung der theologischen Grundlinie des Evangeliums – vermutlich durch den Evangelisten selbst oder ihm nahestehende Schüler“ (II, 297). Vgl. schon Ders., Die Aufgabe einer theologischen Interpretation des 4. Evangeliums, ZThK 82 (1985), 300–324.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

beobachtungen, sondern textfremde Vorgaben und Interessen werden Kriterium für die Sezierung des Textes. Die klassische, an Rudolf Bultmann orientierte Literarkritik liefert hierzu viele anschauliche Beispiele. Jean Zumstein fasst deshalb die Forschungsdiskussion zur johanneischen Literarkritik treffend zusammen: „Diese unstrittigen Beobachtungen zeigen, das eine genaue Bestimmung und detaillierte Rekonstruktion der im vierten Evangelium verwendeten Quellen unmöglich ist, und zwar nicht aufgrund inkompetenter Forschung, sondern aufgrund des Charakters des zu interpretierenden Textes selbst.“59

3.1.2  Wider die literarische und theologische Unterschätzung des Evangelisten Die Forschungsbeiträge von Jörg Frey zur joh Eschatologie zeigen, dass theologisch spannungsvolle Themen nicht literarkritisch aufgelöst werden dürfen, sondern sehr gut theologisch verstanden werden können.60 Anderenfalls kommen die anspruchsvollen theologischen Herausforderungen, vor denen die neutestamentlichen Autoren standen,61 und ihre Lösungen hierzu nicht ausreichend in den Blick. Verbunden damit wiederum ist die Gefahr, die Autoren selbst, hier besonders den Evangelisten Johannes, theologisch und literarisch ganz erheblich zu unterschätzen. Diese Unterschätzung spiegelt sich auch in hartnäckig übersehenen Phänomenen auf der Textebene. Als bezeichnendes Beispiel sei hier auf die Perikope Joh 11,47– 5262 (mit Erzählerkommentar in V. 53) hingewiesen: Sie ist gerahmt durch das erste Wort in V. 47: Συνήγαγον und die letzten drei Wörter in V. 52: συναγάγῃ εἰς ἕν. Diese Rahmung bzw. Inklusion hat erhebliche Relevanz für die Auslegung. In neueren Kommentaren wird dieses literarische Stilmittel weitgehend übersehen.63 59 J. Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 58), 43. Auf diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, dass M. Theobald die Kluft zwischen dem literarkritischen Modell und dem Relekture‑ bzw. Réécriture-Modell überspielt; vgl. Ders., Eucharistie in Joh 6. Vom pneumatologischen zum inkarnationstheologischen Verstehensmodell, in: Th. Söding (Hg.), Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? (s. Anm. 4), 178–257, hier: 189 Anm. 46. 60  Vgl. die Ausführungen 4.4.1. 61  Vgl. hierzu einleitend: K. Scholtissek, Jesus, der Christus, im Zeugnis des Neuen Testaments  – Wegmarken einer sprachlichen und hermeneutischen Pionierarbeit, SNTU.A 31 (2006), 89–126. 62  Vgl. weiterführend auch: J. A.  Dennis, Jesus’ Death and the Gathering of True Israel: The Johannine Appropriation of Restoration Theology in the Light of John 11.47–52, WUNT II/217, Tübingen 2006. J. A.  Dennis sieht in der verheißenen Sammlung des wahren Israel die theologische Matrix der johanneischen Theologie. Eine ähnliche These vertritt auch J.-M. Schröder, Das eschatologische Israel im Johannesevangelium. Eine Untersuchung der johanneischen IsraelKonzeption in Joh 2–4 und Joh 6, NET III, Tübingen 2003. 63  Vgl. H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT VI, Tübingen (2005) 22015, („ein Synhedrium zusammenrufen“ und „zur Einheit sammeln“); U. Schnelle, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 253 („versammeln“ und „zusammenführen“); U. Wilckens, Evangelium nach Johannes (s. Anm. 26), 181 („sich versammeln“ und „zur Einheit gesammelt werden“); M. Theobald, Evangelium nach Johannes (s. Anm. 24), 747–757; J. Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 58), 411–437; W. Klaiber übersetzt mit „zusammenrufen“ und „zusammenführen“, vgl. Ders., Johannesevangelium (s. Anm. 58), II 29 f.

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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Michael Theobald und Jean Zumstein übersetzen συναγεῖν unterschiedlich: zunächst mit „einberufen“ (in V. 45), dann mit „zusammenführen“ (in V. 52).64 Auch die Lutherübersetzung 1984 und gleichlautend die Luther­übersetzung 2017 übersetzen einmal „versammelten“ und dann „zusammenzubringen“. Die Einheitsübersetzungen von 1980 und gleichlautend von 2016 übersetzen einmal „beriefen … eine Versammlung … ein“ und einmal „wieder zu sammeln“. Im Gegensatz hierzu verweist Johannes Beutler zu Recht auf diese gezielte Rahmung, weist auf viele weitere Rahmungen bzw. Inklusionen im Johannesevangelium als literarisches Stilmittel hin und wertet diese Textbeobachtung theologisch aus.65 Für die komplette literarische, erzählerische, rhetorische und theologische Konsistenz des Johannesevangeliums von Joh 1,1 bis Joh 21,25 plädieren u. a. Hartwig Thyen66, Udo Schnelle67 und Ulrich Busse68. U. Busse weist die teilweise hypertrophe Literar‑ und Traditionskritik, die große Teile der Johannesforschung des 20. Jahrhunderts auszeichnet, zurück und ersetzt dieses Paradigma durch die moderne literaturwissenschaftliche Zugänge (Intertextualität, synchrone Analyse, Narratologie, rhetorische Strategie).69 Im Kontext seines Plädoyers für die synchrone Analyse deutet Busse auch das Kap. 21 als integralen Bestandteil des 64  Vgl. M. Theobald, Evangelium nach Johannes (s. Anm. 24), 747; J, Zumstein, Johannesevangelium (s. Anm. 58), 411. K. Jaroš, Johannes (s. Anm. 30), 348 f übersetzt zunächst mit „das Synhedrium zusammenrufen“ und dann mit „in eins zusammenführen“. 65  Vgl. J. Beutler, Johannesevangelium (s. Anm. 48), 340–343; vgl. Ders., Zwei Weisen der Sammlung. Der Todesbeschluss gegen Jesus in Joh 11,47–53 (1994), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 275–283. Vgl. auch in diesem Sinn: C. Umoh, The Plot to Kill Jesus. A Contextual Study of John 11.47–53, EHS 23.696, Frankfurt a M. 2000; T. Nicklas, Die Prophetie des Kajaphas. Im Netz der johanneischen Ironie, NTS 46 (2000), 589–594. 66  H. Thyen, Das Johannesevangelium (s. Anm. 63), hier 4: Thyen interpretiert das gesamte Johannesevangelium „als einen kohärenten und hochpoetischen literarischen und auktorialen Text“; vgl. Ders., Studien zum Corpus Ioanneum (s. Anm. 22). In Korrektur früherer Positionierungen: Ders., Aus der Literatur zum Johannesevangelium, ThR 39 (1974/75), 1–69.222– 252.289–330; 42 (1977), 211–270; 43 (1978), 328–359; 44 (1979), 97–134; Ders., Art. „Johannesevangelium“, TRE 17 (1988), 200–225. 67 U. Schnelle, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 15–17. 68 U. Busse, Das Johannesevangelium. Bildlichkeit, Diskurs und Ritual. Mit einer Bibliographie über den Zeitraum 1986–1998, BEThL 162, Leuven 2002. Inhaltlich – und darin besteht eine forschungsgeschichtlich neue These des Verfassers  – begreift er das Johannesevangelium als „die Darstellung eines dynamischen rituellen Prozesses …: Der johanneische Jesus hebt im krisenhaften Übergang zu seinem Vater, durch Tod und Auferstehung, die Barrieren auf, die den Einzelnen von Gott trennen“ (17). Busse rekurriert hierzu auf die Ritus-Theorie von Victor W. Turner (1920–1983; vgl. 17.398–401). Wenig überzeugend fällt die recht knapp eingeführte Kategorie des Rituals für die Gesamtinterpretation des Johannesevangeliums aus (vgl. 390–401). Es scheint auch fraglich, ob das Johannesevangelium wirklich einen sich langsam entwickelnden und steigernden Konflikt darstellt (vgl. 404 f ). Wird der Konflikt in seiner ganzen Schärfe nicht schon von Beginn an (einschließlich des Prologs) vor Augen geführt? Es gehört insgesamt zu den Stärken der Johannesforschung von Ulrich Busse, auch die weithin vergessene Johannesforschung vor und neben der mit dem Namen Rudolf Bultmann verbundenen Zäsur angemessen zu berücksichtigen. Dazu bezieht sich der Verf. mehrfach auf Ernst Haenchen, einen frühen Antipoden von Rudolf Bultmann (vgl. 26–32; vgl. hierzu die Position von E. Haenchen, der eine gnostische Interpretation des Johannesevangeliums zurückweist: ebd. 415–423). 69  Vgl. ebd. 2–44.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Johannesevangeliums70 und sieht zwischen Joh 14,31 und 15,1 keinen literarischen Bruch.71 Er betont die Kenntnis der synoptischen Evangelien seitens des Evangelisten Johannes72 und die ausgefalteten metaphorischen Netzwerke im Johannesevangelium. Die Diskussion um die vollständige literarische Einheitlichkeit kann hier nicht weitergeführt werden. Angesichts der Textsignale, die keine letzte Eindeutigkeit vermitteln, sieht der Verfasser im Relekture-Paradigma einen adäquaten Zugang.73 Grundlegend gilt: Den Evangelisten Johannes verstehen heißt, die komplexe literarische und theologische Textwelt bzw. ‑kohärenz des Johannesevangeliums zu verstehen. Weitere Zugangswege hierzu werden im Folgenden vorgestellt (vgl. 3.2–3.10). 3.2  Wiederholung, Variation und Amplifikation Grundlegend für die literarischen Charakteristika des Johannesevangeliums ist die 1970 erstmals erschienene und im Jahr 2018 in erweiterter Fassung herausgegebene Studie von David W. Wead: The Literary Devices in John’s Gospel.74 Wead stellt eingehend dar: The Post-Resurrection Point of View, The Johannine Sign, Double Meaning, Irony, Metaphors.75 Bahnbrechend für die Wahrnehmung und Interpretation der Wiederholungen, Variationen und Amplifikationen im Johannesevangelium ist die Studie von Thomas Popp zu Joh 3 und 6.76 In der Einzelauslegung zeigt sich, dass Joh 3 und  Vgl. ebd. 2 Anm. 6; 16.260–271.403.  Vgl. ebd. 15: „nur ein Bestandteil des andauernden Diskurses über die Bedeutung der freiwilligen Annahme von Jesu Tod auch für seine ihm nachfolgenden Jünger“; vgl. 211–217. Vgl. hierzu jetzt auch ausführlich: Ders., Joh 14,31 und sein Kontext, EThL 94 (2018), 27–75. Vgl. differenzierend J. Beutler, „Steht auf, wir wollen von hier weggehen“ (Joh 14,31) Eine Einladung zu einer geistlichen Reise? (2005), in: Ders., Neue Studien (s. Anm. 28), 139–151. 72 Vgl. U. Busse, Das Johannesevangelium (s. Anm. 68), 3 Anm. 9; 16.233–235. 73 Vgl. die Ausführungen in den Beiträgen „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), S. 151–172 und „Relecture und réécriture“, S. 173–202 in diesem Band und die Ausführungen in 3.5.1. dieses Beitrages. 74  D. W.  Wead, The Literary Devices in John’s Gospel, rev. and exp. Edition, The Johannine Monograph Series 7, Eugene 2018. 75  Vgl. auch das Vorwort von R. A.  Culpepper aus dem Jahre 2018, das den Beitrag von Wead aus aktueller Sicht reflektiert, ebd. xi–xxix. 76  Th. Popp, Grammatik des Geistes (s. Anm. 22). Vgl. hierzu die positive Stellungnahme von G. van Belle, Repetition, Variation and Amplifikation. Thomas Popp’s Recent Contribution on Johannine Style, EThL 79 (2003), 166–178. Vgl. auch: F. Neirynck, L’epanalepsis et la critique literaire. À propos de L’évangile de Jean (1980), in: Ders., Evangelica. Gospel Studies – Ètudes d’évangiles. Collected Essays, BEThL 69, hrsg. v. F. Van Segbroeck, Leuven 1982, 143–178; J. A. du R and, Repetitions and Variations  – Experiencing the Power of the Gospel of John as Literary Symphony, Neotest. 30 (1996), 59–70; Th. Popp, Die Kunst der Wiederholung. Repetition, Variation und Amplifikation im vierten Evangelium am Beispiel von Joh 6,60–71, in: J. Frey / ​ U. Schnelle (Hgg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. Anm. 6), 559–592; Ders., Das Kreuz mit den Sakramenten. Ritual und Repetition im Vierten Evangelium, in: G. Van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, BEThL 200, Leuven 2007, 507–528; G. Van Belle / ​M. Labahn / ​P. Maritz (Hgg.), Repetitions and Variations in the Fourth Gospel. Style, Text, Inter70

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Joh 6 sowohl linear als auch konzentrisch zu lesen sind: Joh 3 entfaltet sukzessiv die Amen-Worte Jesu in Joh 3,3.5 und hat zugleich in Joh 3,16–17 ihre von Joh 3,15.18 gerahmte Mitte.77 Joh 6 entfaltet schrittweise die Brotthematik und hat in Joh 6,35 ihren konzentrischen Nucleus.78 In der hier für Joh 2,23–3,36 und Joh 6 aufgewiesenen Fülle und Dichte sind diese Stilmittel in der Johannesforschung zuvor noch nicht ausgewertet worden. Popp verweist darauf, dass das Johannesevangelium zur mehrfachen, sich vertiefenden und betrachtenden Lektüre einlädt, die den Lesenden in die dargestellte Begegnung mit dem sich offenbarenden Jesus Christus verwickelt.79 Das Johannesevangelium ist deshalb als „literarisches Kunstwerk“ (H. Strathmann) ernstzunehmen. Poiesis auf Seiten des Autors und des Textes sowie Aisthesis und Katharsis auf Seiten der Rezipienten gehören hier unabdingbar zusammen.80 Thomas Popp stellt aufgrund seiner stilistischen Beobachtungen die theologische Einheit und komplexe Kohärenz des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 3 und 6 vor: Literarkritische Schichtungen oder Umstellungen, die für Joh 3 und 6 oftmals eine große Rolle spielen, werden hier überzeugend als unnötig, weil vom Text her nicht gefordert abgewiesen. Alle Teiltexte in Joh 3 und 6 sind planvoll miteinander vernetzt und aufeinander bezogen. Inhaltlich ergibt sich aus dieser Lektüre die Betonung des „aspektuellen“ bzw. „synthetischen Denkens“ im Johannesevangelium.81 Das Johannesevangelium erweist sich als „eine im Rückblick entworfene, geistgewirkte und sinnerschließende Neuauslegung des Christusgeschehens in Kontinuität mit der apostolischen Christologie.“82 In Joh 3 und 6 entfaltet der Evangelist seine kreuzestheologisch rückgebundene Tauf‑ und Eucharistiekatechese bzw. ‑theologie, die jeweils im Kontext des Glaubens, d. h. der vom Geist geführten Einsicht in die neubestimmte joh Zeichen‑ und Sinnwelt entfaltet werden. In der Taufe wird „nach joh. Sicht nicht die natürliche pretation, BEThL 223, Leuven 2009 (Lit.); G. Van Belle, Theory of Repetitions and Variations in the Fourth Gospel. A Neglected Field of Research?, ebd. 13–32; Ders., Repetitions and Variations in Johannine Research. A General Historical Survey, ebd. 33–85; M. Labahn, „Blinded by the Light“. Blindheit und Licht im Spiel von Variation und Wiederholung zwischen Erzählung und Metapher (2009), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 457–514. 77  Vgl. Th. Popp, Grammatik des Geistes (s. Anm. 22), 465. 78 Vgl. ebd. 359.382–385.466. 79 Vgl. ebd. 138: Johannes ist sich „der intelligenten Mitarbeit seiner Leser sicher“. Mit der neueren rezeptionsästhetischen Forschung versteht Popp die Auslegung „als Interaktion von Textbeschreibung und Begegnung mit ihm“ (49; vgl. 48–54). Diese auf die Adressaten bzw. Rezipienten bezogene Auslegung des Johannesevangeliums wird hier durchgehend und konsequent umgesetzt (vgl. 299 f u. ö.). 80  Vgl. ebd. 14–17. Theologisch-systematisch faßt Popp seine Position mit W. Lütgert zusammen: „Der joh. Text besitzt als ‚irdenes Gefäß‘ (vgl. 2 Kor 4,7) die Kapazität, den ‚Schatz‘ des Evangeliums entsprechend dem Grundsatz finitum capax infiniti in sich zu tragen und dieses lebenspendende Potential in Gestalt einer performativen Sprachhandlung freizusetzen (vgl. 6,63)“ (ebd. 30). 81 Vgl. ebd. 33 f.92. 82 Ebd. 40; vgl. 41: „Der Geist hat seine eigene Grammatik. Er spricht die Sprache des joh. Offenbarers. Diese Sprache erschließt ein neues Sehen.“

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menschliche Existenz überhöht, sondern durch die Gabe des geistbestimmten neuen Lebens ein radikaler Neuanfang gesetzt.“ In der Eucharistie geht es „um die Glaubenseinheit mit dem im Sakrament gegenwärtigen Erhöhten als dem Lebensraum in Zeit und Ewigkeit.“83 Zu den johanneischen Stilmitteln zählt Thomas Popp insgesamt: – Wiederholungen bzw. Wiederaufnahmen84, – Amplifikationen bzw. Variationen, – Sinnlinien85, – synonyme und antithetische Parallelismen, – Spiralbewegung der Gedankenführung, – Missverständnisse, – Ironie, – bewusst verwendete, oszillierende Semantik von einzelnen Worten (vgl. ἄνωθεν; πνεῦμα), – Inklusionen und chiastischen Kompositionen, – Aktion-Reaktion-Struktur, – Lexemvernetzungen und Leitwortkompositionen, – Metaphern und – die vielfältigen, intelligent sortierten Anspielungen.86 Als „Verstehenshintergrund der joh Denkstruktur und Darstellungskunst“ und „Musterbeispiele gezielter Repetitionstechnik“ verweist Thomas Popp auf griechisch-römische, alttestamentliche und frühjüdische Zeugnisse: Heraklit, Aischylos, Lucan, Ps 73, Sapientia Salomonis und Philo.87 Dass und wie die johanneische Leserführung in der Tradition des alttestamentlichen Leitwortstils steht, zeigt Thomas Popp überzeugend auch in der Auslegung von Joh 1,50 f und seinem Referenztext Gen 28,10–22 sowohl in der hebräischen Fassung als auch in der LXX-Version auf.88 Gilbert Van Belle hat verschiedene Funktionen von Wiederholungen und Variationen (nicht nur) im Johannesevangelium herausgestellt: Hervorhebung, Gewinn von Aufmerksamkeit und Bedeutung, bewusste Wahrnehmung bei den Adressaten, Erwartungen wecken, Antizipationen und Retrospektionen, Verbindung disparater Aussagen, Aufbau von Gemeinschafts‑ und Kontrast-Clustern.89  Ebd. 373.  Vgl. ebd. 58–76.464–479. 85  Vgl. hierzu auch „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), S. 151–172 in diesem Band. 86  Gilbert Van Belle weist zudem auf die joh Prolepsen und Parenthesen hin: Ders., Prolepsis in the Gospel of John, NT 43 (2001), 334–347; Ders., Les parenthèses dans l’évangile de Jean. Aperçu historique et classification. Texte grec de Jean, SNTA 11, Leuven 1985; vgl. auch viele weitere Johannesbeiträge von Gilbert Van Belle. 87 Vgl. Th. Popp, Kunst (s. Anm. 76), 565–572. 88  Vgl. Ders., „Größeres als das wirst Du sehen …“ (Joh 1,50). Literarische Integrität und theologische Intensität im Johannesevangelium, in: Spurensuche (s. Anm. 28), 349–372. 89 Vgl. G. Van Belle, Theory of Repetitions (s. Anm. 76), 30. 83 84

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Für Joh 13,1–20 ist zudem die Kombination von Wiederholungen, Variationen bzw. Amplifikationen einerseits und seltenen Lexemen bzw. einem Hapaxlegomenon (ὑπόδειγμα) charakteristisch: „The interchange of frequently occurring words with words that occur only once thus tends to have a ‚rezeptionsstimulierend‘ effect.“90 Welche Bedeutung kommt chiastischen Strukturen im Johannesevangelium zu? Die Johannesforschung hat sich wiederholt mit diesem Stilmittel beschäftigt.91 Zuletzt hat Bincy Mathew den chiastischen Aufbau von Joh 13,1–38 und darin 13,1–20 ausführlich analysiert und interpretiert. Für die Fußwaschungserzählung kommt er zu folgendem Schema: A Identity and mission of Jesus in relation with the disciples B Love is denied C Jesus’ Authority D Example of Jesus D' Example to be followed C' Authority of the Master and the one who sent B' Love is affirmed A' Identity and mission of disciples in relation with Jesus

(13:1) (13:2) (13:3) (13:4–11) (13:12–15) (13:16–17) (13:18–19) (13:20).92

An diesem konkreten Beispiel lässt sich diskutieren, ob treffende Beobachtungen zum chiastischen Aufbau hier zu einer dominierenden Übergewichtung führen: Einerseits rückt dieser Ansatz neue Beobachtungen in den Blick (z. B. die Profilierung der teils parallelen Rollen des Petrus und des Judas; das Thema Feindesliebe in 13,1893), andererseits besteht hier die Gefahr einer Blickverengung: So ist fraglich, ob die bei Matthew genannten Überschriften zu den acht Sequenzen in 13,1–20 (A–D und A'–D') tatsächlich erschöpfend den Inhalt der jeweiligen Verse auf den Punkt bringen oder sich nicht (zumindest in Teilen) einem Systematisierungsinteresse verdanken.

3.3  Ironie und Rollenwechsel Das Phänomen und das theologische Potential von Ironie wird in der Johannesforschung noch nicht ausreichend erkannt bzw. unterschätzt. Das gilt trotz der Tatsache, dass es einige wertvolle Beiträge zu diesem Thema gibt.94 Hierbei ist insbesondere der Zusammenhang von Ironie, Rollenwechseln und ironischen  Ebd. 24.  Vgl. B. Mathew, The Johannine Footwashing (s. Anm. 55), 135–165 (Lit.). 92 Ebd. 142 et passim. 93 Vgl. ebd. 322–328. 94  Vgl. u. a.: D. W.  Wead, Literary Devices (s. Anm. 74), 59–88; Ders., Johannine Irony as a Key to the Author-Audience Relationship in John’s Gospel, in: F. O. Francis (Hg.), Biblical Literature. 1974 Proceedings, Tallahassee 1974, 33–50; P. D.  Duke, Irony in the Fourth Gospel, Atlanta 1985; G. MacR ae, Theology and Irony in the Fourth Gospel, in: M. W. G. Stibbe (Hg.), The Gospel of John as Literature, Leiden 1993, 103–114; R. A.  Culpepper, Reading John’s Irony, in: R. A. Culpepper / ​C. C. Black (Hgg.), Exploring the Gospel of John, Louisville 1996, 193–207; K. M.  Woschitz, Verborgenheit in der Erscheinung. Mystagogie und Spiritualität im Johannesevangelium, Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 13, Freiburg i. Br. 2012, 42–54 (mit Ausführungen zur Ironie in der Philosophiegeschichte). 90 91

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Fremdprophetien noch viel zu wenig berücksichtigt. Ironie und Rollenwechsel sind bedeutsam sowohl für die johanneische Christologie als auch für weitere Figurenzeichnungen im Johannesevangelium. Mit Blick auf das Buch Kohelet hat sich Bernd Willmes der Ironie in der zeitgenössischen Umwelt und in diesem biblischen Buch zugewendet95: Platon werte die sokratische Ironie als kritisch-schadenfrohes Spiel, als Überheblichkeit und Mittel zur polemischen Schmährede.96 Aristoteles werte in der Nikomachischen Ethik die Ironie negativ, insofern der Ironiker sich nicht so gibt, wie er in Wirklichkeit ist. Willmes schließt sich der Definition von antiker Ironie von Hannele Kohvakka an: „In der Ironie wird etwas gesagt, aber das Gegenteil oder ‚etwas anderes‘ gemeint. Dabei ist das Gemeinte immer mehr oder weniger mit negativen Bewertungen beladen. Diese negativ bewertende Natur der Ironie impliziert, dass in der Ironie immer ein Sachverhalt oder eine Person kritisiert wird.“97 Insgesamt lassen sich vier Typen von Ironie unterscheiden: die sich wehrende bzw. schützende, die konstruktiv-kritische, die liebevolle und die Überlegenheit manifestierende Ironie. Für Ironie gilt grundlegend: „Der Ironiker setzt sich mit der Wirklichkeit auseinander und distanziert sich von der Wirklichkeitssicht eines anderen.“98 Bei Kohelet findet B. Willmes eine konstruktiv-kritische, mäeutische Ironie. In der Moderne werde Ironie „als Vorbehalt, als reservatio also“ verstanden.99 Dieser Vorbehalt ist ein produktiver, insofern er nicht auf Destruktion zielt, sondern auf Vergewisserung, Prüfung, Vertiefung: „Da die ironische Äußerung ein vages ‚Mehr‘ an Bedeutung enthält, ist die Dekodierungs‑ bzw. Interpretationsleistung, die vom Hörer bzw. Leser erwartet wird, höher als bei normalen Äußerungen, so dass man mit mehr Mißverständnissen rechnen muß.“100

Im eigenen Beitrag „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“101 sind folgende Beispiele für Ironie, Rollenwechsel und ironische Fremdprophetien ausgeführt worden: (a) Jesus als Bräutigam der messianischen Heilszeit (vgl. Joh 2,1–11; 3,27–29); (b) Jesus als Messias, der „uns alles verkündet“ (Joh 4,25); (c) Jesus, der unbekannte Messias: „Wenn aber der Messias kommt, weiß niemand, woher er ist“ (Joh 7,27)102; (d) Jesus als anderer „Hoher Priester“ (vgl. Joh 11,47–53);  95 B. Willmes, Menschliches Schicksal und ironische Weisheitskritik im Koheletbuch. Kohelets Ironie und die Grenzen der Exegese, BThSt 39, Neukirchen-Vluyn 2000 (Lit.).  96 Vgl. ebd. 23. Diese Platoninterpretation ist jedoch wenig überzeugend; vgl. „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, S. 349–368 in diesem Band.  97 Ebd. 25.  98 Ebd. 31.  99 Ebd. 38. Er beruft sich auf U. Japp, Theorie der Ironie, Das Abendland N. F. 15, Frankfurt a. M. 21999. 100 Ebd. 45. 101  Vgl. auch „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, S. 349–368 in diesem Band. 102 Vgl. hierzu jetzt auch H. W.  Attridge, Ambiguous Signs, an Anonymous Character, Unanswerable Riddles, NTS 65 (2019), 267–288, hier: 279–288.

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(e) Jesus als König (vgl. Joh 19,14)103; (f ) Blindheit und Sünde in Joh 9: „Sind etwa auch wir Blinde?“ (Joh 9,40); (g) Jesus als Richter und Ankläger104 Darüber hinaus werden – ohne jede Vollständigkeit – drei weitere Belege genannt: (h) In Joh 5 mutiert der Geheilte vom Denunzianten zum Verkünder: Klaus Wengst u. a. deuten den Geheilten in Joh 5 als Denunzianten Jesu bei der jüdischen Behörde.105 Gegen diese Deutung spricht jedoch das Verb ἀνήγγειλεν in Joh 5,15, das Wengst mit „melden“106 übersetzt. Der Evangelist arbeitet gleichwohl luzider, als diese Auslegung es ihm zutraut: Mit dem Verb „verkündigen“ (vgl. nur Joh 4,25; 16,13–15.25; 20,18) deutet er an, dass der Geheilte – vielleicht ohne es wirklich zu verstehen – ein Zeugnis gibt und geben soll.107 (i) In den Dialogen Joh 8 finden sich mehrere ironische Verkehrungen und Wechsel: In Joh 8,22 sprechen „die Juden“ eine bedeutende Wahrheit aus, ohne es zu merken und zu wissen. Die impliziten Leser hingegen kennen den freiwilligen, heilstiftenden Weg Jesu in den Tod und durch den Tod hindurch. Joh 8,30–59 erzählt, dass „die Juden“ weder Jesus kennen noch um sich selbst, ihren eigenen Status, wissen.108 (j) Petrus Maritz erkennt in der johanneischen Charakterzeichnung von Judas in Joh 12,1–11 ein „ironic testimony of the fallen disciple“.109 (k) In ihrer Studie zur Gartenmetaphorik im Johannesevangelium arbeitet Igna M. Kramp heraus, wie Maria von Magdala Jesus als Gärtner verwechselt: In Joh 20,1–18 geht es um viel mehr als eine vordergründige, komische Verwechslung. Die johanneische Ironie erkennt in dieser Verwechslung eine tiefere Wahrheit: Der auferstandene Jesus ist eben doch ein Gärtner – ein Gärtner, der eine neue Schöpfung heraufführt (vgl. in Joh 20,22 in Anspielung auf Gen 2,7 f; 3,24; Hld 8,13LXX ). Dabei erfülle sich die 103  Vgl. hierzu zuletzt: J. Frey, „Seht, euer König!“ Die Johannes-Passion als Seh-Schule des Glaubens, Theologische Beiträge 19 (2019), 7–27. 104  Vgl. hierzu jetzt ausführlich: B. Lange, Der Richter und seine Ankläger. Eine narratologische Untersuchung der Rechtsstreit‑ und Prozessmotivik im Johannesevangelium, WUNT II/501, Tübingen 2019. 105 K. Wengst, Das Johannesevangelium, ThKNT IV,1–2, Stuttgart Teilband 1: (2000), 2. durchgesehene u. ergänzte Auflage 2004, 190; vgl. auch Teilband 2: (2001), 22007; (Neuausgabe in einem Band: Stuttgart 2019). In diesem Sinne auch R. Metzner, Der Geheilte von Johannes 5 – Repräsentant des Unglaubens, ZNW 90 (1999), 177–193. 106  Ebd. 197. 107  Vgl. hierzu auch weiterführend „Mündiger Glaube“, S. 230–256 in diesem Band. 108  Vgl. einführend hierzu: J. G. van der Watt, Ethics through the Power of Language. Some Explorations in the Gospel according to John, in: Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / ​Contexts and Norms of New Testament Ethics. Band II), WUNT II/296, Tübingen 2010, 139–167, hier: 149–151. 109 P. Maritz, Judas Iscariot: Ironic Testimony of the Fallen Disciple in John 12,1–11, in: J. Verheyden / ​G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R. Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and its Christology (s. Anm. 1), 289–316.

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„frühjüdische Erwartung des Paradieses … nach Johannes nicht in einem Raum, sondern in der Person Jesu, der deshalb von Maria naheliegenderweise mit ‚dem Gärtner‘ verwechselt wird.“110

Kasper B. Larsen reflektiert die johanneische Ironie mit dem Ergebnis: „In summary, whatever the actual form irony takes, be it verbal, dramatic, or situational, (the classifications are endless), irony necessarily involves issues of belief or value at some level of perception. With this in mind, irony may be characterized as positive, equivocal, or negative with reference to values and beliefs on which it operates. Insofar as their respective value structures are accepted, both positive and negative ironies are stable whereas equivocal irony is unstable or ambiguous.“111 Die Analyse von Joh 11,47–52112 führt Tobias Nicklas zur johanneischen Leserführung durch Ironie: „Der Leser, dem die Abgründe der Ironie entdeckt sind, wird die Perspektive des sich als überlegen erwiesenen Erzählers übernehmen: Gerade dadurch wird ihm Kajaphas zur ironischen Figur, weil dieser, der sich der Unwissenheit des Synhedriums überlegen fühlt, in seiner Aussage, in der er klug sein eigentliches Anliegen zu verschleiern sucht, zum unbewußten Propheten wird.“113

Diese Hinweise zeigen in aller Deutlichkeit auf, dass die johanneische Ironie und die damit verbundenen Rollenwechsel eine lohnende Forschungsaufgabe darstellen. Hier können noch manche Schätze gehoben werden! 3.4  Metaphorik, Symbolik und Ästhetik 3.4.1  Metaphorik, Symbolik Die johanneische Bildsprache insgesamt sowie ihre konkreten Bildfelder, ihr hermeneutisches Potential sowie ihre wechselseitigen Verschränkungen bzw. Vernetzungen sind wiederholt eingehend untersucht worden:114 Für die die jo110  I. M.  Kramp, Die Gärten und der Gärtner im Johannesevangelium. Eine raumsemantische Untersuchung, FThSt 76, Münster 2018, 280; vgl. 257–282.290–292; vgl. ebd. 281: „Der Garten ist das Resultat der Passion, und deshalb findet die erste Begegnung mit dem Auferstandenen im Garten statt. Dabei wird die Bedeutung des Gartens personalisiert, das heißt die Gemeinschaft wird dauerhaft in der reziproken Immanenz mit Jesus und dem Vater und unabhängig vom Garten  – oder in gewisser Weise ‚über ihn hinaus‘  – realisiert.“ Vgl. Dies., „Habe ich Dich nicht mit ihm im Garten gesehen?“ (Joh 18,26). Jesu Jünger in Joh 18,6 f und die antiken Philosophenschulen im Garten, in: J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Erzählung und Briefe (s. Anm. 10), 43–56. 111  K. B.  Larsen, Archetypes (s. Anm. 21), 151 f; vgl. ebd. 121–152: Irony, Thomas, and the Jews. 112  Vgl. zur Ironie in Joh 11,47–52 auch J. Frey, Heiden (s. Anm. 31), 315–318; zur Ironie in Joh 7 ebd. 324–327. 113  T. Nicklas, Prophetie (s. Anm. 65), 593. 114  Vgl. D. W.  Wead, Literary Devices, 89–121; grundlegend R. Zimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10, WUNT 171, Tübingen 2004; J. Frey / ​J. G. van der Watt / ​R. Zimmermann (Hgg.), Imagery in the Gospel of John. Terms, Forms, Themes and Theology of Johannine Figurative Language, WUNT 200, Tübingen 2006 (Lit.).

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hanneische Licht-Finsternis-Metaphorik ist die Monographie von Otto Schwankl unüberholt.115 Als herausragende Beispiele seien die Familienmetaphorik116, die Geburtsmetaphorik117, die Hirtenmetaphorik, die Ehe‑ bzw. Braut‑ und Bräutigammetaphorik118, die Nahrungsmetaphorik (Wasser119, Brot und Wein120 bzw. Weinbau/‑stock121), die juristische Metaphorik122, die Tempel‑123 und die Gartenmetaphorik124 genannt. 115  O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995; Ders., Aspekte der johanneischen Christologie, in: G. Van Belle / ​J. G. van der Watt / ​P. Maritz (Hgg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel (s. Anm. 1), 347–375; vgl. auch: R. Hirsch-Luipold, Klartext in Bildern. ἀληθινός κτλ., παροιμία – παρρησία σημεῖον als Signalwörter für eine bildhafte Darstellungsform im Johannesevangelium, in: J. Frey / ​J. G. van der Watt / ​R . Zimmermann (Hgg.), Imagery in the Gospel of John (s. Anm. 114), 61–102. 116  Vgl. u. a. J. G. van der Watt, Family of the King. Dynamics of Metaphor in the Gospel according to John, BIS 47, Leiden 2000. J. G. van der Watt zeigt auf, dass das familienmetaphorische Bildfeld, das die alltägliche Lebenserfahrung und soziale Realität menschlichen Lebens in der antiken Mittelmeerwelt aufgreift und kritisch übersteigt, im Johannesevangelium die durchgehende Leitmetaphorik darstellt, der sich andere Metaphoriken netzwerkartig zuordnen. Gerade in der Zusammenschau und Konvergenz metaphorischer Aussagen im Johannesevangelium liegt ein innovativer Impuls dieser Arbeit; vgl. auch Ders., The Dynamics of Metaphor in the Gospel of John, SNTU 23 (1998), 29–78; sowie den Beitrag „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, S. 205–229 in diesem Band. 117  Vgl. K. M.  Woschitz, Verborgenheit in der Erscheinung (s. Anm. 94), 200–219; U. U. Kaiser, Die Rede von „Wiedergeburt“ im Neuen Testament. Ein metapherntheoretisch orientierter Neuansatz nach 100 Jahren Forschungsgeschichte, WUNT 413, Tübingen 2018. 118   Vgl. u. a. S. M. Schneiders, Written That You May Believe. Encountering Jesus in the Fourth Gospel, New York 1999, 26.35.135–137. Vgl. R. Zimmermann, Jesus  – the Divine Bridegroom? John 2–4 and Its Christological Implications, in: B. Reynolds / ​G. Boccaccini (Hgg.), Reading the Gospel of John’s Christology as Jewish Messianism. Royal, Prophetic, and Divine Messiahs, Ancient Judaism and Early Christianity 106, Leiden 2018, 358–386. 119  Vgl. u. a.: M. Gruber, Der Quelle zu trinken geben. Eine intratextuelle Lektüre von Joh 4,1– 42, Joh 7,37–39 und Joh 19,28–37, verbunden mit einer methodischen Überlegung zum ModellLeser, in: G. Steins / ​E. Ballhorn (Hgg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Beispielexegesen und Methodenreflexion, Stuttgart 2007, 314–330; K. M.  Woschitz, Verborgenheit in der Erscheinung (s. Anm. 94), 219–228; R. Zimmermann, From a Jewish Man to the Savior of the World. Narrative and Symbols forming a Step by Step Christology in John 4,1–42, in: J. Verheyden / ​G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R. Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and its Christology (s. Anm. 1), 99–118. 120 Zu diesen Metaphern im Johannesevangelium vgl. J. Heilmann, Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen, BZNW 204, Stuttgart 2014 (zur kritischen Auseinandersetzung mit seiner These vgl. „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6, 35), S. 279–302 in diesem Band). Vgl. auch S. Petersen, Brot, Licht und Weinstock. Intertextuelle Analysen johanneischer Ich-bin-Worte, NT.S 127, Leiden 2008. 121  Vgl. K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), 275–316. 122  Vgl. u. a.: P. J.  Bekken, The Lawsuit Motif in John’s Gospel from New Perspectives. Jesus Christ, Crucified Criminal and Emperor of the World, BIS 158, Leiden 2015. 123  Vgl. hierzu: J. Frühwald-König, Tempel und Kult. Ein Beitrag zur Christologie des Johannesevangeliums, BU 27, Regensburg 1998. U. Busse deutet die joh Tempelmetaphorik als „theologisches Zentrum“ (Ders., Johannesevangelium [s. Anm. 68], 323–366; vgl. 92–98). Busse zeigt auf, dass die johanneische Tempelmetaphorik im Gesamt des Johannesevangeliums umfangreichere bzw. weitreichendere Bezüge entfaltet hat, als vielfach angenommen wurde (vgl. seine Auslegungen zu Joh 1,14.19–20.29.36.51; 2,13–22; 4,4–44; 6,45; 7,15.37–39; 11,47 ff; 14,2–3; 15,1–8;

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Am Beispiel der Brotmetapher in Joh 6 lässt sich das Wirkungspotential der biblisch-johanneischen Metaphorik sehr präzise aufzeigen und nachvollziehen: Jörg Frey zeigt auf, wie die verschiedenen Sinnebenen der Brotrede (Brot als Nahrungsmittel, als Symbol des Lebens, als personale Metapher, als eucharistische Gabe) in der Komposition von Joh 6 aufgenommen, anverwandelt und erschlossen werden.125 An diesem Beispiel wird gut nachvollziehbar, dass und wie die kaum mehr zu überschauende Vielzahl (mitunter auch die Exzesse) literarkritischer Operationen im Johannesevangelium ihre Überzeugungskraft verloren haben. Untersuchungen zur Symbolik im Johannesevangelium126 sind mit den komplexen Fragen einer genauen Definition von Symbolik, der Verhältnisbestimmung 16,33; 19,14.31–37). Johannes deute „die Jesusgeschichte als ‚Tempel im Vollzug‘“ (365) und erweise so seinen synthetischen Denkstil „nicht in konkurrierenden, sich gegenseitig ausschließenden, sondern relationalen Kategorien“ (365). „Die relationale Christologie des vierten Evangeliums verbindet soteriologisch Himmel und Erde, Anfanglosigkeit und Geschichte, Not und Beistand“ (412). Vgl. auch: M. L.  Coloe, God Dwells with us. Temple Symbolism in the Fourth Gospel, Collegeville 2001; Dies., Temple Imagery in the Gospel of John, Interpretation 63 (2009), 368– 81; C. Umoh, The Temple in the Fourth Gospel, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 314–333; A. R.  Ker, The Temple of Jesus’ Body. The Temple Theme in the Gospel of John, JSNT.S 220, Sheffield 2003; K. M.  Woschitz, Verborgenheit in der Erscheinung (s. Anm. 94), 191–199; J. Frey, Temple and Identity in Early Christianity and in the Johannine Community. Reflections on the ‚Parting of the Ways‘, in: R. Schwartz / ​Z. Weiss (Hgg.), Was 70 CE a Watershed in Jewish History?, AJEC 78, Leiden 2012, 447–507. 124 Vgl. R. Zimmermann, Christologie der Bilder (s. Anm. 114), 154–163; Ch. Koch, „Es war aber an dem Ort ein Garten“ (Joh 19,41). Der Garten als bedeutsames Erzählmotiv in den johanneischen Passions‑ und Auferstehungstexten, in: K. Huber / ​B. Repschinski (Hgg.), Im Geist und in der Wahrheit. Studien zum Johannesevangelium und zur Offenbarung des Johannes sowie andere Beiträge (FS M. Hasitschka), NTA.NF 52, Münster 2008, 229–238; I. M.  Kramp, „Habe ich Dich nicht mit ihm im Garten gesehen?“ (Joh 18,26) (s. Anm. 110); Dies., Die Gärten und der Gärtner im Johannesevangelium (s. Anm. 110), mit Hinweis auf die Verbindung zwischen Garten‑ und Tempelmetaphorik in Joh 18 (vgl. Ez 47,1–12). Vgl. auch V. Burz-Tropper, „Ich bin die Tür“ (Joh 10,7.9). Die Eröffnung neuer Räume durch Jesus (Gott) im Johannesevangelium, PzB 26 (2017), 65–83. 125  J. Frey, Das Bild als Wirkungspotential. Ein rezeptionsästhetischer Versuch zur Funktion der Brot-Metapher in Johannes 6 (2000), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 381–407. Eine literarkritische Schichtung und Abtrennung für Joh 6,51c–58 ist auch deshalb unsachgemäß; vgl. ebd. 394.403 f. 126   Vgl. u. a.: R. Kieffer, Le monde symbolique de Saint Jean (LD 137), Paris 1989; Th. Söding, Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Anmerkungen zur Symbolsprache des Johannesevangeliums am Beispiel des Nikodemusgesprächs (Joh 3,1–21), in: K. Kertelge (Hg.), Metaphorik und Mythos im Neuen Testament, QD 126, Freiburg i. Br. 1990, 168–219; C. R.  Koester, Symbolism in the Fourth Gospel. Meaning, Mystery, Community, Minneapolis 22003; R. Zimmermann, Christologie der Bilder (s. Anm. 114), 137–165 et passim; Ders., Opening up Paths into the Tangled Thicket of John’s Figurative World, in: The Gospel of John. Terms, Forms, Themes and Theology of Figurative Language (WUNT 200), Tübingen 2006, 1–43; J. G. van der Watt, Symbolism in John’s Gospel. An evaluation of Dodd’s contribution, in: T. Thatcher / ​ C. H. Williams (Hgg.), Engaging with C. H. Dodd on the Gospel of John (s. Anm. 1), 66–85; R. A.  Culpepper, David W. Wead’s Contribution to Johannine Scholarship, in: D. W. Wead, Literary Devices (s. Anm. 74), xi–xxix, hier: xxi–xxii (Lit.); D. A.  Lee, Symbolism and ‚Signs‘ in the Fourth Gospel, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 259–273 (Lit.).

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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von Symbolik und Metaphorik sowie der Identifikation bzw. Abgrenzung des spezifisch johanneischen Textbefundes und dessen theologischer Interpretation befasst.127 3.4.2 Ästhetik Die besondere johanneische Sehweise bzw. Wahrnehmungslehre wird schon bei Klemens von Alexandrien angesprochen (Eusebius, Hist. eccl. 6.14.7). In der neueren Johannesforschung hat Franz Mußner mit seinem Beitrag „Die johanneische Sehweise“128 weitere Impulse ausgelöst.129 Clemens Hergenröder130 hat die mit dem Wortfeld des „Sehens“ im Corpus Johanneum (vgl. die vier Verben βλέπειν, θεωρεῖν, θεᾶσθαι, ὁρᾶν [ἰδεῖν – ὄψεσθαι]) ein johanneisches Wortfeld von hoher Relevanz aufgearbeitet: Die vielfältige Rede vom „Sehen“ im Johannesevangelium ist ein markanter Teil der johanneischen Epiphanie-Theologie, die die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes in der Sendung seines Sohnes und ihre Aufnahme durch den Menschen ins Wort bringt. Explizit und implizit setzt sich Clemens Hergenröder auch mit einer auf das Hören des 127 Vgl. einführend: R. Zimmermann, Christologie der Bilder (s. Anm. 114), 137–165. Zimmer-

mann spricht von einer „symbolischen Bildlichkeit“ im Johannesevangelium. Für S. M. Schneiders kommt der johanneischen Symbolik hohe Bedeutung für das Johannesevangelium zu; vgl. Dies., Written that You May Believe (s. Anm. 118), 63–77. Im Unterschied zum Zeichen stehe ein Symbol nicht für eine abwesende Realität, auf die das Zeichen verweist, sondern für die Gegenwart dieser Realität. „Symbol can be defined as (1) a sensible reality (2) which renders present to and (3) involves a person subjectively in (4) a transforming experience (5) of transcendent mystery“ (ebd. 66). So wie Jesus das große Symbol für Gott ist, d. h. seine Gegenwart vermittelt, und wie die Werke (die johanneischen Semeia sind im Sinne von Schneiders Symbole) und Worte Jesu ihn selbst vergegenwärtigen, so will auch das Johannesevangelium selbst Jesus für die Lesenden aller Zeiten vergegenwärtigen, die deshalb aus erster Hand aufgrund ihrer persönlichen Christusbegegnung glauben können (vgl. ebd. 36 f.77.124.166). „The Gospel text is the literary resymbolization of Jesus for successive generations“ (ebd. 74). Insgesamt gilt: „According to John, the incarnation was the inauguration of a symbolic or sacramental economy of salvific revelation …“ (ebd. 68 f ). 128  F. Muẞner, Die johanneische Sehweise und die Frage nach dem historischen Jesus, QD 28, Freiburg i. Br. 1965. 129   Vgl. u. a. O. Schwankl, Licht und Finsternis (s. Anm. 115), der die johanneische Vorliebe für die visuelle Dimension am Beispiel der Licht-Finsternis-Metaphorik herausarbeitet. 130  C. Hergenröder, Wir schauten seine Herrlichkeit. Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont von Selbsterschließung Jesu und Antwort des Menschen, Würzburg 1996. Vgl. auch: Sh.-E. Farrell, Seeing the Father (Jn 6:46, 14:9). Part I: From Non-Seeing to Relational Seeing; Part II: Perceptive Seeing and Comprehensive Seeing; Part III: Eschatological Seeing and Memorial Seeing, ScEs 44 (1992) 1–24.159–183.307–329; R. Zimmermann, Christologie der Bilder (s. Anm. 114), 29–59, hier 55: „Auch das zum Glauben führende geistige Sehen schließt die sinnliche Dimension mit ein, weil gerade das Sichtbarwerden des Logos im Fleisch (Joh 1,14) die Voraussetzung des ganzen Evangeliums ist.“ Und: „Sehen – und das gilt gerade auch für das christologische Sehen – bleibt ein Akt der Unverfügbarkeit“ (59). Vgl. auch C. Wiliams, Text and Experience. Reflections on „Seeing“ in the Gospel of John, in: B. Schmidt (Hg.), The Study of Religious Experience, London 2016, 135–50; Dies., (Not) Seeing God in the Prologue and Body of John’s Gospel, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John. Its Literary, Theological, and Philosophical Contexts, WUNT 359, Tübingen 2016, 79–98.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Wortes Gottes enggeführten Wort-Gottes-Theologie, sofern sie den Sehakt des Glaubens ausblendet, auseinander. Die Sprache des „Sehens“ wird plausibel dem umfassenderen Aussagen über die Auf‑ und Annahme der Offenbarung im Johannesevangelium zugeordnet (vgl. „glauben“, „zu Jesus kommen“, „aufnehmen“, „bleiben“, „lieben“, „hören“, „lernen“, „erkennen“, „wissen“). Innerhalb dieser gnoseologischen Terminologie kommt dem „Sehen“ eine herausragende Funktion zu. Deshalb kann der Evangelist mit Romano Guardini als „Mann des Auges“ charakterisiert werden: „‚Epiphanie‘ bedeutet, dass etwas ‚erscheint‘, in leibhaftiger Gestalt aufleuchtet.“131 Das johanneisches Denken und die johanneische Sprache lassen sich unter dem Gesichtspunkt der sichtbaren Epiphanie Gottes erschließen. Mit Kategorien der theologischen Sprachphilosophie deutet Hergenröder die johanneische Sprache als „erschließende“, „vom Geschehen der Offenbarung ermöglichte“, als „bekennende und Bedeutungstiefe eröffnende“, als „dialogische und appellative Sprache“.132 „Sehen“ und „Schauen“ erweisen sich im johanneischen Sprachgebrauch als ein ganzheitliches, die „äußere und die innere Wahrnehmung umgreifendes“, auf eine Sinngestalt bezogenes Erfassen.133 Der Gebrauch von βλέπειν ist maßgeblich vom Sehen mit den Augen des Leibes, von der tatsächlichen Wahrnehmung von Gegenständen geprägt. Bei θεωρεῖν, dessen Objekt oftmals der irdische bzw. der erhöhte Jesus ist, tritt stärker die innere Wahrnehmung, das innere Sehen (vgl. Joh 14,17) hinzu: Gemeint ist „ein konzentriertes, intensives Schauen …, ein sehendes Verweilen beim Gegenstand.“134 Bei θεᾶσθαι, das der Verwendung von θεωρεῖν sehr nahe kommt, liegt dem Evangelisten nicht so sehr an der aktiven Komponente im Sehvorgang, sondern an dem passiven Ergriffensein vom Gegenstand.135 Wird ὁρᾶν und ἰδεῖν in der LXX und im außerjohanneischen Gebrauch des NT für ein visionär-prophetisch-ekstatisches Sehen verwendet, so beschreiben ὁρᾶν – ἰδεῖν – ὄψεσθαι bei Johannes besonders die Unmittelbarkeit des Sohnes zum Vater (vgl. Joh 1,18; 5,37–38; 6,46; 8,38), das Sichtbarwerden des Vaters im Sohn (vgl. Joh 14,7–10; 1 Joh 1,1–4; 3,6), das Sehen der Zeichen Jesu (vgl. Joh 4,48; 6,14.26.30), das Sehen der Jünger als Jesus-Begegnung (vgl. Joh 1,33.39.46.50–51; 4,29; 12,21; 16,16–17.19.22; 19,37) bzw. als Gottes-Schau (vgl. Joh 11,40; 1 Joh 3,1–3), das prophetische Sehen auf Jesus (Joh 8,56; 12,41), das Sehen als Heilsteilhabe (vgl. Joh 3,3), das erkennende Sehen Jesu (vgl. Joh 1,47.48.50; 19,26–27) und die Ostererfahrungen (vgl. Joh 20,8.18.20.25.29). Bei den letztgenannten Stellen meint ‚Sehen‘ „ein passives, entgegennehmendes Sehen, … ein Zum-Sehen-Gebracht-

 R. Guardini, Johanneische Botschaft, Freiburg [1962] 1981, 53.  Vgl. C. Hergenröder, Wir schauten seine Herrlichkeit (s. Anm. 130), 28–40. 133  Ebd. 61; vgl. 49–56. 134  Ebd. 93. 135  Vgl. ebd. 104 f. 131 132

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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werden“136. Gemeinsam ist diesen genannten Verwendungszusammenhängen der Überschritt von der sinnlichen Wahrnehmung zur inneren Einsicht. Johannes unterscheidet punktuelles und duratives ‚Sehen‘, einfaches Erblicken und verweilendes Schauen. „Sehen“ hat personalen, ganzheitlichen, intuitiven (und nicht zergliedernden), gegebenen (und nicht beherrschenden) Charakter. ‚Sehen‘ meint das Geschehen eines Empfangens und Entgegennehmens. Hergenröder verortet den Textbefund zu „Sehen“ im Johannesevangelium im Kontext der joh Epiphanie-Theologie: Auf der Seite der die Offenbarung Empfangenden entspricht der Epiphanie Gottes in seinem Sohn nicht allein das „Hören“, sondern der auf die Herrlichkeitsoffenbarung gerichtete Sehakt. Dabei deutet er die johanneischen Zeichen als Offenbarung der Doxa Jesu bezogen auf die Herrlichkeits‑ und Selbstoffenbarung Jahwes (bes. Ex 16). Joh 9 veranschaulicht den Prozesscharakter des Zum-Glauben-Kommens, des Überstiegs vom Zeichenglauben zum christologischen „Sehen“, den universalen Horizont sowie die scheidende Wirkung der Selbstoffenbarung Jesu.137 Dies wiederum führt unmittelbar zu der Frage der Verhältnisbestimmung von πιστευεῖν und „sehen“ im Johannesevangelium: Lässt sich der geforderte Glaube als „alle Dimensionen der menschlichen Existenz ergreifende Antwort auf das Offenbarungsgeschehen“138 interpretieren, dann sind „sehen“ und „glauben“ als Komplementärbegriffe zu verstehen. So begründet Hergenröder die These vom „Sehen als eigenständigem Glaubensmotiv“, so dass bei Johannes die fides ex visione neben der fides ex auditu stehe.139 Da für die johanneische Evangeliendarstellung, bes. die Abschiedsrede in Joh 13,1–17,26, die „Verschmelzung der Zeithorizonte“ charakteristisch ist,140 bestimmt Hergenröder das nachösterliche Sehen Jesu (vgl. Joh 14,16 f.19.26) als „pneumatisches Sehen“: „Wenn Jesus als der Lebende für die Jünger auf Dauer schaubar bleibt, dann ist der Ermöglichungsgrund dafür das Bleiben des Geistes der Wahrheit bei ihnen und sein Sein in ihnen.“141

Die Bedeutung der Sinneswahrnehmung im Johannesevangelium hat zuletzt Rainer Hirsch-Luipold monographisch aufgegriffen und zugespitzt.142 Er wendet  Ebd. 147; vgl. 534–561.  Vgl. ebd. 280–319. 138  Ebd. 492. 139  Vgl. ebd. 508. 140  Vgl. ebd. 577–597. Vgl. hierzu die Ausführungen in 3.8 und den Beitrag „Abschied und neue Gegenwart“, S. 369–394 in diesem Band. In diesem Beitrag wird auch die Verwendung des Singulars Abschiedsrede für Joh 13,1–17,26 begründet. 141  Ebd. 589. 142  Vgl. R. Hirsch-Luipold, Gott wahrnehmen. Die Sinne im Johannesevangelium, WUNT 374, Tübingen 2017. Vgl. auch Ders., „Gott hat niemand je gesehen“ (Joh 1,18). Zur Wahrnehmbarkeit des ,unbekannten Gottes‘, in: R. Feldmeier u. a. (Hg.), Erkenntnis, Eschatologie und Ethik in Religionen der Spätantike und des frühen Mittelalters, Tübingen 2016, 27–34. Vgl. S. KuanHui Wang, Sense perception and Testimony in the Gospel according to John, WUNT II/435, 136 137

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

sich insbesondere denjenigen menschlichen Sinnen zu, die – im Unterschied zu „sehen“ und „hören“143 – in der Johannesforschung bisher ein eher übersehenes Nischendasein144 fristen: Geschmackssinn in Joh 2,1–11, Geruchssinn in Joh 11–12 und Tastsinn in Joh 20145. Seine Methode ist die „Motivinterpretation“, die er mit der johanneischen Symbolik korreliert.146 Durchgehend betont Hirsch-Luipold, dass der Evangelist „auf vorgegebene Traditionen, Motive und Prätexte mit den durch sie bereitgestellten Deutungshorizonten zurückgreift. Diese Traditionsbezüge werden vom Evangelisten literarisch in die Motivlinien der Wahrnehmung des in Christus gegenwärtig gewordenen Heils eingeordnet, um so den Leserinnen und Lesern zu signalisieren, welche Bedeutungsmöglichkeiten jeweils aktualisiert werden sollen.“147

Inhaltlich sieht er die Basis für die auffällige Hochschätzung der menschlichen Sinne in den christologisch-theologischen Aussagen des Prologs in Joh 1,14 und 1,18:148 Das Johannesevangelium reklamiert „einen einzigen Kontaktpunkt innerhalb von Geschichte und Welt (…), der einen Zugang zur Ebene der göttlichen Wahrheit erlaubt, nämlich den einziggeborenen Sohn Gottes als dessen fleischgewordenes Wort.“149

Konsequent widerspricht Hirsch-Luipold den Interpretationen, die Geschichtliches und Symbolisches gegenseitig auflösen: „Gegenüber einer Auflösung des Geschichtlichen ins Symbol ist die Konkretheit des Körperlichen in dieser Erzählung [scil. Joh 2,1–11] festzuhalten: Es handelt sich bei der Übertragung nicht nicht um ein bloß intellektuelles Spiel … Wenn man, wie wir das versucht Tübingen 2017, hier 222: „John does not downplay sense perception. He uses it in relation to testimony as a means of persuasion to serve his rhetorical purpose: …“ Eine entgegengesetzte Auffassung vertritt H.-Ch. Kammler, Christologie und Eschatologie. Joh 5,17–30 als Schlüsseltext johanneischer Theologie, WUNT 126, Tübingen 2000, der postuliert, dass „der Glaube einzig durch die worthafte Selbsterschließung Jesu gewirkt wird“ (ebd. 129). Dies ist zwar eine gut reformatorische Annahme, im Johannesevangelium dürfen die Verben, die die sinnliche Wahrnehmung betonen, jedoch nicht ausgeblendet werden. 143  Vgl. hierzu R. Hirsch-Luipold, Gott (s. Anm. 142), 2–5. 144  Vgl. ebd. 6–8. 145 Vgl. hierzu auch: R. Bieringer, Ῥαββουνί in John 20:16 and its Implications for Our Understanding of the Relationship between Mary Magdalene and Jesus, in: Ders. / ​B. Baert / ​ K. Demasure (Hgg.), Noli me tangere in Interdisciplinary Perspective. Textual, Iconographic and Contemporary Interpretations, BEThL 283, Leuven 2016, 3–42. 146 Vgl. R. Hirsch-Luipold, Gott (s. Anm. 142), 13–24.347–350. Zur religionsgeschichtlichen Bewertung der sogenannten „niederen Sinne“ vgl. auch: R. Feldmeier, Der unsichtbare Gott und die menschlichen Sinne, in: Ders., Der Höchste. Studien zur hellenistischen Religionsgeschichte und zum biblischen Gottesglauben, WUNT 330, Tübingen (2014) Studienausgabe 2018, 313–336. 147  R. Hirsch-Luipold, Gott (s. Anm. 142), 276. 148 Vgl. ebd. 25–99; vgl. hier auch die religionsgeschichtliche Profilierung der joh Theologie der Wahrnehmbarkeit Gottes sowie die Hinweise auf die „literarischen Signale für Brechungen der Wahrnehmung“ im Johannesevangelium. 149  Ebd. 130.

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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haben, das Wunder als Zeichen in seinem Verweischarakter ernst nimmt, und dabei seine Geschichtlichkeit nicht allegorisch oder symbolisch auflöst, gilt es zu spezifizieren, welcher Aspekt der Erzählung genau den Verweis leistet, worauf er referiert und in welcher Weise der Verweis geschieht.“150

Für Joh 2,1–11 hält Rainer Hirsch-Luipold fest: „Das erste Zeichen will nicht als Machtzeichen und Legitimationswunder Jesus als den gekommenen Messias ausweisen, sondern die Sendung und Bedeutung des Messias angesichts des Christusgeschehens reinterpretieren. Der erste semeion ist mehr als eine Wundertat, es ist ein Zeichen der in der Fleischwerdung Jesu erfahrbaren Realität eines Lebens in der Gottespräsenz. In der körperlich-sinnlichen Begegnung mit Jesus steht der Himmel offen (vgl. 1,51; 2,11).“151 „Im offenstehenden Himmel entschränken sich dabei die lokalen und temporalen Kategorien: Die Teilnehmer des Festes bekommen einen Vorgeschmack des endzeitlichen Festes im Reich Gottes bereits hier und jetzt.“152

Mit der neueren Forschung gilt es, die irreduziblen Eigenbedeutungen, das hermeneutische Potential und die wechselseitigen Verstärkungen bzw. Verschränkungen der johanneischen Metaphorik, Symbolik und Ästhetik wahrzunehmen und für die exegetisch-theologische Interpretation des Johannesevangeliums fruchtbar zu machen. Gemeinsam ist dieser christologisch fokussierenden johanneischen Sprache die Nähe zur ganzheitlichen menschlichen Erfahrungswirklichkeit (einschließlich der unmittelbaren Körperlichkeit), aus der heraus die johanneische Sprache schöpft und die sie zugleich unmittelbar anspricht. Rainer Hirsch-Luipold stellt drei maßgebliche, konvergierende Forschungstendenzen in der Johannesexegese heraus, die einen Paradigmenwechsel bedeuten: „1. Verlagerung des Auslegungsparadigmas von einer historisch-entstehungsgeschichtlichen hin zu einer synchron-literarischen und literarturwissenschaftlichen Betrachtung des Evangeliums als Voraussetzung für die Frage nach der strukturbildenden und interpretatorischen Qualität eines literarischen Motivs. 2. Eine verstärkte Wahrnehmung und hermeneutische Reflexion bildhaft-symbolischer Aspekte des vierten Evangeliums. Geschichtliche-körperliche Grundlage und spirituelle Deutung des Jesusgeschehens in der johanneischen Jesuserzählung werden durch solche Interpretationsverfahren zusammengeschaut, ohne eines in das andere aufzulösen. 3. Die insbesondere von Marianne M. Thompson und Dorothy A. Lee geleistete Neubewertung der körperlichen Aspekte im Zusammenhangm der inkarnatorischen Christologie des Evangeliums in Verbindung mit einer konsequent theologischen Interpretation.“153

150 Ebd.

128.  Ebd. 188. 152  Ebd. 189. 153  Ebd. 9. Er verweist auf M. M.  Thompson, The Incarnate Word. Perspectives on Jesus in the Fourth Gospel, Peabody 1988; Dies., The God of the Gospel of John, Grand Rapids 2001; D. A.  Lee, Flesh and Glory. Symbolism, Gender and Theology in the Gospel of John, New York 2002; Dies., The Gospel of John and the Five Senses, JBL 129 (2010), 115–127 (Lit.). 151

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Mit Rainer Hirsch-Luipold und Philippe Van den Heede154 ist die Inkarnationschristologie (Joh 1,14.18; 1,51 f; 2,11 u.v. a.m.) und ihre im Gesamt des Johannesevangeliums durchgehaltenen anthropologischen, christologischen und theologischen Konsequenzen für die Bedeutung der Menschheit bzw. Leiblichkeit Jesu155 und der Leiblichkeit der Glaubenden und ihrer Glaubenserfahrungen festzuhalten. 3.5  Relekture, réécriture und rekursive Lektüre 3.5.1 Relekture Das Paradigma der Relekture kommt in der alttestamentlichen, frühjüdischen wie neutestamentlichen Schriftauslegung vielfältig zur Anwendung. In der Johannesforschung ist es intensiv zur Auslegung der Abschiedsrede angewandt worden.156 Ein führender Protagonist dieser Auslegungsrichtung ist Jean Zumstein.157 Auch die Johannesexegese von Johannes Beutler wendet das Paradigma Relekture durchgehend an.158 Der Verfasser hat sich dazu geäußert und bekannt.159 Andreas Dettwiler hat sechs idealtypische Regeln des Paradigmas Relekture zusammengestellt: (1) Relekture ist ein intertextuelles Phänomen, das zugleich in synchroner und in diachroner Hinsicht zu analysieren ist. 154 Ph. Van den Heede, Der Exeget Gottes. Eine Studie zur johanneischen Offenbarungstheologie, HBS 86, Freiburg i. Br. 2017. 155  Vgl. hierzu auch J. R ahner, „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“. Jesus von Nazaret als Ort der Offenbarung Gottes im vierten Evangelium, BBB 117, Bodenheim 1998; J. Frey, Leiblichkeit und Auferstehung im Johannesevangelium (2009), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9) 699–738. Vgl. auch Th. Söding, Ecce homo. Die johanneische Ikone des Menschen, ZThK 114 (2017), 119–137. 156  Vgl. „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), S. 151–172, „Relecture und réécriture“, S. 173–202 und „Abschied und neue Gegenwart“, S. 369–394 in diesem Band und: M. Winter, Das Vermächtnis Jesu und die Abschiedsworte der Väter. Gattungsgeschichtliche Untersuchung der Vermächtnisrede im Blick auf Joh. 13–17, FRLANT 161, Göttingen 1994; A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169, Göttingen 1995; D. F.  Tolmie, Jesus’ Farewell to the Disciples. John 13:1– 17:26 in Narratological Perspective, BIS 12, Leiden 1995; Ch. Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden, WUNT 95, Tübingen 1997; H.-J. Klauck, Der Weggang Jesu. Neue Arbeiten zu Joh 13–17, BZ 40 (1996), 236–250; K. Haldimann, Rekonstruktion und Entfaltung. Exegetische Untersuchungen zu Joh 15 und 16, BZNW 104, Berlin 2000. 157 Vgl. J. Zumstein, Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage Zürich 2004; Ders., Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur (1996), ebd. 15–30; Ders., L’évangile johannique, une stratégie du croire (1989/dt. 1997), ebd. 31–45; Ders., Erinnerung und Oster-Relecture im Johannesevangelium (1991), 47–63; Ders., Ein gewachsenes Evangelium. Der relecture-Prozess bei Johannes, in: Th. Söding (Hg.), Johannesvangelium – Mitte oder Rand des Kanons? (s. Anm. 4), 9–37; Ders., Johannesevangelium (s. Anm. 58). 158  J. Beutler, Johannesevangelium (s. Anm. 58); Ders., Welche Einheit der Kirche?, StdZ 236 (2018), 414–422. 159 Vgl. „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), S. 151–172 und „Relecture und réécriture“, S. 173–202 in diesem Band; K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), 131–139.

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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(2) Der Rezeptionstext setzt das im Bezugstext Entwickelte als grundsätzlich weiterhin gültig voraus. (3) Relekture vollzieht sich in der zweifachen Bewegung von explizierender Rezeption und thematischer Akzentverlagerung. (4) Der Rezeptionstext ist von Anfang an als Rezeptionstext konzipiert worden. (5) Beweggrund für relecture kann einerseits ein genuin innertheologisches Bedürfnis nach weiterer Entfaltung des tradierten Sachverhalts und andererseits eine neue geschichtliche Situation sein. (6) Die Autorenfrage ist nicht von zentraler Bedeutung für das Verständnis von Relekture.160 Dabei wird dieser methodische Zugang zu den Texten des Johannesevangeliums inhaltlich mitunter erheblich unterschiedlich durchgeführt: Jean Zumstein geht davon aus, dass die Relekture in den früheren Text nicht korrigierend eingreift und diesen auch nicht theologisch weitreichend ggfs. bis hin zur gegenteiligen Aussage verändert, sondern den früheren Text entfaltet und profiliert. Folgt man dem Ansatz von Jean Zumstein, dann ist es letztlich schwer zu unterscheiden, ob eine Relekture auf den gleichen Verfasser z. B. zeitlich versetzt oder einen Schüler zurückgeht. Diese Fragen lassen sich nicht mit der oftmals gewünschten Eindeutigkeit beantworten. Der Text selbst setzt diesem Frageinteresse Grenzen.161 Demgegenüber deutet Jürgen Becker Relekture durchaus als Mittel zur theologischen Korrektur einer früheren Überlieferung.162 Dieses Verständnis der Relekture bleibt der klassischen Literarkritik verhaftet und führt zu einer Neuauflage derselben.163 Zugleich führt dieses Verständnis von Relekture zu einer Ablehnung durch diejenigen Johannesforscher, die von einer literarischen Einheitlichkeit des Johannesevangeliums ausgehen.164 So deutet Udo Schnelle Relek160 Vgl.

A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 156), 46–52.  U. Luz spricht sich für die Einheitlichkeit der johanneischen Abschiedsrede aus; vgl. Ders., Relektüre? Reprise! (Die Abschiedsrede Joh 13–17). Ein Gespräch mit J. Zumstein (2009), in: Ders., Exegetische Aufsätze, WUNT 357, Tübingen 2016, 435–453. 162 Vgl. J. Becker, Johanneisches Christentum. Seine Geschichte und Theologie im Überblick, Tübingen 2004. Damit sieht er seine streng literarkritische Johannesauslegung bestätigt: vgl. Ders., Das Evangelium nach Johannes, ÖTBK IV/1–2, (1979.1981) 3. erw. Aufl. Gütersloh 1991; Ders., Annäherungen. Zur urchristlichen Theologiegeschichte und zum Umgang mit ihren Quellen, BZNW 76, hg. v. U. Mell, Göttingen 1995; Ders., Das Geist‑ und Gemeindeverständnis des vierten Evangelisten, ZNW 89 (1998), 217–234; Ders., Geisterfahrung und Christologie – ein Vergleich zwischen Paulus und Johannes, in: Antikes Judentum und Frühes Christentum (FS H. Stegemann), BZNW 97, Berlin 1999, 428–442; Ders., Die Hoffnung auf ewiges Leben im Johannesevangelium, ZNW 91 (2000), 192–211; Ders., Das vierte Evangelium und die Frage nach seinen externen und internen Quellen, in: Fair Play. Diversity and Conflicts in Early Christianity (FS H. Räisänen), NT.S 103, Leiden 2002, 203–241. 163  Dieses Korrekturparadigma mit entsprechend weitreichenden literarkritischen Konsequenzen vertritt auch Ch. Dietzfelbinger, Johannes (s. Anm. 1). Vgl. hierzu die grundlegende Kritik in 3.1. und 4.4.1. 164  Von den beiden neueren Paradigmen relecture und réécriture greift Th. Popp vorzugsweise die réécriture auf: „Der réécriture-Charakter der joh. Denkbewegung zeigt sich darin, dass Johannes mit konstanten literarischen Mitteln mit der Technik der Repetition, Variation und Amplifikation als herausragendem Merkmal sein Werk gestaltet und so geistgeleitet und schriftgelehrt 161

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

ture als „Variante der Nachtragshypothese“165. Diese Zuordnung des Paradigmas Relekture ist missverständlich: Relekture führt nicht notwendig zu einer „Anonymisierung des Überlieferungsprozesses“166, zumal die Möglichkeit gerade nicht ausgeschlossen wird, dass der gleiche Autor seine eigenen Texte fortgeschrieben hat. Relekture vollzieht sich auch nicht allein aufgrund „nachweisbarer veränderter historischer Situationen oder theologischer Defizite“167, sondern im Prozess der nachösterlichen, geistgeleiteten Anamnese der Jesusoffenbarung, die Schnelle ja selbst und mit Recht deutlich herausstellt. Indem Schnelle betont: „Diese Neuerschließung vollzieht Johannes als produktive und weiterführende Aneignung der Jesus-Offenbarung mit seiner Evangelienschreibung“168, stimmt er sachlich mit dem Grundanliegen des Relekture-Paradigmas überein. 3.5.2 Réécriture Das Paradigma réécriture hat der Verfasser – exemplifiziert an den beiden Beispielen Joh 1,1–18 und Joh 13,31–14,31  – in die Forschung eingeführt.169 Réécriture wird hier definiert als variierende Wiederaufnahme und vielschichtige Um-Schreibung ein und derselben Grundkonstellation durch den gleichen Autor. Inhaltlich findet sich Grundkonstellation, die der Evangelist in immer neuen Anläufen um-schreibt, in dem programmatischen Täuferwort in Joh 1,26 wieder: „Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt“. Tatsächlich ist diese Messias-Regel des Täufers, wie sie hier genannt werden soll, eine Basisaussage, eine Sinnlinie, die in nahezu allen johanneischen Szenen einschließlich der Ostergeschichten narrativ entfaltet und amplifiziert wird. Diese Beobachtung zum réécriture-­Charakter vieler johanneischer Sequenzen konvergiert in hohem Maße mit der Bestimmung des johanneischen Plots als epistemologischem Plot (vgl. 3.7). Die Beobachtung johanneischer réécriture-Prozesse trägt möglicherweise dazu bei, vordergründige Defizite hinsichtlich einer chronologischen und geographischen Kohärenz im Johannesevangelium besser einzuordnen: Der vierte Evangelist ist nicht in der gleichen Weise wie die synoptischen Evangelien an einer den Leser immer tiefer in das Geheimnis des Christusgeschehens einbezieht“ (Ders., Grammatik des Geistes [s. Anm. 22], 80; vgl. 77–80.479). 165  U. Schnelle, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 311. 166  Ebd. 311. 167 Ebd. 168  Ebd. 30. 169 Vgl. „Relecture und réécriture“, S. 173–202 in diesem Band. In Joh 14 werden futurisch‑ und präsentisch-eschatologische Aussagen gezielt aufeinander bezogen, ohne sich in die eine oder andere Richtung aufzulösen. Dies unterstützt die Ausführungen in 4.6. Der Sammelband: C. Clivaz / ​C. Combet-Galland / ​J.-D. Macchi / ​Chr. Nihan (Hgg.), Écritures et réécritures. La reprise interprétative des traditions fondatrices par la littérature biblique et extra-biblique. Cinquième Colloque International du RRENAB, Université de Genève et Lausanne, 10–12 juin 2010, BEThL 248, Leuven 2012, verwendet den Begriff réécriture im Blick auf die Intertextualität biblischer Texte, also in einem anderen, eher konventionellen Sinn.

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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vollständig durchgeführten linearen Kohärenz innerhalb der erzählten Welt interessiert. Zwar folgt das Johannesevangelium dem biographischen Grundriss der Synoptiker und bleibt diesem auch grundsätzlich verpflichtet. Gleichzeitig sind für ihn andere Gliederungskriterien führend: Im Johannesevangelium schließen sich an die Täufer‑ und Jüngerüberlieferungen in Joh 1,19–51 zwei Erzählkränze an: der Kana-Zyklus in Joh 2,1–4,54 („Von Kana nach Kana“) und zweitens der Festzyklus in Joh 5,1–10,39 („Von Jerusalem nach Jerusalem“).170 Dem Evangelisten liegt daran, die großen Erzählsequenzen als Evangelium im Evangelium zu erzählen. Der Evangelist Johannes unterzieht die eine Grundkonstellation, das „Kommen“ bzw. die unerkannte Anwesenheit des Heilbringers und seiner herausfordernden Begegnung mit den verschiedenen Personen und Gruppen, einer fortlaufenden réécriture. 3.5.3  Rekursive Lektüre Im Kontext ihrer Monographie zu den johanneischen Präexistenzaussagen Joh 1,1 f.15.30; 6,62; 8,58; 17,5.24 bringt Friederike Kunath den Begriff „rekursive Lektüre“ für das Johannesevangelium zur Anwendung. Ihre These lautet: Die Präexistenzaussage in Joh 1,1 f verliere erst in einer „zweiten Lektüre“ ihre Deutungsoffenheit („rekursive Rezeptionsstruktur des Präexistenzmotivs“171): „Wie die Untersuchung ergeben wird, ist Joh 1,1 f. ein höchst deutungsoffener Text, der im Grunde erst von Joh 17,5.24 her zu einer eindeutig vorweltlichen Präexistenzaussage wird. Von diesen letzten Präexistenzstellen führt nicht zufällig der Weg zurück zum Beginn des Evangeliums.“172

Diese Beobachtung von Friederike Kunath lässt sich über den von ihr ausgewerteten Textbefund hinaus erweitern und verallgemeinern: Die Prologexegese kann zeigen, dass die Leserichtung des Johannesevangeliums insgesamt nicht nur vom Johannesprolog zum Corpus Evangelii führt, sondern auch umgekehrt vom Corpus Evangelii zum Johannesprolog.173 3.6  Narration, Jesus-Begegnungen, Character Studies 3.6.1 Narration Die Erzählforschung hat die Johannesexegese mit vielen überzeugenden Textanalysen und interpretationen bereichert.174 Die narrative Analyse und Interpretation 170 Vgl. hierzu sowie zu Fort‑ und Umschreibungsprozessen in Joh 4 und 6, „Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71“, S. 257–278 in diesem Band. 171  F. Kunath, Die Präexistenz Jesu im Johannesevangelium. Struktur und Theologie eines johanneischen Motivs, BZNW 212, Berlin 2016, 44. 172  Ebd. 173  Vgl. hierzu die Ausführungen in 3.10. 174 Dazu gehören die Studien von: R. A.  Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia (1983) 21987; Ders. / ​F. F. Segovia (Hgg.), The Fourth Gospel from a Literary Perspective, Semeia 53, Atlanta 1991; Ders., L’application de la narratologie à

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

johanneischer Texte hat sich vielfältig bewährt und ihre Leistungsfähigkeit nachgewiesen. Narrative Analysen erhellen intradiegetisch innertextliche Bezüge (z. B. Figuren‑, Raum‑, Zeit‑, Dialog175‑ bzw. Monolog‑ und Motivkonstellationen) und extradiegetisch die Leserführung durch den Erzähler. Charakteristisch für die johanneische Leserführung sind die kunstvollen, stilistisch meisterhaft inszenierten Personenprofile bzw. Charakterzeichnungen sowie Jesus-Begegnungen (vgl. 3.6.2). Narrative Analysen widersprechen zudem oftmals den für literarkritische Optionen angenommenen Inkohärenzen des Textes.176 Exemplarisch sei hier auf die Studien von Dirk F. Gniesmer und Tobias Nicklas hingewiesen: Dirk F. Gniesmer177 zeigt in seiner Analyse und Interpretation der johanneischen Passionsdarstellung auf, dass und wie diese eine erzählerisch meisterlich komponierte Szenenfolge darstellt und sich damit in die pragmatische Gesamtintention des Evangelisten einfügt. Dazu greift er die Erzähltheorie von Paul Ricoeur178 auf. Diese unterscheidet drei Erzählebenen: l’étude de l’évangile de Jean, in: La communauté johannique (s. Anm. 33), 97–120; M. C. de Boer, Narrative Criticism, Historical Criticism, and the Gospel of John, JSNT 47 (1992), 35–48 [= St. E. Porter / ​C. A. Evans (Hgg.), The Johannine Writings, The Biblical Seminar 32, Sheffield 1995, 95–108]; M. W. G.  Stibbe, John (s. Anm. 1); Ders., John as Storyteller. Narrative Criticism and the Fourth Gospel, MSSNTS 73, Cambridge 1992; J. Zumstein, Narrative Analyse und neutestamentliche Exegese in der frankophonen Welt, VuF 41 (1996), 5–27; D. Tovey, Narrative Art and Act in the Fourth Gospel, JSNT.S 151, Sheffield 1997. Vgl. auch: F. J.  Moloney, Belief in the Word. John 1–4, Minneapolis 1993; Ders., Signs and Shadows. Reading John 5–12; Minneapolis 1993; Ders., Glory not Dishonor. Reading John 13–20 (21); Ders., The Gospel of John, Sacra Pagina 4, Collegeville 1998; Ders., The Gospel of John. Text and Context, BIS 72, Leuven 2005; Ders., Johannine Studies 1975–2017, WUNT 372, Tübingen 2017; J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium (s. Anm. 54); D. Ch. Estes / ​R. Sheridan (Hgg.), How John Works: Storytelling in the Fourth Gospel, Ressources for Biblical Study 86, Atlanta 2016; J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Erzählung und Briefe im johanneischen Kreis (s. Anm. 10); R. A. Culpepper / ​J. Frey (Hgg.), The Opening of John’s Narrative (John 1:19–2:22). Historical, Literary, and Theological Readings from the Colloquium Ioanneum 2015 in Ephesus, WUNT 385, Tübingen 2017; H. Förster, The Narrative Perspective of the Fourth Gospel, in: St. E. Porter / ​ A. W. Pitts (Hgg.), Christian Origins and the Establishment of the Early Jesus Movement, Texts and Editions for New Testament Study 12, Leiden 2018, 149–171. 175  Vgl. hier u. a. die Monographie zur narrativen und rhetorischen Bedeutung der Fragen Jesu im Johannesevangelium von D. Ch. Estes, The Questions of Jesus in John. Logic, Rhetoric and Persuasive Discourse, BIS 115, Leiden 2012. 176 In seiner narrativen Bespielexegese von Joh 7,1–10,39 kommt Florian Wilk beispielsweise zu dem Ergebnis: „Joh 7,1–10,39 stellt eine bei aller formalen Vielfalt narrativ zusammenhängende und bei aller inhaltlichen Fülle thematisch kohärente, aber auch bei aller motivischen Konstanz stringent fortschreitende und – bei aller Geschlossenheit in das Gesamtgefüge des Evangeliums integrierte Erzählung dar …“ (Ders., Erzählstrukturen im Neuen Testament, utb 4559, Tübingen 2016, 101). 177  D. F.  Gniesmer, In den Prozess verwickelt. Erzähltextanalytische Erwägungen zur Erzählung vom Prozess Jesu vor Pilatus (Joh 18,28–19,16a.b), EHS 23.688, Frankfurt a. M. 2000; vgl. vor ihm schon: C. Diebold-Scheuermann, Jesus vor Pilatus. Eine exegetische Untersuchung zum Verhör Jesu durch Pilatus (Joh 18,28–19,16a), SBB 32, Stuttgart 1996. 178  Vgl. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung I–III, München 1988.1989.1991.

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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Mimesis I: Präfiguration der Erzählung; d. h. die in der Erzählung vorausgesetzten Vorverständnisse der Rezipienten, z. B. Prätexte; Mimesis II: Konfiguration der Erzählung; d. h. das konkrete Textinventar hinsichtlich der textinternen und ‑externen Kommunikationsebenen; Mimesis III: Refiguration in der Rezeption der Erzählung; d. h. die Fortsetzung der Eigendynamik des konfigurierenden Aktes bei den Lesern selbst. Sinnziel der Mimesis III ist es, einen „Text als ein zum Bewohnen einladenden Entwurf von Welt“ zu verstehen, der „in seiner Aneignung die gegenwärtige Situation der Rezipienten verwandelt“ und ihm eine neue „narrative Identität“179 ermöglicht.

Durch den schon zu Beginn der Verhandlung anhebenden Rollentausch zwischen Jesus und Pilatus, der sich bis hin zur Frage, wer nach Joh 19,13 nun auf dem Richterstuhl sitzt (Jesus oder Pilatus?), durchbuchstabieren lässt, stellt Jesus Pilatus vor die Entscheidung, zu ihm und zu seinem Anspruch Stellung zu nehmen (Mimesis II). Zugleich zielen diese Prozesskonfigurationen auf die Lesenden: So geht es in Joh 19,4–5 („Seht, ich bringe ihn zu euch heraus … Seht, der Mensch!“) vordergründig „um Jesu eigenes Leben, um die Konsequenzen dieses Sehens für den Ausgang des Prozesses, … Hintergründig aber steht das Leben derer auf dem Spiel, die sich angesichts dieser Demonstration als sehend oder als blind erweisen“180 (Mimesis III).

Die Lesenden werden durch ihre Rezeption des Prozesses Jesu selbst in den Prozess verwickelt. Ihr Glaube soll vertieft werden und in eine mündige Zeugenschaft hineinwachsen. Als Hauptintention der johanneischen Prozessdarstellung erweist sich die „Befähigung zum Zeuge-Sein“ in dem sich fortsetzenden Prozess, in den die Verkündigung des Evangeliums stellt. Letztlich zielt der Evangelist in dieser Erzählsequenz und eben auch in allen anderen Begegnungsgeschichten darauf, in seiner an die Hörer gerichteten Erzählweise „eine Begegnung mit dem Menschgewordenen herbeizuführen (H. Weder).“181 Tobias Nicklas182 greift die Frage nach dem vieldiskutierten Antijudaismus im Johannesevangelium183 auf und macht dies zu Recht an der pauschalen Rede von „den Juden“ im Johannesevangelium fest. Sein ausführlicher Forschungsbericht markiert und reflektiert die Vielzahl, Unterschiedlichkeit und zugleich die Grenzen bisheriger Beiträge, die zu keiner konsensfähigen Antwort gefunden  D. F.  Gniesmer, In den Prozess verwickelt (s. Anm. 177), 131 f.  Ebd. 304. 181 Ebd. 427. 182 T. Nicklas, Ablösung und Verstrickung. „Juden“ und Jüngergestalten als Charaktere der erzählten Welt des Johannesevangeliums und ihre Wirkung auf den impliziten Leser, Regenburger Studien zur Theologie 60, Frankfurt a. M. 2001; Ders., Grenzen ziehen. Noch einmal zu den ‚Juden‘ im Johannesevangelium, in: J. Först / ​B. Schmitz (Hgg.), Lebensdienlich und Überlieferungsgerecht. Jüdische und christliche Aktualisierungen der Gott-Mensch-Beziehung (FS H.-G. Schöttler), Beiträge zur Gegenwartsbedeutung jüdischer und christlicher Überlieferungen 1, Würzburg 2016, 115–133; Ders., Creating the Other. The „Jews“ in the Gospel of John. Past and Future Lines of Scholarship, in: M. Bar Asher Sigal u. a. (Hgg.), Perceiving the Other in Ancient Judaism and Early Christianity, WUNT 394, Tübingen 2017, 49–66. 183  Vgl. hierzu auch die Ausführungen unter 4.5. 179 180

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

haben. Nicklas berücksichtigt besonders die erzählerischen Strukturen und hier insbesondere die Interaktionen der erzählten Charaktere in den Beispieltexten: Joh 1,19–34 („Das Zeugnis Johannes des Täufers“); 1,35–51 („Die Berufung der ersten Jünger“); 3,1–21 („Das Nachtgespräch mit Nikodemus“); 5,1–18 („Die Heilung des ‚Gelähmten‘ am Sabbat“) und 9,1–41 („Die Heilung des Blindgeborenen“). Auffallend sind die präzisen und detaillierten Textbeobachtungen – zum Beispiel zur Mehrdeutigkeit der joh Sprache –, die trotz der vielfältigen Kommentierungen zum Johannesevangelium immer noch neue Beobachtungen beizusteuern vermögen. Der Schwerpunkt auf der Charakterisierung der Personen in der erzählten Welt (Jesus, Zeugen bzw. Jünger, Einzelpersonen, Gegner Jesu) und ihrer jeweiligen Interaktionen macht sich bezahlt: Nicklas arbeitet heraus, wie sich die Profile „der Juden“ und der Jünger Jesu bzw. einzelner Personen (vgl. Nikodemus, der Gelähmte, der Blindgeborene) wechselseitig beeinflussen und bedingen. Insbesondere die Lenkung des Lesers durch den Evangelisten wird so neu beleuchtet. In seinen Analysen wird erkennbar, dass „die Juden“ bei Johannes nicht einfach als Vertreter der ungläubigen Welt, nicht als Einwohner von Judäa, nicht als verschiedene Gruppen, die unter einem Stichwort subsummiert werden, und ebenfalls nicht allein als Name für die zeitgeschichtlichen Opponenten der johanneischen Gemeinde verstanden werden können. Auch wenn sich der Ablöseprozess zwischen Judentum und Christentum in der johanneischen Darstellung sicher widerspiegelt, ist doch deutlicher mit Rollenzuschreibungen zu rechnen, die sich innerhalb der erzählten Welt aus der Dynamik und Intention der Erzählung selbst ergeben. So werden „die Juden“ immer mit Jüngergestalten kontrastiert: Während erstere als religiöse Autorität und Institution durchgehend in ihren Überzeugungen als festgelegt bzw. vorentschieden dargestellt werden (und ihnen darin eine tragisch-ironische Rolle zukommt184), zeichnen sich die Jüngergestalten dadurch aus, dass sie sich auf unterschiedlichsten Wegen und in unterschiedlicher Konsequenz trotz mancher Ambivalenz dem Anspruch Jesu öffnen. Im Kontrast zu den festgelegten Opponenten Jesu lenkt ihre direkte wie indirekte Charakterisierung die Leser dahin, sich der Glaubensperspektive des allwissenden Erzählers anzuschließen (= „Bindung an den Erzähler“185) und mit seinen Augen auf die erzählte Welt Jesu zu schauen, d. h. als Glaubende „sehend“ zu werden.186 In der Offenheit, Unabgeschlossenheit und Ambivalenz der johanneischen Jüngergestalten spiegelt sich für die Lesenden ihr eigener, genauso wenig einfacher und vor Missverständnissen geschützter Glaubensweg, zu dem und auf den das Johannesevangelium einlädt und verweist. Die feinsinnig zugeschnittene Leserführung durch den Evangelisten belegt Tobias Nicklas auch am Beispiel von Joh 1,45–50:

184 Vgl.

T. Nicklas, Ablösung (s. Anm. 182), 127.156.384 f.404.  Ebd. 209. 186  Vgl. ebd. 196 f.208.389. 185

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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„… schon von Anfang an wird der Leser durch das Aufdecken scheinbarer Widersprüche, durch das Erkennen mehr oder weniger deutlicher Missverständnisse für die verschiedenen Ebenen der im Johannesevangelium begegnenden Aussagen sensibilisiert. Er soll lernen, hinter die Kulissen zu blicken, den Text in allen seinen Tiefen und Anspielungen auszuloten. Die wachsende Fähigkeit, die Doppelbödigkeiten der johanneischen Sprache zu erkennen, zieht den Leser mehr und mehr in die johanneische Sprachwelt hinein.“187

3.6.2  Jesus-Begegnungen, Character Studies Charakteristisch für die joh Erzählweise sind die im Vergleich zu den synoptischen Evangelien die ausführlicheren, metaphorisch und symbolisch aufgeladeneren und längeren johanneischen Begegnungsgeschichten188 und die sogenannten Reden, die sich bei genauerem Hinsehen vielfach eher als Dialoge denn als Monologe zu erkennen geben. Exemplarisch sei hier auf die Position von Sandra M. Schneiders hingewiesen:189 In der das Johannesevangelium abschließenden feierlichen Erklärung Joh 20,31 werde der Text selbst als Ort der Christusbegegnung bzw. ‑offenbarung etabliert: „Revelation is rooted in the life of Jesus in Palestine in the frist century. But it occurs in the faith life of believers in the community shaped by the text of scripture.“190 Das Johannesevangelium ziele mit seinen Begegnungsgeschichten auf die Lesenden, die in diesen und durch diese Erzählungen Jesus Christus, dem Offenbarer schlechthin, begegnen und so zum Glauben an ihn und damit zum wahren „Leben in seinem Namen“ geführt werden  – ein Prozess, der einer ständigen Fortführung und Erneuerung bedarf: „The Gospel is meant to mediate, faciliate, nourish this relationship, and therefore reading it must be an ongoing activity.“191 Die Begegnung mit Jesus will die Menschen verändern, verwandeln: „‚Knowing‘ (Jesus) is personal commitment and self-donation to the Truth incarnate.“192 Die Gabe des „Lebens“ als Sinnziel der Sendung Jesu im Johannesevangelium „is the mystical union of the disciples with Jesus in God through the Spirit.“193 Die vielfältigen sprachlichen Stilmittel (Wiederholungen, Inklusionen, Mißverständnisse, Ironien, Dialektiken, Paradoxien) des Evangelisten sollen die Leser 187  T. Nicklas, „Unter dem Feigenbaum“. Die Rolle des Lesers im Dialog zwischen Jesus und Nathanael, NTS 46 (2000), 193–203, hier: 203. 188  Vgl. u. a. die Studien von: R. F.  Collins, Representative Figures (1976), in: Ders., These Things have been Written. Studies on the Fourth Gospel, LThPM 2, Louvain 1990, 1–45; D. R.  Beck, The Discipleship Paradigm. Readers and Anonymous Characters in the Fourth Gospel, BIS 27, Leiden 1997; P. Dschulnigg, Jesus begegnen. Personen und ihre Bedeutung im Johannesevangelium, Münster 2002; C. Bennema, Encountering Jesus. Character Studies in the Gospel of John, Minneapolis (2009) 22014; Ders., A Theory of Character in the Fourth Gospel with Reference to Ancient and Modern Literature, BI 17 (2009), 375–421. 189  S. M. Schneiders, Written That You May Believe (s. Anm. 118). 190  Ebd. 10; vgl. 69–71. 191 Ebd. 12. 192  Ebd. 13. 193  Ebd. 15.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

immer neu in die Begegnung mit Jesus führen, in welcher ihre bisherigen Überzeugungen irritiert und infragegestellt werden: „Revelation, the encounter between the witnessing Jesus and the believing disciple, cannot take place unless the potential believer can be shaken loose from the convictions, the verities, the prejudices, the commonsense assumptions that constitute our everyday ‚knowledge‘.“194

Vorbildlich für diese Glaubenswege fungieren die „representative figures“ im Johannesevangelium, die sich als positive oder negative Identifikationsmöglichkeiten anbieten.195 Die Theologie und Spiritualität des vierten Evangeliums entwickelt sich nach Sandra M. Schneiders um die beiden Aspekte der in der Offenbarung Jesu Christi gründenden Beziehung zwischen ihm und seinen Jüngern einerseits und der Fortdauer dieser Jünger-Christus-Beziehung in der Zeit nach Tod und Auferstehung Jesu andererseits. Grundlegend wird die Offenbarung Gottes in Jesus Christus als „self-revelation“, „self-communication, self-opening, self-gift“ verstanden, die niemals abgeschlossen ist, weil sie keine Einbahnstraße, sondern ein wechselseitiger Austausch ist, der auf eine immer tiefere Teilhabe am Leben und der Liebe Gottes zielt.196 Die johanneischen Großsequenzen, die diese nachösterlichen Christusbegegnungen ermöglichen, verdanken sich einer jahrelangen Meditation und Betrachtung der Worte und Werke Jesu durch den Evangelisten.197 Voraussetzung solcher nachösterlicher Christusbegegnungen ist die Auferstehung Jesu: Während die Passion und der Tod Jesu bei Johannes als Verherrlichung und Rückkehr Jesu zu seinem Vater gedeutet werden, handeln die johanneischen Ostererzählungen von der die Gemeinschaft der Kirche begründenden und belebenden Rückkehr des Auferstandenen und Erhöhten zu den Seinen – vermittels des Wirkens des Parakleten.198 Bei der Auslegung der Rolle von Frauen im Johannesevangelium, kritisiert Schneiders scharf traditionelle Auslegungen, die die johanneische Hervorhebung weiblicher Handlungsträgerinnen und Verkündigerinnen aus patriarchalischen Interessen erheblich unterbelichten.199 Schneiders erkennt in dem Autor des vierten Evangeliums ein bemerkenswert hohes und feines Gespür für weibliche religiöse Erfahrungen. Entsprechend werden Frauen im Johannesevangelium (bes.: Samariterin; Martha und Maria; Maria Magdalena) als theologische Diskussionspartnerinnen, als kompetente Verkündigerinnen des Evangeliums, als öffentliche Bekennerinnen des Glaubens und als Diensttuende am Tisch des Herrn vorgestellt. Sie alle haben unmittelbare Beziehungen zu Jesus und handeln 194 Ebd.

32. ebd. 32–34.74–76. Ob Nikodemus und der Gelähmte am Teich Bethesda als negative Identifikationsfiguren verstanden werden sollen (so 68. 92.136.229; vgl. in Spannung dazu die positive Wertung des Nikodemus in 117–125), lässt sich kritisch diskutieren. 196  Vgl. ebd. 48 f. 197  Vgl. ebd. 51. 198  Vgl. ebd. 56–59.190. 199  Vgl. ebd. 93–114.126–148.189–201.211–232. 195 Vgl.

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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unabhängig von männlichen Jüngern Jesu. Maria von Magdala wird als primäre Osterzeugin und Garantin der apostolischen Tradition identifiziert.200 Maria von Magdala im Johannesevangelium  – das ist auch das Thema der Monographie von Susanne Ruschmann.201 Methodisch greift Ruschmann das Modell der relecture auf.202 Sie sieht im Modell der relecture die Möglichkeit, diachrone und synchrone Auslegungsschritte im Sinne einer organischen Fortschreibung in eine sich wechselseitig ergänzende, literarische und inhaltliche Beziehung zu setzen, ohne in den Strukturfehler der klassischen (nicht nur johanneischen) Literarkritik zu verfallen, die die Unterscheidung von Tradition und Redaktion in eine gegenseitige Profilierung zwingt. Zudem verweist Ruschmann auf die hohe Bedeutung der nachösterlichen Erinnerung für die johanneische Hermeneutik,203 die auf eine „Strategie des Glaubens“ (Jean Zumstein)204 zielt und durch die „semantische Achse“ (Franz Mußner) des Johannesevangeliums in Joh 1,11–13 umgesetzt wird.205 Bei der Auslegung von Joh 19,25–27 und 20,1–18 betont Ruschmann entgegen einer verbreiteten Auslegung der Kreuzesszene 19,25–27, die sich mitfühlend an der Versorgung der nun alleinstehenden Mutter Jesu orientiert, überzeugend das ekklesiologische Interesse des Evangelisten, der am Kreuz bzw. unter dem Kreuz die Geburt der nova familia dei erzählt.206 Für Joh 20,1–2.11–18 betont Ruschmann, dass der Evangelist am Beispiel Marias einen exemplarischen, österlichen Glaubensprozess beschreibt. Dabei hebt die Autorin insbesondere auf den Übergang zwischen vor‑ und österlicher Zeit ab: Maria von Magdala steht an der Schwelle einer neuen Zeit.207 Aufgrund von minutiösen, in dieser Ausführlichkeit neuen Beobachtungen der Parallelen bzw. Analogien zwischen Joh 1,35–51 und 20,1–2.11–18 einerseits (vgl. allein die verba movendi, dicendi et sentiendi sowie „suchen“ und „finden“) und zwischen Joh 13,31–14,31 und 20,1–2.11–18 andererseits schlussfolgert Ruschmann: Maria von Magdala wird durch die Begegnung mit dem Auferstandenen zu einer ganzheitlichen Glaubenserkenntnis geführt, die sie ergreift und zur ersten Osterzeugin im Johannesevangelium erhebt. Johannes erteilt hier „einen zusammenfassenden ‚Intensivkurs‘ in Sachen Jüngerschaft.“208 200  Vgl. ebd. 113.194. Vgl. auch C. M.  Conway, Men and Women in the Fourth Gospel. Gender and Johannine Characterization, SBL.DS 167, Atlanta 1999. 201 Vgl. S. Ruschmann, Maria von Magdala im Johannesevangelium. Jüngerin  – Zeugin  – Lebensbotin, NTA.NF 40, Münster 2002. Vgl. auch J. Hartenstein, Charakterisierung im Dialog. Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium im Kontext anderer frühchristlicher Darstellungen, NTOA 64, Göttingen 2007. 202  Vgl. ebd. 16–23. 203  Vgl. ebd. 32.244 f.250–252. 204  Vgl. J. Zumstein, Das Johannesevangelium. Eine Strategie des Glaubens (1997), in: Ders., Kreative Erinnerung (s. Anm. 157), 31–45. 205  Vgl. ebd. 33–37. 206  Vgl. ebd. 103–107. 207  Vgl. ebd. 106 f.109 f.161–164.209.237. 208  Ebd. 161.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Dieser österliche Glaubensweg hat Vor-Bilder in den Jüngerberufungen in Joh 1,35–51, in denen der Evangelist von der in die Begegnung mit Jesus führenden Jüngerschaft und von der in der Begegnung mit Jesus geführten Jüngerschaft handelt. Das Johannesevangelium erzählt die gelingenden Begegnungen mit Jesus so, dass sie zugleich Berufungscharakter haben. Innovativ ist die von Ruschmann aufgewiesene Verbindung zwischen dem ersten Teil der johanneischen Abschiedsrede in Joh 13,31–14,31 und Joh 20,1–2.11–18: In Analogie zu Joh 20,1–2.11–18 beschreibt die thematische Linienführung in Joh 13,31–14,31 einen österlichen Glaubensweg: die Überführung aus Trauer und Verwirrung in Verstehen, Glauben und Freude. Mit anderen Worten: Joh 14,18–24 lässt sich als Prolepse der Osterbegegnung in Joh 20,1–2.11–18 lesen. Und umgekehrt: Die Begegnung zwischen Maria von Magdala und Jesus am leeren Grab ist die narrative Umsetzung des Paradigmas in Joh 14,18–20: „Maria von Magdala durchläuft in ihrer Begegnung mit dem Auferstandenen alle Stationen des Prozesses, der in 14,18–20 zusammengefasst ist: Sie sieht Jesus und begreift im Hören ihres Namens, dass er sie wirklich nicht als ‚Waisen‘ zurückgelassen hat; sie erfährt so seine Lebendigkeit (ζωή) und kommt so zu der Einsicht, dass dieses neue Leben Jesu auch für sie selbst ein neues, österliches Dasein bedeutet.“209

Eine weitere enge Verbindung zwischen Joh 14 und Joh 20 liegt im Motiv der Liebe (vgl. Joh 14,21.23 und die spezifische Rezeption von Hld 3,1–4 in Joh 20,11– 18), das in Joh 14 entgrenzt wird: „Was Maria erlebt hat, ist jeder Zeit und überall da möglich, wo seitens des Menschen die Voraussetzung dafür gegeben ist: die Liebe zu Jesus, denn nur ihr erschließt sich wiederum seine Liebe.“210 Damit aber avanciert Maria von Magdala zur Repräsentantin der gesamten österlichen Glaubensgemeinschaft: Maria von Magdala „ist produktives Vorbild auf dem Weg in die Glaubensnachfolge, insofern sie alle, die sich von ihrem Beispiel anleiten lassen, in die Dynamik des Zum-Glauben-Kommens hineinnimmt. Damit aber ist sie mystagogisches Paradigma für nachösterliche Christusbegegnung: Wer ihre Ostererkenntnis existentiell nachvollzieht, vermag selbst die Gegenwart des Auferstandenen zu erfahren.“211

Einen Kernbereich narrativer Forschung stellen die Figurenanalysen bzw. die Character Studies dar: Im Johannesevangelium begegnen ca. siebzig Figuren, in der großen Mehrheit namentlich genannte Einzelpersonen (z. B. Moses212, Johannes

 Ebd. 200. 207. 211  Ebd. 254. 212   Vgl. u. a. St. Harstine, Moses as Character in the Fourth Gospel. A Study of Ancient Reading Techniques, JSNT.S 229, Sheffield 2002; C. Clauẞen, Die Gestalt des Mose im Johannesevangelium, in: M. Sommer u. a. (Hgg.), Mosebilder. Gedanken zur Rezeption einer literarischen Figur im Frühjudentum, frühen Christentum und der römisch-hellenistischen Literatur, WUNT 390, Tübingen 2017, 189–210. 209

210 Ebd.

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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der Täufer213, Andreas, Simon Petrus, Nikodemus214, Thomas215), sodann nicht namentlich genannte Personen (die Mutter Jesu216), verschiedene Menschengruppen (z. B. „die Juden“, Pharisäer217, Priester und Leviten, „die Menge“), Engel, der Satan und personifizierte Mächte (z. B. „der Kosmos“), sodann sogenannte ‚kleine Figuren‘, die oft namenslos (und übersehen) dennoch eine bedeutende Rolle haben.218 Für jede einzelne Figur lassen sich sowohl bezogen auf den unmittelbaren Kontext der jeweiligen Perikope als auch im Makrokontext des ganzen Evangeliums die Fragen stellen: 213  Die Aussage des Täufers in Joh 3,30: „Jener muß wachsen, ich aber muß abnehmen“ wird mit vielen anderen Auslegern als Ankündigung des Abtretens, als ein sich selbst als überflüssig Erklären verstanden (u. a. K. Wengst, Johannes I [s. Anm. 105], 156 f ). M. E. ist diese sich vom synoptischen Täuferbild her nährende Auslegung für das Johannesevangelium nicht zutreffend: Johannes der Täufer ist nach johanneischem Verständnis nicht nur ein damaliger Zeuge des messianischen Bräutigams, sondern ein durch sein Zeugnis im Johannesevangelium bleibender, je neu wirkender Zeuge (vgl. analog: der geliebte Jünger im Johannesevangelium). Deshalb verwendet der Evangelist in Joh 3,29 das Präsens: „… und der Freund des Bräutigams, der dabeisteht und ihn hört, freut sich voll Freude über die Stimme des Bräutigams.“ Vers 30 beinhaltet dann nicht ein Abtreten des Täufers, sondern formuliert die für jeden Zeugen im Johannesevangelium geltende Regel, zur Unmittelbarkeit, d. h. zu einer direkten Christus-Begegnung, zu vermitteln (vgl. nur Joh 1,35–51; 4,42). 214  Nikodemus wird mit einer verbreiteten Auslegungstradition als Repräsentant des Unglaubens, als Kontrastfigur zur samaritanischen Frau in Joh 4, gedeutet. Auch wenn in der Tat ein verbal-titulares Bekenntnis des Nikodemus nicht vorliegt, de facto nimmt Nikodemus Jesus verbal in Schutz (Joh 7,50 f ) und bekennt sich zu ihm durch eine alles andere als selbstverständliche, nämlich demonstrative Zeichenhandlung (Joh 19,38). Vgl. hierzu und in diesem Sinne jetzt: M. R.  Whitenton, Configuring Nicodemus. An Introductory Approach to Complex Characterization, LNTS 549, Leiden 2019. Vgl. auch P. Dschulnigg, Nikodemus im Johannesevangelium (1999), in: Ders., Studien zu Einleitungsfragen und zur Theologie und Exegese des Neuen Testaments. Gesammelte Aufsätze, Biblical Tools and Studies 9, hg. v. B. Kowalski, Leuven 2010, 251–266. 215   Vgl. u. a.: W. Bonney, Caused to Believe. The Douting Thomas Story as the Climax of John’s Christological Narrative, BIS 62, Leiden 2002. 216 Vgl. M. L.  Coloe, The Mother of Jesus. A Woman Possessed, in: St. A. Hunt / ​D. F. Tolmie / ​ R. Zimmermann (Hgg.), Character Studies in the Fourth Gospel. Narrative Approaches to Seventy Figures in John, WUNT 314, Tübingen 2013, 202–213, Ph. Kästle, Die Mutter Jesu im Johannesevangelium. Zeugin des irdischen Wirkens und Garantin der sarkischen Existenz Jesu, in: H.-U. Weidemann (Hg.), „Der Name der Jungfrau war Maria“ (Lk 1,27). Neue exegetische Perspektiven auf die Mutter Jesu, SBS 238, Stuttgart 2018, 301–334. 217  Vgl. U. Poplutz, Die Pharisäer als literarische Figurengruppe im Johannesevangelium, in: J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium (s. Anm. 54), 19–39. 218 Vgl. D. Rhoads / ​K . Syreeni (Hgg.), Characterization in the Gospels. Rediscovering narrative Criticism, JSNT.S 184, Sheffield 1999; St. A. Hunt / ​D. F. Tolmie / ​R . Zimmermann (Hgg.), Character Studies in the Fourth Gospel (s. Anm. 216). Vgl. ebd. den konzisen Forschungsüberblick der Herausgeber zur Methodendiskussion: „An Introduction to Character and Charakterization in John and Related New Testament Literature“ (1–33). Vgl. auch: Chr. W. Skinner (Hg.), Characters and Characterization in the Gospel of John, LNTS 461, London 2013, hier 111–128: C. W.  Skinner, Misunderstanding, Christology, and Johannine Characterization; R. Zimmermann, Figurenanalyse im Johannesevangelium. Ein Beitrag zu Sinn und Wahrheit narratologischer Exegese, ZNW 105 (2014) 20–53; F. Lozada, The narrative identities of the Gospel of John, in: D. N. Fewell (Hg.), The Oxford Handbook of Biblical Narrative, Oxford 2019, 341–350.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Wie agiert diese Figur? Wie interagiert sie mit anderen? Mit welchen Wertungen und Zuschreibungen werden ihre Aktionen und Reaktionen versehen? Welche Interessen verfolgt der Erzähler des Evangeliums mit den jeweiligen Profilierungen? Wie werden die Leser und Leserinnen einbezogen, angesprochen, gelenkt? Dabei ist es durchaus möglich, dass der Erzähler in seiner Charakterzeichnung bewusst unentschieden bzw. vage bleibt und damit seine Leser und Leserinnen herausfordert: Ruben Zimmermann argumentiert beispielsweise, dass die Vielstimmigkeit der Forschermeinungen zur Frage nach der Identität und Deutung „der Juden“ im Johannesevangelium im Text selbst angelegt sei.219 Gerade bei den johanneischen Charakteren, die mehrfach im Johannesevangelium begegnen, wird die literarische und interpretativ-theologische Konsistenz des vierten Evangeliums eindrucksvoll nachvollziehbar. Ein durchgehendes Merkmal der characterization aller Akteure im Johannesevangelium ist ihre direkte oder indirekte Reaktion auf die Hauptfigur des vierten Evangeliums. Geradezu ein klassisches Paradigma stellen Erzählsequenzen dar, in denen Personen in der Begegnung mit Jesus über Missverständnisse hinweg von Jesus selbst zum lebendigen und tätigen Glauben geführt werden.220 Auch die nachösterliche Hermeneutik des Johannesevangeliums wird in der Charakterisierung von Personen deutlich: Am Beispiel des Petrus lässt sich zeigen, dass erst nach Tod und Auferstehung Jesu mit dem Wirken des Parakleten und dem erneuten Ruf in die Nachfolge durch den Auferstandenen die Missverständnisse und Verleugnungen des Petrus (exemplarisch für alle Glaubenden) überwunden werden können.221 Diese Petrusinterpretation wird durch die Studie von Tanja Schultheiss222 im Wesentlichen bestätigt: Das Johannesevangelium entwickelt in allen Petrusperikopen ein konsistentes Petrusbild, das einer einheitlichen Intention und theologischen Deutung folgt. Das gilt für die Profilierung der Petrusgestalt in Relation zu dem Lieblingsjünger, den Schultheiss als „personifizierte nachösterliche Hermeneutik des Johannesevangeliums“ bezeichnet,223 ebenso wie in Relation  Vgl. R. Zimmermann, ‚The Jews‘: Unreliable Figures or Unreliable Narration, in: St. A.  Hunt / ​D. F.  Tolmie / ​R .  Zimmermann (Hgg.), Character Studies (s. Anm.  216), 71–109. Auch mehrere andere Autoren dieses Bandes verweisen auf die vom Erzähler beabsichtigte ambivalente Charakterisierung bestimmter Figuren insbesondere in Relation zu Jesus; vgl. u. a.: S. E.  Hylen, The Disciples: The „Now“ and „Not Yet“ of Belief in Jesus, ebd. 214–227; R. A.  Culpepper, Nicodemus: The Travail of New Birth, ebd. 249–259. 220 Vgl. hierzu exemplarisch den Beitrag (und den programmatischen Titel) von H. W. ­Attridge, The Samaritan Woman: A Woman Transformed, ebd. 268–281. 221  Vgl. M. Labahn, Simon Peter. An Ambiguous Character and His Narrative Career, ebd. 151–167. Vgl. auch: G. Van Belle, Peter as Martyr in the Fourth Gospel, in: J. Leemans (Hg.), Martyrdom and Persecution in Late Antique Christianity (FS B. Dehandschutter), BEThL 223, Leuven 2010, 281–309; J. Beutler, Peter on the Way to His Universal Mission in the Gospel of John, in: D. E. Aune / ​R . Hvalvik (Hgg.), The Church and Its Mission in the New Testament and Early Christianity. Essays in Memory of Hans Kvalbein, WUNT 404, Tübingen 2018, 85–98. 222  T. Schultheiss, Das Petrusbild im Johannesevangelium, WUNT II/329, Tübingen 2012. 223  Ebd. 157. 219

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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zu anderen Jüngern bzw. Figuren der johanneischen Erzählung. Der Petrus des Johannesevangeliums erweist sich einerseits als „Prototyp des missionierten Gläubigen“ und darin als „Identifikationsangebot“224. Andererseits veranschaulicht der Evangelist – im Kontrast zum Lieblingsjünger – das vorösterliche „Scheitern des Petrus am Jüngersein“225. Nachösterlich werde Petrus rehabilitiert und in seine neue Rolle als Nachfolger und Hirte eingeführt.226 Eine vielfach kontrovers diskutierte, in jedem Fall aber herausgehobene Rolle kommt dem Lieblingsjünger im Johannesevangelium zu: James L. Resseguie interpretiert ihn als besonderen Zeugen, der den „ideal point of view“ des Erzählers verkörpert: Der Evangelist lade seine Leser und Leserinnen ein, die Sichtweise des Lieblingsjüngers zu übernehmen: „He is a perceptive witness who sees what other disciples do not see: the glory in the flesh.“227 In diesem Zusammenhang spricht Jason S. Sturdevant von dem adaptable Jesus im Johannesevangelium: „With the decent of the Logos into the realm of human affairs, the imperceptible God is now revealed in the person of Jesus. The incarnation, then, occurs as a fundamentally pedagogical act, and inhabits many of the traits of adaptability common to antiquity.“228

Im Spiegel der johanneischen Begegnungsgeschichten gilt auch für die intendierten Leser und Leserinnen: „Their progress in faith and understanding would develop due to the adaptable pedagogy of the one they professed as ‚Christ and God‘.“229 Die literarisch und theologisch herausfordernden Personenprofile im Johannesevangelium230 verweisen je für sich und alle gemeinsam auf ein differenzierendes 224 Vgl.

ebd. 90 f.95.231.279  Ebd. 140; vgl. 133 f. 226 Vgl. ebd. 187: Joh 21 spiegele eine „spätere Gemeinde‑ und Entstehungssituation von Joh 21 gegenüber Joh 20“. 227 J. L.  Resseguie, The Beloved Disciple: The Ideal Point of View, in: St. A. Hunt / ​D. F. Tolmie / ​ R. Zimmermann (Hgg.), Character Studies in the Fourth Gospel (s. Anm. 217), 537–549, hier: 459. Vgl. Ders., The Strange Gospel. Narrative Design and Point of View in John, BIS 56, Leiden 2001; Ders., A Narrative-Critical Approach to the Fourth Gospel, in: Chr. W. Skinner (Hg.), Characters and Characterization in the Gospel of John (s. Anm. 218), 3–17. Vgl. T. Thatcher, The Beloved Disciple, the Fourth Evangelist, and the Authorship of the Fourth Gospel, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 83–100. 228 J. S.  Sturdevant, The Adaptable Jesus of the Fourth Gospel. The Pedagogy of the Logos, NT.S 162, Leiden 2015, 213. Vgl. ebd. 214 zu Nikodemus und der Samariterin: „The Johannine Jesus accommodates these very different characters, leading one to recognize the limits of his perceptive ability, and the other he guides step by step to a fuller awareness of Jesus’ identity and mission.“ 229  Ebd. 216. 230  Vgl. auch die neueren Interpretationen der johanneischen Judasgestalt: C. Bennema, Judas (the Betrayer): The Black Sheep in the Familiy, in: St. A. Hunt / ​D. F. Tolmie / ​R. Zimmermann (Hgg.), Character Studies (s. Anm. 216), 360–372; F. Wagener, Judas: Wenn der verworfene zum Modell wird. Zugänge zu einer narativen Ethik im Johannesevangelium, ZNT 41 (2018), 43–59; B. J.  Oropeza, Apostasie im Neuen Testament. Auf den Spuren des Judas und anderer Abtrünniger in den Evangelien, den johanneischen Schriften und in der Apostelgeschichte, ebd. 61–77, hier: 73–77. 225

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Erzählen und damit anspruchsvolles theologisches Gespür des Evangelisten. Damit zeigen die Character Studies, dass und wie sich der Evangelist der Komplexitätsverweigerung durch einfache Denkmuster und Schablonen verweigert. Auch die reiche Wirkungsgeschichte vieler johanneischer Figuren in der christlichen Tradition, in Kunst und Literatur, verdankt sich der Plastizität, des anschaulichen „In-Szene-Setzens“ und der erzählerischen Kunstfertigkeit des Evangelisten. Eckart Reinmuth stellt überzeugend die Rezeptionsperspektive heraus: „Das Johannesevangelium bietet sich in besonderer Weise für den Versuch an, eigene und erzählte Lebensgeschichten aufeinander zu beziehen. Je mehr dieser Versuch gelingt, desto deutlicher wird, dass die narrative Gestaltung der erzählten Figuren im Johannesevangelium auf die Kommunikation der Lebenserfahrungen ihrer Rezipienten abzielt. Dabei geht es keineswegs nur um ›positive‹ Erfahrungen, offensichtlich aber, und darauf zielt die narrative Gestaltung des Evangeliums ab, um eine konstruktive, selbstbestimmte Auseinandersetzung mit ihnen. Die erzählten Erfahrungen der Protagonisten werden der Leserin, dem Hörer so zur Verfügung gestellt, dass sie sich mit ihnen – analog zu ihren eigenen – auseinandersetzen können.231 3.7  Der johanneische Plot Was ist bzw. worin besteht der Hauptfokus der johanneischen Evangelienerzählung?232 Diese Frage wird vielfach  – in der Tradition Rudolf Bultmanns  – mit  E. Reinmuth, Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium, ZNT 23 (2009), 36–45, hier: 37 f. Reinmuth verweist für den Zusammenhang von Identitätskonstruktion, sozialer Interaktion und der literarischen Konstitution von Identifikationsfiguren in antiken Texten auf: Ch. Ronning, Soziale Identität  – Identifikation  – Identifikationsfigur. Versuch einer Synthese, in: B. Aland / ​J. Hahn / ​Chr. Ronning (Hgg.), Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, Tübingen 2003, 233–251; D. Brakke / ​M. L. Satlow / ​St. Weitzman (Hgg.), Religion and the Self in Antiquity, Bloomington 2005. Vgl. auch: J. Hartenstein, Charakterisierung im Dialog (s. Anm. 201), 246: „Literarische Identifikationsfiguren öffnen das Werk gegenüber der Erfahrungswelt des Rezipienten et vice versa.“ 232  W. Klaiber sieht den ersten Hauptteil des Evangeliums (Joh 2,1–12,50; Klaiber rechnet Joh 1,19–51 mit 1,1–18 zur „Hinführung: Wer ist Jesus?“) „von einer doppelten Bewegung gekennzeichnet: Einerseits findet sich in ihm wieder und wieder die Einladung, sich für Gottes Gegenwart in Person und Wirken Jesu zu öffnen und dadurch Heil und Leben zu empfangen. Andererseits ist er auch geprägt von scharfen Auseinandersetzungen mit Menschen, die diesem Anspruch Jesu unentschlossen oder ablehnend gegenüberstehen und in der erzählten Welt des Evangeliums von den ‚Juden‘ und ihrer Führung repräsentiert werden“ (Ders., Johannesevangelium I [s. Anm. 58], 68). Der zweite Hauptteil des Evangeliums (13,1–20,31: „Die Offenbarung der Herrlichkeit Jesu vor den Seinen“) ziele auf die Darstellung der „Vollendung der Liebe“ (ebd. II, 68; vgl. 13,1) in der stellvertretenden Lebenshingabe Jesu und seiner Auferstehung. Vgl. weiterführend auch: A. J. du R and, Plot and Point of View in the Gospel of John, in: J. H. Petzer (Hg.), A South African Perspective on the New Testament (FS B. Metzger), Leiden 1986, 149–169; A. T.  Lincoln, Trials, Plots and the Narrative of the Fourth Gospel, JSNT 56 (1994), 3–30; R. A.  Culpepper, The Plot of John’s Story of Jesus, Interp. 49 (1995), 347–358; Ders., The Gospel and Letters of John (s. Anm. 1), 67–86; F. F. Segovia, The Journey(s) of the Word of God. A Reading of the Plot of the Fourth Gospel, in: R. A. Culpepper / ​F. F. Segovia (Hgg.), The Fourth Gospel from a Literary Perspective (s. Anm. 174), 23–54; Th. Söding, Die Schrift als Medium des Glaubens. 231

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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dem Verweis auf die Sendung bzw. den Weg Jesu (sein Kommen vom Vater, seine Ablehnung bzw. Annahme bei den Seinen und seine Rückkehr zum Vater) beantwortet. Entsprechend wird dann auch die johanneische Christologie maßgeblich vom Sendungsgedanken her rekonstruiert. Eine soteriologische Deutung des Todes Jesu wird in diesem Ansatz zielgerichtet marginalisiert oder ganz ausgeschlossen.233 Kasper B. Larsen234 hat herausgearbeitet, dass der Plot des Johannesevangeliums nicht allein in der Sendung Jesu besteht, sondern auch ein epistemologischer ist: Der johanneische Plot thematisiert den Konflikt zwischen dem Glauben, „dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes“ (Joh 20,31) und der Ablehnung dieses Glaubens. Der johanneische Plot erzählt den Konflikt um die Deutung der Identität Jesu bzw. die gläubige Aufnahme bzw. Ablehnung Jesu (vgl. Joh 1,11–13) bzw. das Kennen oder Nicht-Kennen Jesu (vgl. Joh 1,26).235 Dies lässt sich durchgehend und insbesondere mit Blick auf den Erzählerkommentar in Joh 20,31 zeigen.236

Zur hermeneutischen Bedeutung von Joh 20,30 f, in: K. Backhaus / ​F. G. Untergaßmair (Hgg.), Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Paderborn 1996, 343–371; J. Beutler, Faith and Confession. The Purpose of John (2002), in: Ders., Neue Studien (s. Anm. 28), 101–113; U. Poplutz, Die johanneischen σημεῖα und ihre Funktion im Plot des vierten Evangeliums, in: J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Erzählung und Briefe (s. Anm. 10), 1–23 (Lit.). 233 In dieser Tradition Rudolf Bultmanns steht u. a. W. R. G.  Loader, Jesus in John’s Gospel. Structure and Issues in Johannine Christology, Grand Rapids 2017. 234  K. B.  Larsen, Recognizing the Stranger. Recognition Scenes in the Gospel of John, BIS 9, Leiden 2008. Vgl. auch Ders., The Recognition Scenes and Epistemological Reciprocity in the Fourth Gospel, in: K. B. Larsen (Hg.), The Gospel of John as Genre Mosaic (s. Anm. 20), 341–56; Ders., Plot, in: D. Ch. Estes / ​R . Sheridan (Hgg.), How John Works: Storytelling in the Fourth Gospel, Resources for Biblical Study 86, Atlanta 2016, 97–113; Ders., Jesus, God of Old and Newcomer. Rhetorical Character Presentation in John 1–2, in: M. C. Parsons / ​E. Struthers Malbon / ​P. N. Anderson (Hgg.), Anatomies of the Gospels and Beyond (FS R. A. Culpepper), BIS 164, Leiden 2018, 281–299. Vgl. auch: J. T.  Nielsen, Resurrection, Recognition, Reassuring. The Function of Jesus’ Resurrection in the Fourth Gospel, in: C. R. Koester / ​R . Bieringer (Hgg.), The Resurrection of Jesus in the Fourth Gospel, WUNT 222, Tübingen 2008, 177–208; I. M. Kramp, Gärten (s. Anm. 110), 257–275: Sie identifiziert und deutet Parallelen und Unterschiede in Joh 18,4–9 und 20,14–17. 235  Vgl. hierzu auch die Beobachtungen von H. W.  Attridge, Ambiguous Signs (s. Anm. 102), 288: Der Evangelist „plays on the unknown as a step on the way to the truth“. 236  Vgl. A. Denaux, The twofold purpose of the Fourth Gospel. A Reading of the Conclusion to John’s Gospel (20,30–31), in: J. Verheyden / ​G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R. Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and its Christology (s. Anm. 1), 519–536; und weiterführend auch: N. Ueberschaer, „… damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes …“. Das Johannesevangelium als Medium der Glaubensvermittlung, in: J. Frey / ​B. Schliesser / ​N. Überschaer (Hgg.), Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt, WUNT 373, hg. unter Mitarbeit von K. Hager, Tübingen 2017, 451–472; Dies., Theologie des Lebens bei Paulus und Johannes. Ein theologischkonzeptioneller Vergleich des Zusammenhangs von Glauben und Leben auf dem Hintergrund ihrer Glaubenssummarien, WUNT 389, Tübingen 2017. Die Kanonizität bzw. die Normativität des Johannesevangeliums als Sacred Scripture betont Sandra M. Schneiders in der Auslegung von Joh 20,30–31 als „the hermeneutical key to the Gospel“; vgl. Dies., Written That You May Believe (s. Anm. 118), 9–22; 5.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Diese Auslegung hat schon R. Alan Culpepper ausführlich vorgelegt: „The repetition of recognition scenes throughout the Gospel and the role that they play in the larger theme of Jesus as the unrecognized Revealer suggest that the Evangelist has taken the anagnorisis, a plot motif that was common in Jewish literature and Greek drama, and used it as one of the central elements in the plot of the Gospel.“237

Diese Interpretationsrichtung wird von Franziska Kunath anhand der johanneischen Präexistenzaussagen vertieft und entfaltet: Die Präexistenzaussagen in Joh 1,15 und 1,30 dienen einer christologisch-epistemologischen Strategie: „In V. 30 wird Jesus von Johannes als die erwartete Heilsfigur identifiziert, gleichzeitig aber mit dem Schleier des Geheimnisvollen und Rätselhaften umgeben, weil die Identifikation durch das Zuschreiben einer paradoxen Eigenschaft (er kommt als Präsenter bzw. er ist präsent, bevor er in Erscheinung tritt) geschieht. ‚Präexistenz Christi‘ meint also dieses nicht aufzulösende Wechselspiel zwischen Klärung und Verhüllung der Hauptfigur Jesus, die bei einem engagierten Leser einen niemals durch definitorische Klarheit abzuschließenden Sinnfindungsprozess auslöst.“238 „Jesus kommt als einer, der schon vorher in verborgener Weise präsent ist; er lässt sich (nur!) durch menschliche Vermittler finden und ist doch schon vor diesen im Leben der Adressaten präsent – aber genau diese geheimnisvolle Präsenz wird erst in der Erkenntnis, die sich der Vermittlung verdankt, erkannt.“239

3.8  Verschmelzung der Zeiten und Zeitsouveränität Jesu 3.8.1  Verschmelzung der Zeiten Die Studie von Christina Hoegen-Rohls zum „nachösterlichen Johannes“240 kann als markanter Beleg gelten für die Einsicht, dass und wie der Evangelist das vorösterliche Wirken Jesu in Wort und Tat und die Zeit nach Tod, Auferstehung, Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi miteinander verschmelzt: Im irdischen Jesus spricht mithin schon der erhöhte Kyrios. Der Evangelist wählt den nachösterlichen Standpunkt für seine Evangelienerzählung bewusst als Verstehens‑ und Darstellungsvoraussetzung und signalisiert dies seinen Adressaten ausführlich. Im Evangelium selbst finden sich die notwendigen Hinweise zum Selbstverständnis des Evangelisten. Charakteristisch sind: (1) die eingestreuten Erzählerkommentare, die ausdrücklich zwischen der vor‑ und der österlichen Situation unterscheiden („Zäsur der Zeiten“; vgl. Joh 2,17.22; 7,39; 12,16; 20,9),

237 R. A.  Culpepper,

The Gospel and Letters of John (s. Anm. 1), 86.  F. Kunath, Präexistenz (s. Anm. 171), 176. 239  Ebd. 160. 240  Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996. Vgl. auch J. Frey, Die Gegenwart der Vergangenheit und Zukunft Christi. Zur ‚Verschmelzung‘ der Zeithorizonte im Johannesevangelium, JBTh 28 (2013), 129–157. 238

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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(2) die Verheißungen Jesu außerhalb der Abschiedsrede, die auf die österliche Zeit hin transparent sind (Joh 1,50–51; 7,38; 8,28.31 f; 13,7), (3) die fünf Parakletverheißungen Jesu in der Abschiedsrede Joh 13,31–16,33, (4) die Hinweise in der Rückschau und in den Fürbitten des Abschiedsgebetes Jesu Joh 17, (5) die bekenntnishaften „Wir“‑ bzw. „Ich“-Aussagen (Joh 1,14.16; 3,11; 6,68–69; 9,4; 11,22.27 und (6) die weiteren johanneischen Aussagen über das Wirken des Geistes. Bei der Analyse und Interpretation der johanneischen Geistaussagen arbeitet Christina Hoegen-Rohls treffend mit den Kriterien: Zäsur, Kontinuität und Verschmelzung der Zeiten. Sie begründet ihre These von der Abschiedsrede als hermeneutischem Schlüssel der johanneischen Evangeliendarstellung: Die johanneische Theologie versteht sich selbst als „Sehen“ und „Erkennen“ aufgrund des prophetischen Geistwirkens. In der Perspektive der Abschiedsrede ist beides festzuhalten: die irdische Wirksamkeit Jesu als maßgeblichen, aber nicht alleinigen Ort endzeitlicher Gottesoffenbarung und die österliche Zeit als neue Begegnung mit Jesus und dem Vater. Im Glauben zugänglich wird diese Begegnung in der vom Geistwirken unterfangenen wechselseitigen Liebe und Immanenz zwischen Jesus bzw. dem Vater und den Christen. Der Evangelist Johannes stand – wie die drei Synoptiker vor ihm – vor der Aufgabe, die Überlieferung der Verkündigung Jesu in Wort und Tat mit der Osterbotschaft zu verbinden. Diese Verbindung der vorösterlichen mit der österlichen Zeit hat der Evangelist Johannes mit besonderer Konsequenz vorangetrieben. Wilhelm Thüsing hat in seiner Theologie des Neuen Testaments241 die grundlegende Denkfigur herausgearbeitet und reflektiert, die dieser Verschmelzung der Zeiten zugrunde liegt bzw. diese theologisch sichert: Die Auferstehung Jesu, die im Johannesevangelium insbesondere als Erhöhung und Verherrlichung Jesu gedeutet wird,242 setzt den irdischen Jesus, sein Wirken in Wort und Tat, eschatologisch ins Recht: „Der Erhöhte ist und bleibt der Gekreuzigte: Das ist in prägnanter Weise durch den johanneischen ‚Erhöhungs‘-Begriff ausgedrückt, in dem  – im Unterschied zum sonstigen Neuen Testament – Kreuzigung und Inthronisation zusammengeschaut werden. Nach Joh 12,32 ‚zieht‘ der Erhöhte ‚alle‘ an sein Kreuz

241 W. Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments. I. Kriterien aufgrund der Rückfrage nach Jesus und des Glaubens an seine Auferweckung, Münster 1996; II. Programm einer Theologie des Neuen Testaments mit Perspektiven für eine Biblische Theologie, Münster 1998; III. Einzigkeit Gottes und JesusChristus-Ereignis, Münster 1999. Vgl. auch Ders., Zwischen Jahweglaube und christologischem Dogma. Zu Position und Funktion neutestamentlicher Exegese innerhalb der Theologie (1984), in: Ders., Studien zur neutestamentlichen Theologie, WUNT 82, hg. v. Th. Söding, Tübingen 1995, 3–22. 242 Vgl. hierzu auch W. Thüsing, Die Erhöhung und Verherrlichung Jesu im Johannesevangelium, NTA 21, Münster (1959) 31979.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

und dadurch in die Herrlichkeit; das Kreuz ist im johanneischen Denken das Strukturprinzip der nachösterlichen Herrschaft Jesu.“243 3.8.2  Zeitsouveränität Jesu Die Präexistenzaussagen in Joh 1,1 f.15.30; 6,62; 8,58 und 17,5.24 erweitern die johanneische Erzählwelt und Theologie um eine weitere ‚zeitliche‘ Dimension:244 Der Logos (in Joh 1,17 mit Jesus Christus identifiziert)245 „war“ bereits „im Anfang … bei Gott“ – vor der Erschaffung des Kosmos (Joh 1,1–3). Jesus existierte bereits vor dem Täufer (Joh 1,15: „Er, der nach mir kommt, ist mir voraus; denn er war eher als ich“; vgl. Joh 1,30). Als Menschensohn wird er „auffahren, dahin, wo er zuvor war“; Joh 6,62). Jesus erhebt den Anspruch: „Ehe Abraham wurde, bin ich (ἐγὼ εἰμί)“ (Joh 8,58). Jesus bittet seinen „Vater“ um die Verherrlichung mit der Herrlichkeit, „die ich bei dir hatte, bevor die Welt war“ (Joh 17,5), und er bittet für die Glaubenden: „Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe der Grund der Welt gelegt war“ (Joh 17,24).

Im Zusammenhang mit den johanneischen Präexistenzaussagen246 lässt sich die Zeitsouveränität des johanneischen Jesus sehr gut herausarbeiten. Den johanneischen Präexistenzaussagen gemeinsam sind die Aspekte: (1) Störung der erwartbaren Zeitverhältnisse: „Mit der Mehrdeutigkeit von räumlicher, zeitlicher und rangmäßiger Abfolge spielend wird Jesus als jemand charakterisiert, der gleichzeig ab und anwesend ist und der, obwohl er schon gegenwärtig ist, noch kommt.“247 (2) Rückwärts laufende Chronologie: „Die Reihenfolge der Stellen … weist eine chronologische Steigerung auf, von Johannes als Figur der erzählten Welt über Abraham bis zum Beginn der Welt“248 und (3) Verbindung mit dem Plot der Erzählung: Joh 1,1 f gilt einerseits als Lektürebasis für die im Johannesevangelium folgenden Präexistenzaussagen, andererseits wird Joh 1,1 f „auf der Basis der anderen Präexistenzstellen neu gelesen.“249 Dies führt die vom Evangelisten intendierte doppelte Leserichtung vor Augen. Diese Interpretation passt zum metareflexiven Charakter des Prologs, der Rückblick der Lektüre auf die Schrift und Vorgriff der Schrift auf die Lektüre zugleich ist. In Joh 1,1 f offenbart der Erzähler  Ders., Theologien I (s. Anm. 241), 135. Zeitsouveränität Jesu vgl. auch Joh 1,26 und die Auslegung dieser johanneischen Sinnlinie in „Relecture und réécriture“, S. 173–202 in diesem Band. 245  Vgl. hierzu die Ausführungen in 3.10. 246 Vgl. hierzu 4.4.3. 247  F. Kunath, Präexistenz (s. Anm. 171), 313. 248  Ebd. 315. 249  Ebd. 318. 243

244 Zur

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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„den Rezipienten sein umfassendes Wissen und seinen Anspruch. Er behauptet nicht weniger, als in das unergründliche Zusammensein des Logos mit Gott schauen zu können. Es wird sich zeigen, dass dies das Geheimnis seines Protagonisten, Jesus, ist.“250

Friederike Kunath betont zu Recht das joh Zusammenspiel von Arché und Telos: „Der Sterbende, zu Verherrlichende, zu Erhöhende, Auferstehende, den Geist Sendende ist der Referenzpunkt von Joh 1,1–5.“251 Weiterführende Überlegungen zur Zeit und Zeitsouveränität im Johannesevangelium finden sich bei Olivia Rahmsdorf: „Im Hintergrund des Handelns Jesu ist aber gleichsam der ‚temporale Nullpunkt‘ der Kreuzigungsstunde leitend, in der Tod und Leben, die Irreversibilität der Vergangenheit und die Potentialität der Zukunft so aufeinander bezogen werden, dass eine erfüllte Zeit, eine ewige Gegenwart entsteht. In dieser Präsenz Christi, die als neue Zeitqualität verstanden werden kann, gibt es keine Vor‑ oder Nachordnung von Glaube, Tun und Heil. Ferner sind in dieser gegenwärtigen Stunde sowohl alle vorausgegangenen als auch alle nachfolgenden Generationen jeweils mit ihrer eigenen Vergangenheit und Zukunft präsent.“252

Der Zeitsouveränität Jesu korrespondiert im Johannesevangelium das souveräne, letztlich göttliche Wissen Jesu: Jesus „kennt“ den Vater (vgl. Joh 1,18; 10,17; 13,1; 16,28), er „kennt“ die Menschen (vgl. Joh 2,24 f; 4,16–18; 6,6; 11,1–5), seine Jünger (vgl. Joh 6,70 f; 13,38; 21,18 f ), seine Gegner (vgl. Joh 6,70–71; 13,2.18; 16,3) und die Stunde (vgl. Joh 2,4; 7,30; 8,20; 12,24; 13,1; 14,29; 16,4; 17,1; 18,4; 19,30). Er kennt seine Sendung, sein Geschick und das Ziel seines Lebens und Sterbens (vgl. nur Joh 13,1–3; 17,1–26). 3.9  Refraiming und Genre Bending 3.9.1 Refraiming Bei der Auslegung der joh Fußwaschungserzählung in Joh 13 lässt sich das johanneische Refraiming an einer exemplarischen Erzählung politisch-ethisch bzw. kulturell-soziologisch auswerten.253 Dieser Interpretationsansatz kann methodisch und hermeneutisch (nicht nur) für die Johannesforschung weiter vertieft werden:254  Ebd. 350.  Ebd. 362. 252 Vgl. O. R ahmsdorf, Zeit, Glaube und Ethik im Johannesevangelium am Bespiel der Fernheilungserzählung Joh 4,43–53, in: Chr. Hoegen-Rohls / ​U. Poplutz (Hgg.), Glaube, Liebe, Gespräch. Neue Perspektiven johanneischer Ethik, BThSt 178, Göttingen 2018, 55–85, hier: 84. Vgl. Dies., Zeit und Ethik im Johannesevangelium. Theoretische, methodische und exegetische Annäherung an die Gunst der Stunde (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics. Band X), WUNT II/488, Tübingen 2019. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Ihrer Position unter 4.9.1. 253  Vgl. „Ein Beispiel habe ich Euch gegeben …“ (Joh 13,15), S. 303–322 in diesem Band. 254 Vgl. Ch. Stettler, Das Endgericht bei Paulus: Framesemantische und exegetische Studien zur paulinischen Eschatologie und Soterologie, WUNT 371, Tübingen 2017. 250 251

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

(1) Das Refraiming (= Umdeutung) ist als eine Methode der Systemischen Psychotherapie und des Neurolinguistischen Programmierens bekannt. Menschliche Denkmuster, Zuschreibungen, Erwartungen weisen in der Regel einen Rahmen (frame) auf, eine Ordnung, in der Ereignisse interpretiert und dann wahrgenommen werden. „Durch Umdeutung wird einer Situation oder einem Geschehen eine andere Bedeutung oder ein anderer Sinn zugewiesen, und zwar dadurch, dass man versucht, die Situation in einem anderen Kontext (oder ‚Rahmen‘) zu sehen. Die Metapher hinter dem Ausdruck geht darauf zurück, dass ein Bilderrahmen den Ausschnitt des Gesamtbildes definiert, wie dies auch jemandes Blickwinkel bzgl. der Realität tut. Rahmen bedeutet auch ein Konzept, was unsere Sicht eingrenzt. Verlassen wir diese geistige Festlegung, können neue Vorstellungen und Deutungsmöglichkeiten entstehen.“255

(2) In der Sprachwissenschaft werden im Rahmen der Semantikforschung Frames diskutiert: „In Frames ist … stereotypes Wissen (…) abgespeichert und in seinem Strukturzusammenhang kognitiv abrufbar.“256 Frames erfüllen einen wichtigen Zweck: „Um uns in der Welt orientieren zu können, um das Prinzip der Sinnkonstanz (…) aufrecht zu erhalten, greifen wir kognitiv immer schon auf gleichsam prästabilisiertes und schematisiertes Erfahrungswissen zurück, und dieses ist in Frames organisiert.“257

Erving Goffmann258 versteht Frames als „Orientierungs‑ und Interpretationsrahmen, an denen InteraktionsteilnehmerInnen ihre Handlungen in einem konkreten Interaktionssetting ausrichten. Frames tragen nach diesem Verständnis also dazu bei, Handlungen zu koordinieren und zu interpretieren.“259

Die johanneische Fußwaschungserzählung zeigt die Strategie des Evangelisten: Durch das konkrete Handeln Jesu und durch die anschließenden Gesprächsgänge provoziert, irritiert und belehrt Jesus Petrus und alle Anwesenden. Er stellt ihre habituellen, kulturell geprägten und Sinnkonstanz ermöglichen Verstehens Wikipedia: wikipedia.org/wiki/Umdeutung_(Psychologie) (Abruf vom 2. 11. ​2019)  A. Ziem, Frame-Semantik und Diskursanalyse. Skizze einer kognitionswissenschaftlich inspirierten Methode zur Analyse gesellschaftlichen Wissens, in: I. Warnke / ​J. Spitzmüller (Hgg.), Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, Berlin 2008, 89–116 [2]. 257 Ebd. [3]; vgl. weiterführend: Ders., Frames und sprachliches Wissen. Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz, SuW 2, Berlin 2008; Ders., Semantische Frames und grammatische Konstruktionen für die Textanalyse, in: J. Hagemann / ​S. Staffeldt (Hgg.), Syntaxtheorien. Vergleichende Analysen, Tübingen 2014, 297–333; Ders., Art. „Frame (Kognitionstheorie)“, „Frame-Semantik“, in: Ders. u. a. (Hgg.), DiskursNetz. Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung, stw 2097, Berlin 2014, 154 f.155 f; Ders., Frames interdisziplinär: zur Einleitung, in: Frame-Theorien interdisziplinär. Modelle, Anwendungsfelder, Methoden, Proceedings in Language and Cognition 2, Düsseldorf 2018, 7–22, hier 7: „Frames sind Ordnungsstrukturen von Wissen.“ Vgl. auch D. Busse, Frame-Semantik. Ein Kompendium, Berlin 2012. 258  Vgl. E. Goffmann, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, Cambridge 1974. 259  A. Ziem, Frames interdisziplinär (s. Anm. 257), 8. 255 256

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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muster in Frage und definiert diese um bzw. neu (intradiegetisch). Gleichzeitig ist diese Irritation und Neubewertung auch auf die Adressaten des Johannesevangeliums gerichtet: Sie sollen durch die Irritation ihrer Verstehensmuster hindurch zu neuen Bewertungen (Refraiming) geführt werden (extradiegetisch). Es ist eine lohnende Aufgabe, dieses johanneische Refraiming auch an anderen Erzählsequenzen des Johannesevangeliums (insbesondere auch bei den Zeichenerzählungen sowie den Passionssequenzen) zu erproben.260 Die bewusste Übernahme der neuen Frames Jesu bzw. des Evangelisten führt die Christen als Minderheit freilich in eine doppelte Konfliktsituation: mit ihrer jüdischen Muttergemeinde einerseits und mit den Sinnmustern der römischen Mehrheitsgesellschaft, in der sie leben, andererseits. Der Evangelist sieht seine Aufgabe darin, seine Adressaten in diesen Konfliktsituationen zu stärken und zu einer selbstbewussten Mündigkeit261 zu führen. 3.9.2  Genre Bending Die Frage nach der Gattung des Johannesevangeliums als Ganzem bzw. nach Gattungen im Johannesevangelium und ihren möglichen Vorbildern in der antiken, hellenistischen bzw. jüdischen‑hellenistischen Literatur hat die Forschung vielfältig beschäftigt.262 Insbesondere die johanneischen Abschiedsrede hat eine intensive Gattungsdiskussion hervorgerufen.263 Die neuere Forschung264 löst 260 Davis Svärd spricht in seiner Interpretation von Joh 12,1–8 von Refashioning (vgl. hierzu Anm. 273). J. Frey spricht von: Replotting, Renarrating und Reimagining der Jesusüberlieferung im Zuge der johanneischen Evangelienabfassung; in: Ders., Theology and History (s. Anm. 16), 127–141. 261  Vgl. hierzu auch „Mündiger Glaube“, S. 230–256 in diesem Band. 262 Vgl. J. Beutler, Literarische Gattungen im Johannesevangelium. Ein Forschungsbericht 1919–1980, ANRW II 25,3, Berlin 1982, 2506–2568. Weiterführend auch: M. Theobald, Evangelium nach Johannes (s. Anm. 24), 14–17.27–29 (das Johannesevangelium als „dramatische Erzählung“); A. Wucherpfennig, Das Johannesevangelium und die antike Tragödie, in: J. Frey / ​ U. Poplutz (Hgg.), Erzählung und Briefe (s. Anm. 10), 25–42; K. B.  Larsen, Archetypes (s. Anm. 21). Sune Auken führt die neueren nordamerikanischen rhetorical genre studies in die Johannesforschung ein (Gattungen als „social actions“); vgl. Dies., Contemporary Genre Studies: An Interdisciplinary Conversdation with Johannine Scholarship, in: K. B. Larsen (Hg.), Genre Mosaic (s. Anm. 20), 47–66. Colleen M. Conway arbeitet heraus, dass das Johannesevangelium einerseits durchgehend die patriarchale Weltsicht bestätige, andererseits auch weibliche Charaktere zeichne, die wie in antiken Dramen „a socio-cultural ‚otherness‘“ repräsentieren: „On the other hand, female characters may also function to ‚safely‘ push the edges of theological and social boundaries. These women let the audience experience the marginal position of a believer by the way of figures that are already marked as other“ (Dies., John, Gender, and Genre: Revisiting the Woman Question after Masculinity Studies, ebd. 69–84, hier: 83). 263  Vgl. „Abschied und neue Gegenwart“, S. 369–394 in diesem Band; vgl. u. a.: H.-J. Klauck, Weggang (s. Anm.); M. Lang, Johanneische Abschiedsreden und Senecas Konsolationsliteratur. Wie konnte ein Römer Joh 13,31–17,26 lesen?, in: J. Frey / ​U. Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums (s. Anm. 6), 365–412; G. L.  Parsenios, Departure and Consolation. The Johannine Farewell Discourses in Light of Greco-Roman Literature, NT.S 117, Leiden 2005. Troels EngbergPedersen deutet die Abschiedsrede Jesu in 13,31–17,26 literarisch einheitlich in der Perspektive der auch bei Paulus bekannten παράκλησις mit ihren zwei Momenten: comfort encouragement

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

sich von eindeutigen Zuordnungen zu einem bekannten Gattungsmuster sowohl für das Johannesevangelium als Ganzem (bes. Drama265, Biographie266, Roman, Novelle267) als auch für Gattungszuordnungen innerhalb des Johannesevangeliums:268 Die klassische Gattungskritik, die vielfach Anleihen bei Rudolf Bultmann genommen haben, ist überholt: „Historical exegesis has made the linguistic turn.“269 Die Frage nach Gattungen ist heute neu und anders zu stellen: (gegenwartsbezogen) und exhortation encouragement (zukunftsbezogen). Basis dafür sei das Wirken des Parakleten; vgl. Ders., A Question of Genre. John 13–17 as Paraklesis, in: K. B. Larsen (Hg.), Genre Mosaic (s. Anm. 20), 283–301. Vgl. weiterführend auch: K. Scholtissek, Jesu Abschied? Reziproke Immanenz, Geist und Liebe in Joh 13,31–14,31 (paper beim Seminary on the Johannine Writings beim SNTS-Meeting 2019 in Marburg) (in Vorbereitung). 264  Vgl. K. B. Larsen (Hg.), Genre Mosaic (s. Anm. 20), ebd. 13–24: Introduction: The Gospel of John as Genre Mosaic (Lit.). Vgl. auch T. Smith, The Fourth Gospel and the Manufacture of Minds in Ancient Historiography, Biography, Romance, and Drama, BIS 173, Leiden 2019. 265 Vgl. hierzu die Positionen von L. Schenke, Das Johannesevangelium. Einführung – Text – dramatische Gestalt, Stuttgart 1992; Ders., Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998; Ders., Das Johannesevangelium. Vom Wohnen Gottes unter uns, Freiburg i. Br. 2018; ebd. 9–11 beschreibt L. Schenke biographisch die forschungsgeschichtliche Wende in der Johannesforschung; vgl. ebd. 13–39 zu einleitungswissenschaftlichen und literarischen Fragestellungen. 266  Vgl. R. A.  Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography (1992), Twenty-Fifth Anniversary Edition, Waco 2018; vgl. ebd. I.1–I.112 die aktuelle Forschungsdiskussion. 267  George L. Parsenios beschreibt, wie der Evangelist narratio (diegesis) und imitatio (mimesis) verschränkt; Ders., The Silent Spaces between Narrative and Drama. Mimesis and Diegesis in the Fourth Gospel, in: K. B. Larsen (Hg.), Genre Mosaic (s. Anm. 20), 85–98. J.-A. A.  Brant erkennt Übereinstimmungen zwischen antiken Novellen und dem erzählerischen Umgang mit der Zeit im Johannesevangelium („novelized time“) und spricht daher von „novelization“ im Johannesevangelium: „Studying John among the ancient novels may in the end lead the examiner back to the conclusion that John stands more comfortably among the biographies but with a consciousness of the force of ‚novelization‘ apparent in its playful appropriation of various genres and its representation of time as a subjective experience“ (Dies., John Among the Ancient Novels, Genre Mosaic [s. Anm. 20], 157–168, hier: 168); vgl. Dies., The Fourth Gospel as Narrative and Drama, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 186–202. 268  A. Klostergaard betont – veranschaulicht am Beispiel der Wundererzählungen – den Übergang von der narrativen Christologie der Synoptiker zur diskursiven Christologie des Johannesevangeliums, für die er den missverständlichen Begriff „generic docetism“ verwendet; vgl. Ders., Generic Docetism. From the Synoptic Narrative Gospels to the Johannine Discursive Gospel, in: K. B. Larsen (Hg.), Genre Mosaic (s. Anm. 20), 99–124. O. Davidsen sieht im Johannesevangelium die drei „cross-culturally dominant and prototypical narrative genres“ verwirklicht: heroic, sacrificial and romantic tragicomedy; vgl. Ders., The Lord, the Lamb, and the Lover: The Gospel of John as a Mixture of Spiritualized Narrative Genre, ebd. 125–156. Auf die in der Johannesforschung vernachlässigte Parabel in Joh 16,21 weist Ruben Zimmermann hin und erläutert die gattungstypische Offenheit dieser Parabel: Christologische, eschatologische und feministische Dimensionen können konsistent zusammengeführt werden; vgl. Ders., The Woman in Labor (John 16:21) and the Parables in the Fourth Gospel, ebd. 303–339; M. Theobald, Gattungswandel in der johanneischen Passionserzählung. Die Verhöre Jesu durch Pilatus (Johannes 18,33–38; 19,8–12) im Licht der Acta Isidori und anderer Prozessdialoge, in: J. Verheyden / ​ G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R . Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and its Christologie (s. Anm. 1), 447–483. 269 K. B.  Larsen, Introduction: The Gospel of John as Genre Mosaic, in: Ders. (Hg.), Genre Mosaic (s. Anm. 20), 13–24, hier: 16.

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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„… there seems to be agreement that genre becomes exegetically stimulating when it is less about taxonomic classification and more about how texts communicate and establish room for interpretation.“270

Kasper B. Larsen stellt diesen Ansatz treffend unter die Überschrift: „Genre Mosaic“. Grundlegend sind die Beiträge von Harold W. Attridge271: Attridge arbeitet heraus, dass der vierte Evangelist die in der Antike vielfach verwendete Technik, Gattungen spielerisch, kunstvoll und transformierend zu verwenden, übernimmt und gezielt für seine Zwecke dienstbar macht: „John bends his narrative in the direction of drama (with prologue, irony, ‚delayed exit‘, recognition scenes, and identification/catharsis). This generic transformation serves the same purpose as the riddling and symbolic dimensions of the Gospel, which Attridge describes as a narrative ‚arabesque‘: to faciliate a transformative encounter between the reader and the risen Christ.“272

Die johanneische Charakterisierung der Wundergeschichten als „Zeichen“ ist seit jeher beobachtet und ausgewertet worden.273 Jörg Frey zeigt in seinen Analysen der johanneischen Zeichen-Erzählungen, dass und wie sie auf Tod und Auferstehung Jesu als „ultimate sign“ bezogen sind und interpretiert die johanneischen SemeiaErzählungen als exemplarische Darstellungen der Gesamtbotschaft des Johannesevangeliums: „They are all narrated in a manner that discloses their significance and presents them as exemplary narratives of the whole of Jesus’ sending and ministry within the context of the  Ebd. 18.  H. W.  Attridge, Genre Bending in the Fourth Gospel (2002), in: Ders., Essays on John and Hebrews, WUNT 264, Tübingen 2010, 31–45; Ders., The Gospel of John: Genre Matters?, in: K. B. Larsen (Hg.), Genre Mosaic (s. Anm. 20), 29–45. 272  K. B.  Larsen, Introduction (s. Anm. 269), 19. Vgl. H. W. Attridge, The Gospel of John (s. Anm. 271), 45: „Most important and most clearly, the story needed to be dramatized, to display and to invite transformative encounters with the Crucified and Resurrected Way, Truth, and Life. But a simple dramatized narrative was not enough either. It offered the possibility of one type encounter, through identification of the reader with a character in the story, but that left other dimensions of experience without adequate support. The dramatic narrative was further bend toward a bit of conceptual artistry that would at the same time bedazzle and perplex, but ultimately transform the attentive reader.“ 273   Vgl. u. a.: A. Wucherpfennig, Wunder und Inklusion. Die Zeichen Jesu im Johannesevangelium, Diakonia 49 (2018), 251–257. Am Beispiel der Begegnungsszene in Joh 4 plädiert Tyler Smith dafür, Gen 29 (Jakob und Rachel) als „prototype“ für die joh Darstellung und Interpretation der Begegnung zwischen Jesus und der Samariterin zu verstehen; Ders., Characterisation in John 4 and the Prototypical Scene as a Generic Concept, in: Gospel Mosaic (s. Anm. 20), 233–247. Davis Svärd deutet Joh 12,1–8 im Licht königlicher Messiaserwartungen, die Johannes neu codiere („John’s Refashioning of the Generic Scene“); vgl. Ders., John 12:1–8 as a Royal Anointing Scene, ebd. 249–268, hier 268: „John’s composition seems to be a refashioning of the private royal anointing scene, in which some of the genric elements have been changed in order to fit the theological purpose of the Gospel. The refashioning can mainly be explained as an adaptation of the scene to John’s notion of Jesus as a serving and dying royal Messiah, as well as to his notions of Jesus as a missing bridgeroom-Messiah and Jesus as an anointed temple-body about to be destroyed and rebuilt.“ 270 271

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

whole Gospel. Thus, the genre of miracle stories is ‚bent‘ and modified according to the hermeneutical interests of the Gospel as explained in John 20:30–31.“274

Überzeugend bezieht sich Kaspar B. Larsen in seiner Untersuchung der recognition type-scenes (anagnoriseis) (vgl. u. a.: Joh 1,29–34.35–51;4,1–42.46–54; 9; 20–21; 10; bes. 20,1–10.11–18) auf die Parallelen zu antiken Texten (Aristoteles, ancient narrative, drama) einerseits und auf die Nähe zur johanneischen Sprache der Reziprozität und Gegenseitigkeit andererseits: „The pervasive Johannine language of reciprocity and mutuality, in other words, not only contains ontological and ethical dimensions, but also a cognitive dimension: ‚I know my own, so my own know me‘ (10:14; Larsen’s translation). His ‚covenantal epistemology‘ of divine action and human reactiong, well-known from biblical tradition and central to the Gospel’s understanding of God and human beings, is played out and dramatized in the Johannine recognition scenes.“275

3.10 Decodierung und Neucodierung am Beispiel des Johannesprologs Prozesse der Decodierung und der Neucodierung als literarische und theologische Stilmittel können am Beispiel des Johannesprologs anschaulich vor Augen geführt werden.276 Der Johannesprolog277 ist ein anspruchsvoller Text. An seiner Auslegung 274  J. Frey, From the Semeia Narratives to the Gospel as a Significant Narrative. On Genre Bending in the Johannine Miracle Stories, in: K. B. Larsen (Hg.), Genre Mosaic (s. Anm. 20), 209–232, hier: 231. Vgl. in diesem Sinne auch: D. V. Vistar, The Cross-and-Resurrection. The Supreme Sign in John’s Gospel, WUNT II/508, Tübingen 2019. Vgl. auch G. Van Belle, The Signs of the Messiah in the Fourth Gospel. The Problem of a „Wonder-working Messiah“, in: B. Koet / ​ S. Moyise / ​J. Verheyden (Hgg.), The Scriptures of Israel in Jewish and Christian Tradition. Essays in Honour of M. J. J. Menken, NT.S 148, Leiden 2013, 159–178. 275  K. B.  Larsen, Introduction (s. Anm. 269), 24; Ders., The Recognition Scenes and Epistemological Reciprocity in the Fourth Gospel, in: K. B. Larsen (Hg.), Genre Mosaic (s. Anm. 20), 341–356, bes. 354 f: „The Reader as Recognized Recognizer“. Vgl. auch 1 Joh 3,16; 4,9–11.19. 276  Eine für eine breite Leserschaft zugänglichere Kurzfassung der folgenden Ausführungen unter 3.10 findet sich bei: K. Scholtissek, Das Evangelium nach Johannes. Ein Anfang, der es in sich hat, in: G. Steins u. a. (Hgg.), 73 Ouvertüren. Die Buchanfänge der Bibel und ihre Botschaft, Gütersloh 2018, 482–492. 277  Zur Prologexegese vgl. auch „Relecture und réécriture“, S. 173–202 in diesem Band sowie: O. Schwankl, Licht und Finsternis (s. Anm 115); K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), 174–194; G. Kruck (Hg.), Der Johannesprolog (s. Anm. 5); J. Beutler, Der Johannes-Prolog – Ouvertüre des Johannesevangeliums (2009), in: Ders., Neue Studien (s. Anm. 28), 215–238; L. Devillers, Le prologue du quatrième évangile, clé de voûte de la littérature johannique, NTS 58 (2012), 317–330; T. Harstine, A History of the Two-Hundred-Year Scholarly Debate about the Purpose of the Prologue to the Gospel of John. How Does Our Understanding of the Prologue Affect Our Interpretation of the Subsequent Text?, Lewiston 2015; J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130). Vgl. auch U. Busse, Theologie oder Christologie im Johannesprolog?, in: J.  Verheyden / ​G.  Van Oyen / ​M.  Labahn / ​R .  Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and Its Christology (s. Anm. 1), 1–36; J. Painter, The Prologue as a Hermeneutical Key to Reading the Fourth Gospel, ebd. 37–60; Ph. Van den Heede, Exeget Gottes (s. Anm. 154), 29–82. R. Sheridan deutet den Prolog als einen Dialog zwischen Genesis und Exodus narratives und der johanneischen Jesus-Erzählung: „John’s prologue performs the exegetical narrative genre in a way that not only represents the biblical story, but also recasts it and reshapes it entirely around the story of Jesus as the ultimate and exclusive ‚exegete‘ of God

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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scheiden sich die Geister, hier werden oftmals methodische und hermeneutische Vorentscheidungen getroffen, die die Auslegung des gesamten Evangeliums, wenn nicht des gesamten Corpus Johanneum beeinflussen. Die Verse des Johannesprologs haben provoziert und provozieren weiter. Es bedarf schon einigen intellektuellen Aufwandes, um sich den steilen Aussagen des Johannesprologs zu entziehen. Dass diese Versuche immer wieder in unterschiedlichsten Absichten unternommen wurden und werden, spricht für den Prolog. Der Evangelist Johannes öffnet in den einleitenden Versen seines Evangeliums in genialer Weise die Tür, durch die die Hörenden und Lesenden in das Haus des Evangeliums treten (zur johanneischen Türmetapher vgl. die Hirtenrede in Joh 10,1–18). Im Durchgang durch diese Tür erhalten die Hörenden und Lesenden die Zurüstung, die sie brauchen, um sich Gottes Kunde, die seiner ganzen Schöpfung gilt, schrittweise und vertiefend als glaubende und liebende Kinder Gottes anzueignen. 3.10.1 Textbeobachtungen „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott“ (Joh 1,1). „Niemand hat Gott je gesehen; der Eingeborene, der Gott ist und der am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“ (Joh 1,18).

Der erste und der letzte Vers des Prologs bilden einen Rahmen: Sie sprechen von der Würde und Größe des „Wortes“ (λόγος), das von allem Anfang an „bei Gott“ existiert, selbst „Gott“ ist und aus intimster Beziehung heraus „Kunde gebracht hat“. Das letzte Wort im Vers 18 „verkündigen / ​Kunde bringen / ​auslegen (ἐξηγήσατο)“ weist den „Eingeborenen“ als Gottes Exegeten aus: Die verbindliche und abschließende Auslegung Gottes geschieht im Corpus Evangelii. Deshalb ist es sachgemäß, den Vers 18 in den Übersetzungen mit einem Doppelpunkt enden zu lassen.278 Mit den ersten beiden Wörtern seines Evangeliums „Im Anfang …“ wiederholt der Evangelist die ersten beiden Wörter der Heiligen Schrift Israels in Gen 1,1. Das ist kein Zufall, sondern signalisiert allen jüdischen bzw. gebildeten Adressaten, in welche Tradition sich der Evangelist bewusst stellt und welche kosmologische Reichweite sein Evangelium beansprucht. Dieses Anliegen greifen die schöpfungstheologischen Aussagen in Versen 2–3 ausführlich und vertiefend auf. (cf. 1:18)“ (Dies., John’s Prologue as Exegetical Narrative, in: K. B. Larsen (Hg.), Genre Mosaic [s. Anm. 20] 171–190, hier: 190). D. Ch. Estes sieht beim Johannesprolog deutliche Parallelen zu den Peristaseis in der antiken Rhetorik: Im Prolog werde der implizite Leser in die relevanten Akteure, Umstände und Konstellationen des Hauptteils und damit in die vom Autor gewünschte Leseperspektive eingeführt; Ders., Rhetorical Peristaseis (Circumstances) in the Prologue of John, ebd. 191–207. Vgl. auch M.  Enders / ​R .  Kühn, „Im Anfang war der Logos …“. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart. Mit einem Beitrag von C. Bruns, Forschungen zur europäischen Geistesgeschichte 11, Freiburg i. Br. 2011. 278 Weiterführend zur Auslegung von Joh 1,18 vgl. V. Burz-Tropper, Joh 1,18 als Paradigma einer Theo-Logie des Johannesevangeliums, in: Dies. (Hg.), Studien zum Gottesbild im Johannesevangelium, WUNT II/483, Tübingen 2019, 43–58.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Der neben Gott neu eingeführte und ihm zugeordnete Akteur ist „das Wort“. Diesem wird zugesprochen, dass es selbst „Gott“ ist (vgl. die Wiederholung dieser Prädikation in Vers 18). Sprachlich wird hier wie in Vers 18 der bestimmte Artikel „der (Gott)“ bewusst vermieden. Es geht im Vers 1 um Unterscheidung und Zuordnung von „dem Gott“ und „dem Wort“. Dabei wird die Göttlichkeit des „Wortes“ ausdrücklich betont und näher bestimmt. Jan G. van der Watt diskutiert intensiv die grammatikalischen und syntaktischen Fragen, die sich zum Vers 1,1 stellen: Für die Deutung, hier handele es sich um ein Rätsel, kann er keine grammatikalischen oder syntaktischen Anhaltspunkte finden. Dafür verweist er auf eine bedeutende theologische und hermeneutische Schlussfolgerung: „No final decision on the ‚correct‘ reading is really possible, as re-reading and re-thinking in light of the rest of the Gospel seems to be invited. At first reading, one is not supposed to understand fully what is going on, and is left guessing: but, as the Gospel unfolds, the meaning becomes more transparent.“279

Diese Beobachtungen zeigen, dass der Evangelist schon im und mit dem ersten Vers seines Evangeliums seine Leser und Hörer zu einem Verstehensweg einlädt, der sich schrittweise in der rekursiven Lektüre des Prologs bzw. des ganzen Evangeliums erschließt. Bricht der Evangelist gleich im ersten Vers mit seiner biblischen Tradition, mit dem ersten grundlegenden Gebot des Dekalogs? Ist der Monotheismus aufgegeben? Schon im ersten Vers, dann in den weiteren Versen des Prologs und im gesamten Evangelium arbeitet der Evangelist daran, zu zeigen, dass und wie seine steilen christologischen Aussagen den Monotheismus wahren (insbesondere durch die reziproken Immanenzaussagen zwischen Vater und Sohn280). Dazu bezieht sich der Evangelist mit dem Begriff λόγος sowohl auf die biblischen Aussagen über Gottes wirkmächtiges Schöpfer-Wort als auch auf die in frühjüdischen Schriften personifizierte Weisheit (vgl. bes. Sprüche 8).281 Gleichzeitig nimmt er bewusst Rekurs auf die in den zeitgenössischen philosophischen Schulen (Seneca, Plutarch, Dion von Prusa, Epiktet) diskutierte Rolle des Logos. Der Evangelist schöpft aus seiner biblischen Tradition, in der er uneingeschränkt steht, und sucht zugleich das Gespräch mit den zeitgenössischen Philosophien auf der Höhe der Zeit.282 Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Auslegung des Johannesevangeliums: 279 Vgl. J. G. van der Watt, John 1:1 – A „Riddle“? Grammar and Syntax Considered, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130), 57–78, hier: 77. 280  Vgl. hierzu 4.1 und K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), passim. 281 Vgl. hierzu weiterführend: H. Spieckermann, Gottes-Rede im Prolog des Johannesevangeliums. Erkundungen zum alttestamentlichen Hintergrund, in: V. Burz-Tropper (Hg.), Studien zum Gottesbild im Johannesevangelium (s. Anm. 278), 19–42, bes. 41 f „Fazit: Gottes Welt-Liebe als Kern der Gottes-Rede im Johannes-Prolog“; J. Leonhardt-Balzer, Die Aufnahme früh­ jüdischer Rede von Gott im Johannesevangelium, ebd. 43–58. 282 Vgl. J. Freys gründliches Plädoyer für die Wahrnehmung des hermeneutischen Potentials der johanneischen Logos-Christologie: Ders., Between Torah and Stoa. How Could Readers

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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„Die philosophische Interpretation des Johannesevangeliums ist nicht nur eine Ergänzung des bisherigen Methoden und Fragestellungen, sondern sie verändert unsere Wahrnehmung der Texte: Sie sind nicht nur religiöse, sondern auch denkerische Leistungen, die Menschen damals wie heute unmittelbar ansprechen.“283

Auch mit dieser doppelten Dialogsituation steht der Evangelist wiederum in seiner biblischen Tradition, denn diesen Dialog führen die Autoren frühjüdischer Schriften der hellenistischen Zeit seit langem und in aller Ausführlichkeit (vgl. nur: Weisheit, Septuaginta, Philo). Dieser johanneische Diskurs, der mit der zentralen Verwendung des Stichwortes λόγος im ersten Vers eröffnet wird, belegt die denkerische Kraft des Evangelisten und das hermeneutische Potential seiner Sprache und Theologie. Für die johanneische Intention ist es entscheidend zu sehen und zu verfolgen, wie der Evangelist den λόγος beginnend in Vers 1 und dann schrittweise fortführend inhaltlich bestimmt und damit neu codiert. Die für das Stichwort λόγος angeführten interkulturellen Bezüge lassen sich analog auch für eine ganze Reihe weiterer zentraler johanneischer Theologumena belegen und vertiefen: Das gilt beispielsweise für die im Prolog vorkommenden Begriffe „Leben“284, „Licht / ​Finsternis“285, „Zeuge/Zeugnis“286, „Wahrheit“287, „Herrlichkeit“288; vgl. auch im Corpus Evangelii: „Geist“289, „Zeichen“290, „parresia“291. Have Understood the Johannine Logos?, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130), 189–234. 283 U. Schnelle, Philosophische Interpretation des Johannesevangeliums, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130), 159–187, hier: 187. Vgl. auch Ders., Das Johannesevangelium als neue Sinnbildung, in: G. Van Belle / ​J. G. van der Watt / ​ P. Maritz (Hgg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel (s. Anm. 1), 291–313; Ders., Theologie als kreative Sinnbildung. Johannes als Weiterbildung von Paulus und Markus, in: Th. Söding (Hg.), Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? (s. Anm. 4), 119–145. 284  Vgl. einführend M. Stare, Durch ihn leben. Die Lebensthematik in Joh 6, NTA.NF 49, Münster 2004. 285  M. M.  Thompson, „Light“ (φῶς). The Philosophical Content of the Term and the Gospel of John, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130), 273–284. 286 Vgl. hierzu die Literaturhinweise in Anm. 654. 287 Vgl. hierzu weiterführend: Th. Söding, Die Wahrheit des Evangeliums. Anmerkungen zur johanneischen Hermeneutik, EThL 77 (2001), 318–355. 288 Vgl. J. Frey, The Use of δόξα in Paul and John as Shaped by the Septuagint, in: E. Bons / ​ R. Brucker / ​J. Joosten (Hgg.), The Reception of Septuagint Words in Jewish-Hellenistic and Christian Literature, WUNT II/367, Tübingen 2014, 85–104. 289 Vgl. C. R.  Koester, „Spirit“ (Pneuma) in Greco-Roman Philosophy, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130), 235–250. 290  Vgl. J. Zumstein, „Zeichen“ (σημεῖον). Philosophischer Inhalt und Gebrauch des Begriffs im Johannesevangelium, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130), 285–302; U. Poplutz, Die johanneischen σημεῖα (s. Anm. 232) 21: „Das die σημεῖα von Johannes verwendet werden, um durch sie die wahre Identität/Herkunft Jesu erkennbar werden zu lassen, hat auch einen Haftpunkt in der griechischen Rhetorik, in der σημεῖον so viel wie ‚Beweis‘ oder ‚Evidenz‘ bedeuten kann.“ 291 Vgl. M. Labahn, Die παρρησία des Gottessohnes im Johannesevangelium. Theologische Hermeneutik und philosophisches Selbstverständnis (2004), in: Ders., Studien (s. Anm. 1),

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

„Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch dieses gemacht, ohne dieses wurde nichts, was gemacht ist.“ (Joh 1,2–3)

Dem göttlichen „Wort“ wird – in Weiterführung des poetisch-hymnischen Satzbaus aus Vers 1  – die Schöpfungsmittlerschaft zugeschrieben. Diese Aussage setzt die Präexistenz des „Wortes“ vor der Schöpfung zwingend voraus. Das schöpferische Werk, das nur durch göttliche Kräfte möglich ist, wird ausdrücklich für das „Wort“ monopolisiert: Neben und an dem „Wort“ vorbei gibt es keine geschöpfliche Wirklichkeit. Ausnahmslos „Alles (= alle Dinge)“ verdankt seine Existenz dem schöpferischen Wirken des „Wortes“. Dieses schöpferische Wirken des „Wortes“ widerspricht kategorisch jedem kosmologischen Dualismus und fügt sich grundlegend ein in die biblische Schöpfungstheologie, die von dem einen und einheitlichen Schöpferwillen, dem sich die Schöpfung verdankt, ausgeht. In den Versen 2–3 wird der polyvalente Begriff λόγος in einem zweiten Schritt näher als göttlicher Schöpfungsmittler bestimmt. „In ihm war (das) Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Joh 1,4–5) „Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in die Welt kommen. Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht.“ (Joh 1,9–10)

Die Verse 4–5 und 9–10, die die Verse 6–8 zur Sendung des Täufers als Zeuge „des Wortes“ rahmen, bringen mit den Begriffen „Leben“ sowie „Licht / ​Finsternis“ zwei neue Motive ins Spiel, die ebenfalls über ein hohes hermeneutisches Potential verfügen, weil sie über die biblischen Bezüge hinaus viele archetypische bzw. kulturgeschichtliche Anknüpfungspunkte bieten. Über die Schöpfungsmittlerschaft im engeren Sinne hinausgehend werden in diesen Versen dem „Wort“ weitere Eigenschaften zugesprochen: Es trägt  – absolut formuliert  – „das Leben“ in sich. Damit ist ein soteriologischer Zentralbegriff angesprochen (vgl. Joh 10,10), der ökumenisch (im urspr. Wortsinn: die ganze bewohnte Welt umfassend) Kulturen übergreifend und sie verbindend verstanden wird. Mit dem weiterführenden Hinweis, dass dieses Leben „das Licht der Menschen“ war und „alle Menschen erleuchtet“, wird das universale, in der ganzen Schöpfung gegenwärtige und heilstiftende Wirken des „Wortes“ ausgesagt. Die Verse zur Licht-Finsternis-Metaphorik292 bleiben – wie schon die Verse 1–3 zuvor – in gewisser Hinsicht enigmatisch: Wer oder was genau mit dem „Wort“ gemeint ist, wo und wie sich genau „das Leben“ und „das Licht“ bzw. „die Finsternis“ in der Menschheitsgeschichte zeigen, das wird in den genannten Versen selbst nicht weiter präzisiert. Einen wichtigen Hinweis geben dann die folgenden Verse 6–8 zu Johannes, dem Täufer. 315–360; G. L.  Parsenios, Confounding Foes and Counseling Friends. παρρησία in the Fourth Gospel and Greco-Roman Philosophy, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130), 251–272. 292  Vgl. weiterführend: O. Schwankl, Licht und Finsternis (s. Anm. 115).

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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Zunächst einmal werden die Hörenden und Lesenden mit einer neuen Botschaft konfrontiert, die in den weitgehend parallel gebauten Sätzen Versen 5 („… und die Finsternis hat es nicht erfasst“293) und 10 („… aber die Welt erkannte ihn nicht“) variierend und umschreibend festgehalten wird: Dabei ist Vers 5 noch offener formuliert. Vers 10 formuliert schon erheblich konkreter. Verse 4–5 bleiben innerhalb der Licht-Finsternis-Metaphorik, Verse 9–10 variieren die Aussage in Bezug auf „das Wort“, das vom Kosmos „nicht erkannt“ wird, obwohl es den Kosmos ins Leben gerufen hat. In den Versen 4–5 noch verdeckt und in den Versen 9–10 klarer formuliert wird ein Konflikt, der in der Licht-FinsternisMetaphorik für sich allein betrachtet noch dualistisch gedeutet werden könnte: Tatsächlich besteht der Konflikt aber darin, dass der Schöpfungsmittler von seiner eigenen Schöpfung „nicht erkannt“ wird. Damit bekommt der Konflikt einen tragischen Grundzug, der schon in diesen Versen die im Evangelium wiederholt umschriebene und ausgeleuchtete Ablehnung Jesu präfiguriert. Diese Beobachtung, dass sich offenere Aussagen im Verlauf des Prologs schrittweise zu konkreteren Aussagen verdichten, lässt sich an vielen Stellen des Johannesprologs und durchgehend beobachten. Das ist kein Zufall, sondern Absicht: Die angesprochenen sprachlich-stilistischen und semantischen Beobachtungen zeigen die Leserführung durch den Autor auf und führen zur theologischen Intention des Evangelisten. „Er kam in sein Eigen(‑tum); und die Eigenen nahmen ihn nicht auf. Welche ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind.“ (Joh 1,11–13)

Die in Versen 4–5 anklingende und in V. 9–10 konkreter beschriebene Konfliktsituation wird in den Versen 11–13 in einer weiteren Metaphorik, der Familienmetaphorik,294 erneut aufgegriffen und vertieft: „Das Wort“ kommt „in sein Eigen(‑tum)“, d. h. zu sich nach Hause, zu den „Eigenen (= Seinen)“, zu denen er von allem Anfang angehört. Gerade von den „Eigenen“ wird „das Wort“ jedoch „nicht aufgenommen“. Die schon angesprochene Tragik wird familienmetaphorisch variiert und zugespitzt. Verse 12–13 formulieren dann erstmals eine zweite Möglichkeit, auf das Kommen des „Wortes“ „in sein Eigen(‑tum)“ zu reagieren: die „Aufnahme“ des Wortes. Dieser Weg führt dazu, „Kinder Gottes zu werden“. Inhaltlich näher bestimmt bzw. variierend umschrieben wird die „Aufnahme“ des „Wortes“ als „Glaube an seinen Namen“ und „aus Gott geboren sein“. Verse 11–13 formulieren eine semantische Sinnlinie bzw. Achse, die das ganze 293  In der Forschung wird intensiv diskutiert, ob in den Versen Joh 1,5.9–13 vom logos asarkos oder bereits verhüllt vom logos ensarkos die Rede ist. Eine heilsgeschichtliche Lesart des Johannesprologs, die erst mit V. 14 den inkarnierten Logos angesprochen sieht, ist jedoch nicht überzeugend; vgl. K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), 177–179. 294 Vgl. hierzu auch den Beitrag „Kinder Gottes und Freude Jesu“, S. 205–229 in diesem Band. Vgl. auch J. Beutler, Jesus und die Familie nach dem Johannesevangelium, GuL 91 (2018), 232–240.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Johannesevangelium sprachlich und sachlich durchzieht. Der gesamte Konflikt und Prozess Jesu, der im Corpus Evangelii vielfältig entfaltet wird, wird hier präfiguriert und gedeutet. Dies lässt sich beispielsweise an der johanneischen Verwendung von παραλαμβάνειν im gesamten Evangelium belegen.295 „Und das Wort wurde Fleisch und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, eine Herrlichkeit als des einzig geborenen (Sohnes) vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14) „Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade. Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit sind durch Jesus Christus geworden.“ (Joh 1,16–17)

Die Verse 14 und 16–17 bringen in theologischer bzw. doxologischer Sprache die heilsgeschichtliche Konkretion dessen, was zuvor schon mehrfach metaphorisch umschrieben wurde: Vers 14 spricht expressis verbis von der Inkarnation des „Wortes“, das als „eingeborener Sohn“ des „Vaters“ identifiziert und dem göttliche Herrlichkeit (δόξα) zugeschrieben wird. Vers 17 identifiziert diesen „eingeborenen Sohn“ mit „Jesus Christus“. Die den ganzen Johannesprolog prägende schrittweise Decodierung der zunächst unbestimmteren Aussagen findet in den Versen 14–17 ihren Höhepunkt: Der göttliche Logos, der präexistente Schöpfungsmittler, dem alle Schöpfung ihre Existenz, Licht und Leben verdankt, wird „Fleisch“, also ganz Mensch und mit dem Namen Jesus Christus auch identifiziert. Sein Kommen trifft einerseits auf tragische und folgenreiche Ablehnung, andererseits aber auch auf Aufnahme bzw. Glauben. Dieser Glaube führt in die Gemeinschaft der Kinder Gottes und das Gotteslob. Charakteristisch für den Johannesprolog ist die durchgehend zugrundeliegende Einheit des Heils‑ und Offenbarungshandelns Gottes.296 Joh 1,17 ist nicht antithetisch zu interpretieren: „Beide Sätze sind ohne ein aber nebeneinandergestellt, und die Passivformulierung wurde gegeben umschreibt hier, wie oft, ein Handeln Gottes. Die Offenbarung Gottes im Gesetz und in Jesus Christus werden einander zugeordnet und nicht entgegengesetzt.“297 „Es trat ein Mensch auf, von Gott gesandt, sein Name (war) Johannes. Dieser kam zum Zeugnis, um Zeugnis zu geben für das Licht, damit sie alle durch zum Glauben kommen. Er war nicht das Licht, sondern er sollte zeugen von dem Licht.“ (Joh 1,6–8) „Johannes gibt Zeugnis für ihn und rief: Dieser war es, von dem ich gesagt habe: Der nach mir Kommende ist vor mir geworden; denn er war vor mir.“ (Joh 1,15)

295  Vgl. hierzu auch den Beitrag V. 1 in diesem Band und: K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), 179–184. 296  Vgl. exemplarisch W. Klaiber, Johannesevangelium (s. Anm. 58), II 277–306. 297  Ebd. I, 40. Die tiefe Verankerung der joh Christusbotschaft im biblischen Zeugnis und Denken wird für Klaiber im gesamten Johannesevangelium erkennbar, so beispielsweise bei den joh Präexistenzaussagen (zu Joh 1,30 vgl. nur I, 52), dem Zeugnis Johannes des Täufers in Joh 1,30 (Bezug auf das Passahlamm und den Gottesknecht in Jes 53; vgl. I, 50 ff ) und den Ich-binWorten Jesu (vgl. I, 177 f ).

3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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An zwei Stellen im Johannesprolog wird das Zeugnis Johannes des Täufers eingeführt und reflektiert. Häufig werden diese Verse als sekundäre Erweiterungen bzw. nachträgliche Einschübe durch einen Redaktor klassifiziert. Diese Annahme wird mit verschiedensten literarkritischen Theorien zur Traditionsgeschichte des Johannesprologs und des gesamten Corpus Johanneum verbunden. Diese Diskussion kann hier nicht geführt werden, unabweisbar ist jedoch, dass die Verse 6–8 ebenso von der Licht-Metaphorik geprägt sind wie die rahmenden Verse 3–4 und 9–10. Auch der Vers 15 ergänzt und bestätigt die zeitgeschichtliche Verortung des Kommens und der Fleischwerdung des Wortes sowie die sich offenbarende Größe und Herrlichkeit dessen, der von allem Anfang an die Seite Gottes gehört. Zur Sendung Jesu gehört von Beginn an das Zeugnis Johannes des Täufers, des Freundes des Bräutigams (vgl. ausführlich in Joh 1,19–51; 3,22–36): Das ZeugnisMotiv wiederum wird im Johannesevangelium durchgehend entfaltet. Es ist ein elementarer Bestandteil der juristischen Bildwelt im Johannesevangelium und besitzt ebenfalls eine hohe kommunikative und interkulturelle Kraft. Gerade am Beispiel Johannes des Täufers „as a Character in the Fourth Gospel“ betont Ruben Zimmermann die kohärente narrative Strategie, die der Evangelist sowohl im Prolog als auch im Hauptteil des Evangeliums verfolgt: Johannes der Täufer wird als „Türöffner (gatekeeper)“ (vgl. Joh 10,3) und „Freund“ des „Bräutigams“ (Joh 3,29–30) vorgestellt.298 Zimmermann zitiert Catrin H. Williams zustimmend: „… John is characterized as a connecting link … between heavenly and earthly, the eternal and the historical, the old and the new.“299 „… he emerges at a point of transition – both spatialy (in the wilderness) and chronologically (on the first day) … His legacy as a character is that he fulfills a bridge-like role.“300 3.10.2 Decodierung, Neucodierung und Scheidung der Geister Der Johannesprolog führt in seiner sprachlichen, stilistischen und rhetorischen Struktur und Leserführung einen schrittweisen Erkenntnisprozess vor Augen, der zum Zentrum des Evangeliums hinführt: der Fleischwerdung des göttlichen Logos, der als Schöpfungsmittler und als Inkarnierter „Leben“ und „Licht“ in der Gemeinschaft der Kinder Gottes denen schenkt, die ihn „aufnehmen“, d. h. an ihn glauben. Vom Vers 1 bis zum Vers 17 läuft eine schrittweise Entschleierung bzw. Decodierung, wer dieser zunächst nicht näher bestimmte Logos ist: Vers 17 identifiziert ihn mit Jesus Christus. Gleichzeitig mit dieser schrittweisen Decodierung nimmt der Evangelist auch eine schrittweise Neucodierung vor: Für jüdische Hörende und Lesende ebenso 298  Vgl. R. Zimmermann, John (the Baptist) as a Character in the Fourth Gospel. The Narrative Strategy of a Witness Disappearing, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130), 99–116. 299  C. H.  Williams, John (the Baptist). The Witness of the Threshold, in: St. A. Hunt / ​ D. F. Tolmie / ​R . Zimmermann (Hgg.), Character Studies (s. Anm. 216), 46–60, hier: 48 (zitiert bei R. Zimmermann, John [the Baptist] [s. Anm. 298], 113). 300  C. H.  Williams, ebd. 60 (zitiert bei R. Zimmermann, John [the Baptist] [s. Anm. 298], 113).

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

wie für philosophisch gebildete Zeitgenossen wird mit dem Begriff λόγος jeweils eine Schlüsselkategorie und der mit dieser Schlüsselkategorie verbundene Verstehensrahmen (frame)301 assoziiert. Der Evangelist greift dieses kulturelle Wissen auf und geht mit seiner inhaltlichen Neubestimmung über vorfindliche Konzepte hinaus: Das gilt für die frühjüdische Weisheitsspekulation ebenso (wenn auch in unterschiedlicher Weise) wie für die verschiedenen Rollen des λόγος in zeitgenössischer Philosophie. Daraus ergibt sich die Frage, ob die Hörer und Leser des Johannesprologs diesen Weg mitgehen können und wollen. Die Einladung dazu spricht der Evangelist in der von ihm gewählten Gestalt des Prologs unzweideutig aus. Gleichzeitig weiß er um die zurückliegende Zurückweisung und Ablehnung Jesu sowie die aktuelle Ausgrenzungserfahrung der Christen seiner eigenen Gemeinde, in der er lebt und für die er schreibt. Deshalb spricht der Evangelist in seinem Prolog deutlich den Konflikt bzw. die Krisis an, die durch die ablehnende Reaktion eines Teils der „Seinen“ auf das Kommen des λόγος entsteht. Auch diese Konfliktsituation wird schrittweise durch variierende Metaphoriken (Licht-Finsternis; Familienmetaphorik) hindurch decodiert. Dem Zeugnis des von Gott gesandten Täufers (V. 6–8.15) zum Trotz läuft das Kommen des λόγος auf einen Prozess zu, der Jesus gemacht wird, der aber in seiner ganzen Vordergründigkeit doch nur den Prozess in den Blick rückt, den Gottes eingeborener Sohn der „Welt“ macht, sofern sie ihn ablehnt. Die Brücken zwischen Prolog und Evangelium sind intensiver und zugleich vielfältiger als mitunter angenommen. Das gilt für Begriffe, Motive, Metaphern und Themen ebenso wie für narrative Strategien des Evangelisten. Das gilt für das hermeneutische Potential und die denkerische und sprachliche Kraft des Johannesevangeliums ebenso wie für die schrittweisen Neucodierungen bzw. Decodierungen von Leitwörtern vorwiegend (aber nicht nur) in christologischer Absicht. 3.10.3 Lektüregewinn: Vom Prolog zum Evangelium und zurück Die aufmerksamen Hörenden und Lesenden stehen mit dem Prolog in der offenen Tür zum Corpus Evangelii: Ihnen sind die wichtigsten Akteure, ihre Rollen und ihr Geschick vor Augen geführt. Ihnen sind vertraute Deutekategorien in neuer Auslegung und Anwendung an die Hand gegeben. Sie werden in die Perspektive des allwissenden Erzählers eingeweiht und sie werden umworben, sich dem Gotteslob der „Wir“-Gruppe, die sich in den Versen 14–18 zu Wort meldet, anzuschließen. Damit ist das Johannesevangelium aber keineswegs am Schluss, sondern immer noch am Anfang: Die hochgradig verdichteten Aussagen des Johannesprologs dringen auf weitere Erschließung, auf weitere Vertiefung, um so die Aneignung der Botschaft, die Aufnahme Jesu im Glauben zu ermöglichen, auszuloten und zu sichern. Dafür schreibt der Evangelist das Leben Jesu, wie er es voraussichtlich aus den drei synoptischen Evangelien kannte, neu auf. Dazu zieht  Vgl. hierzu auch: 3.9.1.

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3.  Die Textwelt des Johannesevangeliums

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er die im Prolog vorhandenen Sinnlinien weiter aus, dazu verwendet und entfaltet er die Begriffe, Motive und metaphorischen Cluster des Prologs in zahlreichen Szenen und Sequenzen des Lebens Jesu. Ausgehend von den „five divine initiatives“ in Joh 1,1–8 (the work of creation through the Logos in V. 3; the giving of the Law through Moses in V. 17; the sending of John the Baptist in V. 6–8.15; the coming of the light in V. 9  / the incarnation of the Logos in V. 14 und the birth of the children of God in V. 12–13) und ihren Wiederaufnahmen im Johannesevangelium zeigt R. Alan Culpepper nachdrücklich auf, wie eng und wie vielfältig die theologischen Verbindungen sind zwischen Prolog und Corpus.302 So betont er z. B., dass in den Aussagen über die Sendung des Täufers insbes. mit dem juristisch relevanten Zeugnismotiv bereits das Thema des Prozesses, den Jesus „der Welt“ macht und der Jesus gemacht wird, antizipiert wird. Culpepper schlussfolgert überzeugend: „Its [the Prologue] relationship to the themes and theology of the Gospel is such that it becomes increasingly clear that the Prologue provides readers of the Gospel with the theological framework that is needed to understand the signaificance of Jesus’ ministry, death, and resurrection as it is understood in the rest of the Gospel, and especially its images, ironies, misunderstandings, and interrelated themes.“303 „The theological themes and concepts introduced in the prologue und developped subsequently in the Gospel form the core of Johannine thought.“304 302  R. A.  Culpepper, The Prologue as Theological Prolegomenon to the Gospel of John, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130), 3–26. 303 Ebd. 25. 304  Ebd. 26. Eine deutliche Gegenposition vertritt John Ashton in seinem Beitrag: „Really a Prologue?“ (in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John [s. Anm. 130], 27–44), in dem er Differenzen zwischen Prolog und Corpus auswertet: So werde die Logos‑ und Inkarnations-Christologie des Prologs nicht mehr in gleicher Weise im Corpus Evangelii aufgegriffen; der Begriff λόγος komme im Corpus gar nicht mehr in der Weise vor, wie er im Prolog verwendet werde: „How is it possible to move from the use of this single word to the complex Christology of the body of the Gospel, where there is not so much as a hint of incarnation, and Jesus’ entry into the world is always referred to either as a descent (as Son of Man) or a mission“ (ebd. 31). Asthons literarkritische Rekonstruktion des Johannesevangeliums insgesamt rechnet mit einem urspünglich selbständigen Logoshymnus, den ein Redaktor des Johannesevangeliums zunächst erweitert und dann dem Johannesevangelium vorangestellt habe – im Zuge einer Überarbeitung, die auch zur Integration der neuen Kapitel 6 und 17 geführt habe. In direkter Antithese zu der Position von John Asthon betont William R. G.  Loader die Kohärenz der soteriologischen Aussagen des Prologs mit denen des Corpus Evangelii: „For while the term Logos does not recur in the rest of the Gospel, the imagery belonging to the tradition which identified Logos/Wisdom/ Torah certainly does. Time after time we find Jesus in conversation, offering this life and confronting those who reject it“ (Ders., The Significance of the Prologue for Understanding John’s Soteriology, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John [s. Anm. 130], 45–55, hier: 51). „The prologue does not tell the whole story, but its soteriology is thoroughly consistent with what one finds in the Gospel. The Son offers life. That’s the Gospel’s ultimate goal: ‚that you may have life‘ (20:30–31) “ (ebd. 52). Eine inhaltliche Zwischenposition zwischen R. A.  Culpepper und J. Ashton vertritt J. Zumstein, der eine theologische Differenz zwischen Prolog und Corpus annimmt, aber dem Prolog eine hermeneutische Rahmenbedeutung für das Corpus Evangelii zuspricht; vgl. J. Zumstein, Der Prolog, Schwelle zum vierten Evangelium (frz. 1995),

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Für eine literarisch und theologisch kohärente Lektüre von Prolog und Evangelium plädiert auch Christos Karakolis, der das Logos-Konzept des Evangelisten als dramatische Ironie interpretiert: „It is dramatically ironical that while on the one hand the implied readers know the real identity of Jesus as the Logos, and are in a position to understand the absolute authority and significance of his words, on the other hand the characters of the narrative are not able and/or willing to do so.“305

Weiterführend ist seine überzeugende Beobachtung, dass die ‚dramatische Ironie‘ Personen, die nicht oder noch nicht an Jesus glauben (z. B. Nikodemus), gerade nicht stigmatisiert, sondern im Gegenteil Sympathie für sie weckt.306 Dabei drehen sich die sieben „Zeichen“ Jesu, seine Begegnungsgeschichten und Kontroversen immer um die eine semantische Achse307, die der Prolog intoniert hatte: Jesu Botschaft, seine Selbstoffenbarung als „Brot des Lebens“ (Joh 6,35; vgl. auch die anderen Ich-bin-Worte Jesu), scheidet die Geister, er trifft mehrheitlich auf Ablehnung und Unverständnis  – auch im Kreis seiner Jünger (vgl. Joh 6,60–65). Die Tragik, Paradoxie bzw. dramatische Ironie, die der Prolog in Joh 1,11–12 familienmetaphorisch zur Sprache bringt, begleitet die Sendung des Sohnes durchgehend. Charakteristisch für das Johannesevangelium ist es, dass die einzelnen großen Erzählsequenzen jeweils die ganze christologisch verdichtete Botschaft des Evangeliums (Botschaft und Bote, Geber und Gabe fallen in der Person Jesu in eins) beinhalten. In mannigfachen Wiederaufnahmen, Umschreibungen und Variationen lotet der Evangelist seine Botschaft je neu aus. Die verdichtete Grundlegung dazu findet sich im Prolog, die kongeniale Entfaltung findet sich in den Erzählsequenzen des Evangeliums. Die Haupteile des Evangeliums wollen durch die Eingangstür des Prologs hindurch gelesen werden. Dies darf jedoch nicht im Sinne einer Einbahnstraße enggeführt werden. Gleichzeitig wirken die 21 Kapitel des Johannesevangeliums auch auf die Lektüre des Prologs zurück: Von ihnen her erschließen sich die verdichteten Aussagen im Prolog ebenfalls neu. „Insofern – aber dies ist das spezifische Merkmal eines jeden aussagekräftigen Vorworts – ist der Prolog schon ein Akt der Relecture, denn nur wer zu einem tiefen Verständnis einer Erzählung vorgedrungen ist, kann auf deren Lektüre vorgreifen.“308

in: G. Kruck (Hg.), Der Johannesprolog (s. Anm. 5), 49–75, hier: 75 (= Ders., Kreative Erinnerung [s. Anm. 157], 105–126). 305  Ch. Karakolis, The Logios-Concept and Dramatic Irony in the Johannine Prologue and Narrative, in: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130), 139–156, hier: 148. 306  Vgl. ebd. 153–156. 307  Vgl. weiterführend F. Muẞner, Die „semantische Achse“ des Johannesevangeliums. Ein Versuch, in: H. Frankemöller / ​K . Kertelge (Hgg.), Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), Freiburg i. Br. 1989, 246–255; K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), 179–184. 308  J. Zumstein, Der Prolog (s. Anm. 304).

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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Das Johannesevangelium ist keineswegs zur einmaligen kurzweiligen Lektüre geschrieben, sondern wie die anderen alt‑ und neutestamentlichen Schriften insbesondere auch zur gottesdienstlichen Lesung und immer neuen Lektüre und Betrachtung.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums 4.1  Monotheismus, Christologie und reziproke Immanenz Der neutestamentliche Monotheismus309 ist Ausdruck und Ergebnis einer hermeneutischen Pionierarbeit der ersten urchristlichen Generationen. Dazu leistet das Johannesevangelium seinen eigenen unverwechselbaren Beitrag. Der Evangelist Johannes stand wie die ersten Christen insgesamt vor der Aufgabe, Botschaft, Wirken und Geschick Jesu verstehend zu deuten, in angemessene Worte zu fassen und in den jüdischen Gottesglauben zu integrieren.310 Die ersten Akteure dieser hermeneutischen Pionierarbeit waren teilweise Augen‑ und Ohrenzeugen des Lebens und Sterbens, also Jünger und Jüngerinnen Jesu, teilweise Zeugen der Auferstehung Jesu, teilweise Schüler und Schülerinnen der Apostel, teilweise Missionare und Evangelisten. Auf der Basis ihres jüdischen Gottesglaubens sowie der heiligen Schriften Israels und der Botschaft und dem Geschick Jesu verkündeten sie ihrem Glauben und ihrem Auftrag entsprechend die Botschaft Jesu weiter. Dabei rückte schon sehr früh zu der Botschaft Jesu (gen. obj.) auch die Botschaft von Jesus (gen. subj.) in den Blickpunkt: Wer ist dieser Jesus von Nazareth? In welchem Verhältnis steht er zu Gott? Diese Fragestellung nach der Identität Jesu 309  Im Folgenden übernehme ich teils überarbeitete Passagen aus meinem Artikel: „Monotheismus. NT“, in: HGANT 52016, 342–344. Vgl. einführend: W. Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien (s. Anm. 241) passim, hier: III, 287–312 zum Johannesevangelium; U. Wilckens, Monotheismus und Christologie (1997), in: Ders., Sohn Gottes (s. Anm. 26), 126–135; Ders., Gott, der Drei-Eine. Zur Trinitätstheologie der johanneischen Schriften (2001), ebd. 9–28; L. W.  Hurtado, One God, One Lord. Early Christian Devotion and Ancient Monotheism, Edinburgh 21998 (paperback 2003); Ders., Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids 2003; W. Schrage, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes. Zum „Monotheismus“ des Paulus und seiner alttestamentlich-jüdischen Tradition, BThSt 48, Neukirchen-Vluyn 2002; W. Popkes / ​R . Brucker (Hgg.), Ein Gott und ein Herr. Zum Kontext des Monotheismus im Neuen Testament, BThSt 68, Neukirchen-Vluyn 2004; Th. Söding, Ein Gott – Ein Herr – Ein Geist. Die neutestamentliche Trinitätstheologie und ihre liturgische Bedeutung, in: B. Groen / ​B. Kranemann (Hgg.), Liturgie und Trinität, QD 229, Freiburg i. Br. 2008, 12–57; D. Staudt, Der eine und einzige Gott. Monotheistische Formeln im Urchristentum und ihre Vorgeschichte bei Griechen und Juden, NTOA 80, Göttingen 2012; Ch. Tilling, Paul’s Divine Christology, WUNT II/323, Tübingen 2012; Heis Theos. Epigraphische, formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchungen zur antiken Ein-Gott-Akklamation. Nachdruck der Ausgabe von Erik Peterson 1926 mit Ergänzungen und Kommentaren von Chr. Markschies, H. Hildebrandt, B. Nichtweiß u. a., Würzburg 2012. 310 Vgl. hierzu auch: K. Scholtissek, Jesus, der Christus, im Zeugnis des Neuen Testaments (s. Anm. 61); Ch. Dohmen / ​Th. Söding, Der Eine Gott. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, NEB.Themen 1, Würzburg 2018 (Lit.).

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

bricht schon beim vorösterlichen Jesus auf. Seine vollmächtige Verkündigung in Wort und Tat provoziert diese Frage bei seinen Gegnern, seinen Nachfolgern und den Beobachtern. Durch die Auferstehung Jesu und die Geisterfahrungen erhielt die Frage nach der Identität Jesu erheblichen Nachdruck. Implizite und explizite christologische Aussagen können unterschieden werden, eine schablonenhafte Zuordnung der impliziten christologischen Aussagen zur vorösterlichen und der expliziten christologischen Aussagen (Messias, Menschensohn, Kyrios, Sohn Gottes, Gottesknecht, Logos) zur nachösterlichen Zeit ist jedoch unterkomplex: Der Blick auf die impliziten und expliziten Selbstaussagen Jesu, auf die Hoheitstitel und die nichttitulare Christologie führt zu einem differenzierten (und kontroversen) Befund, der einfache Schablonen nicht zulässt.311 Basis für den hermeneutischen Suchprozess, der sich im NT wiederspiegelt, ist der jüdische Gottesglaube, der auch der Glaube Jesu war, die Botschaft Jesu selbst, die sich durchgehend jüdischer Glaubensaussagen und Verheißungen bedient, sowie Glaubenserfahrungen mit dem vorösterlichen und dem auferstandenen Jesus. Maßgebliche Koordinaten dieses hermeneutischen Suchprozesses sind die eschatologischen Erwartungen und Verheißungen, die im Glauben Israels lebendig waren, sowie die damit verbundenen Heilbringer‑ bzw. Messiaserwartungen.312 Die Verkündigung Jesu (vgl. Lk 11,2; Mt 12,29 f ) und die neutestamentlichen Schriften setzen den jüdischen Monotheismus voraus und stellen ihn an keiner Stelle in Frage (vgl. 1 Thess 1,9 f; 1 Kor 8,4–6; Gal 3,20; Röm 1,23–25; Joh 17,3; Apg 14,15; 15,19 f; 19,26; Eph 4,6; 1 Tim 2,5). Dabei sind die christologischen und pneumatologischen Aussagen durchaus vielstimmig, jedoch nicht widersprüchlich. Sie 311 Das in der sogenannten liberalen Leben-Jesu-Forschung bedeutsame Entwicklungsschema, im Urchristentum habe sich eine stetig wachsende dogmatische Interpretation Jesu durchgesetzt, die dem ‚einfachen‘ Menschen (wahlweise auch Rabbi, Prophet, Weisheitslehrer) Jesus von Nazareth zunehmend ‚göttliche‘ Züge angetragen habe, ist unterkomplex und wird dem exegetischen Befund nicht gerecht. Auch das analoge, aber differenzierter vorgetragene zeitliche Entwicklungsschema, die ursprünglich ‚niedrige‘ bzw. ‚einfache‘ Christologie habe sukzessive eine Steigerung zu einer ‚hohen‘ Christologie erfahren, wird dem neutestamentlichen Zeugnis ebenso wenig gerecht: Sogenannte ‚hohe‘ christologische Aussagen wie die Präexistenz, die Schöpfungsmittlerschaft, die Gottessohnschaft Jesu sind keine ‚späten‘, sondern ‚frühe‘ urchristliche Glaubensaussagen (vgl. nur Phil 2,6–11). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Versuch von Ch. Niemand, Teilhabe an der Bildgestalt des Sohnes. Die paulinische εἰκῶν-Christologie (2 Kor 3,18; 4,4; 4,6; Röm 8,29) und ihre Kontexte, in: G. Häfner / ​K . Huber / ​S. Schreiber (Hgg.), Kontexte neutestamentlicher Christologien, QD 292, Freiburg i. Br. 2018, 9–59. Zudem sagt die (hypothetische) Annahme einer zeitlich ‚späten‘ Aussage auch unter (geschichts‑)wissenschaftlichen Gesichtspunkten nichts über deren Wahrheitsgehalt aus. Zu möglichen jüdischen Voraussetzungen der neutestamentlichen Christologie und wechselweisen Einflüssen vgl. einführend P. Schäfer, Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017. 312  Das betont auch M. Theobald: Überzeugend wird die johanneische Einschreibung der hohen christologischen Aussagen in die frühjüdische Matrix, „dass trotz der Erfahrung der radikalen Transzendenz Gottes dieser sich doch in Gestalt unterschiedlicher Mittlergrößen, der Weisheit, der Tora und des Tempels, begegnen lässt“ (Ders., Herrenworte [s. Anm. 39], 536), als johanneischer Weg herausgestellt, dem jüdischen Vorwurf des Bruches mit dem Monotheismus zu begegnen (vgl. ebd. 535–537.583–593).

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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verdanken sich nicht einer systematischen Absicht, sondern konkreten, oftmals liturgischen Verkündigungssituationen, aus denen heraus und in die hinein sie sprechen. Die paulinischen Briefe sind beredte Zeugnisse, wie sich Glaubensaussagen in konkreten Konflikten profilieren. Die Grundfrage lautet: Wie lassen sich die Person Jesu von Nazareth, der als Messias Israels verkündet wird, und Gottes Geist Gott selbst zuordnen? Die ntl. Zeugnisse greifen dazu auf biblische Vorgaben und das Wirken Jesu zurück. Im Kern geht es ihnen um die Aussage: In Jesus Christus, in seiner Sendung in Wort und Tat und seiner Auferweckung zu lebendiger Gegenwart aus dem Geheimnis Gottes, offenbart sich eschatologisch verbindlich die heilbringende Kraft und Gegenwart Gottes selbst.313 Diese Präsenz Gottes in Jesus Christus ist nicht punktuell und damit vergänglich gedacht, sondern die Zeiten überdauernd und bleibend (vgl. Jesus Christus als Gottes „Emmanuel“ nach Mt 1,23; 18,20; 28,20). Gottes Gegenwart in Jesus Christus hat auch keinen kontingenten Anfang in der Geschichte, sondern liegt dieser voraus (vgl. Präexistenz, Schöpfungsmittlerschaft, Inkarnation, Allherrscher [vgl. Joh 1,1–18; Phil 2,6–11; Kol 1,15–20; Hebr 1,1–4; Offb 1,8]). Die neutestamentlichen Zeugnisse betonen die vollständige, uneingeschränkte Gegenwart Gottes in seinem Sohn (vgl. Kol 1,19: „alle Fülle“). Die verschiedenen neutestamentlich-christologischen Aussagen haben weitreichende Präformationen in der jüdischen Überlieferung, insbesondere in der personifizierten, hypostatisch gedachten Weisheit. Wie in der vorausgehenden und weitergehenden Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel und der darin sich bezeugenden Erwählung und rettenden Zuwendung Gottes offenbart Gott sich selbst in Jesus Christus, zeigt Gott, wer er für sein Volk seit Ewigkeit her und für alle Ewigkeit ist (vgl. Joh 3,16; 1 Joh 4,8.16). In dieser Linie sind auch die neutestamentlichen Zeugnisse zu verstehen, die Jesus Christus als „Gott“ ansprechen (vgl. Joh 1,1; 1,18; 20,28; Tit 2,13; 1 Joh 5,20; Röm 9,5; 2 Petr 1,1; Hebr 1,8 f; Offb 1,8; 21,6; 22,13). Das Johannesevangelium – analog auch Paulus: Gal 2,20; 4,19; 2 Kor 13,3.5; Röm 8,10 – bezeugt mit den Sendungs‑, Einwohnungs‑ und Einheitsaussagen eine vertiefte Reflexion auf die Zuordnung von Vater und Sohn314: Die wechselseitige Einwohnung von Vater und Sohn (vgl. Joh 10,38; 14,10f; 15,1–17.21–23) begründet eine unio distinctionis zwischen beiden: Der im Sohn anwesende Vater hört nicht auf der Vater zu sein. Der im Vater anwesende Sohn hört nicht auf, der Sohn zu sein. Das Johannesevangelium redet gerade nicht einer Verschmelzung (unio indistinctionis) das Wort (Joh 1,1; 10,30 und 20,28 wären so falsch verstanden), sondern de313  Vgl. 2 Kor 4,4: Jesus Christus als „Ikone / ​Ebenbild Gottes“ (vgl. Kol 1,15); Hebr 1,1–4: „Abglanz seiner Herrlichkeit“; „Ebenbild seines Wesens“; vgl. Röm 1,3 f; Eph 1,3; 1 Tim 3,16; Offb 1,4–6. 314  Weiterführend hierzu: K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), sowie den Beitrag „Rabbi, wo wohnst du?“, S. 441–458 in diesem Band. Zum Gottesbild des vierten Evangeliums vgl. auch: A. Reinhartz (Hg.), God the Father in the Gospel of John, Semeia 85, Atlanta 2001; E. Zingg, Das Reden von Gott als „Vater“ im Johannesevangelium, HBS 48, Freiburg i. Br. 2006; V. BurzTropper (Hg.), Studien zum Gottesbild im Johannesevangelium (s. Anm. 278); J. J. F.  Coutts, The Divine Name in the Gospel of John. Significance and Impetus, WUNT II/447, Tübingen 2017.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

finiert Identität aus gegenseitiger Einwohnung bzw. aus innigster Beziehung. Das Proprium des Vaters (z. B. der Vater bleibt immer der Sendende und wird nicht gesandt) wird durch die Einwohnung im Sohn nicht relativiert, sondern allererst ermöglicht (vgl. Joh 17,3). Das Proprium des Sohnes (z. B. der Sohn bleibt immer der vom Vater Gesandte und der ihn „Auslegende“ [vgl. Joh 1,18]) wird durch die Einwohnung im Vater nicht relativiert, sondern allererst ermöglicht. Auf diese Weise entwickelt das Johannesevangelium eine in Gott selbst begründete und diese mitteilende Personalität, die ihre Identität durch eine Lebensgemeinschaft gewinnt, deren dichtester Ausdruck die wechselseitige Einwohnung ist. Darin erweist sich das Johannesevangelium als Ausgangspunkt der theologischen Reflexion auf einen Personbegriff, der Individualität und personale Gemeinschaft als gleichursprüngliche Momente zusammenzudenken versteht und so der altkirchlichen trinitarischen Reflexion vorarbeitet. Johannes und Paulus bezeugen einen Personbegriff, der Identität in einer Relation begründet sieht (relationale Ontologie315). Personale Züge finden sich bei Johannes auch in der Parakletvorstellung (vgl. Joh 14,26: „er wird euch einen anderen Parakleten geben“) und in anderer Weise auch bei Paulus (vgl. Röm 8,1–17).316 Für die Einschreibung der johanneischen Christologie317 in den bibli­ schen Monotheismus sei exemplarisch auf den Prolog318, die Verse Joh 1,14319; 315  Zu einer relationalen Theologie bei Paulus vgl. die Beiträge: E. L.  Rehfeld, Relationale Ontologie bei Paulus, WUNT II/326, Tübingen 2012; V. R abens, The Holy Spirit and Ethics in Paul. Transformation and Empowering for Religious-Ethical Life, WUNT II 283, Tübingen 22014; Ders., Sein und Werden in Beziehungen. Grundzüge relationaler Theologie bei Paulus und Johannes, in: W. Bührer / ​R . Meyer (Hg.), Relationale Erkenntnishorizonte zwischen Exegese und Systematischer Theologie, MThSt 29, hg. in Zusammenarbeit mit Hörste-Bührer, Leipzig 2018, 91–143; Ders., Reframing Paul’s Anthropology in the Light of the Dichotomies of Pauline Research, JSNT 40 (2018), 503–515. 316  Triadische bzw. prototrinitarische Aussagen im NT sind über die neutestamentlichen Schriften verteilt und lassen sich sowohl ‚frühen‘ wie auch ‚späten‘ neutestamentlichen Schriften zuordnen: 1 Kor 12,4–6; 2 Kor 1,21 f; 3,17; 13,13; Joh 4,24; Mt 28,19; Eph 4,4–6; 1 Petr 1,2; Offb 1,4–5. Die christologischen wie die prototrinitarischen Zeugnisse sind durch eine relationale und metaphorische Sprache geprägt: So hat die Bezeichnung Jesu als „Sohn Gottes“ eine familienmetaphorische Grundierung. 317  Vgl. u. a. auch: M. J. J.  Menken, The Christology of the Fourth Gospel. A Survey of Recent Research, in: M. C. de Boer (Hg.), From Jesus to John. Essays on Jesus and New Testament Christology (FS M. de Jonge), JSNT.S 84, Sheffield 1993, 292–320; C. R. Koester (Hg.), Portraits of Jesus in the Gospel of John, LNTS 589, London 2018; U. Schnelle, The Person of Jesus Christ in the Gospel of John, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 311–330; P. C. J.  Riley, The Lord of the Gospel of John. Narrative Theory, Textual Criticism, and the Semantics of Kyrios, WUNT II/478, Tübingen 2019. J. Zumstein spricht in diesem Zusammenhang von einem „Christological monotheism“ (Ders., The Purpose of the Ministry and Death of Jesus in the Gospel of John, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies [s. Anm. 1], 331–346, hier: 344). 318  Vgl. die Ausführungen in 3.10. 319  Zur jüdischen Schechina-Vorstellung und ihrer Rezeption in Joh 1,14 vgl.: K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2), 189–191; J. Frey, God’s Dwelling on Earth. ‚Shekhina-Theology‘ in Revelation 21 and in the Gospel of John, in: Chr. Rowland / ​C. H. Williams (Hgg.), John’s Gospel and Intimations of Apocalyptic, London 2013, 79–103; Ders., Joh 1,14, die Fleischwerdung des

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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1,50 f 320, 10,33321 und 14,9322 (vgl. 12,45), 14,28323; 17,3 sowie die johanneischen Ego-Eimi-Worte324 hingewiesen.325 Die Johannesinterpretation von Ulrich Wilckens betrachtet die Sprache und die Themen des Johannesevangeliums durchgehend als biblisch bestimmt: Der Evangelist kennt und rezipiert liturgische Traditionen des Judentums und reflektiert die liturgische Praxis seiner christlichen Gemeinde. Wilckens deutet Joh 2,1–12; 6; 13,1–30; 15,1–8 und 17,1–26 auf dem Hintergrund eines mehr oder weniger direkten eucharistischen Sitzes im Leben. Die große theologische Herausforderung, auf die der Evangelist reagiere, sei der Vorwurf der Blasphemie von jüdischer Seite: Dieser Logos und die Einwohnung Gottes in Jesus Christus. Zur Bedeutung der „Schechina-Theologie“ für die johanneische Christologie, in: B. Janowski / ​E. E. Popkes (Hgg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum, WUNT 318, Tübingen 2014, 231–256; U. Poplutz, „… und hat unter uns gezeltet“ (Joh 1,14b). Die Fleischwerdung des Logos im Licht der Schechina-Theologie, Sacra Scripta 13 (2015), 101–114. 320 Vgl. hierzu: Th. Popp, „Größeres als das wirst Du sehen …“ (Joh 1,50). Literarische Integrität und theologische Intensität im Johannesevangelium, in: Spurensuche (s. Anm. 28), 349–372. Vgl. auch: W. R. G.  Loader, John 1:51 and Johannine Christology, in: R. A. Culpepper / ​J. Frey (Hgg.), Opening (s. Anm. 174), 119–132; J. G. van der Watt, Angels in John 1:51, ebd. 133–163. 321  Vgl. hierzu T. Nicklas, „Du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott“ (Johannes 10,33). Das Motiv der Gotteslästerung bei Johannes vor dem Hintergrund der Synoptiker, in: J. Verheyden / ​G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R . Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and its Christology (s. Anm. 1), 239–256. 322  Vgl. hierzu: J. Frey, Was trägt die johanneische Tradition zum christlichen Bild von Gott bei?, in: J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Narrativität und Theologie (s. Anm. 54), 217–257; Ders., „Wer mich sieht, der sieht den Vater“. Jesus als Bild Gottes im Johannesevangelium, in: A. TaschlErber / ​I. Fischer (Hgg.), Vermittelte Gegenwart. Konzeptionen der Gottespräsenz von der Zeit des Zweiten Tempels bis Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr., WUNT 367, Tübingen 2016, 179–208. 323  Vgl. hierzu: R. Bieringer, „… because the Father is greater than I“ (John 14:28). Johannine Christology in light of the relationship between the Father and the Son, in: Ch. Karakolis / ​ K.-W. Niebuhr / ​S. Rogalsky (Hgg.), Gospel images of Jesus Christ in church tradition and in biblical scholarship. Fifth International East-West Symposium of New Testament Scholars. Minsk, September 2 to 9, 2010, WUNT 288, Tübingen 2012, 181–204. 324   Vgl. u. a.: H. Hübner, ἐν ἀρχῇ ἐγώ εἰμι, in: M. Labahn / ​K. Scholtissek / ​A. Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen (s. Anm. 123), 107–122. 325  Vgl. auch: D. R.  Sadananda, The Johannine Exegesis of God. An Exploration into the Johaninne Understanding of God, BZNW 121, Berlin 2004 (vgl. hierzu die kritische Rezension von M. Labahn, in: ThLZ 131 [2006], 1008–1010). Weiterführend zum Thema auch: O. J.  Filtvedt, The Transcendence and Visibility of the Father in the Gospel of John, ZNW 108 (2017), 90–118; J. Beutler, Die Gottesvorstellung im Johannesevangelium. Vom Gott Israels zum Vater Jesu, ThPh 93 (2018), 409–425; Ders., „Gott ist Liebe“. Sinn und Bedeutung der zentralen Gottesprädikation im ersten Johannesbrief, in: V. Burz-Tropper (Hg.), Studien zum Gottesbild im Johannesevangelium (s. Anm. 278), 227–243; O.  R ahmsdorf / ​R .  Zimmermann, Pas de deux. Christologie als Theologie im Johannesevangelium, ebd. 81–10; J. G. van der Watt, An attempted coup? No, the Father is made known by his Son, ebd. 103–122; M. Theobald, Ein Gott oder „zwei Götter im Himmel“? Zum Wandel der johanneischen „Parakletsprüche“, ebd. 123– 146; R. Feldmeier, Der Vater des Gottessohnes und der Vater der Gotteskinder, ebd. 147–159; J. Frey, Zwischen der Majestät auf dem Thron und dem Gott, der Liebe ist. Gott in der Johannesapokalypse und im Johannesevangelium, ebd. 245–275; J. Leonhardt-Balzer, Divine Manifestations in the Gospel of John, in: R. Deines / ​M. Wreford (Hgg.), Epiphanies of the Divine in the Septuagint and the New Testament. V. International Symposium of the Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, 14–17 May 2015 Nottingham, WUNT, Tübingen 2020, (im Druck).

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Vorwurf werde vom Evangelisten aus dem Prozess Jesu (vgl. Mk 14,64) in das gesamte Wirken Jesu vorverlegt (vgl. Joh 5,18; 8,53; 10,33.36; 19,7). Dem Evangelisten liege alles daran, die Einzigkeit Gottes (vgl. Dtn 6,4; Ex 20,2) und die Einheit von Vater und Sohn (vgl. Joh 10,30) als nichtwidersprüchlich auszusagen. „Aufs Ganze gesehen, hat nun freilich keiner der drei Evangelisten vor dem Joh.evangelisten das tiefe theologische Problem ausgearbeitet, das in dem Blasphemie-Vorwurf für die Christen selbst ‚schwelte‘.“326 Der theologischen Bewältigung dieser jüdischchristlichen Streitfrage dienen die Aussagen der wechselseitigen Immanenz von Vater und Sohn bzw. von dem Sohn und den Glaubenden. Wilckens deutet das leitmotivisch verwendete „Bleiben“ als Schlüsselwort johanneischer theologischer Sprache: „Das Wort meint ein Leben in Teilhabe an Gottes ewig-bleibendem Leben … An diesem ‚bleibenden‘ Leben gewinnt der Glaubende teil, weil er an Jesus teilhat.“327 Ziel der Sendung Jesu ist die Teilhabe der Glaubenden an der Einheit und Gemeinschaft des Sohnes mit dem Vater. Glaube im Sinne des Johannesevangeliums definiert der Autor konsequent als „Teilhabe an Gottes Heil, dem Leben, durch Teilhabe an Jesus, der das Leben ist (14,6).“328 Einen anderen Weg geht die Studie von Tobias Kriener:329 Er nimmt an, das Johannesevangelium sei mit seinen scharfen und polemischen Aussagen gegen „die Juden“ aus einer spezifischen, historisch rekonstruierbaren jüdisch-judenchristlichen Konfliktsituation entstanden und religionsgeschichtlich in Auseinandersetzung mit rabbinischen Positionen zu interpretieren.330 Seine Hauptthese besteht in der Annahme, das Johannesevangelium wende sich in der Ausarbeitung seiner Christologie gegen den jüdisch-rabbinischen Einwand, die Christus-Verehrung verstoße gegen das zweite Gebot des Dekaloges, das jedwede Form des Götzendienstes untersage. Diesem Vorwurf begegne das Johannesevangelium mit einer Christologie, die „das Bekenntnis zu Jesus als Bekenntnis zum Glauben Israels an den einen Gott ausweist.“331 Ausgehend von dem Blasphemievorwurf gegen Jesus (vgl. Joh 5,18; 10,33.36) sieht Kriener den Schlüssel für den Konflikt im Johannesevangelium in der Auseinandersetzung um eine Verletzung des zweiten 326 U. Wilckens,

Das Evangelium nach Johannes (s. Anm. 26), 335. Von dieser theologischen Herausforderung des Evangeliums her spricht Wilckens wiederholt den jüdisch-christlichen Dialog, den das Johannesevangelium selbst führt und der heute neu zu führen ist, an: „Beide aber, Christen wie Juden, sind an diesen einzig-einen Gott absolut gebunden und von daher in ihrem Streit aneinander gebunden in einer Tiefe, wie es sonst keine streitenden Parteien in der Welt sein könnten“ (ebd. 126). „Das Ur-Wissen, dass es hier und dort der selbe eine-einzige Gott ist, zu dem sich Christen wie Juden mit ihrem ganzen eigenen Leben zu bekennen haben, muß sich in einer Ur-Achtung voreinander verwirklichen, die dem (unvermeidlichen) Streit um die Wahrheit des einen Gottes seine Würde gibt“ (ebd. 200). Vgl. auch Ders., Gott, der Drei-Eine. Zur Trinitätstheologie der johanneischen Schriften (2001), in: Ders., Der Sohn Gottes (s. Anm. 26), 10–28. 327  Ders., Das Evangelium nach Johannes (s. Anm. 26), 100. 328  Ebd. 343. 329 T. Kriener, „Glauben an Jesus“ – ein Verstoß gegen das zweite Gebot? Die johanneische Christologie und der jüdische Vorwurf des Götzendienstes, NThDH 29, Neukirchen-Vluyn 2001. 330  Vgl. ebd. 3 f. Damit nimmt er die Johannesauslegung von Klaus Wengst auf. 331  Ebd. 5.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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Gebots. Die rabbinische Theologie, die sich massiv gegen die Vergottung des römischen Kaisers wandte, konnte aus ihrer Perspektive auch die judenchristliche Verehrung Jesu als vergleichbaren Verstoß gegen das zweite Gebot deuten. In diesem Zusammenhang deutet Kriener das johanneische Thomas-Bekenntnis in Joh 20,28: „Mein Herr und mein Gott“ als antirömische, gegen den Kaiserkult gerichtete Polemik.332 Mit Hilfe ausführlicher Textvergleiche (AT, Frühjudentum, rabbinische Zeugnisse) liest Kriener Joh 9–10 in der Perspektive des Vorwurfes des Götzendienstes: Das in Joh 9,2–3 angesprochene Verständnis von Sünde, die eine generationenübergreifende Sanktion nach sich ziehen kann, sei ebenso wie die Joh 9 bestimmende Metaphorik von Sehen bzw. Blindheit auf das Verbot des Götzendienstes zu beziehen.333 Während die Tora Götzendienst auch mit der Bestrafung von Nachkommen des Täters bedroht (vgl. Ex 20,5), weichen jüngere jüdische, insbes. rabbinische Stellungnahmen zunehmend von einer generationenübergreifenden Haftung ab. Joh 9 kehrt nach dieser Auslegung den rabbinischen Vorwurf des Götzendienstes um: „Durch Jesus wird der für Gott blinde Mensch zur Erkenntnis Gottes erst befähigt.“334 Daraus ergebe sich wiederum die Konsequenz eines polemischen Vorwurfs an das rabbinische Judentum, das mit der Ablehnung Jesu auch für die wahre Gotteserkenntnis blind werde. Die grundlegende Rückfrage an die Auslegung von Kriener lautet: Ist es nicht doch zunächst das monotheistische Credo Israels und damit das erste Gebot, das im Zentrum des im Johannesevangelium dramatisch erzählten Konfliktes steht?335 Unausgeglichen ist bei Kriener zudem die durchgehende Rede von einer „Identitätschristologie“ (Jesus werde mit Gott identifiziert336) und andererseits das ausdrückliche Votum Krieners für eine subordinatorische und funktionale Christologie, die allerdings falsche Alternativen bemühen muss.337 4.2  Pneumatologie und österliche Anamnese Die johanneische Pneumatologie hat ihren klassischen Ansatzpunkt bei den Parakletworten in Joh 14,16 f.25 f; 16,12–15. Diese finden sich in der johanneischen  Vgl. ebd. 13. Anm. 38. ebd. 26–118. 334 Ebd. 147. 335 Vgl. hierzu klärend und präzise: Th. Söding, „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Die johanneische Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4 f ), ZNW 93 (2002), 177–199. 336  Vgl. T. Kriener, „Glauben an Jesus“ (s. Anm. 329), 6.11.25.151. 337 Vgl. ebd. 141 zu Joh 10,30: „Ich und der Vater sind eins“ sei „keine Aussage über die Würde Jesu, sondern eine Aussage über die vollständige Abhängigkeit seiner Würde von Gott“; oder ebd. 152: Jesus habe „nicht an sich Bedeutung …, sondern einzig als Überbringer des Willens Gottes“. dass Jesus selbst im Johannesevangelium „christologischen Besitzverzicht“ übe (ebd. 152), ist eine erkennbar bemühte These. Die Annahme, der Christustitel und die Namensverbindung „Jesus Christus“ würden im Johannesevangelium zurückhaltend bzw. ausschließlich im Blick auf die samaritanische Messiaserwartung verwendet (vgl. 138 f ), ist nicht durch den Text des Johannesevangeliums gedeckt (vgl. nur Joh 1,17; 20,31). 332

333 Vgl.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Abschiedsrede, die von Martin Winter als Vermächtnisrede(‑n) verstanden werden.338 M. Winter zeigt auf, dass sich die konkrete Gestalt der Kapitel 13–17 nicht allein aus der alttestamentlich-jüdischen Gattungsgeschichte herleiten lässt. Als Gattungsbezeichnung für die von ihm untersuchten Textcorpora führt M. Winter den Begriff „Vermächtnisrede“ ein.339 Diese sei genauerhin als „eine spezielle Form der Abschiedsrede“ zu interpretieren und bestehe aus „dem typischen berichtenden Rahmen und dem eigentlichen Redekorpus“.340 Die vom Sterbebettsegen geprägte Vermächtnisrede besteht ursprünglich aus der Einheit von rechtlichem und geistlich-religiösem Vermächtnis. Sie sucht die Neuorientierung der betreffenden Gruppe und die Sicherung ihrer Zukunft zu gewährleisten und bietet Ansatzpunkte für literarische Erweiterungen. Die ersten Verfasser einer Sterbebettszene haben sich „eines literarisch-fiktiven Rahmens bedient, um damit ihre historische Aussageabsicht, die Legitimierung politischer Machtansprüche, zu realisieren.“341 Die deuteronomistische Schule führte neue Elemente in die Vermächtnisrede ein: den offiziell-öffentlichen Rahmen, die Nennung eines religiös-politischen Nachfolgers, die Tora in mündlicher oder schriftlicher Form, sowie die Dreiteilung der Rede in Rückschau auf die Vergangenheit, Paränese und Zukunftsansage. Diese Konzeption sei „mit dem Ziel entworfen, die durch das Exil in eine radikale Krisis geratenen Israeliten durch den Hinweis auf die Tora als Basis und Norm ihres Lebens zu ermahnen und zu ermutigen.“342 In der Diskussion zur Literarkritik bzw. Einheitlichkeit von Joh 13–17 vertritt M. Winter die Sichtweise, nach der sich in den johanneischen Vermächtnisreden die theologiegeschichtliche Entwicklung der johanneischen Gemeinde niederschlägt. Er gliedert Joh 13–17 aufgrund thematischer und formaler Signale: Joh 13,1–30; 13,31–14,31; 15,1–17; 15,18–16,4a; 16,4b–16,33; 17,1–26. Er versteht Joh 13,1– 30 als Eröffnungsszene, Joh 13,31–14,31 als erste Vermächtnisrede, Joh 15,1–17; 15,18–16,4a und 16,4b–33 als in dieser chronologischen Folge nachgetragene und aneinander anknüpfende Vermächtnisreden, die mit dem Abschiedsgebet in Joh 17 gattungsgemäß schließen.343 Sitz im Leben der johanneischen Vermächtnis Vgl. M. Winter, Vermächtnis Jesu (s. Anm. 156).  Vgl. ebd. 36–38. 340  Ebd. 38; vgl. auch das Schema ebd. 212. 341 Ebd. 205. 342 Ebd. 206. 343 Dieses Ergebnis (vgl. bes. ebd. 289 f ) beinhaltet eine Unklarheit: M. Winter entscheidet sich nicht wirklich, ob er die Kapitel 13–17 auf der Ebene der synchronen Interpretation des Endtextes insgesamt als eine Vermächtnisrede versteht, oder ob es sich um mehrere addierte Vermächtnisreden handelt. Er neigt freilich zu letzterer Position, wenngleich seine Analyse von Joh 13,1–30 für erstere spricht. Die daraus resultierende Verlegenheit spiegelt sich auch in der bemühten Klassifizierung der Passagen Joh 15,1–17 und 15,18–16,4a als Vermächtnisrede. Auch für Joh 17 lösen seine Ausführungen die Spannung zwischen der Kennzeichnung als Vermächtnisrede einerseits und als Abschiedsgebet als Teilelement einer Vermächtnisrede andererseits nicht auf (wie M. Winter selbst sieht, vgl. ebd. 310). 338 339

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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rede(‑n), die in der Zeit nach der Abfassung des Evangeliums und vor dem 1 Joh eingefügt worden seien, sei die Bewältigung des Synagogenausschlusses durch die paränetische und parakletische Intention der Vermächtnisrede(‑n).344 Ein besonderes Verdienst der Studie von M. Winter ist es, die eminent hermeneutische Kompetenz der Vermächtnisrede in den Blick zu rücken: (a) Die Vermächtnisrede ermöglicht die Bewältigung von Krisensituationen; (b) sie ist eine ansprechende Form, Tradition zu vergegenwärtigen; (c) die Pseudonymität erlaubt es dem Verfasser, sich einer fremden, hohen Autorität zu bedienen und so seine Schrift zu legitimieren.345 Damit eignet sich die Vermächtnisrede auch sehr gut, die spezifisch johanneische Anamnesistheologie in der vita Jesu narrativ zu verorten. Die johanneische Pneumatologie346 darf jedoch nicht auf die Parakletworte enggeführt werden. Die Tauftheologie in Joh 3 ist hier ein prominentes Beispiel.347 Das Johannesevangelium verdankt sich – ausweislich des Selbstzeugnisses – als Ganzes einer geistgewirkten und ‑geführten Anamnese, vertieften Durchdringung und aktuellen Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi im Licht des Osterglaubens. Erinnerung348 und Vergegenwärtigung der Jesusüberlieferung gehen im Licht des Osterglaubens und der Hodegie des Geistes eine untrennbare Verbindung ein.349  Vgl. ebd. 290–297.  Vgl. ebd. 212 f. 346   Vgl. u. a.: F. Porsch, Pneuma und Wort. Ein exegetischer Beitrag zur Pneumatologie des Johannesevangeliums, FThSt 16, Frankfurt a. M. 1974; H.-Ch. Kammler, Jesus Christus und der Geistparaklet. Eine Studie zur johanneischen Verhältnisbestimmung von Pneumatologie und Christologie, in: O. Hofius / ​Ders. (Hgg.), Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums, WUNT 88, Tübingen 1996, 87–190; U. Schnelle, Johannes als Geisttheologe, NT 40 (1998), 17–31; Ders., Johannes (s. Anm. 1), 326; D. Pastorelli, Le Paraclet dans le corpus johannique, BZNW 142, Berlin 2006; A. Wucherpfennig, Jesus Paraclitus. Ursprünge einer johanneischen Theologie des Heiligen Geistes, ThPh 85 (2010), 32–48; H. Klein, Der Paraklet als Subjekt prophetischer Rede im Johannesevangelium, Sacra Scripta 9 (2011), 173–188; C. H.  Williams, Unveiling Revelation. The Spirit-Paraclete and Apocalyptic Disclosure in the Gospel of John, in: Dies. / ​Chr. Rowland (Hgg.), John’s Gospel and Intimations of Apocalyptic, London 2013, 104–127; M. Hasitschka, Die Parakletworte im Johannesevangelium. Versuch einer Auslegung in synchroner Textbetrachtung, SNTU.A 18 (2014), 97–112; R. Bieringer, „For He Gives the Spirit Without Measure“ (John 3:34). The Fourth Gospel in the Midst of Trinitarian Hermeneutics, in: Ders. u. a. (Hgg.), Provoked to Speech. Biblical Hermeneutics as Conversation, Leuven 2014, 201–228; J. Frey, How did the Spirit become a Person?, in: J. Frey / ​ J. Levison (Hgg.), The Holy Spirit, Inspiration, and the Cultures of Antiquity. Multidisciplinary Perspectives, Ekstasis: Religious Experience from Antiquity to the Middle Ages 5, Berlin 2014, 343–372; M. Becker, Spirit in Relationship – Pneumatology in the Gospel of John, ebd. 331–342. 347 Vgl. J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Taufe und Heil im Johannesevangelium, (BThS), Göttingen 2021 (angekündigt). Vgl. auch: T. G.  Brown, Spirit in the Writings of John. Johannine Pneu­ma­ to­logy in Social-Scientific Perspective, JSNT.S 253, Sheffield 2004. 348  Vgl. hierzu auch J. R ahner, Vergegenwärtigende Erinnerung. Die Abschiedsreden, der Geistparaklet und die Retrospektive des Johannesevangeliums, ZNW 91 (2000), 72–90; K. M.  Woschitz, Verborgenheit in der Erscheinung (s. Anm. 94), 64–72; J. Frey, The Gospel of John as a Narrative Memory of Jesus (s. Anm. 20). 349 Dies wird bei J. Frey vertieft vorgestellt und ausgeführt; vgl. Ders., Theology and History (s. Anm. 16), 143–203: „The Spiritual Gospel. Reworking the Jesus Story for Deeper Theological Understanding“ 344 345

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Cornelis Bennema350 ordnet dem Geistparakleten eine „active soteriological role“351 im Heilsgeschehen zu: „First, the Spirit creates a saving relationship between the believer and God, i. e., brings a person into such a relationship with the Father and the Son, through the mediation of saving wisdom which is itself present in Jesus’ revelatory teaching. Second, the Spirit sustains this saving relationship between the believer, Father and Son, through further mediation of wisdom that enables the believer to manifest discipleship (as an ongoing belief-response).“352

Am Beispiel der beiden johanneischen Großsequenzen Joh 2,23–3,36 und 6,1–71 zeigt Thomas Popp auf: Beide Texte lassen sich (exemplarisch für das ganze Johannesevangelium) in ihrer bislang oft unterschätzten literarischen Kunstfertigkeit und der mit ihr untrennbar verbundenen theologischen Konzeption als Ergebnis und Dokument einer geistgewirkten, anamnetischen Durchdringung und Interpretation des Evangeliums Jesu Christi lesen und deuten. Der Geist Gottes bzw. Jesu Christi, dem sich das Johannesevangelium selbst verdankt und dessen Wegführung das Johannesevangelium in der nachösterlichen Zeit nachdrücklich verkündet, ist die treibende Kraft und das kreative Medium, dem sich die johanneische Evangeliendarstellung ausweislich der hier exemplarisch interpretierten Perikopen Joh 3 und 6 in theologischer und literarischer Hinsicht verdankt. Als schriftgewordene Gestalt der geistgewirkten Durchdringung des Christusglaubens erweist sich das Johannesevangelium als geronnenes Zeugnis der österlich-pneumatischen „Grammatik des Geistes“353, die zu ihrer Entzifferung wiederum ein geistgeführtes Hören, Erkennen und Glauben voraussetzt. Damit wird der johanneischen Pneumatologie (a) im Blick auf den Evangelisten selbst (seine eigenen Geist‑ bzw. Glaubenserfahrungen), (b) im Blick auf die konkrete Textgestalt des Johannesevangeliums sowie (c) im Blick auf die Rezeption des Johannesevangeliums seitens der Lesenden bzw. Hörenden ihre ureigene Bedeutung zuerkannt. Form und Inhalt des Johannesevangeliums werden in ihrer unlösbaren wechselseitigen Beziehung zueinander ernstgenommen. Auf diese Weise wird „die Grundstruktur des johanneischen Denkens“354 erkennbar. Ist die johanneische Theologie „auf dem Weg zu trinitarischem Denken“355? Die klare personale Unterscheidbarkeit des Parakleten und des erhöhten Christus sprechen sehr für diese These. 350  Vgl. C. Bennema, The Power of Saving Wisdom. An Investigation of Spirit and Wisdom in Relation to the Soteriology of the Fourth Gospel, WUNT II/148, Tübingen 2002. 351  Ebd. 38. 352  Ebd. 37; vgl. ebd. 250–256. 353  Th. Popp, Grammatik des Geistes (s. Anm. 22), 11–14.226.240.411 u. ö.; mit Verweis auf M. Luther: Spiritus sanctus habet suam grammaticam [WA 39/II, 104,24]). 354  Ebd. 19. 355  So die These von J. Frey, Eschatologie III (s. Anm. 38), 191 (zu Joh 16,12–15); vgl. Ders., Vom Windbrausen zum Geist Christi und zur trinitarischen Person. Stationen einer Geschichte des Heiligen Geistes im Neuen Testament (2009), in: Ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II, WUNT 368, hg. v. B. Schliesser, Tübingen 2016 (Studienausgabe 2018), 645–677; M. Theobald, Gott, Logos und Pneuma. „Trinitarische“ Rede von Gott

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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4.3  Schöpfungstheologie und Anthropologie Schöpfungstheologie und Anthropologie bilden Desiderate der gegenwärtigen Johannesforschung. Forschungsgeschichtlich hat die Diskussion um das johanneische Kosmos-Verständnis, das zu unterschiedlichen dualistischen Interpretationen führte, den Blick auf schöpfungstheologische und anthropologische Aussagen oftmals verstellt. Die weitreichende Kontinuität zwischen der Schöpfungstheologie des Prologs356 und der Schöpfungstheologie der Heiligen Schriften Israels einerseits und in diesem Kontext der Anthropologie in biblischen Zeugnissen357 sowie dem Johannesevangelium andererseits sind erst noch zu erheben. Schon in der Schöpfungstheologie des Johannesprologs und darüber hinaus im ganzen Corpus Johanneum358 schwingt facettenreich auch das Thema neue Schöpfung („rekreatorisches Handeln“359) mit: (a) Das gilt für die dem Johannesevangelium zugrundeliegende Verkündigung der Auferweckung Jesu von den Toten als neuschöpferischem Akt Gottes. Narrativ inszeniert wird die schöpfungs-theologische Reichweite der Auferstehungsbotschaft exemplarisch in Joh 20,1–18. Hier geht es in der Verwechslung des Auferstandenen mit einem Gärtner durch Maria von Magdala um einen ironischen Rollenwechsel360: Der auferstandene Jesus ist eben doch ein Gärtner – ein Gärtner, der eine neue Schöpfung heraufführt (vgl. in Joh 20,22 in Anspielung auf Gen 2,7 f; 3,24; Hld 8,13LXX ). Friederike Kunath arbeitet zudem heraus, dass und wie der Evangelist auch mit dem Motiv der „Stunde“ (bes. Joh 17,5.24), die mit Tod und Auferstehung kommt bzw. gekommen ist, neuschöpferisches Handeln Gottes bzw. Jesu verbindet: „Im Ereignis der ‚Stunde‘ wird die Welt ‚rückwärts‘ überholt, d. h. im Johannesevangelium, in: H.-J. Klauck (Hg.), Monotheismus und Christologie. Zur Gottesfrage im hellenistischen Judentum und im Urchristentum, QD 138, Freiburg i. Br. 1992, 41–87; U. Schnelle, Trinitarisches Denken im Johannesevangelium, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​ A. Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (s. Anm. 123), 367–386; Ders., Evangelium nach Johannes (s. Anm. 1), 238–241; C. Clauẞen, Die Trinitätslehre als Herausforderung an Exegese und Dogmatik. Zur „trinitarischen“ Rede von Gott im Johannesevangelium, in: Ders. / ​M. Öhler (Hgg.), Exegese und Dogmatik, BThSt 107, NeukirchenVluyn 2010, 151–172. 356  Vgl. hierzu: 3.10. 357  Vgl. zuletzt B. Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019. 358  Vgl. auch J. A. du R and, The Creation Motif in the Fourth Gospel. Perspectives on Its Narratological Function within a Judaistic Background, in: G. Van Belle / ​J. G. van der Watt / ​ P. Maritz (Hgg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel (s. Anm. 1), 21–46; M. L.  Coloe, Theological Reflections on Creation in the Gospel of John, Pacifica 24 (2011), 1–12; Dies., Creation in the Gospel of John, in: Dies. (Hg.), Creation is Groaning. Biblical and Theological Perspectives, Collegeville 2013, 71–90. 359  Vgl. Ch. Zimmermann, Gottes rekreatorisches Handeln bei Paulus und Johannes I. Das „Lebendigmachen“ und das „aus Gott/von oben Gezeugtwerden“, in: V. Burz-Tropper (Hg.), Studien zum Gottesbild im Johannesevangelium (s. Anm. 278), 161–186; Ch. Hoegen-Rohls, Gottes rekreatorisches Handeln bei Paulus und Johannes II. „Neue Schöpfung“ und „Ewiges Leben“, ebd. 187–225. Vgl. einführend auch M. Konrad, Schöpfung und Neuschöpfung im Neuen Testament, in: K. Schmid (Hg.), Schöpfung, Themen der Theologie 4, Tübingen 2012, 121–184. 360  Vgl. hierzu 3.3.

82

1.  Perspektiven der Johannesforschung

hier geschieht Schöpfung. Joh 17,5 versetzt den Leser nach Joh 1,1 f. zurück, an den Anfang, ‚bevor die Welt war‘. Johannes benutzt den Sprung in die Vorweltlichkeit, an den Anfang, um das Geschehen der ‚Stunde‘ als einen absoluten Neuanfang, im Lichte der Schöpfungstätigkeit Jesu zu deuten.“361 (b) Schöpfungstheologisch relevant ist neben der Genesisrezeption (bes. V. 1–4) auch die vielfältige Exodusrezeption (bes. V. 14.16–18) im Prolog: „Die Gestalt des Mose erscheint erst in V. 17, doch steht die Theophanie auf dem Sinai seit V. 14 hinter dem ganzen Abschnitt. Für die priesterliche Überlieferung findet die Schöpfung ihre Vollendung in der Errichtung des ‚Zeltes‘ unter den Kindern Israels (Ex 40). In diesem Zelt wohnt Gott inmitten seines Volkes und ruht von seinen Werken aus.“362

Ruth Sheridan deutet den Prolog als einen Dialog zwischen Genesis und Exodus narratives und der johanneischen Jesus-Erzählung: „John’s prologue performs the exegetical narrative genre in a way that not only represents the biblical story, but also recasts it and reshapes it entirely around the story of Jesus as the ultimate and exclusive ‚exegete‘ of God (cf. 1:18).“ (c) Die Gotteskindschaft bzw. die Geburt aus Gott in Joh 1,12–13 sprechen von einer neuen Schöpfungswirklichkeit, die denen zuteilwird, die „ihn“ (Logos = Jesus Christus) aufnehmen. Vertieft ausgelotet und um die Bedeutung des Geistes bereichert werden diese angedeuteten Aussagen besonders in Joh 3,1–21; vgl. Joh 1,33; 7,39; 14,16.26; 15,26; 16,14 f; 19,30363; 20,22364). Erkennbar wird schon in Joh 1,12–13, dass die Gemeinde der Glaubenden als endzeitliche Neuschöpfung verstanden wird. Damit führt der Evangelist in eine Grunddimension seiner Ekklesiologie ein. (d) Zu dieser Aussagerichtung passt auch das Motiv der endzeitlichen Sammlung des Gottesvolkes Israels  – in den prophetischen Verheißungen das eschatologische Werk Gottes selbst.365 Hinzu treten die Verheißungen, die auch die Nicht-Israeliten in die endzeitliche Sammlung einschließen366 und das Motiv der endzeitlichen Völkerwallfahrt.367 Nach Joh 11,52 ist es Jesus, der „nicht nur für  F. Kunath, Präexistent (s. Anm. 171), 296. Johannesevangelium (s. Anm. 58), 94. 363 Die Lutherbibel und die Einheitsübersetzung geben die griechische Wendung: παρέδωκεν τὸ πνεῦμα in Joh 19,30 wieder mit: „verschied“ (Lutherbibel 2017) bzw. „gab seinen Geist auf “ (Einheitsübersetzung 2016). Die johanneische Pointe liegt jedoch doppeldeutig bei dem Gedanken der „Übergabe“ des Geistes an Gott und an die Glaubenden im Augenblick des Todes Jesu. In diesem Sinne u. a. F. J.  Moloney, The Gospel of John (s. Anm. 1), 504 f. 364  Vgl. hierzu die Auslegung von J. Frey: „Weiter ist die Geistmitteilung … auf den Ostertag ‚verlegt‘ und dadurch auch sachlich in dem Ostergeschehen integriert und als Neuschöpfungsgeschehen durch den (mit Schöpfermacht ausgestatteten) Erhöhten ausgestaltet“ (Ders., Leiblichkeit [s. Anm. 155], 731 mit Hinweis auf die Analogie zu Gen 2,7LXX ). 365  Vgl. Jes 27,12; 35,10; 40,11; 43,5; 49,5.18; 52,12 LXX; 60,4.7; 60,22 LXX; Jer 23,8 LXX; 31 [38],8.10; 32 [39],37; Bar 4,37; 5,5; Ez 11,17; 28,25; 34,12 f; 37,21; 38,8.12; 39,27; Hos 2,2; Mi 2,12; 4,6.12; Zef 3,19; Tob 3,15; vgl. J. Beutler, Johannesevangelium (s. Anm. 58), 342 Anm. 38. „Nach Jes 11,12 wird die Sammlung der Zerstreuten Israels das Werk des Gesalbten sein“ (ebd.). 366  Vgl. bes. Jes 56,7 f; 66,18; Jer 3,17. 367  Vgl. bes. Jes 2,1–5; Micha 4,1–3. 361

362 J. Beutler,

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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das Volk (stirbt), sondern auch, um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln“. (e) Das Motiv des „Lebens“ im Johannesevangelium, die johanneischen Aussagereihen zu „Tod“ und „Leben“ (vgl. Joh 5,24–29) sowie die Gabe des „(ewigen) Lebens“ (vgl. Joh 3,15–16.36; 5,24; 6,39–40.47; 10,28; 14,19) reflektieren vielschichtig das geschöpfliche Leben der Menschen, das endliche Leben der Menschen sowie ihre im Glauben, in der Taufe bzw. in der Gabe des Geistes empfangene Teilhabe am ewigen Leben (vgl. Joh 8,51 f; 11,26). Jesus selbst ist in persona der alleinige Lebensspender (vgl. Joh 4,46–53; 11,1–44), „lebendiges Wasser“ (Joh 4,10; vgl. 7,37–39), das „Brot des Lebens“ (Joh 6)368 bzw. absolut „das Leben“ (Joh 11,25; 14,6). Diese johanneische Deutung des „Lebens“ ist im Prolog in den Versen 1,4 f präfiguriert. Im Überblick wird erkennbar, wie der Evangelist die Schöpfung „im Anfang (ἐν ἀρχῇ)“ und die neue Schöpfung korreliert: Es geht ihm um „die Selbigkeit des Sprechens Gottes in Schöpfung und Neuschöpfung.“369 Diese Selbigkeit wird durch Gott selbst und seinen präexistenten, inkarnierten und erhöhten Logos und die Gabe des Geistes ermöglicht und garantiert. Die johanneische Anthropologie kann fruchtbar als relationale Anthropologie rekonstruiert werden. Ansätze für eine relationale Theologie im Johannesevangelium gibt es in der Forschung seit wenigen Jahren.370 Aufgegriffen werden sie u. a. von Volker Rabens.371 Schon Rudolf Schnackenburg hat 1971 geschrieben: „Die Kategorie der personalen Relation und Partizipation ist trotz der vorherrschenden Redensweise vom ‚Geben‘ und ‚Haben‘ des Lebens der adäquate Ausdruck für die neue Existenz, in die der Glaubende eingetreten ist.“372 Vorarbeiten zu einer johanneischen Anthropologie finden sich bei Christine Urban.373 Urban warnt vor einer Überschätzung der johanneischen Christologie bzw. Christozentrik, von der her alle anderen Themen im JohEv nur noch als  Vgl. hierzu M. Stare, Durch ihn leben (s. Anm. 284).  K. Wengst, Johannes I (s. Anm. 105), 52. 370  Vgl. R. L.  Brawley, Jesus as the Middle Term for Relationships with God in the Fourth Gospel, in: R. Zimmermann / ​S. Joubert (Hgg.), Biblical Ethics and Application: Purview, Validity, and Relevance of Biblical Texts in Ethical Discourse, WUNT 384, Tübingen 2017, 207–229; B. E.  Reynolds, The Anthropology of John and the Johannine Epistles: A Relational Anthropology, in: J. Maston / ​Ders. (Hgg.), Anthropology and New Testament Theology, LNTS 529, London 2018, 121–139. 371 V. R abens, Sein und Werden (s. Anm. 315). 372 R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK.NT IV/1–4, Freiburg i. Br. 1965– 1984 (Bd. 1 71992, Bd. 2 51990, Bd. 3 61992, Bd. 4 31990), hier IV,2: 438 (in seinem Exkurs: Der Gedanke des Lebens im Johannes-Evangelium; ebd. 434–445; zitiert auch bei M. Theobald, Evangelium nach Johannes (s. Anm. 24), 65. 373  Vgl. Ch. Urban, Das Menschenbild nach dem Johannesevangelium. Grundlagen johanneischer Anthropologie, WUNT II/137, Tübingen 2001. Weiterführend auch: M. Gruber, Anthropologie der Bilder im Johannesevangelium, in: M. Labahn / ​O. Lehtipuu (Hgg.), Anthropology in the New Testament and its Ancient Context, Contributions to Exegesis and Theology 54, Leuven 2010, 183–207; E. Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament, utb 2768, Tübingen 2006, 137–184. 368 369

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Epiphänomene in den Blick kommen. Daher bestimmt sie Anthropologie, Christologie und Soteriologie komplementär: „Wer eine bekennende Inbeziehungsetzung relational-personaler Art zu Jesus konstituiert (Anthropologie), wer Jesus also als den erkennt, der er ist, nämlich der Gesandte des Vaters, der Leben hat, ist und gibt (Christologie), der erhält von ihm den endgültigen Heilsstand, nämlich das ewige Leben (Soteriologie).“374

Forschungsgeschichtlich diskutiert Urban die widerstreitenden Positionen von R. Bultmann und E. Käsemann, die von O. Schwankl und J. Blank sowie weitere.375 Als Ergebnis hält sie fest, dass sich der Zugang zur johanneischen Anthropologie „hinter der Sprachhaftigkeit der Menschen im Joh verbirgt.“376 Entsprechend klassifiziert sie den johanneischen Gebrauch der Verben glauben, hören, sehen, erkennen, finden, suchen, lieben, sprechen, wissen und bleiben als die relationale Terminologie des vierten Evangeliums. „Denn diese Termini beschreiben je die Beziehungsfindung und/oder Beziehungskonstituierung der Menschen zu Jesus in den entsprechenden dialogischen Situationen ebenso wie in narrativen Einschüben in allen Quellenschichten des Evangeliums.“377

Die Stärke der Textuntersuchungen zu Joh 1,35–51378; 4,1–42 und 8,21–59379 ist der schon oft beobachtete Aufweis des prozessualen Charakters der johanneischen Dialoge und ihres strukturanalogen Aufbaus. Auch der unlösbare Zusammenhang von Gottes‑ und Selbsterkenntnis wird treffend herausgestellt. Zu den Strukturanalogien gehören u. a. die sogenannten johanneischen Missverständnisse. Urban führt das Mißverstehen seitens der Dialogpartner Jesu auf ein dem natürlichen Menschen grundsätzlich unmögliches Verstehen der Worte Jesu zurück,380 dass nur vom Wort Jesu selbst bzw. in der Beziehung zu ihm überwunden werden könne.381 Insgesamt wird für Urban ein anthropologischer Dualismus erkennbar, der für das Johannesevangelium charakteristisch sei: Verstehen und Nichtverstehen seitens des Menschen. Von diesem „anthropologischen Dualismus“ ließen sich alle anderen johanneischen Dualismen ableiten.382

 Ch. Urban, Menschenbild (s. Anm. 373), 253; vgl. 274.451. ebd. 17–162. 376  Ebd. 159. 377  Ebd. 450. 378  Zu Joh 1,35–51 ist die Zurückweisung der Kennzeichnung des Menschen als Fragenden bzw. Suchenden nicht plausibel (vgl. ebd. 201–205.221). Im Gegenteil: Gerade aus diesen Motiven ergeben sich wichtige anthropologische Grundeinsichten. 379  Die Auslegung von Joh 8,12–59 setzt sich insbesondere mit der Frage einer Prädestination (bes. „der Juden“) auseinander und kommt zu einem differenzierenden Ergebnis: Während sich eine „von der joh Gemeinde verschiedene ontologische Konstitution der Juden“ nicht nachweisen lasse, belege Joh 8,23 die „wesenhafte Begrenztheit aller Menschen“ (ebd. 396). 380  Vgl. ebd. 77.430.447. 381  Vgl. ebd. 267.287 f.430. 382  Vgl. ebd. 83. Diese These hält einer näheren Prüfung kaum stand. 374

375 Vgl.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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Die johanneische Anthropologie schließt die Geschlechterfrage ein: Nach der Rolle der Frauen383 wird auch die Rolle der Männer reflektiert.384 4.4  Kreuzestheologie und Soteriologie Kennt das Johannesevangelium eine Theologie des Todes bzw. des Kreuzes Jesu? Weist der Evangelist dem Tod Jesu einen zentralen Ort innerhalb seines Evangeliums und seiner Theologie zu? Gibt es eine soteriologische Bedeutung des Kreuzestodes Jesu im Johannesevangelium?385 Oder ist der Tod Jesu ein‑ und 383  Vgl. C. M.  Conway, Men and Women in the Fourth Gospel; Dies., Gender and the Fourth Gospel, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), Oxford Handbook of Johannine Studies, 220–236; S. M. Schneiders, Written That You May Believe (s. Anm. 118); T. Karlsen Seim, Frauen und Genderperspektiven im Johannesevangelium, in: M. Navarro Puerto / ​M. Perroni (Hgg.), Neues Testament. Evangelien. Erzählungen und Geschichte, Die Bibel und die Frauen 2,1, Stuttgart 2012, 206–233; A. Reinhartz, Wise Women in the Gospel of John, in: T. G. Petrey (Hg.), ReMaking the World. Christianity and Categories. Essays in Honor of Karen L. King, WUNT 434, Tübingen 2019, 159–173. 384 Vgl. Th. Popp, Männer im Johannesevangelium, in: R. Knieling / ​A . Ruffing (Hgg.), Männerspezifische Bibelauslegung, Göttingen 2012, 174–195; P. Wick, Vom Schüler zum Freund. Männerkarriere im Johannesevangelium, in: R. Knieling / ​A . Ruffing (Hgg.), Männerbeziehungen. Männerspezifische Bibelauslegung II, Göttingen 2015, 167–182. 385  Diese Fragen werden nicht nur für das Johannesevangelium, sondern für nahezu alle neutestamentlichen Schriften kontrovers diskutiert; vgl. zum Forschungsstand: J. Frey / ​J. Schröter (Hgg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, utb 2953, Tübingen (2005) 22012 (Lit.); J. G. van der Watt (Hg.), Salvation in the New Testament. Perspectives on Soteriology, NT.S 121, Leiden 2005, hier 101–131: Ders., Salvation in the Gospel to John. Zum Johannesevangelium vgl. u. a.: J. Beutler, Die Heilsbedeutung des Todes Jesu im Johannesevangelium (1976), in: Ders., Studien, 43–58; H. Kohler, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium. Ein exegetisch-hermeneutischer Versuch zur johanneischen Kreuzestheologie, AThANT 72, Zürich 1987; J. Zumstein, Die johanneische Interpretation des Todes Jesu (frz. 1992), in: Ders., Kreative Erinnerung, 219–239; U. Wilckens, Christus traditus se ipsum tradens. Zum johanneischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu (1996), in: Ders., Sohn Gottes (s. Anm. 26), 29–55; J. Schröter, Sterben für die Freunde. Überlegungen zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: A. von Dobbeler / ​K . Erlemann / ​R . Heiligenthal (Hgg.),Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS K. Berger), Tübingen 2000, 263–287; J. A.  Dennis, Jesus’ Death (s. Anm. 62), passim; J. Frey, Zur johanneischen Deutung des Todes Jesu, ThBeitr 32 (2001), 346–362; Ders., Die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung. Neutestamentliche Perspektiven (2006), in: Ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie (s. Anm. 355), 225–261; J. Painter, Sacrifice and Atonement in the Gospel of John, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (s. Anm. 123), 287–313; H.-U. Weidemann, Der Tod Jesu im Johannesevangelium. Die erste Abschiedsrede als Schlüsseltext für den Passions‑ und Osterbericht, BZNW 122, Berlin-New York 2004; Ders., Leben für den Kosmos statt Sterben für Israel. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte des sog. „Einsetzungsberichts“ im Johannesevangelium, in: L. D. Chrupcala (Hg.), Rediscovering John (FS F. Manns), Studium Biblicum Franciscanum Analecta 80, Milano 2013, 233–266; G. Van Belle, Christology and Soteriology in the Fourth Gospel. The Conclusion to the Gospel of John Revisited, in: G. Van Belle / ​J. G. van der Watt / ​P. Maritz (Hgg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel (s. Anm. 1), 483–502; G. Van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel (s. Anm. 76), hier 3–64: G. Van Belle, The Death of Jesus and the Literary Unity of the Fourth Gospel (Lit.); hier 233–258: U. Schnelle, Markinische und johanneische Kreuzestheologie; M. Gruber, Die Zumutung der Gegenseitigkeit. Zur johanneischen Deutung des Todes Jesu anhand einer pragmatisch-intratextuellen Lektüre der Salbungsgeschichte Joh 12,1–8, ebd. 647–660; M. Labahn, Bedeutung und

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

untergeordnet in eine dominierende Sendungschristologie, zu der die Rückkehr zum Vater konstitutiv gehört?386 Im Johannesevangelium wird der Tod Jesu vielfältig angesprochen und theologisch reflektiert. Dazu gehören u. a. die Verse Joh 1,29.36; 2,4; 3,14–16; 5,18; 6,51–58; 7,1.19 f.25.30.39; 8,20.28.37.40; 10,11.15.17 f.31– 33.51 f; 11,4.8.50–53; 12,10.16.20–34; 13,1–20.36–38; 15,13387; 17,19; 18,14; 19,30 (vgl. auch 1 Joh 2,2).388 Eine schnell übersehene Perikope des Johannesevangeliums ist in diesem Zusammenhang der Beschluss des Hohen Rates nach Joh 11,47–53,389 Jesus umzubringen: Anders als in den synoptischen Evangelien, die ein Synhedrialverfahren unmittelbar vor dem Pilatusprozess kennen, erzählt das Johannesevangelium einen förmlichen Todesbeschluss seitens des Hohen Rates im unmittelbaren Anschluss und Zusammenhang der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–44.45–46). Durch diese Vorverlagerung und in ihrer konkreten Gestalt erarbeitet der Evangelist sein eigenes Verständnis der Verurteilung Jesu zum Tode und damit auch seine soteriologische Deutung des Todes Jesu. Diese legt er dem Hohenpriester Kajaphas in den Mund (Joh 11,49–52390; vgl. auch Joh 6,51; 10,11.17 f; 15,13). Angesichts der johanneischen Darstellung der Gründe für die Verurteilung Jesu zum Tode (vgl. Joh 11,47 f ) hebt Camillus Umoh auf die Kooperation jüdischer Autoritäten und der Repräsentanten des römischen Imperiums ab. Entgegen der Frucht des Todes Jesu im Spiegel des johanneischen Erzählaufbaus (2007), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 361–387. Vgl. auch J. Kok, New Perspectives on Healing, Restoration and Reconciliation in John’s Gospel, BIS 149, Leiden 2016. Vgl. weiterführend auch: J. G. van der Watt, Salvation in John?, in: D. du Toit / ​Chr. Gerber / ​Chr. Zimmermann (Hgg.), Sōtēria: Salvation in Early Christianity and Antiquity (FS C. Breytenbach), NT.S 175, Leiden 2019, 227–245; Ch. Hoegen-Rohls, Das theologische Gewicht der Rede von σωτηρία und σῴζειν im Johannesevangelium, ebd. 246–272. In diesem Kontext ist auch das johanneische Verständnis von Sünde zu berücksichtigen; vgl. hierzu: M. Hasitschka, Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium. Eine bibeltheologische Untersuchung, IST 27, Innsbruck 1989; R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium, WUNT 122, Tübingen 2000; J. Zumstein, Sünde in der Verkündigung des historischen Jesus und im Johannesevangelium, in: Ders., Kreative Erinnerung (s. Anm. 157), 83–103; Ders., Die Sünde im Johannesevangelium, ZNT 12 (2009), 27–35. 386  E. Straub, Kritische Theologie ohne ein Wort vom Kreuz. Zum Verhältnis von Joh 1–12 und 13–20, FRLANT 203, Göttingen 2003, vertritt die These, nicht das Kreuz, sondern die Selbstoffenbarung Jesu in Reden und Zeichen sei der thematische Mittelpunkt und der hermeneutische Schlüssel zur johanneischen Theologie. Vgl. auch: J. P.  Miranda, Der Vater, der mich gesandt hat. Religionsgeschichtliche Untersuchungen zu den johanneischen Sendungsformeln. Zugleich ein Beitrag zur johanneischen Christologie und Ekklesiologie, Bern (1971) 21976; Ders., Die Sendung Jesu im vierten Evangelium. Religionsgeschichtliche und theologiegeschichtliche Untersuchungen zu den Sendungsformeln, SBS 87, Stuttgart 1977. 387  Vgl. hierzu „Eine größere Liebe hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13), S. 323–346 in diesem Band. 388  Vgl. weiterführend Th. Söding, Kreuzerhöhung. Zur Deutung des Todes Jesu nach Johannes, ZThK 103 (2006), 2–25; Ders., Einsatz des Lebens. Ein Motiv johanneischer Soteriologie, in: G. Van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel (s. Anm. 76), 363–384. Er verweist im Blick auf Joh 10,11.17 f und 15,13 auf die Nähe zu Mk 10,45. 389  Vgl. hierzu auch die Ausführungen in 3.3. 390 Der biblische Bezugstext ist Jes 53,11 f, das stellvertretende Sterben des Gottesknechtes für die Vielen und zum Heil der Vielen.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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verbreiteten Ansicht, in den vier Evangelien lasse sich ein sukzessive Entlastung der Römer und Belastung „der Juden“ aufweisen, betont der Verfasser für das Johannesevangelium die Gemeinsamkeit beider Parteien, die hinsichtlich der Kriterien ihrer konkreten Machtausübung übereinstimmen: Machtmissbrauch um des Machterhaltes willen, taktisches Kalkül, Rücksichtlosigkeit gegenüber den Angeklagten bzw. dem Volk.391 Joh 11,47–53 betone „the cooperation between the imperial authority and the Jewish local leaders“; letztlich agierten die jüdischen Autoritäten „as the local agents of the Roman imperial authority.“392 Jesus werde aufgrund dieser Konstellation zu einem Justizopfer, dem Recht und Gerechtigkeit vorenthalten wird.393 Aufgrund der erzählerischen Linienführung des Evangelisten offenbart dieses machtpolitisch und vom Eigennutz verblendete Vorgehen von jüdischer Autorität und übermächtiger römischer Gewalt, ohne es zu wollen, positiv das johanneische Modell von „leadership“, wie es von Jesus selbst bis in die letzte Konsequenz vorgelebt werde: Führungsverantwortung durch liebenden Dienst und Selbsteinsatz bis zur Selbsthingabe.394 Überzeugend arbeitet Umoh heraus, wie Jesus, obwohl er persönlich in der Szene Joh 11,47–53 nicht anwesend ist, als Kontrastmodell zum Hohenpriester Kajaphas profiliert wird. Die Hirtenrede 10,1–18 und die Fußwaschung in 13,1–20 lassen sich als nachdrückliche Veranschaulichungen der lebensrettenden Hirtensorge und des Freundesdienstes Jesu lesen. In seinem programmatischen Beitrag zur johanneischen Kreuzestheologie weist Jörg Frey auf, dass und wie der vierte Evangelist eine theologia crucis sua generis vertritt.395 Dabei tritt insbesondere die im Johannesevangelium durchgehaltende Betonung der bleibenden personalen Identität von irdischem, gekreuzigtem und erhöhtem Christus in den Blick.396 Am Beispiel der Kreuzestheologie lässt sich die Zuordnung von Heil und Geschichte im Johannesevangelium heilsgeschichtlich buchstabieren: „In der Menschwerdung des Gottessohnes und – klimaktisch – in seinem Kreuzestod zeigt sich die Korrespondenz des dem Menschen heilvoll begegnenden Gottes, ja seine bleibende Verbindung mit der irdischen Geschichte und der menschlichen Natur in unüberbietbarer  C. Umoh, Plot (s. Anm. 65), xvii; 95.197.200–210.213–220 u. ö. XVII. 393 Vgl. ebd. 54.135–137 f. 394 Vgl. ebd. xviii; 226–262 u. ö. 395 J. Frey, Die ‚theologia crucifixi‘ des Johannesevangeliums (2002), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 485–554 (Lit.). 396 Vgl. J. Frey, Jesus und Pilatus. Der wahre König und der Repräsentant des Kaisers im Johannesevangelium, in: G. van Belle / ​J. Verheyden (Hgg.),Christ und the Emperor, BTS 20, Leuven 2014, 337–393; Ders., „Ich habe den Herrn gesehen“ (Joh 20,18). Entstehung, Inhalt und Vermittlung des Osterglaubens nach John 20, in: Dettwiler / ​U. Poplutz (Hgg.), Studien zu Matthäus und Johannes (FS J. Zumstein), AThANT 97, Zürich 2009, 267–284; Ders., Biblisch-Theologische Reflexionen zum Bekenntnis zur Auferstehung Jesu Christi, in: J. Herzer u. a. (Hgg.), Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Der zweite Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik, utb 4903, Tübingen 2018, 325–349. 391

392 Ebd.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Weise, so dass Gott selbst und sein Heil nicht mehr in Absehung von der menschlichen Geschichte, von menschlichem Leid und menschlichem Tod zu denken sind.“397

4.5  Israel‑ und Schrifttheologie Gottes Heilsgeschichte mit Israel, Israels Heilige Schriften einschließlich der Septuaginta sowie die zeitgenössischen jüdischen Diskurse bilden den maßgeblichen Referenzrahmen, in den die johanneische Theologie insgesamt eingeschrieben ist. Dies ist in vielfältige Studien und Kontroversen reflektiert und weitgehend konsensfähig bestätigt worden.398 4.5.1  Die Verwurzelung des Johannesevangeliums in der Heiligen Schrift Israels Die johanneische Schriftauslegung399 kann unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert und interpretiert werden:  Ebd. 636 f; vgl. 655 f. Diese Linie betont auch der Beitrag von J. Frey, Leiblichkeit und Auferstehung im Johannesevangelium (2009), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), ebd. 699–738. 398   Vgl. u. a.: J. Beutler, Der Gebrauch von „Schrift“ im Johannesevangelium (1996), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 295–315; M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (s. Anm. 123); M. Labahn, Jesus und die Autorität der Schrift im Johannesevangelium. Überlegungen zu einem spannungsreichen Verhältnis (2004), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 157–180; Ders., Scripture Talks Because Jesus Talks: The Narrative Rhetoric of Persuading and Creativity in John’s Use of Scripture, in: A. Le Donne (Hg.), The Fourth Gospel and First-Century Media Culture, LNTS 296, London 2011, 139–154; Ders., Deuteronomy in John’s Gospel (2007), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 209–228; Ders., „Verlassen“ oder „Vollendet“, Psalm 22 in der „Johannespassion“ zwischen Intratextualität und Intertextualität (2007), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 229–260. Vgl. zudem: M. Moser, Genügt ein christologisches Verständnis der Schrift im Johannesevangelium? Überlegungen zum Kontext der expliziten Schriftbezüge, in: J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Narrativität und Theologie (s. Anm. 54), 41–66; C. H.  Williams, Patriarchs and Prophets Remembered. Framing Israel’s Past in the Gospel of John, in: A. D Myers / ​B. G. Schuchard (Hgg.), Abiding Words. The Use of Scripture in the Gospel of John, SBL Resources for Biblical Study, Atlanta 2015, 187–212; Dies., Johannine Christology and Prophetic Traditions, in: B. Reynolds / ​G. Boccaccini (Hgg.), Reading the Gospel of John’s Christology as Jewish Messianism. Royal, Prophetic, and Divine Messiahs, Leiden 2018, 92–123; Dies., John, Judaism, and „Searching the Scriptures“, in: R. A. Culpepper / ​P. Anderson (Hgg.), John and Judaism. A Contested Relationship in Context, Resources for Biblical Study 87, Atlanta 2017, 77–100. 399   Vgl. u. a.: B. G.  Burchard, Scripture within Scripture. The Interrelationship of Form and Function in the Explicit Old Testament Citations in the Gospel of John, SBL.DS 133, Atlanta 1992; G. Reim, Jochanan. Erweiterte Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, Erlangen 1995; M. J. J.  Menken, Old Testament Quotations in the Fourth Gospel. Studies in Textual Form, CBET 15, Kampen 1996; Ders., Observations on the Significance of the Old Testament in the Fourth Gospel, Neotest. 33 (1999), 125–143; A. Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate, WUNT II/83, Tübingen 1996; H.J. Klauck, Geschrieben, erfüllt, vollendet. Die Schriftzitate in der Johannespassion, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen (s. Anm. 123), 140– 157; H. Hübner adiuvantibus Antje Labahn et Michael Labahn, Vetus Testamentum in Novo. Vol. I,2: Evangelium secundum Iohannem, Göttingen 2003; J. Clark-Soles, Scripture Cannot be Broken. The Social Function of the Use of Scripture in the Fourth Gospel, Leiden 2003; G. Fischer, Wie geht das Johannesevangelium mit dem Alten Testament um?, in: K. Huber / ​ 397

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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– Rezipiert der Evangelist den hebräischen Wortlaut und/oder die Septuaginta? Zitiert er exakt oder wandelt er ab? – Welche Kenntnisse und Überzeugungen setzt er bei seinen Adressaten voraus? – Wie rezipiert der Evangelist die vielschichtige Auslegungsgeschichte einer biblischen Stelle? Welche Akzente setzt er dabei? Welche Position bezieht er? – Wie rezipiert der Evangelist biblische Metaphern bzw. metaphorische Cluster? – Greift der Evangelist größere Textkomplexe aus den Schriften Israels auf und wenn ja, wie und mit welcher Absicht? – Wie rezipiert und interpretiert der Evangelist biblische Personen (Mose, Abraham400, Elija, …)401 bzw. Schriften und ihre innerjüdische Wirkungsgeschichte (Genesis, Exodus402, Jesaja403, Ezechiel404, Sacharja405, Psalmen406, …)? – Welche Bedeutung hat das „Gesetz“ bei Johannes?407 B. Repschinski (Hgg.), Im Geist und in der Wahrheit (s. Anm. 124), 3–14; R. Sheridan, Retelling Scripture. ‚The Jews‘ and the Scriptural Citations in John 1:19–12:15, BIS 110, Leiden 2012; A. D. Myers / ​B. G. Schuchard (Hgg.), Abiding Words. The Use of Scripture in the Gospel of John, Resources for Biblical Study 81, Atlanta 2015; J. Leonhardt-Balzer, The Johannine Literature and Contemporary Jewish Literature, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 155–170; M. A.  Daise, Quotations in John. Studies on Jewish Scripture in the Fourth Gospel (LNTS 610), London 2020. 400  Vgl. C. H.  Williams, First-Century Media Culture and Abraham as a Figure of Memory in John 8:31–59, in: A. Le Donne (Hg.), The Fourth Gospel and First-Century Media Culture (s. Anm. 398), 205–222. 401  Vgl. hierzu die Hinweise unter 3.6.2: Character-Studies. 402  Vgl. E. Käfer, Die Rezeption der Sinaitradition im Evangelium nach Johannes, WUNT II/502, Tübingen 2019. 403  Vgl. hierzu die Ausführungen zu D. J.  Brendsel im Folgenden. J. J. F.  Coutts reflektiert die Jesaja-Bezüge der Ich-Bin-Worte, des Herrlichkeitsverständnisses und des Namensmotivs im Johannesevangelium; vgl. Ders., The Divine Name in the Gospel of John (s. Anm. 314). Vgl. auch C. H.  Williams, Isaiah and Johannine Christology, in: P. K. Tull / ​C. M. McGinnis (Hgg.), As Those Who Are Taught. The Reception of Isaiah from the LXX to the SBL, SBL Symposium Series 27, Atlanta 2006, 107–124. 404  Vgl. W. G.  Fowler / ​M .  Strickland, The Influence of Ezekiel in the Fourth Gospel. Intertextuality and Interpretation, BIS 167, Leiden 2018. 405  A. Kubis, The Book of Zechariah in the Gospel of John, ÉB.NS 64, Leuven 2012. 406  Vgl. einführend: M. Daly-Denton, David in the Fourth Gospel. The Johannine Reception of the Psalms, AGAJU 47, Leiden 2000. Sie verweist auf zehn Psalmzitate aus sieben verschiedenen Psalmen: Ps (21,19) 22,18 in Joh 19,24; Ps (33,21) 34,20 in Joh 19,36, Ps (40,10) 41,9 in Joh 13,18; Ps (68,5) 69,4 in Joh 15,25; Ps (68,10) 69,9 in Joh 2,17; Ps (77) 78,24 in Joh 6,31; Ps (77) 78,16.20 in Joh 7,38; Ps (81) 82,6 in Joh 10,34; Ps (117) 118,26 in Joh 12,13. Vgl. zu Ps 42/43: J. Beutler, Psalm 42/43 im Johannesevangelium (1979), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 77–106; zu Ps 82: Ders., „Ich habe gesagt: Ihr seid Götter“. Zur Argumentation mit Ps 82,6 in Joh 10,34–36 (2005), in: Ders., Neue Studien (s. Anm. 28), 125–138; J. Maier, Das jüdische Verständnis des Psalms 82 und das Zitat aus Ps 82,6a in Joh 10,34–35, in: K. Huber / ​B. Repschinski (Hgg.), Im Geist und in der Wahrheit (s. Anm. 124), 15–28; zu Ps 118: A. C.  Brunson, Psalm 118 in the Gospel of John. An Intertextual Study on the New Exodus Pattern in the Theology of John, WUNT II/158, Tübingen 2003. 407   Vgl. u. a.: A. Lindemann, Mose und Jesus Christus. Zum Verständnis des Gesetzes im Johannesevangelium, in: U. Mell / ​U. B. Müller (Hgg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS J. Becker), BZNW 100, Berlin 1999, 309–334; J. Augenstein, Jesus und das Gesetz im Johannesevangelium, KuI 14 (1999), 161–179; W. R. G.  Loader, Jesus’ Attitude towards the Law. A Study of the Gospels (WUNT II/97, Tübingen 1997), Grand Rapids 2002, 432–

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

– Welche Rolle spielt die Christologie408 in der johanneischen Schriftauslegung? – Ist die joh Schriftauslegung enteignend bzw. antijüdisch? – Welches hermeneutische Gesamtbild der johanneischen Schriftauslegung ergibt sich? Am Beispiel der christologisch interessierten Schriftrezeption von Num 21 in Joh 3,14 f – der Evangelist rekurriert auf den griechischen und den hebräischen Text – zeigt Jörg Frey die „Schulung [scil. des Evangelisten] in palästinensisch-jüdischer Schriftbehandlung, was freilich umgekehrt die Bekanntschaft mit der hellenistisch-jüdischen Auslegung etwa im Weisheitsbuch nicht ausschließt.“409

Insgesamt setzt der Evangelist „für seine intendierten Leser, die diese Anspielungen ja verstehen sollten, eine bemerkenswerte Kenntnis der Schriften und Traditionen des Alten Testamentes wie auch zahlreicher Elemente der Evangelientradition als bekannt voraus.“410

Maßgebliche Züge der johanneischen Schriftauslegung können exemplarisch an Hand der umfangreichen Schriftrezeption in Joh 12 aufgezeigt werden:411 Der Evangelist rezipiert Jes 52–53 in einer Weise, die das ganze 12. Kapitel strukturiert.412 Der Schriftrezeption hier kommt eine hohe Relevanz zu, da das 12. Kapitel – in der Forschung mitunter am Rande stehend – kompositorisch und theo491; Ders., Jesus and the Law in John, in: G. Van Belle / ​J. G. van der Watt / ​P. Maritz (Hgg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel (s. Anm. 1), 135–154; Ders., The Law and Ethics in John’s Gospel, in: J. G. van der Watt / ​R . Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John. „Implicit Ethics“ in the Johannine Writings. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / ​Contexts and Norms of New Testament Ethics. Bd. IIII, WUNT 291, Tübingen 2012, 143–158; M. Vahrenhorst, Johannes und die Tora. Überlegungen zur Bedeutung der Tora im Johannesevangelium, KuD 54 (2008), 14–36; K.-W. Niebuhr, Art. „Nomos. B. Jüdisch, C. Neues Testament“, RAC 25 (2013), 1006–1061. 408  Einschließlich des Judeseins Jesu selbst; vgl. Th. Söding, ‚Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?‘ (Joh 1.46). Die Bedeutung des Judeseins Jesu im Johannesevangelium, NTS 46 (2000), 21–41. 409 J. Frey, „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat …“ Zur frühjüdischen Deutung der ‚ehernen Schlange‘ und ihrer christologischen Rezeption in Johannes 3,14 f (1994), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 89–145, 143. 410  Ebd. 144. Ein weiteres Beispiel ist die joh Verwendung des Königstitels für Jesus Christus, die die königliche Gesalbtenvorstellung im Frühjudentum als maßgeblichen Hintergrund hat; vgl. St. Schreiber, Gesalbter und König. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung in frühjüdischen und urchristlichen Schriften, BZNW 105, Berlin 2000; Ders., Rätsel um den König. Zur religionsgeschichtlichen Herkunft des König-Titels im Johannesevangelium, in: St. Schreiber / ​A . Stimpfle (Hgg.), Johannes aenigmaticus (s. Anm. 35), 45–70. 411  D. J.  Brendsel, „Isaiah Saw His Glory“, The Use of Isaiah 52–53 in John 12, BZNW 208, Berlin 2014. 412  In den einzelexegetischen Analysen will Brendsel zeigen, dass die Rezeption von Jes 52–53 nicht nur darauf zielt, Jesus mit dem Gottesknecht aus Jesaja zu identifizieren, sondern zusätzlich als „‚structural Vorbild‘ or literary ‚prototype‘ for John 12“ dient. Hinsichtlich der Quellenfrage setzt Brendsel voraus, dass der vierte Evangelist das Markusevangelium kannte (vgl. ebd. 23–27) und sowohl die hebräische Bibel als auch die LXX zitiert „as it suits his purposes“ (ebd. 28).

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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logisch eine kaum zu überschätzende Bedeutung für das Johannesevangelium insgesamt hat.413 Auffällig ist schon die Rahmung des öffentlichen Wirken Jesu durch die expliziten Jesajazitate in Joh 1,23 (vgl. Jes 40,3) und 12,38.39.41 (vgl. Jes 53,1; 6,10).414 Auffällig ist sodann die Fülle weiterer Anspielungen und Bezüge zu Jes 52–53 in Joh 12, die Craig A. Evans dazu geführt haben, in Joh 12 einen Midrasch zu Jes 52–53 wahrzunehmen.415 Daniel J. Brendsel liest Jes 40–55 als eine literarische Einheit416, in der dem „Servant theme“ eine bedeutende Rolle zukomme: „It is arguable, therefore, that Isaiah 40–55 offers less a radical reinterpretation of Davidic hopes, and more an attempt to bring together two strands of Israelite tradition concerning the kingly office. On the one hand, the people as a whole were always possessors of a royal calling (Exod 19:6). On the other hand, the fundamental duty of the king was, from the beginning, to be humble, to trust in God, to be faithful to Torah, and thus lead the people by example as the ideal Israelite (Deut 17:4–20). In Isaiah 40–55, both streams of tradition come to fruition in and because of the work of the anonymous individual Servant.“417

Die beiden expliziten Schriftzitate aus Jes 53,1 und 6,10 in Joh 12,38–41418 und die verstärkende Anspielung auf Jes 6,10 im Erzählerkommentar in Joh 12,41 deutet Brendsel als johanneische Auslegung des gesamten Jesajabuches, bei der der Evan413 Indem Kap. 11 mit der offiziellen Verurteilung Jesu zum Tode endet (Joh 11,46–53), scheint die Sendung Jesu zu „den Seinen“ (Joh 1,11) zu scheitern. Am Ende des Kap. 11 wird die Aufmerksamkeit der Lesenden dann auf die fragliche Teilnahme Jesu am Paschafest in Jerusalem gelenkt (11,54–57). Joh 12,1–11 deutet die Salbung seiner Füße durch Maria als Antizipation seiner Grablegung. Joh 12,1–12,50 kommt eine narrative und theologische Schlüsselfunktion zu zwischen den beiden Hauptteilen des vierten Evangeliums: „As a hinge, John 12 brings together, by way of summary or anticipation, many of the chief motifs of the gospel: signs, judgement, belief and unbelief, seeing and blindness, the ‚fulfillment‘ of Scripture, Jesus ‚hour‘, and Jesus’ death as glorification and ‚lifting up‘. In this light, John 12 serves not simply as a transitional section or narrative hinge, but also somewhat as a précis of the message of the whole gospel“ (ebd. 19; vgl. 67–71). 414  Ebd. 8: „The two Isaiah quotations in 12:38–40 are thus prominent in the structure and theological outlook of the gospel.“ 415  C. A.  Evans, Obduracy and the Lord’s Servant. Some Observations on the Use of the Old Testament in the Fourth Gospel, in: Ders. / ​W. F. Stinespring (Hgg.), Early Jewish and Christian Exegesis. Studies in Memory of William Hugh Brownlee, Atlanta 1987, 221–236; Vgl. Ders., On the Quotation Formulas in the Fourth Gospel, BZ 26 (1982), 79–83; Ders., Isaiah 53 in the Letters of Peter, Paul, Hebrews, and John, in: D. L. Bock / ​M. Glaser (Hgg.), The Gospel according to Isaiah 53. Encountering the Suffering Servant in Jewish and Christian Theology, Grand Rapids 2012, 145–170; C. H.  Williams, Isaiah in John’s Gospel, in: S. Moyise / ​M. J. J. Menken (Hgg.), Isaiah in the New Testament, London 2005, 101–17; Dies., „Seeing the Glory“. The Reception of Isaiah’s Call-Vision in John 12:41, in: J. Crossley (Hg.), Judaism, Jewish Identities and the Gospel Tradition (FS M. Casey), London 2010, 245–72. 416  D. J.  Brendsel gliedert in folgende Kapitel: Comfort and Persuasion for a New Era: Jes 40,1– 31; Jacob-Israel, Yahweh’s Chosen Servant: Jes 41,1–42,17; The Blind and Imprisoned Servant: Jes 42,18–48,22; The Servant and Zion-Jerusalem: Jes 49,1–52,12; The Servant’s Success and Zion’s Transformation: Jes 52,13–55,13. 417  D. J.  Brendsel, „Isaiah Saw His Glory“ (s. Anm. 411), 64. 418 Brendsel verweist über Joh 12,38–41 hinaus auf umfangreiche Jesajabezüge in Joh 12,20–36 (vgl. Jes 52,13–53,12, in Joh 12,9–19 (vgl. Jes 52,7–12; Sach 9,9), in Joh 12,1–8 (vgl. Jes 52,7–12).

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gelist „views Isaiah 52–53 as an interpretative development of Isaiah 6.“ 419 Joh 12,38–41 biete „the key to John’s intratextual reading of Isaiah.“ 420 Inhaltlich stehen besonders die Aspekte „sehen“ und „(nicht) glauben“ im Zentrum der jesajanischen und der johanneischen Reflexion. Dabei greift der Evangelist  – seiner theologischen Intention folgend – sowohl auf die MT als auch auf die LXX oder eine von ihm gewählte, freie Übersetzung zurück. Der Evangelist sucht und findet in Jesaja eine prophetische Antwort auf die virulente Frage, warum die Mehrheit der Zeitgenossen Jesu, obwohl sie seine „Zeichen“ gesehen hat, dennoch nicht an Jesus glaubt. Diese findet er in den sogenannten Verstockungsaussagen Jes 6,8–10, die schon in Mk 4,10–12 eine prominente Rolle spielen. In der Ablehnung Jesu und seiner Verwerfung erfülle sich die Ankündigung Jesajas.421 Da Israel seine göttliche Mission „as the Servant of God“ wegen der Verstockung nicht erfüllen könne, sei nun eine neue Lösung notwendig: „It may, therefore, imply the need for a new and individual Servant to solve Israel’s dilemma.“422 Brendsel zufolge identifiziere der Evangelist den Sprecher in Jes 6,10 (vgl. Joh 12,40) als auch in Jes 53,1 (vgl. Joh 12,38) mit dem präexistenten Christus. Der Erzählerkommentar in Joh 12,41 beziehe sich zudem auf beide Jesajazitate in Joh 12,38–40.423 Zudem werde der joh Jesus durch die Jesajazitate in Joh 12,38–41 mit „Isaiah’s Servant of God“ identifiziert – eine Identifikation, die sich zudem aus einer ganzen Liste von Übereinstimmungen zwischen Gottesknechtsaussagen in Jes 40–55 und dem joh Jesusbild im Corpus Johanneum ergebe.424 „Seine Herrlichkeit“, die Jesaja gesehen habe, beziehe der Evangelist nicht nur auf die des präexistenten, sondern auch auf die des leidenden und erhöhten Gottesknechts (vgl. Jes 52,13).425 Zusammenfassend ergibt sich für Brendsel die These, „that John 12:1–43 is modeled upon the progression of Isa 52:7 – 53:1.“426 Innovatives Potential haben diejenigen Analysen der johanneischen Schriftrezeption, die das narrative Setting der Schriftauslegung im Johannesevangelium beobachten und auswerten: So setzt Marion Moser bei der zutreffenden Beobachtung an, „dass die Schriftbezüge stets Figuren in den Mund gelegt werden.“427 Die Berücksichtigung der narrativen und kommunikativen Funktion der expliziten und impliziten Schriftzitate, ‑anspielungen und ‑verweise428 erweist sich als fruchtbar: In ihren Auslegungen zu Joh 4 und 7 kann die Autorin detailliert aufzeigen  Ebd. 67.  Ebd. 421  Vgl. ebd. 89.116–122. 422  Ebd. 94. 423 Vgl. ebd. 122–125. 424 Vgl. ebd. 113–116. 425 Vgl. ebd. 125–134. 426  Ebd. 212. Gemeint ist wohl Jes 52,7–53,12. Vgl. ebd. 217: „We may conclude, therefore, that for John the new exodus wrought in Jesus is the new exodus prophesied by Isaiah.“ 427 M. Moser, Schriftdiskurse im Johannesevangelium. Eine narrativ-intertextuelle Analyse am Paradigma von Joh 4 und 7, WUNT II/380, Tübingen 2014, 4. 428  Vgl. den Überblick ebd. 16–35. 419 420

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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und diskutieren, welche verschiedenen Schriftauslegungen die verschiedenen joh Einzelfiguren bzw. Figurengruppen ins Feld führen und welche narratologische Strategie der Evangelist mit den kontroversen Schriftauslegungen verbindet. Der Evangelist bezieht mit Hilfe von Missverständnissen, Ironie und rhetorischen Fragen die Lesenden in die erzählte Welt ein und fordert sie zur Reflexion, Vertiefung und Entscheidung heraus: „Der Text soll durch seine Wirkung auch das konkrete Leben des Lesers beeinflussen. Die Verheißungen von Joh 4 sollen sich während der Lektüre ereignen und so zur Wirklichkeit werden.“429 Mehrfach betont Marion Moser, dass „intertextuelle Anspielungen“ die Leser und Hörer des Evangeliums nicht eineindeutig festlegen wollen, sondern einen „freien Interpretationsraum“430 eröffnen, der wiederum der persönlichen Aneignung der Botschaft Jesu dient. Gemeinsam sei allen Schriftbezügen in Joh 4 (vgl. u. a. Brunnen, Wasser, Jakob, Messiaserwartung, Ernte) die Betonung und Veranschaulichung der Gegenwart des Heils in der Person Jesu:431 „Die Heilstaten Gottes in der Geschichte Israels zeugen von seinem Heilswillen, der unveränderlich ist, und sind deswegen Vorzeichen seiner endgültigen Liebestat in Jesus.“432 Die Lesenden lernen so „im Spiegel der verschiedenen Missverständnisse und der Offenbarungsrede Jesu“ zu entdecken, „wie die Schrift zu lesen ist.“433 In der Auslegung von Joh 7 stellt Marion Moser heraus, dass es hier nicht wie in Joh 4 um die Darstellung eines schrittweise entfalteten Glaubensweges geht, sondern um eine mehrfache Wiederholung und Amplifikation der gleichen Grundkonstellation und damit um eine typisch johanneische réécriture434 handelt: der Ablehnung Jesu durch die auftretenden Figurengruppen. In Joh 7 findet sich meist kein echter Dialog statt, „denn die Gesprächspartner sprechen oft gar nicht zueinander.“435 Jesus hingegen offenbart sich in Joh 7,37– 38 einladend, unmissverständlich und ohne jede Polemik. Erzählt Joh 4 einen Weg zum Glauben an Jesus Christus, so schildert Joh 7 vielschichtig und in dramatischen Bühnenbildern, welche Gründe dazu führen, Jesus im Unglauben zurückzuweisen. Für die Lesenden wird zwischen den Zeilen im Umkehrschluss und explizit am Beispiel des Nikodemus, der aus der scheinbar geschlossenen Phalanx der Hohenpriester und Pharisäer ausbricht (vgl. Joh 7,45–52), klar, wie der Weg zum christlichen Glauben gelingen kann. In Joh 7,45–52 zeigen dies die unwillentlichen Zeugnisse für Jesus und die Ironie in V. 51 und 52. Gerade das 429 Ebd.

89. 106. Vgl. ebd. 115–117 zur christologischen, eschatologischen, soteriologischen und pneumatologischen Deutung der Gabe des „Wassers“ in Joh 4. 431 Vgl. ebd. 132 ff.142 f; vgl. auch die analoge Verwendung von Schriftbezügen in Joh 7 (ebd. 198–226). 432 Ebd. 139. 433  Ebd. 140. Am Beispiel der Samariterin können die Adressaten des Johannesevangeliums lernen, „wie der christliche Glaube im Anknüpfen an die jüdische Schrift oder an ihre zentralen Inhalte (hier Jacob) möglich ist“ (ebd. 142). 434  Vgl. 3.5.3 und „Mündiger Glaube“, S. 230–256 in diesem Band. 435  Ebd. 189. 430 Ebd.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Beispiel des Nikodemus und die unscharfen Abgrenzungen von Figurengruppen („die Juden“, Hohepriester, Pharisäer, die Volksmenge) „machen darauf aufmerksam, dass die Reaktion der Zuhörer sich nicht durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe vorbestimmen lässt.“436 „In Joh 7 begegnet dem Leser nicht eine Interpretation der Schrift, sondern fünf (die von Jesus, den Juden, den Pharisäern, dem Volk und von Nikodemus). Dies macht deutlich, dass der Schrift eine immense Bedeutung zukam und zeigt, wie wichtig die Frage der richtigen Auslegung für den Autor war.“437

Der Evangelist wollte und konnte nicht auf die Schrift Israels verzichten: Denn Joh 4,22 („Das Heil ist aus den Juden“) „bedeutet, dass das Heil, das sich in Jesus Christus ereignet, seine Wurzel in der bisherigen Geschichte Gottes mit seinem erwählten Volk hat: In Jesus werden die jüdischen Heilsverheissungen vollendet und in ihm bekräftigt Gott seinen Heilswillen für Israel und erweitert ihn auf alle Menschen.“438 Die Analysen von Marion Moser zeigen, dass die Schriftauslegungen, die – in vielerlei Munde – gegen oder für Jesus angeführt werden, eine ähnliche Funktion haben, wie die johanneischen Missverständnisse: In der narrativen Strategie des Evangelisten dienen sie im Ergebnis dazu, den Anspruch Jesu zu legitimieren und zu erklären, weshalb sich an Jesus die Geister scheiden. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass das Johannesevangelium die Schriften Israels christologisch auslegt: „Die praktizierte christologische Inanspruchnahme der Schrift basiert auf dem hermeneutischen Fundamentalsatz, dass die Schriften als Ganze von Christus zeugen (5,39): Mose hat von ihm geschrieben (5,46), Abraham sah seinen Tag (8,56) und Jesaja seine Doxa (11,41), und ein Psalmwort als Wort Gottes an Israel kann desto mehr auf den Christus selbst bezogen werden (10,34–36).“439

4.5.2  Antijudaismus im Johannesevangelium? Die im jüdisch-christlichen Dialog auf dem Hintergrund der Shoa gewachsene Sensibilität und Selbstkritik im Blick auf antijüdische Muster und Motive in der Theologie‑ bzw. Kirchengeschichte und insbesondere in der kirchlichen bzw.  Ebd. 184. 235. 438 Ebd. 100; vgl. auch die 257–269. Vgl. auch: G. Van Belle, „Salvation is from the Jews“: The Parenthesis in Jn 4,22, in: R. Bieringer / ​D. Pollefeyt / ​F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), AntiJudaism and the Fourth Gospel. Papers of the Leuven Colloquium 2000, Jewish and Christian Heritage Series 1, Assen 2001, 368–398; vgl. auch: I. R amos Riera, Die Erlösung stammt aus den Juden (Joh 4,22). „Personalisierung“ als „Um-Ortung des Heils“ im Erkenntnisprozess des Johannesevangeliums, BN.NF 180 (2019), 81–104. 439  J. Frey, „Wie Mose die Schlange …“, 144 [irrtümlich steht im Zitat 11,41 für zutreffend 12,41]. Vgl. ebd.: „Dabei ist die Auswahl der Belege nicht zufällig, vielmehr geht Johannes von bestimmten, christologisch zentralen und der urchristlichen Tradition schon geläufigen Belegtexten wie Jes 53, Ps 22 oder Sach 12 aus und verknüpft diese nach bestimmten exegetischen Regeln wie der Gezera schawa mit anderen Texten.“ 436

437 Ebd.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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akademischen Schriftauslegung440 fordert die Johannesforschung in erheblichem Maße heraus: Gibt es im Johannesevangelium selbst offene und/oder verdeckte, aber gleichwohl wirksame antijüdische Aussagen und Stereotype? Liegt hier eine Wurzel für einen christlichen Antijudaismus? Was sagt das Johannesevangelium selbst und was hat die Auslegungsgeschichte in die Texte hineingelesen? Die Johannesexegese441 sucht Antworten auf diese methodische, hermeneutische und theologische Herausforderung, die sich in fünf Leitfragen gliedern lässt: (1) Ist das Johannesevangelium antijüdisch? Diese Frage lässt sich formal differenzieren im Blick auf den Autor des Textes, den Text selbst und die sekundären Interpretationen des Johannesevangeliums. Die Interpretations‑ und Wirkungsgeschichte des Johannesevangeliums zeigt, dass nicht nur einzelne Ausleger, sondern ganze Auslegungsgemeinschaften das Johannesevangelium faktisch antijüdisch ausgelegt haben  – ein Phänomen, das seine Ursache kaum ausschließlich in der nachjoh Auslegungsgeschichte haben kann. Die Argumentationsfigur, nach der zwar der Text selbst antijüdische Urteile beinhalte, der Evangelist selbst als Autor des Textes vom Antijudaismus freizusprechen sei, ist als apologetische Ausweichstrategie abzulehnen. Ein Interpretationsansatz sind die Versuche, den Evangelisten und seine verwendeten Argumente und Denkmuster im Rahmen einer innerjüdischen Kontroverse zu verorten bzw. als durch eine besondere zeitgeschichtliche Situation provoziert442 zu deuten. Tragen diese Interpretationen ausreichend zur Erklärung der polemischen und pauschalen Aussagen besonders in Joh 8,31–59 bei? Berührt ist hier auch die Frage, ob die Trennung zwischen Judentum und Christentum bei der Abfassung des Johannesevangeliums tatsächlich vollzogen gewesen ist.443 R. Bieringer, D. Pollefeyt, F. Vandecasteele-Vanneu-

 Vgl. einführend das Themenheft „Perspektiven des Jüdischen“: ZNT 37 (2016). „Antijudaismus im Johannesevangelium?“, S. 483–508 in diesem Band und grundlegend: R. Bieringer / ​D. Pollefeyt / ​F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel (s. Anm. 438); vgl. den einleitenden Artikel der drei Herausgeber: Wrestling with Johannine Ant-Judaism: A Hermeneutical Framework for the Analysis of the Current Debate, ebd. 3–44 (hier auch die Reflexion der fünf Leitfragen), und die umfangreiche Auswahlbibliographie zum johanneischen Antijudaismus und die weiteren Indices, ebd. 549–610. Vgl. hierzu weiterführend: R.  Bieringer / ​D.  Pollefeyt, Open to Both Ways …? Johannine Perspectives on Judaism in the Light of Jewish-Christian Dialogue, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen (s. Anm. 123), 11–32; R. Bieringer, Anti-Judaism and the Fourth Gospel Fifteen Years after the Leuven Colloquium, in: R. A. Culpepper / ​P. Anderson (Hgg.), John and Judaism (s. Anm. 398), 243–264; Ders., „Ihr habt weder seine Stimme gehört noch seine Gestalt je gesehen“ (Joh 5,37). Antijudaismus und johanneische Christologie, in: J. Verheyden / ​G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R . Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and its Christology (s. Anm. 1), 165–188. 442  Konkret ist der angenommene Synagogenausschluss gemeint; vgl. M. C. de Boer, The Depiction of the ‚Jews‘ in John’s Gospel: Matters of Behavior and Identity, ebd. 260–280. 443 Das bestreitet A. Reinhartz, ‚Jews‘ and Jews in the Fourth Gospel, ebd. 341–356. Vgl. Dies., The Jews of the Fourth Gospel, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 121–137 (Lit.) 440

441 Vgl.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

ville betonen, dass das Johannesevangelium und sein Autor von antijüdischen Aussagen nicht freigesprochen werden können.444 (2) Wer sind „die Juden“ im Johannesevangelium? Wie kommt es dazu, dass im Johannesevangelium fast alle handelnden Personen Juden sind, andererseits jedoch „die Juden“445 mitunter undifferenziert als Gegner Jesu qualifiziert werden? Lösungsversuche auf diese Frage gehen dahin, „die Juden“ – als innerchristliche Gegner446, – als jüdische Autoritäten in Jerusalem447,  – als jüdische Nachbarschaft der joh Gemeinden448, – als Repräsentanten des Unglaubens oder – als Juden im Sinne von Einwohnern Judäas zu verstehen.449 (3) Wie ist der im Johannesevangelium reflektierte Konflikt zwischen der johanneischen Gemeinde und „den Juden“ zu verstehen? Zur Beantwortung dieser Frage werden mehrere Szenarien vertreten: Der Konflikt hat keinen geschichtlichen Anhaltspunkt und ist rein literarisch zu deuten. Der Konflikt ist innerchristlich oder innerjüdisch oder als jüdisch-christlicher Konflikt zu interpretieren. Inhaltlicher  Vgl. R.  Bieringer / ​D.  Pollefeyt / ​F.  Vandecasteele-Vanneuville, Wrestling with Johannine Ant-Judaism (s. Anm. 441), 43: „We cannot escape the recognition that there are antiJewish elements in the Fourth Gospel.“ Vgl. u. a. auch in diesem Sinne: R. A.  Culpepper, AntiJudaism in the Fourth Gospel as a Theological Problem for the Christian Interpreters, ebd. 68–91; J. Zumstein, The Farewell Discourses (John 13:31–16:33) and the Problem of Anti-Judaism, ebd. 461–478 (dt. Version in: Ders., Kreative Erinnerung [s. Anm. 157], 189–205). Vgl. auch M. Hastischka, Joh 8,44 im Kontext des Gesprächsverlaufs von Joh 8,21–59, in: G. Van Belle / ​J. G. van der Watt / ​P. Maritz (Hgg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel (s. Anm. 1), 109–116; M. Gruber, Verbale Gewalt in Johannes 8,43–44. Theologische Sachkritik am Johannesevangelium als intentio des Textes der Heiligen Schrift, in: H. Mohagheghi / ​K . von Stosch (Hgg.), Gewalt in den heiligen Schriften von Islam und Christentum, Paderborn 2014, 63–71. 445 Die Formulierung „die Juden“ wird im Johannesevangelium ca. 70 mal verwendet, bei Matthäus und Lukas je 5 mal, bei Markus 6 mal. Vgl. J. Frey, ‚Die Juden‘ im Johannesevangelium (s. Anm. 32). Vgl. auch: U. Schnelle, Die Juden im Johannesevangelium, in: Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler), Leipzig 1999, 217–230; Ders., Evangelium nach Johannes (s. Anm. 1), 214–217, hier 217: „Der Einblick in die literarische Funktion der ՚Ιουδαῖοι, vor allem aber inhaltliche Gründe sollten davor warnen, von einem joh. ‚Antijudaismus‘ zu sprechen. Die Juden werden nicht qua Volkszugehörigkeit oder aufgrund ihres Wesens negativ beurteilt, sondern nur, wenn sie (wie andere Menschen auch) unter der Macht des Unglaubens verharren.“ 446  Vgl. H. J. de Jonge, The ‚Jews‘ in Gospel of John, in: R. Bieringer / ​D. Pollefeyt / ​F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel (s. Anm. 438), 239–259. 447 U. C. von Wahlde, The Johannine Jews: A Critical Survey, NT 28 (1982), 33–60; Ders., „The Jews“ in the Gospel of John. Fifteen Years of Research (1983–1998), EThL 76 (2000), 30–55. 448  St. Motyer, The Fourth Gospel and the Salvation of Israel: An Appeal for a New Start, in: R. Bieringer / ​D. Pollefeyt / ​F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel (s. Anm. 438), 92–110. 449  Zur Diskussion vgl. auch die Beiträge von J. Beutler, The Identity of the ‚Jews‘ for the Readers of John (2001), in: Ders., Neue Studien (s. Anm. 28), 69–77; Ders., Judaism and the Jews in the Gospel of John, Subsidia Biblia 30, Rom 2006; F. J.  Moloney, Israel, the People and the Jews in the Fourth Gospel, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (s. Anm. 123), 351–364. 444

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4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

Dissenspunkt ist jeweils die joh Christologie (vgl. nur Joh 5,18: 10,33; 19,7), deren Anspruch und Reichweite eigens zu bestimmen ist. (4) Tritt die joh Christologie und mit ihr der christliche Glaube an die Stelle des jüdischen Glaubens im Sinne einer Ablösung und Ersetzung (Substitutionsmodell)? Ein klassischer Auslegungsansatz ist die Substitution bzw. ein christlicher Exklusivismus: Demnach beansprucht die johanneische Christologie das Erbe der Verheißungen Israels in dem Sinne anzutreten, dass für nichtchristusgläubige Juden kein Heil mehr vorgesehen ist. Andere Positionen rechnen damit, dass die johanneische Christologie auf die „Wiederherstellung Israels“ oder auf die „Erfüllung“ der Heilsgeschichte Israels, genauerhin als „summit“ und „accomplishment“ (nicht als „fulfillment“), ziele.450 (5) Welche hermeneutischen Einsichten ergeben sich aus dem heutigen Forschungsstand für die Lektüre des Johannesevangeliums heute? Da das Johannesevangelium in der Sicht von R. Bieringer, D. Pollefeyt und F. Vandecasteele-Vanneuville nicht von antijüdischen Zügen freigesprochen werden kann, plädieren sie für eine differenzierte Sachkritik mit Johannes gegen Johannes: Dazu fordern sie ein theologisches Offenbarungsverständnis, das weder quellenkritisch frühere Textstadien gegenüber späteren Ergänzungen ausspielt, noch Verse, die positiv von jüdischem Glauben und jüdischer Identität sprechen (vgl. Joh 4,22), mit antijüdischen Versen (vgl. Joh 8,44) abzugleichen sucht. Vielmehr sei nicht jeder Vers in der Heiligen Schrift, hier dem Johannesevangelium, mit der gleichen Offenbarungsautorität ausgestattet. Die Gesamtbotschaft des Johannesevangeliums entwerfe eine normative „alternative world of all-inclusive love and life which trancends anti-Judaism.“451 Eben diese Botschaft gelte es als verbindliches Offenbarungszeugnis wahrzunehmen und zu verkünden. Die akademische Diskussion um einen johanneischen Antijudaismus ist nicht abgeschlossen. Sie ist und bleibt an luzide Textanalysen und ‑interpretationen verwiesen und darf keineswegs apologetisch geführt werden. Hilfreich sind die Berücksichtigung der gesamten Israel‑ und Schrifttheologie des Evangelisten ebenso wie die Grundbotschaft des Evangeliums – im unhintergehbaren hermeneutischen Zirkel zwischen Einzelexegese und Gesamtdeutung. 4.5.3  Adressaten und Leserführung in den johanneischen Konfliktszenen Charakteristisch für das Johannesevangelium ist eine Vielzahl von teils längeren Konfliktszenen zwischen Jesus und seinen jeweiligen Opponenten. Woran entzündet sich jeweils ein Konflikt? Wie wird er in der Konfliktszene ‚bearbeitet‘ und ‚gelöst‘? Wer sind die intendierten Adressaten der joh Komposition? Welche Leserführung wird erkennbar?  Vgl. J. Zumstein, The Farewell Discourses (s. Anm. 444).

450

451 R.  Bieringer / ​D.  Pollefeyt / ​F.  Vandecasteele-Vanneuville,

hannine Anti-Judaism (s. Anm. 441), 44.

Wrestling with Jo-

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Die beiden großen Sabbatkonfliktsszenen in Joh 5 und Joh 9452 sind eine gute Textgrundlage, diese Fragen exemplarisch für das Johannesevangelium zu diskutieren. Martin Asiedu-Peprah hat einen neuen Interpretationsvorschlag für die beiden joh Sabbatkonfliktsszenen in Joh 5,1–47 und 9,1–10,21 (so seine Textabgrenzung) vorgelegt:453 Er deutet die beiden Sequenzen in Abgrenzung von einem regulären Gerichtsverfahren als „two party juridical controversies.“454 Demnach geht es nicht um einen formal juristischen Prozess mit drei Parteien (den Anklägern, den Angeklagten und einem Richter), sondern um ein vorgerichtliches Verfahren, das gleichwohl ebenfalls einem festgelegten procedere unterliegt. Ziel dieser justiziablen Kontroverse zwischen zwei opponierenden Parteien ist der Versuch, „to convince the other party of the truthfulness of their position or claims in order to bring about a peaceful resolution of the conflict and effect reconciliation.“455 Gattungsgeschichtlich verweist Martin Asiedu-Peprah auf die prophetischen Gerichtsreden – so die auf H. Gunkel zurückgehende Gattungsbezeichnung – in Jes 1,2–4.10–17.18–20; Jer 2,2–37; Mi 6,1–16; Hos 2,4–25, in denen die Propheten polemische bzw. anklagende Worte an Israel richten, „to make Israel recognize her infidelities, and to convince her to turn to God by living according to the stipulations of the covenant.“456 Hierbei handele es sich – gegen H. Gunkel – gerade nicht um reguläre Gerichtsverfahren, sondern um ein zweiseitiges Verfahren mit drei Strukturelementen: Anklage, Verteidigung, Schlussfolgerung aus der Kontroverse. Weitere Komponenten solcher Gerichtsreden können die Anrufung von Zeugen, Gerichtsgleichnisse und intervenierenden Verteidigungen von dritter Seite sein (vgl. JHWH in 1 Sam 25,39; Spr 22,23; 23,11; Jer 50,34; 51,36). Dabei liege die Sinnspitze der prophetischen Gerichtsreden im AT wie in den johanneischen Sabbatkontroversen nicht in antijüdischer Polemik und Ausgrenzung, sondern im Gegenteil in dem Versuch, den Opponenten aufgrund der Argumente und Zeugnisse zur Umkehr, Einsicht und Zustimmung zur eigenen Position zu führen. Weil die Sabbatkontroverse in Joh 5 und ihre zugespitzte Entfaltung in Joh 9 jedoch nicht zu einem versöhnlichen Ergebnis führten, werde im Johannesevangelium ein reguläres Gerichtsverfahren, in dem eine unabhängige, dritte Instanz ein Urteil fällt, notwendig (s. Joh 18,28–19,16).457 Aisedu-Peprah schließt die für Joh 5; 9 und 18–19 sonst angeführten ironischen Rollenwechsel zwischen Anklägern und Angeklagten aus.458 Adressat der joh Konfliktgeschichten und damit 452  Vgl. hierzu auch: M. Rein, Die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9). Tradition und Redaktion, WUNT II/73, Tübingen 1995. 453 M. Asiedu-Peprah, Johannine Sabbath Conflicts as Juridical Controversy, WUNT II/132, Tübingen 2001. 454  Ebd. 9. 455  Ebd. 233. 456 Ebd. 234; vgl. 13–24. 457  Vgl. ebd. 115 f.234. 458 Vgl. ebd. 23.38.234. Gleichwohl gesteht er solche Rollenwechsel für die atl. Gerichtsreden durchaus zu (vgl. ebd. 18).

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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des Johannesevangeliums insgesamt seien in der Konsequenz dieser Auslegung die nichtchristusgläubigen Juden, die sich von der Rechtmäßigkeit der Praxis und Position Jesu und damit auch seines christologischen Anspruchs überzeugen lassen sollen. An diese Auslegung von Joh 5 und 9 sind kritische Rückfragen zu stellen: Zwar ist die Unterscheidung zwischen zwei bzw. drei Parteien in Joh 5 und 9 einerseits und Joh 18–19 andererseits formal richtig, inhaltlich steht aber jeweils der gleiche christologische Offenbarungsanspruch zur Debatte, der von Seiten „der Juden“ durchaus in Personalunion als Ankläger und Richter negativ beschieden wird (vgl. Joh 5,16.18 ; 7,1.19.25.30; 8,37.40; 11,47–53). Joh 11,53 spricht von einem expliziten Beschluss des Hohen Rates, Jesus zu töten. Auch das joh Stilmittel der Ironie bzw. des ironischen Rollenwechsels ist sowohl für Joh 5; 9 und 18–19 einschlägig.459 Die johanneische Erzählführung in den Streitreden Joh 5 und 9 wie im Johannesevangelium insgesamt, die ein polemisches, disqualifizierendes Bild der Gegner Jesu entwirft, macht es wenig wahrscheinlich, dass sich nichtchristusgläubige Juden, die dem Christusglauben der joh Christen dezidiert entgegentreten, als Adressaten des Johannesevangeliums in den solchermaßen gezeichneten Kontroversen angesprochen erkennen. Die harten Worte Jesu an die Pharisäer in Joh 9,39–41 lassen sich nicht plausibel als Versuch Jesu bzw. des Evangelisten verstehen, eben diese Opponenten zur Einsicht und Umkehr zu führen. Die tatsächlichen Adressaten der beiden Konfliktsequenzen in Joh 5 und 9 werden doch eher in denen zum Zeugnis gerufenen und befähigten Geheilten erkennbar, die gerade in der Kontroverse mit den ihren Glauben ablehnenden „Juden“ zu einem mündigen Glauben gerufen und geführt werden.460 4.5.4  Das Johannesevangelium im Spiegel der rabbinischen Literatur Klaus Wengst hat sich das Ziel gesetzt, die rabbinischen Schriften für die Exegese des vierten Evangeliums fruchtbar zu machen.461 Dazu führt ihn insbesondere  Vgl. hierzu „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, S. 349–368 in diesem Band.  Vgl. hierzu weiterführend die eigene Auslegung von Joh 5 in „Mündiger Glaube“, S. 230–256 in diesem Band. 461  K. Wengst, Das Johannesevangelium (s. Anm. 105). Methodisch setzt K. Wengst bei dem vorliegenden Endtext des Johannesevangeliums an: „Historische Kritik ist voreilig und verfehlt ihr Ziel, wenn sie – statt sich um das Verständnis des ihr Überlieferten zu bemühen – sich den Gegenstand der Auslegung mit fragwürdigen Kriterien erst selber schafft.“ Im Blick auf die Gliederung und die innere Architektur des Johannesevangelium betont er nachdrücklich, dass der erste Hauptteil in 1,19–12,50 einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren umfasst, während der zweite Hauptteil in 13,1–19,42 von einem einzigen Tag handelt (in 20,1–23 kommt der dritte Tag hinzu, in 20,24–29 eine zweite Woche; Kap, 21 wird als Nachtrag angesehen). Im neuen Vorwort zur 2. Auflage rechtfertigt Wengst den Ansatz seiner Johannesinterpretation gegen kritische Stellungnahmen, die Versäumnisse hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der aktuellen Johannesforschung und ein einseitiges Heranziehen jüdisch-rabbinischer Quellen unter Ausblendung anderer religionsgeschichtlicher Zeugnisse anmahnen. In der Verteidigung seines Interpretationsansatzes spitzt er seine Hermeneutik zu: „Wo ich die Aussagen des Evangelisten nicht mehr nachsprechen kann, sage ich das in aller Offenheit und begründe es. Dabei will ich nicht 459

460

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

die im jüdisch-christlichen Gespräch gewachsene Sensibilität für das bleibende Geheimnis Israels: Als Grundmodell des jüdisch-christlichen Verhältnisses setzt Klaus Wengst voraus, dass die „Menschen aus den Völkern“ durch Jesus zum Vertrauen auf Gott geführt werden – ein Vertrauen, dass es in Israel schon gab und auch weiterhin gibt, ohne dass es dazu des Sohnes bedarf. Unter Berufung auf die berühmte Aussage von Franz Rosenzweig gilt für Wengst, dass glaubende Juden schon beim Vater sind, also einer Vermittlung zum Vater durch Jesus Christus nicht bedürfen. Die Berücksichtigung rabbinischer Zeugnisse zielt dabei nicht auf Abhängigkeiten, sondern auf den „Aufweis jüdischer Sprachmöglichkeiten und Denkmuster.“462 Seine Ausgangsfrage lautet: „Gibt es eine Möglichkeit, das Johannesevangelium zu lesen, ohne angesichts Israels schamrot zu werden?“463 Übereinstimmend mit seiner Monographie zum jüdisch-judenchristlichen Sitz im Leben des Johannesevangeliums464 verortet er die Entstehung und Gestaltwerdung des vierten Evangeliums in der Identitätssuche und Auseinandersetzung zwischen einem pharisäisch bestimmten Judentum nach dem jüdisch-römischen Krieg (70 n. Chr.) und einer überwiegend judenchristlichen Gemeinde, die sich als Minderheit durch den Synagogenausschluss massiv bedrängt sah (vgl. Joh 9,22; 12,42; 16,2). Inhaltlich steht die Messiasfrage im Mittelpunkt der johanneischen Darstellung, die sich besonders an diejenigen Judenchristen richtet, die den Weg zurück zur jüdischpharisäischen Mehrheit zu nehmen drohten. Vor diesem und nur vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund werden die Aussagen des Johannesevangeliums sachgerecht verstehbar und nachvollziehbar  – anderenfalls entwickeln sie eine verheerende antijüdische Dynamik. Die in einer dramatischen Situation entstandene Polemik darf nicht in anderen Kontexten unreflektiert nachgesprochen werden – insbesondere nicht die negativen Umkehrschlüsse in Joh 5,19; 7,28; 8,55, die „den Juden“ jede Gotteserkenntnis absprechen, und die Aussage in Joh 8,44 („Ihr seid vom Vater, dem Teufel“). „Die Tragik der Situation des Johannesevangeliums liegt darin, dass sich in härtester Auseinandersetzung alles auf diesen einen Punkt zuspitzt und allein an der Stellung zur Person Jesu Wahrheit und Lüge auseinandertreten.“465 ‚‚moralisch ‚im Recht‘ oder ‚politically correct‘ sein; es geht vielmehr um die Wahrnehmung mir geschichtlich zugewachsener Verantwortung auch in der Ausübung des exegetischen Geschäfts. Ich möchte als christlicher Ausleger keine theologischen Aussagen mehr machen, die jüdische Identität in Frage stellen und jüdische Integrität verletzen“ (9 f ). Gleichzeitig betont Wengst die hypothetische Voraussetzung seiner Kommentierung und die grundsätzliche Offenheit des kanonischen Textes, der durch einen Kommentator und einen Kommentar nicht ausgeschöpft werden kann. 462  Ebd. I, 32. 463  Ebd. I, 24. 464  K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München (1981) 41992. 465 Ders., Johannes I (s. Anm. 105), 352. Von diesem Ansatz her deutet K. Wengst die mahnenden Worte Joh 12,47–48 nicht exklusiv, sondern formuliert betont: „Die Ignorierung Jesu seitens des Judentums darf nicht als Ignorierung Gottes verstanden werden. … (sie ist die) Igno-

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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Für den Auslegungsansatz von Klaus Wengst stellt die inhaltliche Durchdringung und Bestimmung der johanneischen Christologie die große Herausforderung dar: Er deutet die johanneische Christologie streng theozentrisch als Messianologie, genauerhin als Sendungschristologie, der es darum geht, gegen verständliche jüdische Einwände die messianische Würde dessen zu begründen, „der am Kreuz so schmählich hingerichtet worden ist.“466 Alle anderen christologischen Hoheitstitel werden dieser Linie zu‑ bzw. untergeordnet. Dies ist zwar eine konsequente, aber dem johanneischen Textbefund so nicht umfassend gerechte Auslegung. Dies zeigt sich bei der Interpretation des Blasphemievorwurfs gegen Jesus (vgl. Joh 5,18; 10,33): Die Sendungschristologie, der er auch die Sohnes-Christologie einordnet, deutet er funktional, nicht aber als Seinsaussage.467 Es gehe im Johannesevangelium um die „Präsenz des einen Gottes im Wirken dieses Menschen Jesus“, die in dem Handeln Gottes „in und durch Mose“ ihre Parallele habe.468 Auch die Deutung des absoluten „Ich-bin“-Wortes Jesu in Joh 6,20 als „anklingende Präsenz Gottes“ in Jesus469 wird sendungschristologisch ausgeführt. Schon der Prolog ziele darauf, „Jesus als Ort der Präsenz Gottes“470 aufzuzeigen. Die Auslegung der Inkarnationsaussage Joh 1,14 offenbart den Auslegungsansatz sehr deutlich: Die jüdischen Aussagen über die Schechina bilden „als jüdische Sprachmöglichkeiten“471 den Auslegungshorizont für die Interpretation der johanneischen Aussage: Es gehe hier nicht um eine missverständliche „Menschwerdung Gottes“, da Gott nicht in seinem Wort aufgehe, „auch wenn er sich ganz und gar in ihm entäußert, in ihm präsent ist“472. In der rabbinischen Tradition werde unter Hinweis auf Jer 23,24 („Bin nicht ich es, der Himmel und Erde erfüllt?“) die Schechina („Gott in seiner Gegenwart“) personalisiert: „… denn Gott in seiner Gegenwart hat sich unter uns niedergelassen.“473 Grundsätzlich rierung eines bestimmten Auftrags, der sich in seinem geschichtlichen Effekt als Dienst an der Völkerwelt herausgestellt hat“ (Ders., Johannes II [s. Anm. 105], 81). Auch für das Ich-bin-Wort Jesu in Joh 14,6 („Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“) wird eine exklusive Deutung zurückgewiesen. In der Konsequenz wendet sich K. Wengst durchgehend gegen den Schluss von einer jüdischen Ablehnung Jesu auf eine jüdische Ablehnung Gottes. Insgesamt versteht Klaus Wengst Jesus im Johannesevangelium als „Messias aus Israel“ für die Völker, als „Retter der Welt“ (Joh 4,42), nicht aber als Messias für Israel. Heidenchristen treten nach Wengst bei Johannes nur am äußersten Rande in Erscheinung – eine These, die mit guten Gründen angefochten werden kann. Nichtrabbinische Texte und Zeugnisse aus der religionsgeschichtlichen Umwelt des Urchristentums werden bei Klaus Wengst fast nicht berücksichtigt. So verweist der Verfasser bei seiner Auslegung von Joh 15,13 nirgends auf die bedeutenden Zeugnisse der griechisch-römischen bzw. hellenistisch-jüdischen Freundschaftsethik; vgl. hierzu „Eine größere Liebe hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13), S. 323–346 in diesem Band. 466  K. Wengst, Johannes I (s. Anm. 105), 38 f. 467  Ebd. 207 mit Anm. 32. 468  Ebd. 206 f. 469  Ebd. 239. 470  Ebd. 49. 471  Ebd. 69. 472  Ebd. 69. 473  Vgl. ebd. 69–72.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

gelte daher: „Was die hebräische Bibel und die jüdische Tradition von ganz Israel aussagen, wird von Johannes in einer ungeheuren Konzentration auf den einen Menschen Jesus bezogen.“474 Dabei gilt: Die Betonung der Einzigkeit des Sohnes (vgl. Joh 1,14.18) darf nicht exklusiv verstanden werden, sondern als Konzentration und Ausweitung: „Der Vater liebt den Sohn (vgl. 15,9) und in der Sendung des Sohnes die Welt (vgl. 3,16; 1 Joh 4,9; 3,2).“475 4.5.5  Der Evangelist als Schrifttheologe Der Evangelist erweist sich als kundiger und versierter Schrifttheologe: (a) Er kennt und setzt die theologische Matrix der Heiligen Schriften Israels als gültig und bindend voraus. Dafür sprechen die grundlegenden Übereinstimmungen in der Schöpfungstheologie, der Theologie und Anthropologie, der Erwählung und der Heilsgeschichte Israels. (b) Er kennt die innerbiblische und die zeitgenössische jüdische Schriftauslegung und betreibt selbst fachkundig Schriftauslegung. Dies gilt für seine Rezeption und Inanspruchnahme einzelner Bibelstellen und ihrer jüdischen Auslegungsgeschichte ebenso wie für die Rezeption von übergreifenden biblischtheologischen Themen (Schechina-Rezeption in Joh 1,14; Exodusmotive im Prolog u.v. a.m.) und von ganzen Passagen prophetischer Bücher (z. B. Jes 52–53). (c) Er kennt und rezipiert die Heilstraditionen Israels, den jüdischen Festkalender und seine theologischen Inhalte476 sowie die jüdische Tempeltheologie. Seine Schriftauslegung und ‑theologie stellt er in den Dienst seiner Botschaft von Jesus, dem Christus (vgl. Joh 20,30 f; 21,24 f ). Er sieht sein Evangelium in grundsätzlicher Kontinuität zum Heils‑ und Offenbarungswillen Gottes in und an Israel (vgl. die Diskussion um die Deutung von Joh 1,17 – ein Vers, der jedenfalls nicht antithetisch zu lesen ist477). Dabei versteht sich der Evangelist Johannes selbst als Schrifttheologe, Schriftausleger und ambitionierter Verfasser einer neuen Schrift mit kanonischem Anspruch (vgl. Joh 20,30 f; 21,24 f ).478 Der Evangelist reflektiert und buchstabiert in variierenden Durchgängen die christologischen Kontroversen, die seine Botschaft auslöst, im ständigen Blick auf seine Adressaten, die in seiner eigenen Gemeinde und im nahen Umfeld seiner  Ebd. 72 u. ö.  Ebd. 74. Nicht folgen kann der Verfasser der bei Wengst vorgenommenen Trennung zwischen dem Logos und dem Sohn des Vaters, Jesus Christus: Dass der Evangelist von der Präexistenz des Wortes, nicht aber von der Präexistenz Jesu spreche (ebd. 82 f ), ist eine Scheinalternative: Die Pointe des Prologs besteht gerade in der Identifikation des Logos mit Jesus Christus. 476   Vgl. u. a.: L. Devillers, La fête de l’envoyé. La section johannique de la fête des tentes (Jean 7,1–10,21) et la christologie, ÉB.NS 49, Paris 2002; D. Felch, Die Feste Jesu im Johannesevangelium. Jüdische Tradition und christologische Deutung, WUNT II/308, Tübingen 2011; G. Wheaton, The Role of Jewish Feasts in John’s Gospel, SNTS.MS 162, Cambridge 2015; B. G.  Schuchard, Temple, Festivals, and Scripture in the Gospel of John, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 381–395. 477  Vgl. die Hinweise in 3.10. 478  Vgl. hierzu „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30), S. 554–572 in diesem Band. 474 475

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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Gemeinde (die sogenannten Kryptochristen) zu suchen sind.479 Der Evangelist zielt auf Glaubensvertiefung. Inwieweit, wo und wie er in der Verfolgung dieses Interesses antijüdische Muster aufbaut und nutzt, ist weiterhin zu diskutieren. Dabei bleibt schon die pauschale Floskel „die Juden“ ein irritierendes Moment in der sonst im Evangelium zu beobachtenden komplexen Charakterzeichnung von einzelnen Personen bzw. Gruppen (vgl. hierzu: 3.6.2). Insbesondere die Wirkungsgeschichte zeigt, dass es erhebliche antijüdische Auslegungen gegeben hat, die ihre Haft‑ und Anhaltspunkte im Johannesevangelium gefunden haben. 4.6  Zeitdeutung: Eschatologie und Präexistenz Jesu Christi 4.6.1  Der Evangelist als Vertreter einer präsentischen Eschatologie? Hans-Christian Kammler480 löst präsentisch‑ und futurisch-eschatologische Aussagen im Johannesevangelium nicht in konventioneller Manier literarkritisch auf – literarkritischen Optionen steht er ablehnend gegenüber –, sondern deutet die weithin als futurisch-eschatologisch eingeschätzten Passagen präsentischeschatologisch. Für seine exegetische These wählt Kammler den johanneischen Schlüsseltext Joh 5,17–30, einen wichtigen Abschnitt der eschatologischen Offenbarungsrede Jesu im Anschluss an die Heilung des Gelähmten in Joh 5.481 Als leitende Aussagen in 5,17–30 erhebt H.-Chr. Kammler die wesenhafte Einheit zwischen Vater und Sohn und damit die Gottheit Jesu. Zwischen dem Vater und dem Sohn besteht eine Willens‑, Handlungs‑ und Offenbarungseinheit, die notwendig in einer metaphysischen Wesenseinheit begründet ist482  – eine Wesenseinheit, die auch eine (richtig zu verstehende) Asymmetrie einschließe.483 Mit dieser hohen johanneischen Christologie, die ausdrücklich nicht als Subordination des Sohnes unter den Vater zu verstehen sei, wird der Konflikt mit dem jüdischen Einwand der Blasphemie (vgl. Joh 5,18) erkennbar und zugleich durch den Evangelisten beantwortet: „Die Absolutheit der Person des Offenbarers begründet mithin die Absolutheit und Exklusivität der in Jesus Christus geschehenen Offenbarung.“484 Im Sinne des Johannesevangeliums deutet Kammler die Sendungsaussagen zutreffend im Horizont der Sohnesaussagen und nicht  Vgl. hierzu „Mündiger Glaube“, S. 230–256 in diesem Band.  H.-Ch. Kammler, Christologie und Eschatologie (s. Anm. 142); vgl. auch: Ders. / ​O. Hofius (Hgg.), Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums, WUNT 88, Tübingen 1996; Ders., Die Theologie des Johannesevangeliums. Eine exegetische Skizze, KuD 63 (2017), 79–101. 481  Dieser johanneische Passus wird im Blick auf seine christologischen und eschatologischen Aussagen minutiös und mit hoher Konzentration Vers für Vers analysiert und interpretiert. Als theologischer Gewährsmann der Johannesauslegung Kammlers fungiert J. A.  Bengel (Gnomon Novi testamenti. Editio octava stereotypa hrsg. v. P. Steudel, Stuttgart 1891), mit dessen Theologie Kammler das Johannesevangelium in direkter Übereinstimmung sieht bzw. sehen möchte (vgl. 15.24.33.36. u.v.ö.). 482  Vgl. H.-Ch. Kammler, Christologie (s. Anm. 480), 25.28.32–34.80.103.175–182 u.v.ö. 483  Vgl. ebd. 175 f.181.183. 484  Ebd. 113. 479 480

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umgekehrt.485 Grundlegend gilt, dass die johanneische Christologie das Fundament für die johanneische Eschatologie und Soteriologie bildet.486 H.-Chr. Kammler deutet das „Richten“ (κρινεῖν) bzw. das „Gericht“ (κρίσις) des Sohnes nach Joh 5,22.27.30 nicht als „ein allen Menschen widerfahrendes und über Leben und Tod entscheidendes Gerichtsverfahren“, sondern als ein „ausschließlich die Nicht-Glaubenden treffendes und ihr Sein im Tode verewigendes Straf‑ und Verdammungsgericht.“487 Mit diesem Urteil verbindet sich bei H.Chr. Kammler die problematische These von einer strengen Prädestination der Menschen im Johannesevangelium, die jede Willensfreiheit ausschließt, die auch den universalen Heilswillen Gottes bestreitet und stattdessen einen partikularen Heilswillen Gottes postulieren muss.488 Der dazu vorgetragenen Auslegung von Joh 3,16 und dem Johannesevangelium insgesamt, nach der sich der johanneische Jesus „ausschließlich den zum Heil Prädestinierten gegenüber als ‚das Licht der Welt‘ erweisen will“489, ist nachdrücklich zu widersprechen.490 Die eschatologischen Aussagen in Joh 5,24–25 (und ebenfalls Joh 6,39c​.40c.​44c.​ 54b; 11,25–26; 12,48c; 14,2–3; 17,24) deutet Kammler streng präsentisch eschatologisch: Demnach ereignet sich „die eschatologische Totenauferweckung bereits gegenwärtig in letzter Endgültigkeit.“491 Den für diese These zentralen Vers 5,25: 485 Vgl.

die Ausführungen zu Joh 5,23 ebd. 115–122. ebd. 172 f.175. 487  Ebd. 64. 488 Vgl. ebd. 65–68.133–139. 489  Ebd. 67. 490  Hinweise zu einer Prädestination im Corpus Johanneum sieht auch J. Frey: „Auch der erste Johannesbrief setzt voraus, dass die Entscheidung über das eschatologische Heil bzw. Unheil in der Gegenwart fällt, im Glauben oder Unglauben, Bleiben oder Nicht-Bleiben, Lieben oder Nicht-Lieben. Für seine Adressaten ist sich der Autor gewiss, dass diese Entscheidung bereits gefallen ist, dass sie das ewige Leben haben (1 Joh 5,12.13) und an der baldigen Vollendung ihrer Gotteskindschaft teilhaben werden“ (Ders., Die johanneische Eschatologie III [s. Anm. 38], 95 f ). Dem ersten Satz dieses Zitates ist zuzustimmen, eben deshalb aber dem zweiten Satz nicht ungeschützt. Auch für die aus der Sicht des Briefautors orthodoxen Christen bleibt der Anspruch des Glaubens, des Bleibens, der Liebe, die je neu (und eben nicht ein für allemal) vollzogen werden können und müssen. Daher scheint es problematisch, von einer prädestinatianischen Sicht des Briefautors und Evangelisten zu sprechen (vgl. ebd. 73.472 f ). J. Frey stimmt hier der Position von H.-Ch. Kammler zu (ebd. 372 mit Anm. 217): „Der Evangelist versteht den Vorgang des Hörens und Glaubens prädestinatianisch“ (ebd. 372). Das Weggehen der wahrhaft Glaubenden (vgl. Joh 6,60–71) sei im Johannesevangelium „keine Möglichkeit. Für sie ist das Bleiben vorausgesetzt, zu dem das Johannesevangelium immer wieder mahnt, …“ (ebd. 373). Ist das nicht ein Widerspruch? Weil das Evangelium immer wieder gerade die Christen zum Glauben und zum Bleiben mahnt, setzt es doch die Möglichkeit „wegzugehen“ voraus (vgl. Joh 15,2.6). Andererseits weist Frey einen harten Determinismus zurück (vgl. ebd. 473) und betont, dass Glaube im Sinne des Johannesevangeliums zwar eine der menschlichen Verfügbarkeit entzogene Größe ist, die individuelle Lebensgeschichte der Menschen jedoch keineswegs apriori determiniert verstanden wird (vgl. ebd. 257.473). Gegen eine apriorische Prädestination wendet sich auch Th. Popp, Grammatik des Geistes (s. Anm. 22) 114 f.167 f.175–177.404.436. Er verteidigt die universale Soteriologie der liebenden Weltzuwendung Gottes in seinem Sohn (vgl. ebd. 156 f.167 f ). „Göttliche Erwählung schließt die Antwort des Glaubens auf den geistgewirkten Ruf (vgl. 3,8) ins Licht nicht aus, sondern als ihren Ermöglichungsgrund ein“ (ebd. 184; vgl. 316 f ). 491  H.-Ch. Kammler, Christologie (s. Anm. 142), 123. 486 Vgl.

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„Die Stunde kommt und sie ist jetzt“ (= Joh 4,23) deutet Kammler nicht im Sinne zweier unterschiedlicher, spannungsvoll aufeinander bezogener Zeitstadien, sondern als Steigerung einer Gegenwartsaussage. Weil aus der Perspektive des irdischen Jesus, der dieses Wort spricht, die „geistliche Totenauferweckung“ erst nachösterlich durch das Wirken des Erhöhten Wirklichkeit werde, stehe im ersten Versglied die futurische Aussage. Da das Johannesevangelium jedoch aus der nachösterlichen Perspektive geschrieben sei und mithin für die Gemeinde „der Vollzug der eschatologischen Totenauferweckung“ bereits Gegenwart sei, stehe im zweiten Versglied die präsentische Aussage.492 Auch die Verse Joh 5,28–29 interpretiert Kammler in der Konsequenz seines Ansatzes, aber gegen den Mainstream der Forschung nicht futurisch‑, sondern präsentisch-eschatologisch. Demnach sprächen die Verse Joh 5,28–29 metaphorisch von den „geistlich Toten“. Seines Erachtens lasse eine streng präsentische Eschatologie keinen Raum „für die Erwartung einer zukünftigen leiblichen Auferstehung.“493 Letztlich ist dieses Postulat nur um den Preis einer völligen Irrelevanz der zukünftig-leiblichen Auferstehung gegenüber der gegenwärtig-geistlichen Auferweckung zu haben. Während Kammler die Bultmannsche Johannesauslegung sonst weithin zurückweist, wird in diesem Zusammenhang eine alte Position Bultmanns wiederbelebt, nach der der Evangelist futurisch-eschatologische Sprachformen und Vorstellungsinhalte einer radikalen präsentisch-eschatologischen Neuinterpretation unterwerfe. 4.6.2  Präsentische und futurische Eschatologie Die johanneische Eschatologie ist durch die Forschungsbeiträge von Jörg Frey aus ihrer literarkritischen Entgegensetzung von präsentischer und futurischer Eschatologie befreit worden.494 Seine Studien zeigen, dass die Entgegensetzung von präsentischer und futurischer Eschatologie im Johannesevangelium aus den Textzeugnissen des Johannesevangeliums selbst nicht nachweisbar ist, beide Linien vielmehr bei Johannes gezielt zu einer theologisch durchdachten Sinneinheit zusammengeführt sind. Jörg Frey unterteilt die Forschungsgeschichte in vier chronologisch einander folgende Etappen:495 (a) Stehen H. S.  Reimarus und J. S.  Semler für die Infragestellung der neutestamentlichen Eschatologie, so die Philosophie der Aufklärung (vgl. G. E.  Lessing, I. Kant, G. W. F.  Hegel, F. Schleiermacher) für die „systematische Grundlegung einer präsentischen Uminterpretation der traditionellen Lehre von den ‚letzten 492 Ebd.

160.  Ebd. 203; vgl. seine Auslegung von Joh 11,21–26. 494  J. Frey, Die johanneische Eschatologie I–III (s. Anm. 38); vgl. Ders, Eschatology in the Johannine Circle (2005), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 663–698; Ders., Johannine Christology and Eschatology, in: B. W. Longenecker / ​M. C. Parsons (Hgg.), Beyond Bultmann. Reckoning a New Testament Theology, Waco 2014, 101–132. 495  Vgl. J. Frey, Eschatologie I (s. Anm. 38), 9–387. 493

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Dingen‘“496. Charakteristisch ist schon hier eine gewisse Gewaltsamkeit, mit der die neutestamentlichen Aussagen für die jeweilige weltanschauliche Vorgabe adaptiert und enttemporaliert werden.497 Im Deutschen Idealismus kommt dem Johannesevangelium deshalb eine hohe Wertschätzung zu, weil der Evangelist „das Irdische seines palästinischen, an Ort und Zeit gebundenen Freundes“ vergessen habe, „um das Himmlische, das Ewige in ihm darzustellen, das über Ort und Zeit hinausgeht und die ganze Menschheit in sich verbindet“ (Johann Gottfried Herder).498 In dieser Linie wird das Johannesevangelium zunehmend spiritualistisch gedeutet und für die „Erziehung des Menschengeschlechtes“ (G. E.  Lessing) dienstbar gemacht. Die in dieser Aneignung des Johannesevangeliums vorgenommene Ausblendung bzw. Uminterpretation futurisch-eschatologischer Aussagen wirkt weiter auf Exegeten wie D. F.  Strauß, F. Ch. Baur und H. J.  Holtzmann. Auch die Wiederentdeckung der Eschatologie in der Verkündigung Jesu durch J. Weiß konnte bei ihm selbst und bei A. Schweitzer die Vorliebe für ein „uneschatologisches Johannesevangelium“ nicht irritieren. Die neu aufkommende Literarkritik am Johannesevangelium (H. H.  Wendt; J. Wellhausen, E. Schwartz) zeigt sich stark von systematischen Interessen geprägt: „Die theologischen Motive, die die Interpretationen im 19. Jahrhundert beherrschten, dringen nun in die literarkritischen Rekonstruktionen ein und beeinflussen damit konstitutiv die zu interpretierenden Texte“.499 Auch die frühe religionsgeschichtliche Forschung (W. Bousset; A. Schlatter; W. Bauer, R. Bultmann, H. Odeberg) ist bei allen Differenzen an einer präsentischen Eschatologie interessiert. Auch mit Blick auf Julius Wellhausen zeigt sich eine Instrumentalisierung der Literarkritik zum Beweis eines vorgängigen ‚dogmatischen‘ Bildes des Johannesevangeliums, d. h. eine Zirkelargumentation, die – teilweise mit großem Aufwand – das beweisen zu können vorgibt, was sie der Sache nach immer schon voraussetzt.500 (b) Die kritische Auseinandersetzung mit dieser Johannesauslegung durch Rudolf Bultmann, dessen Einfluss nicht nur auf die Johannesforschung im 20. Jahrhundert kaum überschätzt werden kann, beginnt mit seiner Heidegger-Rezeption. Zusammen mit existenzialistischen Prämissen bestimmt sie Bultmanns Auslegung und die Deutung der jesuanischen, der paulinischen wie der johanneischen Eschatologie. So habe der Evangelist nach Bultmann „die Eschatologie in kühner Uminterpretation radikal vorgeschichtlich, ins Jetzt eingeholt, und konsequenterweise die traditionelle futurische Eschatologie eliminiert.“501 Ostern, Pfingsten und die Parusie würden so im Werk des Evangelisten zusammenfallen.502 Die Johannes-

496 Ebd.

I, 13.  Vgl. ebd. I, 48–50.467–469. 498  Zitat von Johann Gottfried Herder übernommen (ebd. I, 23). 499 Ebd. I, 66. 500  Vgl. ebd. I, 66–69. 501  Ebd. I, 108. 502  Vgl. ebd. I, 110.148 f.191 f. 497

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interpretation Bultmanns wird bei Frey mitsamt ihren literar‑, religions‑, traditions‑ und theologiegeschichtlichen Implikationen einer furiosen Kritik unterzogen.503 (c) Die Jahrzehnte zwischen dem Ende der 20iger Jahre und etwa 1970 sind bestimmt von der positiven Anknüpfung bzw. auch kritischem Widerspruch zur Position R. Bultmanns: Dies gilt für E. Käsemann, L. Schottroff und A. Stimpfle, die das Johannesevangelium gnostisch interpretieren, ebenso wie für die Stellungsnahmen von E. Haenchen, G. Bornkamm und G. Klein. In dieser Forschungsphase entdeckt Frey eine „weitreichende Kontinuität der Interpretation“ trotz einer „Destruktion“ der „grundlegenden historischen Hypothesen“ von Bultmann.504 Die Literarkritik werde zum Projektionsinstrument, das die reformatorische Rechtfertigungslehre als Theologie des Evangelisten und – im Sinne einer „Dekadenztheorie“ – den Frühkatholizismus einer postulierten „kirchlichen Redaktion“ zuschreibt.505 Positiv abgehoben werden die Positionen von G. Stählin, W. G.  Kümmel, J. Blank und R. Schnackenburg, die mit unterschiedlichen Akzenten der johanneischen Eschatologie eine „temporale Dialektik“ zutrauen und von O. Cullmann, der heilsgeschichtlich interpretiert.506 (d) Zu einem Neuanfang finden erst diejenigen Autoren, die sich – aus unterschiedlichen Interessen  – einer synchronen Johanneslektüre verschreiben (vgl. u. a.: H. Thyen; L. Schenke; J. Neugebauer; A. Reinhartz; W. A.  Meeks; G. L.  Renner; T. Onuki) und dabei in der Gefahr sind, die historische Einordnung und Interpretation des Johannesevangelium aus dem Blick zu verlieren. Frey schließt sich  – u. a. unter Berufung auf die stilkritischen Arbeiten von E. Schweizer, E. Ruckstuhl und P. Dschulnigg507  – der von Martin Hengel maß503  Vgl. ebd. I, 114–157. Zu einer kritischen Würdigung der Johannesauslegung von Rudolf Bultmann vgl. auch: H. Thyen, Rudolf Bultmann als Historiker und Theologe (1985), in: Ders., Studien (s. Anm. 22), 8–27; M. Labahn, Bultmanns Konzeption der existenzialen Interpretation des neutestamentlichen Kerygmas am Beispiel seiner Exegese des Corpus Johanneum. Versuch einer Annäherung an Bultmanns Johannesinterpretation im Spiegel der neueren Forschung (2010), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 79–113; U. Schnelle, Bultmannrezeption in der Johannesforschung, in: Chr. Landmesser (Hg.), Bultmann-Handbuch, Tübingen 2017, 431–440. 504  J. Frey, Eschatologie I (s. Anm. 38), 199. 505  Ebd. I, 202. Ein Teil der exegetischen Stimmen nach 1970 suchen Literarkritik und johanneische Gemeindegeschichte zu verbinden (R. E.  Brown) oder radikalisieren bzw. verfeinern die Literarkritik R. Bultmanns (G. Richter, J. Becker, W. Schmithals). Vgl. u. a.: G. Richter, Studien zum Johannesevangelium, J. Hainz (Hg.), Frankfurt a. M. 21990; A. Dauer, Schichten im Johannesevangelium als Anzeichen von Entwicklungen in der (den) johanneischen Gemeinde(n) nach G. Richter, in: Die Kraft der Hoffnung (FS J. Schneider), Bamberg 1986, 62–83. Dass letztere einer nachdrücklichen Kritik unterzogen werden, ist nicht verwunderlich. Zu Jürgen Becker schreibt Frey: „Auch der Evangelist nach dem Bilde Beckers trägt nur allzu deutlich das Antlitz eines modernen protestantischen Theologen, auch er scheint – wie sein ‚Kollege‘, der Evangelist Bultmanns – in hohem Maße Spiegel‑ und Idealbild seines exegetischen Schöpfers zu sein“ (ebd. I, 284; vgl. I, 390–392). 506  Je eigene Wege gehen die angelsächsischen Forscher C. H.  Dodd, C. F. M.  Moule, W. F.  Howard, Ch. K.  Barrett, J. D.  Thompson, R. Kysar, D. E.  Aune; vgl. ebd. I, 246–259. 507 E.  Ruckstuhl / ​P.  Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium. Die johanneischen Sprachmerkmale auf dem Hintergrund des Neuen Testaments und des zeitgenössischen hellenistischen Schrifttums, NTOA 17, Fribourg 1991.

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geblich mitgeprägten Auffassung an, dass das Johannesevangelium insgesamt von einer „rhetorischen und pragmatischen Kohärenz“ bestimmt ist, die für eine „einheitliche Konzeption dieses Werkes“ spricht.508 Allein für Joh 21 konzediert Frey die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Kapitel von Herausgebern aus der johanneischen Schule angefügt worden sein kann.509 Als markanten Ausgangspunkt seiner Analysen der johanneischen Tempusverwendung und Zeitbehandlung wählt Frey die johanneische Wendung: „Die Stunde kommt und sie ist jetzt (ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν)“ in Joh 4,23 und 5,25. In welchem sachlichen Zusammenhang stehen die auf die Zukunft ausblickende („Die Stunde kommt …“) und die gegenwartsbezogene Aussage („sie ist jetzt“)? Welche Erklärung für diese Zuordnung erscheint plausibel? Frey setzt bei der übergreifenden Frage nach dem johanneischen Zeitverständnis ein, das „die Interpretation der johanneischen Eschatologie leitet.“510 Die Textbasis für das johanneische Zeitverständnis stellt die Tempusverwendung im Johannesevangelium dar, „die sprachliche Repräsentation temporaler Bezüge“511. Die griechischen Tempora sind „zwar aspektuell strukturiert, damit aber nicht einfach atemporal“512. Mithin hängt die Interpretation des Tempusgebrauchs eng mit der konkreten Sprachverwendung und ‑kompetenz des jeweiligen Autors zusammen. Der Evangelist Johannes zeigt bei allem „einfachen Stilniveau“ seiner Erzählung, dass er die Tempusformen und andere sprachliche Mittel bewusst und gezielt zu verwenden weiß.513 So zeigt auch die johanneische Verwendung des Präsens die pragmatische Absicht der Vergegenwärtigung bzw. Unmittelbarkeit der Worte Jesu, die in den „Ich-bin“-Worten ihren dichtesten Ausdruck erhält: „Theologisch bringt diese ‚unmögliche‘, die herkömmliche Temporallogik durchbrechende Verwendung des Präsens in dem formelhaften ἐγώ εἰμι … Jesu das einzigartige, zeitunbegrenzte, da an der Ewigkeit des Vaters teilhabende Sein der Person Jesu zur Sprache.“514 Die Inkarnationsaussage in Joh 1,14 und die Unterscheidung der Zeiten im Johannesevangelium515 sind sehr ernst zu nehmen. Auch das johanneische Imperfekt, der Aorist, das Perfekt (Frey betont den „continuativen“ und „definitiven Aspekt“ des Perfekts im Johannesevangelium),  Ebd. I, 444.  Vgl. vgl. I, 446–451. 510  Vgl. ebd. II, 10. 511  Ebd. II, 14. Frey distanziert sich überzeugend „‚von der existentialen Reduktion der Zeit auf die Zeitlichkeit des Subjekts‘“ (Zitat im Zitat von Hans Weder; ebd. II, 21) bei Martin Heidegger und Rudolf Bultmann (vgl. I, 85–157). 512  Ebd. II, 57. 513 Vgl. ebd. II, 58–78. Frey belegt dies z. B. an dem im Schriftzitat in Joh 2,17 eingetragenen Futur. Auch in Joh 1,15.30 weist er die „elaborierte Tempusgestaltung“ (ebd. II, 72) des Evangelisten auf. Insgesamt wird die differenzierende und nuancierende Kompetenz der joh Tempusverwendung und ‑variation gerade im Blick auf die „temporale Perspektivierung“ (ebd. II, 76) deutlich (vgl. auch ebd. II, 102.146). 514  Ebd. II, 88. 515  Vgl. ebd. II, 208–246. 508 509

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das Plusquamperfekt und das Futur im Johannesevangelium belegen eine gezielte Unterscheidung und Anwendung. Die Untersuchung der prospektiven bzw. futurischen Ausdrucksweisen zeigt, dass die Ausrichtung auf die Zukunft das Johannesevangelium – entgegen anderslautenden Forschungspositionen – durchgängig prägt.516 Die bitemporalen Aussagereihen in Joh 4,23 und 5,25 (vgl. 16,32) beinhalten auf den ersten Blick streng genommen einen logischen Widerspruch. Frey plädiert hier für eine bewusste, vom Evangelisten intendierte Spannung in der theologischen Sachaussage, die weder in die eine noch in die andere Richtung aufgelöst werden darf. Temporale Paradoxien sind nicht Kennzeichen einer Unbeholfenheit des Evangelisten, sondern ein „absichtsvoll gewähltes sprachliches Ausdruckmittel“517. Neben den Beobachtungen zur Tempusverwendung kommt der narrative Organisation und Funktion des temporalen Rahmens und Gefüges des Johannesevangeliums (Anachronien, Analepsen, Prolepsen, Erzähltempo und ‑frequenz) große Bedeutung zu. Dabei kommt insbesondere den chronologischen Angaben im Johannesevangelium eine „dramaturgische Funktion“518 zu. So stellt die johanneische Festchronologie und ‑topologie Jesu Wirken und Offenbaren gezielt in „semantische Horizonte“519. So wird die typologische Deutung des Todes Jesu chronologisch durchgeführt (vgl. die Zeitangaben in Joh 18,28 und Joh 19,14). Dabei zeigt sich: Die chronologischen Gestaltungsmittel und der temporale Rahmen sind konstitutiv für den Inhalt und die Wirkung des Johannesevangeliums. Das Johannesevangelium verfügt über zahlreiche sprachliche Mittel und Signale für die Hervorhebung und Unterscheidung sowie die Verschmelzung von Zeiten.520 Dabei liegt das Proprium der johanneischen Zeitbehandlung in der Zuordnung von Differenzierung und Zusammenschau der Zeiten. In Übereinstimmung mit weiten Teilen der neueren Forschung interpretiert Frey das Johannesevangelium „als eine programmatisch im Lichte der nachösterlichen Erkenntnis verfasste Anamnesis der Geschichte und der Worte Jesu“521. Mit Josef Blank hält er an der christologischen bzw. personalen Implikation der johanneischen Eschatologie fest: In der Person Jesu Christi „treffen die Zeiten zusammen, daher ist die Gegenwart der eschatologischen Heilsgüter christologisch aus der Präsenz des Erhöhten in seiner Gemeinde bzw. der Vergegenwärtigung des Erhöhten durch den Geist zu verstehen.“522 Präsentische und 516  Vgl. ebd. II, 116–129. Eine Analyse der Tempuskontraste im Johannesevangelium (vgl. „Retrospektive Tempusformen in prospektivem Kontext“; „Prospektive, Retrospektive und Präsens in bitemporalen Sätzen“; ebd. II, 130–146) belegt die hermeneutische Horizontverschmelzung, d. h. die nachösterliche Verschmelzung der Zeiten besonders, aber keineswegs nur in den Abschiedsreden des Johannesevangeliums. 517 Ebd. II, 151. 518  Ebd. II, 176; vgl. bes. die joh Passionschronologie. 519  Ebd. II, 178. 520 Vgl. ebd. II, 208–268. 521  Ebd. II, 223. 522 Ebd. II, 243. Vgl. J. Blank, Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg i. Br. 1964.

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futurische Eschatologie koinzidieren in der Person Jesu, sie schließen einander nicht aus. Im Gegenteil: Die präsentische bekräftigt und stimuliert die futurische Eschatologie.523 Die johanneische Verschmelzung der Zeiten, die am auffälligsten in der Abschiedsrede zu Tage tritt, ist an dem paradoxen Neben‑ und Ineinander von Pro‑ und Retrospektive, das nach sachlich-theologischer Interpretation ruft, erkennbar. Charakteristisch hierfür ist zudem die Verschmelzung der Standpunkte des Erzählers und Jesu bis in thematische und sprachliche Details, die das ganze Johannesevangelium durchzieht. Der hermeneutische Gewinn dieses Vorgehens des Evangelisten liegt darin, „die Geschichte Jesu in ihrer raum-zeitlichen Konkretheit festzuhalten und sie doch auszuweiten und fruchtbar zu machen für das Selbst‑ und Weltverständnis seiner Adressatengemeinde.“524

Die formallogisch paradoxen Aussagen in Joh 4,23 und 5,25 erklären sich aus der temporalen und sachlichen Doppelperspektive des Johannesevangeliums: In der Perspektive der Zeit Jesu bezieht sich die Teilaussage „Die Stunde kommt …“ auf die nachösterliche Zeit der Gemeinde und das „und sie ist jetzt (da)“ auf ihre proleptische Wirklichkeit in der Person Jesu und seinem Wirken. In der Perspektive der joh Adressaten bezieht sich „und jetzt sie ist (da)“ auf die pneumatisch qualifizierte Wirklichkeit der nachösterlichen Gemeinde und „Die Stunde kommt …“ auf den bleibenden, für die Glaubenden nicht aufgehobenen Verheißungscharakter des Evangeliums. Für die exegetisch vertiefenden Einzelanalysen der eschatologischen Aussagen im Corpus Johanneum setzt Frey beim Rezeptionshorizont der Adressaten an: Insbesondere aus Joh 21 wie 1–3 Joh gewinnt Frey diejenigen eschatologischen Themen, die den Adressaten der Briefe wie des Evangeliums bekannt gewesen sein müssen. Dazu gehört die Erwartung der Parusie Jesu nach Joh 21,22–23 (ἕως ἔρχομαι; vgl. 1 Kor 4,5; 11,26), die durch die Herausgeber des Evangeliums von ihrer ursprünglichen Terminierung (bis zum Tode des geliebten Jüngers) befreit und als nicht-terminierte Erwartung neu in Geltung gesetzt wird. Ein weiteres Moment ist die Erwartung des „Antichristen“ (1 Joh 2,18; 4,3), eines apokalyptischen Gegenspielers (vgl. Mk 13,2; 2 Thess 2; Offb 13). Sodann können – freilich nur mit äußerster Vorsicht – auch aus dem Corpus Evangelii vorjohanneische Traditionsstücke bzw. Kernlogien herausgefiltert werden, die Aufschluss geben über futurisch‑ wie präsentisch-eschatologische Aussagen, die den Adressaten des Johannesevangelium vertraut waren: Parusietraditionen (vgl. Joh 14,2–3.18.28; 16,16), Worte über die eschatologische Totenerweckung (Joh 5,25.28) wie über das Eingehen in die Basileia (Joh 3,5) und präsentische Heilszusagen an die Glaubenden (Joh 6,47; vgl. Joh 5,24). Diese Traditionsvielfalt wird  Ebd. II, 280.  Ebd. II, 261.

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im Johannesevangelium in einem Prozess der „Bejahung und Bekräftigung“ aufgenommen und „rekontextualisiert“.525 Mit der Abfolge: 2–3 Joh, 1 Joh, Johannesevangelium (alle gemeinsam vom gleichen Autor, dem Presbyteros; ohne Joh 21) rekonstruiert Frey eine Entwicklungslinie der johanneischen Schule, die die eschatologischen Befunde im Corpus Johanneum tragen soll. So sehr die im einzelnen angeführten Beobachtungen sich auch zu einer konsistenten Theorie der Entstehung der johanneischen Schriften (unterschiedliche christologische Positionen, besonders die Ablehnung der wahren Menschheit Christi, führen zu einer innerjohanneischen Spaltung, die sich in den johanneischen Schriften widerspiegelt) zusammenfügen mögen, eine zwingende traditionsgeschichtliche Erklärung und Zuordnung der johanneischen Schriften ergibt sich daraus noch nicht.526 Insbesondere die Bezüge zwischen Joh 1,1–18 und 1 Joh 1,1–4 und die angenommene Beziehung zwischen Joh 6,60–71, 1 Joh 2,18 ff und 2 Joh 7 lassen sich diskutieren. Auch die Deutung von 2 Joh 7 („Jesus Christus kommend im Fleisch“) auf die Parusieerwartung und damit verbunden die Annahme einer einheitlichen Gegnerfront in 1–3 Joh und auch im Johannesevangelium (vgl. Joh 6,60–71; 13,31–14,31) lässt noch Platz zu Rückfragen. Vielleicht ist der Sitz im Leben der johanneischen Schriften doch nicht so einheitlich, wie Frey annimmt. Die von Frey vertretene Interpretation der eschatologischen Aussagen in 1–3 Joh und im Johannesevangelium hängt nicht zwingend an dieser Chronologie der johanneischen Schriften. Gleichwohl kann kein Zweifel daran bestehen, dass gerade die futurisch-eschatologischen Aussagen in 1 Joh ein unverzichtbares Moment für die Diskussion der johanneischen Eschatologie insgesamt und ihres Sitzes im Leben darstellen. Besonders zu betonen ist die pointiert apokalyptische Deutung der durch die doketisierenden Gegner heraufgeführten Spaltung (vgl. 1 Joh 2,18– 19: ἐσχάτη ὥρα; vgl. ἐσχάτη ἡμέρα in Joh 11,24), die Parusie‑ (1 Joh 2,28) bzw. Gerichtserwartung (1 Joh 4,17) sowie die eschatologische Gemeindetradition in 1 Joh 3,1–2. Dabei stehen für Frey mit Recht die Heilsgewissheit und die Zukunftserwartung in 1 Joh gerade nicht in Konkurrenz zueinander. Die Abschiedsrede in Joh 13–17 bilden einen hermeneutischen Schlüssel für das Johannesevangelium, da sie die typisch johanneische Verschmelzung der Zeiten besonders deutlich erkennen lassen.527 Daher liegt auch bei Jörg Frey ein Schwer525 Ebd.

III, 44. sieht Jörg Frey auch selbst; vgl. ebd. III, 59. 527 Die literarische Spannung, dass 14,31 erst in 18,1 die organische Fortsetzung findet, löst Frey mit dem Hinweis darauf, dass die Herausgeber des Johannesevangeliums nach dem Tod des Evangelisten Redepartien des Evangelisten eingefügt hätten (vgl. ebd. III, 118). Das Modell der relecture, das besonders in den Arbeiten von J. Zumstein und A. Dettwiler eingeführt wurde, weist er als „Neuauflage der literarkritischen Ansätze mit abgemilderten Konturen“ (ebd. III, 117) zurück. Über diese Einschätzung, die sich auch bei U. Schnelle findet, lässt sich streiten. Das Paradigma relecture setzt wie die Auslegung von Frey einen Bruch mit der klassisch-johanneischen Literarkritik voraus und versucht, die – von Frey dem Evangelisten zugesprochene – Wachstumsgeschichte der johanneischen Texte methodisch und inhaltlich näher zu bestimmen. Dabei fällt 526 Dies

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

punkt auf der Analyse und Interpretation „der eschatologischen Verkündigung in den johanneischen Abschiedsreden“528, die vergleichsweise direkt in die Situation der Adressaten des Johannesevangeliums sprechen. Frey spricht in diesem Zusammenhang von einer „temporalen Stereoskopie“ und einer „programmatischen Verschmelzung der temporalen und sachlichen Horizonte der Zeit Jesu und der Zeit der Gemeinde“529. Bei der Auslegung der ersten Abschiedsrede Joh 13,31–14,31 weist Frey die bei Jürgen Becker dezidiert vorgetragene These, der Evangelist verwerfe die futurischeschatologische Aussage in Joh 14,2–3 zugunsten der präsentisch-eschatologischen Aussage in Joh 14,23530 überzeugend zurück. Erhellend ist schon der Verweis auf die temporale Doppelperspektive in Joh 13,31–32, die für das Ganze der Abschiedsrede bestimmend wird. So kann Frey zeigen, dass der in Joh 14,2–3 intonierte Parusiebezug in der ersten Abschiedsrede durchgehend aufrechterhalten wird. Die vielfach postulierte Identifikation von Ostern, Pfingsten und der Parusie im vierten Evangelium wird von Jörg Frey in seinen Einzelexegesen abgewiesen und durch eine „Zusammenschau bei gleichzeitiger Differenzierung“531 ersetzt. In Joh 16,4b–33 sind die Motive der Trauer bzw. der Bedrängnis und der Freude leitend: In dem Gleichnis von der gebärenden Frau in Joh 16,21–22 werden sie konzentriert zusammengefasst. Die ἐρχόμενα, die der Paraklet verkündigen wird (Joh 16,13), deutet Frey als „im eigentlichen Sinne eschatologische Ereignisse“532. Auch Joh 16,16–33 interpretiert er in dieser Linie als „eine spezifisch johanneische Form der Auseinandersetzung mit dem Problem der ‚Parusieverzögerung‘“533, die beides aufeinander bezieht, den „nachdrücklichen Hinweis auf die gegenwärtig schon gegebene Heilserfüllung“ und „die Hoffnung der Adressaten auf eine baldige Wende von der λύπη zur unangefochtenen χαρά, “534. So werden Joh 16,16.21–23a als eschatologische Prolepsen gedeutet. Auch die futurischeschatologische Aussage in Joh 17,24 nimmt die Vollendungshoffnung der joh Christen in johanneischer Sprache auf. Die Interpretationen der eschatologischen Aussagen in der Darstellung des öffentlichen Wirkens Jesu in Joh 3; 5 und 11 bestätigen die bisherige Auslegungslinie: In der Begegnung zwischen Jesus und Nikodemus535 in Joh 3 führt der Evangelist mit dem Leitwort „ewiges Leben“ „seine eigene soteriologisch-eschatologische die Aufmerksamkeit besonders auf die überraschend vielfältigen Wiederaufnahmen und Fortschreibungen typisch johanneischer Worte und Motive, die nach einer Erklärung verlangen. 528  Vgl. ebd. III, 102–239. 529  Ebd. III, 234. 530 In der Auslegung von Joh 14,23, der Einwohnung Jesu und des Vaters macht Frey vermittelt auch über Joh 1,14 die alttestamentlich-jüdische Schekhina‑ und Bundes-Tradition geltend. Vgl. auch Ders., God’s Dwelling on Earth (s. Anm. 319). 531  J. Frey, Eschatologie III (s. Anm. 38), 167. 532  Ebd. III, 199; vgl. 190–204. 533  Ebd. III, 209. 534  Ebd. III, 222. 535  Nikodemus wird bei J. Frey (zu Recht?) als Vertreter der Unglaubenden gedeutet.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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Terminologie im Munde Jesu ein“536. Die aus der synoptischen Jesusüberlieferung bekannte Wendung „Königsherrschaft Gottes“ wird hier in einer typisch johanneischen Denkbewegung (von Joh 3,3.5 zu 3,14–16) transformiert. Wie dem Begriff „Königsherrschaft Gottes“ in der synoptischen Jesusverkündigung so eignet auch der johanneischen Deutung des „ewigen Lebens“ die charakteristische Verbindung von gegenwärtigem und zukünftigem Heil (überhaupt entspricht die doppelzeitliche Perspektive der johanneischen Eschatologie den anderen urchristlichen Zeugnissen537). „Ewiges Leben“ meint die personale Relation und Partizipation an dem, der das Leben in sich selbst hat (vgl. Joh 5,26; und in Joh 3,15: ἐν αὐτῷ). Hier und besonders in Joh 5,19–30 wird der Primat der Christologie vor der Eschatologie offensichtlich: Der die Zeiten übergreifende Sohn Gottes, der Vollmachtsträger Gottes (vgl. Joh 5,17–18.19–23.26–27.30), steht in einer einzigartigen Beziehung zum Vater, die eben nicht nur funktional, sondern auch ontologisch verstanden wird.538 Von diesem Ausgangspunkt her sind die eschatologischen Aussagen in Joh 5,24–25 (präsentisch) und in 5,28–29 (futurisch) als Explikationen der christologischen Vollmacht Jesu zu interpretieren: Die Gegenwärtigkeit der Lebensmitteilung, ihre eschatologische Endgültigkeit und die Verheißung einer endzeitlichen Totenerweckung ergänzen und bestärken sich gegenseitig. Die Auslegung des Lazaruswunders zeigt, dass und wie dieses Kapitel Joh 5,19–30 narrativ entfaltet und sich direkt auf Joh 5,24–25 und 5,28–29 zurückbezieht.539 Die dortige Perspektive der Zuordnung von präsentischem und futurischem Heil wird auch in Joh 11 durchgehalten. Das Gespräch zwischen Jesus und Martha in 11,20–27, das die Gegenwart des Heils in der Person Jesu und das lebensvermittelnde Glaubensbekenntnis der Martha thematisiert, macht die in der Auferweckung des Lazarus zeichenhaft betonte Leiblichkeit des vollendeten Lebens nicht überflüssig. Schon in Joh 11,25–26 fließen präsentisch‑ (11,25a) und futurisch-eschatologische Aussagen (11,25b.26) zusammen. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die johanneische Eschatologie präsentische und futurische Aussagen theologisch kohärent zusammenführt. Diese Kohärenz bedarf weder einer literarkritischen Aufspaltung noch einer Reduktion auf eine einzige Aussagereihe.540

 Ebd. III, 261. ebd. III, 476–480. 538  Vgl. hierzu auch die Auslegung der absoluten ἐγώ εἰμι-Worte Jesu ebd. III, 346–351.445– 448.486 f. 539  Vgl. ebd. III, 401–462. 540  Vgl. in diesem Sinne auch U. Schnelle, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 148 f: „Die bewußt gestaltete nachösterliche Erzählperspektive und der das Kommende ansagende Paraklet (vgl. Joh 16,13b) unterstreichen die sorgfältige Reflexion des Evangelisten über die Situation seiner Gemeinde in der Zeit. Er strebt nicht eine Entgeschichtlichung des Glaubens an, sondern ein Verstehen der verschiedenen sachlichen, räumlichen und zeitlichen Ebenen des Christusgeschehens.“ Ähnlich auch: K. Niederwimmer, Eschatologie im Corpus Johanneum, NT 39 (1997), 105–116. 536

537 Vgl.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

4.6.3  Präexistenz Jesu Christi Das johanneische Zeitverständnis wäre erheblich unterbelichtet, würden die Präexistenzaussagen in Joh 1,1 f.15.30; 6,62; 8,58; 17,5.24 ausgeblendet: Friederike Kunath hat diese anspruchsvolle exegetisch-theologische Aufgabe aufgearbeitet.541 Die Herausforderung besteht in einem vielstimmigen Forschungsstand, in der Textauslegung selbst sowie in den Vorbehalten gegenüber einer hohen Christologie insgesamt und der Präexistenz-Christologie insbesondere: Gehören die einschlägigen johanneischen Aussagen zu den zentralen Kategorien der johanneischen Theologie („umfassende christologische Deutungsmatrix des Johannesevangeliums“542), zu ihrem Hintergrund ohne eigenständiges Gewicht oder sind diese als Aussagen über eine Präexistenz Jesu Christi überhaupt falsch verstanden?543 Widerspricht die Präexistenz-Auslegung den johanneischen Aussagen über die wahre Menschheit Jesu? Ist eine wie auch immer interpretierte Präexistenz Jesu mit dem modernen Weltbild nicht grundsätzlich unvereinbar? Sind die einschlägigen Passagen ontologisch oder funktional zu deuten? Werden spätere altkirchliche Bekenntnisse in die johanneischen Texte eingetragen? Lösen Präexistenz-Auslegungen den biblischen Monotheismus auf ? Sind die für die Präexistenz Jesu Christi herangezogenen Texte im Johannesevangelium (und im Neuen Testament insgesamt) als Endpunkt einer theologiegeschichtlichen Entwicklung zu verstehen, die sich von der ‚einfachen‘ Verkündigung Jesu schrittweise immer weiter entfernt hat? Für die Auswahl der zu untersuchenden Johannestexte sowie ihre Auslegung legt Kunath bewusst kein inhaltlich vorgegebenes Verständnis von Präexistenz, sondern ein sprachliches Kriterium zugrunde: „Der mit ‚Präexistenz Jesu‘ bezeichnete Untersuchungsgegenstand besteht in sieben Sätzen des Johannesevangeliums, die eine gemeinsame syntaktisch-semantische Struktur aufweisen. Unter Verwendung eines Lexems mit der temporalen Bedeutung ‚war‘ wird in ihnen eine Aussage über das Sein Jesu gemacht oder dieses Sein in einen anderen Verbalinhalt impliziert. Diese Sätze lassen sich somit auf die Basissätze der Art ‚Jesus existierte vor …‘ vereinfachen.“544 541  F. Kunath, Präexistenz (s. Anm. 171). Vgl. Dies., Jesus’ Preexistence and the Temporal Configuration of the Gospel of John, EC 8 (2017), 30–47; J. Frey / ​F. Kunath (Hgg.), Perspektiven zur Präexistenz im Frühjudentum und frühen Christentum (WUNT), Tübingen 2021, hier: Dies., Präexistenz, Schöpfung und die „Stunde“ Jesu. Ein Beitrag zur Christologie des Johannesevangeliums. 542  F. Kunath, Präexistenz (s. Anm. 171), 49. 543  Zur Forschungsgeschichte (vgl. ebd. 10–41) gehört maßgeblich das von Rudolf Bultmann vertretene Entmythologisierungskonzept: „Die Präexistenzvorstellung drücke bei Johannes aus, dass in Jesus Gott, der ganz Andere begegne. Komplementär dazu sei auch die Inkarnation für Johannes nicht wirklich der Eingang eines Gottwesens in menschliches Fleisch, sondern gemeint sei, dass in der menschlichen Person Jesus von Nazareth die Offenbarung des Vaters durch den Sohn stattfindet. Letztlich bezeichnen Präexistenz und Inkarnation nur die Offenbarung selbst“ (ebd. 24). 544  Ebd. 41 f.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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(1) Die Prologverse Joh 1,14–17 sind so eng aufeinander bezogen, dass „V. 16 f. als Fortführung und Begründung der Zeugnisse in V. 14 und 15 zu sehen“545 sind. Präzise herausgearbeitet werden für Joh 1,14 die biblischen Bezugstexte (Weisheits‑ und Exodusmotivik: Sir 24,8; Ex 33,18–23; auch Jes 40,5; 42,8; 48,11; 60,1; vgl. Joh 12,41 und Jes 6,10) und ihre christologisch interessierte Rezeption: „Die Offenbarung Gottes, die im Buch Exodus gerade die Offenbarung vor Mose und insbesondere im Gesetz ist, wird auf Jesus Christus hingeordnet: in ihm hat der göttliche Logos Wohnung genommen. Auch die Doxaschau wird der Jesusgeschichte (‚wir‘ sahen seine Doxa) eingeschrieben.“546

Das Zeugnis Johannes des Täfers in 1,15 wird dann „als Bestätigung des Bekenntnisses“547 in Joh 1,14 interpretiert. Zu dem „rätselhaften“548 Täuferwort in Joh 1,15e– g: „Der nach mir Kommende hat vor mir gewirkt, denn er war eher als ich!“549 konstatiert F. Kunath: „Das Täuferwort lässt sich in drei kategorial unterscheidbaren Paradigmen verstehen, denen der Zeit, der Wirksamkeit und des Ranges. Diese sind eng miteinander verwoben und beleuchten sich gegenseitig.“550 Hieraus auf eine johanneische Polemik gegen Täuferanhänger zu schließen, weist sie zurück.551 (2) Das zweite Täuferwort zur Präexistenz Jesu in Joh 1,30 („Dieser ist es, über den ich sagte: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir aufgetreten ist, denn er existierte eher als ich“552) schließt sehr eng an das erste Wort in Joh 1,15 an. Auch hier ist die Strukturanalyse des Mikrokontextes Joh 1,29–34 und des weiteren Kontextes Joh 1,19–51 sehr erhellend. Das „Lammwort“ in Joh 1,29 wird als „unmittelbarer Verstehenshintergrund“ für Joh 1,15 interpretiert.553 Joh 1,29 selbst nehme variierend Bezug auf Jes 53: In der Bezeichnung Jesu als „das Lamm Gottes“ in Joh 1,29 „liegt ein Sinnüberschuss, dessen genauer Gehalt unklar bleibt, während der Lamm-Vergleich in Jes 53,7 unmittelbar zur Etablierung von Sinn beiträgt.“554 Ist diese Interpretation von F. Kunath nicht zu vorsichtig? Unmittelbar vorher hält Kunath fest, dass Joh 1,29 zwar nicht als unmittelbare Todesaussage zu verstehen sei, „in ihr aber dennoch legitimerweise ein Signal zu erblicken [sei], das bei entsprechend informierten RezipientInnen die Erwartung auf ein mögliches Leidens‑ und Todesschicksal aufbaut.“555  Ebd. 50. 71. 547  Ebd. 548 Ebd. 92. 549 Übersetzung F. Kunath, ebd. 373. 550 Ebd. 92; vgl. 106 f. 551 Vgl. ebd. 96–104. 552  Ebd. 373. F. Kunath übersetzt das gleiche griechische Verb in Joh 1,15g und 1,30d ohne Begründung unterschiedlich. 553  Vgl. ebd. 116–128. 554  Ebd. 128. 555 Ebd. 128; vgl. ebd. 129. Vgl. weiterführend: R. Bieringer, Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt (Joh 1,29). Eine kontextorientierte und redaktionsgeschichtliche Untersuchung auf dem Hintergrund der Passatradition als Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: G. Van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel (s. Anm. 76), 199–232; 545

546 Ebd.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Insgesamt werde bei Johannes die Zeugenrolle des Täufers gegenüber den Synoptikern ausgebaut. In Joh 1,34 werde auf Jes 42,1 Bezug genommen: „… für die mit diesem Text vertrauten LeserInnen ist es nachvollziehbar, dass Johannes aus der Vision der Geistverleihung auf das ‚Erwähltsein‘ Jesu schließen kann.“556 Mit Blick auf die Jüngerberufungen in Joh 1,35–51 gelingt es Kunath sehr gut, die johanneische Komposition dieser Szenen und ihre spezifischen Strukturanalogien zu den Verhältnisaussagen zwischen Täufer und Jesus Christus herauszuarbeiten: „So wie Johannes er‑ und bekennt, dass sein Nachfolger schon lange präsent ist und somit sein eigenes Wirken immer schon unter der geheimnisvollen Gegenwart des Kommenden zu sehen ist, so ähnlich zeigt Jesus nun Nathanael auf, dass er mit ihm schon lange, ja schon vor dessen Begegnung mit Philippus, …, in Beziehung stand. … Die Nathanaelszene kann als Ausführung und Fortsetzung der Johannesszene begriffen werden, wobei der Schlüssel dafür, wie diese Ausführung zu denken ist, m. E. im Israel-Bezug beider Szenen liegt.“557

Daraus ergeben sich grundsätzliche Folgen für die Erzählintention bzw. den Plot des Johannesevangeliums insgesamt: „Jesus kommt als einer, der schon vorher in verborgener Weise präsent ist; er lässt sich (nur!) durch menschliche Vermittler finden und ist doch schon vor diesen im Leben der Adressaten präsent  – aber genau diese geheimnisvolle Präsenz wird erst in der Erkenntnis, die sich der Vermittlung verdankt, erkannt.“558 Kunath bezieht sich hierzu zustimmend auf die Studie von Kasper B. Larsen559, der herausgearbeitet hat, dass der Hauptplot des Johannesevangelium nicht allein in der Sendung Jesu besteht, sondern ein epistemologischer ist: der „den Konflikt von Glaube und Unglaube thematisierende Plot, in dem die Identität Jesu zur Deutung stehe“560. Die Präexistenzaussagen in Joh 1,15 und 1,30 dienen dieser christologisch-epistemologischen Strategie: „In V. 30 wird Jesus von Johannes als die erwartete Heilsfigur identifiziert, gleichzeitig aber mit dem Schleier des Geheimnisvollen und Rätselhaften umgeben, weil die Identifikation durch das Zuschreiben einer paradoxen Eigenschaft (er kommt als Präsenter bzw. er ist präsent, bevor er in Erscheinung tritt) geschieht. ‚Präexistenz Christi‘ meint also dieses nicht aufzulösende Wechselspiel zwischen Klärung und Verhüllung der Hauptfigur Jesus, die bei einem engagierten Leser einen niemals durch definitorische Klarheit abzuschließenden Sinnfindungsprozess auslöst.“561

(3) In der literarisch und theologisch konsistenten Brotrede Joh 6 sieht Kunath mit guten Gründen den Vers 6,27 als Schlüssel‑ bzw. Leitvers an. Sie deutet die Ankündigung Jesu vom Hinaufgehen „des Menschensohnes dorthin, wo er zuvor R. Zimmermann, Jesus – the Lamb of God (John 1:29 and 1:36). Metaphorical Christology in the Fourth Gospel, in: R. A. Culpepper / ​J. Frey (Hgg.), Opening (s. Anm. 174), 79–96; R. Bergmeier, Beobachtungen zum johanneischen Passa, MThZ 69 (2018), 28–41. 556  F. Kunath, Präexistenz (s. Anm. 171), 144. 557  Ebd. 158. 558 Ebd. 160. 559  Vgl. K. B.  Larsen, Recognizing the Stranger (s. Anm. 234). 560  F. Kunath, Präsexistenz (s. Anm. 171), 164; vgl. Joh 20,31. 561  Ebd. 176.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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war“ (Joh 6,62) als typisch johanneische Methode des zunächst „Überraschenden, Unerwarteten und auch Verunklarenden“562: „Wenn nun der Aufstieg Jesu dahin, ‚wo er zuvor war‘, die Zeit des Parakleten beginnen lässt, der zum Verstehen der Worte Jesu anleitet, dann liegt in V. 62 tatsächlich eine Antwort vor, die die Möglichkeit des Verstehens der ‚harten‘ Rede verheißt. Diese Verheißung ist allerdings verhüllt: Die Jünger in der Szene müssten sich von dem andeutenden Versprechen eines noch kommenden, neuen Geschehens am Menschensohn locken und zum Dableiben bringen lassen.“563

Für diese Interpretation von Vers 62 sprechen auch die Geist-Aussagen in Vers 63. Die Präexistenzaussage V. 62c „variiert somit nicht nur die Rede vom Himmel und vom Vater als Ursprungsort des Abstiegs, sondern vertieft diese, indem der zurückliegende ‚Vergangenheitsort‘ plötzlich zum vorausliegenden ‚Zukunftsort‘ wird.“564 (4) Im Zusammenhang von Joh 8,48–59 geht es erneut um die Identität Jesu, die diesmal in seinem Verhältnis zu Abraham profiliert wird. Die missverstehende bzw. kurzschlüssige Rückfrage „der Juden“ in Joh 8,57 sei – so Kunath – von Seiten der Gesprächspartner selbst nicht ironisch gemeint. Für die mit dem Johannesevangelium vertrauten Leser liegt in Joh 8,57 f nach Auffassung des Verfassers sehr wohl ein ironisches Signal vor, das den Verstehens‑ und Erkenntnisprozess (analog zu vielen anderen johanneischen Begegnungssequenzen; vgl. nur Joh 4) vorantreiben soll. Zutreffend deutet Kunath Joh 8,58: „Jesus behauptet von sich die Zeiten übergreifende Präsenz. Am stärksten bringt dabei m. E. das an die Selbstoffenbarung Jhwhs erinnernde ‚Ich bin‘ die göttliche Dimension der Präsenz und damit der Person Jesu ein, der gegenüber ein Verständnis in Kategorien des Menschlichen als unzureichend markiert wird.“565 Abraham steht so nicht primär in Konkurrenz zu Jesus (Konkurrenzparadigma: Jesus ist größer als Abraham), sondern in Beziehung zu ihm (Beziehungsparadigma: „ehe Abraham wurde, bin ich“). (5) Die beiden Präexistenzaussagen im Abschiedsgebet Jesu in Joh 17,5.24 sind zeitlich verortet: „Vater, gekommen ist die Stunde“ (vgl. Joh 2,4; 7,30; 8,20; 12,23.27; 13,1): „Kennzeichen der Stunde ist von diesen Vorverweisen her die Verbindung hoheitlicher und schmachvoller Aspekte (soteriologische Gabe, Verherrlichtwerden, Hingang zum Vater vs. Ende des freien Wirkens, Sterben), wobei erstere die Interpretamente für letztere darstellen, also eine bestimmte Verstehensrichtung aufgebaut wird: Passion und Sterben Jesu werden ‚als‘ Freigabe des Heils, souveränes Handeln Jesu und vor allem als verherrlichendes Handeln des Vaters an Jesus gedeutet.“566

Mit der gekommenen Stunde (vgl. Joh 17,5) „wird die Welt ‚rückwärts‘ überholt, d. h. hier geschieht Schöpfung. Joh 17,5 versetzt den Leser nach Joh 1,1 f. zurück, an den Anfang, ‚bevor die Welt war‘. Johannes benutzt den  Ebd. 216.  Ebd. 219. 564  Ebd. 239. 565  Ebd. 272. 566  Ebd. 287. 562 563

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Sprung in die Vorweltlichkeit, an den Anfang, um das Geschehen der ‚Stunde‘ als einen absoluten Neuanfang, im Lichte der Schöpfungstätigkeit Jesu zu deuten.“567

Joh 17,24 wird zutreffend als „Spitzenaussage des Johannesevangeliums“ gedeutet: „Es ist die letzte Aussage des Johannesevangeliums über die doxa Jesu, die in der vorweltlichen Liebe des Vaters ihren auch sachlich letzten, unhintergehbaren Grund findet.“568 In ihrer Auslegung von Joh 17 betont Kunath dann mehrfach eine inhaltliche Spannung, ja einen inhaltlichen Widerspruch zu Joh 1,1–18: Betone der Prolog die Verbindung von Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft, so werde dieser Zusammenhang in Joh 17 aufgrund eines negativen Kosmos-Begriffs aufgegeben.569 Diese Deutung widerspricht jedoch der von Kunath selbst herausgearbeiteten „rekursiven Lektüre“, zu der der Evangelist anleitet,570 und ihrer eigenen Auslegung von Joh 1,1 f. (6) Die Präexistenzaussagen in Joh 1,1 f interpretiert Kunath im Nachgang zu den anderen Einzelexegesen, weil der Vers sprachlich eine Sonderstellung einnehme und erst in einer „zweiten Lektüre“ seine Deutungsoffenheit verliere („rekursive Rezeptionsstruktur des Präexistenzmotivs“571). Kunath deutet Joh 1,1 f. einerseits als Lektürebasis für die im Johannesevangelium folgenden Präexistenzaussagen, andererseits werde Joh 1,1 f „auf der Basis der anderen Präexistenzstellen neu gelesen“572. Diese doppelte Leserichtung passt zum metareflexiven Charakter des Prologs, der Rückblick der Lektüre auf die Schrift und Vorgriff der Schrift auf die Lektüre zugleich ist. In Joh 1,1 f. offenbart der Erzähler „den Rezipienten sein umfassendes Wissen und seinen Anspruch. Er behauptet nicht weniger, als in das unergründliche Zusammensein des Logos mit Gott schauen zu können. Es wird sich zeigen, dass dies das Geheimnis seines Protagonisten, Jesus, ist.“573 Zu Recht betont sie abschließend das Zusammenspiel von Arché und Telos: „Der Sterbende, zu Verherrlichende, zu Erhöhende, Auferstehende, den Geist Sendende ist der Referenzpunkt von Joh 1,1–5.“574 Die Studie von F. Kunath leistet eine luzide Neubewertung und Rehabilitation der Präexistenzaussagen im Johannesevangelium im Blick auf die Forschungsgeschichte zu diesem christologischen Motiv. Darüber hinaus rückt die narrative Strategie des Evangelisten in den Blick, die er mit den im Evangelium pointiert verorteten Präexistenzaussagen und der Deutung von Zeit insgesamt575 verfolgt.  Ebd. 296. 302. 569 Vgl. ebd. 290–294.303–307.308–311. 570 Vgl. hierzu 3.5.3. 571 Ebd. 44. „Wie die Untersuchung ergeben wird, ist Joh 1,1 f. ein höchst deutungsoffener Text, der im Grunde erst von Joh 17,5.24 her zu einer eindeutig vorweltlichen Präexistenzaussage wird. Von diesen letzten Präexistenzstellen führt nicht zufällig der Weg zurück zum Beginn des Evangeliums“ (ebd.). 572  Ebd. 318. 573 Ebd. 350. 574  Ebd. 362. 575 Vgl hierzu auch R. Zimmermann, Eschatology and Time in the Gospel of John, in: J. Lieu / ​ M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 292–310 (Lit.). 567

568 Ebd.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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Zugleich begründet die Präexistenz Jesu die im Johannesevangelium ausgearbeitete Zeitsouveränität Jesu (vgl. 3.8.2). 4.7  Die philosophische Kompetenz des Johannesevangeliums In der Johannesforschung sind Schnittstellen zur und die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie verschiedentlich wahrgenommen und angesprochen worden. Dies gilt insbesondere für die Prologexegese.576 Darüber hinaus hat das Johannesevangelium selbst einen philosophischen Anspruch bzw. einen philosophischen Tiefgang.577 Hierzu hat Udo Schnelle in einem programmatischen Aufsatz Stellung bezogen:578 Er weist überzeugend darauf hin, dass die schnelle Verbreitung des frühen Christentums mit den beiden führenden Theologen Paulus und Johannes und allen anderen neutestamentlichen Schriften nicht möglich gewesen ist ohne die denkerische Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Bildungstraditionen ihrer Umwelt: „Ein Vergleich mit philosophisch-theologischen Denkern des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. wie Seneca, Plutarch, Dio von Prusa oder Epiktet zeigt, dass insbesondere Paulus und Johannes ihnen gegenüber auch in denkerischer Hinsicht in nichts zurückstehen. Zwar waren neutestamentliche Autoren wie Paulus oder Johannes zweifellos nach antiken Kategorien keine Philosophen, aber ihre Theologie weist eine denkerische Kraft auf. Sie zeigt sich vor allem in der Umsetzung von religiösen Erfahrungen und Überzeugungen, die Systemqualität gewinnen mussten, bevor sie eine solche Wirkungsgeschichte entwickeln konnten.“579

Exemplarisch belegt Schnelle diese These für die johanneischen Schriften an den Themen: Logos, Wahrheit und den Gottesdefinitionen: Licht, Liebe und Geist. Seine Schlussfolgerung ist konsequent: „Die philosophische Interpretation des Johannesevangeliums ist nicht nur eine Ergänzung der bisherigen Methoden und Fragestellungen, sondern sie verändert unsere Wahrnehmung der Texte: Sie sind nicht nur religiöse, sondern auch denkerische Leistungen, die Menschen damals wie heute unmittelbar ansprechen.“580  Vgl. hierzu mehrere Beiträge in dem Sammelband: J. G. van der Watt u. a. (Hgg.), The Prologue of the Gospel of John (s. Anm. 130). 577  Vgl. G. Keil, Das Johannesevangelium. Ein philosophischer und theologischer Kommentar, Göttingen 1996 (vgl. hierzu die kritische Rezension von W. Wiefel, ThLZ 123 [1998], 509 f ); K. M. Woschitz, Verborgenheit in der Erscheinung (s. Anm. 94), 73–139; J. Ringleben, Das philosophische Evangelium. Theologische Auslegung des Johannesevangeliums im Horizont des Sprachdenkens, HUTh 64, Tübingen 2014 (unveränderte Studienausgabe 2017; vgl. hierzu die ausführliche Besprechung von E. Lohse, ThR 80 (2015), 495–509. J. Ringleben konstatiert: „Das Johannesevangelium ist ein Sprachkunstwerk ersten Ranges“ (Vorwort). Seine Kommentierung ist maßgeblich orientiert am Prolog (vgl. ebd. 9–129) und innerhalb des Prologs an Joh 1,1a–c. E. Lohse deutet vornehm eine Überbetonung der sprachphilosophischen Perspektive in der Auslegung von Ringleben an. Dies zeige sich z. B. bei der geringen Gewichtung der johanneischen Semeia durch Ringleben. 578  U. Schnelle, Philosophische Interpretation (s. Anm. 283). 579  Ebd. 173. 580  Ebd. 187. 576

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Troels Engberg-Pedersen geht einen erheblichen Schritt weiter und plädiert für einen stoischen Interpretationsrahmen des Johannesevangeliums581: „… a fair number of considerations can be adduced to show that reading John on logos and pneuma within a Stoic framework helps to ease the understanding of his texts considerably.“582 Die notwendige, kritische Auseinandersetzung mit dieser These kann hier nicht geführt werden.583 4.8  Spiritualität, Mystagogie und Mystik Zur Bestimmung der besonderen Eigenart des Johannesevangeliums wird gerne auf die Charakterisierung des Johannesevangeliums als „geistliches, pneumatisches Evangelium“ bei Klemens von Alexandrien verwiesen. Das Echo und die Diskussion hierzu lässt sich in drei Fragestellungen konkret verfolgen584 (1) Gibt es eine spezifische Spiritualität, die das Johannesevangelium bezeugt und für die es wirbt? (2) Sind die Glaubenswege, die das Johannesevangelium erzählt und bezeugt, als mystagogische Glaubenswege zutreffend beschrieben? (3) Ist das Johannesevangelium ein Zeugnis für eine mystische Glaubenserfahrung? 4.8.1 Spiritualität Die Theologie und Spiritualität des vierten Evangeliums entwickelt sich nach Sandra M. Schneiders585 um die beiden Aspekte der in der Offenbarung Jesu Christi gründenden Beziehung zwischen ihm und seinen Jüngern einerseits und der Fortdauer dieser Jünger-Christus-Beziehung in der Zeit nach Tod und Auferstehung 581 T. Engberg-Pedersen, LOGOS and PNEUMA in the Fourth Gospel, in: D. E. Aune / ​ F. Brenk (Hgg.), Greco-Roman Culture and the New Testament. Studies Commemorating the Centennial of the Pontifical Biblical Institute, NT.S 143, Leiden 2012, 27–48; Ders., John and Philosophy. A New Reading of the Fourth Gospel, Oxford 2017; vgl. hierzu die ausführliche Diskussion von: H. W.  Attridge / ​J.  Frey / ​J. M.  Lieu / ​M . M.  Mitchell, Troels EngbergPedersen, John and Philosophy: A New Reading of the Fourth Gospel, Oxford 2017, EC 10 (2019), 219–260. Vgl. auch: T. Rasimus / ​I. Dunderberg / ​T. Engbert-Pedersen (Hgg.), Stoicism in Early Christianity, Grand Rapids 2010; G. Buch-Hansen, „It is the Spirit that Gives Life“. A Stoic Understanding of Pneuma in John’s Gospel, BZNW 173, Berlin 2010. 582  T. Engberg-Pedersen, LOGOS (s. Anm. 581), 47. 583 Vgl. hierzu u. a. G. Buch-Hansen, The Johannine Literature in a Greek Context, in: J. Lieu / ​ M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Literature (s. Anm. 1), 138–154 (Lit.) 584 Vgl. hierzu weiterführend auch: K. M.  Woschitz, Verborgenheit in der Erscheinung (s. Anm. 94). 585 S. M. Schneiders, Written That You May Believe (s. Anm. 118); vgl. Dies., Scripture and Spirituality, in: B. McGinn / ​J. Meyendorff (Hgg.), Christian Spirituality. Origins to the Twelfth Century (World Spirituality. An Encyclopedic History of the Religious Quest), New York 1985, 1–20; Dies., Biblical Spirituality, Interpretation 70 (2016), 417–430. Vgl. auch F. F. Segovia, Johannine Spirituality, in: The Westminster Dictionary of Christian Spirituality, G. S. Wakefield (Hg.), Philadelphia 1983, 230–232; B. Barnhart, The Good Wine. Reading John from the Center, New York 1993; M. L.  Coloe, Dwelling in the Household of God. Johannine Ecclesiology and Spirituality, Collegeville 2006.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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Jesu andererseits. Grundlegend wird die Offenbarung Gottes in Jesus Christus als „self-revelation“, „self-communication, self-opening, self-gift“ verstanden, die niemals abgeschlossen ist, weil sie keine Einbahnstraße, sondern ein wechselseitiger Austausch ist, der auf eine immer tiefere Teilhabe am Leben und an der Liebe Gottes zielt. Die johanneischen Großsequenzen, die diese nachösterlichen Christusbegegnungen in Szene setzen, verdanken sich einer jahrelangen Meditation und Betrachtung der Worte und Werke Jesu durch den Evangelisten. Voraussetzung solcher nachösterlicher Christusbegegnungen ist die Auferstehung Jesu: Während die Passion und der Tod Jesu bei Johannes als Verherrlichung und Rückkehr Jesu zu seinem Vater gedeutet werden, handeln die johanneischen Ostererzählungen von der die Gemeinschaft der Kirche begründenden und belebenden Rückkehr des Auferstandenen und Erhöhten zu den Seinen – vermittels des Wirkens des Parakleten, auf dessen Lehren und Autorität sich der Evangelist beruft.586 Der Ansatzpunkt ihrer Auslegung ist die zutreffende Annahme, dass sich das Johannesevangelium selbst einer bestimmten spirituellen Glaubenserfahrung verdankt und auf diese verweist. Diese Berücksichtigung der spirituellen Dimensionen in bzw. ‚hinter‘ dem Johannesevangelium lässt sich durchaus mit den historisch-kritischen Methodenschritten vereinbaren, ja sie ist geradezu vom Text selbst her gefordert. Dabei wird der Glaube der Glaubensgemeinschaft, aus der heraus das Johannesevangelium entstanden ist und in der Christen das Johannesevangelium damals wie heute lesen, für die hermeneutische Auslegungsaufgabe ernst genommen.587 Schneiders knüpft dazu ausdrücklich an die patristische und mittelalterliche Schriftauslegung an und verbindet sie interdisziplinär mit der historischen Kritik, der Literarkritik, der theologischen Analyse, der Ideologiekritik und der feministischen Interpretation. Die klassische Schriftauslegung im Christentum bis zur Aufklärung zielte auf eine „personal and communal transformation“588, die moderne historisch-kritische Forschung hingegen auf historische Information, was faktisch zu einer „increasing religious and theological sterility of academic work on the Bible“589 führte. Diesem diagnostizierten Verlust der persönlichen und gemeinschaftlichen spirituellen Begegnung und des existentiellen Vollzugs der biblischen Botschaft möchte Schneiders mit ihrem „biblical spirituality approach“ entgegenwirken.590 586  Vgl. die Überschrift bei J. Frey: „The Spirit as the Author of John’s Memory of Jesus“, in: Ders., Theology and History (s. Anm. 16), 146. 587 Vgl. ebd. 1–3.174 f. 588  S. M. Schneiders, Written That You May Believe (s. Anm. 118), 16. 589  Ebd. 20. 590  Vgl. weiterführend auch (mit Schwerpunkt bei Paulus): J. Herzer, Evangelische Spiritualität im Neuen Testament, in: P. Zimmerling (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität. Band 2: Theologie, Göttingen 2018, 335–357 (Lit.). Vgl. zum Spiritualitätsdiskurs insgesamt die grundlegende Studie von C. Dahlgrün, Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott, Berlin 22018. Sie definiert Spiritualität wie folgt: „Spiritualität ist die von Gott auf dieser Welt hervorgerufene liebende Beziehung des Menschen zu Gott und Welt, in der der Mensch immer von neuem sein Leben gestaltet und die er nachdenkend verantwortet“ (ebd. 108).

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

4.8.2 Mystagogie Das Johannesevangelium beschreibt und wirbt für individuelle, mystagogisch charakterisierte Glaubenswege in die und in der Begegnung mit und Beziehung zu Jesus.591 Diese Glaubenswege führen über Kurzschlüsse und Missverständnisse hinweg schrittweise zum christologischen Glaubensbekenntnis, das unterschiedlich formuliert werden kann, ohne in der Sache widersprüchlich zu sein. In den johanneischen Begegnungsgeschichten ist es Jesus selbst, der die Personen vom Nichtwissen und Nichtkennen zum Glauben führt. Diese erzählten Glaubenswege592 sind transparent für die Glaubenswege aller Adressaten des Johannesevangeliums: In den gelingenden, in den offenen und in den scheiternden Glaubenswegen sollen und können die Hörer und Hörerinnen des Johannesevangeliums sich selbst erkennen und ihren eigenen Glaubensweg spiegeln. Annegret Meyer hat im Ausgang von Joh 1,35–51 das Thema Mystagogie im Johannesevangelium vertieft reflektiert und weitergeführt.593 4.8.3 Mystik Der Begriff Mystik leidet unter seinem notorisch unscharfen Gebrauch im Alltag und im akademischen Diskurs. Diese Einschätzung trifft auch auf die Verwendung dieses Begriffes für biblische Texte bzw. Aussagen zu. Ergibt sich daraus die Option, ganz auf ihn zu verzichten? Der Verfasser hat einen Diskussionsbeitrag zu diesem Thema vorgelegt, der den Begriff Mystik verwendet.594 Ziel ist es dabei, eine Dimension der im Johannesevangelium angesprochenen Glaubens591  Vgl. hierzu K. Scholtissek, Mystagogische Christologie im Johannesevangelium? Eine Spurensuche, Gul 68 (1995), 412–426; Ders., „Rabbi, wo wohnst du?“ (Joh 1,38). Zur mystagogischen Christologie im Johannesevangelium (am Beispiel der Jüngerberufungen Joh 1,35– 51), BiLi 68 (1995), 223–231. 592  Th. Popp betont durchweg den mystagogischen Glaubensprozess bzw. ‑weg, für den das Johannesevangelium wirbt; vgl. Ders., Grammatik des Geistes (s. Anm. 22), 84.148.​179 f.​254 f.​ 470 f.482–487.492 f; vgl. die Ausführungen zu Nikodemus ebd. 109–113.136.169 Anm. 419.​254 f.​ 482–484 und zu Petrus ebd. 433 f.482–484. 593  A. Meyer, Kommt und seht. Mystagogie im Johannesevangelium ausgehend von Joh 1,35– 51, FzB 103, Würzburg 2005 (vgl. hier u. a.: „Glaubensbewegung mit Leib und Sinnen: Bewegung und Wahrnehmung als Medien gott-menschlicher Begegnung und Kommunikation: 144–308). 594  Vgl. „Mystik im Johannesevangelium“, S. 459–480 in diesem Band und K. Scholtissek, Mystik im Neuen Testament? Exegetisch-theologische Bausteine (I–II), GuL 75 (2002), 281– 292.363–382. Vgl. auch die folgenden Beiträge: J. J. Kanagaraj, ‚Mysticism‘ in the Gospel of John. An Inquiry into ist Background, JSNT.S 158, Sheffield 1998; A. D.  DeConick, Seek to see him. Ascent and Vision Mysticism in the Gospel of Thomas, SVigChr 33, Leiden 1996; Dies., Voices of the Mystics. Early Christian Discourse in the Gospels of John and Thomas and Other Ancient Literature, JSNT.S 157, Sheffield 2001; J. Draper, Temple, Tabernacle and Mystical Experience in John, Neotest. 31 (1997), 263–288; K. M.  Woschitz, Verborgenheit in der Erscheinung (s. Anm. 94), 235–253.307–422; Gott erfahren. Mystik in Christentum, Judentum und Islam, in: Welt und Umwelt der Bibel 81 (2016); hier: 22–23: J. Kügler, Ist das Johannesevangelium mystisch? Das „geistliche“ Evangelium. Die These von B. Neuenschwander, Mystik im Johannesevangelium. Eine hermeneutische Untersuchung aufgrund der Auseinandersetzung mit Zen-Meister Hisamatsu Shin’ichi, BIS 31, Leiden 1998, führt zu einer Auflösung des biblischen Gottesbildes.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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erfahrung auszuleuchten und zu benennen. Als Basis für eine Verständigung zur Verwendung des Begriffs Mystik kann die von Hans-Christoph Meier für seine Paulusstudie zugrunde gelegte Definition gelten: „Mystik ist eine Form von Religiosität, in deren Zentrum die unmittelbare Erfahrung göttlicher Wirklichkeit steht. Diese Erfahrung, die das alltägliche Bewusstsein und die Erkenntnis der Vernunft übersteigt, ist zugleich Erfahrung einer engen Verbundenheit mit der göttlichen Wirklichkeit.“595

Relevanz für einen Mystikdiskurs zum Johannesevangelium haben besonders die Worte Jesu in der Abschiedsrede, in denen er von einer neuen österlichen Gemeinschaft mit ihm (und dem Vater) spricht, die ihr Maß hat an der Gemeinschaft zwischen ihm und dem Vater (vgl. Joh 14,10–11). Folgende reziproke Einwohnungsaussagen, die tief in der theologischen Linienführung des Evangelisten verankert sind, beschreiben die Beziehung zwischen dem auferweckten Jesus und den Glaubenden: Joh 14,20: „An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich im Vater (bin) und ihr in mir (seid) und ich in euch (bin).“ Joh 14,23: „… und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ Joh 15,4: „Bleibt in mir und ich (bleibe) in euch. So wie die Rebe aus sich selbst keine Frucht bringen kann, wenn sie nicht im Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt.“ Joh 15,5: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt reiche Frucht … .“ Joh 17,21: „… damit alle eins sind, so wie du, Vater, in mir (bist) und ich in dir (bin), damit auch sie in uns sind, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“596 Das durch den Abschied und Tod Jesu bedingte Ende der Begegnung mit dem irdischen Jesus bewältigt der Evangelist, indem er die durch die Auferstehung Jesu, seine Erhöhung und die Geistsendung qualifizierte österliche Zeit als Zeit einer neuen, intensiveren Christusbeziehung deutet. Der Evangelist spricht von einer österlich möglichen Wohngemeinschaft zwischen dem Vater, dem Sohn und den Christen (Joh 14,23), die er auch als Freundschaft und antwortende Liebe buchstabiert. Im Vorgriff auf das vollendete Heil, dem Wohnen mit dem Sohn in den Wohnungen des Vaters (vgl. Joh 14,2–3), gilt die Zusage einer doppelstrukturierten Gottes‑ bzw. Christuserfahrung: das Eingeborgen‑ und Getragensein in Jesus Christus, der selbst ganz im Vater lebt und in dem der Vater gegenwärtig ist, und zugleich die wirkmächtige Gegenwart des Auferstandenen im Innern, im tiefsten Grund der Glaubenden. Die österliche Beziehung der Glaubenden zu 595  H.-C. Meier, Mystik bei Paulus. Zur Phänomenologie religiöser Erfahrung im Neuen Testament, TANZ 26, Tübingen 1998, 20. Vgl. auch V. R abens, Pneuma and the Beholding of God. Reading Paul in the Context of Philonic Mystical Traditions, in: J. Frey / ​J. R. Levison (Hgg.), The Holy Spirit, Inspiration, and the Cultures of Antiquity. Multidisciplinary Perspectives, Berlin 2014, 293–329. 596 Vgl. hierzu die Auslegungen bei K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 2) passim, und „Das hohepriesterliche Gebet Jesu“, S. 395–411 in diesem Band.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Jesus Christus und durch ihn zum Vater im Heiligen Geist stellt die Glaubenden in eine von ‚innen‘ und von ‚außen‘ getragene Christus‑ und Gottesbeziehung, die sie aus ihrer je eigenen Gottunmittelbarkeit heraus sendet und ihnen in der Gemeinschaft der Kinder Gottes teilgibt an der Sendung Jesu zur Rettung der Welt (vgl. Joh 3,16–17; 17,17.20–23; 20,21–23). Eine Variante des Mystikdiskurses zum Johannesevangelium ist die These von einer Theosis bzw. deification im vierten Evangelium. Dieser Diskurs wird zuletzt von wird Andrew J. Byers und Michael J. Gorman mit positivem Ergebnis geführt.597 Die textlichen Bezüge hierfür werden in den reziproken Immanenzaussagen sowie den Einheitsaussagen gesehen. Freilich ist festzuhalten: Die detaillierte Analyse und Interpretation der johanneischen Immanenzaussagen führt zu einem differenzierten Befund, der durchaus als Vorarbeit zur altkirchlichen Trinitätslehre einerseits und als Anhaltspunkt für die orthodoxe Theosislehre verstanden werden kann, mit diesen aber nicht identisch ist. Im Kern unterscheidet der Evangelist zwischen einer unio distinctionis, die er betont, und einer unio indistinctionis, die er zurückweist.598 4.9  Ethik und Ekklesiologie 4.9.1 Ethik Seit der Jahrhundertwende zeigen sich ein begrüßenswertes Umdenken und eine erfreulich intensive Neubeschäftigung mit ethischen Themen im Johannesevangelium bzw. in den johanneischen Schriften.599 Damit füllt die aktuelle Jo597  A. J.  Byers, Ecclesiology and Theosis in the Gospel of John, SNTS.MS 166, Cambridge 2017, kommt zu weitreichenden theologischen Schlussfolgerungen: „1) the Fourth Gospel’s ecclesiology envisions the formation and ongoing life of a human community participating in the divine interrelation of the Father and the Son; and 2) this relational participation is regularly depicted as filiation and requires a profound ontological transformation largely consonant with what later theologians would call theosis“ (237). Vgl. auch M. J.  Gorman, Abide and Go. Missional Theosis in the Gospel of John, Eugene 2018; vgl. ebd. 1–26 seine Definition von Theosis in Abgrenzung und kritischer Auseindersetzung mit möglichen Einwänden. 598  Vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 2), sowie „Rabbi, wo wohnst du?“, S. 441–458 in diesem Band. 599  Vgl. neben den in den folgenden Fußnoten genannten Publikationen u. a.: U. Schnelle, Johanneische Ethik, in: C. Böttrich (Hg.), Eschatologie und Ethik im frühen Christentum (FS G. Haufe), Frankfurt a. M. 2006, 309–327; R. Hirsch-Luipold, Prinzipiell-theologische Ethik in der johanneischen Literatur, in: F.-W. Horn / ​R . Zimmermann (Hgg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik I), WUNT 238, Tübingen 2009, 289–307; J. Frey, Love Relations in the Fourth Gospel (2009), in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 9), 739–765; Ders., ‚Ethical‘ Traditions, Familiy Ethos, and Love in the Johannine Literature (2013), ebd. 767–802; J. G. van der Watt / ​R. Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407) (Lit.); M. Labahn, „It’s Only Love“ – Is That All? Limits, and Potentials of Johannine „Ethic“ – A Critical Evaluation of Research (2012), in: Ders., Studien (s. Anm. 1), 115–154; Ders., Das ‚Fruchtbringen‘ der Glaubenden und das ewige Leben zwischen Gegenwart und Zukunft. Eschatologie und Ethik im Vierten Evangelium, in: L. D. Chrupcala (Hg.), Rediscovering John (s. Anm. 385), 183–211; V. R abens, Johannine Perspectives on Ethical Enabling in the Context of Stoic and Philonic Ethics, in: J. G. van der Watt / ​R . Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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hannesexegese ein großes forschungsgeschichtliches Desiderat – Ausnahmen sind Beiträge zum Liebesgebot600, zum Gesetz601 und zur Sünde602 im Johannesevangelium  – und korrigiert die weitverbreitete, mitunter unzureichend reflektierte Einschätzung, eine ethische Agenda sei dem Johannesevangelium fremd bzw. für das Johannesevangelium irrelevant.603 Die Forschungsgeschichte und der aktuelle Forschungsstand zur Ethik in den johanneischen Schriften sind von Jan G. van der Watt in ersten Umrissen nachgezeichnet worden.604 Hinzu treten seine eigenen Beiträge zu ethischen Fragen in of John (s. Anm. 407), 114–139; K. Weyer-Menkhoff, Die Ethik des Johannesevangeliums im sprachlichen Feld des Handelns (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / ​Contexts and Norms of New Testament Ethics. Band V ), WUNT II/359, Tübingen 2014; Ders., The Response of Jesus. Ethics in John by considering Scripture as Work of God, in: J. G. van der Watt / ​R . Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407), 159–174; F. Wagener, Figuren als Handlungsmodelle. Simon Petrus, die samaritische Frau, Judas und Thomas als Zugänge zu einer narrativen Ethik des Johannesevangeliums (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / ​ Contexts and Norms of New Testament Ethics. Band VI), WUNT II/408, Tübingen 2015; Chr. W. Skinner / ​Sh. Brown (Hgg.), Johannine Ethics. The Moral World of the Gospel and Epistles of John, Minneapolis 2017; Chr. Hoegen-Rohls / ​U. Poplutz (Hgg.), Glaube, Liebe, Gespräch. Neue Perspektiven johanneischer Ethik (s. Anm. 252), hier besonders: J. Frey, Glauben und Lieben im Johannesevangelium, ebd. 1–54; J. G. van der Watt, Ethics in Community in the Gospel and Letters of John, in: J. Lieu / ​M. de Boer (Hgg.), The Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1), 363–380. P. N.  Anderson rekonstruiert eine weitgehend einheitliche johanneische Ethik traditionsgeschichtlich „noted within seven crises over seven decades, appararent in both the Gospel and Epistles“; vgl. Ders., Discernment-Oriented Leadership in the Johannine Situation – Abiding in the Truth versus Lesser Alternatives, in: J. G. van der Watt / ​R . Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407), 290–318. Zu 1 Joh vgl. zuletzt: U. Schnelle, Ethical Theology in 1 John, in: J. G. van der Watt / ​R. Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407), 321–339; J. E. Brickle, Transacting Virtue within a Disrupted Community. The Negotiation of Ethics in the First Epistle of John, ebd. 340–349; T. Thatcher, Cain the Jew the AntiChrist. Collective Memory and the Johannine Ethic of Loving and Hating, ebd. 350–373. Vgl. auch die grundlegende Einführung von M. Konrad, Worum geht es in der Ethik des Neuen Testaments? Konzeptionelle Überlegungen zur Analyse und Reflexion ethischer Perspektiven im Neuen Testament, in: H. Schwier (Hg.), Ethische und politische Predigt. Beiträge zu einer homiletischen Herausforderung, Leipzig 2015, 61–86. 600  J. Augenstein, Das Liebesgebot im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen, BWANT 134, Stuttgart 1993; E. E.  Popkes, Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften. Zur Semantik der Liebe und zum Motivkreis des Dualismus, WUNT II/197, Tübingen 2005. 601  Vgl. die einseitige Position von W. R. G.  Loader, Jesus’ Attitude towards the Law (s. Anm. 407); Ders., Jesus and the Law in John (s. Anm. 407); Ders., The Law and Ethics in John’s Gospel (s. Anm. 407), 143–158. 602 Vgl. M. Hasitschka, Befreiung von Sünde (s. Anm. 385); R. Metzner, Das Verständnis der Sünde (s. Anm. 385); J. Zumstein, Sünde in der Verkündigung (s. Anm. 385), 83–103; Ders., Sünde im Johannesevangelium (s. Anm. 385). 603  Vgl. zu dieser Auslegungsrichtung beispielsweise: W. A.  Meeks, The Ethics of the Fourth Evangelist, in: R. A. Culpepper / ​C. C. Black (Hgg.), Exploring the Gospel of John (s. Anm. 94), 317–326. 604  Vgl. J. G. van der Watt, Ethics in Community (s. Anm. 599), 363–380. Eine ausführlichere forschungsgeschichtliche Diskussion findet sich bei A. Drews, Semantik und Ethik des Wortfeldes „Ergon“ im Johannesevangelium (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / ​Contexts and Norms of New Testament Ethics, Band VIII), WUNT II/431, Tübingen 2017, 20–50.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

den johanneischen Schriften.605 Jan G. van der Watt begründet den forschungsgeschichtlichen Umbruch mit zwei Neuansätzen: (a) Die Frage nach der johanneischen Ethik greift zu kurz, wenn ausschließlich nach konkreten Normen („Was soll ich tun?“) und nicht auch nach der Begründung („Warum soll ich etwas tun?“) gesucht wird. (b) Sodann erschließt sich die ethische Dynamik eines Textes wesentlich aus impliziten, narrativen und sprachlichen bzw. rhetorischen606 Zusammenhängen in der johanneischen Textwelt.607 Jan G. van der Watt selbst betont sechs (sich in Teilen überschneidende) Aspekte johanneischer Ethik, die im Folgenden vorgestellt, in Ansätzen diskutiert und insbesondere um den Aspekt (7): narrative Ethik erweitert werden: Vgl. auch: M. Labahn, „It’s Only Love“ – Is That All? Limits and Potentials of Johannine „Ethic“. A Critical Evaluation of Research, in: J. G. van der Watt / ​R. Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407), 3–43; R. Zimmermann, Is there Ethics in the Gospel of John? Challenging an outdated consensus, ebd. 44–80. 605  Vgl. J. G. van der Watt, Ethics alive in Imagery, in: J. Frey u. a. (Hgg.), Imagery in the Gospel of John. Terms, Forms, Themes, and Theology of Johannine Figurative Language, Tübingen 2006, 421–448; Ders., Ethics through the Power of Language (s. Anm. 108); Ders., Radical Social Redefinition and Radical Love: Ethics and Ethos in the Gospel According to John, in: Identity, Ethics, and Ethos in the New Testament, BZNW 141, Ders. (Hg.), Berlin 2006, 107–134; Ders., Reflections on doing what is good and true in the Fourth Gospel, in: F. W Horn / ​ U. Volp / ​R. Zimmermann (Hgg.), Ethische Normen des frühen Christentums (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / ​Contexts and Norms of New Testament Ethics, Band IV ), WUNT 313, Tübingen 2013, 73–92; Ders., „Working the Works of God“. Identity and Behaviour in the Gospel of John, in: J. Krans / ​L. J. Lietaert Peerbolte / ​P.-B. Smit / ​A . W. Zwiep (Hgg.), Paul, John, and Apocalyptic Eschatology. Studies in Honour of M. C. de Boer, NT.S 149, Leiden 2013, 135–150; Ders., Ethics of/and the opponents of Jesus in John’s Gospel, in: J. G. van der Watt / ​ R. Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407), 175–191; Ders., On ethics in 1 John, in: R. A. Culpepper / ​P. N. Anderson (Hgg.), Communities in Dispute. Current scholarship on the Johannine Epistles, Atlanta 2014, 197–222; Ders., Ethics of/and the opponents of Jesus in John’s Gospel, in: J. G. van der Watt / ​R . Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407), 175–191; Ders., A Grammar of the Ethics of John. Reading John from an Ethical Perpective. Vol. 1 (WUNT 431), Tübingen 2020. 606  Vgl. L. M.  Trozzo, Exploring Johannine Ethics. A Rhetorical Approach to Moral Efficacy in the Fourth Gospel Narrative, WUNT II/449, Tübingen 2017. L. M.  Trozzo analysiert vier rhetorische Elemente im Johannesevangelium: „… the engagement of the audience through participation in the bios genre; its emphasis on unity through the incorporation of encomiastic topics, its extension of the encomiastic topics through the presence of metaleptic elements, and its appropriation of structural devices that revealed a macro-level rhetorical trajectory and guiding themes“ (ebd. 177). 607 Vgl. J. G. van der Watt, Ethics in Community (s. Anm. 599), 364 f. Vgl. exemplarisch für einen sprachlichen Zusammenhang die Wortfeldanalyse zu ἔργον von A. Drews, Semantik und Ethik des Wortfeldes „Ergon“ im Johannesevangelium (s. Anm. 604); vgl. hierzu auch: K. WeyerMenkhoff, Die Ethik des Johannesevangeliums (s. Anm. 599); R. Zimmermann, Erga and Ethics in the Fourth Gospel, in: R. A. Culpepper / ​J. Frey (Hgg.), Expressions of the Johannine Kerygma in John 2:23–5:18. Historical, Literary, and Theological Readings from the Colloquium Ioanneum 2017 in Jerusalem, WUNT 423, Tübingen 2019, 71–85; H. Löhr, Ergon as an Element of Moral Language, in: J. G. van der Watt / ​R . Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407), 229–249.

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(1) Faith Determining Ethics: Am Beispiel der Frage des Volkes: „Was sollen wir tun, dass wir Gottes Werke wirken?“ (Joh 6,28) und der Antwort Jesu: „Das ist Gottes Werk, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat“ (Joh 6,29). „Glauben“, „Werk“ und „Gottes Werke“ werden hier und im Johannesevangelium durchgehend in einen unmittelbaren, sich wechselseitig erschließenden Zusammenhang gesetzt: „In other words, the believer shares in the divine reality of God and being part of and living in this reality the believer is ethically determined by this reality. Ethically speaking the believer should behave according to the expectations and requirements (the commandments) of this divine reality as it is revealed and presented by Jesus. This is what should be accepted in faith.“608

Die johanneische Ethik hat ihren Ursprung und bleibenden Grund in Gott selbst und in seiner liebenden Zuwendung zu seiner Schöpfung, die in der Sendung des Sohnes kulminiert.609 (2) Relationships and Ethics: Das johanneische Verständnis von Glauben reflektiert und bestimmt eine tiefe Beziehungswirklichkeit. Relationalität ist ein konstitutives Merkmal (a) des Vater-Sohn-Verhältnisses, (b) des Verhältnisses zwischen Vater, Sohn und den Seinen sowie (c) der Seinen untereinander. Dies zeigt sich besonders am Beispiel der johanneischen Familienmetaphorik, den Themen Geburt, Freundschaft, Erziehung, Kooperation und Gemeinschaft (vgl. koinonia in 1 Joh). Zu ergänzen ist hier die johanneische Sprache der Immanenz, die in den johanneischen Schriften die maßgeblichen Relationen spezifisch beschreibt und ausleuchtet610: Die Liebenden sind diejenigen, denen durch die inwendige Gabe des Parakleten und die Gaben des Parakleten „sehen“ und „erkennen“, belehrt und erinnert werden, die in der ihnen geschenkweise ermöglichten Aufnahme des Sohnes auch den Vater aufnehmen (vgl. Joh 13,20; 14,23), und deshalb mit dem Sohn aus und in der Liebe des Sohnes und des Vaters leben (vgl. Joh 14,19), die sich – wie der Sohn vom Vater – vom Sohn senden lassen und so die Liebe des Vaters im Sohn bleibend vergegenwärtigen. Bedingungen der österlichen Immanenz zwischen Jesus und den Seinen sind der Glaube, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes, ist (vgl. Joh 20,31) und die Liebe zu ihm und untereinander (vgl. Joh 13,34–35; 14,15.21.23–24). Die johanneischen Immanenz-Aussagen reflektieren das im Evangelium verkündigte Heil: durch das Wirken und die Gaben des Geistes werden die Liebenden in die Leben schenkende Beziehung und Gemeinschaft von 608  Ebd. 369. Vgl. hierzu auch ausführlich: J. Frey, Glauben und Lieben im Johannesevangelium (s. Anm. 599). 609  Vgl. J. G. van der Watt, Ethics through the Power of Language (s. Anm. 108), 141: „The ethical system of John proved to be primarly relational, grounded in Christology. Actions cannot be separated from identity and the one flows naturally into the other, so much so that accepting Jesus in faith becomes the primary ethical action in John.“ 610 Vgl. 4.1 und Ch. C.  Caragounis, in: „Abide in me“. The New Mode of Relationship Between Jesus and His Followers as a Basis for Christian Ethics (John 15), in: J. G. van der Watt / ​ R. Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407), 250–263.

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Vater und Sohn aufgenommen. Das österliche Geschenk der wechselseitigen Einwohnung von Vater bzw. Sohn und den Seinen schließt die Handlungs‑ und Willenskonformität mit dem Vater bzw. dem Sohn, die sich als wechselseitige Liebe zu erkennen gibt, ein. Diese Rückbindung der johanneischen Immanenz-Aussagen an die Vater-Sohn-Beziehung begründet eine Ursprungseinheit von Soteriologie und Ethik im Johannesevangelium. (3) Reciprocity and Mimesis as Ethical Features in John: Aus der zeitgenössischen Ethik rezipiert das Johannesevangelium „typical ethical features of the time, namely, reciprocity and mimesis“611. Beide Prinzipien kommen in den johanneischen Schriften ausführlich und durchgehend zum Zuge und werden auch ineinander verschränkt. Zur reziproken und mimetischen Sprache in den johanneischen Schriften liegen weiterführende Studien vor. Cor Bennema hat in mehreren Studien mimesis als zentrales Strukturprinzip johanneischer Ethik herausgearbeitet.612 (4) Tradition-Based Ethics: Jan G. van der Watt rekurriert auf das Verhalten bzw. Vorbild Jesu als bleibender Maßstab für das Verhalten seiner Nachfolger (vgl. Joh 12,24–26; 13,15–35): „As followers of their Lord disciples should respond to this ethical challenge … The disciples should remain in the tradition of their Teacher and Lord.“613 In den Johannesbriefen wird die Rolle der Augen‑ und Ohrenzeugen Jesu (vgl. 1 Joh 1,1–4) und der von Ihnen vertretenen Glaubensüberlieferung stark betont. Dies rechtfertigt jedoch keineswegs die Schlussfolgerung: „The ethics of John has shifted from a direct relation to a tradition orientated ethics.“614 Im Gegenteil: Die in Relationen gründende, Relationen qualifizierende und verstärkende Ethik wird nicht abgelöst, sondern narrativ entfaltet und qualifiziert. (5) The Jewish Law: Die simple, schablonenhafte Alternative, die gerne an das Johannesevangelium herangetragen wird (Ist die Tora weiterhin gültig oder nicht?), greift zu kurz: Entscheidend für das johanneische Gesetzesverständnis ist die Auslegung des Gesetzes: „The point of view presented in the Johannine narrative is that the law should be understood and interpreted in the light of the presence of Jesus and his revelation as it is reflected in the Gospel, with the main emphasis on love.“615 Dies setzt voraus, dass das Gesetz weiterhin Gültig611 J. G.

van der Watt, Ethics in Community (s. Anm. 599), 372.  Vgl. C. Bennema, Virtue Ethics in the Gospel of John, in: L. D. Chrupcala (Hg.), Rediscovering John (s. Anm. 385), 167–181; Ders., Mimesis in John 13. Cloning or Creative Articulation?, NT 56 (2014), 261–274; Ders., Mimetic ethics in the Gospel of John, in: U. Volp (Hg.), Metapher – Narratio – Mimesis – Doxologie. Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik, WUNT 356, Tübingen 2016, 205–217; Ders., Mimesis in the Johannine Literature. A Study in Johannine Ethics, LNTS 498, New York 2017; Ders., Virtue Ethics and the Johannine Writings, in: Chr. W. Skinner / ​Sh. Brown (Hgg.), Johannine Ethics. The Moral World of the Gospel and Epistles of John, Minneapolis 2017, 297–317; Ders., Moral Transformation in the Johannine Writings, Luce Verbi 51 (2017), 1–7; Ders., Moral Transformation through Mimesis in the Johannine Tradition, TynB 69 (2018), 183–203. 613  J. G. van der Watt, Ethics in Community (s. Anm. 599), 373 f. 614  Ebd. 374. 615  Ebd. 375. 612

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keit beansprucht („The law stands, but needs to be interpreted!“616) – eben in der johanneischen Auslegung.617 Die Verwurzelung der johanneischen Ethik in alttestamentlich-jüdischen Traditionen ist deutlich umfangreicher anzusetzen als ‚nur‘ im Blick auf die Rezeption der Tora und hier das Liebesgebot.618 Auch hier steht die Forschung vor einer nicht ausreichend erschlossenen Aufgabe. (6) Love as Identity Marker of the Johannine Group: Ausweislich der pro­gram­ matischen Verse Joh 13,34–35 ist das Liebesgebot das Zentrum und die inhaltliche Matrix der johanneischen Ethik619. Ihren Grund hat das Liebesgebot in der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung (vgl. 1), die in der Liebeshingabe seines Sohnes kulminiert (vgl. Joh 3,16; 10,17–18; 15,13; 1 Joh 3,16; 4,8.11). Die von den „Seinen“ in den johanneischen Schriften geforderte Liebe trägt wiederum die Merkmale der Relationalität (vgl. 2) und der Reziprozität (vgl. 3.) (7) Narrative Ethik: Jan G. van der Watt betont einerseits die Relevanz der narrativen Ethik im Johannesevangelium: „By following the development of the plot, the ethical role of characters and the causality of actions are described. By doing this the theology of John nearly by default becomes part of the description, since actions and characters are interrelated with the major themes of the plot, leading to the description, ‚theological ethics‘.“620

Andererseits beendet er eine weitere Befassung mit diesem Ansatz mit dem unmittelbar anschließenden Hinweis: „The negative side of this is that such a description runs the risk of simply becoming a paraphrase of the narrative.“621 Dieser Gefahr kann eine vertiefte Beschäftigung mit einer narrativen Ethik im Johannesevangelium entgehen und entgeht ihr auch: (a) Die narrative Analyse und Interpretation des Johannesevangeliums und hier insbesondere die Character Studies zu den einzelnen Figuren und ihren Interaktionen untereinander und mit dem Protagonisten im Johannes-

 Ebd. 376.  U. Schnelle, Evangelium nach Johannes (s. Anm. 1), 9–12, interpretiert gegenläufig und sehr apodiktisch: „Es gibt keine heilsgeschichtliche Kontinuität zwischen Mose und Jesus, die Christen stehen unter der Gnade und der Wahrheit, nicht unter dem Gesetz (Joh 1,17)“ (ebd. 10). Auch bei J. Painter, The Point of John’s Christology. Christology, Conflict and Community in John, in: D. G. Horell / ​Chr. M. Tuckett (Hgg.), Christology, Controversy and Community (s. Anm. 29), 231–252, findet sich diese Auffassung (vgl. ebd. 252). Diese Auslegungen überzeugen nicht und haben viele Textbeobachtungen gegen sich; vgl. auch die Ausführungen zur Israel‑ und Schrifttheologie des vierten Evangeliums insgesamt unter 4.5. 618  Vgl. hierzu u. a.: A. T.  Glicksman, Beyond Sophia. The Sapiential Portrayal of Jesus in the Fourth Gospel and Its Ethical Implications for the Johannine Community, in: Rethinking Johannine Ethics (s. Anm. 407), 83–101; E. Eynikel, The Qumran background of Johannine Ethics, ebd. 102–113; V. R abens, Johannine Perspectives (s. Anm. 599). 619 Vgl. J. G. van der Watt, Ethics in Community (s. Anm. 599), 376: „The essence of ethical behaviour in John is formulated in terms of love.“ 620  Ebd. 366. 621  Ebd. 616 617

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evangelium622 impliziert und expliziert eine weitreichende narrativ-ethische Dynamik: Den Leserinnen und Lesern werden mit Hilfe der verschiedenen Persönlichkeiten, ihrer Charaktere, Profile und Entwicklungen positiv wie negativ und in vielfachen Feinschnitten und Brechungen Glaubens‑ und Lebenswege vor Augen geführt, an denen sie sich orientieren können und sollen.623 Dies gilt für die herausgehobenen, wiederholend begegnenden Identifikationsangebote ebenso wie für die ‚kleineren‘ Rollen im verbalen (vgl. Joh 5624; 9625; 11626; 15627) und nonverbalen Zeugnis für Jesus (vgl. Josef von Arimathäa und Nikodemus in Joh 19,38–42) und auch für die johanneischen „Zeichen“628. (b) In herausgehobener Weise gilt dies für die narrative Charakterisierung der Person, des Redens und Tuns Jesu Christi, der vorbildlich (mimesis-Gedanke) bzw. beispielhaft (vgl. ὑπόδειγμα in Joh 13,15) handelt. Jesus legt in seiner gesamten Sendung die Liebe Gottes zu seinem Kosmos aus und interpretiert sie verbindlich. Dieses erzählte, konkret liebende Handeln Jesu ruft ins „Leben“ (vgl. nur Joh 10,10)629, zur Nachfolge und zur diakonia (Joh 12,24–26), zur gegenseitigen Freundesliebe nach dem Maß der Freundesliebe Jesu (vgl. Joh 13,34; 15,9–17).630 Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu in Joh 13,1–20 ist aufgrund ihres narrativen settings und der in diesem setting vermittelten Botschaft einer622  Vgl. hierzu die Ausführungen in 3.6 sowie ausführlich F. Wagener, Figuren als Handlungsmodelle (s. Anm. 599). 623  Vgl. hierzu auch die Vorstellung der „Werkzeuge der narratologisch-ethischen Analyse“ bei F. Wagener, Figuren als Handlungsmodelle (s. Anm. 599), 88–201, sowie seine Unterscheidung zwischen Beziehungsethik, Handlungsethik und Rollenethik, bes. 221–217. Vgl. C. Bennema, Moral Tranformation in the Johannine Writings (s. Anm. 612), 1: „In order to model and promote the envisaged morality amongst his readers, John presents various characters, whose characteristics and behaviour might be either emulated or avoided.“ 624  Vgl. hierzu die Auslegung von Joh 5 in „Mündiger Glaube“, S. 230–256 in diesem Band. 625  Vgl. M. Labahn, Der Weg eines Namenlosen – Vom Hilflosen zum Vorbild (Joh 9). Ansätze zu einer narrativen Ethik der sozialen Verantwortung im vierten Evangelium, in: Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (FS O. Merk), MThSt 76, R. Gebauer/M. Meiser (Hgg.), Marburg 2003, 63–80. 626  Vgl. R. Zimmermann, Narrative Ethik im Johannesevangelium am Beispiel der LazarusPerikope Joh 11, in: Narrativität und Theologie (s. Anm. 54), 133–170. 627  Vgl. M. Labahn, Überzeugende Ethik mündiger Jüngerschaft. Christologische Bildsprache als Fundament Johanneischer Ethik (Johannes 15,1–8), in: J. Verheyden / ​G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R . Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and its Christology (s. Anm. 1), 397–423. 628 Vgl. Ch. Karakolis, Semeia Conveying Ethics in the Gospel according to John, in: J. G. van der Watt / ​R. Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407), 192–212. H. W.  Attridge arbeitet die „educative function“ der johanneischen „Zeichen“ heraus; vgl. Ders., How Johannine Signs Signify (or Not), in: M. C. Parsons / ​E. Struthers Malbon / ​P. N. Anderson (Hgg.), Anatomies of the Gospels and Beyond (s. Anm. 234), 333–347. 629  Vgl. einführend M. Stare, Ethics of Life in the Gospel of John, in: J. G. van der Watt / ​ R. Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John (s. Anm. 407), 213–228. 630  Vgl. hierzu „Eine größere Liebe hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13), S. 323–346 in diesem Band sowie: R. F.  Collins, ‚A New Commandment I Give to You, that You Love One Another … ‘ (John 13:34) (1979), in: Ders., These Things Have Been Written. Studies on the Fourth Gospel, LThPM 2, Louvain 1990, 217–256; A. Dettwiler, Umstrittene Ethik. Überlegungen zu Joh 15,1–17, in: M. Rose (Hg.), Johannes-Studien.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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seits und des expliziten Auftrags andererseits ein Schlüsseltext für die narrative Ethik des Johannesevangeliums.631 Zu diskutieren ist am Beispiel von Joh 13 und darüber hinaus für das ganze Johannesevangelium die Frage, ob im Sinne des Johannesevangeliums das ὑπόδειγμα Jesu bzw. sein Handeln insgesamt gleichförmig und in wachsender Angleichung nachzuahmen ist. Sookgoo Shin scheint dieser Position zuzuneigen, wenn er festhält: „… moral progress in John’s Gospel can be understood more concretely as a total reorientation of worldview and of the understanding of the self which is effected by one’s

Interdisziplinäre Zugänge zum Johannes-Evangelium, Zürich 1991, 175–189; E. E.  Popkes, Theologie der Liebe Gottes (s. Anm. 600); M. M.  Culy, Echoes of Friendship in the Gospel of John, NTM 30, Sheffield 2010; M.  Zimmermann / ​R .  Zimmermann, Freundschaftsethik im Johannesevangelium. Zur öffentlichen und politischen Reichweite eines ethischen Konzepts, in: R. Zimmermann / ​St. Joubert (Hgg.), Biblical Ethics and Application. Purview, Validity, and Relevance of Biblical Texts in Ethical Discourse (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics. Band IX), WUNT 384, Tübingen 2017, 121–137; Th. Popp, „Ihr seid meine Freunde“ (Joh 15,14). Freundschaftliche Lebenskunst im Neuen Testament, (Manuskript). 631 Vgl. hierzu „Ein Beispiel habe ich Euch gegeben …“ (Joh 13,15), S. 303–322 in diesem Band; vgl. auch Ch. Niemand, Was bedeutet die Fußwaschung: Sklavenarbeit oder Liebesdienst? Kulturkundliches als Auslegungshilfe für Joh 13,6–8, Protokolle zur Bibel 3 (1994), 115–127; L. Devillers, Le lavement des pieds, un acte prophétique. Exégèse et actualisation de Jn 13,1–20, in: M. Delgado (Hg.), „Ces gens ne sont-ils pas des hommes?“ Évangile et prophétie. Colloque de la Faculté de théologie de Fribourg (1–4 décembre 2011), Studia Friburgensia. Series Historica 10, Fribourg 2013, 138–150. Weiterführend: B. Mathew, Footwashing (s. Anm. 55) (Lit.); vgl. ebd. 11–39 den Überblick zur komplexen Forschungs‑ und Auslegungsgeschichte und ebd. 129–165 die Verortung der Perikope im Mikro‑ und Makrokontext des vierten Evangeliums. Mathew geht davon aus, dass alle drei synoptischen Evangelien die primären Quellen des Johannesevangeliums insgesamt und auch für Joh 13,1–20 darstellen (vgl. ebd. 5.182–231). Für Joh 13,1–20 rekurriert Mathew besonders auf Lk 7,36–50 (vgl. Joh 12,1–8), Lk 22,24–27 und Mt 10,24 f.40. Zu Mathew’s methodisch-hermeneutischer Perspektive gehört die Betonung der literarischen Einheitlichkeit des gesamten Johannesevangeliums und konsequent die Zurückweisung klassischer literarkritischer Schichtenmodelle (vgl. ebd. 2.8.152–165.167–182). Den kulturgeschichtlichen Vergleich zu möglichen Parallelen zur Fußwaschungserzählung in der jüdischen, griechischen und römischen Literatur fasst Mathew in neun Beobachtungen zusammen. Dazu gehören: „None of the parallels … present a superior person washing the feet of an inferior.“ „None of the parallels … depict footwashing as an example provided to those who are washed.“ „None of the parallels … claim – as Jesus claimed – that the washing gives them a part with the one who washes the feet.“ „The biggest difference between the Johannine footwashing and the parallels is that Jesus assumes the role of a slave“ (vgl. ebd. 69–127, hier: 125–127). Inhaltlich bleibt die genaue Verhältnisbestimmung von Fußwaschung und Kreuz Jesu im Johannesevangelium nicht durchgehend klar: Einerseits betont Mathew mit Joh 13,1–3 den engen Zusammenhang zwischen Fußwaschung und Kreuz bzw. Tod Jesu: „… we argue that the footwashing is a symbolic prefiguration of Jesus’ death on the cross enacted during the last supper to mainfest his perfect love for his own“ (3; vgl. 39.218.242–245.261.267.421). Andererseits wird dieser für die johanneische Theologie konstitutive Zusammenhang bei manchen Formulierungen nicht mehr durchgehalten: „Thus, the footwashing can be interpreted as the Son’s supreme sign of the Father’s love (…) and the effect of which is the incorporation of the humankind into divine communion of life“ (412).

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

growing knowledge of Jesus’s identity and mission, and with further enables one to grow in the likeness of Jesus by embodying the moral traits exemplified by Jesus himself.“632

Gleichzeitig betont S. Shin jedoch auch, dass imitation sowohl in der zeitgenössischen Umwelt (bes. Plutarch) als auch bei Johannes kein blindes Kopieren sei, „but refers to an abilty to behave creatively and independently according to the essence of virtue.“633 Oder ist das konkrete Handeln Jesu einschließlich seiner Lebenshingabe in den Tod ein einmaliger Lebens‑ und Heilsweg, durch den die ihm Nachfolgenden befähigt werden, selbst authentische Zeugen seines Liebesweges in Wort und Tat zu werden?634 (c) Einen innovativen Zugang zur narrativen Ethik entfaltet Olivia Rahmsdorf, die erstmals in dieser Konsequenz635 die Zeitangaben bzw. ‑signale im Johannesevangelium auf ihre ethische Relevanz hin auswertet.636 Die Studie von O. Rahmsdorf zielt darauf, „in Auseinandersetzung mit dem Text des JohEvs und seinen Figureninteraktionen eine ethische Zeitkompetenz zu entwickeln, d. h. das Vermögen, handlungs‑ und verhaltenssteuernde Zeitnormen zu erkennen, sie reflexiv zu durchdringen und zu bewerten.“637

Hierzu präsentiert O. Rahmsdorf ausführliche theoretische und methodische Reflexionen, die die Forschung erheblich vorantreiben und bereichern.638 Dabei entwickelt sie ein neues Analyseschema zur „Textualisierung von Zeit“, mit semantischen, grammatischen und chronologischen Kategorien639 und reflektiert intensiv die Rezeptionsperspektive der Lesenden (vgl. „Zeitwahrnehmung und Bewertung (das Woraufhin der Geschehenskonfiguration)“640). In den ausführlichen Textanalysen zu Joh 2,1–11[12], 4,43–54; 11,1–12,11 sowie weiteren Sequenzen (Joh 2,13–22; 5,1–18[19–47]; Joh 7,1–10[11–52; 8,12–59]; 8,2–11; 9,1–41; 13,1–10.36–38 und 21,15–19; 18,1–19,16; 20,1–10) untersucht O. Rahmsdorf die wiederkehrenden johanneisch „inszenierten Zeitkonflikte“641, die sich genauerhin hinsichtlich der 632  S. Shin, Ethics in the Gospel of John. Discipleship as Moral Progress, BIS 168, Leiden 2018, 53. Für seine These beruft er sich auf seine Auslegung von Joh 3, 4 und 9 und seine Ausführungen zu „Embodying Christlikeness“ (Imitation of Jesus, Imitable Traits of Jesus: Love, Unity, Mission, ‚Ex-Status‘). 633  Ebd. 139. 634  Vgl. hierzu O. R ahmsdorf, Zeit und Ethik (s. Anm. 252), passim. Zur Kritik an einer mimetischen Ethik im Johannesevangelium vgl. 240.432–442. 635 Vgl. vor ihr schon R. A.  Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel (s. Anm. 174), 27–32; vgl. hierzu O. R ahmsdorf, Zeit und Ethik (s. Anm. 252), 15–21. 636 Vgl. O. R ahmsdorf, Zeit und Ethik (s. Anm. 252); vgl. ebd. 8–57 zur Forschungsgeschichte. Vgl. auch Dies., Zeit, Glaube und Ethik (s. Anm. 252); Dies., ‚You shall not wash my feet eis tón aióna‘ (John 13.8). Time and Ethics in Peter’s Interactions with Jesus in the Johannine Narrative, JSNT 41 (2019), 458–477. 637  O. R ahmsdorf, Zeit und Ethik (s. Anm. 252), 123. 638  Vgl. ebd. 58–124 zur Theorie und ebd. 125–197 zur Methodik. 639 Vgl. ebd. 171–173 die Graphiken. 640  Vgl. ebd. 174–194. 641  Ebd. 403.

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„Zeitnormen der Figuren“, der „Zeitnorm(en) Jesu“, der „Konfliktmuster“, der „Vielfalt, Inkohärenzen, Tendenzen, Übergänge“ analysieren lassen.642 Durch Jesu Sendung, die auf seine „Stunde“ zuläuft, wird die Linearität der Zeit durchbrochen und dynamisiert, werden präsentische und futurische Eschatologie „im Zeithorizont des joh. Jesus als wahrem Zeitgenossen vereint“643. 4.9.2 Ekklesiologie Neuere Forschungsbeiträge zur johanneischen Ekklesiologie644 fristen ein Nischendasein. Ursache dafür ist sicher auch eine verbreitete Wahrnehmung, im Johannesevangelium trete das Thema Gemeinde bzw. Kirche weit in den Hintergrund.645 In der Forschungsgeschichte dominieren vier idealtypische und sich in Teilen überschneidende Ansatzpunkte zur Rekonstruktion des johanneischen Gemeinde‑ bzw. Kirchenverständnisses: (1) Der traditions‑ bzw. sozialgeschichtliche Ansatz rekonstruiert die Geschichte der „johanneischen Schule“ und ihrer Charakteristika und zieht daraus Schlussfolgerungen für ekklesiologische Aussagen.646 (2) Der literarkritische Ansatz rechnet mit konkurrierenden und sich ablösenden Positionen zum Gemeinde‑, Amts‑ und Sakramentsverständnis647.648 Klassische Exempel sind (a) die in Szene gesetzte (!) Rivalität zwischen dem Lieblingsjünger und Petrus, (b) die Auslegung des sekundären (?) Kapitels 21 und (c) die Diskussion um die Chronologie der johanneischen Schriften.  Vgl. ebd. 405–418.  Ebd. 420. 644  Vgl. hierzu „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, S. 205–229 in diesem Band. Vgl. R. E.  Brown, Introduction (s. Anm. 1) 221–234; J. Ferreira, Johannine ecclesiology, JSNT.SS 160, Sheffield 1998; D. Kim, The church in the Gospel of John, TynB 50 (1999), 314–317; U. Wilckens, Zum Kirchenverständnis der johanneischen Schriften (2000), in: Ders., Sohn Gottes (s. Anm. 26), 56–88; R. A.  Culpepper, Designs for the church in John 20,19–23, in: J. Verheyden / ​G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R. Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and its Christology (s. Anm. 1), 501–518; M. L.  Coloe, Dwelling in the Household of God (s. Anm. 585); W. Binni, La chiesa nel quarto vangelo, Collana Studi Biblici 50, Bologna 2006 (vgl. hierzu die Besprechung von M. Marenco, in: ATT 13 [2007] 579–587). Das Oxford Handbook of Johannine Studies (s. Anm. 1) enthält bezeichnenderweise keinen Beitrag zum johanneischen Gemeinde‑ bzw. Kirchenbild. Zur Frage der Eucharistie im Johannesevangelium vgl. „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6, 35), S. 279–302 in diesem Band. 645 So beispielsweise J. Roloff, Kirche im Neuen Testament, NTD.E X, Göttingen 1993, 290. Kritisch hierzu u. a. U. Wilckens, Kirchenverständnis (s. Anm. 644). 646 Vgl. hierzu u. a.: M. Hengel, Die johanneische Frage (s. Anm. 28); R. E.  Brown, Johannine ecclesiology  – the community’s origins, Interpretation 31 (1977), 379–393; Th. Schmeller, Schulen im Neuen Testament. Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit. Mit einem Beitrag Chr. Cebulj, HBS 30, Freiburg i. Br. 2001, 7–15.254–342; U. Heckel, Hirtenamt und Herrschaftskritik. Die urchristlichen Ämter aus johanneischer Sicht, BThS 65, NeukirchenVluyn 2004. Vgl. hierzu auch Anm. 29 (zu J. L.  Martyn; M. de Boer). 647  Vgl. hierzu „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6, 35), S. 279–302 in diesem Band und Th. Popp, Das Kreuz mit den Sakramenten (s. Anm. 76). 648  Vgl. u. a. J. Becker, Das Geist‑ und Gemeindeverständnis des vierten Evangelisten, ZNW 89 (1998), 217–234. 642 643

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

(3) Auf der synchronen Ebene des Johannesevangeliums setzt der metaphorische Zugang an, der metaphorische Cluster ekklesiologisch auswertet. Dies gilt besonders für die Familien-649 bzw. Haus‑ und die Hirtenmetaphorik650 in den johanneischen Schriften: (4) Weitere Zugänge öffnen sich über herausgehobene Leitmotive im Johannesevangelium: Jünger/Jüngerinnen (= die „Seinen“, die „Liebenden“), Sendung (vgl. bes. Joh 20,21–23651) und Einheit (vgl. Joh 10,16; 17,20–26).652 Joh 17,20–26 ist der locus classicus für den ökumenischen Auftrag, der sich aus der Gebetsbitte Jesu um die Einheit der Gemeinde ableitet.653 Eine wertvolle Spur, sich der impliziten wie expliziten Ekklesiologie des Johannesevangeliums zu nähern, ist das Leitmotiv der martyria654: Die Wortfamilie „Zeugnis“, „Zeuge“ und „Zeugnis geben/bezeugen“ durchzieht das gesamte Johannesevangelium wie auch 1–3 Joh und die Johannesoffenbarung. Als Zeugen treten im Johannesevangelium auf: der Vater Jesu (vgl. Joh 5,32.36–40; 8,18; 12,28), Jesus selbst (vgl. 5,31; 8,13–14.18), der Heilige Geist (vgl. 15,26), Johannes der Täufer, die Jünger und Jüngerinnen bzw. die an Jesus Glaubenden (vgl. 15,27), die „Schriften“ (vgl. 5,39),die „Werke“ Jesu (vgl. 5,36; 10,25), namentlich Genannte (nonverbal Nikodemus und Josef von Aritmathäa sowie verbal die Samariterin in 4,39) oder Ungenannte (vgl. Joh 5; 9). In ironischer Verkehrung können auch Gegner Jesu, seien es Pharisäer, Schriftgelehrte, das Volk, „die Juden“, der Hohepriester oder römische Akteure Zeugnis geben für Jesus. Der hier nur

649  Vgl. „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, S. 205–229 in diesem Band und J. G. van der Watt, Familiy of the King (s. Anm. 116). 650  Vgl. hierzu die Ausführungen in 3.4.1 und: P. Dschulnigg, Der Hirt und die Schafe (Joh 10,1–18) (1989), in: Ders., Studien zu Einleitungsfragen (s. Anm. 214), 267–286; B. Kowalski, Die Hirtenrede (Joh 10, 1–18) im Kontext des Johannesevangeliums, SBB 31, Stuttgart 1996; U. Heckel, Hirtenamt (s. Anm. 646). 651  U. Heckel, Hirtenamt (s. Anm. 646), 7–26 652 ἀπόστολος begegnet nur in Joh 13,16. 653 Vgl. hierzu einführend W. Klaiber, Das Johannesevangelium II (s. Anm 58), 171–178. Vgl. auch St. C.  Barton, Christian Community in the Light of the Gospel of John, in: D. G. Horell / ​ Chr. M. Tuckett (Hgg.), Christology, Controversy and Community (s. Anm. 29), 279–301, hier: 290–294 („The Oneness of God as the Communicative Ground of Community“). 654  Vgl. hierzu einführend die Studie von J. Beutler, Martyria. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Zeugnisthema bei Johannes, FThS 10 Frankfurt a. M. 1972. Sodann: D. A.  Lee, Witness in the Fourth Gospel: John the Baptist and the Beloved Disciple as Counterparts, Australian Biblical Review 61 (2013), 1–17; Th. W.  Simpson, Testimony in John’s Gospel: The Puzzle of 5:31 and 8:14, TynB 65 (2014), 201–218; M. Rese, Johannes 3,22–36. Der taufende Jesus und das letzte Zeugnis Johannes des Täufers, in: J. Verheyden / ​G. Van Oyen / ​M. Labahn / ​R . Bieringer (Hgg.), Studies in the Gospel of John and its Christology (s. Anm. 1), 89–98; J. M.  Nützel, Das Täuferzeugnis Joh 1,19–28, in: L. Oberlinner / ​F. R. Prostmeier (Hgg.), Jesus im Glaubenszeugnis des Neuen Testaments, HBS 80, Freiburg i. Br. 2015, 115–136; S. Kuan-Hui Wang, Sense Perception and Testimony in the Gospel According to John, WUNT II/435, Tübingen 2017; E. Cattin, Le témoin pour le témoin, Revue des sciences philosophiques et théologiques 101 (2017), 15–30; K. Scholtissek, Zeugnis empfangen und Zeugnis geben. Mündiger Glaube im Johannesevangelium, in: LebZeug 74 (2019) 4–12.

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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angedeutete umfangreiche Textbefund zum Zeugnismotiv wird verstärkt und erweitert durch vier weitere Beobachtungen: (a) Die Wortfamilie „Zeugnis“ ist Teil eines übergreifenden metaphorischen Clusters: „Zeugnis geben“ und „Zeugesein“ haben eminent juridischen Charakter, sie gehören zu der im Johannesevangelium breit ausgebauten Gerichtsmetaphorik. Hierzu sind nicht nur die konkreten und als solche beschriebenen Gerichtsverhandlungen in Joh 18–19 zu berücksichtigen, sondern das Motiv der krisis sowie weitere Motive aus der Gerichtsmetaphorik im gesamten Corpus Evangelii (vgl. neben den „Zeugen“ die Rollen von Anklägern, Verteidigern, Richtern in Vorverhören, Verhören, Prozessen). (b) Exemplarisch sei auf Johannes den Täufer als herausgehobenen „Zeugen“ verwiesen:655 Er ist Augen‑ und Ohrenzeuge Jesu, er ist Empfänger eines göttlichen Auftrags (vgl. Joh 1,33) und Zeugnisgeber (vgl. Joh 1.34). Dieser Zeuge und dieses Zeugnis gelten im Johannesevangelium nicht nur temporär begrenzt für eine vergangene geschichtliche Situation. „Johannes, der Zeuge“ (und sein Zeugnis) treten gerade nicht von der Bühne ab in den Orkus der Geschichte. Im Zeugnis des Johannesevangeliums vergegenwärtigt sich der Zeuge und sein Zeugnis dauerhaft für die Lesenden bzw. Hörenden zu allen Zeiten als Anrede und Anruf zum Glauben.656 Der Evangelist Johannes verfolgt mit der narrativen Entfaltung des Täuferzeugnisses noch ein weiteres Ziel: Zu dem auf gläubige An‑ und Aufnahme zielenden Christus-Zeugnis des Täufers tritt eine profunde und zugleich ermutigende Rollenklärung. Johannes der Täufer verwechselt sich nicht selbst mit dem Messias, auch nicht mit anderen endzeitlichen Figuren, sondern bleibt seiner Sendung treu: Er ist Wegbereiter des Herrn (kyrios). Seine Rolle ist nicht die des Bräutigams, sondern die des „Freundes des Bräutigams, der dabei steht und ihn hört“ und sich „freut über die Stimme des Bräutigams“ (Joh 3,29). Diese Rollenklärung im Blick auf Johannes den Täufer zielt auf die christlichen Adressaten des Johannesevangeliums, deren Glaube gestärkt und deren eigenes Zeugnis im Spiegel des Täuferzeugnisses reflektiert wird: Wie der Täufer sollen auch sie ihre eigene Rolle (ihren Auftrag, ihr Zeugnis) klären. Wie der Täufer sind auch sie nicht mehr, aber auch nicht weniger als „Wegbereiter des Herrn“. Wie der Täufer dürfen sie sich dauerhaft als Freunde Jesu, als Freunde des messianischen Bräutigams, verstehen und erfahren (vgl. bes. auch Joh 15,9–17). Das Motiv der Freude taucht nicht zufällig sowohl in Joh 3,29 als auch in Joh 15,11 auf. (c) Neben den Wortvorkommen erzählt das Johannesevangelium mit ausgeklügelter Raffinesse, wie Menschen, die Jesus begegnen, selbst zu Zeugen werden, wie sie in die mündige Zeugenschaft hineinreifen. Viele Nachfolge‑ und Begegnungssequenzen im Johannesevangelium erzählen vom missionarischen Glaubenszeugnis einzelner Personen, ohne das Wort „Zeugnis“ bzw. ein Derivat  Vgl. C. H.  Williams, John (the Baptist) (s. Anm. 299), 46–60.

655

656 Vgl. ebd. 60: „John’s earthly mission belongs firmly to the past, but his testimony still speaks

loudly in the present.“

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

zu verwenden (vgl. Joh 5,1–16; 9,1–41). Diese Erzählsequenzen sind transparent für den Weg zu einem mündigen Glaubenszeugnis zu allen Zeiten. Mündiger Glaube orientiert sich an der Verkündigung und der Gesprächsstrategie Jesu. Wie Jesus sollen seine Nachfolgenden den jeweiligen Menschen begegnen. Unter Berufung auf die Zeichen Jesu und die jüdische Theologie sollen sie sich offen vor Jesus stellen, wie es der geheilte Blindgeborene in Joh 9 exemplarisch vollzieht. Dabei kann es zu einer Verkehrung der Rollen kommen: Aus den Angeklagten werden Ankläger. Eben darin setzt sich nach johanneischem Verständnis derjenige Prozess fort, den Jesus von Anfang an in seinem irdischen Wirken „der Welt“ macht. Ausgerüstet sind die Christen für diese Aufgabe durch den Sieg Jesu über Sünde und Tod, seine bleibende Nähe als Auferstandener, durch die Gabe und die Wegführung des Geistes sowie durch die Zeugniskontinuität und ‑gemeinschaft der Glaubenden, die sich im Johannesevangelium selbst spiegelt und hier für alle Zeiten ‚aufgehoben‘ ist. (d) Bei der starken Betonung und komplexen Entfaltung des Zeugnismotivs im Johannesevangelium überrascht es nicht, dass sich der Evangelist selbst auch als Zeuge für das Evangelium Jesu Christi und sein Evangelium als Zeugnis mit kanonischer Autorität versteht (vgl. Joh 20,30–31; 21,24–25). Über diese genannten Ansatzpunkte hinaus sind folgende Aufgaben zukünftigen Studien zur johanneischen Ekklesiologie ins Stammbuch zu schreiben: (5) Auch für das Gemeinde‑ bzw. Kirchenbild sind narrative Zugänge unverzichtbar:657 So lassen sich in den verbalen und nonverbalen, in den feingezeichnten und gerade nicht dualistisch konzipierten Interaktionen einzelner Personen bzw. verschiedener Gruppen untereinander und mit dem Protagonisten Jesus Schlussfolgerungen ziehen für das johanneische Verständnis von Gemeinde, von ihrem Auftrag, von Ideal und Wirklichkeit. Jan G. van der Watt arbeitet präzise heraus, dass und wie der Evangelist stereotype Klassifikationen von Menschen bzw. Menschengruppen regelmäßig durchbricht.658 Nicht nur, aber gerade in den typischen Großsequenzen im Johannesevangelium verdichten sich in narrativer und metaphorischer Dynamik und Leserführung ekklesiologische Zielbilder, die der Evangelist seinen Adressaten einladend vor Augen führt. So lässt sich am Beispiel von Joh 5 und Joh 9 aufzeigen, wie der Evangelist das Leitmotiv „Zeugnis“ narrativ und ohne Verwendung von μαρτυρέω κτλ. entfaltet: Der Geheilte in Joh 5,1–18 und der geheilte Blindgeborene in Joh 9,1–41 reifen zu mündigen und vorbildlichen Zeugen Jesu.659 (6) Unverzichtbar und von weitreichender Bedeutung ist die Frage, wie das johanneische Gemeindeverständnis sich zum Selbstverständnis Israels als Gottes  A. J.  Byers, Ecclesiology (s. Anm. 597) plädiert für eine narrative ecclesiology: In der gesamten Erzählung entfaltet der Evangelist seine Theologie der Gemeinde bzw. Kirche. 658  Vgl. J. G. van der Watt, Stereotypes, In-Groups, and Out-Groups in the Gospel of John, in: M. C. Parsons / ​E. Struthers Malbon / ​P. N. Anderson (Hgg.), Anatomies of the Gospels and Beyond (s. Anm. 234), 300–318. 659  Vgl. hierzu „Mündiger Glaube“, S. 230–256 in diesem Band. 657

4.  Zur Theologie des Johannesevangeliums

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erwähltem Bundesvolk verhält. Auch hier dürfen einfache Schwarz-Weiß-Schemata wie das Substitutionsmodell nicht in den Text des Johannesevangeliums eingetragen werden. So sehr es scharfe und irritierende sprachliche Zuspitzungen insbesondere zu „den Juden“ gibt (vgl. nur Joh 8,44), so sehr hält das Johannesevangelium grundlegend an einer heilsgeschichtlichen Verankerung des Wirkens und der Sendung Jesu fest (vgl. nur Joh 4,9.22).660 (7) Die Geschlechterdiskussion ist für das Johannesevangelium mehrfach aufgenommen worden und führt zu einem Gesamtbild, in dem Frauen und Männer gleichermaßen autorisierte Boten und Zeugen des Evangeliums sind.661 (8) Das Johannesevangelium hat einen mitunter unterschätzen oder in Abrede gestellten universalen und missionarischen Horizont: Der κόσμος gehört grundlegend in Gottes Schöpfungshandeln (vgl. Joh 1,9.10[tris]). Er ist der bleibende Adressat der Heilssendung Jesu662 so sehr der κόσμος auch als ablehnend, ungläubig und feindlich charakterisiert wird.663 Beide Aussagereihen sind  – im Kontext des Gesamtzeugnisses des Johannesevangeliums – differenziert einander zuzuordnen.664 Schon im Prolog wird dieser „Dialog“ beider Aussagereihen intensiv intoniert und ausgeführt.665 Die beiden Aussagereihen gegeneinander auszuspielen, unterschätzt die literarische und theologische Kunstfertigkeit des Evangelisten bei weitem. Der Gemeinde kommt in der Fortsetzung der universalen Sendung Jesu eine besondere Aufgabe zu: An ihr selbst, an ihrem Zeugnis, an ihrer Liebe und Einheit, soll „die Welt“ erkennen, dass und wie sehr sie geliebt ist (vgl. Joh 17,20–23). (9) In Umrissen erkennbar wird das ausgeprägte gottesdienstliche Selbstverständnis der johanneischen Gemeinde(‑n):666 Grundlegend ist hierzu (a) auf Joh 2,13–22 mit der johanneischen Tempelmetaphorik, (b) auf die johanneische Rezeption und Interpretation des jüdischen Festkalenders, (c) auf Joh 4,1–42 mit der Leitaussage in 4,23 f („anbeten im Geist und in der Wahrheit“), (d) auf Taufe und Abendmahl667 und (e) auf das Gebet Jesu in Joh 17,1–26668 zu verweisen. (10) Konstitutiv für die johanneische Gemeinde ist sodann ihr Auftrag zum diakonischen Handeln: Herausragendes Beispiel hierfür ist die Erzählung von der  Vgl. hierzu die Ausführungen in 4.5.1–4.5.5.  Vgl. C. M.  Conway, Gender and the Fourth Gospel (s. Anm. 383), 220–236 und die Ausführungen mit Literaturhinweisen in 4.3. 662  Vgl. hierzu die Wortvorkommen: Joh 1,29; 3,16.17[tris].19; 4,42; 6,14.33.51; 7,4; 8,12.26; 9,5[bis].39; 10,36; 11,9.27; 12,19.25.31[bis].46.47[bis]; 13,1[bis]; 14,19.22.27.30.31; 16,8.11.21.28[bis].33; 17,5.6.11[bis].13.15.16[bis].18[bis].21.23.24; 18,20.36[bis].37; 21,25. 663  Vgl. hierzu die Wortvorkommen in Joh 7,7; 8,23; 14,17; 15,18.19[quater]; 16,20.33; 17,9.14[tris].25. 664 Hierzu ist insbesondere das Gerichtsmotiv zu berücksichtigen. 665 Vgl. hierzu die Ausführungen in 3.10. 666  Vgl. hierzu: M. M.  Thompson, Reflections on Worship in the Gospel of John, The Princeton Seminary Bulletin 19 (1998), 259–278; St. C.  Barton, Christian Community in the Light of the Gospel of John (s. Anm. 635), 279–301, hier: 294–300. 667  Vgl. hierzu „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6, 35), S. 279–302 in diesem Band. 668  Vgl. hierzu einführend „Das hohepriesterliche Gebet Jesu“, S. 395–411 in diesem Band. 660 661

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Fußwaschung Jesu Joh 13,1–20669 – das gilt gerade auch dann, wenn Joh 13,1–20 nicht als Aufforderung zu einer uninspirierten Imitation verstanden wird. Die sieben johanneischen Zeichenerzählungen offenbaren ein besonderes Gespür Jesu bzw. des Erzählers für existenzielle Notlagen der Menschen: – Joh 2,1–11 (fehlender Hochzeitswein) – Joh 4,43–54 (lebensbedrohliche Krankheit) – Joh 5,1–9: (Lähmung) – Joh 6,1–15: (Hunger) – Joh 6,16–21: (Schiffbruch) – Joh 9,1–41: (Blindheit) – Joh 11,1–44: (Tod) Diesen existenziellen Notlagen begegnet Jesus not-wendend und therapeutisch. Seine heilende Zuwendung ist ganzheitlich: körperliche bzw. materielle Notlagen werden nicht nur vordergründig behoben, sondern ganzheitlich wahrgenommen, ausgelotet und durch die Zuwendung in Wort und Tat Jesu als Heilsbegegnungen dechiffriert. Diese Begegnungserzählungen werden im Johannesevangelium narrativ so in Szene gesetzt und oftmals in Dialogen so reflektiert, dass sie transparent werden für den Auftrag der Gemeinde.

5.  Ergebnisse und Ausblicke Ein erheblicher Teil der Forschungspositionen, die die Auslegung des vierten Evangeliums im 20. Jahrhundert und darüber hinaus geprägt haben und prägen, haben ihre Plausibilität und Überzeugungskraft verloren. An ihre Stelle treten teils neue, teils neu reflektierte Thesen bzw. Hypothesen, die sich dem Diskurs und der Kritik stellen und sich darin bewähren müssen. Die zurückliegenden Ausführungen versuchen, hierzu einen weiterführenden Beitrag zu leisten. 5.1  Das Johannesevangelium im frühen Christentum Im Blick auf die zeit‑ und geistesgeschichtliche Verortung des Johannesevangeliums im frühen Christentum bzw. im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung (vgl. 2.1–2.4) zeigt sich, dass sich die Besonderheiten des Johannesevangeliums im Vergleich mit den Synoptikern seinen literarischen und theologischen Intentionen verdanken – also keineswegs einer wie auch immer gedachten Sonder‑ bzw. Außenseiterrolle. Die Argumente für eine Kenntnis von zwei oder drei der synoptischen Evangelien haben erhebliches Gewicht. Dabei geht es dem Evangelisten nicht um Widerspruch bzw. theologische Korrektur der synoptischen Evangelien oder einzelner Themenfelder in den synoptischen Evangelien, sondern um eine auf 669 Vgl. hierzu „Ein Beispiel habe ich Euch gegeben …“ (Joh 13,15), S. 303–322 in diesem Band und die Ausführungen unter 4.9.1.

5.  Ergebnisse und Ausblicke

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die eigene Gemeinde(‑n) bezogene, katechetische und mystagogische Vertiefung im Licht des Osterglaubens und des Geistwirkens. Eine religions‑ oder geistesgeschichtliche Sonderstellung des vierten Evangeliums – insbesondere in Gestalt einer rekonstruierbaren monolithischen Beeinflussung bzw. Zurückweisung einer konturierten konkurrierenden Gruppe – hat jede Plausibilität verloren. Einer Isolierung des Johannesevangeliums am Rande des neutestamentlichen Kanons bzw. am Rande des frühen Christentums stehen vielfältige Forschungsstände entgegen. 5.2  Die Textwelt des Johannesevangeliums Grundlegend ist und bleibt die Johannesexegese mit hoher und neuer Konsequenz an die Textwelt des Johannesevangeliums selbst verwiesen (vgl. 3.1–10). Die Aufgabe, aus dem Textbefund des Johannesevangeliums selbst die maßgeblichen analytischen und interpretativen Kriterien zu gewinnen, ist nicht abgeschlossen: Die von der klassischen Literarkritik postulierten Brüche und Spannungen im Text lassen sich oftmals, wenn nicht sogar durchgehend, anders erklären. Die klassische johanneische Literarkritik, die wahlweise mit konkurrierenden christologischen, eschatologischen, ekklesiologischen oder pneumatologischen Antagonismen rechnet, entkommt nicht der Zirkelargumentation, theologisch widerstreitende Inhalte einerseits zur literarkritischen Trennung von Überlieferungsstadien heranzuziehen und diese andererseits durch getrennte Stadien allererst in ihrer Existenz zu begründen (vgl. 3.1). So ist der klassischen johanneischen Literarkritik ihr Platz in der Forschungsgeschichte zuzuweisen. Diachrone Rückfragen haben dort ihren Platz, wo synchrone Analysen und Interpretationen tatsächlich ausgeschöpft sind. In der synchronen Interpretation des Johannesevangeliums sind jedoch noch erhebliche Schätze zu heben. Voraussetzung dafür ist eine genaue Wahrnehmung, Analyse und Interpretation der literarischen Qualität und Ambitionen des Johannesevangeliums (vgl. 3.2): Als literarische Stilmittel konsequent wahrzunehmen und auszuwerten sind: Wiederholungen und Wiederaufnahmen, Amplifikationen und Variationen, Sinnlinien, synonyme und antithetische Parallelismen, die Spiralbewegung der Gedankenführung, Missverständnisse, Ironie, die gezielt verwendete, oszillierende Semantik von einzelnen Worten, Inklusionen und chiastische Kompositionen, Lexemvernetzungen und Leitwortkompositionen, Metaphern und die vielfältigen, intelligent sortierten Anspielungen. Diese Arbeit ist in Teilen schon geleistet, Desiderate sind jedoch anzumelden.670 Die johanneische Ironie und in Verbindung mit ihr der christologisch interessierte Rollenwechsel sind angesprochen und an mehreren Beispielen belegt (vgl. 3.3). Eine umfassende Untersuchung steht jedoch noch aus. Die johanneische Metaphorik, Symbolsprache und Ästhetik sind gründlich bearbeitet (vgl. 3.4), aber wohl noch nicht vollständig ausgeschöpft worden. Das Paradigma Relekture (vgl. 3.5.1) bildet einen Gegenentwurf zur klassischen Literarkritik, die einen Wettstreit antagonistischer Positionen bemühen muss:  Vgl. hierzu wertvolle Hinweise bei H. W.  Attridge, Ambiguous Signs (s. Anm. 102).

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Dieses Paradigma betont die explizierende und vertiefende Fortschreibung der tradierten Jesusüberlieferung. Diese Sichtweise gibt dem Evangelisten einerseits Freiheiten in der Darstellung, bindet ihn jedoch zugleich an die Jesusüberlieferung zurück. Zur Diskussion gestellt wird hier das komplementäre Paradigma Réécriture (vgl. 3.5.2). Stärker als die synoptischen Evangelien und über diese hinaus inszeniert der Evangelist Johannes die einzelnen Erzählsequenzen und Begegnungsgeschichten seines Evangeliums so, dass sie je für sich als Evangelium im Evangelium gelesen werden können und sollen: In mannigfachen Umschreibungen und mit Hilfe variierender Metaphoriken und Personenkonstellationen buchstabiert der Evangelist die Bedeutung der ganzen Heilsbotschaft Jesu je neu durch. Dazu hilft ihm auch die für ihn einschlägige Verschmelzung der Zeiten, die nicht mehr zwischen vorösterlicher und österlicher Zeit unterscheidet. Das Johannesevangelium lädt darüber hinaus auch zur rekursiven Lektüre ein (vgl. 3.5.3): Viele Andeutungen, vage Aussagen und Ankündigungen im Munde Jesu, im Munde anderer Akteure oder in Erzählerkommentaren lenken die Aufmerksamkeit der Adressaten nicht nur chronologisch auf den weiteren Erzählverlauf, sondern auch zurück bis zum Prolog. Das lässt sich en detail zum Beispiel bei den johanneischen Präexistenzaussagen aufweisen: Bei Ihnen ist eine rückwärts laufende Chronologie zu beobachten. Die Botschaft des Johannesevangeliums erschließt sich aus der wiederkehrenden und wiederholenden Lektüre. Der Johannesprolog liefert hierfür ein anschauliches Beispiel. Warum verweist der Evangelist in Joh 20,30 auf „viele andere Zeichen, die Jesus tat vor seinen Jüngern“, um dann sofort dazu zu setzen, dass diese „nicht geschrieben sind in diesem Buch“? Ist das ein Tribut an rhetorische Konventionen oder die begrenzte Kapazität (vgl. Joh 21,25)? Ist das eine Respektlosigkeit gegenüber den nicht aufgeschriebenen „Zeichen“ Jesu? Ist das ein auf Transparenz zielender Hinweis zu seiner Auswahltätigkeit und/oder ein Signal für literarkritische Operationen? In Zusammenschau und im Kontrast zu der Fortführung in Joh 20,31a: „Diese aber sind aufgeschrieben, damit …“ lenkt der Evangelist die Aufmerksamkeit seiner Adressaten erneut auf die von ihm aufgeschriebenen „Zeichen“ zurück, die hier umfassend für das ganze Auftreten Jesu stehen. „Diese“ Zeichen ermöglichen und rufen zur Genüge zu dem Glauben, für den der Evangelist durchgehend wirbt. Darin liegen das Signal und die Einladung zur wiederholenden Lektüre und Zuwendung zum Johannesevangelium insgesamt. Auch die kanonische Autorität, die der Evangelist für sein „Buch“ (Joh 20,30) in Anspruch nimmt (vgl. Joh 1,1; 20,30 f; 21,24 f ), verstärkt die Hinweise auf die vom Evangelisten intendierte rekursive Lektüre seines Evangeliums. Die narrative Analyse und Interpretation des Johannesevangeliums verzeichnet überzeugende und weitreichende Erfolge (vgl. 3.6). Sie stellt zuvor übersehene oder unterbewertete Textbeobachtungen ins Licht der Aufmerksamkeit. Dies gilt sowohl für Textbeobachtungen zu einzelnen Perikopen als auch für im Johannesevangelium wiederkehrende narrative Strategien. Insbesondere die Forschung zu den Character Studies leistet einen wesentlichen Beitrag zur Entdeckung und

5.  Ergebnisse und Ausblicke

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Beschreibung der narrativen Strategien des vierten Evangelisten. Auch in diesem Bereich sind weitere Erträge möglich und wahrscheinlich. Gemeinsam ist diesen Forschungsbeiträgen die Abkehr von allzu einfach gestrickten Schwarz-WeißSchablonen. Diese will der Evangelist gerade nicht bedienen. Der Evangelist verfügt über die literarische Kompetenz, seine Leitmotive sowohl verbal als auch narrativ zu entfalten. In Joh 5,1–18 und 9,1–41 wird das Motiv des mündigen Glaubens bzw. Zeugnisses narrativ inszeniert, ohne den Wortstamm μαρτυρία κτλ. zu verwenden.671 Eine maßgebliche Aufgabe der narrativen Interpretation ist die Beschreibung des narrativen Plots im Johannesevangelium (vgl. 3.7): Beim Plot geht es um die Frage, wie eine Vielzahl von Einzelerzählungen in einem Gesamtcorpus durch ein variantenreich wiederkehrendes Grundmuster (= Narrativ), das stabil und flexibel zugleich ist, verbunden werden. Der Plot des Johannesevangeliums besteht nicht allein in der Sendung Jesu (Kommen Jesu in die Welt und Rückkehr zum Vater). Er ist zugleich und wesentlich ein epistemologischer: Es geht um die Identität Jesu, um die gläubige Aufnahme bzw. Ablehnung Jesu (vgl. Joh 1,11–13) bzw. das Nicht-Kennen (vgl. Joh 1,26) und den Weg zum gläubigen Erkennen der Identität Jesu (vgl. Joh 20,28–31). Das Johannesevangelium erzählt die vita Jesu und bleibt damit dem Rahmen der synoptischen Evangelien treu. Gleichzeitig spiegelt der Evangelist – stärker noch als die synoptischen Evangelien, die diesen Weg auch beschritten haben –, in den von ihm ausführlich in Szene gesetzten Begegnungsgeschichten den Glaubensweg bzw. die Glaubenswege der Christen, an die er sich unmittelbar wendet. Der epistemologische Plot des Johannesevangeliums zielt präzise auf die Adressaten. Die bei Johannes gegenüber den Synoptikern deutlich fortgeführte Verschmelzung von vorösterlicher und österlicher Zeit ist vielfältig aufgewiesen und beschrieben worden (vgl. 3.8.1): Im irdischen Jesus spricht zugleich der Auferweckte und Erhöhte. Auch hier geht es dem Evangelisten darum, in seinem „Buch“ (Joh 20,30) in der Retrospektive das geschichtliche Wirken Jesu in Wort und Tat so darzustellen, dass es im Licht des Osterglaubens und des Geistwirkens zum Ort der Begegnung mit dem Auferstandenen wird. Dabei handelt es sich nicht um einen originellen literarischen Kniff des Evangelisten, sondern um die narrative Vermittlung relevanter theologischer Überzeugungen: Die Auferstehung Jesu setzt ihn und sein Wirken in Wort und Tat dauerhaft-bleibend ins Recht. Damit ist eine österlich-pneumatische Anamnese seines geschichtlichen Wirkens möglich, gefordert und theologisch verankert. Aus den beiden Polen Auferstehung und Präexistenz ergibt sich zudem die Jesus im Johannesevangelium zugeschriebene Zeitsouveränität (vgl. 3.8.2) sowie die eschatologische Zeitdeutung insgesamt (vgl. 4.5).

671 Vgl. hierzu u. a. auch die Auslegung von Joh 5 und 9 in „Mündiger Glaube“, S. 230–256 in diesem Band.

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

Am Beispiel der Fußwaschungserzählung Joh 13,1–20 lässt sich die johanneische Strategie des Refraimings aufweisen (vgl. 3.9.1): Die Fußwaschung Jesu führt absichtsvoll zu einer erheblichen Irritation – intradiegetisch bei Petrus und extradiegetisch bei den Adressaten. Durch diese heilsame Irritation ihrer herkömmlichen Verstehensmuster hindurch werden die Adressaten zu dem neuen Bewertungsmuster Jesu bzw. des Evangelisten geführt (Refraiming). Der Evangelist ist sich im Klaren, welche politische Reichweite die (in der Fußwaschung zeichenhafte) Konterkarierung politisch und gesellschaftlich sanktionierter Rollenmuster hat. Hierzu gibt auch die johanneische Passionsdarstellung einigen Anlass (vgl. nur Joh 19,12: „Freund des Kaisers“). Die in den Einleitungswissenschaften profilierte Gattungskritik stößt (nicht nur?) beim Johannesevangelium an deutliche Grenzen: Eineindeutige Zuordnungen johanneischer Perikopen und Sequenzen zu bestimmten Gattungen scheitern vielfach an ihren individuellen Profilen. Das gilt sowohl für die Gattung des Johannesevangeliums insgesamt als auch für Gattungen im Johannesevangelium (nicht zuletzt für die Abschieds‑ bzw. Vermächtnisrede672). Es lässt sich aufweisen, wie der Evangelist die in der Antike vielfach verwendete Technik, Gattungen spielerisch, kunstvoll und transformierend zu verwenden, übernimmt und gezielt für seine Zwecke dienstbar macht (Genre Bending; vgl. 3.9.2). Die Auslegung des Prologs in 3.10 zeigt exemplarisch auf, dass und wie der Evangelist Begriffe decodiert und gleichzeitig neu codiert: Am Beispiel des multivalenten Begriffs λόγος lässt sich eine sukzessive Decodierung bzw. Neucodierung in christologischer Absicht nachweisen. Dabei werden mehrere Ziele verfolgt und erreicht: Unterschiedliche philosophische und kulturell-religiöse Systeme werden angesprochen und eingebunden. Die Adressaten erfahren eine intelligente Lenkung ihrer Aufmerksamkeit und ihres verstehenden Nachvollzugs. Sie werden zugleich eingeführt in die einzelnen Sequenzen ebenso wie in die das ganze Johannesevangelium prägende Strategie sukzessiver Entschlüsselungen und Neudefinitionen. In der erneuten und vertieften Hinwendung zur johanneischen Textwelt (vgl. 3.1–3.10) liegen vielfältige Chancen und neue Wege, die zum Teil schon beschritten sind, zum Teil aber noch neuer Forschungsanläufe bedürfen. Dabei ist und bleibt eine je genauere Testbeobachtung und ‑interpretation das maßgebliche Kriterium, wenn Exegese nicht zur Eisegese mutieren soll. 5.3  Zur Theologie des Johannesevangeliums Wie die anderen frühchristlichen Schriften stand auch das Johannesevangelium vor der Aufgabe, den Monotheismus Israels und die Christologie so miteinander zu vermitteln, dass weder das eine noch das andere Schaden nimmt und die Einheit Gottes und seines Heilshandelns betont wird. Dabei stellt sich das Johannesevangelium in die ihm überkommene urchristliche Verkündigung und arbeitet sie  Vgl. hierzu auch K. Scholtissek, Jesu Abschied? (s. Anm. 263).

672

5.  Ergebnisse und Ausblicke

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zugleich vertieft aus: Mit den reziproken Immanenzaussagen zwischen Vater und Sohn gelingt dem Evangelisten sowohl eine wesenhafte Zuordnung als auch eine klare Unterscheidung von Vater und Sohn (unio distinctionis). Johannes entwickelt auf diese Weise auch einen neuen Personbegriff, der personale Identität in einer Relation begründet sieht (vgl. 4.1). Der Evangelist Johannes beruft sich – insbesondere ausweislich der Parakletworte Joh 14,16 f.25 f; 16,12–15 – für die Abfassung seines „Buches“ (Joh 20,30) auf die geistgewirkte und ‑geführte Erinnerung (Anamnese), die vertiefte Durchdringung und aktuelle Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi. Im Licht des Osterglaubens und der Hodegie des Geistes gehen die vollständige Erinnerung und die Vergegenwärtigung der Jesusüberlieferung eine untrennbare Synthese ein (vgl. 14,26: „Der Paraklet aber, der Heilige Geist, …, jener wird euch alles lehren und an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“). Dieses Wirken des Geistes lässt Rückschlüsse zu auf die johanneische Einschreibung des Geistes in den angestammten biblischen Monotheismus (vgl. 4.2). In der Forschung werden die schöpfungstheologischen und anthropologischen Aussagen und Themen im Johannesevangelium bislang noch zu wenig beachtet. Gerade die starken Bezugnahmen zur neuen Schöpfung werden für sich und nicht zuletzt für die übergreifenden theologischen Zusammenhänge weithin noch unterschätzt (s. 4.3). Der Evangelist entwickelt eine soteriologische Kreuzestheologie sui generis (vgl. 4.4), die die Spannung zwischen dem Menschsein Jesu (vgl. Joh 19,5: ecce homo; vgl. Joh 1,14; 1,46) und seiner Gottessohnschaft bis in seine freie Lebenshingabe in den Tod durchhält und aushält. Jesu Lebenshingabe in den Tod wird unter Aufnahme biblischer Bezüge (bes. Passah bzw. Passahlamm; Gottesknecht) soteriologisch gedeutet (vgl. bes. Joh 1,29; 3,14–17; 6,51–58; 11,50–52; 15,13). Das Kreuz steht im Johannesevangelium in seiner ganzen, ungemilderten Anstößigkeit für den Kulminationspunkt der Liebeszuwendung des Schöpfers in Jesus Christus zu seiner Schöpfung (vgl. κόσμος in Joh 3,14–17). Durchgehend im gesamten Evangelium und in kaum zu überschätzender Dichte und Vielfalt zeigt sich der Evangelist als hochversierter Schrifttheologe (vgl. 4.5): Er verfügt über eine breite Kenntnis der Schriften Israels und ihrer Auslegungstraditionen. Er zitiert ausgehend vom hebräischen und vom griechischen Original. Er kennt und rezipiert (a) die biblische Schöpfungstheologie, (b) größere biblische Textzusammenhänge, (c) in großer Breite biblische Metaphern und metaphorische Cluster, (d) die Heilstraditionen Israels, den jüdischen Festkalender und die jüdische Tempeltheologie, (e) biblische Personen und Propheten sowie (f ) die oftmals mit ihnen verbundenen Verheißungen. Dabei stellt sich der Evangelist inhaltlich in die Kontinuität der Gottesgeschichte mit seinem erwählten Volk Israel (vgl. nur Joh 4,22). Der Gott Jesu ist für ihn kein anderer als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Die Schriften Israels bilden den bleibenden Referenzrahmen der johanneischen Theologie. Gleichzeitig dienen Kontroversen zur ‚richtigen‘ Auslegung der Schrift im Johannesevangelium zur Legitimierung

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

des Anspruchs Jesu (vgl. Joh 5; 7; 9). Im Sinne des vierten Evangelisten legen die Schriften insgesamt Zeugnis für ihn ab (vgl. Joh 5,39) – ebenso wie Mose (vgl. Joh 5,46), Abraham (vgl. Joh 8,56) und Jesaja (vgl. Joh 12,41). Genau hier an diesem christologischen Anspruch Jesu scheiden sich die Geister. Genau hier beginnt auch die johanneische Polemik und Abgrenzung gegenüber „den Juden“  – mit ihrer fatalen Wirkungsgeschichte. Diese Polemik und Abgrenzung kritiklos zu repetieren, leistet dem Antijudaismus Vorschub. Der Evangelist Johannes präsentiert seinen Adressaten in seinem Evangelium ein komplexes Verständnis der eschatologischen Zeit (vgl. 4.6): So sehr der vierte Evangelist dem Aufriss der synoptischen Evangelien treu bleiben will und treu bleibt (vgl. nur den Gesamtaufbau sowie die leserlenkenden Signale von der noch nicht gekommenen bzw. gekommenen „Stunde“), er unterscheidet nicht mehr kategorial zwischen der vorösterlichen und der österlichem Zeit, zwischen dem inkarnierten und dem österlichen Jesus: So spricht im irdischen Jesus regelmäßig der österlich Erhöhte – in die (jeweilige) Gegenwart der das Evangelium hörenden Gemeinde. Mit der Sendung Jesu (seiner Inkarnation, seiner heilenden Verkündigung in Wort und Tat, der von ihm heraufgeführten Krisis, seinem gewaltsamen Tod, seiner Auferstehung, Erhöhung und Verherrlichung sowie Geistsendung) beginnt Gottes verheißene, eschatologische Heilszeit. Präsentische und futurische Eschatologie sind ineinander verschlungen und verweisen wechselseitig aufeinander. Diese Verschränkung der Zeiten führt bei Johannes zu einer ausgearbeiteten Zeitsouveränität Jesu, die durch die Präexistenzaussagen noch vertieft und verankert wird. Die Schnittstellen des Johannesevangeliums zu zeitgenössischen Philosophien werden in der jüngeren Johannesforschung mit neuer Gründlichkeit herausgestellt (vgl. 4.7). Stabile Ansatzpunkte hierfür sind Leitbegriffe, die sowohl in philosophischen Traditionen als auch im Johannesevangelium prominent interpretiert werden. Darüber tritt das Johannesevangelium selbst mit einem denkerischen, philosophischen Anspruch auf. Für die Interpretation ist auch hier darauf zu achten, in welchen spezifisch johanneischen Kontexten und Strategien philosophisch relevante Themen und Leitbegriffe decodiert bzw. neucodiert werden. Wenn sich der Evangelist für sein eigenes „Buch“ auf eine geistgeführte Anamnese und Vergegenwärtigung von Bote und Botschaft beruft (vgl. 4.2) und das Geistwirken ausdrücklich dauerhaft auf die ganze Gemeinde als Adressaten bezieht (vgl. auch die Tauftheologie in Joh 3) und dies mit einer Immanenzaussage des Geistes in den Glaubenden noch zuspitzt (Joh 14,17), dann spricht vieles dafür, die Wegführung des Geistes dauerhaft als Einladung zu einem in diesem Sinne spirituellen Glaubens‑ und Lebensweg zu deuten. Dieser Glaubensweg wird ausweislich der johanneischen Begegnungsgeschichten mystagogisch gedeutet. Die kühne Übertragung der intimen Vater-Sohn-Beziehung auf die Beziehung zwischen dem Sohn und den Glaubenden, die in der Anwendung der reziproken Immanenzaussage auch für die Beziehung zwischen dem Sohn und den Glauben-

5.  Ergebnisse und Ausblicke

145

den ihren Ausdruck findet (vgl. Joh 14,20), begründet und ‚erklärt‘ die mystische Dimension des Glaubens im johanneischen Verständnis (vgl. 4.8). Die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts markieren eine Neu-Entdeckung der bis dahin weitgehend marginalisierten johanneischen Ethik (vgl. 4.9). Herausgearbeitet werden die starke Verankerung der johanneischen Ethik in der christologisch und pneumatologisch vermittelten und im Glauben gewonnenen Gottesbeziehung sowie die starke Fokussierung auf das alles Handeln durchformende Liebesgebot bzw. die spezifisch johanneische Freundschaftsethik. Die johanneische Ethik wird wesentlich narrativ entfaltet. Dies gilt sowohl für den Protagonisten des Johannesevangeliums als auch für alle weiteren Personen: (a) Jesus selbst verkörpert geradezu Gottes liebende Zuwendung zu seiner Schöpfung (vgl. Joh 3,16). Seine Sendung, seine heilende Zuwendung zu den Menschen wie seine Lebenshingabe (vgl. Joh 12,24), begründen die Ursprungseinheit von Soteriologie und Ethik im Johannesevangelium. (b) In den vielschichtigen Dialogen und Gesprächssequenzen wie in den sich entwickelnden Personenbeschreibungen bzw. ‑konstellationen (characterization) reflektiert der Evangelist das gewünschte und das zurückgewiesene Verhalten. Auch die im Johannesevangelium wiederkehrenden, narrativ inszenierten Zeitkonflikte transportieren ethische Inhalte. Eine analoge Neu-Entdeckung der johanneischen Ekklesiologie steht noch aus: Neben bzw. vermittelt mit metaphorischen Clustern und thematischen Leitmotiven, die vertiefend ausgelotet werden können (Ansatzpunkte hierzu finden sich in 4.9.2), ist die narrative Ekklesiologie noch weitgehend unterbelichtet. Aus der Forschungsgeschichte heraus besteht zudem weiterhin die Gefahr, den Israelbezug der johanneischen Gemeinde erheblich zu unterschätzen bzw. ihn ganz zu bestreiten. Auch missionarische, amtstheologische, gottesdienstliche, rituelle bzw. sakramentale Aspekte und der diakonische Auftrag der Gemeinde sind bisher noch unzureichend im Fokus. 5.4  Die hohe Kunst des Evangelisten: Einladung zum Glaubensweg Die Ausführungen in diesem Beitrag und in den folgenden Aufsätzen zeigen, dass das Johannesevangelium in seinem eigenen theologischen Anspruch, seiner hohen literarischen und erzählerischen Kunstfertigkeit nicht unterschätzt werden darf.673 Schwarz-Weiß-Schablonen und schlichte Dualismen werden der johanneischen Evangelienschreibung auch nicht im Ansatz gerecht. Durchgehend zeigt sich, dass sich das Johannesevangelium einer verführerischen Komplexitätsreduzierung und mithin einfachen Lösungen sowohl sprachlich als auch theologisch verweigert. Eine gereifte und reifende historisch-kritische Exegese wird immer neu auf den 673  Vgl. die treffende Beschreibung von B. Mathew, Footwashing (s. Anm. 55), 1: „The Fourth Gospel draws the reader into its world through its specific characteristics, which include intricate metaphorical expression, ironic mystification, narrative twists and turns and a vibrant network of contrasting pairs. The footwashing is one such event where reader might think s/he has a clear perception of what John means, but in reality does not.“

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1.  Perspektiven der Johannesforschung

theologischen Anspruch des Johannesevangeliums gestoßen. In der akribischen Arbeit an den Texten selbst rückt die „theologische Intensität“ (Thomas Popp) des Johannesevangeliums unmittelbar in den Blick. In seiner Münchener Abschiedsvorlesung aus dem Jahre 2010 stellt Jörg Frey ausweislich des Titels: „Die johanneische Theologie als Klimax der neutestamentlichen Theologie“674 eine weitreichende und zugleich überzeugende These auf: Das Johannesevangelium ist „der Höhepunkt und die ‚Klimax‘ der neutestamentlichen Theologie“.675 Ausgehend von der „synthetischen und zugleich bleibend dialektischen ‚hohen‘ Christologie“676 des Evangelisten, sowie seiner Theo-logie („Die geschichtliche Bestimmtheit Gottes und die Prädikation seines Wesens als ‚Liebe‘“677) und Pneumatologie („Der Geist als personale Größe und die Ansätze eines prototrinitarischen Denkens“678) entwickelt er die These: „Nicht nur die Worte Jesu – und erst recht nicht die Rekonstruktion des ‚historischen Jesus’ – besitzen Autorität, sondern auch der weitere Weg der theologischen Einsichten, der ‚erinnernden‘ Deutung von der frühen Urgemeinde bis zum Abschluss des neutestamentlichen Kanons – oder sogar darüber hinaus – kann als theologisch legitim gelten, nicht nur die palästinische Glaubens‑ und Denkweise der Urgemeinde, sondern auch die Weiterdeutung in der hellenistischen Diaspora, nicht nur die Evangelien, sondern auch die Theologie des Paulus und weiterer Zeugen.“679 Mit dem Erzählerkommentar in Joh 20,30 f, dem erklärten Sinnziel des Evangelisten, gilt: Der Evangelist zielt auf den Glauben seiner Adressaten, den er fordert, fördert, vertieft und mystagogisch ausleuchtet: Johannes ruft zum Glauben an das endzeitliche Wirken des Gottes Israels in der Sendung seines Sohnes, ein Glaube, der teilgibt an der Lebensfülle, aus der der Sohn von allem Anfang an und für alle Zeit für die „Seinen“ (Joh 1,11) lebt und wirkt. In den vielfältigen Begegnungsgeschichten des Johannesevangeliums buchstabiert der Evangelist neu und vertiefend, was er unter „glauben“ versteht und wie er zu einem mündigen Glaubenszeugnis reift: Glaube ist kein punktuelles Anerkennen und Fürwahrhalten, keine kognitiv-abstrakte Erteilung einer Zustimmung, keine statische, sondern eine existenzielle, dynamische Beziehung. Glaube im Sinne des Johannesevangeliums führt in eine Begegnung mit Jesus Christus und in einer Beziehung mit Jesus Christus, die suchenden Menschen Sinn stiftet, die „Hunger“ und „Durst“ stillt, in der Menschen eine Antwort für ihre Lebens-Suche finden, in dem suchende und glaubende Menschen über Missverständnisse hinweg in eine Gottes-Beziehung geführt werden, die ihr ganzes Leben prägt, bestimmt und zur Lebensfülle führen will: „… ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen“ (Joh 10,10).  J. Frey, Die johanneische Theologie als Klimax (s. Anm. 25).  Ebd. 833. 676  Ebd. 816. 677  Ebd. 822. 678  Ebd. 826. 679  Ebd. 832. 674 675

5.  Ergebnisse und Ausblicke

147

Diese Glaubensbeziehung zu Jesus Christus (und durch und mit ihm zum Vater) hat eine asymmetrische und eine symmetrische Dimension: (a) Es ist Jesus, der allem Glauben, allem Kennen seitens der Menschen immer schon voraus ist. Dies buchstabiert der Evangelist vielfach sehr detailliert und exemplarisch durch: zuerst bei Johannes dem Täufer (vgl. Joh 1,19–34), dann bei den ersten Jüngern, (vgl. Joh 1,35–51; besonders Nathanael: Joh 1,47 f ) und durchgehend im Gesamt des Evangeliums in vielfachen Varianten. Jesus ist den Glaubenden in jeder Hinsicht überlegen und voraus. Er hat Teil an Gottes souveräner Machtfülle. In ihm und durch ihn offenbart sich Gott selbst ganz und endgültig. Er selbst ist in persona Gottes Heilsgeschenk für die Menschen: Licht, Leben, lebendiges Wasser, Brot des Lebens, Weg und Wahrheit in absoluter Weise. Er ist „der Lehrer und der Kyrios“ (Joh 13,13), er erweist seine Freundesliebe bis in den Tod, schenkt seine Freundschaft und fordert die Einhaltung seiner Gebote (bes. des Liebesgebotes). Er ist der Erwählende, nicht seine Freunde (vgl. 15,9–17). (b) Jesus bezeichnet seine Jünger und Jüngerinnen als „Freunde“, nicht als „Knechte“ (Joh 15,14). Anders als für die „Knechte“, die nicht wissen, was ihr Herr (κύριος) tut, gilt für die Freunde Jesu: „… alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan“ (Joh 15,15). Diese Freundschaft fordert und ermöglicht ein Leben aus der Freundschaft mit Jesus und für die Freunde Jesu nach dem Maßstab Jesu (vgl. Joh 13,34; 15,9–17). Lesende und Hörende aller Zeiten können im Johannesevangelium dem begegnen und den finden, der von sich selbst sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6).

II.  Relecture und réécriture

1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26) Die Messias-Regel des Täufers als johanneische Sinnlinie – aufgezeigt am Beispiel der relecture der Jüngerberufungen in der Begegnung zwischen Maria von Magdala und Jesus 1. Einführung Das JohEv gilt mit guten Gründen in der neutestamentlichen Forschung als das jüngste der vier kanonischen Evangelien. Einerseits bedeutet dies im Vergleich mit den synoptischen Evangelien unter rein zeitlichen Gesichtspunkten den größten Abstand zum Leben und Geschick Jesu,1 das die vier Evangelien ja auf je eigene Weise darstellen und deuten. Andererseits kann und darf dieser joh Abstand als Reifungsprozess sui generis verstanden werden. Mit R. Schnackenburg ist das JohEv zu verstehen als „die reifste Frucht der Evangelienproduktion und die vollkommene Verkörperung dessen, was ‚Evangelium‘ seinem inneren Gehalt nach sein will.“2 So dokumentiert das JohEv nach seinem eigenen Selbstverständnis3 einen Zeugnis‑, Verkündigungs‑ und Deutungsprozess der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, der darauf abzielt – freilich in einer eigenen Sprachgestalt – „die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen, und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt“ (vgl. Eph 3,18–19). Diesem Reifungsprozess nachzuspüren und die Früchte joh Evangeliumsverkündigung im Evangelium zu entdecken und sich anzueignen, kommt einem Abenteuer gleich (vgl. Joh 3,8). Bevor mit Hilfe des Täuferwortes in 1,26de die joh Kunstfertigkeit und Feinsinnigkeit in Darstellung und Deutung exemplarisch an den Verbindungen und Beziehungen zwischen der joh Erzählung der Jüngerberufungen 1,35–51 und der österlichen Begegnung zwischen Jesus und Maria von Magdala 20,1–2.11–18 aufgewiesen werden soll, ist es sinnvoll, kurz auf einige Kommunikationsregeln hinzuweisen. 1 Es ist freilich ein Vorurteil anzunehmen, allein die zeitliche Nähe oder Distanz zur Geschichte Jesu als solche begründe eine größere oder geringere Glaubwürdigkeit und Authentizität. 2 R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/1–4, Freiburg i. Br. I (1965) 71992; II (1971) 41985; III (1975) 51986; IV (1984) 31994, hier: Joh I 2. 3  Vgl. nur Joh 14,16–17.26; 15,26–27; 16,7–15, hier: 13: „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen.“ Vgl. hierzu Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996. Zu einer Würdigung dieser und weiterer neuerer Arbeiten zu den joh Abschiedsreden vgl. H.-J. Klauck, Der Weggang Jesu. Neue Arbeiten zu Joh 13–17, BZ 40 (1996), 236–250.

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

1.1  Erzählte Kommunikation und Kommunikation durch Erzählung Im JohEv zeigt sich eine meisterliche Erzählkunst (1) im Blick auf die erzählte Welt und (2) im Blick auf die Gesprächsführung des Evangelisten mit seinen Lesern bzw. Hörern. 1.1.1  Erzählte Kommunikation Das JohEv kennzeichnet einerseits eine durchgehende erzählerische Linienführung, die schon im Prolog Joh 1,1–18 grundgelegt wird: Die Verse 1,5 und 1,9– 13 sprechen in wachsender Konkretion4 von dem „Licht“, das in die „Welt“ kommt und auf Ablehnung (V. 11) oder Annahme (V. 12) stößt. Das gesamte folgende Erzählgeschehen lässt sich als Entfaltung, Präzisierung und Vertiefung dieser Erzählvorgabe deuten. Das Kommen des „Lichtes der Welt“ (8,12) in die „Welt“ initiiert einen „Prozess“ (gr. κρίσις; vgl. nur: 3,16–21; 5,27; 12,47–48), der in der Passion Jesu kulminiert und sich in der nachösterlichen Sendung des Geistes und der Jünger fortsetzt (vgl. 16,7–15; 20,19–23).5 Dieser joh Sinnlinie6 ordnen sich die Handlung mit ihren Komplikationen und die Profilierung der Charaktere zu. Andererseits beinhalten ein großer Teil der joh Sinnabschnitte – so sehr sie in den Gesamtkontext des Evangeliums integriert sind – in sich eine vollständige Darstellung des Gesamtevangeliums. Auf jeweils unterschiedliche Weise, in wechselnden Perspektiven und „Sprachspielen“ enthalten die joh Großerzählungen die Gesamtaussage des Evangeliums (Evangelium im Evangelium). 1.1.2  Kommunikation durch Erzählung Vermittels der erzählten Welt im Evangelium kommuniziert der Evangelist mit seinen Lesern und Hörern. Die Art und Weise seiner erzählerischen Präsentation 4  Vgl. ausführlich zu den rhetorischen und inhaltlichen Entwicklungslinien im JohannesProlog: M. Theobald, Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh, NTA.NF 20, Münster 1988, 143 f.264.267–271.297 f; O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995, 80–113.114–147, hier: 132: „(…) inhaltlich knüpft V. 9 jedenfalls an V. 4–5 an, so dass die V. 9–13 als Exegese der V. 3–5, näherhin des Schlüsselverses 5, gelesen werden können.“ M. Theobald und O. Schwankl greifen die grundlegenden Ausführungen von H. Lausberg, (Ders., Der Johannes-Prolog. Rhetorische Befunde zu Form und Sinn des Textes, NAWG.PH, Göttingen 1984, 189–279), auf. 5 Zum Gesamtthema vgl. J. Blank, Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg 1964. 6 Innerhalb der strukturalen Textlektüre geht es bei der Erstellung des semantischen Inventars um die Zusammenstellung bedeutungsverwandter Lexeme/Wörter zu Sinnlinien; vgl. W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg i. Br. 1987 (31993), 96–102; vgl. auch die Begriffe Isotopie (= das wiederkehrende Auftreten eines semantischen Merkmals als wichtiges Indiz der inneren Kohärenz der Wörter und Sätze) und Wortfeld (= Gruppe von unterschiedlichen, nicht vom selben Stamm abgeleiteten Wörtern mit inhaltlicher Zusammengehörigkeit). Zu den beiden letztgenannten Definitionen vgl. P.-G. Müller, Lexikon exegetischer Fachbegriffe, Biblische Basis Bücher 1, Stuttgart 1985, 144.254.

1. Einführung

153

des Evangeliums in all seinen Facetten ‚programmiert‘ den Verstehensprozess zu einem guten Teil. Die Lesenden werden schon durch den Prolog in die joh Sinnwelt eingeführt; der Evangelist gibt ihnen von Beginn an Verstehens‑ und Lesehilfen mit auf den Weg. Diese den Leser begleitende Kommentierung, Wertung und Deutung des erzählten Geschehens kann (a) explizit7 oder auch (b) ‚versteckt‘ erfolgen. (a) Auffällig ist im JohEv zum Beispiel die bis in die Wortwahl hohe Deckungsgleichheit von direkter Rede Jesu und kommentierenden Passagen des Evangelisten.8 Der Evangelist schreibt und kommentiert in Übereinstimmung mit der Perspektive Jesu, er versteht sich gleichsam als der nachösterlich weitersprechende Mund Jesu. (b) Die beiden herausragenden Zeugen-Gestalten des JohEv, Johannes der Täufer und der geliebte Jünger, spiegeln das Selbstverständnis und die theologische Position des Evangelisten wider.9 Die joh Schule10 versteht sich in der Kontinuität ihres „wahren Zeugnisses“ (vgl. 1,7–9.15.19–51; 19,35; 21,24–25). Johannes der Täufer und der geliebte Jünger sind „Sprachrohre“ des Evangelisten.11 In Joh 3,11 ‚rutscht‘ Jesus bezeichnenderweise das joh „wir“ in den Mund. Hier – und nicht nur hier – wird die Ebene der erzählten Welt und die nachösterliche Erfahrung der joh Zeugen, dass ihre Verkündigung nicht angenommen wird, ineinander geblendet. Die joh Erzählstrategie, die die Annahme oder Nichtannahme provozierende Sendung Jesu in den Mittelpunkt stellt, hat ihre nachösterliche Fortsetzungsgeschichte im Geschick der Zeugen Jesu. Im JohEv wird der Leser aufgefordert, sich die Perspektive des Erzählers, seine Werturteile und seine Glaubenssicht zu eigen zu machen, ja gewissermaßen mit ihm und an seiner Seite das Evangelium Schritt für Schritt zu durchwandern. Der allwissende Erzähler weiht die Leser von Beginn an in den Sinn und die Bedeutung des Kommens Jesu „in die Welt“ ein und lässt sie teilhaben an seiner

 7  Vgl. die häufigen expliziten Erzählerkommentare, in denen der Evangelist direkt das Gespräch mit den Lesenden aufnimmt: 2,11.17.21–22; 4,8.9e.54; 5,9b.13; 6,6.15.64c–g.71; 7,39; [8,6a– d]; 8,27; 9,14.22–23; 10,6.(19); 11,2.(5).13.18.(30).51.57; 12,6.16.33.37–44; (13,1); 13,2b–3.11a.(28–29); 18,9.32.(40); 19,24e–g.35–37; 20,9.30–31; 21,1.14.19a–c.(23c–g/h).24–25.  8  Vgl. R. A.  Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia (1983) 21987, 13–49.  9 Vgl. hierzu nur die teils wörtlichen Übereinstimmungen („wir haben gesehen und bezeugen“) und Wiederaufnahmen zwischen 1,34; 3,11.32; 4,42; 6,69; 8,38; 19,35; 20,1–29 et passim; 21,24; 1 Joh 1,1–4. 10  Vgl. das joh „wir“, das ein ekklesiales Selbstverständnis zu erkennen gibt; hierzu: H.J. Klauck, Gemeinde ohne Amt? Erfahrungen mit der Kirche in den johanneischen Schriften (1985), in: Ders., Gemeinde  – Sakrament  – Amt. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 195–222, hier: 198 f. Zur joh Ekklesiologie vgl. den Forschungsüberblick und die weiteren Ausführungen im eigenen Beitrag „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, in diesem Band, S. 205–229. 11 Vgl. hierzu ausführlicher O. Schwankl, Licht (s. Anm. 4), 122–124, hier: 123: „Das Zeugnis des Johannes erscheint dann in der Komposition als initiales, das des geliebten Jüngers als finales Zeugnis.“

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

überlegenen Perspektive. Der Evangelist wirbt entwaffnend offen (vgl. 20,30–3112) und mit großer erzählerischer Raffinesse für sein christologisches Credo. 1.2  Evangelium als Mystagogie: Die Mystagogie Jesu und die Mystagogie des Evangelisten Die wechselseitige Spiegelung von textinterner und ‑externer Gesprächssituation macht der Evangelist auch für ein charakteristisches Moment seines im Evangelium entfalteten Christusbildes fruchtbar: die mystagogische Kompetenz Jesu.13 (1) So lässt der Gesprächsverlauf z. B. bei den Jüngerberufungen Joh 1,35–51 oder in der Begegnung mit der Samariterin in Joh 4 eine feinsinnige, die Tiefe der Begegnung (an‑) deutende und auslotende Gesprächsführung erkennen. In der Begegnung mit ihm führt Jesus die jeweiligen Gegenüber über einzelne Stationen im Gespräch hinweg zu einer Offenbarung seiner selbst und ineins damit zur Antwort ihrer religiösen Lebens-Suche14 bzw. ihres Lebens-Durstes15. Im JohEv ist das Wissen um den bedürftigen (vgl. 2,3: „Sie haben keinen Wein“; 4,17: „Ich habe keinen Mann“; 5,7: „hominem non habeo“), den hungernden, dürstenden, existenziell und religiös fragenden (vgl. 3,1–21; 12,21) und suchenden Menschen sehr lebendig. Am Anfang einer Wundergeschichte oder einer Begegnungsgeschichte steht fast immer eine Mangelsituation, die Jesus – die vordergründige Situation übersteigend – in ihrer Tiefe erhellt und ‚beantwortet‘; vgl. 2,1–12, hier: V. 3; 4,1–42, hier: V. 5; 4,46; 5,1–47, hier: V. 7; 6,1–59, hier: V. 26–27; 9,1–41; 11,1–53. Im zweiten Hauptteil des JohEv wird diese joh ‚Methode‘ durchgehalten: Hier konzentriert sich die Mangelsituation auf die durch den Fortgang bedingte Abwesenheit Jesu: Auch diesem ‚Mangel‘ hilft Jesus in gewisser Weise mit sich selbst ab. „Wie können wir den Weg wissen?“ (14,5de) fragt Thomas zurück als Entgegnung auf die Zusicherung Jesu: „Und wohin ich weggehe – ihr wisst den Weg“ (14,4). Was in der „Weg“-Frage des Thomas schon anklingt,16 wird in dem offenbarenden „ICH-bin“Wort Jesu in 14,6bc gänzlich klar: Im Zusammenhang der konkreten Bewältigung des Fortgangs Jesu stellt sich die anthropologische Grundsatzfrage „nach Sinn 12 Zur Bedeutung des ursprünglichen Schlusses des JohEv Joh 20,30–31 vgl. zuletzt die Auslegung von Th. Söding, Die Schrift als Medium des Glaubens. Zur hermeneutischen Bedeutung von Joh 20,30 f, in: K. Backhaus / ​F. G. Untergassmair (Hgg.), Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Paderborn 1996, 343–371. 13  Beobachtungen und eine Spurensuche zur mystagogischen Christologie im JohEv finden sich im eigenen Beitrag: „Rabbi, wo wohnst du?“ (Joh 1,38), in diesem Band, S. 441–458, und K. Scholtissek, Mystagogische Christologie im Johannesevangelium? Eine Spurensuche, GuL 68 (1995), 412–426. 14  Vgl. in 1,48 den unter einem Feigenbaum sitzenden Nathanael. Der Hinweis auf das „Gesetz und die Propheten“ (1,45) im unmittelbaren Kontext legt die Deutung nahe, dass Nathanael gerade mit dem Schriftstudium beschäftigt ist. 15  Vgl. Joh 4,1–42; 6,35 (vgl. Sir 24,21). 16 Vgl. J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, GSL.NT IV/1a.1b.2.3, Düsseldorf II.III 1977. Ia.Ib 1981, hier: Joh II 77: „Wo der Mensch nach dem Weg fragt, fragt er zugleich nach Sinn und Ziel seiner Existenz.“

1. Einführung

155

und Ziel des menschlichen Lebens“17 überhaupt. Gerade in seinem „Fortgang“ zum Vater, durch seinen Tod hindurch, erweist Jesus die ganze soteriologische Abgründigkeit seiner selbst (vgl. auch den Nexus zwischen 11,25–26 und 14,6). Die die ganze und ungeschminkte Wahrheit des Menschen gegen alle Täuschungen und Trübungen auf-deckende18 Wirkung der Sendung Jesu reflektiert der Evangelist auch in seinem „Wahrheits“-Verständnis:19 „Die Offenbarung der Wahrheit Gottes durch Jesus Christus schafft die Voraussetzung dafür, dass die Menschen sich erkennen als diejenigen, die sie in Wahrheit sind: sündige Geschöpfe, die in allem auf Gott angewiesen sind […].“20

(2) Die Mystagogie Jesu teilt sich auch dem textexternen Gespräch zwischen dem Evangelisten und seinen Lesern mit: Im Sinne des Evangelisten spricht der erhöhte Jesus im Evangelium weiterhin direkt zu den Lesenden. Jesus verkündigt sich selbst in die jeweilige Gegenwart des Evangeliums.21 Die joh Dialoge und Offenbarungsreden sind solchermaßen transparent für die Leser des JohEv, die sich in die Gespräche Jesu hineinverwickeln lassen können, die sich selbst angesprochen erfahren können und die so das Weggeleit Jesu22 auch für ihre eigene Sinn‑ und Lebenssuche erkennen mögen. Der Evangelist, der in Anspruch nimmt, im Sinne Jesu und mit seinen Worten zu sprechen, und damit selbst eine mit den von ihm dargestellten Glaubenden im 17  A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13.31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169, Göttingen 1995, 164. 18  Vgl. den etymologischen Wortsinn von ἀ-λήθεια als „Unverborgenheit“ und „Erschlossenheit“; zum neutestamentlichen Befund und zu religionsgeschichtlichen und philosophischen Aspekten desselben vgl. H. Hübner, Art. ἀλήθεια, EWNT 1 (21992), 138–145; vgl. Ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments I. Prolegomena, Göttingen 1990, 188–197.203–239. 19  vgl. hierzu zuletzt Th. Söding, Die Macht der Wahrheit und das Reich der Freiheit. Zur johanneischen Deutung des Pilatus-Prozesses (Joh 18,18–19,16), ZThK 93 (1996), 35–58, hier 48: „Wahrheit ist im Wortfeld des Johannesevangeliums auch kein informationstheoretischer oder noetischer, sondern ein relationaler, kommunikativer, zutiefst aber ein theologischer und soteriologischer Begriff.“ 20  Ebd. 56. Die joh Sehweise, der joh Sehakt (vgl. hierzu O. Schwankl, Licht [s. Anm. 4], 336–340 et passim) „richtet sich im JohEv auf Jesus hin“ (ebd. 338). Gerade weil dieses ‚Sehen‘ bzw. ‚Glauben‘ eine „integrierte Gesamtwahrnehmung“ (ebd. 339) ist, schließt es joh auch die unverstellte Erkenntnis seiner selbst mit ein. Vgl. Gaudium et Spes 22: „Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung seines Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung.“ 21 Vgl. hierzu J. Blank, Krisis (s. Anm. 5), 109–182; Ders., Joh II (s. Anm. 16), 21–28 (Theologie der Vergegenwärtigung). Vgl. schon F. Muẞner, Die johanneische Sehweise und die Frage nach dem historischen Jesus, QD 28, Freiburg i. Br. 1965, 89: „Im Johannesevangelium verkündet sich Christus weiter; der Evangelist ‚leiht‘ ihm dazu die Sprache, die selbst adäquater Ausdruck des epiphanen Christusgeschehens ist.“ 22  Vgl. hierzu: 10,3: „mit Namen rufen und herausführen“; 10,16: „auch jene muss ich führen und sie werden meine Stimme hören“; 16,13: „Der Geist der Wahrheit wird euch in die ganze Wahrheit führen (ὁδηγήσει)“. Vgl. in 11,52 das „Zusammen-führen“ (= „Sammeln“) (συν-άγω) der versprengten Kinder Gottes in eins sowie das „Ziehen“ des Vaters (6,44) bzw. des erhöhten Sohnes (12,32).

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

JohEv vergleichbare Vertrautheit mit Jesus zu erkennen gibt,23 erzählt sein Evangelium so, dass seine Leser und Hörer auf diesen Glaubensweg mitgenommen werden – auf den Glaubensweg, auf dem Jesus letztlich selbst die Regie übernimmt. Besteht nun nicht zwischen (a) der allwissenden Perspektive des Erzählers, die seine Leser von Beginn an teilen, und (b) der Absicht des Evangelisten, seine Leser an eben dieses christologische Credo heranzuführen, ein innerer Widerspruch? Der Evangelist weiß um den Unterschied zwischen (a) dem Rollenangebot für den Leser, die auktoriale Erzählperspektive zu teilen (welche ja als solche auch einen Weg einschließt), und (b) seinem tatsächlichen Glaubensvollzug, seiner persönlichen Aneignung des christlichen Bekenntnisses als Antwort auf seine ureigene, die inneren Wegstrecken des Hungerns und Dürstens, des Suchens und Findens ausmessende Sinnsuche.24 Auch um diesen Hiatus im Leben seiner Leser – wie aller Christen zu allen Zeiten – zu verringern, seien es nun auf Einladung neu hinzugekommene („Kommt und seht!“ in 1,39; vgl. 1,46) oder ‚praktizierende‘ (vgl. 6,68–69), tritt der vierte Evangelist an.

2.  Die Messias-Regel des Täufers: „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“(Joh 1,26) Innerhalb des gewichtigen Täuferzeugnisses für Jesus im JohEv25 fällt ein apodiktisch klingendes Wort des Täufers auf, das über den unmittelbaren Zusammenhang hinaus eine joh Sinnlinie konstituiert: „Mitten unter euch steht er (ἕστηκεν), den ihr nicht kennt (οὐκ οἴδατε)“ (Joh 1,26de).26 23  Zu Rückschlüssen von der Theologie des Evangeliums auf die spirituelle Persönlichkeit und Identität des Evangelisten vgl. die erhellenden Ausführungen bei J. Ernst, Johannes. Ein theologisches Porträt, Düsseldorf 1991, bes. 104–133, hier 106: „Das ganze vierte Evangelium ist ein Widerschein der Spiritualität des Verfassers und des geistigen Umfeldes, in dem er lebte.“ Vgl. ebd. 109: Der Evangelist ist „ein Mann, der aus einer persönlich erfahrenen Christusnähe lebt und theologisch denkt, ein Freund, der für die Frömmigkeit seiner Gemeinde Zeichen gesetzt hat.“ Vgl. auch Ders., Das Johannesevangelium – ein frühes Beispiel christlicher Mystik?, ThGl 81 (1991), 323–338. O. Schwankl spricht in diesem Zusammenhang vom „Risiko der Begegnung“ (Ders., Licht [s. Anm. 4], 401); vgl. ebd.: „Die Begegnung mit Jesus“ ist für den Evangelisten „die treibende Kraft, ohne die er nichts tun kann, aus der heraus er aber zu allem fähig ist, was seine literarische Großtat ausmacht.“ Vgl. ebd. 351: „Sein Jesusbuch erwächst aus eigener Begegnung mit der Person Jesu; es ist kein kühler ‚Bericht‘ über dessen Leben und Wirken, sondern, mit E. L.  Pierce gesagt, ein ‚Schrei‘: ‚Du bist der Christus!‘.“ (Beleg zum Zitat Pierces fehlt) 24  Zur Sinnfrage als Kristallisationskern joh Anthropologie und Theologie vgl. J. Heer, Leben hat Sinn. Christliche Existenz nach dem Johannesevangelium, Stuttgart (1974) 51986. 25  Vgl. die Auslegungen bei: J. Ernst, Johannes der Täufer. Interpretation  – Geschichte  – Wirkungsgeschichte, BZNW 53, Berlin / ​New York 1989, 186–216; K. Backhaus, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes. Eine Studie zu den religionsgeschichtlichen Ursprüngen des Christentums, PaThSt 19, Paderborn 1991, 230–265. 26  R. Bultmann nimmt an, in diesem Wort liege eine „Judaisierung des gnostischen Motivs von der Verborgenheit des Offenbarers vor“ (Ders., Das Evangelium des Johannes, KEK 2, Göttingen 171962, 63 Anm. 3). Vgl. seinen Hinweis auf Justin, Dial 8,4. R. Schnackenburg (s. Anm. 2, 282) hält die Rezeption einer gnostischen oder jüdischen Erwartung in dem Täufer-

2.  Die Messias-Regel des Täufers: „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“

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Dieses Täuferwort ist erkennbar in das wohl ältere, auch aus der synoptischen Überlieferung bekannte Logion vom kommenden Stärkeren (vgl. Mk 1,7–8 parr) eingepasst: „Ich taufe mit/im Wasser. [Messias-Regel des Täufers]. Der nach mir kommt, dessen Schuhriemen aufzulösen ICH nicht würdig bin (…)“ (1,26c–27). Dass Joh 1,26de „deutlich joh. Charakter“27 hat, soll im Folgenden neu aufgewiesen werden. 2.1 „stehen“ Das griechische Wort ἵστημι („stehen“, „stellen“; vgl. ἱστάνω; στήκω) kann in verschieden theologisch bedeutsamen Aussage‑ und Sachzusammenhängen verwendet werden: als „Stehen“ vor einem Richter; als kultisches „Stehen“ der Engel in der Nähe Gottes (vgl. Offb 7,11; 8,2–3) bzw. als liturgisches „Stehen“ der Menschen vor Gott (vgl. LXX Dan 6,27); als priesterliches oder priesterlich vermitteltes „Stehen“ vor Gott (vgl. LXX Num 5,16); als eschatologisches „(Be‑) Stehen“ vor dem Menschensohn (Lk 21,36; vgl. Jud 24; Offb 7,9). „Stehen“ ist dann auch terminus technicus für ein Epiphanie-Geschehen: „Der Erscheinende steht (oft unvermittelt) in der Nähe oder in der Mitte derer, denen er erscheint.“28 Beim joh Gebrauch von ἵστημι haben die Vorkommen in 1,26; 7,3729; 20,14.19.26; 21,4 eine christologische Epiphanie-Konnotation. Auch auf Johannes den Täufer, der als Freund des Bräutigams an dessen Seite „steht“ und ihn „hört“ (vgl. 3,29cd; und hierzu: 10,3–4), fällt Licht von der Epiphanie Jesu: Als Zeuge des Zeugen hat auch sein Zeugnis teil an dem Offenbarungscharakter des Geschehens. Sollte das auch in 1,35 („Am Tag darauf stand Johannes wieder da“) angedeutet sein? 2.2  „nicht kennen“ – „kennen“ Die beiden griechischen Wörter, die das JohEv für „wissen, (er‑)kennen“ verwendet (οἶδα; γινώσκω),30 gehören zusammen mit ihren Negationen zur „semantischen Achse“ des JohEv.31 Ausgehend von der Gegenüberstellung „aufnehmen“ – „nicht Wort für unwahrscheinlich. In jedem Fall ist die kontextuelle und narrative Situierung des Täuferwortes im JohEv entscheidend. Zum joh-theologischen Kontext dieses Wortes vgl. auch J. Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, HThK.S 5, Freiburg i. Br. 1994, 270–275 („Der missverstandene Messias“). 27  R. Schnackenburg, Joh I (s. Anm. 2), 281. 28  M. Wolter, Art. ἵστημι, ἱστάνω, EWNT 2 (21992) 504–509, hier: 507; mit Hinweis u. a. auf: Lk 1,11; 24,36; Joh 20,14.19.26; 21,4; Apg 7,55–56; 10,30; 11,13; 16,9. 29  In 7,37 signalisiert neben „(da‑)stehen“ auch „(aus‑)rufen“ (ἔκραζεν) den Offenbarungscharakter der Szene; vgl. „(aus‑)rufen“ in 1,15; 7,28; 12,44. 30  Der gesamte joh Gebrauch von οἶδα und γινώσκω kann hier nicht dargestellt und bewertet werden. Dass οἶδα gegenüber γινώσκω bei Johannes immer ein intuitives oder sicheres Wissen bedeute (vgl. A. Horstmann, Art. οἶδα, EWNT 2 [21992] 1206–1209, hier: 1207; mit Berufung auf I. de la Potterie, οἶδα et γινώσκω. Les deux modes de la connaissance dans le quatrième Évangile, Bib 40 [1959], 709–725) ist wohl zu überprüfen (vgl. nur 10,14–15). 31 Vgl. F. Muẞner, Die „semantische Achse“ des Johannesevangeliums. Ein Versuch, in: H. Frankemöller / ​K . Kertelge (Hgg.), Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), Freiburg i. Br.

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

aufnehmen“ als Reaktion auf das Kommen Jesu (1,11–13) werden diese und andere analoge Oppositionen im Evangelium immer wieder aufgegriffen (vgl. „glauben – nicht glauben“; „hören – nicht hören“; „aus Gott gezeugt sein – nicht aus Gott gezeugt sein“; „lieben – nicht lieben“).32 Jesus „kennt“ die bzw. den Menschen ganz und gar (vgl. 2,24–25), er durchschaut sie (vgl. 5,42; 6,6.15), er kennt die Seinen (vgl. 1,47; 21,17) und die Seinen kennen ihn (vgl. 6,69; 7,17; 10,4–5; 15,15; 17,25), wie der Vater ihn kennt und er den Vater (vgl. 7,29; 8,55; 10,14–15.27; 17,25). Jesus kennt den Willen und den Plan Gottes (vgl. 13,1.3; 16,30) – auch denjenigen, der ihn ausliefern wird (vgl. 6,64; 13,11).33 „Die Welt“ jedoch (er‑)kennt Jesus nicht (vgl. 1,10; 7,27–28; 17,25; vgl. 3,10; 10,6), sie erkennt den nicht, der mitten unter ihnen steht (vgl. 1,26). Das ganze Evangelium durchzieht die Darstellung und Reflexion des tragischen Nicht–(Er‑)Kennens Jesu (vgl. 7,16–17) bzw. des glücklichen „Glaubens und Erkennens“ bzw. „Findens“ (1,41.45; 6,69; vgl. 4,42). In unzähligen Variationen wird die Frage nach der christologischen Identifizierung Jesu neu buchstabiert.34 Das JohEv zeigt auf, wie sich die Messias-Regel des Täufers immer wieder bestätigt und auf welchen Wegen die reguläre Unkenntnis überwunden wird: (1) Dies beginnt eingangs schon in der Abwehr der Identifikationsversuche „der Juden aus Jerusalem“ durch Johannes den Täufer, der auf den unerkannt in ihrer Mitte stehenden Jesus weist (1,19–28; vgl. 1,6–8). Der Refrain des Täufers „ICH bin nicht (…)“ (1,20.21) präludiert ex negativo die vielfache Selbstoffenbarung Jesu: „ICH bin (…)“ im JohEv.35 (2) Die Jüngerberufungen 1,35–5136 lassen sich als narrative Realisierung der Messias-Regel des Täufers in 1,26 und zugleich als Weg der Überwindung der regulären Unkenntnis lesen: Auf das Zeugnis Johannes des Täufers hin und 1989, 246–255; vgl. auch J. Blank, Der Mensch vor der radikalen Alternative. Versuch zum Grundansatz der „johanneischen Anthropologie“, Kairos 22 (1980), 146–156. 32  Vgl. die längere Liste bei F. Muẞner, „Semantische Achse“ (s. Anm. 31), 249. 33  Zum joh Judasbild vgl. H.-J. Klauck, Judas – ein Jünger des Herrn, QD 111, Freiburg i. Br. 1987, 70–92. 34  Vgl. M. W. G.  Stibbe, John, Readings: A New Biblical Commentary, Sheffield 1993, 203: „In just about every episode of John the key question has always been, ‚Will characters recognize who Jesus really is?‘“. 35  Diese Kontrastierung wiederholt sich in der Erzählfolge von Verhaftung Jesu und Petrusverrat: Dem Bekenntnis Jesu „ICH bin“ (18,5.6.8) steht die Verleugnung des Petrus: „Ich bin (es) nicht“ (18,17.25) gegenüber. 36  Vgl. hierzu die knappe Auslegung bei K. Scholtissek, Rabbi (s. Anm. 13). Weitere Jüngerberufungen werden im JohEv nicht erzählt, wohl aber vorausgesetzt (vgl. nur 6,60–71). Ermöglicht wird dieses Schweigen des Erzählers durch den stilisiert-exemplarischen Charakter der Szene 1,35–51, die unmissverständlich genug auf die Rolle und Praxis der Jünger Jesu hinweist, selbst weitere Verwandte und Bekannte für Jesus zu gewinnen. Ohnehin ist der leitende Eindruck im JohEv stärker vom Kommen bzw. Geführtwerden zu Jesus bzw. der Begegnung mit Jesus geprägt, als von der bei den Synoptikern betonten Initiative Jesu und seinem unmittelbaren Ruf in die Nachfolge (vgl. aber 1,43; 21,19.22). Das schließt nicht aus, dass das JohEv entschieden die absolute Vorrangigkeit des „Erwählens“ bzw. „Liebens“ Jesu festhält (vgl. 6,70b; 13,18b; 15,16ab; 13,34; 15,9.12).

2.  Die Messias-Regel des Täufers: „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“

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aufgrund der Begegnung mit Jesus machen die ehemaligen Täuferjünger ihren christologischen Fund37 und überwinden so ihre Unkenntnis (vgl. die Blockade des Nathanael in 1,46; vgl. 7,41.52). Die Antwort Jesu auf die Bitte des Philippus in 14,8: „Herr, zeig uns den Vater und es genügt uns“: „So lange Zeit bin ich mit euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?“ (14,9) zeigt jedoch, dass mit dem „Finden“ des Messias’ (vgl. 1,45), der Weg des „Erkennens“ Jesu noch nicht an sein Ziel gelangt ist. Dies besteht im Glauben an die Immanenz von Vater und Sohn (vgl. 14,10–11) bzw. im Bleiben im Wort Jesu, das zur Wahrheit und zur Freiheit führt (vgl. 8,31–32.35). (3) Auch 4,1–42 und die Krankenheilung 5,1–15 lassen sich als narrative Inszenierungen des Nicht-Erkennens Jesu und der Überwindung der regulären Unkenntnis durch die Initiative Jesu lesen (vgl. bes. 4,10; 5,13). (4) Aufgenommen wird diese um das „Kennen“ und „Erkennen“ des Messias’ Jesus kreisende Fragestellung auch in 7,25–29, dem lauten Nachdenken einiger Jerusalemer (V. 25–27) und der Entgegnung Jesu (V. 28–29). Vers 26 ist eine rhetorische Frage: „Sollten die Ratsherren wirklich erkannt haben, dass er der Messias ist?“, gegen deren positive Antwortmöglichkeit sie selbst den Einwand erheben: „Aber von diesem wissen wir, woher er ist. Wenn aber der Messias kommt, weiss niemand, woher er ist“ (7,27; vgl. 8,14). Die zweite Vershälfte 7,27cd formuliert eine Variante der Messias-Regel des Täufers aus 1,26,38 die mit joh Ironie beides festhält: (a) Zunächst das Missverständnis, die Herkunft eines Menschen ließe sich von seiner biologischen Geburt (vgl. schon 1,13; 3,1–21) bzw. seinem Herkunftsort her (vgl. 1,46; 6,42; 7,40–44; 9,29) umfassend bestimmen. Dagegen stellt Jesus klar, dass es einen Überstieg zu vollziehen gilt von der recht belanglosen ‚Kenntnis‘ des Heimatortes zur (An‑)Erkennung seiner Herkünftigkeit von dem, der ihn gesandt hat. Jesus „ist nicht aus dieser Welt“ (8,23; vgl. 3,31; 17,16; 18,36). Die Tatsache, dass sie ihn nicht wirklich „(er‑)kennen“, bestätigt, dass sie Gott „nicht kennen“ (vgl. 7,28–29; 28 fin: ὃν ὑμεῖς οὐκ οἴδατε [= 1,26e; vgl. 4,32]). Die „Kenntnis“ Gottes und die „Kenntnis“ Jesu sind im JohEv untrennbar miteinander verbunden. Der eine ist ohne den anderen nicht ‚zu haben‘ (vgl. 8,12–20 [bes. V. 19].54–55; 14,7; 15,21; 16,3; 17,3). (b) Zugleich erweist sich die in 7,27 aufgestellte Vorhersage über den Messias im Munde der unwissenden Jerusalemer Bürger als (fast) zutreffend: „Wenn aber der Messias kommt, weiss niemand, woher er ist.“ (5) Die Täufer-Regel 1,26 findet seine Bestätigung und zugleich ihre Überwindung auch in Joh 20,1–18: Als Maria von Magdala sich umwendet, sieht sie Jesus „stehen (ἑστῶτα) und sie wusste nicht (οὐκ ᾔδει), dass es Jesus ist“ (20,14). Auch der Auferstandene bleibt solange der Verwechselte oder Unerkannte, wie er 37  Die Spannung von „suchen“ und „finden“ prägt sowohl 1,35–51 als auch 20,11–18; zur mystagogischen Deutung von „suchen“ und „finden“ im JohEv vgl. K. Scholtissek, Christologie (s. Anm. 13), 419–421; vgl auch 4,23d: ὁ πατὴρ (…) ζητεῖ (!) und 4,27 (von Jesus): τί ζηστεῖ (!). 38  Vgl. auch die weitere Variante in 4,32bc.

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

sich nicht von sich aus zu erkennen gibt. Wie in 1,35–51 wird auch in 20,1–18 die Überwindung der regulären Unkenntnis narrativ inszeniert. (6) Direkt thematisiert und ausgeführt wird die Überwindung der MessiasRegel des Täufers dann in den weiteren Selbstoffenbarungen des Auferstandenen vor den Jüngern: (a) In 20,19–22 „kam“ Jesus, stellte sich in die Mitte (ἔστη εἰς τὸ μέσον V. 19) und sprach den Friedensgruß. Die Reaktion der Jünger ist Freude „da sie den Herrn sahen“ (V. 20). (b) Auch in der Begegnung zwischen Jesus und Thomas in 20,23–29, die erneut (!) mit dem vermittelnden Jüngerwort („Wir haben den Herrn gesehen“; V. 25; vgl. 1,41.45; 20,18.20) eingeleitet wird, „kommt“ Jesus, „stellt sich in die Mitte“ (V. 26) und spricht den Friedensgruß. Auf die Offenbarung Jesu hin spricht Thomas sein Credo: „Mein Herr und mein Gott“ (V. 28; vgl. 20,16). (c) Schließlich illustriert auch die nachgetragene „dritte“ Selbstoffenbarung des Auferstandenen „vor seinen Jüngern“ in 21,1–14 die Überwindung der TäuferRegel: „Als es schon Morgen wurde, stand (ἔστη) Jesus am Ufer; die Jünger wussten freilich nicht (οὐ […] ᾔδεισαν), dass es Jesus ist“ (21,4). Auf Jesu Wort hin (V. 6; vgl. 2,5) haben sie großen Erfolg, der erneut zuerst den geliebten Jünger zur Erkenntnis führt: „Es ist der Herr“ (21,7; vgl. V. 12). 2.3  Die Messias-Regel des Täufers und ihre Überwindung Die vorgestellten Beispieltexte belegen die herausgehobene Bedeutung der Messias-Regel des Täufers. Auf diesem Hintergrund lässt sich das ganze JohEv als Bestätigung des Täuferwortes in 1,26 und zugleich als mystagogischer Ratgeber zur Überwindung derselben lesen. Die Grundaussage der verschiedenen Szenen lautet: Den Überschritt vom Nicht-(Er‑)Kennen zum (Er‑)Kennen Jesu als des Messias und Kyrios können Menschen nicht von sich aus vollziehen. Dazu bedarf es (a) der Offenbarung Gottes (vgl. 1,31.33), (b) der Selbstoffenbarung Jesu (vgl. nur: 1,38– 39.42.47–48.50–51; 9,35–38; 20,1–29), (c) des wunderbaren Erfolges auf Jesu Wort hin (21,1–14; vgl. 2,5); (d) des vermittelnden Zeugnisses, (e) der Erhöhung und Verherrlichung Jesu (vgl. 2,22; 8,28; 12,16; 13,7), (f ) des Bleibens im Worte Jesu, das zur Erkenntnis der Wahrheit führt (8,32)39, (g) des Glaubens (vgl. 10,38). Von der in 1,26 programmatisch formulierten joh Sinnlinie ausgehend lassen sich zwei joh Begegnungsgeschichten, 1,35–51 und 20,1.11–18, in einer Weise aufeinander beziehen, wie es die Johannesforschung bisher nicht wahrgenommen hat.40 Beide Erzählstücke sind nicht nur je für sich, sondern auch mit Bezug auf39  Vgl. 8,55: Auch für Jesus gilt der Zusammenhang von Kennen des Vaters und Halten seines Wortes. 40  Vgl. jedoch erste Hinweise bei M. W. G.  Stibbe, John (s. Anm. 34), 36–38.41 f.198–200. M. W. G. Stibbe entwickelt in seinem Aufsatz (Ders., The Elusive Christ. A new Reading of the Fourth Gospel, JSNT 44 [1991], 20–39) und in dem genannten Kommentar die These, „that the essential character-trait of the Johannine Jesus is his elusiveness“ (Ders., John [s. Anm. 34], 17). So sehr M. W. G. Stibbe ein wenig beachtetes Charakteristikum der joh Jesus-Darstellung

2.  Die Messias-Regel des Täufers: „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“

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einander mit feinem, die mystagogischen Dimensionen der Jesus-Offenbarung auslotendem Gespür gestaltet. 2.4  Regeln im Evangelium und Regeln des Evangeliums Die Interpretation von 1,26de als Regel-Wort, das eine joh Sinnlinie konstituiert, gewinnt an Profil und Gewicht, wenn die Vorliebe des Evangelisten für Regeln verschiedenster Art wahrgenommen wird. Für das JohEv ließe sich eine eigene Regelkunde erstellen,41 die dann differenziert aufzeigen würde, wie der Evangelist im Ausgang von Regelworten seine theologische Absicht bzw. seine katechetischmystagogische Weisung entfaltet. (1) Im JohEv begegnen weisheitliche bzw. die Erfahrung betreffende Regeln, die ins Licht des Evangeliums gestellt werden und sich so im jeweiligen Kontext (teilweise in Umkehrung) als Regeln des Evangeliums erweisen (vgl. u. a. 2,10; 13,16–17; 15,13.15). (2) Sodann finden sich die messianische Heilserwartung der Menschen betreffende Regeln (vgl. 1,26; 4,25; 7,27; 11,24; 12,34), die mit dem „Kommen“ Jesu teilweise paradoxal erfüllt werden. (3) Ein Spezialfall joh Regeln ist die Fremdprophetie.42 Gegenüber Jesus Unverständige und Unwissende sprechen eine Regel aus, die sich gegen ihre eigene Intention als zutreffend erweist (vgl. 7,27; 11,5043; 12,34c). (4) Darüber hinaus gibt es die aus dem Evangelium unmittelbar begründeten Regeln (vgl. u. a.: 2,5; 10,14; 11,22; 11,25–26; 20,29d–f ) sowie in großer Zahl die Gebote Jesu, die oft als allgemeingültige Evangeliums-Regeln formuliert sind (vgl. nur: 13,14–15.34; 14,21.23; vgl. 15,1–8.14). herausstellt, so notwendig ist es, die ‚Nichtgreifbarkeit‘ Jesu mit den gelingenden Begegnungsgeschichten im JohEv zu korrelieren. Sodann überzieht M. W. G. Stibbe seine These deutlich: „At the level of both works and words, language und presence, Jesus refuses to operate παρρησία, openly, after ch. 5“ (Ders., Christ [s. o. in dieser Anm.], 29). 41 Vgl. auch den Hinweis auf joh „Definitionssätze“ „Dies ist (…)“ in 3,19; 6,29; „Daran (…)“ in: 4,37; 9,30; 13,35) bei H.-J. Klauck, Die Johannesbriefe, EdF 276, Darmstadt (1991) 21995, 89 f. 42  Vgl. auch die aus einem Missverständnis erwachsende fremdprophetische Ankündigung in 7,35 (vgl. 12,20–22). 43  Mit der Einleitung des Wortes des Kajaphas in 11,49: „IHR versteht nichts (ὑμεῖς οὐκ οἴδατε οὐδέν)“ ist die joh Ironie, auf die Spitze getrieben. Die richtige Aussage ergibt sich durch das Auswechseln des Subjekts (statt „ihr“ ein „ich“). Ob dem Evangelisten nicht auch in 19,13 (der griechische Wortlaut allein entscheidet die Frage nicht, ob sich Pilatus oder Jesus auf den Richterstuhl setzt) eine bewusste ironische Doppeldeutigkeit zugetraut werden sollte, zumal die joh Gestaltung des Prozesses Jesu vor Pilatus eindrucksvoll von der Paradoxie lebt, dass sich zwei Richter gegenüberstehen? Auch Pilatus bleibt gegenüber der Selbstoffenbarung Jesu (vgl. 19,36– 37) unverständig und unwissend. Seine Flucht in die philosophisch anmutende Frage: „Was ist Wahrheit?“ (19,18) verkennt den personalen Anspruch seines Gegenübers: „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (19,37), auf die Stimme dessen, der in persona „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (14,6) ist. Zum „Stilmittel der vertauschten Rollen“ vgl. J. Blank, Joh III (s. Anm. 36), 11–12; zu den Prozess-Rollen, zum Scheitern des Pilatus gegenüber dem Anspruch Jesu und zum joh Wahrheits-Verständnis vgl. zuletzt die Ausführungen von Th. Söding, Macht (s. Anm. 39).

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

3.  Die fortschreibende relecture der Jüngerberufungenin der österlichen Begegnung zwischen Jesus und Maria von Magdala 3.1  Das erste Signal: „Wen suchst du?“ Neben (fast umständlich) langen Reden Jesu und Dialogpartien gibt es im JohEv mehrere Episoden, in denen die direkte Rede Jesu an entscheidenden Stellen auffällig knapp formuliert ist. Diese Kürze der Worte Jesu muss als erzählerisches Signal gewertet werden: Das, was zu sagen ist, ist in den Worten Jesu, und seien sie noch so knapp, ausgesagt. Zu diesen Episoden gehören auch 1,35–39(40–51) und 20,1.11–18. Nach dem Täuferzeugnis in 1,36 lautet der eröffnende Dialog der Berufungsgeschichten mit den ersten Worten Jesu im JohEv: „Was sucht ihr?“  – „Rabbi, …, wo wohnst du?“  – „Kommt und seht!“ (1,38–39). Diese erste Begegnung mit Jesus initiiert und begründet die weiteren Begegnungen. In 20,11–18 konzentriert sich der Dialog zwischen Jesus und Maria von Magdala auf die folgenden Worte: „Frau, was weinst du? Wen suchst du?“. Maria antwortet mit der ihr Nicht-Erkennen (vgl. 20,14ef ) belegenden Bitte nach dem Leichnam Jesu. Dann folgen zwei Namensanreden: „Maria“ – „Rabbuni“ und die die Erzählung in die Zukunft öffnenden Worte Jesu in 20,17 (vgl. 1,51). In beiden Episoden werden die Johannesjünger bzw. Maria von Magdala durch Jesus auf ihr Suchen hin befragt: (a) In 1,38 ist mit dem „Suchen“ in der Frage Jesu „Was sucht ihr?“ nicht eine mehr oder weniger freundliche Kontaktaufnahme44 festgehalten: Ausweislich der betonten Korrelation von „suchen“ und „finden“ hier in 1,41a.c.43b.45ad und im gesamten JohEv und der Fülle von Verben der Wahrnehmung und Bewegung in 1,35–51, die auf eine die vordergründige Begegnung in der Tiefe auslotende Deutung zielen, ist mit dem „Suchen“ der beiden Johannesjünger ihre (und nicht nur ihre) Lebens‑ und Sinnsuche insgesamt angesprochen. Mit dem christologischen Fund45 kommt diese Suche zu einem vorläufigen Ziel. (b) In 20,1.11–18 sucht Maria von Magdala46 den Lebenden bei den Toten. Obwohl sich Joh 20,11–18 auch als narrative Umsetzung von Lk 24,5 fin lesen ließe, ist die joh Sinnlinie aus 1,26 und ihre Überwindung leitend: Maria von Magdala sucht den Leichnam ihres toten Kyrios (20,13d: „mein Kyrios“); sie „wusste nicht“ (οὐκ ᾔδει; 20,14e), dass der, den sie für den Gärtner hielt, der auferstandene Jesus ist. Das im JohEv ‚reguläre‘ Nicht-Erkennen Jesu ist hier zur vollendeten Paradoxie  So die Insinuation in der Einheitsübersetzung: „Was wollt ihr?“.  Zu εὑρίσκω in 1,41[bis].43.45[bis] vgl. auch die Vorkommen in: 7,34–36; 10,9; 21,6. Vgl. auch J. Gnilka, Theologie (s. Anm. 26), zu 1,38: „Damit ist die in jedem Menschen gründende Suche nach dem Sinn des Lebens angerührt, die sich in der gleichen Terminologie auch in der Weisheitsliteratur findet, (…)“. 46 Maria von Magdala wird zuvor im JohEv nur in 19,25 erwähnt, wo sie zum engsten Kreis derer gehört, die Zeugen und Adressaten der letzten Worte und Verfügungen Jesu sind (vgl. 19,25–30). 44 45

3.  Die fortschreibende relecture der Jüngerberufungen

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bzw. Ironie gesteigert: Sie fragt den lebendigen Jesus, der vor ihr „steht“ (ἑστῶτα; 20,14d), nach dem Leichnam des toten Jesus: So weit kann das Nicht-Erkennen dessen, der mitten unter den Menschen steht, gehen. Nun ist analog zu 1,38 auch in 20,15c die Frage Jesu „Wen suchst du?“ nur auf der Oberfläche als relativ zufällige Gesprächseröffnung oder als freundliches Angebot zur Mithilfe zu deuten. Gegenüber der im ersten Glied identischen Frage der Engel am leeren Grab: „Frau, was weinst du?“ (20,13b = 20,15b) ist die Weiterführung Jesu mit „Wen suchst du?“ gezielt überschießend: So fragt im JohEv nur Jesus (vgl. 1,38; 18,4; 20,15). In dem von Jesus als Suche nach einer Person („Wen?“) gedeuteten Weinen der Maria erfüllt sich die Vorhersage Jesu angesichts seines Abschieds von den Jüngern: „Ihr werdet mich suchen, und wie ich den Juden gesagt habe: Wohin ICH fortgehe, könnt IHR nicht kommen, (…)“ (13,33). Die Wiederaufnahme dieses Wortes Jesu aus 7,33–34(35–36), wo es zu den Dienern der Hohenpriester und Pharisäer gesprochen ist, in 13,33 ist entscheidend verändert:47 Der zuspitzende, zu einer Besinnung im letzten Augenblick (vgl. 7,33) auffordernde Negativbescheid:48 „(…) und ihr werdet (mich) nicht finden, (…)“ (7,34b = 7,35c.36d)49 begegnet in 13,33 nicht. Im Gegenteil: 13,36–38 öffnet für Petrus einen Weg und die Abschiedsrede Jesu im JohEv ist in toto eine Bewältigung des Abschieds Jesu durch das Versprechen seiner neuen Gegenwart. Der Lebens‑ und Sinnsuche der Johannesjünger zu Beginn des JohEv (vgl. 1,38), die über die Einladung Jesu „Kommt und seht!“ zum Finden seiner selbst führt, korreliert die von Jesus vorausgesagte50 postmortale Suche nach ihm (vgl. 7,33–36; 13,33b). Den bei seinem Abschied versammelten Jüngern gilt die Verheißung des erneuten nachösterlichen Kommens Jesu. Solche nachösterliche Suche nach Jesus und das Finden (vgl. 20,16–18) wird in 20,1.11–18 exemplarisch von Maria von Magdala erzählt. „(…) Joh 20 takes us from the tomb as a place of despair to the tomb as a place of discovery.“51 3.2  Weitere Elemente einer relecture Sind die beiden übergreifenden Erzählbögen, die Darstellung und Überwindung der Messias-Regel des Täufers aus 1,26 sowie die joh Topik von „suchen“ und 47  Dies bestreitet freilich A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 17), 134 mit Anm. 81. A. Dettwiler beachtet den Gesamtbefund zu „suchen“ und „finden“ im JohEv nicht. 48 So auch die Deutung von R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 2), 209. Auch die Brotrede in Joh 6 durchschaut insbes. in den weisheitstheologisch beeinflussten V. 26–27.35 die vordergründige Suche nach Jesus auf die wahre Suche nach der „bleibenden Speise“ hin, nach dem „Brot des Lebens“, das er selbst in persona ist. 49  Vgl. hierzu: Hos 5,6; Am 5,4; 8,12; Jes 55,6; Spr 1,28. 50  Erzähltechnisch ausgedrückt handelt es sich bei dieser Voraussage um eine interne und eine externe Prolepse; vgl. G. Genette, Die Erzählung, utb 8083, hg. v. J. Vogt, München 1994 (dt. Übers. zweier franz. Originalbeiträge: 1972.1983), 45–54. 51 M. W. G.  Stibbe, John (s. Anm. 54), 198. M. W. G. Stibbe weist sodann auf unübersehbare Analogien („intertextual echoes“) zwischen 20,1.11–18 und Hld 3,1–3 hin (ebd. 205).

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

„finden“ in 1,35–51 und 20,1–18, richtig bestimmt und erkannt, dann lassen sich von diesem Befund ausgehend weitere Entsprechungen und Fortschreibungen zwischen den beiden genannten Episoden aufweisen: 3.2.1  „kommen und sehen“ Bei den Jüngerberufungen hat die Einladung Jesu „Kommt und seht!“ als Antwort auf die Rückfrage der Johannesjünger „Wo wohnst du?“ Leitwortcharakter. Alle drei Worte in der ersten Begegnung zwischen Jesus und den Menschen im JohEv („Was sucht ihr?“ – „Wo wohnst du?“ – „Kommt und seht!“) eröffnen joh Sinnlinien, die im Evangelium weitergeführt und vertieft werden. 3.2.1.1 „kommen“ Komplementär zu der Aussage des „Kommens“ (ἔρχομαι) Jesu „in die Welt“52 und des erneuten, nachösterlichen „Kommens“ Jesu zu seinen Jüngern53 steht im JohEv die Aufforderung, zu Jesus „zu kommen.“54 Exakt diese Einladung Jesu geben die fündig gewordenen Jünger – exemplarisch für die Jünger Jesu zu allen Zeiten – weiter (1,46d; vgl. auch die Umkehrung in 11,34). „Zu Jesus kommen“ (vgl. 6,35.37) ist ein joh Synonym für „glauben“ bzw. „zum Glauben kommen.“55 3.2.1.2 „sehen“ Im JohEv begegnen vier griechische Verben mit der Grundbedeutung „sehen“:56 θεωρέω, θεάομαι, βλέπω und ὁράω. 52 Vgl. 1,9c.11a; 3,31; 5,24.43; 9,39; 10,10; 11,27; 12,13.15.27.46.47; 15,22; 16,27–28; 18,37; vgl. 7,27.31.41.42. 53  Vgl. 14,18.23.28; 20,19.24.26; vgl. auch das futurisch-eschatologische Kommen Jesu: 14,3; 21,22.23; vgl. auch das „Kommen“ des Parakleten: 15,26; 16,7.8.13. 54 Vgl. zu 1,39a: 3,19–21; 5,40; 6,35!.37.44.45.65; 7,37. 55 In 6,69 ist das Bekenntnis des Petrus („Und wir haben geglaubt und erkannt: (…)“) „Ausdruck für das, was die Zwölf in Jesus durch längere Gemeinschaft gefunden haben, und zugleich ‚Neuheit, die jedem echten Bekennen jeweils eigen ist‘ (Bultmann).“, so R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 2), 110. Der Evangelist betont auch sonst die Wegstrecke des Zum-GlaubenFindens (vgl. ebd. I 519–522). Vgl. auch den Exkurs: „Das joh. Glauben“ bei R. Schnackenburg, Joh I 508–524, (s. Anm. 2), hier: 514. 56  Zum joh „Sehen“ vgl.: F. Muẞner, Sehweise (s. Anm. 21), 18–24 et passim; ebd. 19: „Ein Bedeutungsunterschied zwischen ihnen [den vier griechischen Termini für „sehen“; Anm. d. Verf.] scheint nicht vorzuliegen“; R. E.  Brown, The Gospel according to John. A new Translation with Introduction and Commentary, AncB 29.29a, New York 1966.1970, I 501–503, vgl. ebd. 503: „Those scholars who think that the verbs are synonymous have almost as many texts to prove their point as do the scholars who would attribute specific meanings to the verbs.“ Zuletzt in eindrucksvoller Zusammenschau: O. Schwankl, Licht (s. Anm. 4), bes. 330–340, hier: 339: „Wenn also Johannes das Sehen mit dem Glauben verbindet, entfaltet er einen Wesenszug allen Sehens und gibt ihm jene besondere Art, die im Gegenüber zu Jesus einzig angemessen ist. Es ist kein neutral-distanziertes Konstatieren, sondern eine tiefere, personale Wahrnehmung, ein ganzheitlicher Akt, (…) Jesus sehen: das meint eine ‚integrierte Gesamtwahrnehmung‘.“

3.  Die fortschreibende relecture der Jüngerberufungen

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Im joh Gebrauch dieser vier Verben ist keine systematische Unterscheidung zu erkennen. Alle vier werden zu einem hohen Anteil in einem (offenbarungs‑)theologisch qualifizierten Sinn verwendet. „Aber der ‚Sehakt‘, den sie bezeichnen, hat nicht überall denselben Charakter oder dasselbe ‚Niveau‘.“57 Gemeint ist ein Sehen, das als Erkennen den Überstieg vom Nichtwissen zum Wissen bedeutet, d. h. ein Erkennen, das zum Glauben und zum Zeugnis führt. Die joh Schriften binden die Verben „suchen“, „kommen“, „hören“, „sehen“, „finden“, „betasten“, „glauben“, „bleiben“, „bezeugen“, „verkündigen“ und „Gemeinschaft haben“ in einen Gesamtvollzug zusammen, in dem die Einzelmomente (so sehr sie sich überschneiden und teils zur Synonymität tendieren) je für sich unterscheidbar bleiben und doch gleichzeitig eine Kette bilden, deren Glieder konstitutiv miteinander verbunden sind (vgl. 1 Joh 1,1–4). Ὁράω kann im griechischen Sprachgebrauch auch die Bedeutungsnuancen „erkennen“, „finden58/treffen59“ (!), „wahrnehmen“, „erleben“ haben.60 Diese, die gesamte Breite optisch-sinnlicher Wahrnehmung ausmessende Verwendung von ὁράω teilt sich auch dem joh Sprachgebrauch mit. O. Schwankl weist auf die Verwandtschaft von ἰδεῖν und εἰδέναι hin: „Wissen heisst nach griechischer Etymologie nichts anderes als gesehen-haben. Semantisch konvergieren damit ὁρᾶν und γινώσκειν, ὄψις und νοῦς, joh könnte man anfügen: γινώσκειν und ἔρξεσθαι πρὸς τὸ φῶς.“61 3.2.1.3  Maria von Magdala Das einzige joh Erzählstück, in dem Maria von Magdala eine Hauptrolle zukommt, 20,1–18, ist gerahmt durch die V. 1–2 und 18, die auch thematisch eine Inclusio bilden: Maria „kommt“ zum Grab (V. 1a; vgl. die betonende sechsmalige Wiederaufnahme von „kommen“ bzw. „hineinkommen“ in V. 3b.4c.6ac.8ab) und sie „verkündet“ abschließend: „Ich habe den Kyrios gesehen (ἑώρακα; V. 18c; vgl. 20,25). Verstärkt wird diese Rahmung durch die vermittelnde Tätigkeit62 der Maria: Sie berichtet zunächst Petrus und dem geliebten Jünger vom leeren Grab (V. 2) und dann „verkündet (ἀγγέλουσα)“ sie den Jüngern auftragsgemäß (V. 18). 57  O. Schwankl, Licht (s. Anm. 4), 335. Vgl. ebd. 336: Im visuellen Bezugssystem der joh Schriften treten „zwei scheinbar gegenläufige, in Wahrheit aber komplementäre Züge zutage: Begrenzung und Ausweitung, Reduktion und Induktion. Johannes begrenzt den Wortschatz – wie es auch sonst seine Art ist – auf relativ einfache, bekannte und geläufige Termini; zugleich weitet er das optische Feld aus zu einer grundlegenden Isotopie, die er wie eine Netzhaut durch seine Schriften zieht. (…) Das ‚Sehen‘ ist eine ebenso ‚primitive‘ und urmenschliche wie hochkomplexe und hochtheologische Angelegenheit. Es zielt, wenn sich der Mensch sich nicht selbst den Blick verstellt, ‚hinter‘ das Vordergründige der Dinge, sieht die Dinge zugleich als Bestand-Teile oder ‚Aspekte‘ eines Anderen, Größeren.“ 58  Vgl. Mt 2,11: εἶδον v. l. εὕρον. 59  Vgl. Mt 11,8–9; Röm 1,11. 60  Vgl. J. Kremer, Art. „ὁράω κτλ.“, EWNT 2 (21992), 1287–1293, hier: 1288 f. 61  O. Schwankl, Licht (s. Anm. 4), 65. 62  Vgl. hierzu unter 3.2.3.

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

Eingeschoben sind die beiden Hauptteile, der Lauf zum Grab mit der Visitation durch Petrus und den geliebten Jünger: V. 3–9 und die Begegnung zwischen Jesus und Maria am leeren Grab: V. 10–17. Nur vom geliebten Jünger63 und von Maria von Magdala wird das „Sehen“ (und Glauben) ausgesagt (20,8c.18c). 3.2.2  Die Namensanreden In beiden Erzählpartien haben die Anreden und Namensnennungen eine herausragende Stellung: 3.2.2.1  Anrede durch Jesus und Antwort des Glaubens Bei den Jüngerberufungen spricht Jesus den von seinem Bruder Andreas zu ihm geführten Simon Petrus an: „DU bist Simon, der Sohn des Johannes, DU wirst Kephas gerufen werden, das heisst übersetzt: Petrus“ (1,42). Jesus offenbart sein Wissen, er ‚kennt‘ Simon Petrus, er identifiziert ihn und verheißt ihm einen neuen Beinamen (und mit diesem Namen eine Bestimmung). Den von Philippus ebenfalls zu Jesus geführten Nathanael spricht Jesus an: „Siehe, ein wahrer Israelit, in dem kein Falsch ist“ (1,47). Auf die Rückfrage des Nathanael erklärt Jesus ausdrücklich, dass er ihn schon vor dem „Ruf “ des Philippus „gesehen“ hat (vgl. 1,48). Auch hier offenbart Jesus sein vorgängiges Wissen; weil er Nathanael „gesehen“ hat, „kennt“ er ihn und kann er ihn treffend charakterisieren. Diese Identifikation durch Jesus bewegt Nathanael zum christologischen Credo: „Rabbi, DU bist der Sohn Gottes, DU bist der König Israels.“ Die Anrede und Identifizierung durch Jesus führt in dieser Begegnung zur reziproken64 „Erkenntnis“ dessen, der zuerst „sieht“, anspricht, erkennt und benennt. Dieses christologische Credo (vgl. die vorausgehenden in 1,41.45) führt zu einer überbietenden Weiterführung durch Jesus (vgl. 1,50–51; vgl. die Weiterführung in 20,17). Die Dialoge zwischen Jesus und Petrus bzw. Nathanael präludieren narrativ die Worte Jesu aus der Hirtenrede in 10,2–4.14: 10,2–4 und das Regelwort Jesu 10,14 stimmen mit 1,35–51 im Blick auf die Initiative Jesu überein (Jesus ist der Rufende) und im Blick auf das Nennen mit Namen, das Folgen und schließlich die reziproke Kenntnis: So wie Jesus die Seinen kennt, so kennen auch sie ihn (vgl. 15,13–15). Die reziproke Strukturbestimmung der Begegnung zwischen Jesus und den Seinen findet ihre neuerliche Bestätigung in der österlichen Begegnung zwischen Maria von Magdala und Jesus in 20,11–18. 3.2.2.2  Rabbi – Rabbuni Andreas und ein Anonymus (der geliebte Jünger?) sowie Nathanael reden Jesus mit „Rabbi“ (1,38.49), Maria von Magdala redet Jesus mit „Rabbuni“ (20,16) an. In 63  Der retardierende Erzählerkommentar 20,9 steht in Spannung zu V. 8cd: „und er sah und er glaubte“. 64  Vgl. die Korrespondenz (jeweils: Σὺ εἶ […] σὺ […]) zu den Worten Jesu an Petrus in 1,42.

3.  Die fortschreibende relecture der Jüngerberufungen

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1,38 und 20,16 ist die sinngemäße griechische Übersetzung διδάσκαλος (= Lehrer) beigefügt. Während „Rabbi“ (‫„ = ַר ִבּי‬mein Herr“) siebenmal für Jesus (1,38.49; 3,2; 4,31; 6,25; 9,2; 11,8) und einmal für Johannes den Täufer (3,26) verwendet wird, ist „Rabbuni“ (‫„ = ַרבּוּנִ י‬mein Herr“, „mein Gebieter“; Steigerungsform zu ‫ ַ)ר ִבּי‬in 20,16 im corpus Johanneum singulär (im NT nur noch Mk 10,51). In der Antwort Maria von Magdalas: „Rabbuni“ geht es nicht mehr wie in der Anrede Jesu mit „Rabbi“ um die Einführung einer Frage bzw. eines Anliegens von Jüngern an ihren Meister, sondern um ein Vertrauen und Nähe ausdrückendes Bekenntnis. Dieses Bekenntnis korrespondiert der unmittelbar vorausgehenden, ebenfalls kürzesten denkbaren Anrede durch Jesus: „Maria!“ und wird von ihr mitbestimmt. Das im Evangelium vorbereitete Gerufen‑, Genannt‑ und Erkannt-Werden durch Jesus (vgl. 1,35–51; 10,3–4.14) wird hier in der dichtesten Weise realisiert. Maria antwortet mit entsprechender joh Präzision. 3.2.3  Jüngerschaft als Vermittlung zur Unmittelbarkeit Maria von Magdala nimmt in 20,1–2.18 eine vermittelnde Aufgabe wahr wie Andreas und Philippus (vgl. 1,41–41.45–46): Sie vermittelt zur Unmittelbarkeit. Noch vor ihrer Begegnung mit Jesus laufen Petrus und der geliebte Jünger auf ihre Nachricht hin zum leeren Grab, in dem der geliebte Jünger „sah und glaubte“ (20,8). Nach ihrer Begegnung mit Jesus führt sie seinen Auftrag aus: Sie „verkündet“ ihr „Sehen des Kyrios“ (20,18) und den Aufstieg Jesu zu „meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (20,17). 3.2.3.1 „verkündigen“ Wählt der Evangelist bei den vermittelnden Kontakten zwischen Andreas und Simon bzw. zwischen Philippus und Nathanael (1,41.45) und zwischen Maria von Magdala und Simon Petrus sowie dem geliebten Jünger vor der österlichen Begegnung (20,2) die nüchterne Wendung: „Und er sagt zu ihm“ bzw. „und sie sagt zu ihnen“, so heißt es nach der Offenbarung des Auferstandenen: „Sie verkündigte den Jüngern“. In 20,1–18 ist die Bedeutung der Engel bzw. Boten am leeren Grab (οἱ ἄγγελοι) im Vergleich mit den synoptischen Parallelen signifikant unterschieden: Üben sie dort tatsächlich ihre Engel‑ und Botenfunktion aus, indem sie die zum leeren Grab kommenden Frauen ansprechen, die Auferweckung Jesu bezeugen und die Angesprochenen beauftragen (vgl. Mk 16,5–7; Mt 28,2–7; Lk 24,4–7), so haben sie in Joh 20,12–13 nur vorbereitende Funktion. Ohne dass das Gespräch zwischen ihnen und Maria von Magdala zu Ende geführt würde, taucht eine neue Person auf, die von da an mit der gleichen Ausgangsfrage: „Frau, was weinst du?“ (20,13b = 20,15b) die Gesprächsregie übernimmt. Die Frage des Auferstandenen ist um ein entscheidendes Glied erweitert: „Wen suchst du?“ Die Antwort Marias in 20,15 ist gegenüber 20,13 nur leicht abgewandelt. Dann ermöglicht die Anrede durch Jesus: „Maria“ die freie Sicht, das „Sehen“ des Kyrios.

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

Johannes erzählt am leeren Grab nicht mehr die Botschaft der Engel (bzw. des Engels) über die Auferweckung Jesu, die es weiterzutragen gilt, sondern er erzählt die österliche Begegnung mit dem Auferstandenen auf dessen Initiative hin. Der Auferstandene offenbart und erschließt sich selbst den Seinen. Der Auferstehungsglaube erwächst joh gesehen zuallererst aus der Begegnung mit dem Auferstandenen, nicht aus dem Zeugnis der Engel. Sodann ist angelologische Aufgabe bei Johannes auf Maria von Magdala übertragen: Sie „verkündigt“ (ἀγγέλουσα) nach der Begegnung mit Jesus die Auferstehungs-Botschaft. „Verkündigung“ (vgl. ἀναγγέλω; ἀπαγγέλω) als Vermittlung des Evangeliums verwendet das JohEv65  – neben der offenbarenden Verkündigung Jesu selbst (16,25) – für die Offenbarung des Messias in der Heilserwartung der Samariterin (4,25) und für die Botschaft des geheilten Gelähmten gegenüber den Juden (5,15). Ein prominenter Vertreter der „Verkündigung“ ist zudem der Paraklet, der „in die ganze Wahrheit führt“ (vgl. 16,12–15). 3.2.3.2  Vermitteltes Evangelium Im JohEv gibt es eine Fülle von Szenen, die die Vermittlung zur Unmittelbarkeit, d. h. zu Jesus und durch Jesus zu Gott (vgl. nur 14,1–14), ausleuchten.66 Neben den schon erwähnten Jüngern (vgl. 1,41–42.45–46; 12,20–22; 20,25), Maria von Magdala (vgl. 20,2.18), der Samariterin (vgl. 4,28–30.39–4267) und den Geheilten (vgl. Joh 5 und 9) wird die vermittelnde Aufgabe ausführlich von Johannes dem Täufer (vgl. bes. 1,6–8.15.19–37; 3,25–30) und von dem geliebten Jünger (vgl. bes. 13,23–26; 18,15–16; 19,25–30.35; 21,7.20–23) entfaltet. Johannes der Täufer und der geliebte Jünger sind je auf ihre Weise normative Prototypen für die Vermittlung zur Unmittelbarkeit. Für die nachösterliche Verkündigung gilt zudem, dass alle Vermittlungs-Aufgaben unterfangen sind vom Wirken des „anderen Parakleten“, von seinem Weggeleit (= seiner „Hodegie“; vgl. ὁδηγέω in 16,13) in die „ganze“ christologisch bestimmte Wahrheit. 3.2.3.3  „Jünger“, „Brüder Jesu“, „Kinder Gottes“ Ein weiteres Moment joh relecture und Fortschreibung zwischen 1,35–51 und 20,11–18 lässt sich in den Bezeichnungen für die Jünger und Jüngerinnen Jesu erkennen: Schildert 1,35–51 den von Johannes dem Täufer selbst angestoßenen Wechsel von Täufer‑ zu Jesus-„Jüngern“, so führt der Auferstandene in seinen Auftragsworten an Maria von Magdala eine neue, für das joh Schrifttum jedoch einschlägige Jünger-Bezeichnung ein: „Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen:  Vgl. auch die Vorkommen in 1 Joh 1,2.3.5; und ἀγγελία in 1 Joh 1,5; 3,11.  Gesehen auch von B. Kowalski, Die Hirtenrede (Joh 10,1–18) im Kontext des Johannesevangeliums, SBB 31, Stuttgart 1996, 221–225. 67 Auch hier führt das Zeugnis der Samariterin zur direkten Begegnung mit Jesus; vgl. 4,42: „Zu der Frau sagten sie: Nicht mehr wegen deiner Rede glauben wir, denn wir selbst haben gehört (!) und wissen: Dieser ist wahrhaft der Retter der Welt.“ 65 66

3.  Die fortschreibende relecture der Jüngerberufungen

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Ich steige auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (20,17). Jesus spricht „die Seinen“ (οἱ ἴδιοι; vgl. 1,11–12; 10,3–4.14; 13,1) als „seine Brüder“ an, die einen gemeinsamen Vater und Gott haben (vgl. 21,23).68 Jesus selbst deutet nachösterliches Christsein familienmetaphorisch. Die ersten Worte des Auferstandenen im JohEv stehen am Zielpunkt einer joh Sinnlinie, die die Gemeinschaft der Jünger Jesu als neue Familie Gottes deutet (vgl. bes. 1,12; 11,51–52; 19,25–27).69 Auch die entfaltete joh Abschiedsrede Joh 13–17 evoziert von ihrer Gattung und ihrem Sitz im Leben her familiäre Konnotationen.70 3.3  Johanneische Mittel Die zurückliegenden exegetischen Beobachtungen geben den Blick frei auf joh Stil‑ und Erzählmittel, die über die in der Johannes-Exegese bekannten (vgl. Missverständnisse; Erzählerkommentare; Metaphorik71; Symbolik72) hinausgehen und eine eingehende Beachtung verdienen. Drei solcher auf unterschiedlichen Ebenen liegenden Mittel seien kurz erwähnt: 3.3.1  Regeln – Sinnlinien Im JohEv begegnen eine überraschend große Zahl von „Regeln“ mit verschiedenem Gewicht für die Gesamterzählung (s. o. 2.4.).73 Teilweise haben diese Regeln Leitwortcharakter, d. h. sie begründen joh Sinnlinien, die sich im Evangelium verfolgen lassen und eine joh Sprach‑ und Denkfigur zu erkennen geben. Der vorliegende Beitrag hat eine solche Sinnlinie mit dem Täuferwort in 1,26de benannt und exegetisch zu verifizieren gesucht.

68  Vgl. auch insgesamt achtzehn Belege von „Bruder“ in 1 und 3 Joh und die Gemeindebezeichnungen „auserwählte Herrin“ (2 Joh 1) und „Kinder deiner auserwählten Schwester“ (2 Joh 13). 69 Zur joh Familienmetaphorik vgl. einen ersten Überblick im eigenen Beitrag: „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, in diesem Band, S. 205–229. 70 Die Gattung Abschiedsrede geht auf den Sterbebettsegen des scheidenden Familienvaters (vgl. Gen 27,1–40; 47,27–50,26; 1 Kön 2,1–12) zurück. Zur Gattung und zum Sitz im Leben der Abschiedsrede vgl. zuletzt: M. Winter, Das Vermächtnis Jesu und die Abschiedsworte der Väter. Gattungsgeschichtliche Untersuchung der Vermächtnisrede im Blick auf Joh. 13–17, FRLANT 161, Göttingen 1994. 71  Vgl. hierzu umfassend O. Schwankl, Licht (s. Anm. 4), 8–37 et passim (Lit.). 72  Vgl. nur R. Kieffer, Le monde symbolique de Saint Jean, LD 139, Paris 1989; Th. Söding, Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Anmerkungen zur Symbolsprache des Johannesevangeliums am Beispiel des Nikodemusgesprächs (Joh 3,1–21), in: K. Kertelge (Hg.), Metaphorik und Mythos im Neuen Testament, QD 126, Freiburg i. Br. 1990, 168–219, hier: 172–186; O. Schwankl, Licht (s. Anm. 4), 362–369. 73 Ihre Bedeutung und joh Verwertung ist erst noch in ihrem gesamten Umfang zu entdecken und zu beschreiben.

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

3.3.2  relecture – Fortschreibung Im JohEv gibt es über die Abschiedsrede74 hinaus weitere innerjoh Relektüren bzw. Fortschreibungen, die auf den theologischen Denk‑ und Reflexionsweg des Evangelisten bzw. der joh Schule aufmerksam machen und ihr eigenes Selbstverständnis profilieren. „Die joh Reinterpretationen stellen somit im Wesentlichen eine große Bewegung der theologischen Selbstaufklärung des joh Glaubens dar und manifestieren dadurch die stark innovative Kraft des joh Glaubens selbst.“ 75 Das leitende Paradigma solcher Fortschreibungstheologie steht in gewisser Spannung zu literarkritischen Forschungsbeiträgen, die mit konkurrierenden bzw. gegensätzlichen theologischen Positionen als primärem Kriterium einer Wachstumsgeschichte bis zur kanonischen Gestalt des JohEv rechnen und diese auch zum methodischen Kriterium der literarkritischen Arbeit erheben.76 Literarkritik am JohEv wird im Paradigma relecture gleichwohl nicht obsolet, sie stellt sich jedoch im neuen Lichte dar: Ein literarischer Wachstumsprozess versteht sich dann potentiell (gegebenenfalls bis zum Erweis des Gegenteils) als Entfaltung, Vertiefung und Anwendung der Vorgabe, die – gerade als weitertradierte – nicht desavouiert wird.77 3.3.3 Personalisierung Im rhetorischen Duktus des Johannesprologs lässt sich in nuce eine wachsende Präzisierung und Konkretisierung der Aussagen des „Prologs im Prolog“ (V. 1–5) in den folgenden Teilen V. (6–8)9–13 und V. 14–18 auf die Person Jesu hin belegen (vgl. die erste Nennung des Namens „Jesus Christus“ in V. 17b).78 Diese im JohEv in vielfachen Variationen (vgl. nur die kontextuelle Positionierung der prädikativen 74  Vgl.

zum relecture-Charakter der joh Abschiedsrede A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 17), 44–52. A. Dettwiler greift damit Positionen von C. Dietzfelbinger (vgl. Ders., Johanneischer Osterglaube, ThSt(B) 138, Zürich 1992) und seines Doktorvaters J. Zumstein auf; vgl. Ders., La rédaction finale de l’Évangile selon Jean (à l’exemple du chapitre 21), in: Ders., Miettes exégétiques, MoBib 25, Genève 1991, 253–279. 75  A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 17), 50. Vgl. H. Weder, Die Menschwerdung Gottes. Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6 (1985), in: Ders., Einblicke in das Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980–1991, Göttingen 1992, 363–400, hier: 369 et passim. 76 Für diese Forschungsrichtung stehen u. a. die Beiträge von G. Richter und der JohannesKommentar von J. Becker (Ders., Das Evangelium nach Johannes, ÖTK IV/1–2, Gütersloh (1981) 31991. 77  Vgl. A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 17), 47 f: „Der Rezeptionstext setzt das im Bezugstext Entwickelte als grundsätzlich weiterhin gültig voraus. (…) Bereits der Vorgang des Tradierens ist ja Ausdruck des Respektes gegenüber dem Tradierten! Es ist hier sogar vorsichtig die Frage zu stellen, ob sich in diesem literarischen Prozess der Fortschreibung – gegenüber dem der Einschreibung – nicht schon so etwas wie ein latent kanonisches Bewusstsein des autoritativen Charakters des Tradierten zu Wort meldet.“ 78 Vgl. hierzu die Prolog-Auslegungen insbesondere von M. Theobald, Fleischwerdung (s. Anm. 4) und O. Schwankl, Licht (s. Anm. 4).

4. Das Evangelium der Begegnung

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„ICH-bin“-Worte) herausgestellte Tendenz zur Personalisierung der Antwort auf die Heilserwartungen und die Bedürftigkeit der suchenden, fragenden oder kranken Menschen findet sich auch in den joh Jüngergeschichten.79 In der Begegnung Maria von Magdalas mit dem Auferstandenen und der Konzentration auf die beiden Wörter „Maria“ und „Rabbuni“ findet diese Tendenz ihren dichtesten Ausdruck. Die im JohEv forcierte Personalisierung darf jedoch nicht mit einer enggeführten Individualisierung verwechselt werden: Viele der ins Gespräch mit Jesus verwickelten Einzelpersonen repräsentieren (ohne deshalb zur Chiffre zu degenerieren) größere Gruppen, zu denen hin sie dann ja auch vermittelnd tätig werden (vgl. Joh 4,1–42). Zugleich bilden sie aufgrund ihrer Anschaulichkeit greifbare Identifikationsangebote für die Leser und Hörer des Evangeliums. Schließlich ist die joh Betonung der Einzelbegegnungen auch als Reflex auf das ‚personale Angebot‘ des Offenbarers zu verstehen: Der joh Jesus ist nicht nur im Sinne einer formalen Orthodoxie der „Sohn Gottes“, „der König Israels“, „der Retter der Welt“ etc., sondern er legt die konkrete personenbezogene Bedeutung seiner mit den christologischen Hoheitstiteln angezeigten Heilssendung in seinen „Zeichen“ und Offenbarungs-Gesprächen je neu im Blick auf den bedürftigen Menschen hin aus. Dem Evangelist liegt in der Tat viel daran, zur personalen Begegnung mit Jesus zu führen, dem Freund seiner Freunde (vgl. 3,29; 11,3; 13,1; 15,9–17), dem Bruder unter Brüdern (vgl. 19,25–27; 20,17; 21,17), welche die „Kinder Gottes“ sind, die nicht aufgrund ihrer natürlichen Zeugung, sondern durch die „Aufnahme“ Jesu die neue Familie Gottes (vgl. 1,12–13; 11,50–52; 19,25–27) bilden.

4. Das Evangelium der Begegnung Das JohEv ist das Evangelium der Begegnungen und ihrer meisterlich-erzählenden und theologisch-auslotenden Darstellung. Der Evangelist erzählt Begegnungen zwischen Jesus und Menschen mit unterschiedlichsten Biographien. Dabei handelt es sich im Kontrast zu den allgemein adressierten Offenbarungsreden vorzugsweise um exemplarische, auf die Leser oder Hörer hin geöffnete und sie einbeziehende Einzelgespräche. In aller Unterschiedlichkeit liegt ihnen jeweils eine gemeinsame gedankliche Figur zugrunde: Der Evangelist erzählt die Überwindung der Messias-Regel des Täufers, nach der der „in der Mitte“ der Menschen „stehende“ Messias der Unbekannte und Nicht-Erkannte ist. Jesus selbst initiiert dieses „Sehen“, „Erkennen“ bzw. „Glauben“ vor‑ wie nachösterlich. Zugleich gibt es viele Mittelsmänner und ‑frauen: Die, die Jesus begegnet sind, laden Menschen 79  Auch die joh „Semeia“ lenken hin auf die Doxa Jesu (2,11), auf die Person, die solche „Zeichen“ vollbringt; vgl. hierzu: R. Schnackenburg, Joh I (s. Anm. 2), 344–356: „Die johanneischen ‚Zeichen‘“, hier: 352: „In positiver Hinsicht machen alle jene ‚Zeichen‘, die Jesus als Lebensspender zeigen, die Gegenwart des eschatologischen Heils in seiner Person gewiss (…)“.

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1.  „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26)

in ihrer Umgebung  – idealtypisch mit den Worten Jesu: „Kommt und seht!“ (1,39.46) – ein und führen sie zu ihm. Die Wegstrecke des Glaubens ist im joh Sinn nicht schon allein in der Annahme des Zeugnisses derer, die Jesus begegnet sind, durchschritten  – so wichtig und konstitutiv dieses auch ist. Der Evangelisten zeigt vielmehr, wie Menschen aufgrund eines vermittelnden Zeugnisses (oder auch einer direkten Selbstoffenbarung Jesu) zur Begegnung mit Jesus selbst geführt werden (vgl. 4,24). In der Begegnung mit Jesus, dem „Licht“ und „Brot der Welt“, kann das Suchen und Fragen der Menschen auf die allein zureichende Antwort stoßen. Glaube wächst joh in der und in die Begegnung mit Jesus. Zu dieser Begegnung wiederum, zu diesem gläubigen „Sehen“, kann und soll die vermittelnde, die missionarische Aufgabe der Jünger Jesu führen.

2.  Relecture und réécriture Neue Paradigmen zu Methode und Inhalt der Johannesauslegung aufgewiesen am Prolog 1,1–18 und der ersten Abschiedsrede 13,31–14,31 1. Einleitung In der Johannesforschung melden sich neue Stimmen und anregende Positionen zu Wort.1 Dies zeigt eine Übersicht zu der schon quantitativ beachtlichen Zahl von Publikationen zum Corpus Johanneum der letzten vier, fünf Jahre.2 Auch inhaltlich teilt die Johannesauslegung die Trends der exegetischen Zunft zu einer verstärkten Berücksichtigung oder  – entschiedener  – zu einem prinzipiellen Primat der synchronen Textauslegung. Damit sind die methodisch-textwissenschaftlichen, hermeneutischen und bibeltheologischen Grundlagenreflexionen angesprochen, die die Schriftauslegenden aller Konfessionen und Fachgebiete seit langem beschäftigen (und die wohl kaum zu einem abschließenden Ergebnis geführt werden können).3 Innerhalb dieses, hier nicht weiter ausgeführten Problemhorizontes stellen die folgenden Ausführungen zwei in der Johannesforschung methodisch und inhaltlich neue Paradigmen vor, die beanspruchen, festgefahrene Kontroversen (Literarkritik oder literarische Einheit des JohEv? Kanonische oder ‚ursprüngliche‘ Kapitelfolge? Präsentische oder futurische Eschatologie im JohEv?) konstruktiv zu überwinden. Der folgende Beitrag stellt diese beiden Paradigmen vor und weist die heuristische Leistungsfähigkeit der réécriture an zwei Textbeispielen auf.4 1  Zu den Entstehungsbedingungen des folgenden Beitrags siehe im Anhang dieses Bandes unter „Nachweise der Erstveröffentlichung“. Die folgenden Ausführugnen basieren auch auf der in der Habilitationsschrift ausgeführten Auslegung des Johnnesevangeliums; vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000. 2 Vgl. K. Scholtissek, Johannine Studies. Surveying Recent Research with Special Regard to German Contributions, Currents in Research, Biblical Studies 6 (1998), 227–259 [erweiterte deutsche Version: Ders., Neue Wege in der Johannesexegese. Ein Forschungsbericht I, ThGl 89 (1999)]; vgl. Ders., Neue Wege in der Johannesexegese. Ein Forschungsbericht II, ThGl 90 (2000). 3 Vgl. hierzu den neuesten Überblick bei Th. Söding, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament. Unter Mitarbeit von Christian Münch, Freiburg i. Br. 1998 (Lit.). 4  Eine Auseinandersetzung mit den die Johannesforschung weithin bestimmenden methodischen, hermeneutischen und religionsgeschichtlichen Ansätzen führt der Verfasser in seinen Beiträgen: Johannes auslegen I. Forschungsgeschichtliche und methodische Reflexionen, SNTU 24 (1999), 35–83; Johannes auslegen II. Methodische, hermeneutische und einleitungswissenschaftliche Reflexionen, SNTU 25 (2000).

174

2.  Relecture und réécriture

2. Relecture Bei der Arbeit des Verfassers an seinem Habilitationsprojekt zu den reziproken Immanenz-Formeln im Corpus Johanneum hat sich das Modell der relecture als bedeutende heuristische Hilfe erwiesen. Um das innovative Potential dieser hermeneutischen Figur für die Johannesforschung  – und gegebenenfalls über diese hinaus – zu ermessen, bedarf es einer präzisen Begriffsbestimmung, die den durchaus verbreiteten, unspezifischen Gebrauch des Wortes relecture vermeidet. In dem hier verwendeten Sinn meint relecture kein freies Spiel von Texten und Zitaten, die sich nahezu beliebig kombinieren lassen und so ihre Inhalte je neu codieren. Relecture ist kein Stilmittel einer formvollendeten captatio benevolentiae vor der jeweiligen Tradition, die nur erwähnt wird, um sie im gleichen Atemzug der Sache nach zurückzuweisen.5 2.1 Forschungsgeschichte Die Beobachtung und die Auswertung des Phänomens der wiederaufnehmenden und fortschreibenden relecture ist in der alttestamentlichen Forschung kein neues,6 aber vermutlich ein unterschätztes und deshalb unausgeschöpftes Unterfangen. A. Gelin definiert relecture: „Sur un texte déjà existant se greffe l’indication d’une nouvelle lecture. Celle-ci est en liaison avec l’évolution spirituelle de la communauté, est conditionée par son progrès, répond à un besoin que Dieu suscite. Elle vise, – normalement du moins, à approfondir la donné du texte, à être homogène à son thême de base.“ 7

 Relecture ist deshalb auch zu unterscheiden von dem schillernden Theorem der Intertextualität; vgl. A. Bendlin, Art. „Intertextualität“, DNP 5 (1998), 1044–1047 (Lit.). 6  Vgl. A. Gelin, La question des „relectures“ biblique à l’intérieur d’une tradition vivante, in: A. Descamps / ​E. Massaux (Hgg.), Sacra Pagina I, BETHL XII, Gembloux 1958, 303–315. Henning Graf Reventlov handelt im ersten Kapitel des ersten Bandes seines Werkes „Epochen der Bibelauslegung“ relativ knapp von der „Bibelauslegung innerhalb der Bibel“; vgl. Ders., Epochen der Bibelauslegung, Bd. I: Vom Alten Testament bis Origenes, München 1990, 11–23. Zur Frage der „Wiederverwendung“ bzw. des „Wiedergebrauchs“ biblischer Texte (hier des Ps 80) vgl. Th. Hieke, Psalm 80 – Praxis eines Methodenprogramms. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung mit einem gattungskritischen Beitrag zum Klagelied des Volkes, ATSAT 55, St. Ottilien 1997, 207–211.304–307.446–449. Th. Hieke spricht vom „verwenderbezogenen Wirkpotential“ (209) eines Textes. Vgl. auch M. Saebo, From Collections to Book. A New Approach to the History of Tradition and Redaction of the Book of Proverbs (1986), in: Ders., On the Way to Canon. Creative Tradition History in the Old Testament, JSOT.S 191, Sheffield 1998, 250–258, hier 258: „On the whole, the long and complex history of tradition and redaction that lies behind the final shape of the book, to a great extent was a history of creative reinterpretation, for theological reasons mainly.“ 7  A. Gelin, question (s. Anm. 6), 394; vgl. ebd. 314: „L’intérêt de la méthode des relectures tient à ce qu’elle attire l’attention sur les rapports entre la vie de la communauté et le texte qui fixe et entraîne sa marche, sur le rapports entre ce texte et un autorité directrice, sur la tradition vivante dans laquelle il s’insère. Elle nous révèle un peu mieux le jeu complexe de l’inspiration; …“. 5

2. Relecture

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(1) In der alttestamentlichen Prophetenforschung verbindet sich besonders mit dem Namen Odil Hannes Steck eine hohe hermeneutische Wertschätzung der Reflexion über innerbiblische Rezeptions‑ und Auslegungsprozesse. Mit seinem Aufsatz: „Prophetische Prophetenauslegung“ (1993)8 und dem darauffolgenden Band „Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis“ (1996)9 hat er eine wichtige Diskussion angestoßen und federführend geprägt. In seinem Vorwort zu der schon genannten Monographie schreibt O. H. Steck: „Die Frage nach einem Sinnwillen in wachsenden prophetischen Büchern als ganzen muss endlich ihr eigenes Recht erhalten und in aufwendiger Verlagerung herkömmlicher Forschungsschwerpunkte geklärt werden. (…) Hinter den vorliegenden Prophetenbüchern könnte ein produktiv langzeitiger Traditionsvorgang wachsender Rezeption und Aneignung im Buchwachstum zum Vorschein kommen, der als Solcher theologisches Gewicht und Vorbildlichkeit hat und hinter der Frage nach innovativen Originallogien nicht länger im Schatten stehen kann.“10 O. H. Steck entdeckt und beschreibt den Traditionsprozess der „explizierenden Prophetenrelecture“11 als Fortschreibung, die ihren Einheitspunkt im fortwährendem Wirken des Deus praesens12 findet, die nicht auf „Korrektur oder gar Annullierung“ des Älteren hinausläuft13 und die „eine Selbstaktualisierung Jahwes“ beinhaltet, insofern „die Relecture-Formulierungen (…) gleichfalls und gleichrangig als Aussagen des namengebenden Propheten selbst (!) erscheinen.“14 Als „höhere Einheit“ des Fortschreibungsprozesses erweist sich „das Gesamtvorhaben Gottes mit dem Ergehen Israels.“15 Die von O. H. Steck angestoßene Diskussion wird in dem Sammelband „Rezeption und Auslegung im Alten Testament und in seinem Umfeld“ (1997)16  8  Vgl. O. H. Steck, „Prophetische Prophetenauslegung“, in: H. F. Geißler u. a. (Hgg.), Wahrheit der Schrift – Wahrheit der Auslegung. Eine Züricher Vorlesungsreihe zu Gerhard Ebelings 80. Geburtstag am 6. Juli 1992, Zürich 1993, 198–244; vgl. den überarbeiteten und erweiterten Nachdruck in: Ders., Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996, 127–204.  9  Vgl. O. H. Steck, Prophetenbücher (s. Anm. 8). 10  Ebd. VI f; vgl. ebd. 123: Hinter den gegebenen Prophetenbüchern würde „ein Vorgang von Tradition sichtbar, ein Vorgang fortschreibender Aneignung und Bewahrheitung des überlieferten als Ausdruck virulenter Lebendigkeit des sich in Prophetengestalten worthaft kündenden und sich in literarischen Aneignungen durch die Zeiten weiter explizierenden Gottes.“ O. H.  Steck verwendet hier auch das Stichwort relecture (ebd. 155.157 f.163.166–168 u. ö.). 11  Ebd. 166. 12  Vgl. ebd. 161 f, hier: „Gott stiftet die höhere Einheit der Textbeziehungen!“ Vgl. ebd. 181: Gott „bewegt sich im Verlauf von Zeit mit der Überlieferung personal begegnend und handelnd und bleibt gemäß prophetischer Kundgabe so und nicht anders im Erfahrungsraum der Gesamtzeit Israels in der Welt mit sich identisch.“ 13 Vgl. ebd. 14  Ebd. 171. 15  Ebd. 177 16 Vgl. R. G. Kratz / ​Th. Krüger (Hgg.), Rezeption und Auslegung im Alten Testament. Ein Symposion aus Anlass des 60. Geburtstags von Odil Hannes Steck, OBO 153, Fribourg (CH) / ​ Göttingen 1997 (Lit.).

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2.  Relecture und réécriture

weitergeführt.17 In seinem Beitrag in diesem Sammelband, der sich der Danielrezeption vor und nach der Zerstörung des zweiten Tempels zuwendet,18 kommt Klaus Koch zu bemerkenswerten Aussagen: „Die verschiedenen Arten der Danielrezeption erscheinen beispielhaft für die vielschichtigen Vernetzungen, die durch den Lauf der Geschichte notwendig ins Spiel kommen, wenn ernsthafte Leser die Botschaft der Schrift vernehmen wollen. Die Wahrheit der Schrift liegt nicht in dem Anliegen ihrer ursprünglichen Erstschriftsteller begraben, sondern wächst mit und durch die sie rezipierende Gemeinde. (…) Nicht jede Form von Rezeption ist berechtigt oder gar wegweisend. Vielleicht ist auch das Erstzeugnis des Autors höher zu achten als alle Überlieferungsstufen vor und nach ihm. Doch was Rezeptionsgeschichte für eine Biblische Theologie oder eine systematische Pneumatologie bedeutet, wissen wir noch nicht. Dafür Kriterien auszubilden, steht uns als exegetische Aufgabe noch bevor.“19 Mutatis mutandis lässt sich der in der Prophetenforschung von O. H. Steck gewonnene hermeneutisch und theologisch belangvolle Begriff von „prophetischer Auslegung“20 auch für die neutestamentliche Forschung, hier die Johannesforschung, mit großem Gewinn fruchtbar machen. (2) Das Dokument der päpstlichen Bibelkommission von 1993: „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“21, das es verdient, mit hoher Aufmerksamkeit studiert zu werden, ordnet „relectures“ den biblischen „Formen“ wie Parabeln, Allegorien, Anthologien, Centos22, Pescher, Psalmen, Hymnen, Visionen, Offenbarungen, Träumen und weisheitlichen Kompositionen zu. Bezeichnenderweise werden diese Formen vorgestellt im Teilkapitel: „Zugänge über die jüdische Interpretations-Tradition“ (Nr. 110–112). Das Bibeldokument bestimmt „relectures“ als „umgestaltende und akzentuierende Wiederaufnahme.“23 Bei relecture handelt es sich mithin um ein innerbiblisches und sprachlich klar bestimmbares Phänomen, das hier allerdings nicht näher erhellt wird. Auch innerhalb des zum Kapitel „III. Charakteristische Dimensionen der katholischen Interpretation“ gehörigen Teilkapitels „A. Die Interpretation innerhalb 17 Vgl. hierzu besonders den einleitenden Beitrag von R. G. Kratz, Die Redaktion der Prophe-

tenbücher, in: Ders. / ​Th. Krüger (Hgg.), Rezeption (s. Anm. 16), 9–27. 18  K. Koch, Spätisraelitisch-jüdische und urchristliche Danielrezeption vor und nach der Zerstörung des zweiten Tempels, in: R. G. Kratz / ​Th. Krüger (Hgg.), Rezeption (s. Anm. 16), 93–120. 19  Ebd. 120. 20  Vgl. hierzu näherhin die Ausführungen von O. H. Steck, Prophetenbücher (s. Anm. 8), 123 f.157–204. 21  Vgl. hierzu: Päpstliche Bibelkommission (Hg.), Die Interpretation der Bibel in der Kirche, SBS 161, Stuttgart 1995, 91–168 (Lit.), ebd. 9–61: L. Ruppert, Kommentierende Einführung in das Dokument; ebd. 62–90: H.-J. Klauck, Das neue Dokument der Päpstlichen Bibelkommission: Darstellung und Würdigung (Lit.); K. Kertelge, Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Zum gleichnamigen Dokument der päpstlichen Bibelkommission vom 23. April 1993, TThZ 104 (1995), 1–11. 22 Eine Anmerkung erklärt Centos als „Zitatmosaike aus antiken Dichtern“ (Die Interpretation der Bibel in der Kirche [s. Anm. 21], 111, Anm. 8). 23  Vgl. ebd.

2. Relecture

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der biblischen Tradition“ wird der Kategorie der „Wiederaufnahmen (relectures)“ große Bedeutung zugemessen. Die Vielfalt von relecture-Prozessen, von innerbiblischen Interpretationsprozessen, zeigt, „dass die Bibel selbst zahlreiche Hinweise und Anregungen zur Kunst der Interpretation enthält“ (IBK 138). Zur Auslegung der Schrift in ihrer Gesamtheit gehört mithin die Anerkennung der durch die Relektüren begründeten „mehrstimmigen Symphonie“ (vgl. IBK 139) der biblischen Zeugnisse.24 2.2  Relecture bei Andreas Dettwiler Zwar hatte schon Rudolf Schnackenburg in seinem epochalen Johanneskommentar im Blick auf die joh Abschiedsrede das Stichwort „relecture“ verwendet,25 die programmatische Reflexion und Anwendung dieser hermeneutischen Figur verdankt die Johannesforschung aber A. Dettwilers Dissertation über die joh Abschiedsrede(‑n) (veröffentlicht 1995).26 Der Autor weist m. E. überzeugend nach, dass Joh 15,1–17 als relecture von 13,1–17.34–35 und 16,4b–33 als relecture von 13,31– 14,31 zu lesen ist.27 Dettwiler definiert relecture als „eine Weise schriftlicher Reinterpretation“, „die sich durch die zweifache Bewegung von explizierender Rezeption und gleichzeitiger thematischer Akzentverlagerung auszeichnet“.28 Die Wachstumsgeschichte eines Schrifttextes und die diese Wachstumsgeschichte prägende theologische Denkbewegung wird nicht als Geschichte miteinander konkurrierender, sich überlagernder bzw. sich gegenseitig ablösender theologischer Positionen gedeutet, sondern als relativ organischer Fortschreibungsprozess, der das vorfindliche Frühere nicht zurückweist, sondern es positiv aufgreift und – oftmals sensibilisiert durch eine neue herausfordernde Gemeindesituation  – entfaltet, vertieft und neuakzentuiert. Mit den Worten von A. Dettwiler: „Das Verhältnis des Rezeptionstextes zu seinem Bezugstext kann grundsätzlich beschrieben

24  P. Ricoeur spricht in seinem komprimierten Aufsatz: „Nommer Dieu“ (frz. 1977) von der „biblischen Polyphonie“; vgl. das Kapitel IV der deutschen Übersetzung in: B. Casper (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg / ​München 1981, 45–79, hier 57; vgl. ebd. 49: „Diese dreifache Unabhängigkeit des Textes hinsichtlich des Autors, seines Kontextes, und seines ersten Empfängers erklärt, warum die Texte für unzählige Wiedervertextungen durch das Lesen und Hören offen sind.“ J. Zumstein spricht von relecture als „Rekontextualisierung der behandelten Thematik“, vgl. Ders., Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur, NTS 42 (1996), 394–411, 408. 25 Vgl. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/1–4, Freiburg i. Br. I (1965) 7 1992, II (1971) 41985, III (1975) 61992, IV (1984) 31994, hier III 103.141; vgl. auch R. E. Brown, The Gospel According to John. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 29.29a, New York 1966. 1970, I 588–597 („The Special Relationship between xiii 31–xiv 31 and xvi 4b–33“). 26  A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13.31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169, Göttingen 1995. 27  Vgl. auch die positive Stellungnahme von H.-J. Klauck, Der Weggang Jesu. Neue Arbeiten zu Joh 13–17, BZ 40 (1996), 236–250, hier 245–247. 28  A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 26), 12; vgl. ebd. 44–52.

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2.  Relecture und réécriture

werden als ein Verhältnis innovativer, explizierender Rezeption bei gleichzeitiger thematischer Verlagerung.“29 Nach Jean Zumstein, dem Doktorvater von Andreas Dettwiler in Neuchâtel, dem die Johannesforschung mehrere Aufsätze zur relecture im JohEv verdankt,30 liegt ein Prozess der relecture dann vor, „wenn ein erster Text die Bildung eines zweiten Textes hervorruft und wenn dieser zweite Text seine volle Verständlichkeit erst im Bezug zum ersten Text gewinnt.“31 A. Dettwiler hat idealtypische Regeln des Paradigmas relecture zusammengestellt:32 (1) Relecture ist ein intertextuelles Phänomen, das zugleich in synchroner und in diachroner Hinsicht zu analysieren ist. (2) Der Rezeptionstext setzt das im Bezugstext Entwickelte als grundsätzlich weiterhin gültig voraus. (3) Relecture vollzieht sich in der zweifachen Bewegung von explizierender Rezeption und thematischer Akzentverlagerung. (4) Der Rezeptionstext ist von Anfang an als Rezeptionstext konzipiert worden. (5) Beweggrund für relecture kann einerseits ein genuin innertheologisches Bedürfnis nach weiterer Entfaltung des tradierten Sachverhalts und andererseits eine neue geschichtliche Situation sein. (6) Die Autorenfrage ist nicht von zentraler Bedeutung für das Verständnis von relecture. 2.3 Weiterführung Dieser Ansatz lässt sich über die Position von A. Dettwiler, der relecture m. E. mit Erfolg auf zwei getrennte Textpartien bezieht, hinaus durch die Anwendung auf das gesamte Corpus Johanneum weiterführen: Die theologische Denkbewegung und die Genese des JohEv insgesamt ist als Fortschreibungsprozess zu verstehen, der die joh Jesusüberlieferung und Christusverkündigung, die „zu denken gibt“33,  Ebd. 294. Vgl. F. Hahn, Die Hirtenrede in Joh 10, in: C. Andresen u. a. (Hgg.), Theologia crucis – Signum crucis (FS E. Dinkler), Tübingen 1979, 185–200, 195 (er spricht mit Blick auf 10,1–18 von einer „deuterojohanneischen Redaktion“, die „nicht die Eigenarten der johanneischen Theologie im Sinne der geltenden kirchlichen Lehre korrigieren wollte, sondern (…) die johanneischen Tendenzen weiterführt und verstärkt“). 30  Vgl. J. Zumstein, Mémoire et relecture pascale dans l’évangile selon Jean, in: D. Marguerat / ​ Ders. (Hgg.), La mémoire et le temps. Mélanges offerts à Pierre Bonnard, MoBi 23, Genf 1991, 153– 170 (= in: Ders., Miettes exégétiques, MoBi 25, Genf 1991, 299–316); Ders., Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur, NTS 42 (1996); Ders., Zur Geschichte des johanneischen Christentums, ThLZ 122 (1997), 417–428. 31  J. Zumstein, Prozess (s. Anm. 30), 395. 32  Vgl. A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 26), 46–52. 33  H. Weder, Die Asymmetrie des Rettenden. Überlegungen zu Joh 3,14–21 im Rahmen johanneischer Theologie (1990), in: Ders., Einblicke in das Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980–1991, Göttingen 1992, 435–465, 464. 29

2. Relecture

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im Blick auf die gegenwärtige Lebenssituation und Glaubenserfahrung der Christen vertieft auslotet. Francis J. Moloney, dem die Johannesforschung einen neuen dreibändigen Kommentar verdankt, der die narrative Anatomie des JohEv konsequent aufarbeitet,34 formuliert: „The Gospel as a whole has a unified style and language. (…) This is the result of continual reworking over decades of the Johannine community’s telling and retelling of the story of Jesus.“35 Nach H. Weder legt die Geschichte des Johannesevangeliums „Zeugnis ab von der fortschreitenden Reflexion, welche der Glaube in der christlichen Gemeinde ausgelöst hat.“36 Seine Intention ist es zu zeigen, „dass johanneische Theologie verstanden werden kann als ein Vorgang des Nachdenkens, in welchem entfaltet wird, was der christliche Glaube zu denken gibt. Auffallend ist dabei, dass nicht die Konfrontation mit dem Früheren gesucht wird (…), sondern dass das Frühere so ins Neue gewendet wird, dass sein Recht gerade nicht bestritten, sondern für die Deutung fruchtbar gemacht wird.“37

Auch 1–3 Joh können als Teil des joh Fortschreibungsprozesses verstanden werden und bezeugen zugleich dessen früheste Wirkungsgeschichte. Hermeneutisch fruchtbar ist zudem auch die Betrachtung der joh Schriftauslegung,38 z. B. der Mosetypologie,39 unter dem Aspekt der relecture. 34  Vgl. F. J. Moloney, Belief in the Word. Reading the Fourth Gospel: John 1–4, Minneapolis 1993; Ders., Signs and Shadows. Reading John 5–12, Minneapolis 1996; Ders., Glory not Dishonor. Reading John 13–21, Minneapolis 1998; vgl. auch Ders., The Gospel of John, Sacra Pagina Series 4, Collegeville 1998. 35  Vgl. F. J. Moloney, A Sacramental Reading of John 13,1–38, CBQ 53 (1991), 237–256, 241 Anm. 22. Vgl. J. Zumstein, Le point de vue de l’école johannique sur les logia de Jésus dans le premier discourse d’adieu, RevSR 69 (1995), 59–70, hier 59: „Dans le quatrième évangile, la présentation des paroles de Jésus atteste un phénomène de relecture. Ce processus est observable quasiment dans chaque chapitre.“ Vgl. Ders., Prozess (s. Anm. 30; u. a. mit Hinweis auf die Überschrift, den Prolog, den Epilog, das Verhältnis von JohEv und 1 Joh). 36  H. Weder, Asymmetrie (s. Anm. 33), 437. 37 Ebd. 464. Vgl. Ders., Von der Wende der Welt zum Semeion des Sohnes, in: A. Denaux (Hg.), John and the Synoptics, BEThL 101, Leuven 1992, 127–145, hier 127: „Im Sinne einer Arbeitshypothese werde ich den Versuch machen, die johanneische Theologie mit dem Modell der Entfaltung zu verstehen, der Entfaltung dessen, was der christliche Glaube zu denken gab.“ 38  Vgl. zuletzt: M. Hengel, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund urchristlicher Exegese, JBTh 4 (1989), 249–288; H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments III. Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung, Epilegomena, Göttingen 1995, 152– 205; M. J. J. Menken, Old Testament Quotations in the Fourth Gospel. Studies in Textual Form, CBET 15, Kampen 1996; Chr. Dietzfelbinger, Aspekte des Alten Testaments im Johannesevangelium, in: H. Cancik u. a. (Hgg.), Geschichte – Tradition – Reflexion I–III (FS M. Hengel), Tübingen 1996, III 203–218; W. Kraus, Johannes und das Alte Testament. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium im Horizont Biblischer Theologie, ZNW 88 (1997), 1–23; Ders., Die Vollendung der Schrift nach Joh 19,28. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium, in: C. M. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997, 629–636; A. Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate, WUNT II/83, Tübingen 1996; „Antijudaismus im Johannesevangelium?“, in diesem Band, S. 483–508. 39  Vgl. hierzu: W. A. Meeks, The Prophet-King. Moses Traditions and the Johannine Christo-

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2.  Relecture und réécriture

3. Réécriture Neben der relecture, die die diachrone Zuordnung zweier Texte (als Bezugs‑ und als Rezeptionstext) reflektiert und interpretiert, vollzieht sich – so die hier vertretene These  – im Johannesevangelium auf synchroner Ebene ein analoger Prozess, der hier in Unterscheidung zur relecture mit dem Begriff „réécriture“ bezeichnet wird. Réécriture wird hier definiert als: variierende Wiederaufnahme und vielschichtige Um-Schreibung ein und derselben Grundkonstellation durch den gleichen Autor. Der Begriff réécriture stammt ursprünglich aus der Intertextualitätsdebatte und wurde von der in den siebziger Jahren entstandenen critique génétique (Textgenetik) übernommen.40 Wie so oft in hermeneutischen Diskussionen wird auch dieser Terminus nicht völlig einheitlich verwendet.41 Für die hier verwendete Definition von réécriture (s. o.) kann auf die neuere Kafka-Forschung von Gerhard Neumann verwiesen werden. Für den Sammelband „Ein Landarzt“ erkennt er die „Wieder-Holung schon vorgegebener Grundmuster“42 bzw. die „Durchschrift einer immer sich wiederholenden Grundsituation“ (= Ré-écriture)43 als durchgehaltenes poetologisches Prinzip von Franz Kafka. In seiner Interpretation des „Prozess“ hält G. Neumann fest: „Kafkas Gestaltungsabsicht zielt damit in der Tat nicht auf einen linearen Ablauf, sondern auf eine Reihe fortgesetzter Metamorphosen einer als Anfang gesetzten Grundsituation.“44 logy, NTS 14, Leiden 1967; K. Haacker, Die Stiftung des Heils. Untersuchungen zur Struktur der johanneischen Theologie, AzTh I 47, Stuttgart 1972; S. Kreuzer, „Wo ich hingehe, dahin könnt ihr nicht kommen“. Johannes 7,34; 8,21; 13,33 als Teil der Mosetypologie im Johannesevangelium, in: W. Pratscher / ​G. Sauer (Hgg.), Die Kirche als historische und eschatologische Größe (FS K. Niederwimmer), Frankfurt a. M. 1994, 63–76 (Lit.). 40 Vgl. C. Oriol-Boyer (Hg.), La réécriture, Grenoble 1990; A. Grésillon, Éléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes, Paris 1994 (dt. 1999); vgl. hier die Definition von réécriture: „toute opération scripturale qui revient sur du déjà-écrit, qu’il s’agisse de mots, de phrases, de paragraphes, de chapitres ou de textes entiers“ (245). Vgl. auch die deutsche Übersetzung: A. Grésillon, Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“, Arbeiten zur Editionswissenschaft 4, Bern 1999, 299: „Um-Schreibung [réécriture]: jeder Schreibvorgang, der auf bereits Geschriebenes reflexiv oder verändernd zurückkommt, gleich ob es sich um Wörter, Sätze, Abschnitte, Kapitel oder abgeschlossene Texte handelt“ vgl. ebd. 103. 41 In SEMEN 3 wird sowohl das „Um‑“ und „Neuschreiben“ von Texten anderer Autoren als auch eigener Texte als réécriture gedeutet, vgl. Th. Aron (Hg.), Semen 3. La réécriture du texte litteraire, Groupe de recherches en linguistique et semiotique (= GRELIS), Annales Littéraires de l’Université de Besancon 347, Paris 1987. 42  Vgl. G. Neumann, Schrift und Druck. Erwägungen zur Edition von Kafkas Landarzt-Band, Zeitschrift für Deutsche Philologie 101 (1982), 115–139, hier 130. 43  Ebd. 132; vgl. 136: Die Texte Kafkas nehmen „in wiederholenden Umschreibungen und Umschreibungen Vor-Geschriebenes“ auf und „variieren“ und „vergegenwärtigen“ es „nach dem Prinzip der Réécriture“; vgl. Ders., Pour un Kafka en procès, Genesis 1 (1994), 63–87. 44  G. Neumann, Der Zauber des Anfangs und das „Zögern vor der Geburt“. Kafkas Poetologie des „riskantesten Augenblicks“, in: H. D. Zimmermann (Hg.), Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas „Der Prozess“, Würzburg 1992, 121–142, hier 141; vgl. Ders., Der verschleppte Prozess, Poetica 14 (1982), 92–112.

3. Réécriture

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Der réécriture ‑Charakter der joh Denkbewegung lässt sich sprachlich an der Fülle von Wiederholungen und Wiederaufnahmen von wörtlichen Fremd‑ oder Selbstzitaten, von Sätzen oder Teilsätzen und von Signalwörtern aufweisen. Diese intratextuellen Wiederaufnahmen lassen sich als literarisches Basisphänomen bestimmen, das den réécriture-Prozess anzeigt und vorantreibt. So wird z. B. innerhalb der Offenbarungsrede Jesu in Joh 6 das „ICH-bin“-Wort aus 6,35 („ICH bin das Brot des Lebens“) in 6,41.48.51 wiederaufgenommen.45 Inhaltlich kommt die joh Grundkonstellation, die der Evangelist in immer neuen Anläufen um-schreibt, in dem Täuferwort in 1,26 zum Ausdruck: „Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt“. Dieses Wort Johannes des Täufers ist in der Johannesforschung bisher unbeachtet geblieben. Tatsächlich ist diese Messias-Regel des Täufers, wie sie hier genannt werden soll, eine Basisaussage, eine Sinnlinie,46 die in nahezu allen joh Szenen einschließlich der Ostergeschichten narrativ entfaltet und amplifiziert wird.47 Dieses innerjoh Phänomen der réécriture soll an den folgenden exegetischen Stichproben zum Prolog und zu der joh Abschiedsrede, Teil I, nachgewiesen und erkundet werden. 3.1 Erstes Textbeispiel: Der Prolog Aufgrund seiner theologischen, philosophischen und rhetorischen Intensität und Qualität hat der Prolog des JohEv seit jeher die Aufmerksamkeit der Ausleger auf sich gezogen.48 Es ist wohl kaum übertrieben, im Johannesprolog, der einen 45  Am Beispiel der asymmetrischen Licht-Finsternis-Metaphorik im Corpus Johanneum hat O. Schwankl die literarischen Entwicklungsprozesse unter den Stichworten: Wiederholung, Variation und Amplifikation zusammengefasst; vgl. Ders., Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995, 180– 183.393 f. 46  Zur Analyse von Sinnlinien vgl. die Ausführungen bei W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg i. Br. (1987), 31993, 97 f.102.103–109; vgl. auch Th. Söding, Wege (s. Anm. 3), 139.141 f. 47 Vgl. hierzu den eigenen Beitrag: „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), in diesem Band, S. 151–172. 48  Vgl. die Forschungsüberblicke bei: M. Theobald, Die Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh, NTA.NF 20, Münster 1988, 6–161 (Lit.); J. Habermann, Präexistenzaussagen im Neuen Testament, EHS.T 362, Frankfurt a. M. 1990, 317–414.555–596; U. B. Müller, Die Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus, SBS 140, Stuttgart 1990, 40–83; W. Schmithals, Johannesevangelium und Johannesbriefe. Forschungsgeschichte und Analyse, BZNW 64, Berlin 1992, 260–277. Vgl. auch: O. Hofius, Struktur und Gedankengang des Logos-Hymnus in Joh 1,1–18 (1987), in: Ders. / ​H.-Chr. Kammler (Hgg.), Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums, WUNT 88, Tübingen 1996, 1–23; W. Carter, The Prologue and John’s Gospel. Function, Symbol and the Definitive Word, JSNT 39 (1990), 35–58; J. Painter, The Quest for the Messiah. The History, Literature and Theology of the Johannine Community, Edinburgh 21993, 137–162; H. Weder, Die Weisheit in menschlicher Gestalt. Weisheitstheologie im Johannesprolog als Paradigma einer Biblischen Theologie, in: S. Pedersen (Hg.), New Directions in Biblical Theology. Papers of the Aarhus Conference, 16.–19. September 1992, NT.S 67, Leiden 1994, 143–179; M. Karrer, Jesus Christus

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2.  Relecture und réécriture

komplexen Wachstumsprozess durchlaufen hat,49 ein geniales (wenn nicht das genialste) Konzentrat urchristlicher Theologie zu sehen. Dies gilt sowohl für die V. 1–18 selbst wie im Blick auf ihre rhetorische Funktion für das Gesamt des JohEv.50 Zu den die Prologforschung dominierenden Kontroversen gehören die Trennung von Tradition und Redaktion, also die Rekonstruktion und Auslegung des vorjoh Hymnus, die Interpretation der Funktion des Prologes für das Corpus Evangelii sowie die innere Architektur des Prologes selbst. Die als letzte genannte Frage nach der formalen und inhaltlichen Gestalt der V. 1–18 soll hier aufgegriffen werden und einer vielleicht überraschenden Lösung zugeführt werden. Mit jeder Gliederung verbinden sich weitreichende inhaltliche Entscheidungen. Nicht zufällig ist deshalb auch die Gliederung des Prologs äußerst umstritten. Diese Diskussion kann hier nur in einer Hinsicht aufgenommen werden: Neben konzentrischen Gliederungsvorschlägen51 ist die Annahme weit verbreitet, dass der Prolog auf der Ebene des Endtextes heilsgeschichtlich gegliedert werden im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998, 317–321; M. Theobald, Le prologue johannique (Jean 1,1–18) et ses „lecteurs implicites“. Remarques sur une question toujours ouverte, RSR 83 (1995), 193–216 (Lit.: 194 f Anm. 3); E. Harris, Prologue and Gospel. The Theology of the Fourth Evangelist, JSNT.S 107, Sheffield 1994; M. Cholin, Le prologue et la dynamique de l’évangile de Jean, Lyon 1995; J. Zumstein, Le prologue, seuil du quatrième évangile, RSR 83 (1995), 217–239; U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK 4, Leipzig 1998, 28–45; L. Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 18–36; U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 11998, 19–36. 49 Vgl. nur: R. Schnackenburg, Joh I (s. Anm. 25), 200–207; M. Theobald, Fleischwerdung (s. Anm. 48, Lit.). 50 Vgl. H. Lausberg, Der Johannes-Prolog. Rhetorische Befunde zu Form und Sinn des Textes, NAWG.PH, Göttingen 1984, 189–279, bes. 193–196.272–279, der Joh 1,1–18 als Exordium (Proömium) des JohEv deutet; vgl. Ders., Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 31990, 266–279 (151–160 zum Proömium); vgl. ebd. 598 (307): „Die proömiale Periphrase dient also der Verhüllung (fumus), erst die narratio bringt die Enthüllung (lux). Die Verhüllung gibt dem Hörer ein Rätsel auf, dessen Lösung durch Deutung der Periphrase ihm intellektuelle Genugtuung verschafft“ (zitiert auch bei M. Theobald, Fleischwerdung [s. Anm. 48], 269). Zum Prolog als einem Metatext des JohEv vgl. auch J. Zumstein, prologue (s. Anm. 48), 217–239; Ders., Prozess (s. Anm. 30), 401–403, hier 403: „Der Prolog erfüllt die Funktion, den hermeneutischen Rahmen festzulegen, innerhalb dessen die Erzählung gelesen werden soll.“ Warum J. Zumstein in diesem Zusammenhang davon spricht, „dass der Mensch Jesus, der im Zentrum der nachfolgenden Erzählung stehen wird, die Verdoppelung Gottes inmitten der Welt darstellt“ (ebd.), ist hingegen unverständlich. Den Prolog-Charakter der V. 1–18 zu bestreiten (so J. Habermann, Präexistenzchristologische Aussagen im Johannesevangelium. Annotationes zu einer angeblich „verwegenen Synthese“, in: R. Laufen (Hg.), Gottes ewiger Sohn. Die Präexistenz Christi, Paderborn 1997, 115–141, hier 127 f ), ist unbegründet. Zur narrativen Funktion von Prologen vgl. auch H.-J. Klauck, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog, BThSt 32, Neukirchen-Vluyn 1997, 13–18.36–39.76 f.112–115 (Lit.); hier 113 (zu Mk 1,1–15): „Gezeigt wird, wie die himmlische Wirklichkeit Gottes in die irdische Realität hineinreicht, und die Person Jesu wird als Schnittpunkt beider Dimensionen vorgestellt“. 51  Vgl. M.-É. Boismard, Le prologue de St. Jean, LD 11, Paris 1953; R. A. Culpepper, The Pivot of John’s Prologue, NTS 27 (1980), 1–31; J. Staley, The Structure of John’s Prologue, CBQ 48 (1986), 241–264; R. Meynet, Analyse rhétorique du prologue de Jean, RB 94 (1989), 481–510.

3. Réécriture

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kann.52 Kontrovers diskutiert wird dann nicht mehr über diese Prämisse, sondern über die Frage, in welchem Entwicklungsstadium und in welchen Versen vom logos asarkos und in welchen Versen vom logos ensarkos gehandelt wird. Rudolf Schnackenburg nimmt an, dass der vorjoh Hymnus in allen drei von ihm rekonstruierten Strophen vom logos asarkos gesprochen habe, wohingegen der Evangelist durch den Einschub der V. 6–8 die ursprünglich zweite und dritte Strophe umdeute mit Blick auf den logos ensarkos.53 Ulrich Wilckens hingegen setzt in seinem neuen Johanneskommentar den Beginn der Rede vom logos ensarkos erst bei V. 14 an.54 Hier wird der heilsgeschichtlichen Lesart des Johannesprologes das Modell einer christologischen réécriture innerhalb des Prologs gegenübergestellt. Die Differenz zu den heilsgeschichtlichen Auslegungen des Prologes spitzt sich zu besonders an der Einschätzung der V. 4–5: Handeln diese Verse – wiederum auf der Ebene des Endtextes  – schöpfungstheologisch bzw. heilsgeschichtlich vom logos asarkos, dem die Aufgabe zufällt, den Menschen „Licht“ und „Leben“ zu spenden?55 Oder handeln die V. 4–5 – metaphorisch codiert – doch schon vom Christusereignis? Die hier favorisierte christologische réécriture in den drei Partien des Prologes führt zu der folgenden Auslegung: (1) V. 1–5: Unter rhetorischen Gesichtspunkten56 lassen sich die V. 1–5 (I) als Prolog im Prolog verstehen. Insbesondere V. 4–5 beinhalten dann schon eine äußerst gedrängte Kurzfassung der joh Evangelienerzählung (vgl. nur die Wiederaufnahme von 1,5 in 12,3557!).58 Für Otto Schwankl 59 stellt V. 5 „eine Art Generalanzeige dar, einen Kurztext des gesamten Evangeliums.“60 52 Dieses heilsgeschichtliche Paradigma liegt der Mehrheit der Auslegungen zugrunde; vgl.: I. de La Potterie, Structure du prologue de saint Jean, NTS 30 (1984), 354–381; R. Schnackenburg, Joh I (s. Anm. 25), und H. Lausberg, Johannes-Prolog (s. Anm. 50), 196, B. Viviano, The Structure of the Prologue of John (1:1–18). A Note, RB 103 (1998), 176–184, sucht beide Interpretationsansätze zusammenzuführen. 53  Vgl. R. Schnackenburg, Joh I (s. Anm. 25), 203 f. Für O. Hofius spricht der Logos-Hymnus (in der von ihm rekonstruierten Version) ab V. 10 vom logos ensarkos; vgl. Ders., Struktur (s. Anm. 48), 19. 54 Vgl. U. Wilckens, Joh (s. Anm. 48), 19–36. 55  So R. Schnackenburg, Joh I (s. Anm. 25), 217–226, in seiner Auslegung der V. 4–5. Gleichwohl hält seine Interpretation die eigene These nicht wirklich durch. 56 Eine rhetorische Analyse von 1,1–18 kann wichtige Impulse von H. Lausberg, JohannesProlog (s. Anm. 50), aufgreifen, wird diese Studie aber wohl auch weiterführen. 57 Vgl. 12,35: „Jesus sagte nun zu ihnen: Noch kurze Zeit ist das Licht in/bei euch (ἐν ὑμῖν). Wandelt also solange ihr das Licht habt, damit die Finsternis euch nicht überwinde (ἐν ὑμῖν).“ Zur Auslegung von 12,35 f vgl. O. Schwankl, Licht (s. Anm. 45), 251–270. 58  So J. Habermann, Aussagen (s. Anm. 48), 123 f, und zuletzt O. Schwankl, Licht (s. Anm. 45), 80 f.110.94: „Speziell V. 5 stellt dann eine Art Generalanzeige dar, einen Kurztext des gesamten Evangeliums“; vgl. ebd. 81: Im Prolog werden „die Fundamente des ganzen Bauwerkes gelegt, also seine Grundelemente und Grundstrukturen festgesetzt; werden die Hauptdarsteller vorgestellt, die das Spiel bestreiten und bestimmen, wird das gesamte Geschehen angesagt, vielleicht auch schon summarisch (und noch orakelhaft) ,durch-gesagt‘ und ‚vor-gespielt‘ “. Vgl. ebd. 112 f und den Hinweis auf die delektierende Funktion der „exordialen Verschlüsselung“, des

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2.  Relecture und réécriture

Die folgenden Abschnitte V. 6–13 (II) und 14–18 (III) sind dann als zweifach fortschreibende und deutende réécriture dieser „Eingangshalle“61 zu verstehen, die die zunächst noch unbestimmteren Aussagen zunehmend konkretisiert und präzisiert. Bekanntlich identifiziert erst V. 17 den Logos mit Jesus Christus. Francis J. Moloney urteilt treffend: „The author has constructed three parallel passages, deepening and expanding the same essential message with each statement and restatement.“62 (2) V. 6–13: Nach der ersten Darstellung des Täuferzeugnisses in V. 6–8 wird das Kommen des „wahren Lichtes“, des Logos, in die „Welt“ (V. 9) und die Reaktion darauf benannt: Obwohl die Welt durch ihn geschaffen wurde, erkennt sie ihn nicht (V. 10); obwohl er „in das Eigene kommt“ nehmen „die Eigenen“ ihn nicht auf (V. 11).63 Die V. 10 und 11 sind nicht additiv, sondern im Sinne einer fortschreitenden Präzisierung zu verstehen. Denen jedoch, die ihn „aufnehmen“, d. h. an seinen Namen glauben, gibt er Vollmacht, Kinder Gottes zu werden (V. 12–13). Damit präzisiert der Prolog selbst die zunächst noch unbestimmtere Aussage aus den V. 4–5. „Die V. 10–12 raffen die evangelische Geschichte in wenigen Zeilen zusammen.“64 (3) V. 14–18 führen den réécriture-Prozess zu ihrem Höhepunkt: Das Christusereignis, das zuvor lichtmetaphorisch (vgl. V. 4–5) und dann auch familienmetaphorisch (vgl. V. 11–13) reflektiert wurde, wird jetzt in V. 14 als Inkarnation und Herrlichkeitsoffenbarung des Logos in Jesus Christus bestimmt. Der doxologische Duktus der V. 14–18 nimmt die soteriologischen und ekklesiologischen Vorgaben der vorausgehenden Abschnitte auf und führt sie weiter aus. Das ekklesiale „wir“ stimmt dem Zeugnis Johannes des Täufers (vgl. die fortschreibende Wiederaufnahme der V. 6–8 in V. 15) zu und entfaltet dieses Zeugnis: Dazu werden die vorangegangenen Aussagen über den Logos (die  Gottesprädikationen,  die  PräSpieles zwischen Ver‑ und Entschleierung (ebd. 114). Nach J. Zumstein, prologue (s. Anm. 48), 233, haben Prologe auch die Funktion, Erwartungen und das Verlangen zum Weiterlesen zu wecken. Vgl. auch die gattungskritischen Beobachtungen zu 1,1–18 bei M. Theobald, Fleischwerdung (s. Anm. 48), 267–271. Vgl. auch sein Urteil zur rhetorischen Strategie in 1,1–18; ebd. 143 f.264.267–271.297 f. 59  O. Schwankl, Licht (s. Anm. 45), 94; vgl. ebd. 80 f.110. Vgl. in diesem Sinne auch M. Theobald, prologue (s. Anm. 48), 200–208. 60  Vgl. auch U. Schnelle, Joh (s. Anm. 48), 45, der das Präsens φαίνει in V. 5 auf die Inkarnation bezieht. 61  O. Schwankl spricht auch von einem „kosmopolitisch gestalteten Foyer“, vgl. Ders., Licht (s. Anm. 45), 101. 62  F. J. Moloney, John I (s. Anm. 34), 27. 63  Zur Auslegung von 1,11–13 als semantischer Achse des JohEv vgl. F. Muẞner, Die „semantische Achse“ des Johannesevangeliums. Ein Versuch, in: H. Frankemölle / ​K. Kertelge (Hgg), Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), Freiburg i. Br. 1989, 246–255; K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 1); Ders., „Er kam in sein Eigentum – und die Eigenen nahmen ihn nicht auf “ (Joh 1,11). Jesus – Mittler und Ort rettender vita communis in Gott nach dem Johannesevangelium, GuL 72 (1999), 436–451. 64  M. Theobald, Fleischwerdung (s. Anm. 48), 269.

3. Réécriture

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existenzaussage,  die  Schöpfungsmittlerschaft; vgl. V. 1–3.10b) christologisch als einzigartige Vater-Sohn-Beziehung ausgearbeitet (vgl. V. 14d.18) und die Fleischwerdung des Sohnes geradezu hymnisch als Offenbarung der Gnadenfülle Gottes für die „Glaubenden“ (vgl. V. 12) und „Schauenden“ (vgl. V. 14) besungen (vgl. V. 14e.16–17). Der V. 18 schließlich, der als Spitzenaussage den Prolog zusammenfasst und zugleich zum Corpus Evangelii überleitet, ist als inclusio zu V. 1–5 und als vertiefende Auslegung dieses Prologes im Prolog zu interpretieren. Die hier vorgestellte Auslegung des Prologes liest 1,1–18 nicht heilsgeschichtlich (dies gilt eher für den vorjoh Hymnus), sondern die V. 1–5, 6–13 und 14–18 als sukzessive und präzisierende réécriture ein und desselben Heilsgeschehens.65 Die V. 4–5 und 9–13 handeln nach diesem Interpretationsmodell unisono von dem einen Christusereignis, das sie licht‑ (V. 4–5.9–10) und familienmetaphorisch (V. 11–13)66 deuten und das in den V. 14–18 in einer erneut präzisierenden ­réécriture ekklesiologisch-doxologisch kulminiert (vgl. „wir“/“uns“ in V. 14bc.16). Otto Schwankl hat überzeugend aufgewiesen, dass hinter der zu diagnostizierenden „Unbestimmtheit“ insbes. der ersten Verse des Johannesprologs ein hermeneutisches Programm steht,67 genauerhin die rhetorische Strategie von Verschleierung und Entschleierung.68 Die Polyvalenz der Leitworte in den V. 1–5, insbes. der Licht-Finsternis-Metaphorik, dokumentiert das Wissen, das Interesse und die Kompetenz des Autors, kulturell unterschiedene Rezipienten anzusprechen und sie über die schrittweise vorgenommene, fortschreitende Enthüllung und Präzision zu der Offenbarung Gottes in seinem fleischgewordenen Logos Jesus Christus zu führen. Dieser schon zu Beginn seines Evangeliums meisterlich eingeführten Weise der Leserlenkung durch réécriture wird der Evangelist sich dann auch im Corpus Evangelii bedienen.

65 Vgl. L. Schenke, Johannes (s. Anm. 48), 23: Der dritte Abschnitt des Prologs nimmt den ersten und zweiten auf und buchstabiert ihn aus der Sicht der Glaubenden bekennend neu durch. 66  Die Licht‑ und Familienmetaphorik werden so schon im Prolog als leitende metaphorische Bildfelder des JohEvs eingeführt. Zur joh Familienmetaphorik vgl. den eigenen Beitrag: „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, in diesem Band, S. 205–229. 67  Vgl. O. Schwankl, Licht (s. Anm. 45), 84–87.97–100.112 f.120 f.147. 68  Vgl. H. Lausberg, Johannes-Prolog (s. Anm. 50), 195 f.

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2.  Relecture und réécriture

3.2  Zweites Textbeispiel: Die Abschiedsrede Joh 13,31–14,31 Die Abschiedsrede Jesu in 13,31–14,3169 lässt sich in fünf Teile gliedern:70 Bilden das Proömium71 13,31–3872 und 14,27–31 den Rahmen, so 14,1–4, 14,5–1473 und 69 Zur Absicherung und Vertiefung der folgenden Ausführungen vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 1), Kap. E IV; Lit.; zur Hermeneutik der folgenden Ausführungen vgl. K. Scholtissek, Kinder Gottes (s. Anm. 66), 184–211 (Lit.). 70  Die vorgenommene Gliederung folgt weitgehend A. Dettwiler; zur Begründung dieser Gliederung vgl. Ders., Gegenwart (s. Anm. 26), 111–126. Vgl. u. a. die Diskussionen und Positionen bei: R. E. Brown, John II (s. Anm. 25), 642–648; J. Beutler, Habt keine Angst. Die erste johanneische Abschiedsrede (Joh 14), SBS 116, Stuttgart 1984, 13–15; J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK IV/1–2, Gütersloh 31991, II 546–548. Weitere Forschungspositionen sind angeführt bei F. F. Segovia, The Farewell of the Word. The Johannine Call to Abide, Minneapolis 1991, 64 f. A. Stimpfle verzichtet auf eine Gliederung, vgl. Ders., Blinde sehen. Die Eschatologie im traditionsgeschichtlichen Prozess des Johannesevangeliums, BZNW 57, Berlin/New York 1990, 175. 71  Zur rhetorischen Charakteristik eines Proömiums bzw. Exordiums vgl. H.-J. Klauck, Hellenistische Rhetorik im Diasporajudentum. Das Exordium des vierten Makkabäerbuchs (4 Makk 1,1–12) (1989), in: Ders., Alte Welt und neuer Glaube. Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments, NTOA 29, Fribourg (CH) / ​Göttingen 1994, 99–113, hier 103 f (Lit.; mit Hinweis auf Aristot Rhet III 14,1 [1414B 19–26]: „Denn was man sagen will, das soll man gleich in der Einführung verflechten“). Vgl. Quint Inst IV 1,1–79 (hier 1,5: benevolum, attentum, docilem). 72  Für R. Schnackenburg beginnt die Abschiedsrede erst mit 14,1; vgl. Ders., Joh III (s. Anm. 25), 63; vgl. auch G. Fischer, Die himmlischen Wohnungen. Untersuchungen zu Joh 14,2 f, EHS.T 38, Frankfurt a. M. 1975, 23; J. Beutler, Angst (s. Anm. 70), 9–11. Der „Wechsel zur 2. Person“ Plural in 14,1a, auf den R. Schnackenburg abhebt (vgl. ebd.), ist jedoch nicht stichhaltig. Auch 13,31–38 ist durchgehend an die Jünger adressiert. Petrus ist im JohEv nicht einfach Repräsentant einer dem joh Christentum gegenüberstehenden „Großkirche“ (gegen A. Stimpfle, Blinde [s. Anm. 70], 187, Anm. 201). Auch die „Einleitung“ einer Rede ist Bestandteil derselben. Zudem ist die Anrede τεκνία in 13,33a fester Topos der Gattung Abschiedsrede. Viele leitende Themen und Stichwörter der Abschiedsrede (vgl. nur: δοξάζω; ἐντολή; ἀγάπη; ὐπάγω) sind hier erstmals aufgegriffen. Auch A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 26), 53–55.111 f, argumentiert für den die Abschiedsrede einleitenden Charakter von 13,31–38; vgl. ebd. 128 (zu 13,31–32): „Der Text hat, funktional in seinem kontextuellen Gefüge gesehen, prologartigen Charakter. Er ist gleichsam der hermeneutische Schlüssel für 13,33–14,31 – aber nicht nur für 13,33–14,31, sondern auch (…) für den Abschiedsredenkomplex insgesamt“. In diesem Sinne urteilt auch F. F. Segovia, Farewell (s. Anm. 70), 61–64. Die genannten Gründen sprechen gegen den Versuch von F. J. Moloney, in Joh 13 eine durch die doppelten Amen-Worte Jesu (vgl. 13,16.20.21.38) signalisierte Rahmenkomposition mit den Abschnitten V. 1–17; 18–20 und 21–38 auszumachen; vgl. Ders., A Sacramental Reading of John 13,1–38, CBQ 53 (1991), 237–256, hier 242–247. Er gewichtet zudem nicht ausreichend den erzählerischen und inhaltlichen Abschluss bzw. Neueinsatz in 13,30c (ἦν δὲ νύξ) einerseits und 13,31–32 (reziproke Verherrlichung von Vater und Sohn) andererseits. 73 R. Schnackenburg unterteilt  – wie J. Becker, Die Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium, ZNW 61 (1970), 215–246, hier: 223–228; J. Becker, Joh II (s. Anm. 70), 546, und G. Fischer, Wohnungen (s. Anm. 72), 19 – zwischen V. 1–17 (mit 1–3.4–11.12–27) und V. 18–24: „Bis V. 17 dominiert das Thema vom Weggang Jesu, ab V. 18 das von seinem Wiederkommen“ (Schnackenburg, Joh III [s. Anm. 25], 64.83). Diese Gliederung ordnet die Gabe des Geistes, des ἄλλος παράκλητος, in V. 16–17 (Parakletwort I) dem Fortgang Jesu und eben nicht dem Wiederkommen Jesu zu. Überzeugender ist jedoch letztere Option. V. 15 formuliert zudem die Voraussetzung für die Gabe des Geistes. Im Abschnitt 14,15–26 ist die doppelte Inklusio durch die Aufforderung der Liebe zu Jesus bzw. des Haltens seiner Gebote und durch die Parakletworte I und II in V. 15.16–17 und 23cd.24ab.(25)26 zu beachten.

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14,15–26 die drei zentralen Abschnitte. Ausgehend von der zweiteiligen Themenangabe in 14,1–4 (πορεύομαι/ὑπάγω und πάλιν ἔρχομαι) entfalten und erläutern die beiden Ausführungen in V. 5–14 und 15–26 das grundlegende Verheißungswort Jesu, das die Aufforderung Jesu in 14,1 begründet und motiviert. Die in 14,2–4 grundgelegte Opposition πορεύομαι bzw. ὑπάγω und (τάλιν) ἔρχομαι bildet die semantische Achse der Rede Jesu. Durchgehende Sinnlinien bilden „sehen“, „erkennen“ und „glauben“, sodann „lieben“ und „bewahren der Gebote (bzw. Worte) Jesu“ sowie „die Welt“ als negativ gedeutete Kontrastgröße.74 Inhaltlich geht es um die Bewältigung der durch den Abschied Jesu bedingten Abwesenheit75 – eine Abwesenheit (bzw. genauer die Rückkehr zum Vater), die eine neue Anwesenheit bzw. Gegenwart Jesu bei den Glaubenden ermöglicht. Damit ist die eschatologische Situation der Christen angesprochen, die „nicht als Waisen zurückgelassen werden“ (14,18). Die folgenden Ausführungen spüren der eschatologischen Dialektik in 13,31–14,31 nach: 3.2.1  Die futurische Eschatologie in Joh 14,2–3 Mit den Themasätzen76 in 14,2–3 greift der Evangelist die apokalyptisch beeinflusste urchristliche Parusieerwartung auf (vgl. auch 1 Joh 2,28; 3,2; 4,17) und fasst sie in ein joh Sprachgewand.77 Das futurisch-eschatologische Handeln Jesu (vgl. die vier Verben in der 1. Pers. Sg.) restituiert und überbietet den status quo vor dem Fortgang Jesu, nämlich die Gemeinschaft mit Jesus am gleichen Ort. Die Bewohner des himmlischen Hauses „sind nun der Ungewissheit und Ambivalenz menschlichen Lebens nicht mehr punktuell und partiell, sondern dauerhaft und endgültig enthoben“.78 Das soteriologische Sinnziel des Sterbens Jesu (V. 3a) und seines Wirkens als des bei Gott Erhöhten (V. 3b–d) ist die futurisch-eschatologische Gemeinschaft der Jünger mit Jesus „im Hause des Vaters“. V. 3ef schließt so den Kreis mit V. 2a: In den vielen Wohnungen im Haus des Vaters werden Jesus und die Seinen für immer beieinander sein. Die durch den Tod Jesu bedingte Trennung ist also keine absolute; seine zukünftige Wiederkunft und sein rettendes Eingreifen begründen vielmehr die endgültige, von keinem Tod oder Leid bedrohte himmlische Gemeinschaft. 74  Vgl. die Ausführungen zu den semantischen Linien in Joh 14 bei A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 26), 114–118; vgl. ebd. 115: „Die Nähe ist so groß, dass hier vermutlich von einem Verhältnis der Isotopie (sehen – erkennen – [glauben]) geredet werden kann.“ 75 Dies ist der Sitz im Leben der Gattung Abschiedsrede; vgl. A. Winter, Das Vermächtnis Jesu und die Abschiedsworte der Väter. Gattungsgeschichtliche Untersuchung der Vermächtnisrede im Blick auf Joh. 13–17, FRLANT 161, Göttingen 1994. 76  Vgl. das Urteil über 14,2–3 von Ch. H.  Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge (11953–81968), paperback editions (11968–71988) 81992, 419: „It is also the climax of the thought of the whole Gospel.“ 77  R. Schnackenburg urteilt zusammenfassend, der Evangelist habe das Wort Jesu in V. 2–3 „auf dem Hintergrund damals geläufiger Vorstellungen selbst gebildet“ (Ders., Joh III [s. Anm. 25], 69). 78  A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 26), 156.

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2.  Relecture und réécriture

Diese, das vollendete Leben der Glaubenden beschreibende Gemeinschaft zwischen dem Vater, dem Sohn und den Glaubenden wird familienmetaphorisch als eine große Hausgemeinschaft, als Leben in vielen Wohnungen eines einzigen Hauses dargestellt.79 Der wiederkommende Jesus wird die Seinen selbst zu sich in diese Hausgemeinschaft des Vaters „aufnehmen“. Unter Berücksichtigung des metaphorischen Bildfeldes von der „Aufnahme in das Haus“ als integrativem Bestandteil der semantischen Achse im JohEv, benennt die Verheißung Jesu in V. 3cd den Zielpunkt des gesamten, vom Vater seinen Ausgang nehmenden Geschehens resp. der Sendung des Sohnes in die Welt: Jesu „Wieder-Kommen“ und seine „Aufnahme“ der Seinen zu sich schließt seine mit dem ersten „Kommen“ begonnene Sendung ab.80 Von daher ist Jesu „Aufnahme“ der Seinen zu sich (14,2–3; vgl. die Vorbereitung in 8,30–36) auch als seine futurisch-eschatologische Antwort auf seine „Aufnahme“ durch die Glaubenden (vgl. 1,12–13; 13,20) zu verstehen. Die „Aufnahme“ Jesu (als gen. obj. et subj.) ist ein reziprokes Geschehen. Bezieht sich das „Wiederkommen“ Jesu in 14,3c (πάλιν ἔρχομαι) auf die Parusie oder auf die „Aufnahme“ eines Menschen im Zeitpunkt seines Todes?81 Im Sinne joh Eschatologie ist es wenig sinnvoll, beide Deutungen gegeneinander auszuspielen. Auf „das geistige Kommen (Jesu) nach der Auferstehung (V. 18 ff )“ ist 14,3c jedenfalls nicht zu beziehen.82 R. Schnackenburg und G. Fischer83 wenden sich gegen die Deutung von 14,3c–e auf die Parusie, weil dies der joh Gegenwartseschatologie widerspreche:84 Jesu Verheißung: παραλήμψομαι ὑμᾶς „beginnt“ 79  Dies berechtigt freilich nicht zu der Überinterpretation, mit „Wohnungen“ in V. 2 seien die joh Hausfamilien direkt gemeint und hier werde ihnen gegenüber den konkurrierenden „apostolic churches“ „room for their own style of shared life“ zugesprochen (so aber W. HowardBrook, Becoming Children of God. John’s Gospel and Radical Discipleship, New York 1994, 314 f.323). 80 Vgl. H. Strathmann, Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 61951–111968, 206: „Diese Verheißung der Wiederkunft beweist aufs Neue, dass Johannes von der ihm oft nachgesagten spiritualisierenden Verflüchtigung der eschatologischen Erwartung weit entfernt ist (vgl. 5,28 f.).“ 81  Vgl. u. a. J. Beutler, Psalm 42/43 im Johannesevangelium (1979), in: Ders., Studien zu den johanneischen Schriften, SBAB 25, Stuttgart 1998, 77–106, hier 95. 82  Mit Ders., Angst (s. Anm. 70), 39–41; gegen R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 25), 70. 83  Vgl. G. Fischer, Wohnungen (s. Anm. 72), 299–334. G. Fischer behauptet ebd. 305 f, der Evangelist Johannes „opfere“ alle futurisch-eschatologische Hoffnung seinem präsentischeschatologischem Konzept. An die Stelle der Parusie-Erwartung trete die Verheißung vom Eingehen in die himmlische Welt (vgl. ebd. 334). Damit löst er jedoch die für die joh Eschatologie konstitutive Spannung von Heilsgegenwart und Heilszukunft, die er an anderer Stelle zu Recht betont (vgl. ebd. 334–345), selbst auf, ja widerspricht sich: „Es gibt also für den einzelnen noch eine reale Zukunft, ein Heil, das in dieser Welt so noch nicht möglich ist“ (338). 84 Vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm.  25), 70; vgl. auch seinen Exkurs: „Das eschatologische Denken im Johannesevangelium“, Ders., Joh II (s. Anm. 25), 530–544. Der Exkurs von R. Schnackenburg betont einerseits die Umprägung von traditionell eschatologischen Vorstellungen (vgl. ζωή [αἰώνιος]; „in das Reich Gottes eingehen“; Gericht; Auferstehung; der „letzte Tag“) im Blick auf „die Gemeinschaft, die Jesu Jünger und alle Gläubigen mit ihrem Herrn gefunden haben“ (ebd. 535), sieht andererseits aber auch, dass „sich eine bewusste Ablehnung der urchristlichen Zukunftseschatologie für den vierten Evangelisten nicht erweisen lässt“ (ebd. 537) bzw. dass „das JohEv keine voll realisierte Eschatologie“ (ebd. 539) kennt. Zwar habe der Evan-

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für Joh „bereits nach Ostern, in der gläubigen Existenz […] vollendet sich aber erst nach dem Tod (bzw. nach der Parusie).“85 Aber wollte der Evangelist hier in 14,2–3 wirklich die allgemeine urchristliche Parusieerwartung „auf die Gegenwart Christi, sein geistiges Kommen nach der Auferstehung (V. 18 ff ) umdeuten“86? Die futurische und die präsentische Eschatologie im JohEv dürfen nicht a priori gegeneinander in Position gebracht werden, als stünden sie notwendig in Konkurrenz zueinander.87 3.2.2  Die präsentische Eschatologie in Joh 14,15–26 Der Aufbau und die innere Struktur der V. 15–26 dokumentieren die meisterliche Kompositions‑ und vertiefende Fortschreibungskunst der joh Jesusreden. Das Material der Jesusworte in V. 15–26 ist einerseits begrenzt, andererseits ermöglichen Kompositionen und gezielte Erweiterungen bzw. vertiefende Variationen inhaltlicher und formaler Art eine vertiefende Interpretation. Sprachlich und inhaltlich zeigen diese Verse, wie sich die theologische Denkbewegung der joh Jesusreden vollzieht, die ihre Basisaussagen kontinuierlich fort und um-schreibt. Zu den Basisaussagen in V. 15–26 sind zu rechnen: (1) die Kombination von Liebe zu Jesus und Halten seiner Gebote, die zueinander in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen (vgl. V. 15ab.21a–d.23cd.24ab), und (2) die Verheißungen Jesu gelist die Zukunftseschatologie nicht grundsätzlich geleugnet, es habe sich aber ein „tiefgreifendes Umdenken vollzogen“ (540), das „sich stärker auf die Existenzsituation und das Heilsschicksal des einzelnen Menschen“ richte (541). An anderer Stelle (zu 3,36) hält R. Schnackenburg fest, dass sich Gegenwarts‑ und Zukunftsaussagen durchaus nicht widersprechen; vgl. Ders., Joh I (s. Anm. 25), 403.426 f. 85  Ders., Joh III (s. Anm. 25), 71. Vgl. ähnlich E. Haenchen, Johannesevangelium. Ein Kommentar, hg. v. U. Busse, Tübingen 1980, 474: „Gleichsetzung von Eschatologie und Geisterfahrung“; vgl. J. Gnilka, Johannesevangelium, NEB.NT 4, Würzburg (1983), 41993, 112: Der Evangelist „deutet mit den Mitteln der herkömmlichen Erwartung an, dass sie (die Jünger; Anm. d. Verf.) schon jetzt bei Gott beheimatet sein werden und der Erhöhte sich ihnen auf neue und beglückende Weise erschließen wird.“ M. E. greift diese Interpretation über den Textbefund in 14,2–3 hinaus. 86  R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 25), 70. R. Schnackenburg steht damit der Position von J. Becker, die er ablehnt, faktisch doch sehr nahe; vgl. andererseits seine Auslegung von 14,2.23, die ein postmortales Ziel festhält (ebd. 68 f.93); vgl. ebd. 93: „Freilich ist damit nicht gesagt, dass in dieser geistlich-innerlichen Gemeinschaft mit Jesus und Gott die letzte Erfüllung jener Verheißung liegt. Da Joh den leiblichen Tod nicht aus dem Blick verliert und in 12,25 f die gleiche Wendung ‚wo ich bin, wird auch mein Diener sein‘ im Zusammenhang des Märtyrertodes gebraucht, erwartet auch er das offenbare Schauen der Herrlichkeit erst in der himmlischen Welt (vgl. 17,24), in die Jesus den Jüngern vorangeht.“ 87  Gegen eine rein gegenwartseschatologische Deutung von 14,2–3 wendet sich auch J. Beutler, Angst (s. Anm. 70), 39–41. Es ist ernsthaft zu fragen, ob das joh Verständnis der nachösterlichen Zeit als Zeit der neuen Gegenwart Jesu, gleichsam als entschränkte Ostererfahrung, mit A. Dettwiler als „Leben in vollendeter Gottesbeziehung“ (Ders., Gegenwart [s. Anm. 26], 255; vgl. ebd. 255–258) verstanden werden kann bzw. wirklich vom JohEv so verstanden wurde. Dass „die glaubende Gemeinde (…) unmittelbaren Anteil an der Erfahrung der Liebe Gottes hat“, trifft m. E. die joh Position sehr gut; gleichwohl ist diese Aussage nicht identisch mit einer postulierten „Vollendung des Gottesverhältnisses“.

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2.  Relecture und réécriture

für die österliche Zeit: die Parakletworte I und II (V. 16–17.25–26) und die Verheißung seines eigenen Wiederkommens (V. 18–21.23–24). Die amplifizierende Anordnung und Gestaltung dieser Aussagen ermöglichen ihre inhaltliche Auslotung. Folgende Gliederung ist erkennbar: I. 14,15–21 A: B: C:

15ab 16–17 16 17 18–21 18–19 20



21a–d 21e–h

Liebe zu Jesus und Halten seiner Gebote Verheißung Ia = Parakletwort I Der Paraklet: μεθ՚ ὑμῶν Der Paraklet: παρ՚ ὑμῖν καὶ ἐν ὐμῖν Verheißung II = Kommen Jesu Jesu Kommen: „sehen“, „leben“ Erkenntnis der reziproken Immanenz von Vater, Sohn und Glaubenden (Verheißung IIa) Wiederaufnahme von A (Regel) reziproke Agape von Vater, Sohn und Glaubenden (Verheißung IIb)

II. 14,22–26 A': C':

22 23–26 23cd 23e–24e 23e–g

B':

23eg 24ab 24c–e 25–26 26cd

Einwand des Judas Antwort Jesu Liebe zu Jesus und Halten seiner Gebote (Regel) Verheißung II = Kommen Jesu vita communis von Vater, Sohn und Glaubenden (Äquivalent zur reziproken Immanenz-Aussage) (Verheißung IIc) Liebe und Kommen des Vaters (mit dem Sohn) (Verheißung III) Wiederaufnahme von A' ex negativo (Regel) Erläuterung ad vocem „meine Worte“ Verheißung Ib = Parakletwort II Der Paraklet: „alles lehren und alles erinnern“

Aus der Gliederung lassen sich folgende Beobachtungen ableiten: (1) In 14,15–26 liegen zwei vergleichbar aufgebaute Teilabschnitte vor, die sich dadurch unterscheiden, dass die Verheißungen I und II aus Teil I in Teil II chiastisch umgekehrt werden, so dass eine Rahmung des Gesamtkomplexes durch die Parakletworte I und II entsteht (I: A–B–C; II: A'–C'–B'). (2) Die an die Basisaussage der Liebe zu Jesus und dem Halten seiner Gebote anknüpfenden Verheißungen I und II sind parallelisiert, sie drücken weder eine identische noch zwei getrennte, sich additiv zueinander verhaltende Wirklichkeiten aus. (3) Immanenz-Aussagen finden sich über den Parakleten in den Glaubenden (V. 17) und über den Sohn im Vater. Reziprok wird die Immanenz zwischen dem Sohn und den Glaubenden ausgesagt (V. 20). Sodann begegnet in V. 23e–g ein Äquivalent der reziproken Immanenz-Aussage in V. 20, das fortschreibend Bezug nimmt auf V. 2–3.20. (4) Die Verheißungen Ia und Ib, die beiden Parakletworte in V. 16–17 und 25– 26, stehen selbst auch in einer Fortschreibungsrelation: Betont das Parakletwort

3. Réécriture

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I das Kommen, den Beistand und die Immanenz des Parakleten als Grundverheißung für die österliche Zeit, so das Parakletwort II das dynamische Wirken des Parakleten als „lehren“ und „erinnern“. (5) Die Verheißung II, das Kommen Jesu zu den Glaubenden, spricht im Teil I vom österlichen „Sehen“ Jesu (gen. obj.) und vom „Leben“ Jesu (gen. subj.) wie vom „Leben“ der Seinen, die zur Erkenntnis der Immanenz des Sohnes im Vater und der reziproken Immanenz der Glaubenden im Sohn führen. Durch die Wiederaufnahme der als Regel formulierten Verbindung von Gebotserfüllung und Liebe zu Jesus in V. 21 (ὁ ἔχων …) wird die ebenfalls als Regel formulierte reziproke Agape zwischen den Glaubenden, dem Vater und dem Sohn (ὁ δὲ ἀγαπῶν …) vorbereitet (Verheißung IIb). Sowohl die reziproken Formulierungen als auch die in beiden Fällen ausdrücklich genannten drei Subjekte: Vater, Sohn und Glaubende lassen die Absicht erkennen, die reziproke Immanenz-Aussage und die reziproke AgapeAussage als sich gegenseitig interpretierende Analoga zu reflektieren. (6) Die Verheißung II in Teil II alteriert die reziproke Immanenz-Aussage aus V. 20 und die reziproke Agape-Aussage aus V. 21, indem sie unter Rückgriff auf V. 2–3 reziproke Immanenz und reziproke Liebe als Wohngemeinschaft (vita communis) von Vater, Sohn und den Glaubenden auslegt (Verheißung IIc). Die Verheißungen in V. 15–26 lassen folgende Zusammenhänge erkennen: Zunächst werden die Gabe bzw. Sendung des Parakleten (Verheißung I) und das Kommen Jesu (Verheißung II) parallelisiert und so einander zugeordnet. Sodann werden die Verheißungen I und II jeweils variiert und fortgeschrieben (vgl. Verheißung Ia und Ib; Verheißung IIa, IIb, IIc). Schließlich wird in V. 23ef auch die Liebe und das Kommen des Vaters (mit dem Sohn) eingeführt (= Verheißung III). (7) V. 24ab ist eine erneute Wiederaufnahme der Basisregel, die dreimal positiv (V. 15ab.21a–d.23cd) und hier einmal negativ formuliert ist. Die Regel in V. 23cd und die Kontrastregel in V. 24ab rahmen die Spitzenaussage der gesamten Rede Jesu in V. 23e–g. V. 24cd greift sodann die die ganze Rede kennzeichnende Theozentrik auf und schlägt damit einen Bogen zurück zu 14,1. (8) Mit V. 15–26, dem zweiten Redepart zur Auslegung der Themenangabe in V. 1–4, verschieben sich Perspektive und Interesse: War in V. 5–14 von der soteriologischen Christologie die Rede, so rückt jetzt die Situation der Jünger nach dem Abschied Jesu in den Blick. Ihre neue Situation wird erhellt: Jesus verheißt ihnen einen ἄλλος παράκλητος (V. 16b), so dass sie nicht als Waisen zurückbleiben. Der Übergang zwischen V. 5–14 und V. 15–26 ist vorbereitet: Jesu Fortgang zielt immer schon auf das Heil seiner Jünger (vgl. V. 3), seine Selbstoffenbarung richtet sich an die Jünger: Eben für sie ist er „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (V. 6b). Auch der Hinweis auf die größeren Werke der Jünger in V. 12e und die Zusage der Bittgebeterhörung in V. 13–14 als Folgen der Erhöhung Jesu zielen auf die nachösterliche Situation der Jünger. Die zweite Ausführung zu V. 2–4 bindet die Liebe zu Jesus (fünfmal genannt: V. 15a.21de.23c.24a) sowie das „Halten seiner Gebote“ (bzw. „seines Wortes“, „seiner Worte“) mit dem Kommen des Parakleten bzw. dem Kommen Jesu sowie des Vaters zusammen. Die durch

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2.  Relecture und réécriture

das nachösterlich neue „Kommen“ ermöglichte Gegenwartsweise des Parakleten (V. 16–17), Jesu (V. 18–20) sowie des Vaters und Jesu (V. 23) wird zum weitaus größten Teil mit Immanenz-Aussagen beschrieben. Innerhalb der ImmanenzAussagen in V. 15–26 kommt V. 23c–g besonderes Gewicht zu, da hier direkt die Themaaussage aus V. 2–3 aufgenommen und – in Umkehrung zum Bezugstext – die Habitatio von Vater und Sohn in bzw. bei den Glaubenden verheißen wird. 3.2.3  Argumentation und réécriture in Joh 13,31–14,31 Die drei zentralen Teile der Abschiedsrede Jesu in 13,31–14,31, die Themenangabe in V. 1–4 und die beiden Hauptteile der Rede, V. 5–14 und 15–24, stehen in einem spezifischen argumentativen Gefüge: (1) V. 1–4 reflektieren die urchristliche futurische Eschatologie (vgl. 1 Thess 4,16–17) in joh Sprache und joh Interpretation.88 Der bevorstehende Tod Jesu, sein Abschied von den Jüngern, ist tatsächlich sein „Gehen“ zum Vater  – ein Gehen, das den Weg zum Vater für alle Glaubenden öffnet.89 Beim Vater bereitet Christus den Glaubenden einen „Platz“; er wird wiederkommen und sie zu sich holen, damit sie „dort sind, wo er ist“.90 Dies zeigt: Alle im „Glauben“, im „Lieben“ und im „Bleiben“ gewonnene Gemeinschaft mit Jesus und durch ihn mit dem Vater ist – bei aller Betonung derselben – nicht identisch mit einer Aufhebung der futurischen Eschatologie. Die Rede Jesu in 13,1–14,31 zeigt vielmehr, dass futurische und präsentische Eschatologie insofern einander zugeordnet sind und bedingen, als die nachösterliche Gemeinschaft mit Jesus und dem Vater ein realer, gleichwohl bleibend bedrohter Vorgriff auf das vollendete Leben in den Wohnungen Gottes ist. Das Wohnungnehmen des Vaters und des Sohnes bei denen, die Jesus lieben und sein Wort halten (14,23), ersetzt das Wiederkommen Jesu und das „Aufnehmen“ der Glaubenden (14,3) nicht, sondern geht diesem Geschehen voraus.91 Die These von J. Becker, in den beiden Hauptteilen der Abschiedsrede 13,31– 14,31 korrigiere der Evangelist eine in 14,2–3 erkennbare Gemeindeüberlieferung, hat bei vielen Auslegern Anklang gefunden.92 Gleichwohl ist J. Beckers traditions88 Dies sieht G. Fischer nicht, wenn er die tatsächlichen Differenzen zwischen der joh und der paulinischen Eschatologie benennt (vgl. Ders., Wohnungen [s. Anm. 72], 306–309). 89  Vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 25), 4: „Die joh. Passion ist in Wirklichkeit eine Erzählung vom Sieg Jesu und der Vollendung seines Werkes.“ 90 „Dort sein, wo Jesus ist“ ist die joh Umschreibung für die Schicksalsgemeinschaft der Jünger mit Jesus im irdischen Leben und am Ort der Vollendung (vgl. 12,26; 17,24); vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 25), 71. 91  Vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 25), 93: „Jetzt sind die Jünger ‚dort, wo Jesus ist‘ (vgl. V. 3), im Raum der Liebe Gottes. Freilich ist damit nicht gesagt, dass in dieser geistig-innerlichen Gemeinschaft mit Jesus und Gott die letzte Erfüllung jener Verheißung liegt.“ 92  Vgl. J. Becker, (s. Anm. 73), 228: „Die Rede entfaltet in einer polemischen Exegese gegen eine im Traditionsstück 14,2 f. benannte Christologie in ihrem Hauptteil ‚die praesentia Christi‘, des Erhöhten, als ‚die Mitte‘ ihrer ‚Botschaft‘. Das meint die Gegenwart des Auferstandenen in der Einheit mit dem Vater und dem Geist. Diese Christologie enthält in nuce eine Ekklesiologie, die jedoch nur so zur Geltung kommt, als von dem, der an Jesus glaubt, bzw. ihn liebt, gesprochen

3. Réécriture

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geschichtliche Rekonstruktion der joh Tradition in 14,2–3 als Gemeindeglaube, der sich in der Zeit der Abwesenheit Jesu als „im Wartestand der Hoffenden“93 verstehe, ungesichert, die Deutung der präsentischen Eschatologie in 14,15–24 eine Überinterpretation und die These einer Korrektur einer vorgegebenen GemeindeEschatologie durch die Eschatologie des Evangelisten sachlich unbegründet.94 J. Becker und A. Stimpfle95 überzeichnen die präsentische Christologie und Eschatologie des Evangelisten: Die Betonung des österlichen Wiederkommens Jesu und der Gegenwart des Geistes ist zwar eine klare Absage an die Vorstellung eines Zurückbleibens der Jünger als Waisen. Zutreffend ist sicher auch die auf wird. In solchen Jüngern lebt der gegenwärtige Erhöhte. (…) Die Abschiedsrede vollzieht (…) die ‚Reduktion der futurischen Eschatologie auf den Bereich der Anthropologie‘, d. h. die traditionelle Aussage: ‚Ich komme wieder und werde euch zu mir nehmen‘ (14,3) wird zum: ‚Ich lebe, und ihr sollt (auch) leben‘ (14,19; vgl. 11,25 f ).“ Vgl. ebd. 219–228; vgl. Ders., Joh II (s. Anm. 70), 549–563. Zugespitzt wird diese These vertreten von A. Stimpfle, Blinde (s. Anm. 70), 194.205.209, hier 215: „Mit den beiden Versen greift Johannes eine in seinen Augen falsche Glaubensvorstellung auf, um sie zu zerstören – was nur der johanneische Insider erkennt.“ 93  J. Becker, Abschiedsreden (s. Anm. 73), 222. 94 Kritisch zu dieser Auslegung von J. Becker äußern sich auch: R. Schnackenburg, Das Anliegen der Abschiedsrede in Joh 14, in: H. Feld / ​J. Nolte (Hgg.), Wort Gottes in der Zeit (FS K. H. Schelkle), Düsseldorf 1973, 95–110; Ders., Joh II (s. Anm. 25), 64 f.69; G. Fischer, Wohnungen (s. Anm. 72), 15–17. A. Dettwiler, der von seinem methodischen Ansatz her die Auslegung von J. Becker kritisch beurteilt (vgl. Ders., Gegenwart [s. Anm. 26], 118–121.122 f ), kommt interessanterweise sachlich doch zu einem nahezu gleichen Urteil im Blick auf die postulierte Korrektur von 14,2–3. insbes. in 14,23; vgl. ebd. 121: Der „erste, traditionelle Lösungsansatz“ in 14,2–3 werde „im Sinne der genuin joh Position modifiziert und überboten“. Im Blick auf den Zusammenhang von 14,2–3 und 14,4–14 spricht A. Dettwiler einerseits von „Reinterpretationsprozessen“, andererseits davon, dass das „in V. 2.3 angelegte Weg-Motiv“ aufgegriffen und „christologisch so transformiert“ wird, „dass das mythologische Weg-Verständnis von V. 2.3 im Endergebnis aufgehoben wird“ (ebd. 159 f ). M. E. steht diese Auslegung in Spannung zu seiner eigenen methodologischen Ausgangsposition: „Redaktionskritisch gesehen liegt in 13,31–16,31 also weder Substitution noch Einschreibung, sondern Weiterschreibung vor“ (294). Vgl. auch die problematische Deutung ebd. 206 f: „In der Erfahrung des Geist-Parakleten ereignet sich ‚Parusie‘. (…) Die nachösterliche Zeit ist keine Zeit der Defizienz, sondern der Vollendung.“ Wie dann noch von einem „Transzendenzbewusstsein der joh Gemeinde“ (ebd.) die Rede sein kann, leuchtet nicht ein. Auch das fürbittende Gebet des Erhöhten für seine nachösterliche Gemeinde (Joh 17) wäre dann obsolet. So sehr dem Grundanliegen der Exegese A. Dettwilers zuzustimmen ist, (der Annahme, dass die Abschiedsrede die nachösterliche Zeit gerade nicht als Zeit der Abwesenheit und des Wartestandes, sondern als Zeit der neuen Erfahrung und Gemeinschaft mit Jesus im Geist bestimmt), so sehr ist seine konkrete Auslegung der präsentischen Eschatologie des Evangelisten in Joh 14 doch zu kritisieren (dies gilt auch für die ähnliche Auslegung bei Ch. Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden, WUNT 95, Tübingen 1997, 31–33.55–63.75–78). Die futurische Eschatologie in 14,2–3 wird gerade nicht abrogiert, sie bleibt bestehen und vorausgesetzt  – auch und gerade dann, wenn der Evangelist die in 14,2–3 vorhandene ‚Leerstelle‘ füllt und genau hier sein Interesse liegt. Richtig gesehen von: M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (mit einem Beitrag zur Apokalypse v. J. Frey), WUNT 67, Tübingen 1993, 211 f; Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996, 144–146.251.254.311 f (gerade in der Pneumatologie hat „die Zukunftsdimension grundlegende Relevanz“; vgl. 16,13); L. Schenke, Johannes (s. Anm. 48), 292. 95 A. Stimpfle spricht von einem „absolut vergegenwärtigten Heilsgeschehen“ (Ders., Blinde [s. Anm. 70], 215).

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2.  Relecture und réécriture

R. Bultmann zurückgehende Deutung, dass 14,23 die Blickrichtung aus 14,2–3 umkehre.96 Aber dass Ostern, Pfingsten und die Parusie in der Theologie der Rede und des Evangelisten zusammenfallen,97 ist keine im Text selbst zu findende Aussage. Etwas anderes ist es zu sagen, dass das österliche „Kommen“ (14,18b.23 f [mit dem Vater]; 20,19d.26c) und das „Sich-Offenbaren“ (14,21h.22c)98 Jesu wie überhaupt seine Präsenz und sein Wirken als Erhöhter die Verlassenheit der Jünger, ihr Waise-Sein, überwindet und ihnen an den Gaben der eschatologischen Heilsfülle Anteil gibt (vgl. Friede, Freude, Präsenz und Immanenz des Geistes, reziproke Agape, uneingeschränkte Gebetserhörung, reziproke Immanenz von Jesus und den Glaubenden, Habitatio von Vater und Sohn bei den Glaubenden). Dass im JohEv alle Betonung und alles Interesse an der im Glauben und in der Liebe zu96 Vgl. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK 2, Göttingen (101941–211986) 171962, 474: „Richtete 14,2 den Blick (…) auf die himmlische μονή, bei Gott (…) so ist in 14,23 der Blick gleichsam umgedreht worden: Gott wird seine μονή im Glaubenden machen.“ 97  Vgl. J. Becker, Abschiedsrede (s. Anm. 73), 227. Vgl. auch die Formulierungen von J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, GSL.NT IV/1ab.2–3, Düsseldorf II.III 1977; Ia.Ib 1981, III 29: „Die Wiederkehr Christi fällt schon mit der Auferstehung Jesu, mit Ostern, zusammen und vollzieht sich seitdem fortgesetzt in der Gemeinde“; vgl. ebd. 111; und J. Gnilka, Joh (s. Anm. 85), 115: „Christus nimmt in seinem österlichen Sich-sehen-lassen die Parusie vorweg“. An anderer Stelle trifft J. Blank den richtigen Sachverhalt: „Von diesem Osterverständnis her kann Johannes auch die urchristliche Wiederkunfts (=Parusie) ‑Erwartung mit der Oster-Erfahrung verknüpfen. Darin liegt auch eine besondere theologische Leistung“ (Ders., Joh III [s.o] 112); zutreffend auch: C. Hergenröder, Wir schauten seine Herrlichkeit. Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont von Selbsterschließung Jesu und Antwort des Menschen, FzB 80, Würzburg 1996, 607.649 f. Die von J. Becker u. a. vertretene Deutung ist von R. Bultmann (vgl. Ders., Joh [s. Anm. 96], 447 f.478 f ) im Anschluss an W. Heitmüller, H. J. Holtzmann und W. Bauer weit verbreitet worden: S. Schulz, Das Evangelium nach Johannes NTD IV, Göttingen 15/41983, 189; J. Zumstein, point de vue (s. Anm. 35), 67; A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 26), 206 (vgl. auch seine an Ch. Dietzfelbinger, Johanneischer Osterglaube, ThSt [B] 138, Zürich 1992, 51–79, angelehnte Oster-Interpretation, ebd. 239–243). Ch. Dietzfelbinger sieht richtig, dass sich „im Akt des Glaubens“ „Endgültiges“ ereignet (Ders., Osterglaube [s. o.] 77), dass jedoch dieses Endgültige im joh Sinn mit der Parusie zu identifizieren sei (ebd.), wird hier bestritten. In Ders., Abschied (s. Anm. 94), 15–105, hat Ch. Dietzfelbinger diese Auslegung erneuert: „Jeder Glaubende (…) ist originaler Osterzeuge (…). Kraft der vom Parakleten vermittelten eigenen Ostererfahrung tritt die spätere Gemeinde in dieselbe Qualität und Unmittelbarkeit des Osterglaubens ein, in der die ersten Osterzeugen lebten“ (ebd. 78; vgl. 324). Mit dieser steilen theologischen Interpretation beantworte Joh 14 die im Urchristentum virulente Grundsatzfrage: „Wie kann der fortgegangene Christus für die Gemeinde zum gegenwärtigen Christus werden, der das Sein der Gemeinde in der Welt zu einem erfüllten Sein werden lässt?“ (86). Ch. Dietzfelbinger ist zuzustimmen, wo er die nachösterlich neue, durch den Parakleten vermittelte Christusbegegnung betont (vgl. 219: Der Paraklet ist „seinem Wesen nach nichts anderes als Vergegenwärtigung des nachösterlich wirkenden Christus“; vgl. ebd. 202–226). Dass hierin jedoch ein „polemischer Ton“ (96) gegen eine Berufung auf den irdischen Jesus liege, überzeichnet die Intention von Joh 14. Konsequenterweise müssen dann die Erstzeugen des Auferstandenen abgewertet (vgl. 79; so auch M. Theobald, Der johanneische Osterglaube und die Grenzen seiner narrativen Vermittlung (Joh 20), in: R. Hoppe / ​U. Busse (Hgg.), Von Jesus zum Christus. Christologische Studien (FS P. Hoffmann), BZNW 93, Berlin 1998, 93–123) und die Berufung auf die Tradition des vorösterlichen Jesus als „zu schmal, als dass es die neue Situation der Gemeinde tragen und Fundament der Nachfolge sein könnte“ (96), gedeutet werden. 98  Vgl. die Osterbegegnungen in 20,11–18.19–23.24–29.

3. Réécriture

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gänglichen gegenwärtigen Heilswirklichkeit liegt und gerade die Abschiedsrede dieses präsentische „Leben in Fülle“ – im Gegenüber zu dem sich verschließenden und Christus und die Christen „hassenden Kosmos“ – reflektiert und buchstabiert wird, schließt den Blick auf die noch ausstehende Vollendung nicht aus. Auch noch in der nachösterlichen Zeit bedürfen die Jünger der Glaubensaufforderung (14,1.29d), des Beistandes, des Lehrens und Erinnerns des Geistes (14,16–17.23), der Zusage der Erhörung des Bittgebetes (14,13–14), des Hinweises Jesu auf die Liebe zu ihm und auf das Halten seiner Gebote (14,15ab.21.23cd.24ab).99 Die in der Johannesforschung verbreitete Gegenüberstellung von präsentischer und futurischer Eschatologie ist im Gesamtzusammenhang joh Literarkritik zu diskutieren und zu problematisieren. Ingo Broer hat hierzu klargestellt, dass eine Auslegung des JohEv erst dann vorliegt, „wenn beide Arten von Eschatologien in ihrer Differenz verstanden sind und der Versuch gemacht ist, beide zusammen zu sehen.“100 Das dreibändige opus magnum von Jörg Frey leistet hier eine erhebliche Auseinandersetzung mit der Forschungsgeschichte und einen höchst beachtenswerten Neuansatz für die Auslegung der joh Eschatologie.101 (2) Der erste Hauptteil in V. 5–14 richtet den Blick auf den Weg zur eschatologischen Vollendung, die in den Themenversen V. 1–4 vorgestellt wird. Verwoben mit der futurischen Eschatologie ist die präsentische Christologie des JohEv (V. 5–14): Jesus geht und öffnet nicht nur den Weg zum Vater, er selbst ist in einem grundsätzlichen, nicht nur den Zeitpunkt des Abschiedes von seinen Jüngern betreffenden Sinn „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (V. 6b). Zum Vater zu gelangen, ist nur durch ihn möglich (V. 6c). Deshalb gilt auch die Folgerung: Wer Jesus „erkannt“ und „gesehen“ hat,102 d. h. seine christologische Würde wahrgenommen hat, „erkennt“ und „sieht“ in ihm auch den Vater. Die Grundlage für diese joh Hoheitschristologie ist die Spitzenaussage der reziproken  99  Die von J. Becker u. a. vertretene These einer Korrektur der futurischen Eschatologie aus 14,2–3 zugunsten einer präsentischen Eschatologie in 14,23, wird von H.-Ch. Kammler noch weiter zugespitzt: Er trägt die präsentische Eschatologie schon in 14,2–3 selbst ein und lehnt daher eine Deutung von 14,2–3 auf die Parusie ab (vgl. Ders., Jesus Christus und der Geistparaklet. Eine Studie zur johanneischen Verhältnisbestimmung von Pneumatologie und Christologie, in: O. Hofius / ​H.-Chr. Kammler (Hgg.), Johannesstudien [s. Anm. 48], 87–190, hier 103–106.144). Diese gewaltsame Deutung verliert das joh Wissen und Reflektieren auf die noch ausstehende Heilsvollendung, auf die Bedrohtheit und Gefährdetheit der nachösterlichen Jüngergemeinde aus den Augen. 100 I. Broer, Auferstehung und ewiges Leben im Johannesevangelium, in: Ders. / ​J. Werbick (Hgg.), „Auf Hoffnung hin sind wir erlöst“ (Röm 8,24). Biblische u. systematische Beiträge zum Erlösungsverständnis heute, SBS 128, Stuttgart 1987, 67–94, hier 74. 101  Vgl. J. Frey, Die johanneische Eschatologie I. Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1997 (vgl. die Rez. von K. Scholtissek, ThRv 94 [1998], 515–517); Ders., Die johanneische Eschatologie II. Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 105, Tübingen 1998 (vgl. die Rez. von K. Scholtissek, ThRv 96 [2000] 26–28); Ders., Die johanneische Eschatologie III, Tübingen 1999. 102 „Erkennen“ und „Sehen“ werden hier in Joh 14 wie auch sonst im JohEv isotop verwendet; mit A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 26), 115; vgl. auch den eigenen Beitrag „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), in diesem Band, S. 151–172.

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2.  Relecture und réécriture

Immanenz von Vater und Sohn (14,10–11; 10,38). Diese reziproke Immanenz von Vater und Sohn ist nicht erst die Folge seiner Erhöhung zum Vater, sondern gilt im JohEv vor‑ wie nachösterlich. Auf Seiten der Jünger entspricht diesem präsentischchristologisch definierten Weg zur futurisch-eschatologischen Vollendung der Glaube an Gott und an Jesus (14,1) bzw. an die reziproke Immanenz von Vater und Sohn (14,10–11) – gegebenenfalls aufgrund der „Werke“ Jesu (14,11d: διὰ τὰ ἔργα αὐτὰ). (3) Der zweite Hauptteil, der die Aussagen des ersten voraussetzt, blickt auf das nachösterliche „Kommen“ des Parakleten bzw. Jesu sowie des Vaters. Die zweite Ausführung zur Themaangabe V. 1–4 in V. 15–26 spricht in drei Anläufen von der nachösterlichen Gabe des Parakleten mit einer Immanenz-Aussage in V. 17 f, vom nachösterlichen Kommen Jesu mit einer Immanenz-Aussage in V. 20 und vom nachösterlichen Kommen von Vater und Sohn mit einer Immanenz‑ bzw. Habitatio-Aussage in V. 23. Die leitende Intention der Abschiedsrede im JohEv im allgemeinen wie der Ausführungen im Anschluss an die Verheißung Jesu in V. 1–4 im Besonderen, die nachösterliche Zeit nicht als defizitäre Zwischenzeit, sondern als durch die Präsenz des Parakleten bzw. des Sohnes und des Vaters qualifizierte Zeit herauszustellen, realisiert sich in diesen drei einander zuzuordnenden Immanenz-Aussagen, die letztlich einen einzigen Sachverhalt103 reflektieren. Unter Berücksichtigung der fünf Parakletworte in der joh Abschiedsrede und dem starken Gewicht der joh Pneumatologie insgesamt ist die nachösterliche Präsenz, Immanenz und das Wirken des Geist-Parakleten im JohEv als Möglichkeitsbedingung und Medium der weiteren Immanenz-Aussagen, die die Glaubenden einschließen, zu deuten. Die nachösterliche Situation der Glaubenden wird durchgehend im JohEv als bestimmt durch die Gabe und das Wirken des Geistes angesehen (vgl. 7,39 [λαμβάνειν]; 14,16 [δώσει]; 19,30e [παρέδωκεν τὸ πνεῦμα]; 20,22 [λάβετε; vgl. 1 Joh 2,27]; vgl. μιμνῄσκομαι κτλ. in 2,22; 12,16; 14,26). Der zweite Hauptteil in V. 15–26 ist ein Traktat zur präsentischen Eschatologie in joh Sprache und Interpretation. Die nachösterliche Präsenz des Parakleten bzw. des Sohnes sowie des Vaters wird in joh Weise präzisiert: (a) Vom Parakleten wird das Bleiben bei (V. 17e) und die Immanenz in (V. 17 f ) den Christen, (b) vom Sohn und den Christen wird die reziproke Immanenz, die an die Immanenz des Sohnes im Vater rückgebunden ist (V. 20), und (c) vom Vater und vom Sohn wird das Wohnungnehmen bei den Christen ausgesagt. Vorausgesetzt wird auf Seiten der Christen die Liebe zu Jesus (V. 15a.21cd.23c) und das Halten seiner Gebote bzw. seines Wortes (seiner Worte) (V. 15b.21ab.23d.24ab). Die Liebe der Christen zu 103  U.a. mit R. E. Brown, John (s. Anm. 25), II 644 f; A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 26), 191 f. Der joh Paraklet ist freilich nicht schlechthin mit dem erhöhten Christus identisch; eher ist von der Präsenz des Erhöhten im Parakleten und durch den Parakleten bei den Glaubenden zu sprechen (mit R. E. Brown, John [s. Anm. 25], II, 645). Vgl. auch R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 25), 88: „Der Evangelist ist sowohl von der bleibenden Verbundenheit der Jünger mit Jesus als auch von der Anwesenheit des Geistes überzeugt. Eine Identifikation des Geistes mit Jesus liegt schwerlich in seinem Interesse“.

3. Réécriture

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Jesus findet reziprok Antwort in der Liebe des Vaters (V. 21 f.23e) und des Sohnes (V. 21g). Die futurische Eschatologie in V. 1–4 schließt die präsentische Eschatologie in V. 15–24 gerade nicht aus: Während die Worte Jesu in V. 1–4 die postmortale Vollendung des österlich-christlichen Lebens metaphorisch als Leben in den Wohnungen des Hauses Gottes beschreiben, so reflektieren V. 15–24 die Gegenwart von Paraklet, Sohn und Vater nach dem Fortgang und der Erhöhung Jesu bei und in den Christen. Die präsentische Eschatologie in V. 15–24 ist hier – wie auch sonst im JohEv – keine vollendete Eschatologie, die in Konkurrenz stünde zu den Aussagen in V. 1–4. Vermittelndes Bindeglied beider eschatologischer Aussagen ist die joh Christologie: Jesu Gang zum Vater hat den Weg zu den himmlischen Wohnungen, in denen er für die Glaubenden einen Platz bereitet, geöffnet. Jesus wird wiederkommen, um die Glaubenden in diese von ihm bereiteten Wohnungen im Hause Gottes „aufzunehmen“. Mit diesem (Rück‑)Blick auf den das ewige Leben bei Gott erschließenden Heilsweg Jesu durch den Tod zum Vater und dem korrespondierenden Vorausblick auf die Wiederkunft Jesu ist die joh Christologie jedoch nicht ausgeschöpft: Sie reflektiert mit höchstem Interesse auf die neue nachösterliche Gegenwart Jesu bzw. des Geistes und des Vaters. Diese neue Gegenwart Jesu (bzw. des Geistes und des Vaters) findet ihren vornehmlichen Ausdruck in der Sprache der Immanenz. Reflektierten V. 5–14 ihrem christologischen Thema entsprechend auf die Immanenz von Vater und Sohn, so V. 15–24 auf die Immanenz zwischen dem Sohn (bzw. dem Geist und dem Vater) und den Christen (vgl. auch die reziproke Agape von Vater, Sohn und den Christen). Eine adäquate Verhältnisbestimmung von futurischer und präsentischer Eschatologie in Joh 14 kommt in den Blick, wenn 14,23 als umschreibende réécriture von 14,2–3 interpretiert wird: Die futurisch-eschatologische Aussage in 14,2–3 wird gewahrt und vermittelt durch die Zwischenglieder 14,4–22 in 14,23 einer präsentisch-eschatologischen réécriture unterzogen: Sinnziel dieses Prozesses ist der Aufweis und die Bestimmung der nachösterlichen Situation der Glaubenden als ein Leben im Vorgriff auf die futurisch-eschatologische vita communis in Gott. Die Immanenz-Aussagen in 14,16–17.20–21.23 haben ihr Maß in der reziproken Vater-Sohn-Immanenz (14,10–11) und ihren Kulminationspunkt in der erfüllten Lebensgemeinschaft mit und in Gott (14,2–3).104

104 Zu einer ausführlichen und vertieften Interpretation der joh Immanenz-Aussagen in Joh 14 und ihrer joh Präformationen bzw. Äquivalente bes. in Joh 1–12 vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 1), (Kap. E. I. und E.IV.).

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2.  Relecture und réécriture

4. Zusammenführung und Ausblick Die bilanzierenden Ausführungen reflektieren auf das heuristische Potential der Paradigmen relecture und réécriture für die Johannesforschung im Besonderen und für die Bibelwissenschaften im Allgemeinen: 4.1  Relecture und réécriture im Johannesevangelium (1) Mit der überzeugend begründeten und ausgeführten These, Joh 15,1–17 als relecture von 13,1–17.34 f und 16,4b–33 als relecture von 13,31–14,31 zu lesen, hat A. Dettwiler in der Johannesforschung erfolgreich Neuland betreten. Die bisher kaum in ihrer Vielfalt wahrgenommenen und deshalb auch nicht systematisch ausgewerteten Bezüge zwischen diesen genannten Bezugstexten und ihren jeweiligen Rezeptionstexten werden inhaltlich aufgewiesen und als Fortschreibung adäquat identifiziert. Über A. Dettwiler hinaus lassen sich relecture-Prozesse im gesamten JohEv beobachten. (2) Neben diesem die Diachronie des JohEv neu interpretierenden Paradigma relecture begegnet im JohEv zudem mit der variantenreich wiederaufnehmenden Um-Schreibung einer Grundkonstellation (= réécriture) ein analoges Phänomen auf der synchronen Ebene. Als erstes Beispiel wurde hierzu eine Auslegung des Prologes vorgestellt, die seine formale und inhaltliche Gestalt als eine sukzessiv fortschreitende christologische réécriture bestimmt. Das zweite Beispiel legt die eschatologischen Aussagen der Rede Jesu in 13,31–14,31, bes. 14,2–3 und 14,23, nicht antagonistisch, sondern komplementär aus und versteht 14,23 als präsentischeschatologische réécriture der futurisch-eschatologischen Aussage in 14,2–3. (3) Unter Berücksichtigung dieser beiden hermeneutischen Figuren relecture und réécriture legt sich die folgende Grundfigur einer literarischen Entstehungs‑ und Wachstumsgeschichte des JohEv nahe: Die diachrone und synchrone Gestaltwerdung des JohEv verdankt sich insgesamt einem lebendigen Fortschreibungsprozess.105 Ausweislich des joh Selbstzeugnisses  – besonders in den impliziten und expliziten Erzählkommentaren  – handelt sich dabei genauerhin um eine schriftgelehrte und geistgeführte, die Herausforderungen der Gemeinden zu meistern suchende und den theologischen Klärungsbedarf integrierende Reflexion auf die joh Jesusüberlieferung. (4) Die Paradigmen relecture und réécriture erweisen sich methodisch und inhaltlich als aufweisbares Pendant zum theologischen Anspruch des JohEv, geistgewirkte Anamnese, vertiefende Auslegung und vergegenwärtigende Ak105  H. Weder spricht auch von „einem eingehenden Reflexionsprozess“, in: Ders., Die Menschwerdung Gottes. Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6 (1985), in: Ders., Einblicke in das Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980–1991, Göttingen 1992, 363–400, 370. Vgl. die positive Stellungnahme von J. Zumstein, La communauté johannique et son histoire, in: J.-D. Kaestli / ​J.-M. Poffet / ​J. Zumstein (Hgg.), La communauté johannique et son histoire. La trajectoire de l՚Évangile de Jean aux deux premiers siècles, Genf 1990, 359–374, 365–367.373.

4. Zusammenführung und Ausblick

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tualisierung der urchristlichen Jesusüberlieferung zu sein.106 Der nachösterliche Erkenntnis‑ und Sehprozess,107 in dessen Wirkungsgeschichte das JohEv sich selbst ansiedelt, den es dokumentiert und zu dem es einlädt, gründet im „Sich-Erinnern“ (μιμνῄσκεσθαι) der Jünger und Jüngerinnen Jesu (vgl. 2,17.22; 12,16; 14,26; 15,20; 16,4). Solches „Erinnern“ ist ein kreativer Wahrnehmungs‑ und Erkenntnisprozess, der das Osterereignis und die Ostererfahrung voraussetzt.108 „Erinnern erscheint hier eher als ein Verstehensvorgang, der sichtbar macht, was vorher nicht zu sehen war. Gerade der schöpferische Charakter des nachösterlichen Verstehensprozesses wird daher im Motiv des Erinnerns betont.“109 4.2  Relecture und bibeltheologische Hermeneutik Der ‚hermeneutische Charme‘ des Paradigmas relecture greift über die Johannesforschung hinaus. Dies soll hier abschließend in vier Thesen angedeutet werden: (1) Relecture führt methodische und inhaltliche Fragestellungen, die oftmals zu ihrem eigenen Nachteil scheinbar (!) isoliert diskutiert werden, ausdrücklich zusammen und entspricht damit besser dem Gegenstand des bibelwissenschaftlichen Interesses: den heiligen Schriften Israels und der Kirche. (2) Das Paradigma relecture ermöglicht es, die aporetisch scheinende Kontroverse zwischen den Verfechtern einer diachronen oder einer synchronen Textanalyse und ‑interpretation konstruktiv zu öffnen: Diachronie und Synchronie stehen dann eben nicht gegeneinander und schließen sich schon gar nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil: Der diachrone Blick in die traditionsgeschichtliche „Tiefe“ und der synchrone Blick auf die kanonische „Sichtfläche“ des Textes können – bei 106  Vgl. zu diesem theologischen Anspruch und Selbstverständnis des JohEv U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, utb 1830, Göttingen (1994) 21996, 577; Ders., Joh (s. Anm. 48), 20–25. 107  Zum joh „Sehen“ in all seinen Facetten vgl. die umfangreiche Studie von C. Hergenröder, Herrlichkeit (s. Anm. 97). „Sehen“ und „Schauen“ erweisen sich joh als ein ganzheitliches, die äußere und die innere Wahrnehmung umgreifendes („doppelsinniges“; 61), auf eine Sinngestalt bezogenes Erfassen (vgl. 49–56). Bei den vier griechischen Verben für „sehen“ unterscheidet der Evangelist punktuelles und duratives ‚Sehen‘, einfaches Erblicken und verweilendes Schauen. ‚Sehen‘ hat personalen, ganzheitlichen, intuitiven (und nicht zergliedernden), gegebenen (und nicht beherrschenden) Charakter. ‚Sehen‘ meint das Geschehen eines Empfangens und Entgegennehmens (vgl. 204–216). Der Evangelist wird als „Lehrer des kontemplativen Sehens“ erkennbar (vgl. 689 f ). 108  Zum konsequent nachösterlichen Standpunkt des JohEv vgl. J. Zumstein, Mémoire (s. Anm. 30); Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 94). Charakteristisch für diese Perspektive sind (1.) die eingestreuten Erzählerkommentare, die ausdrücklich zwischen der vor‑ und der nachösterlichen Situation unterscheiden („Zäsur der Zeiten“) (vgl. 2,17.22; 7,39; 12,16; 20,9), (2.) die Verheißungen Jesu außerhalb der Abschiedsreden, die auf die nachösterliche Zeit hin transparent sind (1,50–51; 7,38; 8,28.31–32; 13,7), (3.) die fünf Parakletverheißungen Jesu in den Abschiedsreden Joh 13,31–16,33, (4.) die Hinweise in der Rückschau und in den Fürbitten des Abschiedsgebetes Jesu Joh 17, (5.) die bekenntnishaften „Wir“‑ bzw. „Ich“-Aussagen (1,14.16; 3,11; 6,68–69; 9,4; 11,22.27 und (6.) die weiteren johanneischen Aussagen über das Wirken des Geistes. 109 Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 94), 49. Vgl. ebd. 141 f, hier 141: „Das medial verwendete μιμνῄσκεσθαι der Textkommentare gewinnt auf diese Weise von den Abschiedsreden her sprachlich geradezu den Charakter eines ‚passivum pneumaticum‘.“

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2.  Relecture und réécriture

aller den Texten jeweils unterschiedlichen Komplexität – oftmals überraschend konvergieren: Nicht jeder redaktionelle Zugriff (Überarbeitung, Erweiterung etc.) geschieht notwendig manipulativ, sei es aus dezidiert theologischer Opposition, sei es aus purem Unverständnis, sei es aufgrund veränderter geschichtlicher Kontexte. Das Paradigma relecture führt dabei keineswegs zu einer Harmonisierung spannungsvoller Textbefunde; die Fortschreibungsvermutung sucht diese Spannungen jedoch nicht aufzulösen, sondern Texte zunächst in und mit ihrer Spannung als intendierte, komplexe Aussage zu verstehen. (3) Die sechs Regeln für das Paradigma relecture, die A. Dettwiler für das JohEv zusammengestellt hat, lassen sich – mindestens probeweise – übertragen auf biblische Traditions‑ und Redaktionsprozesse überhaupt. Als regulative Idee kann die Fortschreibungsvermutung manche festgefahrenen und aporetisch scheinenden Forschungskontroversen in ein neues Licht stellen. Eine in der Literatur beliebte Argumentationsfigur ist die Beobachtung und Rekonstruktion antagonistischer Positionen, die sich im Wechselspiel der Kräfte jeweils auf Kosten der anderen durchzusetzen suchen. Die Literar‑, Traditions‑ und Redaktionskritik und davon abhängig auch die exegetisch-theologische Interpretation ganzer Textkorpora ist ausgesprochen oder unausgesprochen von dieser Argumentationsfigur bestimmt. Es geht nun weder darum, diese Argumentationsfigur als solche infrage zu stellen, noch ihre tatsächliche heuristische Kompetenz für manche Felder bibelwissenschaftlicher Forschung zu bezweifeln. Gefragt wird hier allerdings  – angeregt durch die vorgetragene Johannesauslegung – ob diese hermeneutische Figur in den exegetischen Detailstudien die einzige sein kann und sein muss. Gerade in aporetisch verlaufenden Forschungsdiskussionen zur Wachstumsgeschichte eines Textkorpus verdient das Paradigma relecture die Chance, versuchsweise für die Texterklärung und ‑interpretation herangezogen zu werden. (4) Die hermeneutische Figur der relecture lässt sich nicht nur für die Erforschung des sensus auctoris bzw. des sensus operis, sondern mutatis mutandis auch für den sensus lectoris mit Gewinn heranziehen. So sehr mit der Kanonisierung eines Schriftkorpus als Heiliger Schrift einer Glaubensgemeinschaft der Verschriftlichungsprozess einen normativen Abschluss gefunden hat, und damit der Interpretation definitiv Grenzen gesetzt sind,110 die je neue Rezeption dieser normativen Schrift unter veränderten sozialen, kulturellen, politischen, geistesgeschichtlichen oder individuellen Bedingungen kann in Analogie zu innerbiblischen relecture-Prozessen gedeutet werden.111 Das eingangs schon erwähnte Dokument der Päpstlichen Bibelkommission: „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ spricht in Anlehnung an die Hermeneutik Paul Ricoeurs von der „Sinnkarriere“112 eines Textes: „Der Sinn eines Textes kann jedoch nur dann voll erfasst 110 Vgl.

U. Eco, Die Grenzen der Interpretation, dtv 4644, München 1995 (ital. 1990). K. Scholtissek, Relecture  – zu einem neu entdeckten Programmwort der Schriftauslegung (mit Blick auf das Johannesevangelium), BiLi 70 (1997), 309–315, hier 312 f. 112  Die Interpretation der Bibel in der Kirche (s. Anm. 21), 126. 111 Vgl.

4. Zusammenführung und Ausblick

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werden, wenn er im Erleben der Leser aktualisiert wird, die ihn sich aneignen.“113 Das Bibeldokument führt dann unmittelbar fort: „Mit dem Wachsen des Lebens im Geiste weitet sich bei der Leserschaft das Verständnis der Wirklichkeiten, von denen der biblische Text spricht.“114 4.3  Réécriture als erzählerische Eigenart des Johannesevangeliums Die Beobachtung joh réécriture ‑Prozesse stellt die oft empfundene Verlegenheit, das kanonische JohEv habe Defizite hinsichtlich einer chronologischen und geographischen Kohärenz, (sowie die diese Verlegenheit zu lösen suchenden Umstellungshypothesen) in ein neues Licht: Das JohEv ist nicht in der gleichen Weise wie die synoptischen Evangelien an einer vollständig durchgeführten linearen Kohärenz innerhalb der erzählten Welt interessiert. Dies hat Gründe in der spezifisch joh Erzählweise: Das JohEv folgt dem biographischen Grundriss der Synoptiker und bleibt diesem auch grundsätzlich verpflichtet. Es kennt den Kosmos als Schöpfung Gottes, betont die inkarnatorische Geschichtlichkeit der Sendung Jesu und widerspricht allen weltflüchtigen Vereinnahmungen und Interpretationen (in Vergangenheit und Gegenwart). Über die synoptischen Evangelien hinaus führt die joh Sehweise zu einer eigengearteten Darstellung der urchristlichen Jesusüberlieferung: Die joh Erzähleinheiten, die durchgehend den Charakter von Begegnungsgeschichten haben, werden als Evangelium im Evangelium erzählt. Profilieren die synoptischen Perikopen für sich genommen viel stärker Einzelaspekte des Wirkens Jesu im Zeichen der nahen Gottesherrschaft, so dass erst die gesamte Schrift das eine Evangelium zur Aussage bringt, so beinhalten die joh Begegnungserzählungen, die fast immer von Mangelsituationen der Menschen ausgehen, je für sich das Ganze des Evangeliums. Der Evangelist Johannes unterzieht die eine Grundkonstellation, das „Kommen“ bzw. die (unerkannte) Anwesenheit des endgültigen Heilbringers und seiner herausfordernden Begegnung mit den verschiedenen Menschen, einer fortlaufenden réécriture. In den positiv, offen oder negativ endenden joh Begegnungsgeschichten wird das in Jesus Christus auf die Menschen zukommende Heilsangebot Gottes und deren positive oder negative Antwort darauf (vgl. die semantische Achse des JohEv: 1,11–13), vielfältig durch Ebd.  Ebd. 128. Dieses Wort erinnert an die Aussage Gregor des Großen: „Gottes Worte wachsen mit der/dem Lesenden“ (Gregor der Große, Ezechielhomilien I, 7 [zu Ez 1,19]). Das Vatikanum II hat eben diese Hermeneutik mit den folgenden Worten festgehalten: „Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, dass man mit nicht geringer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens“ (DV 12). Vgl. auch DV 8: „Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt; es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2,19.51), durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt, durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben“. 113 114

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2.  Relecture und réécriture

gespielt, durchbuchstabiert und ausgelotet. Immer aber ist es dieselbe Grundkonstellation, die der Evangelist für seine Leser einer réécriture unterzieht. Das schon bei den Synoptikern erkennbare Interesse, Einzelerzählungen aus dem Leben Jesu zu stilisieren und für die Leser zu paradigmatisieren, wird beim Evangelisten Johannes weitergeführt: Er „sieht“ und deutet in jeder Begegnung zwischen Jesus und einem Menschen oder einer Menschengruppe das Ganze des Evangeliums, die heilsame und heilsentscheidende Begegnung mit dem, der „der Weg, die Wahrheit und das Leben ist“ (14,6).

III.  Ekklesiologie, Metaphorik und Ethik

1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu Beobachtungen zur johanneischen Ekklesiologie 1.  Die Fragestellung (1) Die Frage nach der „Wirklichkeit der Kirche im Neuen Testament“1 gehört zu den herausragenden Themenschwerpunkten der exegetischen und ökumenischen Forschungsarbeiten von Karl Kertelge.2 Solche Rückbesinnung auf die Ursprünge und die urchristlichen Anfänge der Kirche, wie sie in den neutestamentlichen Schriften bezeugt werden, trägt das ihr Mögliche dazu bei, den Anspruch einzulösen, Kirche vom Ursprungszeugnis her zu ‚verstehen‘ und so fähig zu werden, heute Kirche auf der Höhe der Zeit und gleichermaßen evangeliumsgemäß zu beschreiben und mitzugestalten. Mysterium salutis wird Kirche in ihrer jeweiligen Zeit nur dann sein können, wenn sie sich dienstbereit hörend und verkündigend unter das eine Wort Gottes stellt (vgl. DV 10.23).3 1  Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von K. Kertelge, Die Wirklichkeit der Kirche im Neuen Testament, in: W. Kern / ​ H. J. Pottmeyer / ​ M. Seckler (Hgg.), Handbuch der Fundamentaltheologie, Bd. III, Freiburg i. Br. 1986, 97–120. – Es ist für den Verfasser eine Ehre, diesen Beitrag dem Lehrer und Begleiter auf den Pfaden exegetisch-theologischer Forschung und Reflexion zur Vollendung des 70. Lebensjahres widmen zu dürfen. 2  Vgl. u. a. folgende weitere Beiträge von K. Kertelge: Ders., Gemeinde und Amt im Neuen Testament, München 1972; Ders. (Hg.), Das kirchliche Amt im Neuen Testament, WdF 439, Darmstadt 1978; Ders., Die eine Kirche Jesu Christi im Zeugnis des Neuen Testaments, Cath 35 (1981), 265–279; Ders., Kerygma und Koinonia. Zur theologischen Bestimmung der Kirche des Urchristentums, in: P.-G. Müller / ​W. Stenger (Hgg.), Kontinuität und Einheit (FS F. Mußner), Freiburg i. Br. 1981, 327–339; Ders., Koinonia und Einheit der Kirche nach dem Neuen Testament, in: J. Schreiner / ​K . Wittstadt (Hgg.), Communio Sanctorum. Einheit der Christen – Einheit der Kirche (FS P.-W. Scheele), Würzburg 1988, 53–67; Ders., Volk Gottes auf dem Weg – wohin?, in : W. Beinert (Hg.), Mit der Kirche glauben, Regensburg 1990, 17–32; Ders., Volk Gottes als ekklesiologisches Leitmotiv im Neuen Testament, in: P. Neuner / ​D. Ritschl (Hgg.), Kirchen in Gemeinschaft – Gemeinschaft der Kirchen, Studie des DÖSTA zu Fragen der Ekklesiologie, ÖR. B 66, Frankfurt a. M. 1993, 50–58; Ders., Koinonia im Neuen Testament, ebd. 163–167; Ders., Einheit der Kirche. 1. Biblisch-theologisch, LThK3 3 (1995), 544–547. 3 Vgl. den Kommentar zur „Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung“ von J. R atzinger, LThK2 13 (1967; 21990), 498–581, hier 527: „Auf diesem Hintergrund wird man die nachdrückliche Herausstellung der ministeriellen Funktion des Lehramtes ebenso begrüßen müssen wie die Aussage, dass sein erster Dienst das Hören ist – dass es selbst immer wieder auf das lauschende Vernehmen gegenüber den Quellen, auf deren je neue Befragung und Bedenkung angewiesen ist, um sie so wahrhaft aus-legen und behüten zu können: behüten nicht im Sinne einer Schutzhaft (wozu manchmal das Tun des Lehramtes in der Geschichte doch tendiert haben dürfte), sondern im Sinne der Treue, die fremder Herrschaft wehrt und das Herrentum des Wortes Gottes gegen Modernismus und Traditionalismus gleichermaßen verteidigt. Zugleich

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1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

(2) Die folgenden Ausführungen suchen im Blick auf den Stand der Forschung zur johanneischen Ekklesiologie (vgl. 2.) zwei Themen aus der JohannesForschung für die Frage nach dem spezifisch johanneischen Profil von Kirche fruchtbar zu machen: zunächst das johanneische Jüngerbild (vgl. 3.), dann die ekklesiologische Metaphorik im Johannesevangelium, genauerhin die Familienmetaphorik (vgl. 4.). Im Durchgang durch diese Themenfelder ergeben sich auch Beobachtungen zu ekklesiologischen Implikationen im Selbstverständnis der johanneischen Schule (5.). (3) Dass es überhaupt berechtigt ist, von einem Kirchenbild des Johannesevangeliums zu sprechen, ist in der Forschung mitunter in Frage gestellt worden. So findet sich auf den ersten Blick im Johannesevangelium die einschlägige ekklesiologische Terminologie scheinbar relativ selten. Zugespitzt lässt sich fragen: Kennen die johanneischen Schriften eine wie auch immer geartete amtlich-institutionelle Struktur?4 Ἐκκλησία begegnet in 3 Joh 6.9.10, ἐκλέκτος in 2 Joh 1.13 und κοινωνία in 1 Joh 1,3 [bis].6.7. Der Evangelist verwendet ἀπόστολος in Joh 13,16 und ἀποστέλλω für die Jüngersendung in 4,38 und 17,18. „Ich habe euch gesandt zu ernten“ (4,38) setzt die nachösterliche Sendung der Jünger durch Jesus (vgl. πέμπω in 20,21) voraus (vgl. auch 1,16.20 und 17,18).5 Die Sendung der Jünger (πέμπω vgl. 20,22d) durch den Auferstandenen entspricht (vgl. καθώς … κἀγώ …) nach 20,21c der Sendung Jesu durch den Vater (ἀπέσταλκεν). Die Sachparallele in 17,18 verwendet für beide ‚Sendungen‘ ἀποστέλλω. Die Jünger erhalten den Auftrag, die Sendung Jesu (vgl. das hohe Gewicht der johanneischen Sendungschristologie!) fortzusetzen. Dazu werden sie geistbegabt (vgl. 20,22; vgl. die johanneischen Parakletworte, die in die nachösterliche Zeit weisen) und bevollmächtigt (vgl. 20,23). „Joh geht es um die Weitergabe von Vollmacht und Auftrag Jesu schlechthin; die Jüngergemeinde soll ihn in der Welt präsent machen und sein Heilswirken fortsetzen. Eine Einschränkung auf die anwesenden Jünger ist nicht erkennbar und schwerlich beabsichtigt; …“6

wird auf diese Weise der Gegensatz von ‚hörender‘ und ‚lehrender‘ Kirche auf seine wahren Maße zurückgeführt: Im letzten ist die ganze Kirche hörend, und umgekehrt hat die ganze Kirche teil am Verharren in der rechten Lehre.“ Vgl. ebd. 581: „Das Wort Gottes ist den Menschen zugedacht, und der Dienst am Wort, den die Kirche mit dieser Konstitution versucht, kann sich daher nicht auf innerkirchliche Reformen beschränken; er ist letztlich auf die Menschheit als ganze hingeordnet, denn nicht nur die Kirche, sondern jeder Mensch lebt in seiner letzten Tiefe vom Wort Gottes, mehr als vom Brot, das ihm das todbringende irdische Leben gewährt.“ 4  Vgl. hierzu die Ausführungen von H.-J. Klauck: Ders., Gemeinde ohne Amt? Erfahrungen mit der Kirche in den johanneischen Schriften (1985), in: Ders., Gemeinde – Amt – Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 195–222 (s. u. II.1.). 5  Vgl. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThKNT IV/1–4, Freiburg i. Br. I (1965) 71992; II (1971) 1985; III (1975) 1986; IV (1984) 1994, hier: Joh I 485–488. 6  Vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 5), 385.

1.  Die Fragestellung

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Zur ekklesiologischen Terminologie im engeren Sinn gehören sodann die 78 statistischen Belege von μαθητής, „die Zwölf “ in Joh 6,67, und „die Seinen“ (vgl. 10,4; 13,1) bzw. „die Meinen“ (vgl. 10,14[bis]). Die Bezeichnung der Glaubenden als „Jünger“ begegnet nur im Johannesevangelium, nicht in den Briefen. Wenn der Auferstandene von den Jüngern als seinen „Brüdern“ spricht (20,17; vgl. 21,23), leitet dies schon über zur Bruderbezeichnung für die Glaubenden in 1 und 3 Joh (vgl. 18 Belege für ἀδελφός). Auch die Bezeichnung der Jünger Jesu als seine „Freunde“ (15,13.14.15; vgl. 3,29; 11,11) hat ihre Wirkungsgeschichte in der innergemeindlichen Anrede und ihrem Selbstverständnis (vgl. 3 Joh 15[bis]). (4) Drei Fragestellungen und thematische Komplexe sind für die Analyse und Interpretation der johanneischen Ekklesiologie methodisch und sachlich zu trennen: Zu unterscheiden ist zunächst zwischen der johanneischen Gemeinde bzw. den johanneischen Gemeinden (a) und der johanneischen Schule7 (b): (a) Unter dem Leitwort johanneische Gemeinde(‑n) wird die Frage gestellt nach Ort, Identität, Gestalt und Wirklichkeit der christlichen Gemeinden, in deren Mitte die johanneischen Schriften entstanden sind und tradiert wurden. Zur Rekonstruktion eines Bildes der johanneischen Gemeinde(‑n)8 ist, ausgehend vom Textbefund, der Versuch zu unternehmen, (α) die johanneische Gemeinde(‑n) in etwa zu lokalisieren, (β) ihre geschichtliche Entwicklung zu erheben (vgl. die Anhaltspunkte: Synagogenausschluss nach Joh 9,22.34.35; 12,42; 16,2; innerjohanneischen Schismen nach Joh 6,66–71; 1 Joh 2,18t), (γ) mögliche religionsgeschichtliche Einflüsse zu benennen und (δ) die Gemeindewirklichkeit zu erfassen (vgl. u. a. Ämterfrage). (b) Der Trägerkreis der johanneischen Schule ist aufgrund des Textbefundes enger zu fassen als die Gesamtheit der johanneische(‑n) Gemeinde(‑n).9 Gefragt 7  Die übergreifende „neutrale“ Formulierung „Johanneischer Kreis“ (O. Cullmann; J.W. Taeger) wird hier nicht aufgegriffen, da sie der Unterscheidung zwischen joh. Gemeinde(‑n) und joh. Schule nicht Rechnung trägt. 8 Vgl. die folgenden Forschungsbeiträge zur johanneischen Gemeinde: R. E.  Brown, The Community of the Beloved Disciple, New York 1979; K.-M. Bull, Gemeinde zwischen Integration und Abgrenzung: ein Beitrag zur Frage nach dem Ort der joh Gemeinde(n) in der Geschichte des Urchristentums, BET 24, Frankfurt a. M. 1992; H.-J. Klauck, Die Johannesbriefe, EdF 276, Darmstadt (1991) 21995 (Lit.); K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München (1981) 41992 (Lit.) (ebd. 258–265: Antwort auf die kritische Replik von M. Hengel, The Johannine Question, London 1989; erw. dt. Ausgabe: Ders., Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch [mit einem Beitrag zur Apokalypse von J. Frey], WUNT 67, Tübingen 1993). 9 Mit H.-J. Klauck, Art. „Johannesbriefe“, NBL 8. Lfg. (1992), 353–356, hier 355: Der Autor des 1 Joh „gehört zur joh. Schule, einem Stand von Theologen und Lehrern, der sich in dem ‚wir‘ 1,1–4 Joh 21,24 zu Wort meldet.“ Vgl. Ders., Johannesbriefe (s. Anm. 8), 102: „Für die Gesamtgemeinde wird man besser einen weiteren Ausdruck wählen wie johanneischer Gemeindeverband oder johanneischer Kreis (z. B. Taeger), um den Begriff ,der johanneischen Schule einschränken zu können auf eine Gruppe von Personen, die als Autoren und Redaktoren hinter dem johanneischen Schrifttum stehen. Sie bilden eine Art Schriftgelehrten‑ und Theologenstand in der Gemeinde. … Wir und ihr, Verkünder und Gemeinde treten auseinander.“ Vgl. auch

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1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

ist hier nach dem Theologen‑ und Schülerkreis, der das Corpus Johanneum geschaffen und ihm sein charakteristisches Gepräge gegeben hat. Teilfragen sind: (α) die Existenz und die Bedeutung von „Schulen“ in der zeitgenössischen Umwelt,10 (β) die Identität des „Schulhauptes“ der johanneischen Schule (der Presbyter?, der Lieblingsjünger?, der Evangelist?), (γ) nähere Auskünfte über den oder die Verfasser des Johannesevangeliums und 1–3 Joh (evtl. Offb), (δ) Genese und Charakteristika der johanneischen Schultheologie und (ε) die Gegnerprofile und Schismen. (c) Die johanneische Ekklesiologie sucht die im Corpus Johanneum erkennbaren ekklesiologischen Aussagen zu erfassen. Mittels einer primär synchronen Analyse und Interpretation johanneischer Texte wird der Versuch unternommen, das „normative“ Kirchenbild der johanneischen Schriften zu eruieren. Die hier genannten methodisch und sachlich zu unterscheidenden Fragestellungen greifen ineinander und bedingen sich wechselseitig. Der hermeneutische Zirkel von Detailuntersuchung und Gesamtschau11 kann nicht übersprungen werden; er erfordert deshalb umso mehr die genaue Rechenschaft über das Gewicht der Einzelargumente. Alle Antwortversuche auf die in (a) bis (c) genannten Fragestellungen werden beeinflusst von der angenommenen Redaktionsgeschichte des Corpus Johanneum, die mit historisch-kritischem Methodenarsenal nach dem traditionsgeschichtlichen Profil und der Chronologie der johanneischen Schriften fragt.

2.  Neuere Überblicke zur johanneischen Ekklesiologie Innerhalb der exegetischen Forschung zur johanneischen Ekklesiologie12 lassen sich verschiedene Positionen und Tendenzen benennen: Eine einflussreiche U. Schnelle, Die johanneische Schule, in: F. W. Horn (Hg.), Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments. Symposion zum 65. Geburtstag von Georg Strecker, BZNW 75, Berlin / ​New York 1995, 198–217, hier: 201. 10  Vgl. R. A.  Culpepper, The Johannine School. An Evaluation on the JohannineSchool Hypothesis Based on an lnvestigation of the Nature of Ancient Schools, SBLDS 26, Missoula 1975. 11  Vgl. zum Problem W. Thüsing, Zwischen Jahweglaube und christologischem Dogma. Zu Position und Funktion der neutestamentlichen Exegese innerhalb der Theologie (1984) in: Ders., Studien zur neutestamentlichen Theologie, WUNT 82, hrsg. v. Th. Söding, Tübingen 1995, 3–22, hier 19–22. 12 Vgl. neben den unter 2. ausführlicher vorgestellten Autoren nur folgende Forschungsbeiträge zur johanneischen Ekklesiologie: K. Haacker, Jesus und die Kirche nach Johannes, ThZ 29 (1973), 170–201; A. Lindemann, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium, in: D. Lührmann / ​ G. Strecker (Hgg.), Kirche (FS G. Borkamm), Tübingen 1980, 133–161; T. Onuki, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium. Ein Beitrag zur Frage nach der theologischen und pragmatischen Funktion des johanneischen Dualismus, WMANT 56, Neukirchen-Vluyn 1984; H. Klein, Die Gemeinschaft der Gotteskinder. Zur Ekklesiologie der johanneischen Schriften, in: W.D. Hauschild Kirchengemeinschaft – Anspruch und Grenzen (FS G. Kretschmar), Stuttgart 1986, 59–67 (s. u.: 3 [3]); W. Rebell, Gemeinde als Gegenwelt. Zur soziologischen und didaktischen Funktion des Johannesevangeliums, BET 20, Frankfurt a. M. 1987; U. Schnelle, Johanneische

2.  Neuere Überblicke zur johanneischen Ekklesiologie

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Deutung rechnet mit einem johanneischen Gemeindeinteresse, widerspricht aber der Existenz einer irgendwie amtlichen Struktur innerhalb der johanneischen Gemeinde.13 In dieser Tradition steht auch die Zuweisung ekklesiologischer Interessen zur Spätphase johanneischer Theologie, der sogenannten „kirchlichen Redaktion“.14 Als Folge einer hohen Gewichtung eines dualistischen Denkansatzes wurde den johanneischen Schriften oft eine Sektenmentalität bzw. ein konventikelhaftes Selbstverständnis zugeschrieben.15 Manche Autoren diagnostizieren zudem ein individualistisches Erlösungsverständnis im Johannesevangelium, das eine Sozialgestalt christlichen Lebens relativiere.16 Neben diesen Stimmen stehen diejenigen Positionen, die eine wie auch immer im Einzelnen zu bestimmende Ekklesiologie der johanneischen Schriften aufweisen und diskutieren.17 Ekklesiologie, NTS 37 (1991), 37–50; F. J.  Moloney, John 18:15–27: A Johannine View of the Church, DR 112 (1994), 231–248 (s. u. 3.[4]). 13  Vgl. R. Bultmann, Theologie des NT, utb 630, hrsg. v. O. Merk, Göttingen 91984, 443: „Es fehlt auch jedes ekklesiologische Interesse, jedes Interesse an Kultus und Organisation. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, daß das Interesse für die Gemeinde überhaupt fehle.“ Ähnlich auch: E. Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen (1966) 31971, 65: „Eins der vielen überraschenden Merkmale unseres Evangeliums und vielleicht das überraschendste von allen ist, daß es keine explizite Ekklesiologie zu entwickeln scheint.“ Vgl. ebd. 87: „Es wäre töricht zu bestreiten, daß selbstverständlich auch Johannes eine Ekklesiologie vertritt. Diese ist aber nicht von den Formen kirchlicher Organisation entworfen. … Für Johannes ist die Kirche konstitutiv und ausschließlich die Gemeinschaft von Menschen, welche Jesu Wort hören und ihm glauben, also die Schar unter dem Worte.“ 14 Vgl. J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTK IV/1–2, Gütersloh (1979.1981) 31991. Dem Schaubild in Bd. 1, S. 60, zufolge habe der Evangelist besonderes Interesse am Dualismus und an einer Gesandten-Christologie, die so genannte „Kirchliche Redaktion“ an der Ekklesiologie. 15  Vgl. E. Käsemann, Jesu letzter Wille (s. Anm. 13). Gleichwohl ist die These eines vorgängigen, kosmologischen Dualismus im Johannesevangelium (vgl. Ders., ebd. 116: „In Wahrheit gilt nach Johannes die christliche Sendung auch nicht der Welt als solcher …“) zurückzuweisen: vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 5), 241–245; H. Weder, Die Menschwerdung Gottes. Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6 (1985), in: Ders., Einblicke in das Evangelium, Göttingen 1992, 363–400, vgl. ebd. 398: „Demzufolge ist es angemessen, das inkarnatorische Denken des Johannesevangeliums als eine hermeneutische Anweisung zu dessen Auslegung zu betrachten.“ 16  Vgl. C. F. D.  Moule, The Individualism of the Fourth Gospel, NT 5 (1962), 171–190; E. Schweizer, Der Kirchenbegriff im Evangelium und den Briefen des Johannes (1959), in: Ders., Neotestamentica, Zürich / ​Stuttgart 1963, 254–271. Von E. Schweizer beeinflusst – gleichwohl moderater – ist J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993, 299– 302 (s. u. 2.2). – Kritisch zu dieser Position R. E.  Brown, The Gospel according to John, AncB 29/29a, New York 1966.1970, CVIII–CXI; R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 5), 237–241. 17 Vgl. neben den unter 2 ausführlicher vorgestellten Autoren bes.: R. Schnackenburg, Die Kirche im Neuen Testament. Ihre Wirklichkeit und theologische Deutung, ihr Wesen und Geheimnis, QD 14, Freiburg i. Br. 1961, 93–106; Ders., Das Johannesevangelium (s. Anm. 5), I 143– 146.529; III 237–245.479 (Lit.); R. E.  Brown, John 1 (s. Anm. 16) CV–CXIV; G. Richter, Zum gemeindebildenden Element in den johanneischen Schriften (1976), in: Ders., Studien zum Johannesevangelium, BU 13, hg. v. J. Hainz, Regensburg 1977 (Frankfurt 21990), 383–415; H. Klein, Gemeinschaft (s. Anm. 12). C. K.  Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK Sonderband, Göttingen 1990 (engl. London 21978), hier 107: „Joh zeigt jedoch mehr als irgendein anderer Evangelist ein Wissen um die Existenz der Kirche.“

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1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

Die folgenden drei Überblicke reflektieren exemplarisch den gegenwärtigen Stand der Forschung: 2.1  H.-J. Klauck Nach einem einleitenden Überblick über die geschichtliche Entwicklung des johanneischen Gemeindeverbandes mit den beiden Schismen18 (Synagogenausschluss in Transjordanien; innerjohanneisches Schisma in Ephesus)19 fragt H.J. Klauck nach Strukturmomenten innerhalb des johanneischen Christentums: (a) Joh 13,16 (vgl. Mt 10,24 par Lk 6,40) und 13,20 (vgl. Mt 10,40 par Lk 10,16) weisen auf die Existenz von Wandermissionaren, die den Kontakt zwischen den Hausgemeinden halten, hin. In 13,16 begegnet als einziges Mal im Corpus Johanneum ἀπόστολος, „ein wandernder Bote, der von einer Gemeinde zur Verkündigung ausgesandt wurde (vgl. die ἀπόστολοι ἐκκλησιῶν 2 Kor 8,23) und der sich selbst als Bote des erhöhten Herrn versteht.“20 Einen sozialgeschichtlichen Sitz im Leben des jesuanischen Regelwortes in 13,20 sieht H.-J. Klauck in der Gastfreundschaft,21 auf die die Wandermissionare angewiesen waren (vgl. 3 Joh 5–8) und die, wie 2 und 3 Joh zeigen, entsprechend instrumentalisiert wird (vgl. 2 Joh 10 f; 3 Joh 9 f ).22 Die hohe Gewichtung der persönlichen Begegnung zwischen Jesus und einzelnen Menschen im Johannesevangelium (vgl. exemplarisch Joh 3; 4 und 9) und das „Prinzip der Kettenreaktion“ (vgl. Joh 1,35–5123) spiegeln die schwierige Missionssituation und ‑praxis der johanneischen Gemeinde und ihrer Wandermissionare wider. (b) In den johanneischen Gemeinden gab es neben den Wandermissionaren (vgl. „Brüder“ in 3 Joh) Lehrer, die zum engeren Kreis der johanneischen Schule gehören und nach dem Vorbild des Lehrers Jesus (vgl. Joh 1,38; 3,2; 6,59; 7,14.28; 8,20; 11,28; 13,13 f; 18,20; 20,16) und ihrem Selbstverständnis nach im Dienste der 18  Vgl. H.-J. Klauck, Gemeinde (s. Anm. 4) (Lit.). Vgl. auch die weiteren Stellungnahmen von H.-J. Klauck: Ders., Gespaltene Gemeinde. Der Umgang mit den Sezessionisten im ersten Johannesbrief (1988), ebd. 59–68; Ders., Kirche als Freundesgemeinschaft? (1991), in: Ders., Gemeinde zwischen Haus und Stadt, Freiburg i. Br. 1992, 95–123; Ders., Volk Gottes und Leib Christi, oder: Von der kommunikativen Kraft der Bilder (1994), in: Ders. Alte Welt und neuer Glaube. Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments, NTOA 29, Freiburg/CH / ​Göttingen 1994, 277–301, hier 297 f. 19  Vgl. H.-J. Klauck, Gemeinde (s. Anm. 4), 199–203. 20  Ebd. 204. 21  Zur Gastfreundschaft vgl. auch die Ausführungen bei H.-J. Klauck, Der zweite und dritte Johannesbrief, EKK XXIII/2, Neukirchen-Vluyn 1992, 86–97; K. O.  Sandnes, A New Family. Conversion and Ecclesiology in the Early Church with Cross-Cultural Comparisons, SIGC 91, Frankfurt a. M. 1994, 147–170. 22  „Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß das gleiche Verfahren, das 2 Joh 10 Boten der Abweichler gegenüber empfiehlt, als grobe Ungerechtigkeit empfunden wird , wo es die eigenen Leute trifft.“ (H.-J. Klauck, Gemeinde [s. Anm. 4], 205). 23 Zu einer einleitenden Auslegung von Joh 1,35–51, vgl. K. Scholtissek, „Rabbi, wo wohnst du?“, S. 441–458, in diesem Band.

2.  Neuere Überblicke zur johanneischen Ekklesiologie

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Parakletverheißung 14,26 selbst lehren und tradieren (vgl. programmatisch 1 Joh 1,1–4). (c) Anhaltspunkte im Text ergeben sich zudem für die Annahme, dass es Propheten in der johanneischen Gemeinde gegeben hat (vgl. Joh 4,19; 16,8.13; 1 Joh 4,1[ex negativo]; vgl. auch das prophetische Selbstverständnis des Verfassers der Johannesapokalypse nach Offb 1,1–3; 21,6–21).24 (d) Zur johanneischen Schule gehören neben dem Lieblingsjünger und dem Evangelisten auch der „Presbyter“, der den 2. und 3. Johannesbrief geschrieben hat (vgl. 2 Joh 1; 3 Joh 1). Er steht in der „geistlichen Sukzession“ der johanneischen Schule.25 (e) Joh 4,1–42, 11,20–27; 12,2; 19,25–27; 20,11–18 zeigen, dass Frauen in der missionarischen Verkündigung und dem Prophetendienst der Gemeinde „länger als in anderen urchristlichen Traditionsbereichen“26 beteiligt waren. Herausragende Kristallisationspunkte des ekklesialen Selbstverständnisses der johanneischen Christen sind der Lieblingsjünger und der Paraklet:27 (a) Der Lieblingsjünger ist der Gründer der johanneischen Gemeinde und ihr Schulhaupt; er wird mit höchster theologischer Autorität versehen (vgl. die Parallele zwischen 1,18 und 13,23): Ist der menschgewordene Logos der einzige Exeget Gottes, so der Lieblingsjünger der Exeget Jesu par exellance. „Der Lieblingsjünger ist nach Ostern für die Gemeinde der autorisierte Interpret des Jesusereignisses.“28 (b) In den johanneischen Parakletsprüchen werden viele Tätigkeitsmerkmale Jesu auf das nachösterliche Wirken des Geistes übertragen, „ja, er verkörpert im Grunde nichts anderes als die ständige Präsenz und Wirkweise des erhöhten Herrn in seiner Gemeinde (vgl. 14,16 f mit 14,18 f ).“29 Die konkrete Artikulation des Geistwirkens vollzieht sich nach johanneischer Auffassung nachösterlich im Zeugnis des Lieblingsjüngers und der an ihn anschließenden johanneischen Schule. Dabei setzt die nachösterliche, pneumatischinspirierte Verkündigung das Wirken Jesu fort (vgl. ἀναγγέλλειν ausgesagt von Jesus: 4,25; 16,25; vom Parakleten: 16,13–15; von den Schülern des Lieblingsjüngers: 1 Joh 1,1–4).30 24  Zu Rückschlüssen auf prophetische Züge in der johanneischen Gemeinde vgl. auch: J. Becker, Aus der Literatur zum Johannesevangelium (1978–1980), ThR 47 (1982), 305–347, hier: 333–335. 25  Vgl. die vorsichtige Formulierung von H.-J. Klauck, Gemeinde (s. Anm. 4), 209: „Es ist vielleicht erlaubt, von geistlicher Sukzession zu sprechen.“ J. Gnilka spricht vom Presbyter in 2 und 3 Joh vom „Bürgen der Tradition“ (in: Ders., Theologie des Neuen Testaments, HThKNT.S 5, Freiburg i. Br. 1994, 311). 26 H.-J. Klauck, Gemeinde (s. Anm. 4), 212. 27 Vgl. ebd. 212–217. 28  Ebd. 214. 29  Ebd. 214. 30 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang besonders auch auf das Motiv des Zeugnisgebens: In der johanneischen Darstellung gibt es ein signifikantes Zeugniskontinuum zwischen den verschiedenen Subjekten der Martyria: Johannes dem Täufer (vgl. 1,7 f.15.19–34; 3,26; 5,31–47),

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1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

Festzuhalten ist, dass die Traditionsträger und die johanneische Gemeinde „nie wirklich auseinandertreten, sondern von Anfang bis Ende Christusunmittelbarkeit und Geistbegabung jedes einzelnen Gläubigen peinlich genau bewahrt bleiben.“31 In der Zuordnung des Lieblingsjüngers zu Simon Petrus in Joh 13; 20 und 21 und in der Konkurrenz zwischen dem „Presbyter“ und Diotrephes (vgl. 3 Joh) lässt sich ablesen, wie die johanneische Gemeinde den „Leitungsanspruch, den ‚pastoralen Primat‘ der petrinischen Kirche“32 akzeptierte.33 2.2  J. Roloff In seiner Darstellung des johanneischen Kirchenbildes als „Gemeinschaft der Freunde Jesu“34 spricht J. Roloff von einer „indirekten“ und „rudimentären“ Ekklesiologie des Johannesevangeliums,35 die die geschichtliche Entwicklung einer christlichen Gruppe dokumentiere. Anders als H.-J. Klauck lehnt er eine Unterscheidung zwischen der johanneischen Gemeinde insgesamt und der johanneischen Schule ab:36 „Faktisch mag der eigentliche Schulbetrieb im Wesentlichen von einer kleineren Zahl von Lehrern bestimmt und getragen worden sein, doch wird nirgends ein besonderer Lehrerstand sichtbar, und auch sonst fehlt jeder Hinweis auf eine Unterscheidung zwischen Trägern und Empfängern von Lehre. Alle Glieder waren ihrem Selbstverständnis nach gleichermaßen Teilhaber an einem vom Lieblingsjünger begründeten, durch den Parakleten ermöglichten Prozess wechselseitigen Lehrens und Lernens, der sie immer tiefer in die Wahrheit Jesu hineinführte.“37

Gestaltgebender Ursprung der Kirche sei nach johanneischer Darstellung weder die vorösterliche Jüngerschaft als Vorbild der Gemeinde (vgl. Matthäus) noch die geschichtliche Einbindung der Kirche als Chance und Herausforderung für die

Jesus bzw. seine Werke (vgl. 3, 11.31 f; 5,31–40; 7 ,7; 8, 12‑ 20; 18,37), „der Vater“ (vgl. 5,19–23.32.37; 8,12–20; 10,25; 1 Joh 5,9 f ), die Schrift bzw. Mose (vgl. 1,45; 5,39.45–47), der Paraklet (vgl. 15,26 f; 1 Joh 5,6), der Lieblingsjünger (vgl. 19,35; 21,24) und seine Schule (vgl. nur 1 Joh 1,1–4; 4,14) bzw. die Jünger Jesu (vgl. 15,26 f; 3 Joh 3.6.12), die Samariterin (4,39). Vgl. ausführlich: J. Beutler, Martyria. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Zeugnisthema bei Johannes, FThS 10, Frankfurt a. M. 1972. Vgl. hierzu einführend K. M.  Woschitz, Art. „Zeugnis“, Bibeltheologisches Wörterbuch, Graz 41994, 611–614; vgl. ebd. 614: „Zeugnisgehen ist nach johanneischem Verständnis das konstante Element der Ekklesiologie, die nota ecclesiae.“ 31 Ebd. 215. 32 Ebd. 218. 33 Vgl. ebd. 220: „Mit einer amtlich verfaßten Gemeindeordnung hat man sich erst abgefunden, als man sich unter dem Druck der Ereignisse der petrinischen Kirche anschloß und auf Dauer in der Großkirche aufging.“ 34  Vgl. J. Roloff, Kirche (s. Anm. 6), 290–309: „XI. Die Gemeinschaft der Freunde Jesu: Die joh Schriften“. 35  Vgl. ebd. 291.309. 36  Das emphatische „wir“ insbesondere in 1 Joh findet bei J. Roloff keine Berücksichtigung. 37  Ebd. 293.

2.  Neuere Überblicke zur johanneischen Ekklesiologie

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Bewährung der Identität (vgl. Lukas),38 sondern der nachösterlich neue, geistgewirkte christologische Glaubensstandort (vgl. 2,21 f; 20,22). Das Gewicht der Aussagen über das Wirken des Parakleten liege „nicht auf der Weitergabe und Bewahrung des Zeugnisses von der Offenbarung, sondern auf der gegenwärtigen pneumatischen Bezeugung der Wirklichkeit dieser Offenbarung.“39 Mit der Annahme des Geistbesitzes aller Glaubenden (vgl. 1 Joh 2,20 f.27) werde „jede Lehrautorität innerhalb der Gemeinde für überflüssig erklärt“40. In gewisser Analogie zur Deutung des Parakletwirkens im Johannesevangelium sieht J. Roloff den Lieblingsjünger nicht in erster Linie als Tradent von Überlieferungen über Jesus, sondern als vollmächtigen Interpreten der Geschichte Jesu. Daraus leite die johanneische Gruppe eine weitgehende Exklusivität ab, die sie „dem Normaltyp kirchlichen Christentums“ überlegen erscheinen lasse.41 Die Kirche sei im johanneischen Verständnis eine Funktion der Christusgemeinschaft der einzelnen Glaubenden, erst als Folge des Indikativs komme mit dem Liebesgebot als Imperativ die gemeinschaftliche Dimension des Glaubens in den Blick.42 Johannes betone in 10,11–16 und 15,1–8 jeweils nur die individuelle Bindung zwischen Christus und dem je einzelnen Christen. Anders als bei dem paulinischen Leib-Christi Motiv „komme die Gemeinschaft der Christen untereinander“43 in Joh 15 nicht in den Blick. Anders als in Lk 15,3–7 sei in Joh 10,11–16 „an die Stelle des dort geschilderten dynamischen Vorgangs, der vom Gedanken der Sammlung des als Herde Gottes verstandenen Gottesvolkes beherrscht wird, … hier eine überraschende Statik getreten.“44 Solche Individualisierung schlage sich auch im johanneischen Einheitsverständnis nieder.45 Im Johannesevangelium werde die heilsgeschichtliche Prärogative Israels zwar nicht geleugnet, sie werde jedoch „entwirklicht“46. „So ist der Gedanke der Heilsgeschichte bis auf Rudimente preisgegeben.“47 38  J. Roloff konstatiert: „Johannes hingegen scheint vom Problem der Geschichte völlig unberührt zu sein; sie ist für ihn weder Chance noch Herausforderung“ (ebd. 294). Vgl. hierzu jedoch die gegenläufige Position von H. Weder, Menschwerdung (s. Anm. 15). 39  J. Roloff, Kirche (s. Anm. 6), 296. 40  Ebd. 297. 41  Vgl. ebd. 297–299. 42  Vgl. ebd. 299–302. 43  Ebd. 300. 44  Ebd. 45  Vgl. ebd. 307–309. Vgl. ebd. 308: „Zugespitzt gesagt: zur joh Einheit gehört wesenhaft die Exklusivität; sie ist Einheit in der Abgrenzung.“ So legt er auch Joh 17,21 „damit alle eins sind“ aus: „Denn der joh Einheitsgedanke hat eine andere Blickrichtung als die heutige ökumenische Bewegung: Hinter ihm steht keineswegs das Programm der Sammlung des weltweiten Volkes Gottes zur sichtbaren geschichtlichen Einheit gemeinsamen Bekennens und Bezeugens; er will vielmehr das Selbstverständnis einer kleinen Gruppe von wahrhaft Glaubenden in Abgrenzung gegenüber der Welt und in Distanz gegenüber der Geschichte artikulieren“ (309). 46  Ebd. 305. 47  Ebd. 306.

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1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

2.3  J. Gnilka Die „ekklesiologischen Themen“ im Johannesevangelium48 leitet J. Gnilka mit der johanneischen Verhältnisbestimmung zu Israel ein: Jesus ist in seinem irdischen Wirken zu Israel gesandt, die universale Heidenmission ist erst nachösterlich möglich (vgl. 1,47.49; 4,9.22; 10,16; 11,50–5249; 12,20–24; 17,20). Die Bilder vom Zusammenführen der Herde und der Sammlung der verstreuten Kinder Gottes betont die Einheit der neuen Versammlung, die vielfach bedroht ist. Die Bildreden vom Hirten (Joh 10; vgl. die Wiederaufnahme in 21,15–17) und dem Weinstock (Joh 15) lassen „die Vorrangigkeit des Gottesvolk-Gedankens“50 erkennen – auch wenn sie christologisch orientiert sind und das Verhältnis des Einzelnen zu Christus herausstellen. Die johanneische Darstellung erkennt Simon Petrus zwar die größere Autorität zu, dem Lieblingsjünger aber das persönlichere Verhältnis zu Jesus. In den „Wir“-Aussagen der johanneischen Schule (vgl. Joh 21,24; 1 Joh passim) wird ein Bogen gespannt, „der von der Vergangenheit des Anfangs zur Gegenwart der Verkündigung geschlagen wird.“51 So entwickele die johanneische Schule „eine Pflege und Kultur der Tradition“52, die die richtige Lehre gegen Irrlehrer zu verteidigen beansprucht. In johanneischem Verständnis ist die über die Christusgemeinschaft begründete Gemeinschaft mit Gott vermittelte und unvermittelte Koinonia: (a) Einerseits gilt: „Was wir gesehen und gehört haben, verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns. Und unsere Gemeinschaft aber (ist Gemeinschaft) mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.“ Gemeinschaft kommt durch die Annahme der Verkündigung zustande und schafft so auch Gemeinschaft mit den Verkündigern. „Die in der Vermittlung der Lehre, der Tradition in einem umgreifenden Sinn Tätigen üben einen Dienst, ein Amt in der Gemeinde aus, wenngleich eine Bezeichnung des Amtes, ein Amtsname fehlt.“53 (b) Andererseits gibt es aufgrund der Salbung (vgl. 1 Joh 2,20 f.26 f ) eine unmittelbare Weise der Glaubenseinsicht: Die Geistbegabung „belehrt sie in allem, bewahrt sie vor der Lüge, dem Irrtum. Sie bedürfen darum keiner Lehrer.“54 Charakteristisch für das johanneische Gemeindeverständnis ist das „Hervortreten von Frauen“: Das ausgeprägte Bewusstsein von der allgemeinen Geist48 Vgl.

J. Gnilka, Theologie (s. Anm. 25), 303–324 (Lit.) 11,50–52 beziehe sich ἔθνος auf das alte Gottesvolk Israel, λάος aber „auf das Gottesvolk, das den in eins versammelten Kindern entspricht“ (ebd. 305). 50 Ebd. 306. 51 Ebd. 309. 52  Ebd. 309 f. 53  Ebd. 310. Vgl. auch R. Bultmann, Die drei Johannesbriefe, KEK XIV, Göttingen 21969, 17: Wir, das „sind diejenigen, denen die Aufgabe des ἀπαγγέλλειν und μαρτυρεῖν zufällt, also die Träger der Tradition“. Es „zeigt sich, daß der Verfasser des Schreibens sich seiner persönlichen Autorität bewußt ist, und zwar als Vertreter der Träger von Tradition“. 54  J. Gnilka, Theologie (s. Anm. 25), 310. 49 In

3.  Momentaufnahmen zum johanneischen Jüngerverständnis

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begabung aller Männer und Frauen lässt die Frau als aktiv am Gemeindeleben Beteiligte neben den Mann treten.55 In der Auslegung von Joh 19,25–27 betont J. Gnilka einerseits, dass Maria stellvertretend stehe für jene, die vom Gekreuzigten das Heil erwarten bzw. angesichts des Kreuzes zum Glauben kommen und von Jesus an den Lieblingsjünger, und mit ihm an das Evangelium, verwiesen werden,56 und andererseits die neue MutterSohn-Beziehung, die in der Wirkungsgeschichte im Sinne einer geistigen Mutterschaft Mariens für alle Glaubenden gedeutet wurde.

3.  Momentaufnahmen zum johanneischen Jüngerverständnis (1) R. Schnackenburgs Durchsicht57 zu den 78 Vorkommen von μαθητής im Johannesevangelium kommt zu folgenden Schlussfolgerungen: Die Jünger Jesu  – im Gegenüber zu den „Jüngern des Mose“ (9,27 f )58  – repräsentieren (a) „die Glaubenden, die Jesus durch sein Wort und seine Zeichen gewinnt“, (b) „die spätere Gemeinde im Gegenüber zur ungläubigen Judenschaft“ und (c) „die späteren Gläubigen … in ihrer Angefochtenheit und unzulänglichen Glaubenshaltung.“59 In diesem Sinne ist der Jüngerbegriff ausgeweitet (vgl. 8,12.31.51). Die Gemeinde ist begründet im Offenbarungsgeschehen, das im Kreuzestod Jesu gipfelt und die universale Evangeliumsverkündigung freisetzt (vgl. 4,1–42; 7,35; 10,1660; 11,52 [οὐχ ὑπὲρ τοῦ ἔθνους μόνον ἀλλ’ ἵνα καὶ τὰ τέκνα τοῦ θεοῦ τὰ

55 Vgl. ebd. 312. Vgl. auch: A. LINK, Botschafterinnen des Messias. Die Frauen des vierten Evangeliums im Spiegel johanneischer Redaktionsgeschichte, in: J. Hainz (Hg.), Theologie im Werden. Studien zu theologischen Konzeptionen im Neuen Testament, Paderborn 1992, 247–278. 56 So auch die Auslegung von H. Schürmann, Jesu letzte Weisung Joh 19,26–27c, in: Ders., Ursprung und Gestalt. Erörterungen und Besinnungen zum Neuen Testament, KBA NT, Düsseldorf 1970, 13–29; vgl. auch K. Kertelge, Maria, die Mutter Jesu, in der Heiligen Schrift. Ein Beitrag zum ökumenischen und innerkatholischen Gespräch, Cath 40 (1986), 253–269, hier: 264 f. 57 Vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 5), 233–237. 58  In der Antwort des Geheilten auf die wiederholte Frage der Pharisäer (vgl. 9,13–16) bzw. der Juden (vgl. 9, 18.22), nach dem Wundertäter und der Art des Heilens (vgl. 9, 10.12.15–17​.19.21.24 ff ), spiegelt sich die wiederholte ungläubige bzw. verstockte Ablehnung der Botschaft, hier von den σημεῖα Jesu: εἶπον ὑμῖν ἥδη καὶ οὐκ ἠκούσατε τί πάλιν θέλετε ἀκούειν (9,27). Dies hat Jesus erfahren (vgl. nur 18,20 f ) und dies haben und werden seine Jünger nachösterlich erfahren (vgl. nur 15,18–24). 59  Ebd. 234 f. 60 Vgl. H. Klein, Gemeinschaft (s. Anm. 12), 63 f: „Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die ‚Schafe der anderen Hürde‘ die Missionsgemeinden aus der Welt des Heidentums sind, und diese Sicht legt auch 11,52 nahe …“. Vgl. auch die Ausführungen von J. Frey, Heiden – Griechen – Gotteskinder. Zu Gehalt und Funktion der Rede von den Heiden im 4. Evangelium, in: R. Feldmeier / ​U. Heckel (Hgg.), Die Heiden. Juden, Christen und das Problem des Fremden, WUNT 70, Tübingen 1994, 228–268. J. Frey nimmt an, dass die „Hellenen“ in 7,35 und 12,20 f nicht nur allgemein die Repräsentanten der Heidenwelt, sondern „Chiffre für die kleinasiatischen Adressaten des Evangeliums“ sind (vgl. ebd. 263).

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1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

διεσκορπισμένα συναγάγῃ εἰς ἕν]61; 12,20–26 [bes. V. 23 f ]; [gr: νυ] 17,2062; 19,30; 21,11).63 (2) Ein Proprium Johanneum64 ist die Bezeichnung der Jünger Jesu als οἱ ἴδιοι in 10,4 und 13,1 (vgl. 10,3 [τὰ ἴδια πρόβατα].12[τὰ πρόβατα ἴδια].14 [τὰ ἐμὰ [bis].27]; vgl. 17,6.9 f ). Mit diesen Umschreibungen werden die Vertrautheit und Verbundenheit zwischen Jesus und seinen Jüngern benannt. Sachlich vorgeordnet ist dieser Beziehung zwischen Jesus und seinen Jüngern die Vertrautheit und Verbundenheit Jesu mit seinem Vater (vgl. 5,18: ἀλλὰ καὶ πατέρα ἴδιον ἔλεγεν τὸν θεὸν; vgl. die Spitzenaussage 10,30). Die johanneische Verwendung von ἴδιος65 partizipiert an dem zeitgenössischen Sprachgebrauch66; zugleich spiegelt sich darin das übergreifende Verständnis des Evangelisten (a) von der Sendung des Logos in sein Eigentum (1,11)67, (b) von der vielfachen Ablehnung Jesu durch die in sich selbst verliebte ‚Welt‘ (vgl. 1,11; 7,18; 15,19) und (c) von der Annahme des Gesandten (vgl. 1,12 f ) bzw. von der gehorsamen Annahme Marias durch den Lieblingsjünger εἰς τὰ ἴδια (19,27). Im Neuen Testament begegnet εἰς τὰ ἴδια nur in Joh 1,11; 16,3268 und 19,27. Die Deutung von εἰς τὰ ἴδια und οἱ ἴδιοι69 in 1,11 ist umstritten: Beziehen sie sich (polemisch?) auf das Eigentumsvolk Gottes bzw. die Israeliten70 oder in einem 61  Zur Auslegung von 11,52 vgl. J. Frey, Heiden (s. Anm. 60), 243–245, hier 245: In 11,52 „ist eben nicht von einer Hinzuführung ehemaliger Heiden zu dem schon bestehen den Gottesvolk die Rede, sondern von einer ‚Zusammenführung‘ von bislang Zerstreuten zu der Einheit (συνάγειν εἰς ἕν).“ Vgl. vor ihm schon R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 5), 451 f; J. Roloff, Kirche (s. Anm. 16), 306. – Zu den möglichen alttestamentlichen Bezugstexten in 11,52 ist neben den bei R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 5), 451 Anm. 4, und J. Frey, Heiden (s. Anm. 60), 244 Anm. 70, genannten auch Jer 31,11 bzw. LXX Jer 38,10 zu nennen, wo zugleich von der Zerstreuung (LXX: λικμήσας) und der Sammlung (συνάξει) Israels durch Gott, und Gottes Bewachen (φυλάξει; vgl. Job 17,12) und Hirtesein (βόσκων; ποίμνιον; vgl. Joh 10) die Rede ist. 62 Zum johanneischen Einheitsdenken im Ausgang von 17,20–26 vgl. M.-Th. Sprecher, Einheitsdenken aus der Perspektive von Joh 17. Eine exegetische und bibeltheologische Untersuchung von Joh 17,20–26, EHS 23.495, Frankfurt a. M. 1993. 63 Vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 5), 241–245. Vgl. auch D. Rusam, Die Gemeinschaft der Kinder Gottes. Das Motiv der Gotteskindschaft und die Gemeinde der johanneischen Briefe, BWANT 133, Stuttgart 1993, 157: „Nach Anschauung des Johannesevangeliums ist es erst nach Jesu Tod, also nach dem Abschluß des Offenbarungswirkens Jesu möglich, die Gemeinden zu sammeln, Kind Gottes zu werden (Joh 3,14–16; 11,52).“ 64  Vgl. aber auch Apg 4,23; 24,23. 65  Vgl. 1,11[bis].41; 4,44; 5,18.43; 7,18; 8,44; 10,3.4.12; 13,1; 15,19; 16,32; 19,27. 66  Vgl. H.-W. Bartsch, Art. „ἴδιος“, EWNT II (21992), 420–423. 67  Auch diese Aussage schließt einen strengen kosmologischen Dualismus im Johannesevangelium aus. 68  Zwischen 11,52 und 16,32 gibt es eine spiegelbildliche Umkehrung: Die durch den stellvertretenden Tod Jesu begründete Sammlung der versprengten Kinder Gottes in eins (τὰ τέκνα τοῦ θεοῦ τὰ διεσκορπισμένα συναγάγῃ εἰς ἕν) kehrt auch das Verstreutwerden aller Jünger in das Eigene (σκορπισθῆτε ἔκαστος εἰς τὰ ἴδια) in der „Stunde“ (!), in der ihn die Jünger zwar allein lassen, der Vater aber bei ihm ist (vgl. 16,32), um. 69  Bei W. Bauer, Wörterbuch (61988) 752, finden sich folgende Grundbedeutungen: die Kampfgenossen, die Glaubensgenossen, die Jünger, die Angehörigen. 70  So u. a. C. K.  Barrett, Job (s. Anm. 17), 107 f; R. E. BROWN, John 1 (s. Anm. 16)m 10.29.

3.  Momentaufnahmen zum johanneischen Jüngerverständnis

217

weiteren Sinne auf alle Menschen,71 sofern sie den fleischgewordenen Logos ablehnen? R. Schnackenburg übersetzt εἰς τὰ ἴδια mit „in sein Eigentum“ 72 und lässt beide Verstehensmöglichkeiten für οἱ ἴδιοι gelten.73 Die Verse 1,12 f  – wohl ein redaktioneller Einschub des Evangelisten74  – bilden eine bewusste Antithese zu 1,11. Der Nichtaufnahme des Logos in 1,11 (οὐ παρέλαβον) wird die Aufnahme des Logos in 1,12 f (ὃσοι δὲ ἒλαβον …) gegenübergestellt. Ihnen gab er „Vollmacht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blute, nicht aus dem Begehren des Fleisches, nicht aus dem Begehren des Mannes, sondern aus Gott gezeugt sind“. In 1,22 und 1,12 f ist in nuce das Geschick der Sendung des Gottessohnes, das im Evangelium narrativ entfaltet wird, zusammengefasst und gedeutet.75 Den „Seinen“ in 1,11 werden die in 1,12 f ausführlich charakterisierten „Kinder Gottes“ gegenübergestellt. Das soteriologische Ziel der Sendung des Logos ist es, den Glaubenden die Vollmacht zu geben, Kinder Gottes zu werden. Solche Gotteskindschaft ist im vollen Sinne erst nachösterlich in der Taufe möglich und ein unverfügbares Gnadengeschenk (vgl. 1,13; 3,1–21). (3) H. Klein hat eine Unterscheidung im Johannesevangelium aufzuweisen versucht: Während mit „den Jüngern“ die Repräsentanten der Christen aus den Juden gemeint seien, sei der Begriff „Kinder Gottes“ umfassender, da er nachösterlich Juden und Heiden, die an Christus glauben und in seinem Wort bleiben, zusammenschließe.76 Gleichwohl gibt es Textstellen, die auch μαθητής ‚universal‘ definieren (vgl. nur 8,12.31.51),77 so dass die Beobachtung von H. Klein eher ein traditionsgeschichtliches als ein redaktionsgeschichtliches Recht haben wird. (4) F. J.  Moloney verdankt die Johannesforschung den eindrucksvollen Versuch, die johanneische Passionserzählung, hier genauerhin 18,15–27, nicht nur

71   So u. a. J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, GSL.NT IV/la, Düsseldorf 1981, 94; J. Gnilka, Theologie (s. Anm. 25), 304. 72  Vgl. R. Schnackenburg, Joh I (s. Anm. 5), 208.235 f. 73  Vgl. ebd. 236. 74  Vgl. ebd. 203. J. Becker hingegen erklärt die Verse 1,11.12ab für vorjohanneisch und meint, der Evangelist habe kein Interesse mehr an den schöpfungstheologischen Aussagen des ihm überkommenen Hymnus gehabt. J. Becker spricht gar von der „Penetranz“, mit der der Evangelist „davon schweigt, daß die Welt göttliche Schöpfung ist“ (in: Ders. Das Evangelium nach Johannes [ÖTK IV/1], Gütersloh 31991, 93). Auch die Aussage „Aber E hat mit keinem Wort angezeigt, daß er sich um 1,14a überhaupt gekümmert hat. Würde das Thema V. 14 nicht im Joh stehen, würde niemand etwas vermissen“ (ebd. 96) ist m. E. nicht wirklich begründet. 75  Auch diese kleine Beobachtung bekräftigt die Annahme, dass der Prolog als Leseanweisung und hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis des ganzen Johannesevangeliums zu interpretieren ist. Dies gilt unabhängig davon, ob man mit einer sekundären Vorschaltung des Prologes vor das Corpus Evangelii rechnet (vgl. M. Theobald, Die Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh, NTA.NF 20, Münster 1988) oder nicht. 76  Vgl. H. Klein, Gemeinschaft (s. Anm. 12), 59–65. 77  Hierzu R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 5), 236.

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1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

christologisch-soteriologisch, sondern auch ekklesiologisch zu lesen.78 Dazu fragt er (unter Voraussetzung der Einheitlichkeit und Kohärenz der vorliegenden Textgestalt)79 nach der Erzählstrategie, die der Schachtelung in 18,15–18 (Simon Petrus und der ‚andere Jünger‘, erster Verrat); 18,19–24 (Jesus vor Hannas) und 18,25 ‑27 (zweiter und dritter Verrat) zugrunde liegt. (a) In 18,15–18, „a story of discipleship denied“80, wird μαθητής viermal, und Πέτρος neunmal erwähnt. Dies zeigt das Interesse des Erzählers an der Jüngerthematik. (b) In der kontrastierenden Szene 18,19–24 wird Jesus nicht zufällig in der indirekten Wiedergabe des Erzählers (!) „über seine Jünger und seine Lehre“ (18,19) befragt. Anders als Petrus gibt Jesus wahrheitsgemäß Auskunft über seine Lehre: Er hat vor aller Welt offen gesprochen (ἐγὼ παρρησίᾳ λελάληκα τῷ κόσμῷ), „immer“ in der Synagoge und im Tempel gelehrt, so dass „alle Juden“ ihn hören konnten (vgl. 18,20). Und er gibt Auskunft über seine Jünger. Diese können die Frage des Hohenpriesters beantworten: „Frag doch jene, die gehört haben (τοὺς ἀκηκοότας), was ich zu ihnen gesprochen habe! Diese wissen, was ich gesagt habe“ (18,21).81 Damit trifft Jesus eine grundsätzliche Aussage, die über die konkrete Szenerie hinaus Gültigkeit besitzt: „Anyone who wishes to hear the teaching of Jesus will find it among his disciples.“82 (c) In 18,28–32 ist mit Petrus erneut die verratene Jüngerschaft thematisiert. Mit der dritten Verleugnung erfüllt Petrus die Vorhersage Jesu in 13,38, was auch für die ‚Vorhersage‘ Jesu in 18,21 Vertrauen schaffe: „Those who have heard Jesus, those who know what he said, may be capable of betraying and denying him, but Jesus’s promises come true.“83

78  Vgl. F. J.  Moloney, John 18:15–27: A Johannine View of the Church, DR 112 (1994), 231–248. Vgl. seine originelle, konzentrische Gliederung (ebd. 240): 18,1–11: Jesus in a garden: with his enemies 18,12–27: The Jewish interrogation. The Johannine Church 18,28–19,16: The Trial before Jesus: Jesus as King 19,17–37: The cruxification. The Johannine Church 19,38–42: Jesus in a garden: with his friends. 79  Vgl. zur Deutung der Inkohärenzen in 18,12–27 und zur Diskussion von Lösungsvorschlägen die Ausführungen von R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 5), 258–264. 80  F. J.  Moloney, View (s. Anm. 78), 233. 81  Die Auslegung von F. J.  Moloney wird abgesichert, wenn beachtet wird: Mit den Verben ἀκούειν und οἶδα in 18,21 sind zentrale johanneische Signalwörter aufgerufen, die das johanneische Leitthema der gläubigen Annahme der Offenbarung Jesu bzw. ihrer ungläubigen Ablehnung reflektieren: vgl. zu ἀκούειν u. a.: 1,37.40; 3,32; 4,42 [αὐτοὶ γὰρ ἀκηκόαμεν καὶ οἴδαμεν ὅτι οὗτός ἐστιν ἀληθῶς ὁ σωτὴρ τοῦ κόσμου]; 5,24 f; 6,45; 8,38.40.43.47; 9,27 .31; 10,3.8.16.27; 12,47; 14,24; 15,15; 18,37 1 Joh 1,1–5; 4,6; 5, 14 f; 2 Joh 6. Vgl. zu οἶδα u. a.: 1,26.31.33; 3,2.11; 4, 10.22.25.32.42[!]; 7,27–29; 8,19.55; 9,29–31; 10,4 f; 12,35.50; 13,7.17; 14,4 f; 15,15[!).21; 20,9; 21,12.24. 82  Ebd. 236. 83  Ebd. 239.

4.  Familienmetaphorik im Johannesevangelium

219

Insbesondere mit Blick auf 19,25–27 in der Mitte der johanneischen Passionserzählung schlussfolgert F. J. Moloney: „The Johannine story of Jesus’s crucifixion is more about what Jesus does for the believer than what happened to Jesus.“84

4.  Familienmetaphorik im Johannesevangelium Ein vielversprechender Zugang zum johanneischen Bild von Gemeinde85 ist die Rezeption und Transposition biblischer Israel-Metaphorik: Insbesondere die beiden Bildreden vom guten Hirten und den Schafen (Joh 10,1–39; vgl. bes. Ez 3486) und vom wahren Weinstock (Joh 15,1–17; vgl. nur Jes 5,1–7; Hos 11,1; Jer 2,21; Ps 80,9–12.15 f; Sir 24,1787) sind bei allem christologischen Interesse auch ekklesiologisch relevant:88 Sie reflektieren die Verbundenheit und Vertrautheit, ja die reziproke Kenntnis (vgl. 10,14 f ) und Immanenz (vgl. 15,1–8) zwischen Jesus und „den Seinen“. Hierin gründet ihre ekklesiale Identität und Bestimmung (vgl. die Begründung des Liebesgebotes aus der gegenseitigen Immanenz in der Abfolge von 15,1–8 und 15,9–17). Erst die jüngere Forschung hat die Aufmerksamkeit auf ein bis dahin wenig beachtetes metaphorisches Feld mit ekklesiologischer Relevanz gerichtet: die Familienmetaphorik im Johannesevangelium. 4.1  Die neuere Forschung 4.1.1  M. W. G.  Stibbe Im Rahmen seines mehrfachen methodischen Ansatzes zur Analyse und Interpretation des Johannesevangeliums,89 der erzähltheoretische und rezeptionsgeschichtliche Einsichten mit der historischen Rückfrage zu verbinden sucht,90  Ebd. 240.  Andere Ansatzpunkte sind der johanneische Sendungsgedanke, der primär in der SendungsChristologie entfaltet wird, jedoch auch ekklesiologische Aussagen entbirgt, und das ZeugnisThema. 86 Zur Nähe von 10,1–39 und Ez 34 vgl. R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 5), 371 f; Ders., Joh III (s. Anm. 5), 238 f. Vgl. ebd. 239: „Jesus ist die Erfüllung dieser messianischen Verheißung, der messianische Hirt im Gegensatz zu den versagenden Führern des jüdischen Volkes; durch ihn greift Gott endgültig zur Rettung seines Volkes ein.“ 87  Zur Rezeption alttestamentlicher Metaphorik in Joh 15 vgl. R. Borig, Der wahre Weinstock. Untersuchungen zu Jo 15,1–8, München 1967; vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 5), 118–123. 88  „Die ohnedies soteriologisch bestimmte joh. Christologie gewinnt damit zugleich eine ekklesiologische Dimension“ (R. Schnackenburg, Joh III [s. Anm. 5], 239). 89 M. W. G.  Stibbe, John as Storyteller. Narrative Criticsm and the Fourth Gospel, MSSNTS 73, Cambridge 1992, bes. 50–66.148–167. 90  Der unvermittelte Überstieg von der narrativen Ebene des Johannesevangeliums in die historische Wirklichkeit des Lebens Jesu, den M. W. G. Stibbe zum Programm erhebt (vgl. ebd. 11 f.67–92.168–196), ist schon aus methodischen Gründen anzufechten. Vgl. hierzu die Rez. von H.-J. Klauck, BZ 37 (1993) 141–143. 84 85

220

1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

rekurriert M. W. G.  Stibbe innerhalb seiner soziologischen Lektüre von Joh 18 und 19 auch auf „ecclesial imagery in the Johannine passion account.“91 Zu den Versen Joh 19,25–27, denen es sich am ausführlichsten widmet, führt er aus: „Here Jesus fulfills ‚the last office of filial piety‘ (…) by creating a new family … Both ideas, that of succession and that of the adoption, are present in 19.25–7.“92 M. W. G. Stibbe weist auf die Wortverbindungen zwischen 19,25–27 (τὰ ἴδια; παρέλαβον) und Joh 1,11 (τὰ ἴδια – οἱ ἴδιοι; παρέλαβον) hin93 und deutet die soziale Funktion von Joh 9,25–27 als Bruch mit den bisherigen Familienbindungen: „John 19.25–7 therefore functioned as a familistic image which enhanced the sense of religious belonging amongst Johannine Christians.“94 „… its primary function is to recreate the sense of family and home in a people faced with the crisis of metaphorical and actual homelessness.“95 Zur religionssoziologischen Absicherung seiner These verweist M. W. G.  Stibbe auf die Arbeiten von M. Hengel96, G. Theißen97, H. Kee98, und J. H.  Elliott99, die den Zusammenhang von Bruch mit der Herkunftsfamilie und Betonung der neuen Familie der Glaubensgemeinschaft in verschiedener Hinsicht beleuchten. „Following Jesus, for both the Christian in the local community as well as the wandering charismatic, required a break with one group in which the individual finds bis most important attachments and his true identity: the family.“100

4.1.2  D. Rusam In seiner Monographie „Die Gemeinschaft der Kinder Gottes“ entwickelt D. Rusam seine These,101 Gotteskindschaft sei der hermeneutische Schlüssel für die  91 Vgl.

ebd. 148–154. 152.  93  Vgl. ebd. 159 ff. Hier findet sich auch ein wenig überzeugender Verweis auf die Nähe von 19,25–27 zu 16,21 : „In this extra ordinary parable Jesus suggests that the cruxifixion will mark the birth of the true community of God; the child in the parable represents the new family which emerges from Jesus’ quasi maternal sacrifice“ (ebd. 160). Hier liegt eine Überinterpretation vor.  94 Ebd. 164. Vgl. ebd. 161–166.  95  Ebd. 166. Vgl. D. Rusam, Gemeinschaft (s. Anm. 63), 160: Die beiden Jesusworte in 19,26 f „scheinen fast ein Reflex auf Mk 3,31–35 par. zu sein“.  96  Vgl. M. Hengel, Nachfolge und Charisma. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Studie zu Mt 8,21 f und Jesu Ruf in die Nachfolge, BZNW 34, Berlin 1968 (engl.: Ders., Charismatic Leaders and his followers, 1981).  97  Vgl. G. Theiẞen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen (1979) 3 1989.  98 Vgl. H. Kee, Community of the New Age. Studies in Mark’s Gospel, London 1977.  99  Vgl. J. H.  Elliott, A Horne for the Homeless. A sociological Exegesis of 1 Peter, its situation and strategy, London 1982. Zur Auseinandersetzung mit J. H.  Elliot vgl. R. Feldmeier, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief, WUNT 64, Tübingen 1992, 203–210; vgl. auch K. O.  Sandnes, A New Family (s. Anm. 21), 36 f (Lit.). 100 M. W. G.  Stibbe, Storyteller (s. Anm. 89), 162. 101 D. Rusam, Gemeinschaft (s. Anm. 63). Vgl. ebd. 15–104 die religions‑ und traditionsgeschichtlichen sowie neutestamentlichen Rückfragen zum Motiv der Gotteskindschaft. Zur Einschätzung der Monographie vgl. auch die Rez. von H.-J. Klauck, ThRv 90 (1994), 385–387.  92 Ebd.

4.  Familienmetaphorik im Johannesevangelium

221

Verhältnisbestimmung von Gott und den Gläubigen und eine ekklesiologische Leitmetapher.102 Sein Hauptbezugstext ist dabei 1 Joh.103 So sucht er aufzuweisen, dass und wie das Motiv der Gotteskindschaft ekklesiologisch fruchtbar gemacht wird. D. Rusam stellt das Wort‑ und Bildfeld der Familienmetaphorik des 1 Joh vor und analysiert es: Gott als Vater, ἐκ θεοῦ γεννάσθαι; ἐκ τοῦ θεοῦ εἰναι; die Gabe des Lebens; das σπέρμα Gottes im Menschen; die Gabe des Geistes; die τέκνα τοῦ θεοῦ; die gegenseitige Anrede mit ἀδελφοί ἀγαπητοί und τεκνία; die Bruderliebe als familiäre Kategorie und die ἀγάπη.104 Abschließend fasst er zusammen: „Der Verfasser des 1 Joh sieht … die Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen in allen ihren Aspekten als eine familiäre. Der Gedanke einer großen Familie bildet den Hintergrund für sein Konzept der Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch und deren Gemeinschaft.“105

Die johanneischen Immanenzformeln wertet er so aus: Wie nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums Jesus im Vater sei und der Vater in ihm (Joh 10,38; 14,10 f; 17,21), so sei auch im 1 Joh von den Brüdern und Schwestern Jesu die Rede, die im Vater bleiben (1 Joh 2,24; 3,24; 4,12.15); Jesus ist in exklusiver Weise der υἱός, die Glaubenden die τέκνα θεοῦ.106 Dennoch werde in 1 Joh die Beziehung zwischen Jesus und den Glaubenden kaum ins Auge gefasst, wohl diejenige zwischen den Glaubenden und Gott.107 Joh 1,12 sei eine Brücke zwischen Christologie, Soteriologie und Ekklesiologie im JohEv.108 1 Joh deute die christliche Gemeinde als Ersatzfamilie: „Das Familienmodell dient also der Integration der sozial entwurzelten Christen. Sie werden in die neue Gemeinschaft inkorporiert, in eine neue Familie. Problematisch ist einzig die Tatsache, daß sich für diese Familie in den drei Johannesbriefen kein terminus technicus findet.“109 „Das Vater-Kind-Motiv wird im 1 Joh verwendet, nicht nur um die liebende Zuwendung Gottes zu seinem Volk bzw. seinen ‚Anhängern‘ als ‚tertium comparationis‘ zu veranschaulichen; es wird vielmehr versucht, das Vater-Sohn‑ (bzw. Eltern-Kind‑) Verhältnis

102  Vgl. ebd. 164. Vgl. ebd. 11: „Die bevorzugte Gottesbezeichnung des johanneischen Jesus ist ‚Vater‘“. Zur Vater-Anrede Gottes in frühjüdischen Schriften vgl. A. Strotmann, „Mein Vater bist du!“ (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, FTS 39, Frankfurt a. M. 1991. 103 Das JohEv und 1 Joh werden in seinen Ausführungen methodisch nicht immer genau getrennt. 104 Vgl. ebd. 109–134. Vgl. ebd. 163: „Damit sind die einzelnen Metaphern, mit denen 1 Joh das Verhältnis zwischen Glaubenden und Gott umschreibt, ‚Exemplifikationen der Leitmetapher‘: familia dei.“ Ergänzend zu berücksichtigen ist κοινωνία vgl. 1 Joh 1,3[bis].6.7. 105  Ebd. 134. 106  Vgl. 148 f. 107  Vgl. ebd. 153. 108  Vgl. ebd. 155; vgl. auch 147–158, hier 156–158 den Exkurs: Gemeinde im JohEv. 109  Ebd. 161; vgl. ebd. 158–162.227.

222

1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

für das Verhältnis zwischen Gott und den Gläubigen ekklesiologisch wie auch praktisch fruchtbar zu machen.“110 „Der erste Johannesbrief entfaltet eine im Johannesevangelium angelegte Ekklesiologie, die im Neuen Testament ihresgleichen sucht.“111

Der Sitz im Leben („sozialgeschichtliche Verortung“) des Familienmodells sei die Druckerfahrung: „Das Familienmodell ist der hermeneutische Schlüssel zum Welt‑ und Gemeindeverständnis des 1 Joh. Mit der Welt außerhalb der Gemeinde sollen und dürfen die Gemeindemitglieder nichts zu tun haben, denn dort herrscht der Tod. … Die Durchschlagskraft des Familienmodells als ekklesiologisches Modell für die Gemeinde um die Johannesbriefe erwuchs daraus, daß es sich an einem bekannten sozialen Modell, dem der Familie, orientierte …“112

Soziologisch sind die Gemeinden der JohBriefe als Hausgemeinden zu beschreiben (vgl. 3 Joh 6.9 f: ἐκκλησία).113 In gewisser Hinsicht waren die johanneischen Gemeinden eine „Sekte“114: „Es sind Gemeinschaften, die die Welt und sich selbst anders interpretiert haben als es Außenstehende taten.“115 4.2  Zum Textbefund (1) Der folgende Überblick will das familienmetaphorisch relevante Wort und Bildfeld im Johannesevangelium nur anleuchten. Vielfältige Wechselbeziehungen, Zuordnungen und Transparenzen können hier nicht aufgewiesen werden: 1 „Vater“ Von 414 statistischen Belegen von „Vater“ im NT begegnen 169 im Johannesevangelium und 18 in den johanneischen Briefen. 2 „Sohn“ Im Johannesevangelium finden sich 45, in den Briefen 24 statistische Belege für Sohn. 3 Blutsverwandtschaft 3.1 Verwandtschaft Jesu 3.1.1 die Frage nach dem Vater und der Herkunft Jesu: 6,42; 7,25–31; 8,13–20; 9,24–34; vgl. 1,45 f; 7,15.40–44  Ebd. 163.  Ebd. 164. Während in 1 Joh die Familienmetaphorik die einzige ekklesiologische Leitmetapher sei, gebe es im JohEv weitere ekklesiologisch relevante Bildfelder: Weinstock, Weizenkorn, Herde. 112  Ebd. 186. Vgl. ebd. 188: JohEv und 1 Joh liegen inhaltlich und zeitlich sehr eng zusammen; d. h. sie haben den gleichen Sitz im Leben. 113  Vgl. ebd. 210 ff. 114  Vgl. ebd. 228 ff. 115  Ebd. 232. Diese Definition scheint kaum ausreichend, um sinnvoll von „Sekte“ zu reden. Zur Diskussion vgl. J. Beutler, Kirche als Sekte? Zum Kirchenbild der johanneischen Abschiedsreden, ThAk 10, Frankfurt a. M. 1973, 42–57; H.-J. Klauck, Der erste Johannesbrief, EKK XXIII/1, Neukirchen-Vluyn 1991, 280–282. 110 111

4.  Familienmetaphorik im Johannesevangelium

223

3.1.2 die „Mutter“ Jesu: 2,1.3.5.12; 6,42; 19,25–27 3.1.3 die „Brüder“ Jesu: 2,12; 7,3.5.10 3.1.4 die „Schwester der Mutter“ Jesu: 10,25. 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4

andere Verwandtschaftsbeziehungen „Bruder“: 1,40.41; 6,8; 11,2.19.21.23.32 „Schwester“: 11,1.3.5.28.39 „Verwandter“: 18,26 „Eltern“: 9,2.3.18.20.22.23116

4 4.1 4.2

Zugehörigkeit zu Gott „Kinder Gottes“: 1,12.13; 11,52; 1 Joh 3,1.2.10117 „aus Gott (sein)“ „aus Gott gezeugt sein“118 „wiedergeboren“ bzw. „von neuem geboren werden“: 3,3119

5 5.1 5.2 5.3

Zugehörigkeit zu Israel „Kinder Abrahams“ (vgl. Joh 8,30–59) „Tochter Zion“: 12,15 (vgl. Weish 3,16; Sach 9,9) evtl. „die Seinen“: 1,11

6 6.1 6.2 6.3 6.4

Zugehörigkeit zu Jesus „Kinder“: 13,33 „meine Freunde“: 15,12–15 „meine Brüder“: 20,17 „nicht als Waisen“: 14,18

7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Anreden für Gemeindemitglieder und Gemeinden „Geliebte/Geliebter“: 1 Joh 2,7; 3,2.21; 4,1.7.11; 3 Joh 1.2.5.11 „Kinder“: 1 Joh 2,1.12.28; 3,7.18; 4,4; 5,21; 2 Joh 1,4.13; 3 Joh 4 „Brüder“: 21,23; 1 Joh 2,9.10.11; 3,10.12[bis].13.14.15.16.17; 4,20[bis].21; 5,16 „auserwählte Herrin“: 2 Joh 1 „auserwählte Schwester“: 2 Joh 13.

(2) Der Familienmetaphorik lässt sich im Neuen Testament insgesamt und im johanneischen Schrifttum insbesondere die Freundschaftsthematik als neu zu entdeckende Leitidee für „eine befriedigende und befreiende Sozialgestalt der christlichen Gemeinde“ zuordnen:120 „Freunde“ ist analog zu „Brüder“ (und 116 St. C.  Barton, Discipleship and Familiy Ties in Mark and Matthew, SNTSMS 80, Cambridge 1994, 223: „It is likely … that the story of the man born blind in John 9 expresses something of the cost of discipleship in John’s own day: expulsion from the synagoge and rifts between parents and their children (9.18–23).“ 117 Vgl. hier die Opposition: Kinder des Teufels; vgl. 8,44. 118  Vgl. zur Gotteskindschaft bzw. zum Gezeugtsein-aus-Gott: R. Schnackenburg, Die Johannesbriefe, HThKNT XIII/3, Freiburg (1953) 21963, 175–183; G. Strecker, Die Johannesbriefe, KEK 14, Göttingen 1989, 148–150; H.-J. Klauck, Der erste Johannesbrief (s. Anm. 115), 178–181; D. Rusam, Gemeinschaft (s. Anm. 63), 111–118. 119  Vgl. hierzu die exegetischen und hermeneutischen Reflexionen bei Th. Söding, Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Anmerkungen zur Symbolsprache des Johannesevangeliums am Beispiel des Nikodemusgesprächs (Joh 3,1–21), in: K. Kertelge (Hg.), Metaphorik und Mythos im Neuen Testament, QD 126, Freiburg i. Br. 1990, 168–219. 120  Vgl. hierzu: H.-J. Klauck, Freundesgemeinschaft (s. Anm. 18); Zitat ebd. 123.

224

1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

„Schwester“; vgl. 2 Joh 13121) im Corpus Johanneum eine „Selbstbezeichnung der johanneischen Glaubenden schlechthin“122 (vgl. Joh 3,29; 11 , 11; 15,12–15; 1 Joh 3,16; 3 Joh 15[bis]). Die Anrede als „Freunde“ und „Brüder“ und das Thema der Freundesethik bzw. Bruderethik sind als solche und in ihrer Zuordnung in antiken Philosophenschulen und moralphilosophischen Traktaten (vgl. Plutarch: Über die Bruderliebe) bekannt und gegeben (vgl. auch 4 Makk).123 4.3  Zur sozialgeschichtlichen Rückfrage Da sich im Evangelium und in den johanneischen Briefen die Selbsteinschätzung der johanneischen Christen und der johanneischen Schule spiegelt, liegt eine Korrelation von familienmetaphorischen Aussagen im johanneischen Schrifttum und ihrem sozial‑ bzw. gemeindegeschichtlichen Sitz im Leben nahe. Sozialgeschichtliche Erkenntnisse insbesondere aus der Paulusforschung124 und im Anschluss an G. Theißens Untersuchungen zum urchristlichen Wanderradikalismus125 können mit Gewinn auch für die Erhellung der soziologischen Implikationen der johanneischen Familienmetaphorik herangezogen werden: (1) W. A.  Meeks hat am Beispiel der paulinischen Briefe eine „Sprache der Zugehörigkeit“ und eine „Sprache der Trennung“ diagnostiziert.126 Zur paulinischen  Vgl. Joh 11,5.28.29; 19,25.  Ebd. 97. 123 Vgl. ebd. 97–101; Ders., Die Bruderliebe hei Plutarch und im vierten Makkabäerbuch (1990), in: Ders., Alte Welt (s. Anm. 18), 83–98. Vgl. auch: Ders., Brudermord und Bruderliebe. Ethische Paradigmen in 1 Joh 3, 11–17, in: J. Gnilka (Hg.), Neues Testament und Ethik (FS R. Schnackenburg), Freiburg i. Br., 151–169; Ders., Der erste Johanneshrief (s. Anm. 115), 277– 282: Exkurs: „Die Liebe zu den Brüdern und Schwestern“ (a. Grenzen des Liebesgebotes; b. Sektenmentalität). Vgl. auch K. O.  Sandnes, A New Family (s. Anm. 21), 86–91.113–119. K. Berger weist auf jüdische, prophetische und charismatische Tradition hin: Die Freunde „werden also zu Mit-Charismatikern erhoben“ (in: Ders., Einführung in die Formgeschichte, utb 1444, Tübingen 1987, 184. 124 Vgl. H.-J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum, SBS 103, Stuttgart 1981; Ders., Die Hausgemeinde als Lebensform im Urchristentum, in: Ders., Gemeinde – Amt  – Sakrament (s. Anm. 4), 11–28 (Lit.); Ders., Gemeinde zwischen Haus und Stadt (s. Anm. 18); W. A.  Meeks, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 1993 (Lit.) (engl. Originalausgabe: The First Urban Christians, London 1983); K. Schäfer, Gemeinde als Bruderschaft. Ein Beitrag zum Kirchenverständnis des Paulus, EHS.T 333, Frankfurt a. M. 1989; M. Gielen, Tradition und Theologie neutestamentlicher Haustafelethik. Ein Beitrag zur Frage einer christlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen, BBB 75, Frankfurt a. M. 1990; R. Reck, Kommunikation und Gemeindeaufbau. Eine Studie zu Entstehung, Leben und Wachstum paulinischer Gemeinden in den Kommunikationsstrukturen der Antike, SBB 22, Stuttgart 1991. – Zur Sozialgeschichte des religiösen Lebens im Haus in der griechisch römischen Antike vgl. H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums I. Stadt und Hausreligion, Mysterienkulte, Volksglaube, KStTh 9,1, Stuttgart 1995, 58–68 (Lit.). 125  Vgl. G. Theiẞen, Studien (s. Anm. 97) (Lit.); Th. Schmeller, Brechungen. Urchristliche Wandercharismatiker im Prisma soziologisch orientierter Exegese, SBS 136, Stuttgart 1989 (Lit.). 126 Vgl. W. A.  Meeks, Urchristentum (s. Anm. 124), 181–199.199–204. Vgl. hierzu auch die Diskussion um den johanneischen Idiolekt bzw. Soziolekt. Vgl. auch die Ausführungen zur „in-group121 122

4.  Familienmetaphorik im Johannesevangelium

225

Sprache der Zugehörigkeit gehören auch die familiären Verwandtschaftsverhältnissen entstammenden Bezeichnungen: „Kinder“, „Brüder“ und „Schwestern“, „Geliebte“, „Amme/Mutter“ (vgl. 1 Thess 2,7 f ), „verwaist sein“ (ἀπορφανισθέντες127 1 Thess 2,17) . In der paulinischen Ausführung „über die Bruderliebe“ (περὶ δὲ τῆς φιλαδελφίας) in 1 Thess 4,9–12 gibt es eine augenfällige Sachparallele zu 1 Joh 2,20 f.26 f, die wohl auf gemeinsame biblische Tradition zurückgeht (vgl. Jes 54,13; Jer 31,33 f; Joh 6,45): In 1 Thess 4,9 heißt es: „Über die Bruderliebe habt ihr nicht nötig (οὐ χρείαν ἔχετε), daß ich euch schreibe (γράφειν ὑμίν), denn ihr selbst seid Gottbelehrte (θεοδίδακτοί ἐστε), so daß ihr einander liebt, (10) …“

Vgl. 1 Joh 2,20 f.26 f: „(20) Und ihr, ‚Chrisma‘ habt ihr vom Heiligen, und ihr alle wißt. (21) Ich habe euch nicht geschrieben (οὐκ ἔγραψα ὑμίν): Ihr wißt die Wahrheit nicht, sondern: Ihr wißt sie, … (27) Und ihr habt es nicht nötig (οὐ χρείαν ἔχετε), daß irgendjemand euch belehrt (τις διδάσκῃ ὑμᾶς;), sondern wie sein ‚Chrisma‘ euch belehrt über alles, und wahr ist und keine Lüge ist …“128

Solche Familienmetaphorik „war auch in vielen heidnischen Vereinen und Kultgemeinschaften der damaligen Zeit, besonders in Rom und in Gebieten mit starkem römischem Einfluss zu finden“, ist aber dennoch am ehesten aus dem Judentum übernommen.129 Für Paulus fasst W. A. Meeks zusammen: „Die Aufnahme in die neue Familie der Kinder Gottes bringt also starke Kräfte des Zusammenhalts hervor, setzt jedoch auch bestimmte, rasch wachsende Kräfte frei, die in Schranken gehalten werden müssen, wenn die Gruppen fortbestehen sollen.“130 Weiterführende Studien zur sozialgeschichtlichen Verortung und zur Interpretation urchristlicher Familienmetaphorik haben zuletzt K. O.  Sandnes131 und St. C.  Barton132 vorgelegt: (2) K. O.  Sandnes reflektiert eingehend die Zusammenhänge zwischen „conversion“, „family conflicts caused by conversion“, „ecclesiology“ und „family language/ inclusive language“. Zugleich befragt er die „compensation theory“ (vgl. E. Schüssler-Fiorenza; W. A.  Meeks) in sozialgeschichtlichen Analysen neutestamentlicher

language“ bei R. Reck, Kommunikation (s. Anm. 124), 79–81.286–294. Zu „Metaphern der Zugehörigkeit“ und zu „Familienmetaphern“ vgl. auch die Ausführungen von J. Werbick, Bilder sind Wege. Eine Gotteslehre, München 1992, 201–304. 127 Vgl. Joh 14,18 ὀρφανούς. 128 Die Übersetzung aus 1 Joh ist übernommen von H.-J. Klauck, Der erste Johannesbrief (s. Anm. 115), 155.167. 129  Vgl. die Belege bei W. A.  Meeks, Urchristentum (s. Anm. 124), 185 f (Zitat: 185). 130 Ebd. 189. 131  Vgl. K. O.  Sandnes, A New Family (s. Anm. 21). Das johanneische Schrifttum erscheint nur andeutungsweise (Joh 15,13–15; 19,25–27); vgl. ebd. 88 f.100 ff. 132  Vgl. St. C.  Banon, Discipleship (s. Anm. 116).

226

1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

Texte. Dabei kritisiert K. O.  Sandnes133 auch die Argumentation von K. Schäfer134: Nicht „Kontrast“, sondern „Korrelation“ sei die Grundfigur für eine angemessene Verhältnisbestimmung von Leben in einer antiken Herkunftsfamilie135 und neuer christlicher „Familie“136. Eben solche teils symmetrischen, teils asymmetrischen Korrelationen137 seien als sozialgeschichtlicher Sitz im Leben der Familienmetaphorik bzw. inclusive language zu identifizieren. (3) St. C.  Barton konzentriert sich auf das Markus‑ und das Matthäusevangelium als Textgrundlage für die Verhältnisbestimmung von „discipleship and family ties“: Die urchristliche Unterordnung der Familienbande gegenüber dem Anspruch der Nachfolge Jesu gehe einher mit einer vergleichbaren Zurückstellung verwandtschaftlicher Bindungen um eines höheren Gutes willen im zeitgenössischen Judentum (vgl. Philo, Flavius, Qumran)138 und in der griechisch-römischen Welt (vgl. Kyniker, Stoiker).139 Diese Analogien erlauben die Schlussfolgerung, „that the gospel’s summons to discipleship of Christ even at the cost of family ties is neither irrational nor arbitrary.“140 4.4 Ergebnis Die Berücksichtigung, Analyse und Interpretation der johanneischen Familienmetaphorik führt zu einem konstitutiven Moment johanneischer Ekklesiologie und öffnet neue Einblicke in die Sozialgeschichte johanneischer Gemeinden: (1) Das Johannesevangelium deutet das Christwerden als im Glauben empfangene, frei geschenkte Aufnahme in die neue durch Jesu Heilssendung konstituierte Familie Gottes (vgl. bes. 1,12; 3,1–21; 11,52; 19,25–27.30.34; 20,19–23). Diese stellt sich dar als die Gemeinschaft der Kinder Gottes und Freunde Jesu. Aufgrund des Textbefundes ist die Familienmetaphorik genauerhin als ekklesiologische Basismetapher zu bestimmen.141  Vgl. K. O.  Sandnes, A New Family (s. Anm. 21), 37–40. K. Schäfer, Gemeinde (s. Anm. 124). 135  Zur soziologischen Beschreibung des antiken Familienlebens vgl. K. O.  Sandnes, A New Family (s. Anm. 21), 47–64. 136  Vgl. hierzu die Ausführungen zur Familiensprache in der synoptischen Tradition (ebd. 65–73) und bei Paulus (ebd. 73–82). 137  Vgl. ebd. 182 f. 138  Vgl. St. C.  Barton, Discipleship (s. Anm. 116), 23–47. Vgl. ebd. 220: „The Jewish sources … show repeatedly that allegiance to God and obedience to the will and call of God transcend allegiances of a more mundane kind, including and especially ties of natural kinship.“ Auch bei St. C.  Barton erscheint das Johannesevangelium nur in kurzen Hinweisen; vgl. ebd. 88 Anm. 139. 223 f. 139  Vgl. ebd. 47–54. Vgl. ebd. 220: „On the Graeco-Roman side, the evidence of and about the Cynics shows that here too there existed a strong tradition of the subordination of conjugal and consanguineous ties for the sake of a higher good – namely conversion to philosophy.“ 140  Ebd. 221. 141 Wieweit die johanneische Immanenz-Vorstellung in gewisser Nähe zur Familienmetaphorik ekklesiologisch ausgewertet werden kann (vgl. die Andeutungen bei D. Rusam, Gemeinschaft [s. Anm. 63], 135.148 f; vgl. oben 4.1.1. [b]), bedarf einer eigenen Auseinandersetzung. 133

134 Vgl.

5.  Strukturmomente johanneischer Ekklesiologie

227

(2) Die Rückfrage nach der Sozialgeschichte der johanneischen Gemeinden trifft auf zwei Größen, die beide in einer relevanten Korrelation zur Verwendung familienmetaphorischer Sprache stehen: Einerseits bilden Hausgemeinden Orte neuer familiär-ekklesialer Identität, andererseits kennt das johanneische Christentum Wandermissionare bzw. Gemeindeapostel, die der Aufnahme in die Häuser und der Gastfreundschaft bedürfen. Da es gute Gründe gibt, anzunehmen, dass die johanneischen Christen als Reaktion auf die wachsende Abgrenzung seitens des Synagogenverbandes aus ihrer ursprünglichen Heimat in Syrien bzw. im Ostjordanland nach Ephesus in Kleinasien ausgewandert sind,142 wird auch diese Erfahrung ihr ekklesiales Selbstverständnis geprägt haben. D. Rusam macht den Wanderradikalismus als sozialgeschichtliche Basis für die johanneische Familienmetaphorik namhaft. So sicher dies ein relevanter Referenzpunkt ist, für sich allein genommen stellt diese Aussage doch eine Engführung dar. Mutatis mutandis lassen sich sozialgeschichtliche und kommunikationstheoretische Erkenntnisse aus der Forschung zu Paulus und den Trägern der frühen Jesusüberlieferung auch für eine sozialgeschichtliche Betrachtung der johanneischen Gemeinden auswerten. Die „kommunikative Kraft der Bilder“143, hier der Familienmetaphorik, lässt Rückschlüsse zu auf das sich in Anknüpfung und Widerspruch zur Umwelt organisierende ekklesiale Selbstverständnis der johanneischen Christen.

5.  Strukturmomente johanneischer Ekklesiologie Die johanneischen Christen haben in Reflexion auf ihre Minderheitensituation gegenüber dem sich abgrenzenden Synagogenverband und in ihrer zweiten Heimat in Kleinasien und bedroht durch innergemeindliche Spaltungen ein ekklesiales Selbstverständnis entwickelt, das sich treffend artikuliert als die neue Familie Gottes, die aus Kindern Gottes und Freunden Jesu besteht: (1) In den johanneischen Gemeinden werden aufgrund des Heilstodes Jesu Christi die verstreuten Kinder Gottes aus Juden und Heiden zusammengeführt. Als Kinder Gottes sind sie zugleich die Freunde Jesu, denen Jesus alles, was er von seinem Vater gehört hat, offenbart hat (vgl. 15,15). Als Freunden Jesu ist ihnen aufgetragen, untereinander nach der Maßgabe der Freundschaft Jesu (vgl. 13,12–17; 15,13) zu leben und in der Erfüllung des Liebesgebotes (vgl. 13,34 f; 15,9.12 f.17; 1 Joh 2,7 f; 3,11.23; 4,7.llf; 2 Joh 5) und in ihrer Verkündigung Zeugnis zu geben von der in Jesus Christus erwiesenen Liebe Gottes (vgl. 3,16; 1 Joh 4,7–21).

142  So die Position u. a. von K. Wengst, R. Schnackenburg, H.-J. Klauck, J. Roloff; anders freilich M. Hengel, Die johanneische Frage (s. Anm. 8). 143  So ein Untertitel von H.-J. Klauck, vgl. Ders., Volk Gottes (s. Anm 18).

228

1.  Kinder Gottes und Freunde Jesu

(2) Die Gemeinde weiß sich geistbegabt (vgl. 20,19–23), vom Wirken des Parakleten, dem „Geist der Wahrheit“, in allem belehrt und an alle Worte Jesu erinnert (vgl. 14,17). Er führt in die ganze Wahrheit ein und verkündet das Kommende (vgl. 16,13). Als ganze ist die Gemeinde beauftragt, Frauen wie Männer, die Sendung Jesu fortzusetzen. Sich „aus der Welt“ zurückzuziehen, ist kein johanneisches Programm.144 Eine geistig-geistliche Unmündigkeit (vgl. 14,18: „nicht als Waisen lasse ich euch [zurück]“; vgl. 15,15) lässt die geschenkte Christusfreundschaft (vgl. 15,12–17) und Unmittelbarkeit des Geistes (vgl. 1 Joh 2,21.26 f ), die auch prophetische Gaben bewirkt, nicht zu. (3) Die nachösterliche Gemeinde erkennt sich in den Jüngern Jesu und verschiedenen herausgehobenen Einzelpersonen, wie sie das Evangelium schildert, wieder: Sie sind die von Jesus für sein Evangelium Gewonnenen, sie haben „den Messias gefunden“145 (1,41; vgl. 1,45), „den Retter der Welt“ (4,42), „das Licht der Welt“ (Joh 9). Sie sind zugleich bedroht „vom Hass der Welt“ (vgl. 15,18–25), von denen, die nicht an Christus glauben bzw. den Christus-Glauben fehldeuten. Sie wissen auch um ihre eigene Angefochtenheit im Glauben und in der Liebe. Dennoch zählen sie sich zuversichtlich zu denen, „die gehört haben“ und jetzt „wissen“, was Jesus verkündet hat (vgl. 18,21). (4) Die johanneischen Gemeinden gewähren den orthodoxen Wandermissionaren, den Gesandten Jesu (vgl. 13,16.20; vgl. 4,38; 20,21–23) und den Gemeindeaposteln (vgl. 2 und 3 Joh) Gastfreundschaft und erkennen ihre ‚apostolische‘ Autorität bzw. ihr Wahrheitszeugnis an. (5) In den johanneischen Gemeinden weiß sich ein Schülerkreis um den Lieblingsjünger berufen und befähigt, aus intimer Nähe zu Jesus und der darin wurzelnden Kenntnis der Wahrheit des Evangeliums (vgl. 1,18; 13,23; 19,35; 21,24) bzw. aufgrund ihrer Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus (vgl. 1 Joh 1,1–4), als Lehrende das Evangelium zu verkündigen, zu bezeugen und gegen Irrlehren zu verteidigen (vgl. 1 Joh 2,18 f ).146 In dem Nebeneinander und der angedeuteten Konkurrenz von Petrus und dem Lieblingsjünger (vgl. 20,1–10; 21,1–14) spiegelt sich weder ein Antagonismus von Charisma und Amt noch eine grundsätzliche Amtskritik (das johanneische „wir“ verrät zweifellos ein ‚amtliches‘ Selbstverständnis), sondern eher die Rückbindung amtlicher Verkündigung an die geistliche Mitte des Evangeliums: an die 144 Zum johanneischen Missionsgedanken vgl. R. Schnackenburg, Joh I (s. Anm. 5), 143– 146; Ders., Der Missionsgedanke des Johannesevangeliums im heutigen Horizont (1978), in: Ders, Joh IV (s. Anm. 5), 58–72. 145  Zur mystagogischen Kompetenz der johanneischen Evangeliumsverkündigung (vgl. nur „kommen“ und „sehen“, „suchen“ und „finden“; „dürsten“ und „hungern“), vgl. „Rabbi, wo wohnst du?“, in diesem Band, S. 441–508; vgl. K. Scholtissek, Mystagogische Christologie im Johannesevangelium? Eine Spurensuche, GuL 68 (1995), 412–426. 146 Vgl. H.‑ J. Klauck, Gemeinde (s. Anm. 4), 199: „Als Minimum halten wir fest: Es gibt in der Gemeinde einen Theologenkreis, der sich in besonderer Weise für die Verkündigung verantwortlich fühlt.“

5.  Strukturmomente johanneischer Ekklesiologie

229

persönliche Vertrautheit, ja Liebe zu dem einen und einzigen Exegeten Gottes (1,18; vgl. 13,23), Jesus Christus. Genau dieser bindenden Liebe des Petrus, der in diesem Punkt Nachholbedarf hat, versichert sich der Auferstandene nach 21,15– 19. So gesehen schildert das 21. Kapitel des Johannesevangeliums nicht einfach eine Kapitulation der johanneischen Christen vor einer übermächtigen Ämterhierarchie der Großkirche, sondern schreibt im Blick auf Petrus ihr Kriterium authentischer Hirtenaufgabe für alle Zeiten fest: Allein die in Prüfungen sich bewährende Liebe zu dem aus dem Tode erweckten „Lehrer und Herrn“ (13,13) kann teilgeben an dem Hirtendienst des einen und einzigen guten Hirten (vgl. 10,1–18) . (6) Für das Johannesevangelium steht die Geistunmittelbarkeit und Gottbelehrtheit der Glaubenden nicht gegen die Autorität des Lieblingsjüngers und seiner Schüler, die sich beauftragt und verpflichtet wissen, das „was von Anfang an war: was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir geschaut und (was) unsere Hände betastet haben, bezüglich des Wortes des Lebens …“ (1 Joh 1,1) „euch“ zu verkündigen. Ziel dieser Verkündigung ist die Koinonia von Verkündigenden und Hörenden  – eine Gemeinschaft, die genauerhin als Gemeinschaft mit Gott durch Jesus Christus verstanden wird.147 Der hier favorisierte Ausdruck κοινωνία (vgl. 1 Joh 1,3[bis].6.7; 2 Joh 11) hält die Idee einer Gemeinschaft fest, „die zwischen Menschen entsteht, aber nicht in ihrem eigenen Entschluss, sondern in einer gemeinsamen Vorgabe gründet.“148 Diese Koinonia der Glaubenden bedarf gerade in der Situation bedrohter Einheit des zuverlässigen Zeugnisdienstes für die ἀρχή der geschichtlichen Offenbarung Jesu Christi (vgl. 1 Joh 1,1–4).

147  Vgl. hierzu die exegetische Auslegung von 1 Joh 1,3 bei H.-J. Klauck, Der erste Johannesbrief (s. Anm. 115), 69–71. 148  Ebd. 70 f.

2.  Mündiger Glaube Zur Architektur und Pragmatik johanneischer Begegnungsgeschichten: Joh 5 und Joh 9 1. Einleitung „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit – Unmündigkeit ist die Unfähigkeit sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen“ – so lautet die berühmte Definition Immanuel Kants. Am Anfang der Neuzeit, am Beginn der Aufklärung steht ein emphatischer Begriff von Mündigkeit – die Mündigkeit des menschlichen Subjekts, das allein seiner Vernunft gehorchend selbstbewusst und zielgenau das Leben und Schicksal in die eigene Hand nimmt. Die religionskritische Linie der Aufklärungsphilosophie betonte vielfach die religiösen, genauerhin christlichen Gründe für die erlebte bzw. behauptete menschliche Unmündigkeit, für die menschliche Unterwürfigkeit und Autoritätsgläubigkeit, von denen nur ein radikaler Bruch mit dem theonomen Gottesbildern befreien könne. Aus dieser Argumentation gewann der neuzeitliche Atheismus einen erheblichen ethischen Impetus. Nun kann und will die hier vorzutragende Exegese des JohEv keinen direkten Beitrag liefern zu dieser philosophisch-geistesgeschichtlichen Kontroverse  – so als könne das JohEv einen religionsphilosophischen Disput avant la lettre lösen bzw. klären. Gleichwohl kennt und reflektiert das JohEv  – und damit kommt die These meines Beitrags ins Blickfeld – eine Gestalt mündigen Glaubens und Christseins, die einen eigenen Beitrag zur Selbstvergewisserung christlicher Identität im Kontext neuzeitlich-moderner Herausforderungen bieten kann, seien sie eher vernunftoptimistisch (starke Vernunft) oder postmodern vernunftskeptisch (schwache Vernunft) orientiert. Auch die bei Paulus nachdrücklich herausgearbeitete „Freiheit der Kinder Gottes“ (Gal 5,1; Röm 8,21) weiß um eine im Glauben zu gewinnende Freiheit, die den emanzipatorischen Impetus zur freien, vernunftgemäßen Selbstbestimmung des Menschen nicht konterkariert, sondern ihn gerade in der gläubigen Gottesbeziehung authentisch zu entfalten versteht. Zur Rekonstruktion des joh Verständnisses von mündigem Glauben bedarf es hermeneutischer Vermittlungen  – soll die Schrift und ihre methodisch verantwortete Auslegung nicht einer biblizistischen oder positivistischen Vereinnahmung anheimfallen. Dem am Ende des ersten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung entstandenen JohEv wird eine sorgfältige, methodisch reflektierte

1. Einleitung

231

und verantwortete Auslegung, die auf dem Niveau gegenwärtiger Literaturwissenschaft dem Evangelisten zutraut, selbst seine Adressaten zu dem von ihm angezielten Verständnis und Einverständnis zu führen, am ehesten gerecht. Die joh Leserlenkung verdient auch aus diesem Grund höchste Aufmerksamkeit. Das Erkenntnisinteresse dieser Ausführungen zielt auf die Frage, wie das JohEv christlichen Glauben, den es ausweislich des ursprünglichen Buchabschlusses in 20,30–31 zu wecken und zu befördern sucht, versteht: Ist Glauben im Zeugnis des JohEv eine existenzielle Grundentscheidung, eine radikale Alternative von Glaube oder Unglaube – wie es der existenzialtheologische Ansatz Rudolf Bultmanns will? Ist Glauben eine heteronome, genauerhin theonome Bestimmung und prädestinierte Verfügung des Menschen, der er sich gehorsam zu unterwerfen hat? Oder ist Glauben im Sinne des JohEv ein Prozess, ein Weg mit Höhen und Tiefen, der in eine dem Glauben eigene Mündigkeit führt? Die folgenden Ausführungen bleiben bescheiden, sie können nicht alle diese Fragen mit den zugehörigen Kontexten beantworten, aber sie wollen im JohEv selbst Spuren verfolgen, Spuren, die mündiges Christsein, mündigen Glauben profilieren können. Als exegetische Stichproben sind zwei Heilungsgeschichten ausgesucht, die Heilung des Gelähmten am Teich Bethesda Joh 5,1–16 (17–18) und die Heilung des Blinden am Teich Schiloach Joh 9,1–41. Beide joh Begegnungserzählungen gehören nicht zu den meistbesprochenen Perikopen der Johannesforscher. Besonders Joh 5, sieht man einmal von der Thematisierung der joh Eschatologie in der Gerichtsrede Jesu in 5,19–47 ab, erfreut sich eines gewissen Schattendaseins. Sie sollen hier je für sich und in ihrer bisher noch wenig wahrgenommenen Beziehung untereinander exegetisch befragt werden. Die im Folgenden zu belegende These lautet: Der Evangelist Johannes stellt seinen Hörern und Hörerinnen in der Heilung des Gelähmten in Joh 5,1–16 den Ursprungort und die Kernkonstellation eines zur Mündigkeit gerufenen Glaubens vor Augen, wie er sich am Beispiel des geheilten Blindgeborenen in Joh 9 in seiner ganzen Überzeugungskraft entfaltet. Um diese These zu begründen und inhaltlich im Einzelnen zu entfalten, bedarf es zuvor noch eines kurzen Hinweises auf ein Forschungsdesiderat. 1.1  Die Dualismusfalle Da niemand in der exegetischen Forschung bei Null beginnt, sondern wissentlich oder unwissentlich auf den Schultern (jedenfalls eines Teils) seiner Vorgänger steht, fließen in die exegetischen Einzelauslegungen unabwendbar Paradigmen ein, die teils unausgesprochen teils direkt thematisch den Verstehensprozess mitbestimmen. Ein solches Vor-Urteil ist der sogenannte Dualismus im JohEv.1 So 1 Instruktiv und weiterführend zu diesem Thema: J. Frey, Licht aus den Höhlen? Der ‚johanneische Dualismus‘ und die Höhlen von Qumran, in: Ders. / ​U. Schnelle (Hgg.), Kontexte des Johannesevangeliums, WUNT 175, Tübingen 2004, 117–203. Zum Dualismus im JohEv hat Jürgen Becker eine eigene Position bezogen vgl. J. Becker., Das Evangelium nach Johannes,

232

2.  Mündiger Glaube

unbezweifelbar die Sprache des JohEv teilweise dualistische Züge trägt (vgl. die Oppositionen: „Licht“ und „Finsternis“, „oben“ und „unten“, „aus der Welt“ und „nicht aus der Welt“, „die Juden“), so fraglich ist jedoch die zu wenig reflektierte Schlussfolgerung, auch das joh Denken sei grundlegend dualistisch. Diese Gedankenfigur führt die Johannesauslegung zu exklusiven, antithetischen Gegenüberstellungen von „Glaube“ versus „Unglaube“, von „Welt“ versus „Jüngergemeinde“, von „den Juden“ als „Kindern des Teufels“ versus den Christen als „Kindern Gottes“. Mitunter wird auch von einem apriorischen, kosmologischen Dualismus im JohEv gesprochen – eine Idee, die unter dem Einfluss der heute nicht mehr haltbaren Gnosisthese steht. Diese Auslegungsrichtung schlägt sich auch in Gliederungsvorschlägen für das JohEv, die fragwürdigen Zweiteilungen des JohEv vornehmen, nieder: Joh 1–12: „Offenbarung Jesu in der Öffentlichkeit“, Joh 13–20/21: „Offenbarung Jesu vor seinen Jüngern“; oder: „book of signs“ (Joh 1–12) und „book of glory“ (Joh 13–20/21). Solche Unterscheidungen verkennen, dass in beiden Hauptteilen des JohEv, ja in allen Großszenen des JohEv sowohl von Glaube als auch von Unglaube, sowohl von öffentlicher wie von auf einen bestimmten Kreis zielender Offenbarung Jesu die Rede ist. In manchen Johanneskommentaren verbindet sich die Dualismusthese oftmals mit einem dem JohEv unterstellten Prädestinationsdenken (das freilich unterschiedlich intensiv ausgearbeitet wird). Im Folgenden soll anhand der gewählten Textbeispiele belegt werden, dass das JohEv in vielfacher Hinsicht gerade nicht dualistisch, sondern graduell denkt und erzählt. Im Vergleich zu den Synoptikern ist das JohEv im Blick auf die Feinzeichnung seiner Personen und Charaktere den Synoptikern weitaus überlegen. Das JohEv liebt geradezu die hochdifferenzierten Personenprofile: Johannes der Täufer und der geliebte Jünger als die beiden großen Zeugen Jesu (der eine mehr am Anfang, der andere mehr am Ende des JohEv), die Jünger und Jüngerinnen Jesu (Petrus, Andreas, Thomas, die Geschwister: Lazarus, Maria und Martha, Maria von Magdala), die Frauen und Männer verschiedenster Konfession und Herkunft: Nikodemus und Josef von Aritmathäa, Mitglieder des Hohen Rates, die Samariterin, die durch die „Zeichen“ Jesu Geheilten (der Blindgeborene, der geheilte Gelähmte, der auferweckte Lazarus), die Mutter Jesu zu Beginn und am Endpunkt seines irdischen Wirkens. Die joh Begegnungsgeschichten lassen sich deshalb nicht schablonenhaft und holzschnittartig in gelingende und scheiternde Begegnungen zwischen Jesus und ÖTBK IV/1 2, Gütersloh 31991, I 175–179 et passim; vgl. Ders., Johanneisches Christentum. Seine Geschichte und Theologie im Überblick, Tübingen 2004, 140–147 et passim. Der oben genannte Sammelband zu den Kontexten des JohEv bietet insgesamt eine hervorragende Einführung in die neuere Johannesforschung. Zur neueren Johannesforschung vgl. auch die Sammelbesprechungen von K. Scholtissek, Neue Wege der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I–II, ThGl 89 (1999), 263–295; 91 (2001), 109–133; Ders., Johannes auslegen I–IV, SNTU 24 (1999), 35–84; 25 (2000), 98–140; 27 (2002), 117–153; 29 (2004), 67–118; Ders., Eine Renaissance des Evangeliums nach Johannes. Aktuelle Perspektiven der exegetischen Forschung, ThRv 97 (2001), 267–288.

2.  Der Geheilte in Joh 5,1–18 – ein Repräsentant des Unglaubens?

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einzelnen Menschen oder eine Menschengruppe zwängen. Die mitunter auch in der narrativen Johannesauslegung so beliebten kontrastierenden Gegenüberstellungen von Joh 3 (Unglaube) und Joh 4 (Glaube) oder von Joh 5 (Unglaube) und Joh 9 (Glaube) unterschätzen die joh Erzähltechnik, die deutlich anspruchsvollere und komplexere Ziele verfolgt. So ist die Ablehnungsfront „der Juden“ – hier braucht Johannes in der Tat eine ungeschützte, problematische Pauschalisierung – keineswegs einheitlich und von allem Anfang an vorhanden. Immerhin kommt mit Nikodemus mindestens ein Mitglied des Hohen Rates „zum Glauben“ (nach Mk 15,34 war auch Josef von Aritmathäa ein Mitglied des Synhedriums; vgl. Joh 3,1–21; 7,50–51; 19,38–42; s. auch 7,26; 8,30–31; 9,16; 11,45). Umgekehrt sind auch die Jünger Jesu alles andere als eine im Glauben gefestigte, standhafte Gruppe, im Gegenteil: Schismata gibt es in allen Gruppierungen – bei „den Juden“ ebenso wie bei den Jüngern Jesu und bei der eher anonym bleibenden Volksmenge (bzw. den Einwohnern Jerusalems). Jesu scheidendes Wirken trifft alle Adressaten seiner Sendung. Apriorische Festlegungen kennt das JohEv nicht.

2.  Der Geheilte in Joh 5,1–18 – ein Repräsentant des Unglaubens? Das 5. Kapitel im JohEv wird weithin unter topographischen Gesichtspunkten,2 im Blick auf die joh Eschatologie, für literarkritische Interessen3 bzw. für den synoptischen Vergleich ausgewertet (Bezüge zu Mk 2,1–12, bes. V. 9.11; vgl. bes. Mk 2,9 und Joh 5,8).4 Hier geht es direkter um die Charakterisierung der Person des Geheilten in 5,1–16, um sein Personenprofil. Die neuere Erzählforschung misst der characterization der Personen innerhalb einer Einzelerzählung bzw. in der gesamten narratio erhebliche Bedeutung zu, weil hier in besonderer Weise die auf die Adressaten gerichteten Intentionen eines Textes erkennbar werden.5 Nach dem nordamerikanischen Johannesforscher R. Alan Culpepper gilt: „The man at the pool is one of the most enigmatic of John’s characters. He only appears in this scene, and his response to Jesus is open to

2  Vgl. M. Hengel, Das Johannesevangelium als Quelle für die Geschichte des antiken Judentums, in: Ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II, WUNT 109, Tübingen 1999, 200–218. 3  Vgl. M. Labahn, Jesus als Lebensspender. Untersuchungen zu einer Geschichte der johanneischen Tradition anhand ihrer Wundergeschichten, BZNW 98, Berlin 1999, 213–264; Ders., Eine Spurensuche anhand von Joh 5,1–18. Bemerkungen zu Wachstum und Wandel der Heilung eines Lahmen, NTS 44 (1998), 159–179. 4  Vgl. hierzu u. a. I. Dunderberg, Johannes und die Synoptiker. Studien zu Joh 1–9, AASF. DHL 69 (1994), 99–124; M. Labahn, Jesus (s. Anm. 3). 5 Vgl. R. A.  Culpepper, The Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia 21987; J. L.  Staley, Stumbling in the Dark, Reaching for the Light. Reading Character in John 5 and 9, Semeia 53 (1991), 55–80 (Lit.).

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2.  Mündiger Glaube

debate.“6 Er selbst kommt mit dem Mainstream der Forschung zu einem negativen Urteil.7 In der Tat: Der Vers 5,15 kann einige Verlegenheit auslösen: 5,15

a b c d

Und der Mensch ging fort und meldete/verkündete (ἀνήγγελειν) den Juden, dass Jesus es ist, der ihn gesund gemacht hat.

Wie ist diese Tat des Geheilten zu bewerten? 2.1  Der Mainstream der Forschung Im Mainstream der Forschung gilt der namenlose Geheilte in Joh  5 als „Repräsentant des Unglaubens“8 bzw. noch schärfer als „Denunziant Jesu.“9 Der Geheilte „verrät“ Jesus.10 Nach Rainer Metzner, der dieser Frage einen Aufsatz gewidmet hat, „repräsentiert (er) den Unglauben der ‚Juden‘“.11 J. Painter12 deutet Joh 5 als „paradigm of rejection“. In Joh 5–10 handele es sich insgesamt um „rejection stories“.13 Die entgegengesetzte Position versteht die Tat des Geheilten als Akt der Verkündigung und des Bekenntnisses (vgl. J. L.  Staley14, John Ch. Thomas15.16 Ver 6  R. A.  Culpepper, The Gospel and the Letters of John, Interpreting Biblical Texts (1998), 150. D. L.  Mealand, John 5 and the Limits of Rhetorical Cristicism, in: A. G. Auld (Hg.), Understanding Poets and Prophets (FS G. W. Anderson), JSOT.S 152, Sheffield 1993, 258–272, spricht von „offenen Möglichkeiten“, die der Text lasse: „The text has gaps. The reader seems to be left to struggle to fill the gaps“ (296).  7  Vgl. R. A.  Culpepper, John 5,1–18  – A Sample of Narrative Critical Commentary, in: M. W. G. Stibbe (Hg.), The Gospel of John as Literature. An Anthology of Twentieth-Century Perspectives, NTTS 17, Leiden 1993, 193–207, hier 198–200; Ders., Gospel (s. Anm. 6), 150.  8  So auch M. Labahn, Jesus (s. Anm. 3), 233 f.247 f.  9  R. Metzner, Der Geheilte von Johannes 5 – Repräsentant des Unglaubens, ZNW 90 (1999), 177–193, hier 185.187. 10  Vgl. die ebd. 185 Anm. 35, genannten Autoren, die so urteilen (R. Bultmann, R. A.  Culpepper, R. T.  Fortna, E. C.  Hoskyns, L. P.  Jones, R. Kysar, D. A.  Lee, J. L.  Martyn, F. J.  Moloney, L. Morris, J. Painter, L. Schenke, U. Schnelle, M. W. G.  Stibbe, W. Wilckens). Ergänzen lassen sich u. a. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThKNT IV/1–4, II (41985), 124; M. Labahn, Spurensuche (s. Anm. 3), 161 f.170; K. Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1–10, ThKNT IV/1, Stuttgart 22004, 201; F. J.  Moloney, The Gospel of John, Sacra pagina 4 (1998), 165–193, hier 169. 11  R. Metzner, Geheilte (s. Anm. 9), 188. 12  Vgl. J. Painter, The Quest for the Messiah. The History, Literature and Theology of the Johannine Community, Nashville (21993), 213–252. 13  Ebd. 214. 14  Vgl. J. L.  Staley, Stumbling (s. Anm. 5), 63 f. 15 Vgl. J. Ch. Thomas, „Stop Sinning Last Something Worse Come Upon You“. The Blind at the Pool in John 5, JSNT 59 (1995), 3–20, hier 18. 16  Vgl. die bei R. Metzner, Geheilte (s. Anm. 9), 186 Anm. 36, genannten Autoren (I. de la Potterie; J. Ch. Thomas; S. v. Tilborg; vgl. ebd. 186 Hinweise auch auf O. Cullmann; N. Lazure). Vgl. auch J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, GSL.NT IV/1ab.2–3 (1977–1981), hier Band 1b, 18 (zu 5,15): „V. 15 ist wohl kaum als solcher ‚Rückfall‘ und ‚Verrat‘ gemeint, sondern dient dazu, die Brücke zu dem folgenden Streitgespräch herzustellen. Der Mann hat Jesus erkannt …“

2.  Der Geheilte in Joh 5,1–18 – ein Repräsentant des Unglaubens?

235

mittelnde Stellungnahmen sprechen von der Naivität bzw. Gleichgültigkeit des Geheilten (vgl. R. E.  Brown17, D. A.  Carsson, A. Hammes, E. Krafft).18 Auch F. Lozada, der der Charakterisierung des Geheilten in Joh 5 nachgeht,19 löst sich in seiner narrativen Auslegung nicht von holzschnittartigen Schablonen. In Joh 5 handele es sich nach seinem Urteil um eine scheiternde Begegnungs‑ und Erkennungsgeschichte (failed anagnorisis), da sowohl der Geheilte wie „die Juden“ trotz der Selbstoffenbarung Jesu vor ihnen nicht zum Glauben gekommen seien.20 Hinter dieser auf die Lesenden zielenden Erzählstrategie, die nur eine scharfe Alternative von Glaube oder Unglaube zulasse, stehe zudem eine „ideology of superiority,“21 die Andersgläubige ausgrenze und ausschließe. Sofern sich der Leser jedoch dieser Konsequenz verweigere, könne er Joh 5 dennoch als einen befreienden Text lesen.22 Ist die Erzählstrategie dieses Abschnitts wie des ganzen JohEv wirklich so schablonenhaft, wie es der Autor suggeriert? Finden sich nicht doch subtilere Erzählverläufe in Joh 5? Da sich Joh 5 als komplexere, mit ironischen Rollenverkehrungen spielende Auseinandersetzung lesen lässt, wird die recht einfach strukturierte ideologiekritische Lesart des Autors fragwürdig. 2.2  Zweifel an den Argumenten Es sind erhebliche Zweifel an den Argumenten, die für den Unglauben des Geheilten u. a. von Rainer Metzner23 angeführt werden, angebracht: (1) R. Metzner führt an ἀνήγγελειν werde zwar in 4,25; 16,13–15; 16,25 (v.l.) für „die Offenbarung einer Heilswirklichkeit“ gebraucht, an diesen Stellen sei aber im Unterschied zu 5,15 immer von einem eschatologischen Heilsmittler die Rede (Messias, Jesus, Geist). Diese Unterscheidung trägt nicht sehr weit, da die Glaubenden im JohEv grundlegend hineingenommen werden in die Sendung Jesu (vgl. nur 1,35–51; 4,39; 20,21). Zudem lässt Metzner den joh Gebrauch von ἀγγέλλω unberücksichtigt: Maria von Magdala wird aber in 20,18 eindeutig zur Botin, zur Verkünderin der Osterbotschaft an die Jünger: „Maria ging und verkündigte (ἀγγέλουσα) den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen …“ (20,18). Auch 1 Joh 1,5 ist hier anzuführen: „Und dies ist die Botschaft (ἀγγελία), die wir gehört haben und die wir euch verkündigen (ἀναγγέλλομεν) …“. (2) R. Metzner urteilt sodann: Anders als in Joh 9 komme der Geheilte in Joh 5 nicht zum Glauben, erst recht nicht zu einem expliziten Glaubensbekennt17 Vgl.

R. E.  Brown, The Gospel According to John, AncB 29.29a (I 1969), 209 („persistent naiveté“). 18 Vgl. auch das Urteil von J. Becker, Johannes (s. Anm. 1), I 280: „Dass er damit für heutige Leser denunziert, ist dem Erzähler fern und unwichtig (vgl. 9,11 f.15).“ 19 Vgl. F. Lozada, A Literary Reading of John 5. Text as Construction, Studies in Biblical Literature 20, Frankfurt a. M. 2000. 20  Ebd. 57 f. 21 Ebd. 64. 22  Vgl. ebd. 127 f. 23 Vgl. R. Metzner, Geheilte (s. Anm. 9), bes. 186 f; vgl. Ders., Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium, WUNT 122 (2000), 40–61, bes. 53–55.

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2.  Mündiger Glaube

nis mit christologischen Hoheitstiteln.24 In der Tat findet sich kein verbalisiertes Credo des Geheilten in 5,9d–16, aber nonverbale Bekenntnisse zu Jesus kennt das JohEv durchaus (vgl. Nikodemus; Josef von Aritmathäa). Das JohEv kennt zudem viele verbale Äußerungen, die Jesus in Schutz nehmen (vgl. nur 7,50–51), die Anwege sind auf dem Weg zu einem umfassenden Glaubensbekenntnis oder die in sehr unterschiedlichem Wortlaut die eine Identität Jesu versprachlichen. Lässt man einmal die dualistische Prämisse, das JohEv kenne nur Glauben oder Unglauben, außen vor, lassen sich viele Textbeobachtungen finden, die für graduelle, wachsende Glaubenswege und ‑einsichten sprechen. (3) Metzner parallelisiert das ἀπέρχεσθαι in 5,15 mit dem ἀπέρχεσθαι der Jünger in 6,66–67. Der Kontext insbesondere in Joh 6 lässt diese Schlussfolgerung jedoch gerade nicht zu: ἀπέρχεσθαι εἰς τὰ ὀπίσω in 6,66 ist eindeutig anders konnotiert als die Bewegung des Geheilten nach der Begegnung mit Jesus in 5,15. Sodann nimmt der Autor auch 11,46 als sprachliche Parallele zu 5,15 an: 11,46 a Einige aber von ihnen gingen fort (ἀπῆλθον) zu den Pharisäern b und sagten ihnen, c was Jesus getan hat.

Gleichwohl ist 11,46 anders als 5,15 in eine Gegenüberstellung eingebaut, die die typische Krisis, die das Zeichenwirken Jesu heraufbeschwört, darstellt: in 11,45 und 46 werden „viele von den Juden“, die „zum Glauben an ihn kommen“ (11,45) „einigen von ihnen“ (11,46) gegenübergestellt. Zudem ist in 5,15 das Verb ἀναγγέλλω überschießend. (4) Nach Metzner repräsentiert der Geheilte in Joh 5 den Unglauben, der Geheilte in Joh 9 hingegen den Glauben.25 „Beide Geschichten stehen sich spiegelbildlich gegenüber.“26 Die folgenden Ausführungen werden eine andere Verhältnisbestimmung dieser beiden Heilungserzählungen im Einzelnen zu begründen versuchen. (5) Schließlich bringt Metzner das Zeichen Jesu in Joh 5 in Frontstellung gegen die Zeichen in Joh 6, 9 und 11: Die Heilung des Gelähmten gehöre nicht zu den „größeren Werken“ nach 5,20. In 7,21 grenze der Evangelist das eine Werk der Gelähmtenheilung „ausdrücklich von den folgenden Werken ab“. „Dieses Wunder, das den Konflikt mit den ‚Juden‘ eröffnet, ist noch keine Explikation für Jesus als das Licht und Leben der Menschen.“27 Darin liegt jedoch eine völlig unzulässige Ausgrenzung der Heilungstat Jesu, die sich sehr wohl in die sieben Zeichen Jesu im JohEv einreiht, und die mit diesen eine gemeinsame Offenbarungsqualität teilt. Zudem liegt hier ein Widerspruch vor: Gerade das Wunder ist es ja, ohne dass es den eskalierenden Konflikt nicht gäbe. Im Folgenden wird eine neue Deutung der joh Charakterisierung des Geheilten in Joh 5 vorgelegt:  Vgl. Ders., Geheilte (s. Anm. 9), 186. ebd. 188.190. 26  Ebd. 191. 27  Ebd. 191.192. 24

25 Vgl.

2.  Der Geheilte in Joh 5,1–18 – ein Repräsentant des Unglaubens?

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2.3  Zum Aufbau von Joh 5,1–47 5,1–47:28

Die rettende und richtende Lebensmacht des Sohnes

I. 5,1–9c: Die wunderbare Heilung eines Gelähmten II. 5,9d–16: Der sich am Tragen der Bahre entzündende Sabbatkonflikt A 9d–13: 1. Begegnung: der Geheilte und „die Juden“ B 14: 2. Begegnung: der Geheilte und Jesus A' 15–16: 3. Begegnung: der Geheilte und „die Juden“ III. 5,17–18: Die Ausweitung und Verschärfung des Konfliktes: die Wirkeinheit von Vater und Sohn IV 5,19–47: Die eschatologische Gerichtsrede Jesu 5,19–30: Die Vollmacht des Sohnes 5,31–47: Zeugnisse für Jesus

Joh 5,1–47 hat mit vielen anderen Großszenen des JohEv eine gemeinsame Struktur: Ausgehend von einer Wundererzählung, einem σημεῖον, entwickelt sich in mehreren Anläufen bzw. Begegnungssequenzen ein Streitgespräch bzw. eine Rede Jesu, die die im Zeichenwirken Jesu aufleuchtende Offenbarungsherrlichkeit kontrovers entfaltet und ausleuchtet. Dass der Evangelist in diesen Gesprächen und Reden Jesu nicht das Wunderwirken Jesu als solches oder als Glaubensgrund relativieren bzw. zurückweisen will, geht schon aus dem von ihm verwendeten Begriff „Zeichen“ hervor. Dem Evangelisten geht es nicht um ein Übersteigen der Wunder Jesu im Sinne eines zurückzulassenden ‚primitiven‘ Zeichenglaubens, sondern um die inhaltliche Ausleuchtung dessen, was sich im Wunderwirken Jesu an eschatologischer Offenbarungswirklichkeit „zeigt“: „In der Machttat wird sichtbar, was die christologische Rede ausführt: Jesu Einheit mit dem Vater, seine Doxa, seine Macht über Leben und Tod, Gegenwart und Zukunft.“29 Die Wundergeschichte in 5,1–9c folgt weithin den gattungstypischen Gesetzmäßigkeiten, die aus der synoptischen Wunderüberlieferung vertraut sind. Durch die in 5,9d eigentümlich nachgeschobene Information, dass die Heilung Jesu an einem Sabbat geschah, entwickelt sich ein Sabbatkonflikt (5,9d–16), wie er sich strukturell ebenfalls in den synoptischen Evangelien Parallelen findet. Freilich fallen die Unterschiede, die joh Eigentümlichkeiten, sofort ins Auge: Zunächst entzündet sich der Einspruch „der Juden“ nicht an der Heilung als solcher, sondern an dem Tragen der Liege. Nach V. 16 ist dann doch die Heilung selbst der Grund für die Verfolgung Jesu durch „die Juden“. Hier kommt schon in den Blick, worum es in den V. 5,19d–16 geht: das Zueinander von Tragen der Bahre an einem Sabbat, der Heilung eines langjährig Kranken am Sabbat und der Autorität bzw. Identität  Vgl. hierzu R. A.  Culpepper, John 5,1–18 (s. Anm. 7).  U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK IV, Leipzig 32004, 117. Vgl. auch M. D.  Hooker, Art. „Glaube III. Neues Testament“, RGG4 3 (2001), 947–953, hier 949: „Der G. (=Glaube) besteht eher in der Erkenntnis, dass diese Zeichen auf ein wahres Verstehen dessen verweisen, wer Jesus wirklich ist. Für die, die ihre Bedeutung erkennen, offenbaren die Zeichen das Wesen Jesu …“. 28

29

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2.  Mündiger Glaube

dessen, der zum demonstrativen Tragen der Liege aufgefordert hat und der durch die Heilung des Kranken die Voraussetzungen dazu geschaffen hat. Joh 5,17–18 erzählt die Ausweitung und Verschärfung des Konfliktes: Jesus trifft hier erstmals in Joh 5 direkt auf „die Juden“. V. 17 ist ein relativ unvermittelter Anschluss: „[Jesus] aber antwortete ihnen“ in V. 17a ist nicht durch eine direkte Gesprächseröffnung vorbereitet. So erscheint die „Antwort“ Jesu als Reaktion auf die Verfolgung seitens „der Juden“. Diese Grundkonstellation bleibt von jetzt an bis zum Ende von Joh 5 erhalten. Inhaltlich geht es in V. 17 um die Wirkeinheit von Vater und Sohn, die seitens „der Juden“ als massive Steigerung der Schuld Jesu ausgelegt wird: Indem er Gott seinen „eigenen Vater“ nennt, zieht er sich den Vorwurf der Gotteslästerung zu (V. 18). Mit diesem Vorwurf ist die christologische Kern‑ und Grundsatzfrage des JohEv insgesamt angesprochen: In welchem Verhältnis steht Jesus zu Gott? Ist sein Anspruch gotteslästerlich, ein Bruch mit dem monotheistischen Credo Israels, oder ist der Hoheitsanspruch Jesu von Gott selbst her und durch viele Zeugnisse gedeckt? Mit dieser Grundsatzfrage beschäftigt sich in zwei Durchgängen die eschatologische Gerichtsrede Jesu (V. 19–30: Die Vollmacht des Sohnes; 5,31–47: Zeugnisse für Jesus). 2.3.1  Joh 5,9d–16: Der Geheilte als Bote des Zeichenwirkens Jesu Die Neubewertung der Charakterisierung des Geheilten geht aus von einer genauen Strukturanalyse des 2. Abschnitts in Joh 5,9d–16: Der sich am Tragen der Bahre entzündende Sabbatkonflikt. Diese Verse lassen sich wiederum dreiteilen: die zweifache Begegnung zwischen dem Geheilten und „den Juden“ bildet dabei einen Rahmen um die an zentraler Position erzählte Begegnung zwischen Jesus und dem Geheilten (A – B – A'). 2.3.2  Zu A: V. 9d–13: 1. Begegnung: der Geheilte und „die Juden“ V. 9d bietet die einleitende Situations‑ und Problemanzeige, die den Dialog zwischen „den Juden“ und dem Geheilten in V. 10–13 eröffnet. „Die Juden“ eröffnen das Gespräch mit dem Hinweis auf den Sabbat und die vom Geheilten gebrochene Sabbathalacha. 10 a b c d

Da sagten die Juden zu dem Geheilten: „Es ist Sabbat und es ist dir nicht erlaubt (οὐκ ἔξεστιν), deine Liege zu tragen.“

Die kurzen und präzisen Worte „der Juden“ in 10b–d und die juristisch relevante Terminologie (οὐκ ἔξεστιν) geben unschwer zu erkennen, worum es sich hier handelt: Es geht um ein Verhör des Geheilten. Er muss Rechenschaft ablegen für ein Verhalten, das ihm mit einiger Plausibilität als Sabbatbruch ausgelegt wird. Schon mit diesen knappen gesprächseröffnenden Versen nimmt der Evangelist das Sprachfeld des Gerichts, der Krisis und der Justiz, dass das gesamte JohEv als

2.  Der Geheilte in Joh 5,1–18 – ein Repräsentant des Unglaubens?

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Leitmetaphorik durchzieht, auf. Für die Leser wird sofort klar: Es geht hier nicht um eine neugierig harmlose Rückfrage, es geht hier auch nicht um eine vergleichsweise unbedeutende Frage der Sabbathalacha, es geht um das Grundthema des JohEv insgesamt: Jesus, dem der Prozess gemacht werden soll und tatsächlich gemacht wird, ist in ironischer Verkehrung der Rollen und der vordergründigen Wahrheit derjenige, der dem ungläubigen Kosmos den Prozess macht. (Darauf komme ich später noch zurück). Zu seiner erwarteten Verteidigung rekurriert der Geheilte auf den Wundertäter und damit genauerhin auf die wunderbare Heilung selbst: 11 b „Der mich gesund gemacht hat, c jener sprach zu mir: d Trag deine Liege und geh umher!“

Der Geheilte selbst führt in seiner Antwort in das Verhör die seinem Sabbatbruch vorausgehende Wunderheilung durch Jesus allererst ein. Diese war  – der joh Regie folgend – von Seiten der Ankläger geflissentlich übersehen bzw. missachtet worden. Mit dieser Antwort verweist der Geheilte eigenständig über den vordergründigen Sabbatbruch hinaus auf eine menschliche Macht und medizinische Fähigkeiten übersteigende wunderbare Heilungstat, die aufhorchen lassen müsste und die ipso facto die Frage nach der Autorität und Identität des Wundertäters hervorruft. Exakt diese Frage stellen die Verhörenden dem Geheilten: 12 a b c d

Sie fragten ihn: „Wer ist der Mensch, der dir gesagt hat: Trag (deine Liege) und geh umher?“

Der Geheilte kann diese Frage zunächst nicht positiv beantworten. Im Erzählerkommentar teilt der Evangelist seinen Lesern mit, dass der Geheilte die Identität seines Wundertäters nicht kennt, da er wegen der Volksmenge „entwichen war“. 13 a b c d

Der Geheilte aber wusste nicht (οὐκ ᾔδει), wer es ist, denn Jesus war entwichen (ἐξένευσεν), weil (so viel) Volk an dem Orte war.

Der sich dem vorschnellen und kurzschlüssigen Zugriff seiner Gegner, der Adressaten seiner Botschaft in Wort und Tat, der Geheilten und auch seiner Jünger entziehende Jesus ist ein Grundmotiv der joh Christologie.30 Der Evangelist betont so die Souveränität und Unverfügbarkeit Jesu, der sich allein dem Willen und der Verfügung Gottes entsprechend aus eigener Initiative offenbart, wenn „die Stunde“, wenn „seine Stunde gekommen ist“ (vgl. das Motiv der noch nicht bzw. jetzt gekommenen „Stunde“ im JohEv). 30  M. W. G.  Stibbe hat hierzu einen einschlägigen Aufsatz geschrieben: The Elusive Christ. A New Reading of the Fourth Gospel, JSNT 44 (1991), 20–39. Für Joh 5,15 vgl. die Auslegung von Ders., John, Readings. A New Biblical Commentary (1993), 73–76.

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2.  Mündiger Glaube

2.3.3  Zu B: V. 14: 2. Begegnung: der Geheilte und Jesus Genau in dieser Verlegenheit des Geheilten kommt es überraschend und unvorbereitet, wie es für die Selbstoffenbarungen Jesu im JohEv durchgehend charakteristisch ist, zu einer solchen Begegnung zwischen Jesus und dem Geheilten: V. 14. 14 a Danach findet (εὑρίσκει) Jesus ihn im Tempel b und sprach zu ihm: c „Siehe, d du bist gesund geworden, e sündige von jetzt an nicht mehr, f damit dir nicht etwas Schlimmeres geschehe.“

Jesus „findet“ den Geheilten im Tempel(!)  – vom Teich Bethesda immerhin mehrere Minuten zu Fuß entfernt. Dem Evangelisten liegt an diesem Ort, weil er auch sonst ein vorzugsweiser Ort der Lehre und Selbstoffenbarung Jesu im JohEv ist. Solches Von-Jesus-Gefundenwerden ist im JohEv bereits einschlägig codiert: In den Jüngerberufungssequenzen in 1,35–51 wird klar gemacht, dass die Suchenden nur dann fündig werden, wenn sie selbst durch Jesu freie Initiative gefunden werden (vgl. bes. 1,43: „und er (Jesus) findet den Philippus“). In der Anrede an den Geheilten betont Jesus die unbestreitbare, konkrete Heilungstat, die unbedingt eine Schlussfolgerung fordert: „Siehe, du bist gesund geworden, sündige nicht mehr, damit dir nichts Schlimmeres geschehe.“ Aus der durch Jesus geschenkten Heilungserfahrung gilt es also, Konsequenzen zu ziehen: Sie kann und darf nicht ohne Folgen für das eigene Verhalten bleiben. Die Sünde, vor der Jesus den Geheilten nach der ihm erwiesenen Heilung warnt, ist das Vorbeisehen, das Übersehen der tieferen Bedeutung des Geschehenen (vgl. Joh 9): In der nach jüdischer Überzeugung allein Gott vorbehaltenen Heilung eines Schwerkranken wird Gottes Handeln erkennbar und ablesbar. Diese Konsequenz soll sowohl der Geheilte als auch alle anderen Zeugen der Heilung (in der erzählten Welt: „die Juden“, außerhalb der erzählten Welt: die Leser) ziehen. Sünde im Sinne des JohEv ist dann die Weigerung, ein sinnenfälliges heilendes Handeln Gottes wahr‑ und ernstzunehmen. 2.3.4  Zu A': V. 15–16: 3. Begegnung: der Geheilte und „die Juden“ Die sich anschließende Begegnung zwischen dem Geheilten und Jesus kommt auf Initiative des Geheilten zustande. Im Erzählerreferat teilt der Evangelist seinen Lesern mit, dass der Geheilte jetzt nach der neuerlichen Begegnung mit Jesus im Tempel ihre Frage nach der Identität des Wundertäters beantwortet: 15 a b c d 16 a b

Der Mensch ging fort und verkündete (ἀνήγγειλεν) den Juden, dass es Jesus ist, der ihn gesund gemacht hat. Und deshalb verfolgten die Juden Jesus, weil er dies getan hat an einem Sabbat.

2.  Der Geheilte in Joh 5,1–18 – ein Repräsentant des Unglaubens?

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Ist diese Auskunft des Geheilten nun als Verrat Jesu zu verstehen  – und dann gewissermaßen als die Sünde, vor der Jesus ihn doch so nachdrücklich gewarnt hatte? Immerhin steht in V. 15b das Verb ἀναγγέλλω, ein Verb, dass mit „melden“ (U. Wilckens31) oder „berichten“ (U. Schnelle32) nicht treffend übersetzt ist. Im Sinne des Evangelisten ist ἀναγγέλλω auch hier so zu verstehen, wie es sonst im JohEv verwendet wird: als positive Verkündigung. Jedenfalls signalisiert das Erzählreferat ein positiv konnotiertes Geschehen. Eine wörtliche Rede des Geheilten behält der Erzähler uns ja vor. Deshalb stellen sich die Fragen nach der subjektiven Intention und psychologischen Verfassung des Geheilten im Einzelnen nicht. Darüber schweigt der Erzähler. Faktisch wertet er jedoch die Tat des Geheilten als ein positives Geschehen, mindestens aber als ein noch nicht vollbewusstes Tun. Ein Denunziant Jesu, ein Verräter Jesu, ein Paradigma des Unglaubens ist er jedenfalls sicher nicht. Dafür sind keine überzeugenden Indizien namhaft zu machen. Als Gegenprobe lässt sich zudem auf Judas hinweisen: Eine Judaspräfiguration, dem Verräter Jesu par excellence im JohEv, liegt hier eindeutig nicht vor. Im Gegenteil: Gerade indem der Geheilte „verkündet, dass es Jesus ist, der ihn gesund gemacht hat“ (5,15), überschreitet er im Sinne des JohEv den vordergründigen Vorwurf des Sabbatbruches hin zu der zentralen Thematik des Wunderwirkens Jesu, eines Wunders, das auf Gottes Handeln verweist. Auch die Reaktion „der Juden“ in V. 16 ist ein bezeichnender Spiegel: Jetzt verfolgen sie Jesus ausdrücklich deshalb, weil er die Heilung an einem Sabbat vollbracht hat – und nicht mehr den Geheilten wegen des Tragens einer Liege am Sabbat. Freilich zeigt dieses Tun, dass sie nicht bereit sind, die von Jesus geforderten Konsequenzen aus der Wundertat als solcher zu ziehen. Deshalb lässt sich festhalten: Auch wenn die drei Begegnungssequenzen in 5,9d– 16 prima facie unscheinbar und vordergründig erscheinen mögen, für das Gesamt des JohEv und die in ihm erzählten Begegnungsgeschichten kommt diesen Partien eine erhebliche Bedeutung zu: Neben der innertextlichen Kommunikation (erzählte Kommunikation) gilt es auch die Kommunikation des Evangelisten mit seinen Adressaten (Kommunikation durch Erzählung) zu beachten. Joh 5,9d–16 setzt leserlenkende Signale, die im Licht von Joh 9 besonders deutlich erkennbar werden (vgl. 4.–6.). Zunächst ist jedoch noch auf ein joh Echo zu der Sabbatheilung in 7,21–24 aufmerksam zu machen: 2.4  Das Echo auf die Sabbatheilung: 7,21–24 Eine das ganze JohEv einbeziehende, kontextuelle Auslegung von Joh 5 muss auch das Echo auf die Sabbatheilung in 7,21–24 berücksichtigen. Unabhängig von der literarkritisch interessierten Vermutung, hier läge der ursprüngliche Schluss  Vgl. U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 22000, 112.  U. Schnelle, Johannes (s. Anm. 29), 117.

31 32

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2.  Mündiger Glaube

der erweiterten, vorjoh Wundergeschichte *5,1–16 vor, ist der jetzige joh Erzählzusammenhang zu beachten. Für unser Untersuchungsinteresse ist die Frage interessant: Ergeben sich von 7,21–24 her neue Anhaltspunkte für die joh Interpretation des Verses 5,15? Joh 7,1–52 erzählt den sich zuspitzenden Streit um die Messianität Jesu während des Laubhüttenfestes im Jerusalemer Tempel. Innerhalb der komplex verschachtelten Sequenzen kommt Jesus auf das Gesetz des Mose zu sprechen, dessen grundsätzliche Missachtung er „den Juden“ vorwirft (7,19c). Umgekehrt nimmt er für sich und sein Wunderwirken die Übereinstimmung mit dem Gesetz des Mose in Anspruch: Wenn schon die Beschneidung am Sabbat diesen nicht auflöst, sondern geradezu als Gesetzeserfüllung zu verstehen ist, dann kann – dieser Logik folgend – die Heilung eines „ganzen Menschen“ (7,23) am Sabbat keinen Bruch des Sabbatgebotes darstellen. Jesus beansprucht in diesen Versen, in Umkehrung des Vorwurfs seiner Gegner, die wahre Intention des Gesetzes zu erfüllen, hier des Sabbatgesetzes. Er erweist sich als der bessere, als der „eschatologische Toraausleger.“33 Jesus erwartet von seinen Gegnern ein gerechtes Urteil, ein faires Gericht  – eben dieses Motiv zieht sich durch das gesamte JohEv (vgl. nur: 8,15). 7,24 a Urteilt nicht nach dem Augenschein, b sondern urteilt ein gerechtes Urteil!

Zu diesem würde die Zustimmung zu der Argumentation Jesu gehören, zu diesem würde auch die Schlussfolgerung von den Wundertaten auf den Wundertäter gehören, so wie sie ähnlich wenige Verse später im Munde vieler aus dem Volke in Jerusalem erklingt: 7,31

a b c d c' e

Aus dem Volk aber glaubten viele an ihn und sagten: Der Christus, wenn er kommt, wird er mehr Zeichen tun als dieser getan hat?

Die insinuierte Antwort, die die wachen Leser unversehens assoziieren, lautet eindeutig: „Nein. Mehr Zeichen wird er nicht tun. Die Zeichen, die wir gesehen haben, reichen aus; sie sprechen eine deutliche Sprache: Jesus ist der Christus.“ Eben diese Schlussfolgerung weisen die Gegner Jesu in Joh 7 (hier V. 32–36) zurück. Die Parallele zu Joh 5,1–16 ist offensichtlich: Hier wie da verweigern die Gegner Jesu die den Zeichentaten Jesu allein angemessene Schlussfolgerung auf die christologische Identität des Wundertäters. Sie verharren ablehnend gegenüber Jesus und seiner Sendung. Ihre eigene Argumentation ist widersprüchlich. Sie lehnen Jesus ab, obwohl seine von ihnen nicht bestrittenen Zeichen eine deutliche Sprache sprechen.  M. Labahn, Spurensuche (s. Anm. 3), 174.

33

3.  Der Blindgeborene in Joh 9,1–41 – ein Paradigma mündigen Glaubens

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In Joh 5 und in Joh 7 ist es jeweils die gleiche Grundkonstellation: Die Gegner Jesu setzen sich in der joh Darstellung durch ihr eigenes Verhalten, durch ihre eigene ablehnende Reaktion auf Jesus ins Unrecht. Evidenten Sachverhalten und Schlussfolgerungen entgegen verharren sie in der Zurückweisung Jesu. In einer ähnlichen Rolle wie die „Vielen“ aus dem Jerusalemer Volk, die in ihrer provozierenden Frage die Zeichen des Messias thematisieren (7,31), agiert auch der Geheilte in Joh 5. In seiner Auskunft gegenüber „den Juden“ in 5,15 weist er in persona unzweideutig auf seine eigene Heilung und auf den Verantwortlichen für diese Tat hin. Nach der joh Logik, die wiederholt im Munde Jesu bzw. anderer Protagonisten des JohEv aufscheint und eingefordert wird, ist die Botschaft des Geheilten eindeutig und unmissverständlich: Wer ein solches Zeichen zu wirken vermag, wirkt zusammen mit Gott  – und keinesfalls eigenmächtig gegen Gott. Und umgekehrt: Wer ein solches Zeichen und mit ihm den Wundertäter zurückweist, wendet sich gegen Gott und sein eschatologisches Offenbarungswirken. 5,16 und 7,32 sprechen nicht zufällig übereinstimmend von der Verfolgung Jesu bzw. dem Versuch der Gegner, ihn festzunehmen. Es ist ebenfalls kein Zufall, dass Joh 5,17bc exakt diesen Gedanken der Wirkeinheit und ‑gemeinschaft zwischen Jesus und seinem Vater im Munde Jesu aufnimmt und zum kontroversen Ausgangspunkt der gesamten folgenden Gerichtsrede macht. Deshalb drängt sich auch im Blick auf Joh 7,21–24.31 die Schlussfolgerung auf: In 5,9d–16 setzt der Evangelist nicht den Geheilten auf die Anklagebank, wie es seine Ankläger gerne wollen, sondern in ironischer Verkehrung der Rollen „die Juden“, die sich im Recht wähnen, tatsächlich jedoch die Anerkennung Jesu entgegen der evidenten Argumentationslage verweigern. Dem Geheilten kommt dabei die positive Aufgabe zu, als Bote diese zur Entscheidung herausfordernde Botschaft „den Juden“ zu überbringen. Nach der hier vertretenen These liegt in Joh 5 in nuce exakt diejenige Konstellation vor, die der Evangelist in Joh 9,1–41 in großartiger Weise entfaltet. Deshalb jetzt zu Joh 9:

3.  Der Blindgeborene in Joh 9,1–41 – ein Paradigma mündigen Glaubens Das 9. Kapitel im JohEv gehört zu den bis in die Einzelheiten hinein durchkomponierten Begegnungsgeschichten, in denen sich die ganze erzählerische Meisterschaft des Evangelisten und die Luzidität der joh Theologie spiegelt.34 Als Leitmetaphoriken fungieren hier die auch sonst das JohEv durchziehenden Sprachfelder des Lichtes35 und des Gerichtes. 34  Vgl. die Monographie zu Joh 9 von M. Rein, Die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9). Tradition und Redaktion, WUNT II/73, Tübingen 1995. 35 Vgl. hierzu O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995, zu Joh 9 ebd. 223–234.

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2.  Mündiger Glaube

3.1  Zur Architektur und Gedankenführung in Joh 9,1–41 9,1–41:

Blindheit gegenüber dem „Licht der Welt“

9,1–7 Die Heilung des Blindgeborenen V. 1 Die Begegnung zwischen Jesus und dem Blindgeborenen V. 2–5 Theologisches Fachgespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern (gerahmt von der Begegnung zwischen Jesus und dem Blindgeborenen) V. 2–3 über Sünde und Krankheit V. 4–5 über Werke, Nacht und Licht V. 6–7 Die wunderbare Heilung des Blindgeborenen durch Jesus 9,8–12 1. Gespräch: Die Nachbarn und der Geheilte V. 8–11 Die wunderbare Heilung: „Wie …?“ V. 12 Die Frage nach dem Ort Jesu „Wo ist jener?“ 9,13–17 2. Gespräch: Die Pharisäer und der Geheilte V. 14–15 Die wunderbare Heilung als Sabbatkonflikt V. 16–17 Die Frage nach der Identität Jesu (Jesus als Prophet) 9,18–23 3. Gespräch: „Die Juden“ und die Eltern des Geheilten V. 19–21 Die wunderbare Heilung („Wie?“) und die Identität Jesu („Wer?“) V. 21–23 Das Christusbekenntnis und der Synagogenausschluss; „Erwachsensein“ = Mündigsein (ἡλικίαν ἔχει) 9,24–34 4. Gespräch: „Die Juden“ und der Geheilte V. 24–25 Die Identität Jesu – ein Sünder? V. 25–26 Die wunderbare Heilung („Was?“; „Wie?“) V. 27–34 Verhör / ​Streitgespräch: Lehrer – Schüler – Mose – Gott 9,35–38 5. Gespräch: Jesus und der Geheilte V. 35–38 Jesus fragt nach dem Glauben an den Menschensohn und offenbart sich selbst; der Glaube des Geheilten 9,39–41 6. Gespräch: Jesus und die Pharisäer V. 39–41 Gericht (κρίμα) – Sehen und Nichtsehen – Verstockung – Sünde (Rollenwechsel in Relation zu den V. 2–3)

Das joh „Zeichen“ der Blindenheilung wird in sechs Gesprächsgängen entfaltet und in seiner inhaltlichen Tiefe ausgelotet: Das Gespräch führt hin zu einer für joh Begegnungsgeschichten charakteristischen Selbstoffenbarung Jesu vor dem Geheilten. Wie bei der Samariterin ist es erst diese Selbstoffenbarung Jesu, die zum christologischen Glauben führt. Charakteristisch für die Gesprächssequenzen in Joh 9 sind die verschiedenen Gesprächspartner sowie ihre jeweilige Zusammenstellung:

1. 2. 3. 4. 5. 6.

die Nachbarn und der Geheilte die Pharisäer und der Geheilte „die Juden“ und die Eltern des Geheilten „die Juden“ und der Geheilte Jesus und der Geheilte Jesus und die Pharisäer

3.  Der Blindgeborene in Joh 9,1–41 – ein Paradigma mündigen Glaubens

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Das Zeichenwirken Jesu wird hier im Prisma der Reaktion unterschiedlicher Personengruppen reflektiert. Viermal wird über das „Zeichen“ Jesu und seine Person gesprochen – bei den letzten beiden Gesprächen ist Jesus selbst ein Dialogpartner. Auf diese Weise werden die menschlichen Reaktionen auf das Wirken Jesu in Wort und Tat in vielfacher Hinsicht dargestellt: Glaube und Unglaube gegenüber dem „Licht der Welt“ (9,4; vgl. 8,12) werden in den verschiedenen Reaktionen und Abstufungen durchbuchstabiert und den Lesern im Blick auf ihre eigene Stellungnahme vor Augen geführt. Dabei geht es einerseits um christologische Identifikationsmöglichkeiten (Jesus als Prophet, als Sünder, als Christus, als Menschensohn, als Licht der Welt), andererseits um anthropologische, ethische und soteriologische Fragen (die Sabbatobservanz, den Synagogenausschluss, Sünde, Gericht und Verstockung, Sehen und Blindsein im wörtlichen und im übertragenen Sinn). In allen Gesprächen verbindet sich die Frage nach dem „wie?“ der „Zeichen“Tat mit der Frage nach der Person und der Identität des Wundertäters („wer?“). Unabweisbar erwächst aus dem Wunder die Frage nach der christologischen Identität des Wundertäters: Es ist bezeichnenderweise der Geheilte selbst, der in den V. 27–34 die jüdischen Basisüberzeugungen für Jesus in Anspruch nimmt und damit in direkter Konfrontation die jüdischen Fachleute herausfordert bzw. anklagt: „Noch niemals wurde gehört, dass jemand die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat. Wenn dieser nicht von Gott wäre, könnte er nichts tun“ (V. 32–33). Es sind paradoxer‑ bzw. ironischerweise gerade die jüdischen basics, die für Jesus sprechen – und damit gegen seine Gegner. 3.2  Ironie und Rollenwechsel Im Anschluss an das sechste Zeichen Jesu im JohEv, die Heilung eines Blinden am Schiloachteich 9,1–7, entwickelt sich eine Gesprächsfolge, an deren Ende eine ironische Umkehrung der Ausgangsituation steht: Setzen die Jünger Jesu zunächst fraglos voraus, dass der Blinde ein Sünder ist, und wollen sie ‚nur‘ noch die theologische Fachfrage klären, ob seine Eltern oder er selbst gesündigt habt (mit der Blindheit als Schuldfolge; vgl. 9,2), so konstatiert Jesus am Schluss, dass die Pharisäer zwar nicht im physiologischen Sinn blind sind (das würde sie entschuldigen), wohl aber, dass die Sünde sie blind macht für die angemessene Deutung des Heilungszeichens (9,40–41). Der vorausgesetzte Zusammenhang von Blindheit und Sünde wird neu buchstabiert: Nicht der von Geburt an Blinde bzw. dessen Eltern haben Schuld auf sich geladen, so dass die Strafe in dieser Logik berechtigt wäre, sondern diejenigen sind in einem übertragenen Sinne blind und sündig, die als „Fachleute“ keine Belehrungen annehmen wollen, sondern Schuldzuschreibungen vornehmen (9,34) und zudem dem Wirken Jesu gegen die sichtbare Evidenz (vgl. 9,33: „Wenn dieser nicht von Gott wäre, könnte er nichts tun“) die Qualität eines gottgegebenen Handelns absprechen.

246

2.  Mündiger Glaube

Die Frage der Gegner Jesu „Sind auch wir Blinde?“ (9,40) reiht sich ein in eine lange Reihe von unbeantworteten Fragen (vgl. 1,46; 4,12; 6,25.42.52; 7,15.20.26.35– 36.41.42.47.48.52; 8,22.48; 9,27; vgl. 18,30), deren ironische Diskrepanz oftmals darin besteht, dass die jeweiligen Sprecher sie gegenteilig beantworten als die Leser, die die Antwort im richtig verstandenen Sinn kennen. In der Art und Weise, wie der Geheilte die ihn Verhörenden angeht (vgl. V. 25.27.31), wird ein Rollenwechsel erkennbar: „The manner in which he reminds the authorities of some basics of Jewish theology (‚We know that God does not listen to sinners‘, V. 31) is heavily ironic.“36 Mit dem geheilten Blinden sollen sich die Leser und Hörer wundern über die Unkenntnis der Gegner Jesu, da angesichts der „Zeichen“, „Worte“ und „Werke“ Jesu seine messianische Identität evident ist: „Darin liegt nämlich das Erstaunliche, dass ihr nicht wisst, woher er ist, aber er öffnete mir die Augen. … In Ewigkeit wurde nicht gehört, dass einer die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat“ (9,30–32). Diese Umkehrung der Zustände wird theologisch mit der jesajanischen Verstockungstheologie erläutert: „Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nicht-Sehenden sehen und die Sehenden blind werden“ (Jes 9,39; vgl. Jes 6,10; Joh 12,39–40). Die von Jesus heraufgeführte Krisis (vgl. Joh 3,19; 5,24 u. ö.), das Gericht (vgl. 9,39b), hat eine doppelte statusverändernde Wirkung: (a) Ein von Geburt an Blinder kann geheilt werden und in einem weiterführenden Sinn sehend werden für die Offenbarung Gottes in seinem Sohn. (b) Diejenigen, deren Augen gesund sind, können durch ihre „erstaunliche“ (9,30) Weigerung, das Wirken Jesu zu deuten, schuldig werden, also im übertragenen Sinn blind werden (d. h. sich das Gericht zuziehen). Jesu Wirken und Worte als „Licht der Welt“ (9,5; 8,12) widerlegen den vermeintlichen Zusammenhang von physiologischer Blindheit und Sünde, provozieren zugleich aber Reaktionen, die den tatsächlichen Zusammenhang von Sünde und Blindheit im übertragenen Sinn aufdecken. Blindheit und Sehen, Krankheit und Gesundheit, Schuld und Unschuld, Glaube und Unglaube werden coram luce mundi neu buchstabiert. Die Gesprächssequenzen in Joh 9 folgen einer subtilen Ausrichtung: An das Gespräch zwischen dem Geheilten und den Nachbarn (9,8–12) schließen sich die Gespräche zwischen den Pharisäern und dem Geheilten (9,13–17), zwischen den Juden und den Eltern des Geheilten (9,18–23) und ein zweites Verhör des Geheilten durch „die Juden“ an (9,24–34), bevor es abschließend zu direkten Begegnungen zwischen Jesus und dem Geheilten (9,35–38) und zwischen Jesus und einigen Pharisäern (9,39–41) kommt. Ist Jesus in den ersten vier Gesprächssequenzen ‚nur‘ Objekt der interessierten (9,8–12) oder verhörenden (9,13–34) Nachfrage, so tritt er in den beiden letzten Kontrastszenen selbst auf: Während Jesus sich dem Geheilten als „Menschensohn“ offenbart und der Geheilte sich zu 36 Vgl. M. W. G.  Stibbe, John (s. Anm. 31), 106. Vgl. weiterführend „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, in diesem Band, S. 349–368.

3.  Der Blindgeborene in Joh 9,1–41 – ein Paradigma mündigen Glaubens

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ihm in Wort und Tat bekennt (V. 35–38), spricht er „einigen von den Pharisäern“ Verstockung, Blindheit und Sünde zu (V. 39–41; vgl. 8,21.24). 3.3  Vom Kryptochristentum zum erwachsenen Glauben Die verschiedenen Gesprächssequenzen in Joh 9 sind transparent für das zeitgeschichtliche Problem des Synagogenausschlusses und das sogenannte Kryptochristentum: In 9,22 wird der Ausschluss aus der Synagoge als Reaktion auf das Christusbekenntnis von Synagogenmitgliedern genannt (vgl. 9,34; 12,42; 16,2). Dieser Ausschluss der judenchristlichen Minderheit gehört zu den traumatischen Schlüsselerfahrungen der joh Christen und ist für ihre Gemeindegeschichte und Theologiegeschichte sowie insbes. ihr Bild von „den Juden“ von ganz erheblicher Bedeutung. Als Kryptochristen (vgl. hierzu auch Nikodemus in Joh 3) erscheinen in Joh 9 die Eltern des Blindgeborenen, die sich nicht explizit zu Jesus bekennen, sondern auf ihren Sohn verweisen: 9,21

a b c d e f g

„Wie er aber jetzt sieht, wissen wir nicht; und wer seine Augen geöffnet hat, wissen wir nicht. Fragt ihn selbst, er ist erwachsen (ἡλικίαν ἔχει); er selbst wird für sich sprechen.“

Den (geschickt oder unwissend) ausweichenden Eltern wird durch sie selbst ihr eigener Sohn gegenübergestellt, der „erwachsen ist“, der „mündig ist“, der Auskunft geben wird. Eben dies ist die pragmatische Absicht des Evangelisten: Diejenigen, die nur heimlich Christen sind aus „Furcht vor den Juden“ (vgl. 9,22; 3,1–2; 7,13; 19,38(!); 20,19), sollen motiviert werden, sich offen zu Christus zu bekennen, und so im Glauben erwachsen, mündig zu werden. Die Grundbedeutung des im NT seltenen ἡλικία ist „Alter“, „Lebensalter“.37 In Verbindung mit ἔχειν (teils mit folgendem Inifinitiv) wird es verwendet im Sinne von „erwachsen sein“, „das Mannesalter erreicht haben“, im „wehrfähigen Alter sein“38.39 37 Vgl.

2 Makk 4,40 („ein Mann in vorgerücktem Alter und von ausgeprägtem Unverstand“); 6,18 („ein Mann schon vorgerückten Alters“); 2 Makk 6,23: „hohes Lebensalter“ (vgl. 6,24); 15,30: „Lebensalter (Jugend)“; 3 Makk 6,1 („hohes Lebensalter“); 4,8 („jugendliches Alter“); 4 Makk 5,4 und 5,7.36 („hohes Lebensalter“); 9,26 („Lebensalter“); 5,11: „dem Lebensalter angemessen“; 8,10: „jugendliches Alter“ (= 8,20); 11,14 („Ich bin zwar dem physischen Lebensalter nach jünger als …“; Hiob 29,18 LXX („mein Lebensalter“); Weish 4,9 („hohes Lebensalter“); Sir 26,17 („Lebensalter“); Ez 13,18 LXX („für Leute jeder Größe, jeden Alters“). 38  Vgl. Herodot, Historien I 209: „das kriegsfähige Alter“; 2 Makk 5,24: „alle erwachsenen (wehrfähigen) Männer zu töten“. 39 Vgl. Greek-English Lexicon, Oxford 1996, 768: ἡλικίαν ἔχειν plus Infinitiv: to be of fit age for doing. In Mt 6,25par Lk 12,25 findet sich der terminus ohne ἔχειν (hier „Lebenslänge“).

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2.  Mündiger Glaube

Im JohEv begegnet der Terminus nur in Joh 9, zunächst in direkter Rede im Munde der Eltern (9,21), sowie im Erzählerkommentar, der den Hinweis der Eltern auf ihren Sohn mit ihrer Furcht vor dem drohenden Synagogenausschluss begründet (9,22–23). Die Verwendung von ἡλικία bzw. ἡλικίαν ἔχειν in den folgenden Vergleichstexten belegt den auch für Joh 9,21.23 relevanten Kontext der elterlichen Erziehung bzw. der Erwachsenenreife: Platon, Euthydemos 306d: „Kriton: Wegen meiner Söhne nun, o Sokrates, bin ich ja gewiss, wie ich dir auch jedesmal sage, in rechter Verlegenheit, was ich mit ihnen beginnen soll. Der Jüngere zwar ist noch klein, Kritobulos aber wächst schon heran (ἤδη ἡλικίαν ἔχει) und bedarf eines, der ihm forthilft …“

Platon, Theaitetos 142d: „Eukleides: … Da ich nun nach Athen kam, erzählte er mir die Unterredungen, welche sie gehabt, welche auch sehr verdienen, gehört zu werden, und sagte, es könne nicht ausbleiben, dieser müsse ein ausgezeichneter Mann werden, wenn er nur sein volles Alter erreichte (εἴπερ εἰς ἡλικίαν ἔλθοι).“

Platon, Menon 89b: „Sokrates: … Wenn die Guten es von Natur wären, so würde es auch welche unter uns geben, welche die von Natur Guten unter der Jugend zu unterscheiden wüssten, welche wir dann, sobald jene sie angezeigt hätten, aussondern und in der Feste verwahren würden, weit sorgfältiger sie ‚besiegelnd‘ als das Gold, damit niemand sie uns verderben könne, sondern sobald sie das gehörige Alter erreicht hätten (ἀλλ᾽ ἐπειδὴ αφίκοιντο εἰς ἡλικίαν), sie dem Staat nützlich würden.“40

2 Makk 7,27 (JSHRZ I/3): „Sie beugte sich zu ihm und sprach unter Schmähungen auf den grausamen Tyrannen in ihrer Muttersprache: ‚Mein Sohn, habe Erbarmen mit mir, die Dich neun Monate im Leibe getragen und drei Jahre gestillt, die Dich aufgezogen und bis in dieses Alter geführt hat (ἀγαγοῦσαν εἰς τὴν ἡλικίαν ταύτην).“

Das Wort der Eltern des Blindgeborenen hat Gewicht: 9,21 e „Fragt ihn selbst, f er ist erwachsen (ἡλικίαν ἔχει); g er selbst wird für sich sprechen.“

Hier kündigen die Eltern des Blindgeborenen geradezu prophetisch die öffentliche Verteidigung ihres Sohnes an, eine Verteidigung, wie sie einem erwachsenen Menschen zukommt. Hier geht die Verteidigung des Angeklagten zudem unverkennbar in eine Umkehrung der Rollen über. Zugleich liegt in diesem Wort der 40 Vgl. Platon, Theaitetos 146b: „Theodorus: Keineswegs, Sokrates, kann das überlästig sein. Sondern heiße einen von den Jünglingen dir antworten, denn ich bin dieser Art zu reden ungewohnt, und mich etwa noch daran zu gewöhnen, habe ich nicht mehr die Jahre (ἡλικίαν ἔχω).“

3.  Der Blindgeborene in Joh 9,1–41 – ein Paradigma mündigen Glaubens

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Eltern ein für joh Erzählweise typisches Moment der Ironie: Sie selbst könnten sich ja auch an ihr eigenes Wort halten. Ihr Hinweis auf das eigene Kind, das sie selbst ja zum Erwachsenenalter geführt haben und das jetzt mündig ist, kann sie ja in Wahrheit nicht dispensieren von der auch von ihnen geforderten Mündigkeit. Neben dieser textinternen Kommunikation gilt es auch die Kommunikation des Evangelisten mit seinen Lesern im Auge zu behalten: Er legt den Eltern eine Botschaft an seine Leser in den Mund: Wie der erwachsene Blindgeborene sollen auch sie in ihre eigene Glaubensmündigkeit hineinwachsen. 3.4  Der Blindgeborene und die Gesprächsstrategie Jesu Der Geheilte übernimmt in seiner zur Anklage übergehenden Verteidigung Gesprächstrategien Jesu, wie sie z. B. aus dem Nikodemusgespräch in Joh 3 bekannt sind. Er stellt Gegenfragen (vgl. 9,27de) und argumentiert mit jüdischen Grundüberzeugungen (vgl. 9,25d–f; 9,30c–f; 9,31–33). Wie im Nikodemusgespräch ergibt sich ein ironischer Rollenwechsel: 3,10 c „Du bist der Lehrer Israels, d und du weißt das nicht?“

Mit Jesus steht dem Lehrer Israels der wahre Lehrer gegenüber, der Nikodemus unterrichtet. Dieser Konstellation entspricht in Joh 9 der Einwand „der Juden“, der für die Lesenden als ironische Fremdprophetie zu durchschauen ist: 9,34 c „Ganz in Sünden bist du geboren, d und du willst uns belehren?“

Als solchermaßen Lehrender erweist sich der ehemals Blinde tatsächlich als erwachsen, als mündiger Zeuge für die Botschaft Jesu. Die Parallelisierung zwischen Jesus und dem Geheilten hinsichtlich ihrer Gesprächsstrategie zeigt einerseits die im JohEv mehrfach betonte Schicksalsgemeinschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern (vgl. 12,26; 15,18–25), andererseits liegt darin die Aufforderung, in der Nachfolge Jesu und orientiert an seinem eigenen Verhalten die Sendung Jesu fortzusetzen (vgl. die Abschiedsreden insgesamt; 20,21). Diese Sendung Jesu führt in die eschatologische Scheidung, die Krisis. Im Parakletwirken und in der Jüngersendung setzt sie sich nachösterlich fort. Das in juristischer Metaphorik gezeichnete Grundbild der Sendung Jesu in die Welt (den Kosmos) hat seine Gültigkeit auch für die nachösterliche Gemeinschaft der Kinder Gottes. Hier ist die Transparenz der joh Evangelienerzählung für die nachösterliche Glaubensgemeinschaft in Anschlag zu bringen. In Joh 9 wird den Adressaten des Evangeliums ein Paradigma mündigen Glaubens vor Augen gestellt und in aller wünschenswerten Klarheit entfaltet: Der geheilte Blindgeborene erweist sich, wie es seine Eltern über ihn ankündigen, als „erwachsen“ und „mündig“, er bekennt sich trotz der Sanktionsandrohung durch den Synagogenausschluss öffentlich zu seinem Wundertäter. In der öffentlichen Auseinandersetzung mit „den Juden“ in 9,24–34 übernimmt er die Gesprächs-

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2.  Mündiger Glaube

strategie Jesu und erweist sich wie Jesus zuvor als der überlegene Schriftgelehrte und Theologe, demgegenüber sich „die Juden“ als selbstwidersprüchlich entlarvt werden.

4.  Charakteristika der johanneischen Begegnungsgeschichten in Joh 5 und Joh 9 4.1  Anagnorisis: Vom Nichterkennen zum Erkennen In allen joh Begegnungsgeschichten findet sich eine in Variationen immer wiederholte Grundfigur, die sich inhaltlich und gattungsgeschichtlich ausweisen lässt: Es geht um das Erkennen oder Nichterkennen Jesu als des eschatologischen Gesandten Gottes, es geht um das Suchen und Finden oder Nicht-Finden Jesu, um die reguläre Unkenntnis, die nur durch die Initiative Jesu selbst in Kenntnis umschlagen kann (vgl. Kap 6–8 im JohEv). Das tragische Nichterkennen wird in zahlreichen Prismen dem glücklichen Erkennen Jesu gegenübergestellt. Das Täuferwort in 1,26d: „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt (οὐκ οἴδατε)“ lässt sich als inhaltliche Verbalisierung dieser Grundfigur joh Begegnungsgeschichten verstehen. Die grundlegende Bewegung, die im JohEv gelingend, offen oder scheiternd in vielfachen Amplifikationen und ständigem Blick auf die Adressaten erzählt wird, ist die Bewegung von dem Nicht-Kennen, dem Nicht-Wissen zum gläubigen Erkennen bzw. Wiedererkennen. R. A.  Culpepper schreibt: „The repitition of recognition scenes throughout the Gospel and the role that they play in the larger theme of Jesus as the unrecognized Revealer suggest that the Evangelist has taken the anagnorisis, a plot motif that was common in Jewish literature and Greek drama, and used it as one of the central elements in the plot of the Gospel.“41

Gerhard Neumann schreibt in der Einführung zu dem von ihm herausgegebenen Kompendium zur Literaturwissenschaft unter der assoziationsreichen Überschrift: „Ein fast unendliches Spiel …“: „Die wichtigste Situation im Drama ist denn auch für Aristoteles das Erkennen, welches imprévu und déjà vu zugleich ist, ein überraschendes Wieder-Erkennen, die anagnorisis: ein ‚Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis‘, wie es heißt. Die Anagnorisis steht im Zeichen von Sehen und Verkennen, von dianoia und hamartia, von Durchblick und Missverständnis …“42 41  Vgl. R. A.  Culpepper, Gospel (s. Anm. 6), 67–86 („Plot“), hier 86; vgl. ebd. 71: „One of John’s distinguishing features is its depiction of Jesus as the revealer and the various responses to him in a narrative that draws the reader to affirm the narrator’s perception of Jesus’ identity through a series of episodes that describe attempted, failed, and occasionally successful anagnorisis (recognition scenes).“ 42 G. Neumann, Ein fast unendliches Spiel …, in: H. Bosse / ​U. Renner (Hgg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i. Br. 1999, 7–16, hier 9.

4.  Charakteristika der johanneischen Begegnungsgeschichten in Joh 5 und Joh 9

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Gattungsgeschichtlich lässt sich die Anagnorisis dem Drama zuordnen (vgl. die Poetik des Aristoteles, Kap. 11).43 Diese in der Forschung bisher noch zu wenig wahrgenommene und ausgearbeitete Grundfigur joh Erzähltechnik liegt in je eigener Anwendung auch Joh 5 und Joh 9 zugrunde. Da die Gegner Jesu ihn unnachgiebig zurückweisen, ihn nicht erkennen, und deshalb im JohEv weithin eine für die Sendung Jesu unerreichbare Gruppe darstellen, rücken die Geheilten um so mehr in den Blick: Sie sind die unmittelbar von Jesu Zeichenwirken heilsam Betroffenen, ihr Erkennen und Glauben steht auf dem Spiel: Zunächst kann der Geheilte in Joh 5 keine Auskunft geben: „Der Geheilte aber wusste nicht (οὐκ ᾔδει), wer es ist“ (5,13ab). Erst durch die von Jesus initiierte Begegnung (5,14) kommt es zur Kenntnis der Person Jesu und zu der Botschaft an „die Juden“ (5,15). Dabei ist unbestritten, dass der Geheilte in Joh 5 erst ganz am Anfang eines Glaubensweges steht – eines Glaubensweges, auf dem sein Schicksalsgenosse in Joh 9 schon erheblich weiter vorangekommen ist. Dabei fällt eine Besonderheit auf: In Joh 9 tritt der geheilte Blindgeborene schon in eine offensive Verteidigung Jesu bzw. Anklage seiner Ankläger ein, bevor ihm die Selbstoffenbarung Jesu als Menschensohn zuteilwird (vgl. 9,35–38). Anders als die arrogant daherkommenden Fachtheologen (so die joh Charakterisierung) kann er aus dem Heilungswunder die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Zum vollen Glauben gehört freilich noch ein weiterer Schritt: Erst durch die erkennende Begegnung mit Jesus, im tiefen Gewahrwerden seiner Identität wächst sein Glaube zu der bündigen, vollgültigen Antwort: „Ich glaube, Herr“ (9,38b). 4.2  Unterschätzte Brücken zwischen Joh 5 und Joh 9 Zwischen Joh 5 und 9 lassen sich eine überraschend lange Reihe von Brücken erkennen, die auf eine weitreichende joh Prägung dieser Wundersequenzen, genauerhin auf eine gemeinsame erzählerische Intention bzw. Leserführung schließen lassen.44 Im Folgenden werden diese ohne besondere Gewichtung aufgezählt: (1) Beide „Zeichen“-Heilungen erzählen von einem namenlosen Geheilten. (2) Beide Wundererzählungen werden joh Stil entsprechend durch Dialogszenen ergänzt. Das 1. und 2. Zeichen in 2,1–11 und 4,46–54 haben allerdings keine Ergänzungen: Sie entsprechen den synoptischen Wundererzählungen in ihrer formalen Gestalt und literarischen Kontexteinbindung. Dies ändert sich ab dem 3. Zeichen bis zum 6. Zeichen (5,1–9; 6,1–14.15–21; 9,1–8). Beim 7. Zeichen werden die beiden 43  Vgl. Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und hg. von M. Fuhrmann, Stuttgart 1982, Kap. 11. 44 Hierzu finden sich Beobachtungen bei R. Metzner, Geheilte (s. Anm. 9), 191, der in Anm. 60 auf weitere Autoren verweist; vgl. R. A.  Culpepper, Anatomy (s. Anm. 5), 139; J. L.  Staley, Stumbling (s. Anm. 5), 58.

252

2.  Mündiger Glaube

Gattungen Wundergeschichte und Dialog, Schul‑ bzw. Streitgespräch weithin miteinander verwoben (11,1–44). (3) Die Wundertat Jesu ist jeweils Ausgangs‑ und Bezugspunkt für einen schweren Konflikt mit „den Juden“. (4) Beide Wunder werden seitens der Gegner Jesu als Sabbatbruch qualifiziert. V. 5,9d und 9,14ab führen die Zeitangabe „es war aber Sabbat“ überraschend erst nach der Wundergeschichte und nicht etwa in ihrer Exposition sekundär ein45 und stellen so den Anschluss für den sich eben hieran entzündende Kontroverse her. (5) Beide Wunderheilungen werden an einem Teich in Jerusalem lokalisiert. (6) Nach der wunderbaren Heilung kommt es jeweils allein durch die Initiative Jesu zu einer zweiten Begegnung zwischen Jesus und dem Geheilten. In beiden verwendet der Evangelist das Verb εὑρίσκειν (5,14: „Und danach findet Jesus ihn im Tempel“; 9,35: „und als er ihn fand, sagte er“). (7) Beide Kapitel reflektieren das Thema Sünde. Was in 5,14 vergleichsweise kurz angesprochen wird, entfaltet Joh 9 in meisterlicher Kompositionsarbeit. (8) In beiden Sequenzen findet sich das Motiv des sich entziehenden Jesus: 5,13 und 6,15; nach 9,12 weiß der Geheilte nicht, wo Jesus ist (vgl. 9,25bc). (9) Beide Wundergeschichten provozieren aufgrund der manifesten Heilung die Frage nach der Autorität und Identität des Wundertäters. An Jesus scheiden sich die Geister, obwohl in der joh Perspektive alle Argumente für Jesus, d. h. für seine christologische Identität sprechen. (10) Beiden Geheilten kommt jeweils eine aktive Botenfunktion zu, die freilich unterschiedlich intensiv ausgearbeitet und akzentuiert ist.

5.  Auswertung: Die johanneische Erzählführung von Joh 5,1–16(17–47) zu Joh 9,1–41 5.1  In der Werkstatt des Evangelisten Stellen wir die exegetischen Ausführungen zu Joh 5 und Joh 9 sowie die stattliche Zahl ihrer Gemeinsamkeiten in Rechnung (vgl. 3–5), öffnet sich ein weiter Blick in die Werkstatt des Evangelisten: Wir stoßen auf die vorjoh Wunderüberlieferung, die im Zuge ihrer Integration in das JohEv eine tiefgreifende joh Ausgestaltung erfahren hat. Zu dieser Ausarbeitung gehören: (a) die konkrete joh Gestalt der sich anschließenden Konfliktgeschichten, (b) die Reflexion auf die Rolle der Geheilten zwischen den Fronten, in denen sich die joh Zeitgeschichte spiegelt (Synagogenausschluss, Kryptochristentum), 45  Liegt hier ein literarkritisch auszuwertendes Indiz vor oder gehört dieses Moment als bewusste Informationsvorenthaltung eher zu den Stilmitteln der joh Erzählungen  – so J. L.  Staley, Stumbling (s. Anm. 5), 59 f; T. Thatcher, The Sabbath Trick. Unstable Irony in the Fourth Gospel, JSNT 76 (1999), 53–77.

5.  Auswertung: Die johanneische Erzählführung von Joh 5,1–16(17–47) zu Joh 9,1–41 253

(c) die Betonung des Glaubensweges, der aus der Verborgenheit zu einer Glaubensmündigkeit in der Nachfolge Jesu führen soll und (d) die übergreifende Einordnung und Deutung dieser Begegnungsgeschichten als Anagnorisis, als Erzählsequenzen, in denen es um die dramatische Frage der Kenntnis oder der Unkenntnis Jesu geht. Ein wechselseitiges, spiegelbildliches Lesen von Joh 5 und 9 führt zu einem Einblick in die Genese joh Begegnungsgeschichten. Joh 9 kann als eine elaborierte Fassung der in Joh 5,1–16 grundlegend angesprochenen Konstellation gelesen werden: Ein von Jesus Geheilter sieht sich unwillentlich mit dem Einspruch und Widerspruch der Gegner Jesu konfrontiert. Er wird geradezu in ein justiziables Verhör genommen und zur Rechenschaft aufgefordert. Dabei drängen sich gerade aufgrund jüdischer Überzeugungen theologische Schlussfolgerungen auf, die die Gegner Jesu jedoch zurückweisen. Dies fordert die ohnehin erst anfängliche Beziehung der Geheilten zu ihrem Wundertäter heraus und stellt sie auf einen Glaubensweg, der nach joh Intention vom verborgenen Christsein zu einem mündigen Glauben führen soll. Eben dies ist die pragmatische Intention des Evangelisten, der in diesen exemplarischen Szenen seinen Adressaten Identifikationsangebote vor Augen stellt. Diese Kernkonstellation liegt schon in Joh 5,1–16 vor. Der Evangelist zeigt mit dem Verb ἀναγγέλλω seinen Adressaten, dass in Joh 5 immerhin ein erster Schritt vorliegt, in jedem Fall die Richtung, in die es gehen soll. In Joh 9,1–41 wird diese konfliktive Situation der Glaubenden ausführlich entfaltet und in ihren Einzelheiten ausgeführt. Am Beispiel von Joh 5 und Joh 9 lassen sich die konfigurierenden Prozesse nachvollziehen, die sich in unterschiedlichem Reifegrad in den joh Begegnungsgeschichten entfalten. Die genannten Bezüge zwischen diesen beiden joh Großszenen und die von mir vertretene Deutung derselben erhellen die formalen und inhaltlichen Kategorien, die die joh Evangelienbildung vorangetrieben haben. 5.2  Johanneische Erzählstrategie: In den Prozess verwickeln Jede Erzählung – so die narrative Theorie von Paul Ricoeur46 – zielt mit der konkreten Konfiguration des Textinventars und ihren textinternen bzw. ‑externen Kommunikationsebenen auf die Rezeption seitens der Lesenden bzw. Hörenden. Bei ihnen soll sich die den Texten inhärente Eigendynamik des konfigurierenden Aktes fortsetzen (Refiguration in der Rezeption der Erzählung). Sinnziel dieser Erzählführung ist es, einen „Text als ein zum Bewohnen einladenden Entwurf

 Vgl. P. Ricoeur, Zeit und Erzählung I–III, München 1988.1989.1991. P. Ricoeur unterscheidet drei Erzählebenen: Mimesis I (Präfiguration der Erzählung; d. h. die in der Erzählung vorausgesetzten Vorverständnisse der Rezipienten; z. B. Prätexte), Mimesis II (Konfiguration der Erzählung; d. h. das konkrete Textinventar hinsichtlich der textinternen und ‑externen Kommunikationsebenen), Mimesis III (Refiguration in der Rezeption der Erzählung; d. h. die Fortsetzung der Eigendynamik des konfigurierenden Aktes bei den Lesern selbst; vgl. ebd. 47–137. 46

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2.  Mündiger Glaube

von Welt“ zu verstehen, der „in seiner Aneignung die gegenwärtige Situation der Rezipienten verwandelt“ und ihm eine neue „narrative Identität“47 ermöglicht. Diese theoretischen Reflexionen lassen sich überzeugend auf das JohEv anwenden: Ausweislich der das ganze JohEv durchziehenden und in Joh 5 und 9 eine prominente Rolle spielenden juristischen Metaphorik lässt sich die pragmatische Intention des JohEv als Versuch bestimmen, die Leser und Leserinnen „in den Prozess zu verwickeln“. Mit diesem Titel ist die Studie von Dirk F. Gniesmer überschrieben – ein ausgezeichnetes Beispiel für das exegetisch-interpretative Potential der angewandten Narratologie.48 In seiner Analyse und Interpretation der joh Passionsdarstellung49 gelingt es ihm aufzuzeigen, dass diese meisterlich komponierte Szenenfolge ein eindrucksvolles Beispiel joh Begegnungserzählungen darstellt und sich in die pragmatische Gesamtintention des JohEv bestens einfügt. Die aufmerksamen Adressaten des JohEv werden durch ihre je eigene Rezeption des Prozesses Jesu selbst in den Prozess verwickelt. Wie der geheilte Blindgeborene in Joh 9 soll ihr Glaube vertieft werden und in eine mündige Zeugenschaft hinein wachsen.50 Als Hauptintention der joh Prozessdarstellung erweist sich nach D. F. Gniesmer die „Befähigung zum Zeuge-Sein“ in dem sich fortsetzenden Prozess, in den die Verkündigung des Evangeliums stellt.51 Lesen wir das JohEv rückwärts von seiner Darstellung des Prozesses Jesu her, dann klären sich die vermittelnden Botenrollen der Geheilten in Joh 5 und 9 noch einmal: Beide Geheilte und mit ihnen die sich in ihrer eigenen Situation wiedererkennenden Adressaten werden aufgefordert und bestärkt, selbst als Zeugen für die Zeichen Jesu, als Zeugen für Jesus als den Messias (vgl. 20,30–31) zu wirken. Zum mündigen Glauben gehört das öffentliche Zeugnis. 5.3  Der Sitz im Leben des JohEv: Den Glauben der Glaubenden wecken „Den Glauben der Glaubenden wecken“ – mit dieser paradox anmutenden Formulierung hat Jean Zumstein die joh „strategie de croire“52 treffend beschrieben: Die joh Stufenhermeneutik, wie J. Zumstein diese Strategie auch nennt, zielt zunächst nicht auf die Gegner Jesu, die schon aufgrund ihrer weithin pauschalisier Vgl. ebd. 131 f. D. F.  Gniesmer, In den Prozess verwickelt. Erzähltextanalytische Erwägungen zur Erzählung vom Prozess Jesu vor Pilatus (Joh 18,28–19,16a.b), EHS 23.688, Frankfurt a. M. 2000. 49  Vgl. vor ihm zuletzt C. Diebold-Scheuermann, Jesus vor Pilatus. Eine exegetische Untersuchung zum Verhör Jesu durch Pilatus (Joh 18,28–19,16a), SBB 32, Stuttgart 1996; vgl. hierzu K. Scholtissek, Neue Wege I (s. Anm. 1), 270. 50  Vgl. D. F.  Gniesmer, Prozess (s. Anm. 48), 381 f. Zugleich zielen exakt diese Prozesskonfigurationen auf die Lesenden: So geht es in Joh 19,4–5 „,Seht, ich bringe ihn zu euch heraus …‘ ‚Seht, der Mensch!‘“ vordergründig „um Jesu eigenes Leben, um die Konsequenzen dieses Sehens für den Ausgang des Prozesses … Hintergründig aber steht das Leben derer auf dem Spiel, die sich angesichts dieser Demonstration als sehend oder als blind erweisen“ (304; vgl. Mimesis III). 51  Vgl. ebd. 391–393. 52 Vgl. J. Zumstein, Das Johannesevangelium. Eine Strategie des Glaubens (frz. Original 1989), in: Ders., Kreative Erinnerung: Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, AThANT 84, Zürich 22004, 31–45. 47

48 Vgl.

5.  Auswertung: Die johanneische Erzählführung von Joh 5,1–16(17–47) zu Joh 9,1–41 255

ten Darstellung nicht ernsthaft als unmittelbare Adressaten in Frage kommen. Sie zielt auch nicht auf die missionarische Erstanrede von Nichtchristen – seien es Juden oder Heiden. Adressaten des JohEv sind vielmehr die Christen der joh Gemeinde selbst. Ihr christlicher Glaube soll bestärkt werden, ihr Glaube soll in der Auseinandersetzung mit einer weitgehenden Zurückweisung der Botschaft Jesu vertieft werden und in ein mündiges Zeugnis wachsen. Inhaltlich sieht Zumstein „die Kohärenz der joh Theologie“ in „einer eigenständigen, in sich selbst gründenden Auslegung des christlichen Glaubens.“53 Aus der nachösterlichen Glaubensperspektive, die die Inkarnationsaussage und damit die Betonung der Sendung des irdischen Jesus gerade nicht relativiert,54 stellt das JohEv den Weg des Glaubens in einer Art „Stufenhermeneutik“55 dar: Die joh „Strategie des Glaubens“ zielt auf eine persönliche Vertiefung und wachsende Erschließung des Evangeliums und veranschaulicht diese im Prisma der unterschiedlichen Personen, die Jesus im JohEv begegnen. Das JohEv ist demnach „als vermittelnde Instanz zu verstehen, die den Glauben der Glaubenden zu wecken sucht.“56 Der bedrohte Glaube der Christen soll durch „die Entfaltung der entscheidenden Identität Christi“ bestärkt werden. Angezeigt und vorangetrieben wird dieser Vertiefungsprozess durch die joh Missverständnisse, die joh Ironie und die symbolische Sprache des vierten Evangeliums. Unter zeichen‑ und systemtheoretischen Vorzeichen erklärt Gerd Theißen die Theologie des JohEv als „das Bewusstwerden der inneren Autonomie der urchristlichen Zeichenwelt.“57 In der Tat: Das JohEv dokumentiert den fortgeschrittenen urchristlichen Reifeprozess (C. M.  Martini)58, insofern es das Bewusstwerden des eigenen Glaubens zu erkennen gibt und entfaltet. Am Beispiel des geheilten Blindgeborenen arbeitet der Evangelist diesen Glauben als erwachsenen, mündigen Glauben heraus. Eben dieses glaubensmündige Zeugnis kann ausstrahlend und überzeugend ad extra wirken. In diesem Sinn ist das JohEv missionarisch. Freilich gilt: Die Glaubensmündigkeit, für die das JohEv wirbt, ist in eine konkrete zeitgenössische Konfliktsituation der joh Gemeinden hineingestellt. Diese Konfliktsituation kann und darf aus der Distanz von 2000 Jahren nicht unvermittelt perpetuiert werden. „Die Juden“, von denen der Evangelist auf weite Strecken undifferenziert und polemisch spricht, können und dürfen heute sicher nicht mehr in gleicher Weise die Folie sein für den sich im offenen Zeugnis bewährenden Christus-Glauben. Mit Joh 17 gesprochen: An der Glaubens‑ und Liebeseinheit der Gemeinde Jesu soll 53 Vgl. J. Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums (1997), ebd. 1–14, hier 14. 54 Vgl.

Ders., Kreative Erinnerung (s. Anm. 52), 47–63.65–81.  Vgl. Ders., Geschichte (s. Anm. 53); 11. 56  Ders., Das Johannesevangelium (s. Anm. 52), 36. 57  Vgl. G. Theiẞen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, München 2000, 255–280. 58 Vgl. C. M.  Martini, Christliche Initiation und Fundamentaltheologie. Erwägungen zu den Stufen des christlichen Reifeprozesses in der Urkirche, in: R. Latourelle / ​G. O’Collins (Hgg.), Probleme und Aspekte der Fundamentaltheologie, Leipzig 1985, 83–89. 55

256

2.  Mündiger Glaube

„die Welt“ erkennen, dass sie selbst geliebt ist (17,23; 3,16). Auch in diesem Punkt zerbricht eine dualistische Interpretation des JohEv: der „Kosmos“, so sehr er sich abweisend und feindlich verhält, bleibt Adressat der Sendung Jesu (vgl. 3,16), die sich in der Sendung des Parakleten und der Jüngergemeinschaft fortsetzt. Zudem gilt es zu beachten: Der Glaube, für den das JohEv wirbt, ist nicht dualistisch konzipiert. Eine einfache Schablone von Glaube oder Unglaube liegt den joh Begegnungsgeschichten gerade nicht zugrunde. Das JohEv zeigt Glaubenswege auf, nach vorne und zu Gott hin offene Glaubensprozesse mit vielen Hindernissen, Missverständnissen, kurzschlüssigen Identifikationen und überraschenden Selbsterschließungen Jesu. 5.4  Glaubensmündigkeit – johanneisch Im Spiegel seiner Begegnungsgeschichten ruft der Evangelist seine christlichen Adressaten auf, aus der von ihm diagnostizierten Verborgenheit (ihrem Kryptochristentum) herauszutreten. In joh Sprache: Christen sollen „im Licht wandeln“ (Joh 1,4.9; 8,12; 9,5; 11,10; 12,35.46; vgl. 1 Joh 1,6–7; 2,11). Zur Stärkung und zum inhaltlichen Programm solcher Glaubensreife bietet Johannes ihnen die Gesprächspartner Jesu in den unterschiedlichen Begegnungsgeschichten als Identifikationsmöglichkeiten an. So wird ihnen im Licht von Joh 5 und Joh 9 der Weg zu einem mündigen Glaubenszeugnis vor Augen gestellt. Dieser Glaubensweg zielt auf ein offenes christologisches Bekenntnis im Wort und in der Tat (vgl. Nikodemus und Josef von Aritmathäa). Gegebenenfalls sind die Folgen dieses Glaubenszeugnisses – ein Leiden in der Nachfolge Jesu – anzunehmen. Mündiger Glaube orientiert sich an der Verkündigung und der Gesprächsstrategie Jesu. Wie Jesus sollen seine Nachfolgenden den jeweiligen Menschen begegnen. Unter Berufung auf die Zeichen Jesu und die jüdische Theologie sollen sie sich offen vor Jesus stellen, wie es der geheilte Blindgeborene in Joh 9 exemplarisch vollzieht. Dabei kann es durchaus zu einer Verkehrung der Rollen kommen: Aus den Angeklagten werden Ankläger. Eben darin setzt sich nach joh Verständnis derjenige Prozess fort, den Jesus von Anfang an in seinem irdischen Wirken „der Welt“ gemacht hat. Ausgerüstet sind die Christen für diese Aufgabe durch den Sieg Jesu über Sünde und Tod, seine bleibende Nähe als Auferstandener, durch die Gabe des Parakleten sowie durch die Zeugniskontinuität und ‑gemeinschaft der Glaubenden, die sich insbesondere im JohEv selbst spiegelt und hier für alle Zeiten ‚aufgehoben‘ ist. Glaubensmündigkeit bei Johannes entspringt gleichwohl keinem Hochmut oder Triumphgefühl. Die joh Begegnungsgeschichten mahnen allesamt zur Lebenswahrhaftigkeit (die Samariterin, Petrus), sie handeln unisono von dem zur Bescheidenheit mahnenden Wissen, selbst niemals fertig zu sein, bleibend auf dem Weg zu sein, im eigenen Glauben gefährdet und bedroht zu sein und deshalb des Weggeleites Jesu immer neu zu bedürfen.

3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71 Exegetische Beobachtungen zu ihrem johanneischen Profil 1. Einführung Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71 ist ein Schlüsseltext im Johannesevangelium. Chancen und Probleme der Auslegung des vierten Evangeliums lassen sich an dieser großen Erzählsequenz aufzeigen. Lag das bibelwissenschaftliche Erkenntnisinteresse lange Zeit eher bei der genetischen (diachronen) Fragestellung (Literarkritik, Traditions‑ und Redaktionsgeschichte), so wenden sich  – einem exegetischen Forschungstrend folgend – neuere Beiträge zur Johannesforschung stärker der synchronen (kanonischen) Textgestalt des vierten Evangeliums zu.1 Diese neue Perspektive kann den forschenden Blick auf den Text des JohEv in neuer Weise öffnen und anregen, ohne den Wert entstehungsgeschichtlicher Analysen in Abrede zu stellen. Am Beispiel der Brotrede Jesu wollen die folgenden Ausführungen aufzeigen, welche exemplarischen Beobachtungen und Botschaften sich aus einer konsequenten Berücksichtigung des kanonischen Endtextes von Joh 6 einschließlich seiner Einbindung in den Zusammenhang des Gesamtevangeliums ergeben. Die Brotrede in Joh 6,1–712 ist mit den sich an die beiden Wunder anschließenden Gesprächssequenzen eine typisch joh Erzähleinheit, die im Ausgang von Jesu  Vgl. hierzu die Forschungsberichte von K. Scholtissek, Neue Wege in der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I–II, ThGl 89 (1999), 263–295; 91 (2001), 109–133; 2005 (Lit.); U. Schnelle, Ein neuer Blick. Tendenzen gegenwärtiger Johannesforschung, BThZ 16 (1999), 29–40. 2  Zur Auslegung des 6. Kapitels im JohEv vgl. neben den Kommentaren P. Borgen, Bread from Heaven. An Exegetical Study of the Conception of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo, NT.S 10, Leiden 21981; Ders., Joh 6. Tradition, Interpretation and Composition, From Jesus to John. Essays on Jesus and New Testament Christology (FS M. de Jonge), JSNT.S 84, Sheffield 1993, 268–291; J. Beutler, Zur Struktur von Johannes 6, 1991, in: Ders., Studien zu den johanneischen Schriften, SBAB 25, Stuttgart 1998, 247–262; J. Painter, The Messiah and the Bread of Life, in: Ders., The Quest for the Messiah. The History, Literature and Theology of the Johannine Community, Edinburgh 1993, 253–286; L. Wehr, Arznei der Unsterblichkeit. Die Eucharistie bei Ignatius von Antiochien und im Johannesevangelium, NTA. NF 18, Münster 1987, 182–277 (Lit.); K. Scholtissek, „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“ (Joh 6,51). Mit Johannes das Evangelium entdecken, BiLi 68 (1995), 45–49.111–114; D. M.  Ball, ‚I Am‘ in John’s Gospel. Literary Function, Background and Theological Implications, JSNT.S 124, Sheffield 1996, 67–79; P. N.  Anderson, The Christology of the Fourth Gospel. Its Unity and Disunity in the Light of John 6, WUNT II/78, Tübingen 1996 (ebd. 48–68 zur Forschungsgeschichte); M. Theobald, Schriftzitate im „Lebensbrot“-Dialog Jesu (Joh 6). Ein Paradigma für den Schriftgebrauch des vierten Evangelisten, in: C. M. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997, 327–366 (Lit.); R. A. Culpepper 1

258

3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

„Zeichen“ sein Wirken und untrennbar damit verbunden die Person Jesu durch Missverständnisse3 hindurch und über Widersprüche hinweg erschließt. Der joh Jesus deutet in Bild‑ und Streitrede ausgehend von einem „Zeichen“ oder einer alltäglichen Situation (vgl. Joh 4,6–7) sein Tun, seine Worte und seine Identität. Er offenbart sich selbst in diesen Gesprächen (vgl. die „ICH-bin“-Worte). In den symbolisch und metaphorisch hochkarätigen und ökumenisch weitreichenden Bildfeldern vom lebendigen Wasser, vom lebendigen Brot, vom „Licht“, vom „Weg“, der „Wahrheit“ und dem „Leben“ schlägt sich ein gewachsener Reflexionsprozess nieder, dem sich das JohEv nach eigener Auskunft insgesamt verdankt. Die historisch-kritische Auslegung der Brotrede ist auch ein Beispiel für Wege und Aporien der Johannesforschung in diesem Jahrhundert:4 Umstellungshypothesen und eine Vielzahl literarkritischer Modelle, die theologische Korrekturen zwischen den jeweiligen Schichten rekonstruieren und z. T. weit divergieren, finden sich in vielfachen Abwandlungen.5 Eine ganze Reihe von Autoren votiert hingegen mit beachtlichen Gründen für die literarische Einheitlichkeit von Joh 6.6 R. Schnackenburg lässt seine Entscheidung offen, hält aber fest, dass (Hgg.), Critical Readings of John 6, BIS 22, Leiden 1997 (Lit.; vgl. ebd. 247–257: Ders., John 6. Current Research in Retrospect). Vgl. zuletzt M. Labahn, Offenbarung in Zeichen und Wort. Untersuchungen zur Vorgeschichte von Joh 6,1–25a und seiner Rezeption in der Brotrede, WUNT II/117, Tübingen 2000 (Lit.); Th. Popp, Grammatik des Geistes. Literarische Kunst und theologische Konzeption in Joh 3 und 6, ABG 3, Leipzig 2001; J. Zumstein, Die Schriftrezeption in der Brotrede (Joh 6), in: M. Labahn / ​A . Strotmann / ​K . Scholtissek (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 123–139. 3 Zu den joh Missverständnissen vgl. zuletzt J. R ahner, Missverstehen um zu verstehen. Zur Funktion der Missverständnisse im Johannesevangelium, BZ 43 (1999), 212–219. 4  Vgl. den forschungsgeschichtlichen Überblick bei L. Wehr, Arznei (s. Anm. 2), 1–17; vgl. H. Weder, Die Menschwerdung Gottes. Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6 (1985), in: Ders., Einblicke in das Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980–1991, Göttingen 1992, 363–400, 363 („Das Kapitel ist repräsentativ für die johanneische Theologie“); P. N. Anderson, Christology (s. Anm. 2), 68 f. 5  Oft werden christologische und sakramentstheologische Veränderungen oder Korrekturen beobachtet oder präsentisch‑ und futurisch-eschatologische Aussagen als unvereinbare Gegensätze angesehen und einer speziellen Schicht (Evangelist oder Redaktion) zugeordnet; vgl. z. B. J. Kügler, Der Jünger, den Jesus liebte. Literarische, theologische und historische Untersuchungen zu einer Schlüsselgestalt johanneischer Theologie und Geschichte, SBB 16, Stuttgart 1988, 180–232 (der sich freilich gegen die von R. Bultmann und J. Becker behauptete „unversöhnliche Antithese“ von „Brotlehre“ und „Herrenmahl“ wehrt; ebd. 106); J. Painter (s. Anm. 2), 253–286; M. Theobald, Häresie von Anfang an? Strategien zur Bewältigung eines Skandals nach Joh 6,60–71, in: R. Kampling / ​Th. Söding (Hgg.), Ekklesiologie des Neuen Testaments (FS K. Kertelge), Freiburg i. Br. 1996, 212–246, 240–241 (V. 51 fin–58 „sekundäre eucharistische Einlage“); vgl. exemplarisch L. Wehr, Arznei (s. Anm. 2), der neben der Orientierung an J. Becker eigene und neue Differenzierungen einführt, grundsätzlich aber an dem Modell konkurrierender und sich widersprechender theologischer Aussagen festhält; vgl. ebd. 269: „Erstes Ziel der Rede ist eine Umdeutung des vom Ev stammenden Textes Joh 6.“ 6  Vgl. E. Ruckstuhl, Die literarische Einheit des Johannesevangeliums. Der gegenwärtige Stand der einschlägigen Forschungen, NTOA 5, Göttingen 1987 (erw. Nachdr. der Ausgabe v. 1951), 220–271 (Auseinandersetzung mit J. Jeremias); H. Schürmann, Joh 6,51c – ein Schlüssel zur großen johanneischen Brotrede (1958), in: Ders., Ursprung und Gestalt. Erörterungen und

2.  Die Bildrede Joh 6 im Kontext des Johannesevangeliums

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der eucharistische Abschnitt „dem Geist (der vorausgehenden Brotrede) nicht fernsteht.“ 7 Besonders narrative und strukturale Analysen von Joh 6 steuern dem klassischen Trend zur literarischen Dissoziation entgegen, indem sie auf oftmals unterschätze Verklammerungen und erzählerische Bezüge aufmerksam machen.8 Die folgenden Ausführungen verstehen sich als ein (notwendig begrenzter) Diskussionsbeitrag, der aufgrund exegetischer Beobachtungen das johanneische Profil des kanonischen Endtextes herausarbeitet und betont. Diesem Ziel dienen die folgenden Reflexionen zur kontextuellen Verortung der Brotrede (2.), zum Aufbau und zur Gedankenführung in Joh 6 (3.), zu Fort‑ und Um-Schreibungsprozessen in Joh 6 (4.) und zur Eigenart joh Bildreden (5.).

2.  Die Bildrede Joh 6 im Kontext des Johannesevangeliums Bis in die jüngste Zeit findet eine Umstellungshypothese, die vorwiegend unter geographischem Gesichtspunkt die Kapitel Joh 4–7 in die Reihung: 4; 6,1–71; 5,1–47; 7,15–24; 7,1–14.25–53 (mit Modifikationen) bringt, Anhänger.9 In der Konsequenz dieses literarkritischen Vorgehens liegt es, das JohEv nicht in der kanonischen, sondern in der postulierten Folge zu interpretieren. Damit geraten die im Folgenden aufgeführten Bezüge aus dem Blickwinkel. Ohne die EinzeldisBesinnungen zum Neuen Testament, KBANT, Düsseldorf 1970, 151–166; Ders., Die Eucharistie als Repräsentation und Applikation des Heilsgeschehens nach Joh 6,53–58 (1959), ebd. 167–196; P. Borgen (s. Anm. 2); J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, GSL.NT IV/1a.2–3, Düsseldorf Ia 1981, 335 f; X . Léon-Dufour, Lecture de l’évangile selon Jean II, Paris 1990, 87–193; H. Thyen, Ich bin das Licht der Welt. Das Ich und Ich-Bin-Sagen Jesu im Johannesevangelium, JbAC 35 (1992), 19–46, hier 32–37; J. Beutler, Struktur (s. Anm. 2); M. Reiser, Eucharistische Wissenschaft. Eine exegetische Betrachtung zu Joh 6,26–59, in: B. J. Hilberath / ​ D. Sattler (Hgg.), Vorgeschmack. Ökumenische Bemühungen um die Eucharistie (FS Th. Schneider), Mainz 1995, 164–177, hier 173 f; U. Wilckens, Der eucharistische Abschnitt der johanneischen Rede vom Lebensbrot (Joh 6,51c–58), in: J. Gnilka (Hg.), Neues Testament und Kirche (FS R. Schnackenburg), Freiburg i. Br. 1974, 220–248; Ders., Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 22000, 107–109; P. N.  Anderson, Christology (s. Anm. 2); vgl. L. Schenke, Die formale und gedankliche Struktur von Joh 6,26–58, BZ 24 (1980), 21–41; Ders., Die literarische Vorgeschichte von Joh 6,26–58, BZ 29 (1985), 68–89, 68 (L. Schenke rechnet mit einem „sinnvollen literarischen Zusammenhang“ in Joh 6,26–58, welcher freilich „nicht aus einem Guss“ ist). 7  R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/1–4, Freiburg i. Br., II 41985, 85– 89, hier 89. 8 Vgl. exemplarisch M. W. G.  Stibbe, John, Readings: A New Biblical Commentary, Sheffield 1993, 80–88; F. J.  Moloney, Signs and Shadows. Reading John 5–12, Minneapolis 1996, 30–64. 9 Vgl. nur R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK  II, Göttingen 171962, 154 f; R. Schnackenburg, Johannes II (s. Anm. 7), 1–11; L. WEHR, Arznei (s. Anm. 2), 183.198–200; U. Wilckens, Johannes (s. Anm. 6), 6.91 f (U. Wilckens nimmt diese Neuordnung vor, obwohl er sieht, dass der Evangelist eine stimmige Folge des berichteten Geschehens bewusst nicht vorsieht; vgl. ebd. 7). I. Dunderberg, Johannes und die Synoptiker. Studien zu Joh 1–9, AASF.DHL 69, Helsinki 1994, 131–141, sieht Joh 6 als nachträglich eingeschoben zwischen Joh 5 und 7. Skeptisch zu Umstellungen äußert sich A. Weiser, Theologie des Neuen Testaments II. Die Theologie der Evangelien, StTh VIII, Stuttgart 1993, 172 f; ablehnend U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK IV, Leipzig 21999, 13.

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3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

kussion hier en Detail aufnehmen zu können, seien vier inhaltlich weitreichende Zusammenhänge angeführt, die – noch wenig beachtet – für die kanonische Folge der Kapitel sprechen: 2.1  Brücken zwischen Joh 5 und 6 (1) Joh 5,36–47 ist ein Kompendium joh Theologie,10 indem drei Zeugen für Jesus aufgerufen werden: die „Werke“ Jesu in 5,36; der Vater, der ihn sendet in 5,36.37.38, und die Schriften in 5,39–40(46–47). Eben diese drei Autoritäten werden in Joh 6 erneut aufgerufen: (a) 6,1–21: zwei „Zeichen“ Jesu (vgl. in 6,27.28.30: „wirken“; 6,28.29: „Werke“); (b) der Vater, der den Sohn „besiegelt“ (6,27) und „sendet“ (6,29), der „das wahre Brot aus dem Himmel gibt“ (6,32);11 (c) die Schrift, deren richtige Auslegung Jesus vorträgt (vgl. die Auslegung des Zitates in 6,31 im gesamten Redepassus bis zur abschließend-rahmenden Wiederaufnahme in 6,58).12 (2) Die Unzugänglichkeit Gottes, seine fehlende Unmittelbarkeit seitens der Menschen, betonen in der Linie von 1,18 sowohl 5,37 als auch 6,46. Die positive Kehrseite dieser Aussage ist die exklusive Christusmittlerschaft zur Gottunmittelbarkeit (vgl. nur 14,6–11). (3) Joh 5,41–44 reflektiert über die „Aufnahme“ bzw. „Nicht-Aufnahme“ eines „Kommenden im Namen meines Vaters“ oder „im eigenen Namen“ (V. 43).13 Damit wird die semantische Achse des JohEv aus 1,11–13 („aufnehmen“ – „nicht aufnehmen“)14 wiederaufgenommen! Joh 6,1–71 lässt als narrative Entfaltung und Inszenierung der semantischen Achse und hier insbesondere von 5,43 lesen. Wie in Joh 5 scheiden sich an Jesu „Wirken“ (vgl. 5,17; 6,27–30) auch in Joh 6 die Geister: Gegenüber dem Anspruch Jesu kommt es zu Spaltungen und Verwerfungen auch innerhalb der Jesusanhänger (vgl. 5,16; 6,41.52.60–71) – bis hin zur Verfolgung mit Tötungsabsicht (vgl. 5,17–18).

10  Joh 5,31–35 handelt über die V. 36–47 hinaus von einem weiteren prominenten Zeugen für Jesus im JohEv: Johannes dem Täufer. 11  Vgl. insgesamt die typisch joh Theozentrik der Brotrede Jesu (u. a. 6,31–32.37–40.44). 12  Peter Borgen weist mit diesem und weiteren Bezügen zwischen 5,31–47 und Joh 6 auf die literarische und thematische Verflechtung zwischen Joh 5 und 6 hin, die s.E. eine Kapitelumstellung infrage stellen; vgl. Ders., Bread (s. Anm. 2), 287–289. 13  Beide Wendungen qualifizieren die Autorität des „Kommenden“ positiv wie negativ. Vom biblischen Sendungsdenken her verbindet sich mit der Sendung auch die Repräsentanz des Sendenden durch den Gesandten; vgl. K. Scholtissek, Art. „Sendung I. Biblisch-theologisch“, LThK3 9 (2000), 456–458. 14 Vgl. zur semantischen Achse im JohEv F. Muẞner, Die „semantische Achse“ des Johannesevangeliums. Ein Versuch, 1989, in: Ders., Jesus von Nazareth im Umfeld Israels und der Urkirche. Gesammelte Aufsätze, WUNT 111, Tübingen 1999, 260–269. Zur theologischen Deutung von „aufnehmen“ im JohEv vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000, 179–184.222–247; Ders., „Er kam in sein Eigentum – und die Eigenen nahmen ihn nicht auf “ (Joh 1,11). Jesus – Mittler und Ort rettender vita communis in Gott nach dem Johannesevangelium, GuL 72 (1999), 436–451.

2.  Die Bildrede Joh 6 im Kontext des Johannesevangeliums

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(4) Die Sprache der Immanenz verbindet zwischen 5,36–47 und Joh 6: (a) Nach 5,38 führt die Glaubensverweigerung gegenüber Jesus dazu, dass „ihr sein Wort nicht in euch habt“. Diese Aussage ist schon vom christologischen Bekenntnis her formuliert (vgl. 8,31.37; 15,7). „Das Wort des Vaters“, das sich in den „Schriften“ ausspricht (vgl. das „unauflösliche Wort Gottes“, das zu „den Juden“ gesprochen wurde; 10,35), haben die Gegner Jesu nicht „bleibend in sich“, weil sie dem Gesandten Gottes nicht glauben. Erst der Glaube an Jesus, seine „Aufnahme“ (5,43–44), das „Zu-ihm-Kommen“ (5,40; vgl. 1,39; 6,35), führt zur Immanenz des Wortes Gottes, jetzt des Logos Gottes schlechthin (vgl. 1,1–18), in den Menschen. (b) 5,39 spricht von der „Meinung“, „ewiges Leben in den Schriften zu haben“. Jesus überführt diese Überzeugung durch den Hinweis auf das Zeugnis eben dieser Schriften für ihn und auf den Unwillen seiner Hörer, zu ihm zu kommen (5,39–40): „Leben zu haben“, ist nur christologisch möglich. Die Lebens-Suche der Menschen (vgl. 5,39.44; 6,24–26), die sich zu Recht auf die Schriften richtet, findet ihre Erfüllung erst im Glauben an Jesus, von dem die unauflösbare Schrift (10,35) Zeugnis ablegt.15 Damit vollzieht sich ein für die joh Schrifttheologie entscheidender Überstieg: Das Ziel des Studiums der Schriften, „in ihnen ewiges Leben zu finden“ (5,39; vgl. 1,45.48), erfüllt sich nur, wenn erkannt wird, dass diese für den Sohn Zeugnis ablegen, denn allein der Vater und durch ihn der Sohn „hat (ewiges) Leben in sich“ (5,26; vgl. 1,4; 5,24.42). Ort und Mittler des „Lebens in Fülle“ (10,10) ist allein Jesus, auf den das Zeugnis der Schrift weist (vgl. 5,45–47). Das joh Basis-Thema: „Suchen“ und „Finden“ (vgl. 1,35–51; 4,23; 7,34–36; 8,21– 22; 11,56; 12,21; 13,33.36; 18,4.7–8; 20,11–18)16 verbindet Joh 5 und 6: Bezieht sich 5,39 auf das „suchende Forschen“ (ἐραυνάω17) in der Schrift (vgl. 1,48[?]; 7,52), so 6,24–26 auf die noch aufklärungsbedürftige „Suche“ nach Jesus aufgrund seiner „Zeichen“. Die joh Schrift-Theologie betont und erkennt Gottes ergangenes Wort an Israel ausdrücklich an (vgl. 2,22; 4,22; 10,35)18  – mit der Gewissheit, dass dieses 15  Der Evangelist stellt in 5,36–40 und 6,22–26 ironisch und zugleich tragisch die Suche der Menschen vor: Obwohl sie mit der „Suche“ in der Schrift wie mit der „Suche“ Jesu aufgrund seines unverstandenen „Zeichens“ ganz nahe an der gesuchten Wahrheit sind, verfehlen sie sie doch. 16  Vgl. hierzu K. Scholtissek, Mystagogische Christologie im Johannesevangelium? Eine Spurensuche, GuL 68 (1995), 412–426; „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), in diesem Band, S. 151–172. 17  Vgl. zu diesem Verb, „Antijudaismus im Johannesevangelium?“, in diesem Band, S. 483–508, hier Anm 108. 18 Eine grundsätzliche Ablehnung der Heilsgeschichte Gottes mit Israel lässt sich aus diesen Versen nicht herauslesen; im Gegenteil: Die Autorität des Wortes Gottes, welches in den Heiligen Schriften Israels seinen Ausdruck gefunden hat, wird gerade vorausgesetzt und betont. Nicht die Existenz und Autorität der Schrift steht zur Disposition, sondern ihre Interpretation. Zur joh Schrifttheologie vgl. die Positionen u. a. von A. Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate, WUNT II/83, Tübingen 1996; J. J. M. Menken, Old Testament Quotations in the Fourth Gospel. Studies in Textual Form, CBET 15, Kampen 1996; Ch. Dietzfelbinger, Aspekte des Alten Testaments im Johannesevangelium, in: Geschichte – Tradition – Reflexion III. Frühes Christentum (FS M. Hengel), Tübingen 1996, 203–218; W. Kraus, Johannes und das Alte

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3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

ergangene Wort Gottes auf das fleischgewordene Wort Gottes vorausweist, da Gott sich selbst nicht widerspricht. Deshalb wird auch Mose zum Zeugen bzw. „Ankläger“ gegen die Widersacher Jesu (vgl. 5,45–47). Unglaube gegenüber Mose (vgl. 5,46) und „Murren“ gegen Gott (vgl. die angespielten Exodustraditionen) setzen sich fort im Unglauben und Murren „der Juden“ und der Jünger gegenüber Jesus (vgl. 5,46; 6,41.43.61). (c) Jesus erkennt, dass seine Gegner „die Liebe Gottes nicht in sich haben“ (6,42). Dies zeigt sich daran, dass sie den im Namen des Vaters Kommenden „nicht aufnehmen“, sondern es vorziehen, „die Doxa voneinander aufzunehmen“19 als „die Doxa vom alleinigen Gott zu suchen“ (6,43–44). Eine zu kurz greifende „Suche“ ist auch der Vorwurf Jesu in 6,27–28: Die „bleibende Speise für das ewige Leben“ wird allein der Menschensohn geben. Davon handeln dann ausführlich die eucharistischen Immanenz-Aussagen in 6,52–57. 2.2  Der jüdische Festzyklus in Joh 5–10 Im JohEv schließen sich an die Täufer‑ und Jüngerüberlieferungen in 1,19–51 zwei Erzählkränze an: erstens der Kana-Zyklus in 2,1–4,54 („Von Kana nach Kana“)20 und zweitens der Festzyklus in 5,1–10,39 („Von Jerusalem nach Jerusalem“). In beiden Erzählkränzen wird ausgeführt, dass es Jesus ist und nur er, der die Heilserwartungen der Menschen zu erfüllen vermag. Die joh Christen, die sich mehr und mehr von ihren Muttergemeinden gelöst haben (vgl. 9,22; 12,32; 16,2), vollzogen diese Trennung auch hinsichtlich ihres liturgischen Kalenders: Die Heilserfahrungen und ‑erwartungen, wie sie sich im Sabbat‑, Pascha‑,21 Laubhütten‑ und Tempelweihfest artikulieren, werden auf Jesus Christus bezogen, der die Fülle (1,16; 10,10) des Heils vermittelt.22

Testament. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium im Horizont Biblischer Theologie, ZNW 88 (1997), 1–23; Ders., Die Vollendung der Schrift nach Joh 19,28. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium, Scriptures (s. Anm. 2), 629–636; M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 2) (Lit.); K. Scholtissek, Antijudaismus (s. Anm. 17)); „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35), in diesem Band, S. 527–553; M. Labahn, Jesus und die Autorität der Schrift im Johannesevangelium – Überlegungen zu einem spannungsreichen Verhältnis, in: Ders. / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (s. Anm. 2), 185–206. 19  Vgl. den Hinweis in Anm. 14. 20 Vgl. hierzu die Überlegungen von M. Labahn, Between Tradition and Literary Art. The Miracle Tradition in the Fourth Gospel, Bib. 80 (1999), 178–203, hier 192–195 (Lit.). 21  Vgl. F. J.  Moloney, Signs (s. Anm. 8), 64: „For the Johannine community, what was done in the Jewish celebration of the Passover was but a sign and a shadow of the perfection of the gift of God in the person of Jesus Christ, the true bread from heaven … In Jesus Christ the Passover traditions are enfleshed, not destroyed.“ 22  Dies ist auch das Ergebnis der Analysen von J. Frühwald-König, Tempel und Kult. Ein Beitrag zur Christologie des Johannesevangeliums, BU 27 (1998), 227 (et passim); vgl. auch M. J. J.  Menken, Die Feste im Johannesevangelium, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (s. Anm. 2), 269–286.

2.  Die Bildrede Joh 6 im Kontext des Johannesevangeliums

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2.3  Die Unverfügbarkeit und Verborgenheit Jesu Im JohEv wird Jesus durchgehend als der „mitten unter den Menschen unerkannt stehende“ Messias (1,26)23 vorgestellt und geschildert. In jeder Hinsicht unabhängig von menschlichen Wünschen, Vorstellungen und Erwartungen wirkt Jesus allein und ausschließlich nach dem Willen seines Vaters (vgl. die durchgehend betonte Theozentrik [bes. 6,65] und das joh Theologumenon von der „Stunde“, die „noch nicht“ bzw. „jetzt“ gekommen ist). Jesu elusiveness wird in Joh 5–10, dem jüdischen Festzyklus, breit ausgeführt:24 vgl. 6,1.14–15.19.21(!).24–26; 7,1–13; 9; 11,7–16.54–57. Die joh Messias-Regeln bestätigen sich vielfach: (a) Jesus tritt unerkannt unter die Menschen (1,26). (b) Wenn der Messias kommt, weiß niemand, woher er ist (7,27). „Woher“ Jesus kommt, „wo“ er ist, „ob“ und „wann“ er kommt, entzieht sich jedwedem menschlichen Zugriff – sei er gut gemeint oder auch nicht. Der joh Jesus ist aus menschlicher Sicht weder zeitlich noch örtlich verfügbar oder berechenbar (vgl. 7,1–13; 11,7–13). Die unmotiviert erscheinenden, überraschenden Ortswechsel Jesu im JohEv dienen gerade in ihrer die Leser irritierenden Wirkung der Betonung (negativ) der Unverfügbarkeit seitens der Menschen und (positiv) der freien, überraschenden Selbstoffenbarung Jesu. Bis in den Prozess vor Pilatus hinein zeigt sich, wie meisterhaft der Evangelist Orts‑ und Schauplatzwechsel seiner theologischen Regie unterwirft (vgl. 18,28–19,16).25 Der in der Tat unvermittelte Ortswechsel zwischen Joh 5 (Jesus in Jerusalem) und 6,1 („Danach ging Jesus ans andere Ufer des Sees von Galiläa …“) wird relativiert, wenn gesehen wird, dass Jesu „Wege“ auch nach 6,15.16–21.22–26 undurchschaubar sind! Auch die genaue Ortsbestimmung der Brotrede Jesu ist uneinheitlich (vgl. 6,25: in Kapharnaum „am Ufer des Sees“; 6,59: „in der Synagoge in Kapharnaum“).26 So sehr die beiden Erzählsequenzen Joh 5 und 6 – wie die anderen Großszenen im JohEv – eine je eigene Wachstumsgeschichte durchlaufen haben und vom Evangelisten in diese Folge gebracht wurden,27 der vorliegende Textzusammenhang ruft zur theologischen Interpretation.28 Die Deutung des vor23 Vgl.

weiterführend K. Scholtissek, „Mitten unter euch …“ (s. Anm. 16). dazu M. G. W.  Stibbe, John (s. Anm. 8), 83 u. ö.; Ders., The Elusive Christ. A New Reading of the Fourth Gospel, 1991, in: Ders. (Hg.), The Gospel of John as Literature. An Anthology of Twentieth-Century Perspectives, NTTS 17, Leiden 1993, 231–247. 25  Zur szenischen Struktur der joh Prozessdarstellung vgl. die weiterführenden Beobachtungen von C. Diebold-Scheuermann, Jesus vor Pilatus. Eine exegetische Untersuchung zum Verhör Jesu durch Pilatus (Joh 18,28–19,16a), SBB 32, Stuttgart 1996, 105–137. 26  J. Painter, Jesus and the Quest for Eternal Life, in: Readings (s. Anm. 2), 61–94, 92, spricht mit Blick auf Joh 6 von der Prädominanz des thematischen vor dem geographischen Interesse des Evangelisten. 27  Darauf weist tatsächlich der gegenüber der Lokalisierung von Joh 5 sperrige Einsatz in 6,1 („Danach ging Jesus fort an das jenseitige Ufer des galiläischen Sees von Tiberias“) hin. 28  Vgl. H. Weder, Menschwerdung (s. Anm. 4), 369: „Viele literarkritische Operationen sind bloß dadurch bedingt, dass der Ausleger den Versuch unterlässt, spannungsreiche Gedanken zu begreifen als durchaus zusammenhängende, verschiedene Seiten derselben Sache.“ P. N.  Anderson spricht vom Evangelisten als „dialectical thinker“ (Ders., Christology [s. Anm. 2], 166). Vgl. auch 24 Vgl.

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3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

liegenden Textzusammenhangs als schlechtes Flickwerk eines minderbemittelten Redaktors muss definitiv ausscheiden.29

3.  Aufbau und Gedankenführung der Bildrede Joh 6 In Joh 6 findet sich das zentrale Thema des Evangeliums: Jesus offenbart sich selbst als das „Brot des Lebens“ (6,35; vgl. die Echowörter 6,41.48.51), das unvergängliches Leben schenkt. Seine Offenbarungsrede 6,22–58 erschließt seine „Zeichen“ in 6,1–15 und 6,16–21 in ihrem theologischen Sinn.30 Jesu Worte zielen auf Glaubensentscheidung, sie entlarven den Unglauben, führen in die „Krise“ und provozieren das Credo, das Petrus in V. 68–69 stellvertretend für die Zwölf spricht.31 3.1  Aufbau: Jesus, das Brot des Lebens (Joh 6,1–71)32 I 1–4 Exposition (Ort, Personen, Zeit) II 5–15 Die wunderbare Speisung der Volksmenge (Jesus – Jünger – Volksmenge) III 16–21 Die Selbstoffenbarung Jesu auf dem See (Jünger – Jesus) IV 22–59 Die Brotrede Jesu (Jesus – Volksmenge/„die Juden“ – [Jünger]) (1) 22–24 überleitender Rahmen: Suche nach Jesus, Kapharnaum (2) 25–27 1. Dialog 24–25 Frage der Menge 26–27 Antwort Jesu (3) 28–29 2. Dialog 28 Frage der Menge 29 Antwort Jesu (4) 30–33 3. Dialog 30–31 Frage der Menge 32–33 Antwort Jesu

die Diskussion des Anschlusses zwischen 5,47 und 6,1 und den Vorschlag von M. Labahn, Offenbarung (s. Anm. 2), 41–49. 29  Es ist bezeichnend, dass R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 7), 10 f, nur wenig plausible Gründe für eine potentielle sekundäre Umstellung der vermeintlich ursprünglichen Reihenfolge in die kanonische Folge angeben kann. 30 Vgl. zu den beiden „Zeichen“ (und zur ganzen Brotrede) M. Labahn, Jesus als Lebensspender. Untersuchungen zu einer Geschichte der johanneischen Tradition anhand ihrer Wundergeschichten, BZNW 98, Berlin 1999, 265–304; vgl. Ders., Offenbarung (s. Anm. 2). 31  Während die synoptischen Evangelien in ihren Erzählszenen jeweils bestimmte Aspekte der Heilssendung Jesu beleuchten (vgl. das therapeutische, das exorzistische, das sündenvergebende Wirken Jesu) und erst in ihrer Gesamtheit die Sendung Jesu in den Blick bekommen (vgl. jedoch auch Mk 10,45), konzentriert das JohEv viel stärker. In den einzelnen „Zeichen“ Jesu und in den sich daran anknüpfenden Redepartien ist immer schon das Ganze des Evangeliums (freilich wiederum in einem bestimmten Prisma) ausgesagt. 32 In der Forschung sehen die Gliederungsvorschläge sehr unterschiedlich aus. Die weiteren Ausführungen hier rechnen mit dem folgenden, selbst erarbeiteten Gliederungsvorschlag.

3.  Aufbau und Gedankenführung der Bildrede Joh 6

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(5) 34–40 4. Dialog 34 Bitte der Menge 35–40 Antwort Jesu (6) 41–51 5. Dialog 41–42 Frage „der Juden“ 43–51 Antwort Jesu (7) 52–58 6. Dialog 52 Frage „der Juden“ 53–58 Antwort Jesu (8) 59 Rahmen: Synagoge von Kapharnaum V 60–71 Spaltung im Jüngerkreis: Abkehr und Credo (Jesus – Jünger) (1) 60–66 1. Dialog 60 Frage „vieler Jünger“ 61–65 Antwort Jesu 66 Abkehr „vieler Jünger“ (2) 67–71 2. Dialog 67 Frage Jesu an die Zwölf 68–69 Antwort Simon Petri: Credo 70–71 Jesu Vorausverweis auf Judas

3.2  Die Gedankenführung „The rhythm of question and answer directs the reading process.“33 In 6,22–71 finden sich acht strukturbildende Dialoge34 zwischen Jesus und einer Menschengruppe mit den beiden Elementen der Frage an Jesus und der unterschiedlich ausführlichen Antwort Jesu. In vier Dialogen antwortet Jesus auf die Fragen „der Volksmenge“ (6,25–40), in zweien auf die Fragen „der Juden“ (6,41–58) und in den beiden letzten spricht Jesus mit seinen Jüngern. Es muss auffallen, dass Jesus in der letzten Dialogsequenz 6,67–69 zum einzigen Mal in 6,22–71 selbst der Fragesteller ist („Wollt auch ihr fortgehen?“), dem Petrus daraufhin stellvertretend antwortet. Bei genauer Hinsicht wird die komponierende Hand des Verfassers und das inhaltliche Gefälle des ganzen 6. Kapitels erkennbar: Die „Zeichen“ der wunderbaren Speisung und der Epiphanie Jesu auf dem See („ICH bin [es]. Fürchtet euch nicht!“; 6,20) werden in der Rede Jesu theologisch und christologisch ausgelotet und im Blick auf die heilbringende Sendung Jesu erschlossen. Die Fragen, die Bitten und das Unverständnis der Menschen (vgl. V. 25.28.30–31.34.41–42.52.60) dienen dazu, die Selbstoffenbarung Jesu weiterzuführen, zu vertiefen und gegenüber verschiedenen Missverständnissen abzugrenzen. Die Zeichenforderung an Jesus (6,30),35 ihre versuchte Schriftbegründung (6,31) und die Entgegnung Jesu  F. J.  Moloney, Signs (s. Anm. 8), 32.  M. Theobald weist nachdrücklich darauf hin, dass der Dialogcharakter in Joh 6 ernstzunehmen ist, so dass die von P. Borgen favorisierte These, das Zitat in 6,31 sei die strukturbildende Größe, nicht haltbar ist, in Ders., Schriftzitate (s. Anm. 2), 332–336.339 f.344, hier 340: „… viel eher haben wir einen spezifisch christlichen Texttyp vor uns: eine szenisch dramatisierte Auslegung von Jesus-Worten!“ 35 Die Zeichenforderung der Menge in 6,30 entbehrt nicht der Ironie: Die Frage nach einem „Zeichen“ von Seiten der Menge wird als geforderter Ausweis Jesu für seine Identität als 33

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3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

(6,32) bilden mit der Gegenüberstellung von dem „Manna in der Wüste“ und demjenigen, das der Vater gibt, den Ausgangs‑ und Referenzpunkt aller folgenden Worte Jesu. Das Themawort in Joh 6, auf das die Darstellung zuläuft und von dem her alle anderen Aussagen als Entfaltungen zu begreifen sind, lautet: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird niemals mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird niemals mehr dürsten“ (6,35). 6,35 stellt dem „Manna in der Wüste“, auf das sich „die Volksmenge“ beruft (6,31), das „wahre Brot vom Himmel“, das „mein Vater gibt“ (6,32) antitypisch gegenüber. Das Brot, das Jesus selbst in seiner Person und Sendung ist, ist die endzeitliche Manna-Speisung des erwarteten Erlösers, die Hunger und Durst für immer stillt (vgl. 4,14). Wie bei den anderen christologischen Bild‑ und Symbolworten greift Johannes auch mit der „Lebensbrot“-Metapher Heilserwartungen seiner Umwelt (besonders der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung) auf und deutet sie in der Sendung Jesu als überbietend erfüllt.36 Im Midrasch zu Kohelet 1,9 heißt es: „Wie der erste Erlöser das Manna herabkommen ließ, Ex 16,4…, so wird auch der letzte Erlöser das Manna herabkommen lassen, s. Ps 72,16…“37 Der joh Jesus übertrifft Mose, insofern (a) nicht wirklich Mose, sondern Gott den Vätern in der Wüste das Manna gegeben hat, insofern (b) die Speise, die Jesus der „Welt“ gibt, ewiges, nicht mehr vom Tode bedrohtes (vgl. 6,49.58) Leben von Gott her schenkt, und Menschensohn (vgl. 6,27), nachdem er sich in 6,3–15 als Prophet wie Mose (vgl. Dtn 18,15–18) ausgewiesen hatte, missverstanden (so aber M. J. J.  Menken, Some Remarks on the Course of the Dialogue. John 6,25–34, Bijdr. 48 [1987], 139–149, 145 f; P. Borgen, Bread [s. Anm. 2], 277 f; A. Obermann, Erfüllung [s. Anm. 18], 148. U. Wilckens deutet die Zeichenforderung m. E. zu Unrecht als Wiederholungsaufforderung, vgl. Ders., Joh [s. Anm. 6], 101). Es handelt sich hier vielmehr um eine ironische Verstellung und victimization der Menge, die das gerade stattgehabte „Zeichen“-Wirken Jesu missinterpretiert (vgl. 6,14–15) bzw. vollständig ignoriert (6,30–31); vgl. „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, in diesem Band, S. 349–368. 36  J. Blank macht darauf aufmerksam, dass die typologische Denkfigur irritiert, ja durchbrochen wird: „Bei Johannes erscheint Jesus nicht als ‚neuer Mose‘; er ist in radikal anderer, überbietender Weise der eschatologische Lebensspender … Man darf die heilsgeschichtliche Vergangenheit nicht so verstehen, dass man sie zum festen Kriterium für das zukünftige Handeln Gottes macht … Nicht die Geschichte bestimmt, welches Brot Gott zu essen gibt, sondern Er selbst“ (Ders., Joh Ia [s. Anm. 6], 358–360); vgl. J. Kügler, Jünger (s. Anm. 5), 198; H. Hübner, Theologie des Neuen Testaments III. Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung, Epilegomena, Göttingen 1995, 168. 37  Zitiert nach R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 7), 55. Vgl. auch die Auswertung der religionsgeschichtlichen Vergleichstexte bei Ders., Das Brot des Lebens (Joh 6), 1971, in: Ders., Das Johannesevangelium, HThK IV/4, Freiburg i. Br. 31994, 119–131, hier 131: „So dürfte der vierte Evangelist auf eigenem Weg zur Bildung des Ausdrucks ‚das Brot des Lebens‘ gekommen sein, aber doch inspiriert durch die jüdische Mannaspekulation und die in ihr bereitliegenden Gedanken. Damit erweist er sich als ein Denker, der tief im Boden jüdischer Theologie verwurzelt ist und die Methoden des jüdischen Midrasch beherrscht, aber für sein christliches, christologisch konzentrierendes Denken auszuwerten versteht.“ Zu den Wendungen „Brot des Lebens“ und „Becher der Unsterblichkeit“ in dem jüdisch-hellenistischen Bekehrungsroman JosAs vgl. H.J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief, NTA.NF 15, Münster 21986, 187–196. K. Berger schlägt eine Brücke zwischen Joh 6 und SirLXX 24, in Ders., Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Stuttgart 21995, 280.

3.  Aufbau und Gedankenführung der Bildrede Joh 6

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(c) Jesus selbst das wahre, aus dem Himmel herabgekommene Lebensbrot ist, in dem das endzeitliche Heil präsent ist. Die Metapher „Brot des Lebens“ leistet ein Mehrfaches: Sie greift die Wüstenspeisung der Väter beim Exodus auf und sieht die jüdische Erwartung einer endzeitlichen Manna-Speisung als durch und in Jesus gegenwärtig gegeben an. Das joh Jesus-Wort „Ich bin das Brot des Lebens“ personalisiert und konzentriert die mit der Manna-Speisung verbundenen Heilserwartungen bis hin zu sakramentalen Aussagen (vgl. V. 52–58). Zugleich spielt diese Metapher ein Bildfeld an, das in seinem Reichtum kaum auszuschöpfen ist.38 Ein anschauliches Beispiel für den joh Stil der weiterführenden Wiederaufnahmen39 ist die argumentative Linie, die von dem Schriftzitat der Gesprächspartner Jesu in 6,31 („Unsere Väter haben das Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben steht: ‚Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen‘“) ausgeht und das Zitat so zu einem maßgeblichen Ausgangs‑ und Referenzpunkt der gesamten Bildrede erhebt.40 Es kennzeichnet durchgehend die joh Gesprächs‑ und Begegnungsszenen, dass Jesus von vorfindlichen Situationen und Positionen seiner Gesprächspartner ausgeht und diese kritisch überführt zu der von ihm intendierten Selbstoffenbarung. In 6,3141 liegt kein direktes wörtliches Zitat vor. Wie in der jüdischen und urchristlichen Schriftauslegung üblich, werden Schriftstellen relativ frei kombiniert und mitunter auch im Sinne der Zielsetzung umformuliert. Im Hinter-

38  Vgl. auch die weiterführende exegetische und hermeneutische Reflexion der joh Symbolsprache bei Th. Söding, Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Anmerkungen zur Symbolsprache des Johannesevangeliums am Beispiel des Nikodemusgesprächs (Joh 3,1–21), in: K. Kertelge (Hg.), Metaphorik und Mythos im Neuen Testament, QD 126, Freiburg i. Br. 1990, 168–219. Vgl. J. Gnilka, Johannesevangelium, NEB.NT 4, Würzburg 41993, 11: „Das Bild kann den Menschen länger beschäftigen als ein Wort, zuweilen ein Leben lang.“ 39 Vgl. die umfangreiche Liste von Wiederaufnahmen in Joh 6 bei M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 2), 338 f. U. C. von Wahlde wertet – m. E. nicht überzeugend – Wiederaufnahmen in joh Passagen als Zeichen redaktioneller Arbeit Ders., A Redactional Technique in the Fourth Gospel, CBQ 38 (1976), 520–533; Ders., Wiederaufnahme as a Marker of Redaction in John 6,51–58, Bib. 64 (1983), 542–549. 40  Zu den Schriftzitaten in 6,31 und 45 vgl. die Auslegungen von M. J. J.  Menken, „He gave Them Bread from Heaven to Eat.“ (John 6,31) (1988), in: Ders., Quotations (s. Anm. 18), 47–65; Ders., „And they Shall All Be Thaught by God“ (John 6,45) (1989), ebd. 67–77; B. G.  Schuchard, Scripture within Scripture. The Interrelationship of Form and Function in the Explicit Old Testament Citations in the Gospel of John, SBL.DS 133, Atlanta 1992, 33–57; H. Hübner, Theologie III (s. Anm. 36), 167–172; A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 17), 132–167 (Lit.); M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 2) (Lit.). 41  Zu diesem Schriftzitat vgl. die Auslegungen von G. Richter, Die alttestamentlichen Zitate in der Rede vom Himmelsbrot Joh 6,26–51a, 1972, in: Ders., Studien zum Johannesevangelium, Frankfurt a. M. 21990 [= BU 13, Regensburg 1977], 199–265; A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 18), 132–150; H. Hübner, Theologie III (s. Anm. 36), 167–172; M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 2), 345–357; F. J.  Moloney, Signs (s. Anm. 8), 31 Anm. 5, rechnet mit Einfluss von Ex 16,4.15; Ps 78,24 und Neh 9,15.

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3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

grund von 6,31 steht PsLXX 77,24 (vgl. auch Ex 16,4.14–15; Neh 9,15). 6,4542 nimmt JesLXX 45,13 auf (vgl. die Erwartung einer heilszeitlichen Gottunmittelbarkeit nach JerLXX 38,33–34). Die V. 32–35 und 48–51, die strukturverwandt aufgebaut sind,43 greifen jeweils das Schriftargument der Gegner auf, um es in Jesus typologisch überbietend erfüllt zu sehen. Mit R. Schnackenburg ergibt sich: „Die christliche Auslegung stellt ein auf Jesus bezogenes, der zukünftigen Erwartung die gegenwärtige Erfüllung entgegensetzendes und sie überbietendes neues Verständnis jenes Schriftwortes dar.“44 Zugleich vertiefen die V. 48–51 die Ausführungen in 6,32–35. Während V. 32–35 in der Selbstpräsentation Jesu („ICH bin das Brot des Lebens“; 6,35) gipfeln, beginnen V. 48–51 mit diesem Offenbarungswort (6,48) und betonen jetzt die Notwendigkeit, das Lebensbrot zu „essen“ (vgl. 6,31 und drei Belege in 6,49.50.52). Eben diese Weiterführung ist zugleich die Überleitung zum eucharistischen Redeteil 6,52–58. In 6,58 wird sowohl das sakramentale Essen des „Fleisches“ und „Blutes“ Jesu (vgl. 6,52–57) als auch die gesamte Brotrede Jesu zusammengefasst: „Dieses ist das Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist, (mit ihm ist es) nicht so wie (mit dem Brot, das) die Väter gegessen haben und gestorben sind. Wer aber dieses Brot isst, wird leben in Ewigkeit.“

4.  Fort‑ und Um-Schreibungen in Joh 6 Die Genese und Gestalt von Joh 6 lässt sich am besten in den Paradigmen relecture und réécriture interpretieren. Mit relecture (= Fortschreibung) bzw. réécriture (= Um-Schreibung) werden hier diachrone bzw. synchrone Textphänomene im JohEv bezeichnet:45 (a) Im Paradigma relecture wird die diachrone, nicht-antagonistische, sondern fortschreibende Zuordnung zweier Texte als Bezugs‑ und als Rezeptionstext reflektiert und interpretiert. (b) Réécriture wird hier verstanden als variierende Wiederaufnahme und vielschichtige Um-Schreibung ein und derselben Grundkonstellation durch den gleichen Autor. In Joh 6 schlägt sich ein Reflexions‑ und Wachstumsprozess nieder, der im Ausgang von den zwei „Zeichen“-Erzählungen Jesu Brotwunder und seine Epiphanie auf dem See christologisch und soteriologisch auslegt. Der Anspruch Jesu (vgl. das absolute „ICH-bin“ in 6,20) und die Reaktionen darauf werden entfaltet: das Unverständnis und der Widerstand einerseits und die „Aufnahme“ Jesu im Glauben (mit sakramentaler Konkretion) und das christologische Bekenntnis 42  Vgl. A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 18), 151–167; M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 2), 357–361. 43  Vgl. die parallele Folge von negativer Feststellung, Definitionssatz, Selbstpräsentation, Forderung und Verheißung; ausführlicher hierzu R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 7), 81 f. 44 Ders., Joh IV (s. Anm. 37), 123. R. Schnackenburg schließt sich mit dieser Auslegung weitgehend P. Borgen, Bread (s. Anm. 2), an, der in der Brotrede Jesu einen christlichen Midrasch zu den Schriftworten Ps 78,24 und Ex 16,4.14–15 (vgl. Joh 6,31) sieht. 45  Vgl. hierzu ausführlicher „Relecture und réécriture“, in diesem Band, S. 173–202.

4.  Fort‑ und Um-Schreibungen in Joh 6

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andererseits. Dieser Ansatz begegnet denjenigen Optionen, die literarkritisch theologische Korrekturen und Gegensätze in Joh 6 zum Schlüssel ihrer Auslegung erheben, mit Reserve. Die diesem Ansatz inhärente Gefahr besteht in einer Übersteigerung und Vergrundsätzlichung vorhandener Spannungen.46 Umgekehrt ist auch eine apriorisch behauptete literarisch-theologische Einheitlichkeit problematisch, insofern sie den literarischen und theologischen Textbefund tendenziell harmonisiert. Die vorliegende Auslegung rechnet mit einer literarischen Wachstumsgeschichte, die sich einem fortschreibenden Reflexionsprozess verdankt und zu einem theologisch kohärenten Endtext geführt hat, für den der Evangelist verantwortlich zeichnet.47 Im Gefälle von Joh 6 wird erkennbar, dass und wie sich die christologische Metaphorik (Jesus als Brot des Lebens) und die eucharistischen Aussagen (sakramentales Mahl) wechselseitig interpretieren. Andernfalls müsste der rahmende und zusammenführende V. 58 sachkritisch infragestellt werden, da er dann eine in sich widersprüchliche Synthese behauptete. Die Integration der Eucharistietheologie in Joh 6, die neben den V. 52–58 auch im Brotwunder insgesamt und in V. 4 („Pascha“),48 V. 11.23 („danksagen“ = εὐχαριστέω), V. 12.13 („Brotstücke“49), V. 12.27 (bes. „zugrundegehen“)50 und in den futurischen Verbformen 6,35df.51df unüberhörbar angesprochen wird,51 vollzieht sich in einem organischen Fortschreibungsprozess, der sich durch die Konvergenz von nahrungsmetaphorischer Christologie und Soteriologie („ICH bin das Brot des Lebens“) und sakramentalem Mahl schon rein sprachlich nahelegt.52 Die folgenden Beobachtungen begründen und erhellen die joh Fort‑ und Um-Schreibung in Joh 6. 46 Joh 6,51/52–58 darf mithin nicht vorschnell als sekundärer Einschub aus der Feder eines sogenannten „kirchlichen Redaktors“ gegen die inhaltliche Linie der joh Brotrede ausgespielt werden; vgl. H. Hübner, Theologie III (s. Anm. 36), 171, der vom „nahtlosen“ Anschluss in 6,51 spricht; vgl. auch U. Schnelle, Joh (s. Anm. 9), 114–140. Zur Problematik joh Literarkritik vgl. die Grundsatzüberlegungen in K. Scholtissek, Johannes auslegen I. Forschungsgeschichtliche und methodische Reflexionen, SNTU 24 (1999), 35–83, hier 51–59. 47  Freilich ist es die Einzelexegese, die regulative Ideen verifiziert oder falsifiziert. 48  Vgl. F. J.  Moloney, Signs (s. Anm. 8), 59: „Jesus is in a Jewish center of worship at the passover season, uttering a message that presupposes, fullfils, and transcends a Jewish Passover tradition.“ 49 Vgl. Did 9,3.4. F. J.  Moloney deutet 6,12–13 als Prolepse „for some future ‚feeding‘“, ebd. 35–38, hier 38. 50 Mit H. Schürmann, Schlüssel (s. Anm. 6), 171–173.181 f, hier 172: „Das μένουσα V 27 verlangt gebieterisch nach diesem ἐν αὐτῷ.“ 51  Zudem lässt die urchristliche Manna-Typologie, wie sie 1 Kor 10 bezeugt (vgl. in 1 Kor 10,3– 4: „geistige Speise“, „geistiger Trank“), eine von der Eucharistie abstrahierende Brotrede wohl kaum zu. 52  Vgl. treffend H. Schürmann, Schlüssel (s. Anm. 6), 184: „Die Aussagen der Bildrede sind also im eucharistischen Redestück ‚ins Sakramentale übersetzt‘. Das eucharistische Redestück ‚rekapituliert‘ und ‚transponiert‘ die Bildrede.“ K. Berger, Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums. Stuttgart 1997, 208–217, bestreitet – freilich ohne überzeugen zu können – jeden Bezug der Brotrede auf die Eucharistie bzw. eine Eucharistiepraxis in den joh Gemeinden, die eben deshalb als nicht vorhanden erklärt wird.

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3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

4.1  Um-Schreibungen zwischen Joh 4 und Joh 6 (1) Joh 4 und Joh 6 greifen verwandte biblische Basismetaphern auf mit dem Ziel, die Heilssendung Jesu im Koordinatensystem biblischer Theologie zu explizieren (vgl. auch die Hirtenmetaphorik in Joh 10 und die Weinstockmetaphorik in Joh 15,1–8). Joh 6 verwendet die beiden Verben ἐσθίω in 6,5.23.26.31[bis].49.50.52.53.5853 und τρώγω in 6,54.56.57.5854 für „essen“ im wörtlichen bzw. im metaphorischen Sinn. Ihre Verwendung ist im umfassenderen Zusammenhang der biblischen Mahl‑ und Nahrungsmetaphorik zu interpretieren. Die Tisch‑ und Mahlgemeinschaft als metaphorisches Bildfeld für eine umfassende Gemeinschaftsaufnahme findet sich exemplarisch ausgeführt in dem jüdisch-hellenistischen Bekehrungsroman Josef und Aseneth.55 Der Verfasser von JosAs stellt den Mysterienmählern als Initiationsriten ein „jüdisches Kultmahl“ entgegen, das „rein sprachlich gesehen einen unverkennbar sakramentalen Klang“56 hat, da es hier nicht nur um „theologische Abstrakta“ oder die „Banalität des Alltäglichen“57 geht. Die sprachliche Nähe zu den urchristlichen Abendmahlstexten, gerade auch zur joh Wendung „Brot des Lebens“, ist augenfällig; vgl. JosAs 8,5: καὶ ἐσθίει ἄρτον εὐλογημένον ζωῆς καὶ πίνει ποτήριον εὐλογημένον ἀθανασίας („Brot des Lebens“ auch in 8,9; 15,5; 16,16; 21,21). Zum metaphorischen Bildfeld der gemeinschaftsstiftenden Nahrungsaufnahme im JohEv gehören auch: βρῶμα (4,34) bzw. βρῶσις (4,32; 6,27[bis].55), πίνω (4,7.9.10.12.13.14; 6,53.54.56; 7,37; 18,11), πόσις (6,55), πεινάω (6,35), διψάω (4,13.14.15; 6,35; 7,37; 19,28).58 Joh 4 und 6 entfalten die joh Christologie und Soteriologie in verwandten metaphorischen Bildfeldern: „Wasser – lebendiges Wasser“ und „Brot – lebendiges Brot“ („vergängliche – bleibende Speise“). In beiden Fällen sind der alltägliche Durst bzw. der Hunger des Menschen Ausgangspunkt für den weiterführenden Überstieg zu dem Wasser, das den Durst für immer stillt, bzw. zu dem Brot, das bleibt und der Welt das Leben gibt. In beiden Fällen identifiziert sich Jesus selbst mit diesem Heil und ewiges Leben vermittelnden Gaben (vgl. den parallelismus membrorum in 6,35). Joh 4 und 6 veranschaulichen auch, wie die Gabe Jesu missverstanden werden und Ablehnung provozieren kann. Es bedarf der Unterscheidung zwischen dem Vergänglichen und dem Unvergänglich-Ewigen. Letzteres begegnet den „dürstenden“ und „hungernden“ Menschen in und mit Jesus in Person. In der gelingenden, von Glauben getragenen und zum Glauben führenden Begegnung mit Jesus finden die Menschen das Heil, zu dem sie sich „dürstend“ und „hungernd“ ausstrecken.  Vgl. auch 4,31.32.33; 18,28.  Vgl. auch 13,18. 55  Zur Auslegung vgl. H.-J. Klauck, Herrenmahl (s. Anm. 37), 187–196 (Lit.). 56  Ebd. 196. 57  Ebd. 58  Vgl. auch die Hinweise bei X . Léon-Dufour, Jean II (s. Anm. 6), 93–97. 53 54

4.  Fort‑ und Um-Schreibungen in Joh 6

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Der metaphorische Prozess, den Joh 4 und 6 vollziehen, verläuft gleichgerichtet. Dies gilt unabhängig von den beachtlichen Unterschieden hinsichtlich der Gattung und Struktur beider Abschnitte. So läuft das Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin auf die Selbstoffenbarung Jesu zu (vgl. das absolute „Ich bin [es]“ in 4,26), während die prädikativen „ICH-bin“-Worte in Joh 6 die durch Wiederaufnahmen betonte thematische Achse bilden.59 4,31–34 kann und will als metaphorische und theologische Vorbereitung der Brotrede in Joh 6 gelesen werden: Zunächst werden schon hier in Kapitel 4 die Nahrungsmetaphorik vom „lebendigen Wasser“ auf die „Speise“ (4,31–34) ausgeweitet und beide korreliert. Sodann reflektieren die V. 31–34 über ein ironisierendes Missverständnis hinweg (4,33; vgl. 4,15; 6,26.30.34) über die Nahrungsquelle Jesu: Jesus, der „lebendiges Wasser“ und „das wahre Brot vom Himmel“ gibt, lebt selbst von „einer Speise, die ihr nicht kennt“ (4,32): den Willen des Vaters zu tun und sein Werk zu vollenden (4,34). In typisch joh Strukturanalogie wird die Brotrede dieses Vater-Sohn-Verhältnis auf das Sohn-Christen-Verhältnis übertragen (6,57; vgl. in 4,35–38 die Jüngersendung). (2) Folgende gemeinsame Elemente in Joh 4 und 6 verdienen Beachtung: (a) In beiden Abschnitten wird religiöses Heilswissen aufgerufen und in Bezug gesetzt zu dem von Jesus angebotenen Heil. Dabei orientieren sich die Gesprächspartner Jesu an ihren jeweiligen „Glaubensvätern“: die Samariterin exemplarisch für ihr Volk an „unserm Vater Jakob“ (4,12), die Volksmenge in Kapharnaum an „unseren Vätern“ bzw. „Mose“ (6,31–32; vgl. 8,48–59: „Abraham und die Propheten“60). Diesen „Glaubensvätern“ (vgl. 6,31.49.5861), deren Brunnenwasser den Durst nur für kurze Zeit löscht (vgl. Jakob in 4,12–13), bzw. deren Manna das Sterben in der Wüste nicht verhinderte (vgl. 6,49.58), stellt der joh Jesus seine Gabe gegenüber: Ein „lebendiges Wasser“, das den Durst für immer löscht und in den Empfangenden zur Quelle wird (4,13–14), und „die Speise, die bleibt für das ewige Leben“, bzw. das „lebendige“ und „wahre Brot“, das der Welt das ewige Leben gibt (6,32–33).62 Das JohEv destruiert und negiert diese Bezugsgrößen aus der Heilsgeschichte Israels nicht, hält aber fest, dass sie „ewiges Leben“, Partizipation an der Heilsfülle Gottes bzw. einen unverstellten Zugang zu Gott nicht aus sich selbst heraus geben können. Typologisch werden diese als Vorausverweis 59  M. Theobald stellt 6,35 als die thematische und organisierende Zentralaussage in Joh 6 heraus; in Ders., Schriftzitate (s. Anm. 2), 339 („die führende Stimme“).340 („Kernstück“). 60 Vgl. 8,53a: „Bist du etwa größer als unser Vater Abraham?“ mit 4,12a: „Bist du etwa größer als unser Vater Jakob?“; vgl. 8,53bc: „Dieser ist gestorben, und auch die Propheten sind gestorben“ mit 6,49: „eure Väter … und sie sind gestorben (vgl. 6,58bc). Vgl. hierzu M. Theobald, Abraham  – (Isaak  ‑) Jakob. Israels Väter im Johannesevangelium, in: M. Labahn / ​K. Scholtissek / ​ A. Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen (s. Anm. 2), 158–183. 61  Den „Vätern“ im Plural kontrastiert beziehungsreich der eine „Vater“ Jesu. 62 Vgl. M. G. W.  Stibbe, John (s. Anm. 8), 88: „… in John 6, there stands among the Jews one who is far greater than Moses, Jesus of Nazareth … The tragic irony is: that even though these Jews study the Scriptures of Moses, they have not recognized the one about whom Moses was really writing.“

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3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

einer Heilsfülle beansprucht, die sie für sich selbst genommen nicht vermitteln können. Liest man 1,16–17 im Prolog nicht antithetisch,63 sondern als steigernden Parallelismus (vgl. das passivum divinum in V. 17) konvergieren die Aussagen. (b) Zwischen Joh 4 und 6 überschneiden sich auch die Wortfelder: „leben“ (vgl. für „leben“ 4,10–11 und 6,51[bis].57[tris].58; für „Leben“ 4,14.36 und 6,27.33. 35.40.47.48.51.53.54.63.68) und „Werk“ (vgl. 4,34 und 6,28.29) bzw. „wirken/tun“ (6,27.28.30). (c) In 4,14 deutet der Teilvers 14de („sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm eine Quelle des Wassers, sprudelnd ins ewige Leben“) die Immanenz-Thematik an (vgl. 7,37–3964), die in 6,52–58 eucharistietheologisch ausgeführt wird. „Alles, was Jesus spendet, wird zu Gaben und Kräften, die im Menschen wohnen und wirken“.65 4.2  Um-Schreibungen in Joh 6 Auch innerhalb von 6,1–71 lassen sich Um-Schreibungsprozesse (réécriture) beobachten: (1) Die Selbstoffenbarung Jesu in den zwei „Zeichen“ und im Wort ist nicht additiv, sondern explikativ zu verstehen. In diesem Sinne werden die „Zeichen“ – so gründlich sie missverstanden werden können und tatsächlich auch werden – nicht destruiert, sondern die Brotrede führt über Missverständnisse des ZeichenWirkens Jesu hinaus zu der diesen Zeichen angemessenen Deutung. Damit bleiben Jesu Offenbarungsworte grundsätzlich auf seine „Zeichen“ bezogen (vgl. 20,30– 31). Sie beabsichtigen, die aus der urchristlichen Jesusüberlieferung stammenden Wundererzählungen einer normativen Um-Schreibung zu unterziehen. (2) Das absolute „ICH-bin“-Wort Jesu in 6,20 wird in 6,35 prädikativ erweitert und dann mehrfach wiederaufgenommen (6,41.48.51) und im jeweiligen Argumentationszusammenhang inhaltlich ausgeführt, vertieft und abgegrenzt. (3) Jesus greift die Schriftargumentation (6,31) der Menschenmenge auf und nimmt immer wieder Bezug auf sie. Die folgenden Antworten Jesu auf die an ihn  So aber O. Hofius, „Der in des Vaters Schoß ist“ Joh 1,18, 1989, in: Ders. / ​H.-Chr. Kammler (Hgg.), Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums, WUNT 88, Tübingen 1996, 24–32, hier 30 f. 64  R. Schnackenburg bezieht 7,38 nicht auf den Glaubenden, sondern auf Jesus; in Ders., Das Johannesevangelium, HThK IV/1, Freiburg i. Br. 71992, 466; Ders., Joh II (s. Anm. 7), 211–218; so auch U. Wilckens, Joh (s. Anm. 6), 133 f; J. Marcus, Rivers of Living Water from Jesus’ Belly (John 7,38), JBL 117 (1998), 328–329. M. E. ist dies eine für das joh Denken unzutreffende Alternative: Selbstverständlich ist Jesus die Quelle lebendigen Wassers, aus der die Glaubenden „trinken“ können (7,35–36), und selbstverständlich ist der auferweckte Erhöhte der exklusive Geistspender (vgl. den Erzählerkommentar 7,37). Dies widerspricht nicht der Aussage, dass die „aufgenommenen“ (7,39) Gaben in den Glaubenden wirken (vgl. das oben im Text folgende Zitat von R. Schnackenburg). 65  R. Schnackenburg, Joh I (s. Anm. 54), 466 (mit Hinweis auf das „Leben“ in 6,53; 1 Joh 3,15; auf das „Wort“ Gottes oder Jesu in 5,38; 8,37; 1 Joh 1,10; 2,14; auf die „Wahrheit“ in 1 Joh 1,8; 2 Joh 2; auf den „Geist der Wahrheit“ in 14,17; auf die „Salbung“ in 1 Joh 2,27 und den „Samen“ Gottes in 1 Joh 3,9). 63

4.  Fort‑ und Um-Schreibungen in Joh 6

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gestellten Fragen führen zu einer kritischen relecture der Mannaspeisung aus der Exodusüberlieferung in christlicher Perspektive. (4) Innerhalb der Offenbarungsworte Jesu werden das Missverstehen und die Widerstände, also der Unglaube, gegenüber dem Wirken Jesu bei der „Volksmenge“, „den Juden“ und „den Jüngern“ in mehrfachen Anläufen thematisiert, parallelisiert und gedeutet. (5) Die V. 57 und 58 fassen jeweils die christologisch-soteriologische Intention der Brotrede zusammen: Jesus ist der exklusive Mittler des „Lebens“. Spricht Jesus in V. 57 in der 1. Person, so wechselt V. 58 die Sprechsituation von einer Selbstaussage zu einer definitorischen Erklärung über „dieses Brot“. (6) Der sechste Dialog der Brotrede Jesu zwischen „den Juden“ und Jesus in V. 52–58 ist eine Um-Schreibung der vorausgegangenen Dialoge zwischen Jesus und „der Menge“ (V. 24–40) bzw. „den Juden“ (V. 41–58). Die eucharistietheologische Passage ist kein Addendum im Sinne einer zusätzlich eingeführten und/oder die vorausgegangenen Aussagen entwertenden Bedingung des Heils. Wenn mit H. Weder die inkarnatorische Theologie das Grundanliegen des JohEv ist,66 wenn also die Begegnung mit dem Fleischgewordenen und Erhöhten vor‑ wie nachösterlich schlechthin entscheidend ist, dann stellt sich das Problem der Vergegenwärtigung seiner Person und nicht nur seiner Lehre: „Einen imposanten Versuch, dieses Problem zu lösen, stellen die johanneischen Abschiedsreden dar, nämlich die Vorstellung vom Parakleten, der für die Gegenwart des Abgeschiedenen sorgt. Ein weiterer Versuch begegnet uns in der eucharistischen Interpretation der Brotrede.“67

Die réécriture der Selbstidentifikation Jesu mit dem wahren Himmelsbrot V. 24– 51 in V. 52–58 beantwortet die Frage, „wie“68 dieser in der nachösterlichen Zeit „zur dauerhaften Nahrung werden“69 kann. Die Aufforderung, „zu Jesus zu kommen“ bzw. synonym „an ihn zu glauben“ (6,35) als „die Speise, die bleibt zu ewigem Leben“ (6,27), steht für sich genommen in keinem Spannungs‑ oder Konkurrenzverhältnis zur sakramentalen Begegnung und Gemeinschaftsaufnahme mit dem Erhöhten. Im Gegenteil: Die lebensspendende Gabe, die Jesus selbst ist,70 wird in der Eucharistie in besonderer Weise zugewandt. Die kon Vgl. H. Weder, Menschwerdung (s. Anm. 4), 386 f (et passim).  Vgl. ebd. 387 (so auch H. Schürmann, Schlüssel [s. Anm. 6], 184); vgl. ebd. 399: „Dennoch muss die Auslegung über die Beschreibung von Begegnung hinauskommen zu dem gegenwärtigen Vollzug der Begegnung mit dem Text und damit dem Fleischgewordenen.“ H. Weder spricht hier den Rezeptionsprozess der Schrift an, der selbst auch als eine relecture desselben gedeutet werden kann; vgl. K. Scholtissek, Relecture – zu einem neu entdeckten Programmwort der Schriftauslegung (mit Blick auf das Johannesevangelium), BiLi 70 (1997), 309–315. 68  Vgl. das „wie“ in 6,42d.52c. 69  H. Weder, Menschwerdung (s. Anm. 4), 387. 70  Die Figur der Identität von Geber und Gabe ist in der frühjüdischen Weisheit (die Weisheit gibt die Weisheit) und bei Philo (die Weisheit und der Logos als Nahrung der Seele oder als geistliche Nährmutter bzw. als Lehrer) vorgegeben; vgl. B. L.  Mack, Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum, StUNT 10, Göttingen 1973, 171– 66 67

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3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

textuelle Rahmung der V. 52–58, die auf den Glauben der Jesus Begegnenden abhebt (vgl. neben 6,29.35.4771 auch das kontrastierende, die Exodussituation erinnernde „Murren“ „der Juden“ [6,41] und der Jünger [6,61]), und die Opposition von „Geist“ und „Fleisch“ in 6,63 verhindern ausdrücklich eine magische Deutung des eucharistischen Vollzugs. 6,63 ist ein nachgereichter Verstehensschlüssel: Ausweislich des gesamten JohEv ist der lebendigmachende Geist die österliche (Selbst‑)Gabe des erhöhten und verherrlichten Menschensohnes.72 Diesem lebendigmachenden Geist gegenüber taugt das „Fleisch“ in seiner ganzen Hinfälligkeit aus sich selbst heraus in der Tat nichts. Die Worte Jesu hingegen sind von göttlichem Geist erfüllt und können ewiges Leben schenken. Voraussetzung dafür ist der Glaube (6,47). (7) Die nachgehende Reflexion in 6,60–7173 als réécriture der Beziehung zwischen Jesus und der Menschenmenge bzw. „den Juden“ wendet das distanzierte Unverständnis und den Unglauben „der Menge“ und „der Juden“ auf die „noch ungefestigte Anhängerschaft Jesu“ 74 an. Die „skandalisierende“ (6,61), zur Trennung führende (6,66) und den Unglauben aufdeckende (6,64) Wirkung der Offenbarung Jesu wiederholt sich auch im Jüngerkreis. Petrus wird als Sprecher derjenigen vorgestellt, die zur angemessenen Antwort auf Jesu Selbstoffenbarung finden, die also bei Jesus bleiben (so wenig dieses verbale Bekenntnis vor Rückfällen bewahrt, wie das JohEv ausführlich darlegt).75

179; J. Kügler, Der König als Brotspender. Religionsgeschichtliche Überlegungen zu JosAs 4,7; 25,5 und Joh 6,15, ZNW 89 (1998), 118–124, 123 f.; vgl. Ders., Der andere König. Religionsgeschichtliche Perspektiven auf die Christologie des Johannesevangeliums, SBS 178, Stuttgart 1999, 90–108. 71 Vgl. auch die z. T. wörtlichen Parallelen in 3,16.36; 5,24. Zugleich ist dieser Christus-Glaube vom Gottes-Glauben unterfangen: Aller Glaube hängt ja daran, in Jesus Christus den Vater am Werk zu sehen, der ihn gesandt hat (vgl. 6,29.36–47; 14,9). „Glauben ist die alleinige, aber unerlässliche Antwort des Menschen darauf, dass Gott den Offenbarer und Heilbringer gesandt hat, darum aber auch Glauben an diesen Gottgesandten, der Gottes Worte redet“ (R. Schnackenburg, Joh II [s. Anm. 7], 52); vgl. 3,34. So formelhaft und definitorisch auch die joh Worte über den Glauben klingen (6,47: „Wer glaubt, hat das ewige Leben“), das JohEv kennt und schildert im Evangelium auch den Weg zum Glauben. Viele, z. T. längere Reden und Dialogszenen münden ein in ein christologisches Glaubensbekenntnis (vgl. 4,25–26.42; 8,58; 9,35–38; 11,25–27; 20,16.28). 72  Vgl. die Auslegung von V. 63 bei. R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 7), 105–107; vgl. u. a. 3,5–6; 4,23–24; 6,63; 7,37–39; 14,16–19.25–28; 15,26–27; 16,7–11.13–15; 19,30; 20,22. 73 M. Theobald spricht mit Bezug auf V. 60–71 von „Metareflexion“ und „Epilog zur Brotrede“; in Ders., Häresie (s. Anm. 5), 222.225 (vgl. ebd. passim). 74  R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 7), 103. 75  Joh 6,68–69 wird hier im Unterschied zu anderen Auslegungen als ein vollgültiges Bekenntnis als Reaktion auf die Rede Jesu; mit M. Theobald, Häresie (s. Anm. 5), 222 f. M. Theobald versteht V. 61d–63 als ursprünglichen Abschluss der christologisch interessierten Rede Jesu, die den jüdisch-christlichen Konflikt reflektiert, wohingegen die V. 64–65 einen innerchristlichen Konflikt (vgl. 1 Joh 2,18–19) aus der Sicht einer Redaktion darstellen. Anders als M. Theobald wird hier damit gerechnet, dass es sich „um zwei miteinander korrespondierende Sinn-Schichten in ein‑ und demselben Text“ (ebd. 215) handelt.

5.  Die Bildreden in Joh 6, 10 und 15

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Während Jesus sonst durchgehend der Befragte und Antwortende ist, findet sich innerhalb der Brotrede (mit Ausnahme von 6,5) in 6,67 die einzige Frage Jesu: „Wollt auch ihr fortgehen?“ Diese Frage konfrontiert die Zwölf – und über sie hinaus alle Adressaten des Evangeliums  – mit der Grundentscheidung: Zu Jesus kommen, seiner Einladung folgen und bei ihm bleiben (vgl. 1,39) oder fortgehen, ihn verlassen.

5.  Die Bildreden in Joh 6, 10 und 15 Die drei großen Bildreden Jesu im JohEv in 6,(1–25)26–58(59–71); 10,1–18(19– 39) und 15,1–8(9–17) lassen eine vergleichbare Anlage und theologische Absicht erkennen: Im Rahmen einer einheitlich durchgehaltenen, aus alttestamentlichjüdischer Überlieferung schöpfenden Basismetaphorik bzw. ‑symbolik (Brot, Hirt und Herde, Weinstock) wird in freier Weise die Sendung und Selbstoffenbarung Jesu in „ICH-bin“-Worten, Vergleichen und Bildworten im Blick auf seine christologische Identität, auf seine Relation zum Vater und auf seine Relation zu den an ihn Glaubenden bzw. zu den ihn Ablehnenden reflektiert. Zugleich wird in den Bildreden eine der Selbstoffenbarung Jesu sowie der darin ermöglichten engen und vertrauten Beziehung zwischen Jesus und „den Seinen“ (13,1d) entsprechende Antwort der Christen angemahnt. Der joh Jesus schöpft das jeweilige von der Basismetaphorik her bereitliegende Potential im jeweiligen Kommunikationszusammenhang aus. Gemeinsam ist den Bildreden in 6,26–58, 10,1–18 und 15,1–8 auch die nachösterliche Sicht: Erzählerisch sind sie zwar in der vorösterlichen Zeit situiert, Jesus spricht jedoch aus einer sein gesamtes Lebenswerk überblickenden und voraussetzenden Perspektive. Dabei kommt es durch die Rückprojektion dieses nachösterlichen Standpunktes in die vorösterliche Erzählsituation zur Verschmelzung der Zeiten.76 Deshalb wird seine das Leben in Fülle vermittelnde Selbsthingabe für die Seinen als Heilsgeschehen in die Argumentation einbezogen (vgl. 6,51ef; 10,10.15c.17–18; 15,13). Schließlich fallen in allen drei Bildreden die reziproken Formeln auf. So sprechen 6,56 und 15,4ab.5cd von der reziproken Immanenz zwischen Jesus und den Christen. Zur Interpretation der reziproken Immanenz-Aussage 6,56 bedarf es des Ausgriffs auf die Immanenz-Sprache im JohEv insgesamt.77 Die reziproke Immanenz-Formel in 6,56cd setzt sprachlich und inhaltlich einen Versprachlichungs‑ und Reflexionsprozess voraus, der nur mit Hilfe des gesamten Evangeliums rekonstruiert werden kann. Die reziproke Immanenz-Formel innerhalb 76  Vgl. Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996, 122–124, hier 124: „Gerade diesem perspektivischen Mittel dient der definitorische Stil, der im Abschnitt 15,1–8 auffällt.“ Vgl. auch „Abschied und neue Gegenwart“, in diesem Band, S. 369–394. 77  Vgl. ausführlich K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 14).

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3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

der joh Eucharistiekatechese ist nicht Ausgangspunkt, sondern eine Frucht der joh Immanenz-Sprache.78 „Solches gegenseitige Durchdringen ohne Aufgabe der Personalität findet im irdischen und menschlichen Bereich keine Analogie. Die in ihrer Einfachheit und Prägnanz geniale sprachliche Formulierung setzt eine längere Meditation und Reflexion über dieses Glaubensgeheimnis voraus.“ 79

Ihren Ausgangs‑ und Bezugspunkt hat die joh Immanenz-Sprache in der Christologie, der Vater-Sohn-Relation (vgl. 10,30.38; 14,10–11), die maßgeblich wird für die Sohn-Christen-Relation. Damit wird der Brotrede keine ihr fremde Konzeption übergestülpt, denn die joh Eucharistiekatechese in V. 52–58 ist in der Sache eine hochreflektierte Anwendung der Christologie „auf das sakramentalkultische Geschehen in der Eucharistie.“80 Strukturbildend für die joh Bildreden sind zudem die „ICH-bin“-Worte Jesu, die die johanneische Christologie in den biblischen Monotheismus einschreiben: Nach dem treffenden Urteil von U. Wilckens sah sich der Evangelist Johannes mit der Herausforderung konfrontiert, seine Christologie so in die Matrix des jüdischen Monotheismus einzuschreiben, dass sie gegenüber dem virulenten Vorwurf der Blasphemie bestehen kann (vgl. 5,18; 10,33.36; 19,7).81 Die Antwort des Evangelisten auf diese theologisch hochkarätige Aufgabe zeigen exemplarisch die absoluten und prädikativen „ICH-bin“-Worte Jesu.82 In den genannten Bildreden in Joh 6, 10 und 15 haben die „ICH-bin“-Worte Jesu strukturell und inhaltlich zentrale Bedeutung. Als „Kernlogien“ (M. Theobald) sind sie vielleicht auch  Dies sieht auch R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 7), 94 f.  Ebd. 94. 80  Ebd. 95. 81  Vgl. U. Wilckens, Joh (s. Anm.  6), 13 f.27.170 f.221 f.285 f.332–336.347 f; vgl. Ders., Monotheismus und Christologie, JBTh 12 1997, 87–97; vgl. M. Theobald, Gott, Logos und Pneuma. „Trinitarische“ Rede von Gott im Johannesevangelium, in: H.-J. Klauck (Hg.), Monotheismus und Christologie. Zur Gottesfrage im hellenistischen Judentum und im Urchristentum, QD 138, Freiburg i. Br. 1992, 41–87, hier 51–64; M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998, 332: „Die hohe Christologie entsteht an der Erfahrung und Reflexion des einen Gottes. Sie ist eine Explikation des Monotheismus.“ 82  Zu den joh „ICH-bin“-Worten vgl. E. Schweizer, Ego eimi. Die religionsgeschichtliche Herkunft und theologische Bedeutung der johanneischen Bildreden. Zugleich ein Beitrag zur Quellenfrage des vierten Evangeliums, FRLANT 56, NF  38, Göttingen 21965; R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 7), 59–70; R. E.  Brown, The Gospel According to John. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 29.29a (I 1966; II 1970), hier I 533– 538; O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5 (1995), 194–200; P. Letourneau, Jésus, fils de l’homme et fils de Dieu. Jean 2,23–3,36 et la double christologie johannique, RFTP 27 (1993), 412–417; H. Thyen, Licht (s. Anm. 6) (Lit.); Ders., Art. „Ich-Bin-Worte“, RAC Lfg. 129/130 (1994), 147–213 (Lit.); D. M. Ball, Gospel (s. Anm. 2) (Lit.); Ch. Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden, WUNT 95, Tübingen 1997, 121–129; M. Karrer, Jesus (s. Anm. 81), 240–243; U. Schnelle, Joh (s. Anm. 9), 124 f; H. Hübner, Εν Αρχηι Εγω Ειμι, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A .Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (s. Anm. 2), 107–122. „ICH bin …“ begegnet im JohEv 29mal, davon 26mal im Munde Jesu. 78 79

6. Auswertung

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traditionsgeschichtlich als Ausgangspunkt der joh Bildreden zu identifizieren. Zugleich bündeln sie diese. Die Selbstoffenbarung Jahwes in Israel ist sprachlich und inhaltlich die Matrix der joh „ICH-bin“-Worte. Genauerhin wird die Gottesoffenbarung in Jesus Christus als eschatologisch-überbietende Fülle und Herrlichkeit interpretiert (vgl. 1,14–18; 10,10). Alle drei Bildreden sind als reife Meisterwerke joh Theologie anzusehen, die einen als Fort‑ und Um-Schreibung zu bestimmenden Wachstumsprozess durchlaufen haben.

6. Auswertung Das 6. Kapitel im JohEv ist ein Evangelium im Evangelium, da es alle wesentlichen Aussagen joh Theologie enthält. Die aufweisbaren Brücken zwischen Joh 5 und 6, die strukturbildende Bedeutung des jüdischen Festzyklus „von Jerusalem nach Jerusalem“ (Joh 5–10) und die joh Betonung der Unverfügbarkeit und Verborgenheit Jesu begründen die genuine Einbindung der Brotrede 6,1–71 in den Kontext des JohEv. Umstellungshypothesen verlieren so ihre Plausibilität. Der von den zwei „Zeichen“ und von acht zweigliedrigen Dialogen bestimmte Aufbau und die Gedankenführung in Joh 6 lassen eine hohe Konsistenz und Abstimmung erkennen. Die Botschaft der Brotrede Jesu wird im Duktus von Joh 6 durch weiterführende Wiederaufnahmen, Fort‑ und Um-Schreibungen vorausgehender Aussagen im JohEv bzw. in Joh 6 selbst entfaltet. In dieser typisch joh Bildrede nutzt der Evangelist das hermeneutische Potential der Mahl‑ und Nahrungsmetaphorik, um die Selbstoffenbarung Jesu und die Partizipation an der Heilsgabe Jesu Christi (gen. obj. et subj.) auszuloten. Ausgehend von den beiden „Zeichen“ in 6,1–21 und im kritischen Rückgriff auf jüdische Manna-Traditionen klärt er die christologische Identität Jesu (vgl. das absolute und die prädikativen „ICH-bin“-Worte in Joh 6): Er selbst ist in persona das endzeitliche Heil. In Jesus Christus wird die Selbstoffenbarung Jahwes in Israel zum eschatologisch-überbietenden Zielpunkt geführt. Die Partizipation an dem durch die Sendung Jesu (Fleischwerdung und Erhöhung am Kreuz) eröffneten Heil setzt einen von Kurzschlüssen und Missverständnissen befreienden Glaubensweg der Jünger Jesu voraus. Die narrative Gesamtstruktur in Joh 6 zeigt, dass die primären Adressaten der joh Brotrede nicht die innertextlichen Opponenten Jesu sind, sondern die eigenen Jünger. Bezeichnenderweise gelingt der Versuch der eigenen Jünger (!), Jesus in das Boot „aufzunehmen“, d. h. im Sinne des Evangelisten: in die von Jesus gewollte Gemeinschaft mit ihm (und durch ihn mit dem Vater) einzutreten, in 6,21 noch nicht. Gefordert wird ein nicht nur äußerliches „Zu-Jesus-Kommen“ der „Hungernden“, ein christologischer Glaube der „Dürstenden“ (6,35). Erst dieser Glaube kann die anstößige (6,61–62) Selbstoffenbarung Jesu adäquat aufnehmen

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3.  Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71

und findet in der sakramentalen Feier (6,53–58) wie im christologischen Bekenntnis (vgl. 6,68–69) erkennbaren Ausdruck. Die Gesamtperspektive der joh Brotrede Jesu zielt auf die Teilhabe am ewigen Bleiben Gottes (vgl. 6,27), am ewigen Leben, an Gott selbst – eine Partizipation, die nur durch die Gabe des „lebendigen Brotes“, d. h. Jesus selbst (Geber und Gabe sind identisch), gewonnen werden kann. Solche Teilhabe am ewigen Leben ist durch die im Glauben vollzogene Mitfeier der Eucharistie und durch das bekenntnishafte Bleiben bei Jesus möglich.

4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35) Metaphorik und Eucharistiekatechese in Johannes 6,1–71 Das Johannesevangelium und die Sakramente: Das ist ein vielschichtiges Forschungsthema, in dem sich methodische, hermeneutische und kontroverstheologische Positionen spiegeln.1 In der jüngsten Johannesforschung wird die auf Rudolf Bultmann zurückgehende Auslegung in neuen Varianten aufgegriffen, nach der das (vorredaktionelle) Johannesevangelium weder eine ‚sakramental‘ verstandene Taufe2 noch eine ‚sakramental‘ verstandene Eucharistiefeier3 kennt. Rudolf Bultmann rechnete bekanntlich mit sekundären, redaktionellen Einträgen sakramentaler Interessen durch die sogenannte „kirchliche Redaktion“ des vierten Evangeliums. Unter anderen Vorzeichen rechnet auch Klaus Berger damit, dass das Johannesevangelium keine Abendmahlspraxis kenne – weder in Joh 6 noch in Joh 13. Gerne wird zu diesem Zwecke auch auf das ‚Fehlen‘ einer Einsetzungserzählung am letzten Abend vor dem Tod Jesu im Johannesevangelium rekurriert.

1.  Ausgangspunkte in der neuesten Forschung 1.1  Der ritualgeschichtliche Ansatz von Jan Heilmann In seiner Dissertation „Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen“4 stellt sich Jan Heilmann in diese Aus1  Vgl. einführend M. Theobald, Eucharistie in Joh 6. Vom pneumatologischen zum inkarnationstheologischen Verstehensmodell, in: Th. Söding (Hg.), Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen, QD 203, Freiburg i. Br. 2003, 178–257, hier 178–192; Th. Popp, Das Kreuz mit den Sakramenten. Ritual und Repetition im Vierten Evangelium, in: G. van Belle (Hgg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, BEThL 200, Leuven 2007, 507–527. 2 Vgl. hierzu aber Th. Popp, Grammatik des Geistes. Literarische Kunst und theologische Konzeption in Johannes 3 und 6, ABG 3 (2001), 81–255; Ders., Das Kreuz mit den Sakramenten (s. Anm. 1), 511–515; T. Karlsen Seim, Baptismal Reflections in the Fourth Gospel, in: D. Hellholm (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism. Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity / ​ Waschungen, Initiation und Taufe. Spätantike, Frühes Judentum und Frühes Christentum, BZNW 176/I–III, Berlin 2011, I 717–734. 3 Im Folgenden wird von den drei am meisten verwendeten Begriffen „Abendmahl“, „Herrenmahl“ und „Eucharistie“  – ohne jedes inhaltliches Präjudiz  – vorzugsweise der Terminus „Eucharistie“ verwendet. Der Begriff „Gemeinschaftsmahl“ wird hier als Oberbegriff verstanden, der alle Formen von gemeinschaftlichen Mählern umfasst, deshalb aber an Präzision verliert. 4 J. Heilmann, Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen, BWANT 204, Stuttgart 2015; vgl. Ders., „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben.“ Zur Bedeutung einer schwer verdaulichen Aussage, ZNT

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4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

legungstradition mit dem Ziel, die vordergründige Abwesenheit des Abendmahls im Johannesevangelium gänzlich neu zu begründen und geht dabei inhaltlich und methodisch weit über Rudolf Bultmann hinaus. Jan Heilmann möchte die These von Rudolf Bultmann („In Wahrheit sind für ihn [scil. den Evangelisten] die Sakramente überflüssig“5) in seinem Sinne, aber mit neuen Argumenten begründen. Bevor sich der Autor der johanneischen Verwendung von „Wein“ und „Blut“ zuwendet, ordnet er seine Studie in die aktuelle Johannesforschung sowie die neuere ritual‑ und sozialgeschichtliche Forschung zu den frühchristlichen Mählern ein. Dazu rekurriert er auf die im deutschsprachigen Raum insbesondere von Matthias Klinghardt6 vorgetragene These, „dass die rituellen Formen und die Gestalt frühchristlicher Gemeinschaftsmähler sich mit einem idealtypisch rekonstruierbaren Modell des antiken Gemeinschaftsmahles deckten.“ 7 Mit dieser These werden alle anderen auf die frühchristlichen Gemeinden bezogenen Referenzen und Kontexte neutestamentlicher (Abend‑)Mahlperikopen ausdrücklich ausgeschlossen. Dazu gehören für Jan Heilmann „ein Paradigma paganen Einflusses“, „Analogien zu vermeintlich singulären Mahltypen des antiken Judentums“ sowie „eine Symbolhandlung des historischen Jesus.“8 Allein das hellenistische Gemeinschaftsmahl komme als außertextlicher Bezugspunkt und als Deutungsrahmen für die neutestamentlichen (Abend‑)Mahlperikopen in Betracht. Diese These werde  – folgt man J. Heilmann – von der Ritualforschung maßgeblich gestützt.9 Für die neutestamentlichen Einsetzungsworte und Einsetzungsberichte (vgl. 1 Kor 11,23–26; Mk 14,22–25 parr) beruft J. Heilmann sich auf einen „bei vielen Exegeten und Liturgiewissenschaftlern“ verbreiteten „relativen Konsens“, „dass die sog. Einsetzungsworte als ein Textphänomen anzusehen sind und auf der Ebene des Rituals (der Gebete, Handlungen und Segensworte) nicht rezitiert“10 worden seien. Sie seien keine Kultätiologien. Sie spiegelten auch keinen liturgischen Gebrauch im frühen Christentum wider. Ein solcher sei erst mit der Traditio Apostolica im dritten Jahrhundert n. Chr. zu verifizieren.11 Die Attribute 35 (2015), 54–60; vgl. ebd. 61–65: die kritische Auseinandersetzung mit der Position von Jan Heilmann im Beitrag von Udo Schnelle, Symbol und Wirklichkeit. Zu einer notwendigen Bedingung johanneischen Denkens. Vgl. auch J. Heilmann, Antidoketische Mahltheologie in den johanneischen Schriften?, in: J. Frey / ​U. Poplutz (Hgg.), Erzählung und Briefe im johanneischen Kreis, WUNT II/420, Tübingen 2016, 157–181; Ders., A Meal in the Background of John 6,51–58?, JBL 137 (2018), 481–500.  5  R. Bultmann, Das Evangelium nach Johannes, KEK II (171962), 360.  6  M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern, TANZ 13, Tübingen 1996; vgl. auch Ders., Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum. Meals and Religious Identity in Early Christianity, TANZ 56, Tübingen 2012.  7 J. Heilmann, Wein und Blut (s. Anm. 4), 13.  8 Ebd.  9  Die neuere Ritualforschung wird im Themenheft ZNW  35 (2015) ausführlich vorgestellt und diskutiert. 10  Ebd. 14 f. 11 Vgl. auch ebd. 209–231 seinen Exkurs zu den Ignatianen sowie zu weiteren altkirchlichen Zeugnissen in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts.

1.  Ausgangspunkte in der neuesten Forschung

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„sakramental“ oder „eucharistisch“ für die neutestamentlichen Zeugnisse würden sich daher verbieten. Die „neuere Mahlforschung“ verstehe die Annahme, die neutestamentlichen ‚Einsetzungsberichte‘ spiegelten eine frühchristliche litur­ gische Praxis, als „anachronistische Projektion.“12 Diese These hat weitreichende Konsequenzen auch über den neutestamentlichen Textbefund hinaus. In dem hier angesprochenen Zusammenhang der Auslegung von Joh 6,1–71 werden weitreichende Ergebnisse der Auslegung von Joh 6 durch diese Prämisse bereits präjudiziert. Es bleibt dann aus Sicht von Jan Heilmann de facto nur noch eine metaphorische Auslegung von Joh 6,51–58 möglich, bevor auch nur ein einziger Johannesvers in den Blick genommen wurde. 1.2  Die Eucharistie in der neueren Forschung Die neuere Forschung zum letzten Abendmahl Jesu vor seinem Tod und zur Feier des „Herrenmahles“ (κυριακὸν δεῖπνον in 1 Kor 11,20) in den ersten Gemeinden ist erheblich vielfältiger und kontroverser als sie bei Jan Heilmann dargestellt wird. Die gesamte Breite und Pluralität der Abendmahlsforschung wird in dem 2017 von David Hellholm und Dieter Sänger herausgegebenen, dreibändigen Werk umfassend vorgestellt und diskutiert.13 Einige wichtige Stationen werden im Folgenden in der gebotenen Kürze vorgestellt. 12  Ebd. 21 u. ö. Die „neuere Mahlforschung“, die zu diesem Ergebnis komme, wird hier überaus einseitig für die eigene Position in Anspruch genommen. 13  D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist  – Its Origins and Contexts. Sacred Meal, Communal Meal, Table Fellowship in Late Antiquity, Early Judaism and Early Christianity, WUNT 376/I–III; Bd. I: Old Testament, Early Judaism, New Testament; Bd. II: Patristic Traditions, Iconography; Bd. III: Near Eastern und Graeco-Roman Traditions, Tübingen 2017; vgl. auch das Themenheft EC 7 (4/2016). Zur Abendmahlsforschung vgl. exemplarisch H.-J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief, NTA.NF 15, Münster 21986; Ders., Präsenz im Herrenmahl. 1 Kor 11,23–26 im Kontext hellenistischer Religionsgeschichte, in: Ders., Gemeinde  – Amt  – Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 313–330; H. Schürmann, Jesus. Gestalt und Geheimnis, Paderborn 1994, 136– 265; H. Merklein, Erwägungen zur Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen (1977), in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus I, WUNT 43, Tübingen 1987, 157– 180; Ders., Der Tod Jesu als stellvertretender Sühnetod. Entwicklung und Gehalt einer zentralen neutestamentlichen Aussage (1986), ebd. 181–191; Ders., Wie hat Jesus seinen Tod verstanden?, in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus II, WUNT 105, Tübingen 1998, 174–189; Ders., Der Sühnetod Jesu nach dem Zeugnis des Neuen Testaments (1990), ebd. 31–59; Ders., Der Sühnegedanke in der Jesustradition und bei Paulus, in: A. Gerhards / ​K . Richter (Hgg.), Das Opfer. Biblischer Anspruch und liturgische Gestalt, QD 186, Freiburg i. Br. 2000, 59–91; W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 6,12–11,16), EKK VII/2, Neukirchen-Vluyn 1995, 429–460 (Lit.); Ders., Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 11,17–14,40), EKK VII/3, Neukirchen-Vluyn 1998, 5–107 (Lit.); F. Hahn, Art. „Abendmahl I. Neues Testament“, RGG3  1 (1998), 10–15; Ch. Niemand, Jesu Abendmahl. Versuche zur historischen Rekonstruktion und theologischen Deutung, in: Ders. (Hgg.), Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt (FS A. Fuchs), LPTB 7, Wien 2002, 81–122; Th. Söding (Hgg.), Eucharistie. Positionen katholischer Theologie, Regensburg 2002, hier 11–58: Th. Söding, „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“. Das Abendmahl Jesu und die Eucharistie der Kirche nach dem Neuen Testament; J. Schröter, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart, SBS 210, Stuttgart 2006; H. J.  Stein,

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4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

1.2.1  Das Symposion als Ort sozialer Strukturierung, pagane Einflüsse und die Mahlfeiern der ersten Christen Die Bedeutung des Symposions als Ort sozialer Strukturierung hat zuletzt Knut Usener zusammenfassend vorgestellt. Er hält fest: „Das Symposion hat sich als Form sozialer Gemeinschaft herausgebildet und behauptet. Es diente nicht nur der privaten Förderung von Kontakten mit allen ihren Vorteilen, sondern war insbesondere eine für die Gemeinschaft wichtige, Stabilität gewährende Binnenstruktur. Daher wurde sie auch staatlich im Zusammenhang mit Kultveranstaltungen gefördert.“14

Die Kernfragen, ob und wenn ja wie und wo genau das Symposion Einfluss auf die frühesten christlichen Abendmahlsfeiern genommen hat, werden in der aktuellen Forschung keineswegs monokausal und ausnahmslos im Sinne der These von M. Klinghardt und J. Heilmann beantwortet. Markus Öhler betont im Vergleich zwischen den kultischen Mählern der griechisch-römischen Vereinigungen und den kultischen Mählern der Christen Gemeinsamkeiten und Unterschiede: „Essen und Trinken, Gebet und Gesang, die Besinnung auf den Mythos und das ihr eigenes Essen und Trinken begründende letzte Mahl Jesu – die Vereinigung der Christusgläubigen feierte ihr kultisches Mahl wie andere Vereinigungen: Typisch in der Grundstruktur und den wesentlichen Elementen, individuell in Deutung und Ausgestaltung.“15 Frühchristliche Mahlfeiern. Ihre Gestalt und Bedeutung nach der neutestamentlichen Briefliteratur und der Johannesoffenbarung, WUNT II/255, Tübingen 2008; H. Löhr, Das Abendmahl als Pesach-Mahl. Überlegungen aus exegetischer Sicht aufgrund der synoptischen Tradition und des frühjüdischen Quellenbefundes, BThZ 25 (2008), 99–116; Ders., Das letzte Mahl Jesu, in: J. Schröter (Hg.), Jesus Handbuch Tübingen 2017, 467–473; Ders., Abendmahl und Ethik im frühesten Christentum bis auf Justin. Zugleich zu einer topographischen Analyse und Darstellung einer materialen frühchristlichen Ethik, EC 3 (2012) 5–32; J. Schröter, Nehmt – esst und trinkt. Das Abendmahl verstehen und feiern, Stuttgart 2010; E. Reinmuth, Einleitung zur Kontroverse. Der „Leib Christi“ in Abendmahlsworten: Interpretament oder Fundament?, ZNT 14 (2011) 45; Ders., Brot-Brechen und Körper-Gemeinschaft. Herrenmahl und Gemeinde im ersten Korintherbrief, ebd. 46–50; H. Löhr (Hgg.), Abendmahl, Themen der Theologie 3 (2012), hier 5–50; St. Beyerle, Kult  – Opfer  – Erinnerung. Zur Geschichte von Pessach und Mahlgemeinschaften im alten Israel und im antiken Judentum, ebd. 51–94; H. Löhr, Entstehung und Bedeutung des Abendmahls im frühesten Christentum; H. Gese, Der alttestamentliche Hintergrund des Herrenmahls, in: H. Assel (Hg.), Leidenschaft für die Theologie, Leipzig 2012, 47–78; W. Weiß (Hgg.), Der eine Gott und das gemeinschaftliche Mahl. Inklusion und Exklusion biblischer Vorstellungen von Mahl und Gemeinschaft im Kontext antiker Festkultur, BThSt 113, Göttingen 22012; B. J.  Pitre, Jesus and the Last Supper, Grand Rapids 2015; U. Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums. 30–130 n. Chr., Tübingen 22016, 135–138.204 f. F. J.  Moloney, Gebrochenes Brot für gebrochene Menschen. Eucharistie im Neuen Testament, Freiburg i. Br. 2018 (Übersetzung des engl. Originals: A Body Broken for a Broken People. Eucharist in the New Testament, 3. revidierte und erweiterte Auflage 2015). 14  K. Usener, Symposion und Sexualität in der griechischen Antike. Privates Bankett und Symposion, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist  – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), III 1441–1468, hier 1465. 15 M. Öhler, Mähler und Opferhandlungen in griechisch-römischen Vereinigungen, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), III 1413– 1439, hier 1437.

1.  Ausgangspunkte in der neuesten Forschung

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Fritz Graf sieht keinerlei Verbindungslinien zwischen den verschiedenen kultischen Banketten und Mahlzeiten im Kult der ägyptischen Götter und den christlichen liturgischen Mahlzeiten: „Nothing leads from generous banquets of Sarapis to the ‚innocuous meals‘ Pliny’s Christians celebrated in Bithynia.“16 Nach Benedikt Eckhardt können Überlieferungen aus dem Dionysuskult christliche Mahl-Traditionen indirekt beeinflusst haben, aber es ist „impossible to deduce the Eucharist and its development from a Dyonysic blueprint.“17 Auch die Kybele‑ und Attismysterien kommen für B. Eckhardt definitiv nicht als „proto-Eucharistic institution“ in Betracht.18 Hans Dieter Betz schließt Abhängigkeiten zwischen christlichen Eucharistiefeiern und Kultmahlen der Mithrasreligion in die eine oder andere Richtung aus.19 In seinem Forschungsresümee urteilt Ulrich H. J.  Körtner, dass sich die Mahlfeiern der ersten Christen von Gemeinschaftsmählern in vielen antiken Religionen und Kulten inspirieren ließen, „dabei aber auch spezifische Elemente der Jesustradition integrierten“. „Die Entstehung des christlichen Herrenmahls und seine verschiedenen Frühformen stehen aber nicht in unmittelbarer Abhängigkeit von einem ganz bestimmten außerchristlichen Kult.“20 Die Gemeinschaftsmähler im Umfeld der ersten Christen können von paganen (z. B. Symposion) und/oder jüdischen Traditionen geprägt sein. Für die jüdische Traditionslinie verweist er besonders auf die Passatradition, die „eine wichtige Rolle bei der Entstehung des christlichen Herrenmahls gespielt hat.“21 Körtner hält abschließend fest, dass der „Ritus des Gemeinschaftsmahls […] in den christlichen Gemeinden jedoch auf spezifisch christliche Weise transformiert“22 wurde. 16 F. Graf, Sacred Meals in the Cults of Isis and Sarapis, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), III 1747–1760, hier 1759. 17  B. Eckhardt, Eating and Drinking (with) Dionysus, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), III 1761–1777, hier 1774. 18 Vgl. Ders., Meals in the Cults of Cybele and Attis, ebd. III 1779–1794. Vgl. auch S. Petersen, Jesus zum Kauen. Das Johannesevangelium, das Abendmahl und die Mysterienkulte, in: J. Hartenstein / ​S. Petersen / ​A . Standhartinger (Hgg.), „Eine gewöhnliche und harmlose Speise“? Von den Entwicklungen frühchristlicher Abendmahlstraditionen, Gütersloh 2008, 105–130. 19  H.-D. Betz, Unique by Comparison. The Eucharist and Mithras Cult, in: D. Hellholm / ​ D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), III 1795–1832. Vgl. auch das Ergebnis der Durchsicht neutestamentlicher und weiterer christlicher Schriften im Blick auf ihre Bewertung von heidnischen Kultmählern bei V. Blomkvist, The Pagan Cultic Meal in Early Christian Literature, ebd. III 1667–1684, hier 1682: „The New Testament texts offer a fairly coherent picture of the pagan cultic meal and its perils. There is a well-known pattern, taken from the Old Testament: A pagan cultic meal means participation in the cult of ‘strange gods’ and the ultimate consequence is death.“ 20  U. H. J.  Körtner, Zur Einführung: Das Herrenmahl, Gemeinschaftsmähler und Mahlgemeinschaft im Christentum. Ursprünge, Kontexte, Bedeutung und Praxis in Geschichte und Gegenwart aus systematisch-theologischer Sicht, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 1–21, hier 1 f. 21  Ebd. 2. 22 Ebd. Im Blick auf eine „normative Urteilsbildung“ stellt sich unabweisbar die Frage, „inwieweit eine bestimmte Form der Mahlfeier und ihre theologische Deutung als authentischer Ausdruck des Christlichen gelten bzw. der Vergewisserung des christlichen Glaubens dienen [kann]

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4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

1.2.2  Jüdische und jüdisch-hellenistische Einflüsse Welche Einflüsse jüdischer bzw. jüdisch-hellenistischer Traditionen auf das letzte Mahl Jesu bzw. die frühchristliche Praxis lassen sich plausibilisieren? Die Forschung hierzu ist kontrovers, zeigt jedoch auch neu gewonnene Klarheiten: Peter Altmann kommt insgesamt zu dem offenen Ergebnis: „… it is only to be expected, and, therefore, common place that divergent traditional and metaphorical backgrounds will come into play when Hebrew Scriptures form part of the basis for practicing and theorizing the sacred meals in the reception of the Hebrew Bible/ Old Testament for the formulation of new or revised traditions in Late Second Temple Judaism and early Christianity.“23

Mit Blick auf die Pessachfeier vertritt Clemens Leonhard pointiert die Auffassung: „The early development of the Eucharist is, however, independent from the celebration of Pesach.“24 Für diese These beruft er sich darauf, dass Ex 12 eine ätiologische Erzählung zur Deutung des am Tempel in Jerusalem gefeierten Pessach sei, die Pessachhaggada erst im Mittelalter entstanden sei und nicht auf Vorläufer im rabbinischen Seder oder einer konkreten Feier des Pessach am Jerusalemer Tempel zurückgehe. Diese Interpretationslinie vertritt auch Thomas Kazen, der zudem behauptet, den synoptischen Paschamahlbezügen komme nur eine „minimal role“ zu.25 Dass die angeführten Argumente die Hauptthese von C. Leonhard und Th. Kazen ausreichend begründen können, erscheint äußerst fraglich. Für die Mahlfeiern in Qumran kommt Jörg Frey mit der neueren Qumranforschung zu dem nüchternen Ergebnis, dass die vielfältig angenommenen Parallelen, Analogien und Brücken zu den Herrenmahlfeiern der ersten Christen einer genauen Überprüfung ausnahmslos nicht standhalten. Die Mähler des yaḥad und das neutestamentliche Herrenmahl unterscheiden sich in allen relevanten

oder nicht“ (ebd. 3). Hier ist insbesondere das ökumenische Gespräch betroffen und herausgefordert. Freilich sind Antworten nicht ganz einfach: „Aber was im Blick auf das Herrenmahl eine evangeliumsgemäße oder schriftgemäße Praxis ist, inwiefern diese Praxis wiederum mit einer ganz bestimmten theologischen Deutung verbunden sein muss oder deutungsoffen bleiben kann, lässt sich keineswegs leicht beantworten, wie die neutestamentlichen und kirchenhistorischen Beiträge zur Alten Kirche zeigen“ (ebd. 5). 23 P. Altmann, Sacred Meals and Feasts in the Old Testament/Hebrew Bible and its Environment. A ‚Treasure Chest‘ for Early Christian Practise and Reflection, in: D. Hellholm / ​ D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 23–41, hier 39. 24  C. Leonhard, Pesah and Eucharist, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 275–312, hier 310. 25  Th. Kazen, Sacrificial Interpretation in the Narratives of Jesus’ Last Meal, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 493–496, hier 496. Vgl. ebd. 496: „… neither atonement theology, nor suffering servant christology, can be unambiguously assigned to the authors of the last meal narratives, which means that this can be done even less so for Jesus.“ Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser These kann hier nicht geführt werden.

1.  Ausgangspunkte in der neuesten Forschung

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Hinsichten.26 Dieter Sänger hält fest, dass die sogenannten Mahlformeln in Joseph und Aseneth „als Kandidat bei der Suche nach den Ursprüngen des christlichen Abendmahls“27 ausscheiden, betont jedoch, dass „JosAs dazu verhelfen kann, den traditions‑ und religionsgeschichtlichen Hintergrund des paulinischen und johanneischen Eucharistieverständnisses sowie deren Aussagegehalte schärfer als bisher zu profilieren.“28 Jutta Leonhardt-Balzer deutet die Funktion des Mahles für die Gemeinschaft bei Philo und Josephus als deckungsgleich mit der umgebenden hellenistischen Kultur: „Gemeinschaftlichkeit, Geselligkeit, Freundschaft, Beziehungspflege und Gesprächskultur sind die Ideale, denen die geschilderten Mahlzeiten verpflichtet sind …“29 1.2.3  Das letzte Mahl Jesu Im Blick auf die Rekonstruktion des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern vor seinem Tod diskutiert die Forschung verschiedene Szenarien: Gab es ein letztes Mahl Jesu vor seinem Tod, ggf. mit welcher Gestalt und welcher Intention? Welchen Sinn hatte die symbolische Handlung Jesu? Gab es Einsetzungsworte und wenn ja, wie lauteten sie? Gab es einen inhaltlichen Bezug zum Tod Jesu? Gehörte die Wiederholung dieses letzten Mahles zur ursprünglichen Intention Jesu? Jostein Ådna argumentiert für die Historizität der Tischgemeinschaften Jesu mit Zöllnern und Sündern im Zuge der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu und hebt dann das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern von diesen Tischgemeinschaften signifikant ab: „The Last Supper is not a continuation of the table fellowships with ‚tax collectors‘ and ‚sinners‘, but a meal with a completely different focus. […] By the time of the Last Supper in Jerusalem, most probably a Passover meal, Jesus knows that his violent death is imminent, and he takes the opportunity to provide his disciples with a connection to what is to be the most shocking and terrifying event for them. Using the basic elements of the meal by distributing bread and wine to them, Jesus gives his disciples a share in himself and his death as stated in the accompanying words.“30  J. Frey, Die Zeugnisse über Gemeinschaftsmähler aus Qumran, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 101–130. 27  D. Sänger, ‚Brot des Lebens, Kelch der Unsterblichkeit‘. Vom Nutzen des Essens in ‚Joseph und Aseneth‘, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 181–222, hier 212. 28 Ebd. 29 J. Leonhardt-Balzer, Die Funktion des Mahles für die Gemeinschaft bei Philo und Josephus, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist  – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 253–273, hier 272. 30  J. Ådna, Jesus’ Meals and Table Companions, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 331–353, hier 352. S. Byrskog weist die These von J. Jeremias, G. Theißen und A. Merz zurück, das letzte Abendmahl Jesu sei als eschatologisch motivierte Kritik am Jerusalemer Tempelkult zu verstehen; vgl. Ders., The Meal and the Temple. Probing the Cult-Critical Implications of the Last Supper, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 423–452. Vgl. G. Theiẞen / ​A . Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001, 359–386. 26

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4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

Karl Olav Sandnes sieht das letzte Mahl Jesu in Kontinuität zu prophetischen Zeichen‑ bzw. Symbolhandlungen, in denen Handlung und Deutung verschränkt werden bzw. die Deutung in der Handlung selbst evident wird. In diesem Sinne ‚spricht‘ das von Jesus gebrochene, gereichte und gedeutete Brot in der Situation seines bevorstehenden Todes vom Tod Jesu (analog der Bechergestus). Auch aufgrund der Symmetrie der Deuteworte Jesu rechnet K. O. Sandnes damit, dass die Deuteworte „a substantial identity between what is consumed and Jesus himself “31 aussagen wollen. Aus seiner Sicht gibt es „a remarkable degree of continuity between the different versions found in the New Testament“: „– A Passover setting is unanimous in all Synoptic Gospels. – All versions speak of bread and wine (cup). Bread broken is found in all versions, except in Paul’s. – In all versions, the meal is introduced with a thanksgiving, bringing to mind a Jewish setting of berakah. – All versions make covenant a key concept in the interpretation of the meal. – Those eating are made beneficiaries of Jesus’ death. – In all versions, the meal is a foretaste of the kingdom of God.“32

Damit widerspricht er Auslegungen, die eine unterschiedlich große Zahl von erheblich differierenden Herrenmahlsversionen im Neuen Testament erkennen möchten.33 1.2.4  Die Anfänge des Herrenmahls Die paulinische Herrenmahlsüberlieferung und ‑deutung in 1 Kor 10,14–22; 11,17– 34 ist ein markantes, frühes Zeugnis für die urchristliche Herrenmahlsfeier, das Maßstäbe setzt.34 Paul Duff deutet die paulinische Herrenmahlsüberlieferung in 1 Kor 11,17–34 kontextuell und betont: „But, as Paul describes it, the meal not only commemorated a sacrifice act, it also functioned as a kind of sacrifice.“35 Für ein 31  Vgl. hierzu auch die Kritik von K. O.  Sandnes, Jesus’ Last Meal According to Mark and Matthew. Comparison and Interpretation, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm.), I 453–475, hier 461. 32  Ebd. 469. 33  Gegenläufig zur Position von K. O.  Sandnes argumentiert M. Winnige, The Lord’s Supper in 1 Cor 11 and Luke 22. Traditions and Development, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 579–602. In seiner Erzählung vom letzten Mahl Jesu habe Lukas nur „a small number of details from Mark’s Gospel“ rezipiert. Der Relativsatz im lukanischen Becherwort („das für euch vergossen wurde“; Lk 22,20) sei als „libation of the Graeco-Roman kind“ zu verstehen. Die Pesach-Konnotationen bei Lukas „seem to be a later development“ (ebd. 600). 34  Vgl. nur W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/2 (s. Anm. 13), 429– 460 (Lit.); Ders., Der erste Brief an die Korinther (s. Anm. 13), 5–107 (Lit.); H. Merklein, Erwägungen zur Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen (s. Anm. 13). 35 P. Duff, Alone Together. Celebrating the Lord’s Supper in Corinth (1 Cor 11,17–34), in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 555–578, hier 570 (mit Hinweis auf 1 Kor 10,14–22).

1.  Ausgangspunkte in der neuesten Forschung

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sakramentales Verständnis des Herrenmahls bei Paulus argumentiert Hermut Löhr und wertet hierzu insbesondere die paulinische Verwendung von κοινωνία κτλ aus.36 Felix John kommt in seiner Auslegung des Konfliktes in Gal 2,1–21 zu dem Ergebnis: „[…], dass die ‚Einheit der Kirche […] nicht das Ziel oder das Mittel der Abendmahlsgemeinschaft, sondern ihre Grundlage [ist.]‘“37 Ulrich H. J.  Körtner stellt die Wiederentdeckung der Verbindung von Sättigungsmählern im frühen Christentum mit dem Herrenmahl heraus und fragt mit der neueren Forschung nach möglichen Konsequenzen für die theologische Deutung des Herrenmahls und Gemeinschaftsmählern heute. Hier kommen die klassischen theologisch-systematischen, konfessionell prägenden Topoi in den Blick: Sakrament, Deutung des Todes Jesu (Stellvertretung, Opfer, Sühne, Sündenvergebung), Bundestheologie, Präsenz des Auferstandenen im Herrenmahl, Unverzichtbarkeit und Verbindlichkeit der Einsetzungsworte beim Abendmahl, Zulassung zum Abendmahl und andere mehr. Er urteilt abschließend: „Paulus begreift die Feier des Herrenmahls nicht nur als Gemeinschaft mit dem erhöhten Christus, sondern auch als gemeinschaftliche Verkündigung des Todes Jesu (vgl. 1 Kor 11,26).“38 Im Folgenden relativiert Körtner seinen eigenen Befund: „Folglich war der Bezug auf den Tod Jesu und die Passionsgeschichte in den Anfängen des Christentums nicht ein konstitutiver Bestandteil sämtlicher Mahlfeiern.“39 Dieser Satz bezieht sich sehr allgemein auf die ersten drei bis vier Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung und zudem auch auf alle Mahlfeiern. Damit weicht diese Beschreibung jedoch der entscheidenden Frage aus, ob in den Herrenmahlfeiern der ersten Christen der Bezug auf Tod, Passion und Auferstehung Jesu konstitutiv war (dafür sprechen die neutestamentlichen Zeugnisse) oder nicht. Jerker und Karin Blomqvist widmen sich der eucharistischen Terminologie in den ersten zwei Jahrhunderten und zeigen auf, wie die verwendeten, vorwiegend aus der jüdischen(!) Tradition stammenden Fachausdrücke inhaltlich neu gefüllt werden.40 Gerard Rouwhorst lehnt zwei klassische Forschungsparadigmen zur Entwicklung der „frühchristlichen Eucharistiefeiern“41 ab: (a) das organische Modell, das „die Geschichte der frühchristlichen Eucharistiefeiern mit einem Stammbaum, 36  H. Löhr, Vom Gemeinschaftsmahl zur Mahl-Gemeinschaft. Überlegungen zum sakramentalen Charakter des Herrenmahles, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 624–644. 37  F. John, Gal 2,11–21: Eine Ritual‑ und Identitätskrise, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 603–624, hier 620 (Zitat im Zitat von D. Lührmann). 38  U. H. J.  Körtner, Zur Einführung (s. Anm. 20), 18. 39  Ebd. 16. 40  J. und K. Blomkvist, Eucharist Terminology in Early Christian Literature. Philological and Semantic Aspects, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 389–421. 41 G. Rouwhorst, Frühchristliche Eucharistiefeiern. Die Entwicklung östlicher und westlicher Traditionsstränge, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist  – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), II 771–786.

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4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

mit Stamm, Wurzeln und Verzweigungen“ vergleicht und (b) ein „duales Modell, das die verschiedenen Feierformen aus zwei Urtypen herzuleiten versuchte.“42 Für seine Rekonstruktion führt Rouwhorst folgende methodische Ausgangspunkte ins Feld: „Zunächst sollte man sich nur auf Quellen konzentrieren, die eindeutige Beschreibungen von frühchristlichen Gemeinschaftsmählern enthalten. Das heißt einerseits, dass man die neutestamentlichen Einsetzungsberichte als Quellen für die Erforschung der von Christen gefeierten Mähler besser ausklammern sollte. Andererseits sollte man nicht zwischen ‚echten‘ Eucharistiefeiern und angeblich zweitrangigen Agapefeiern unterscheiden.“43

Sodann betont er, „dass Rituale nicht auf ihre historischen Wurzeln, d. h. auf die Traditionen, auf die sie zurückgehen und von denen sie beeinflusst worden sind, reduziert werden können. Es ist zweifellos relevant zu wissen, auf welche vorchristlichen Traditionen frühchristliche Vorstellungen, Überzeugungen und Riten zurückgehen, aber noch wichtiger ist es zu verstehen, wie diese Traditionen in den frühchristlichen Gemeinden funktioniert haben, wie sie von den Christen angeeignet und transformiert worden sind.“44

Rouwhorst untersucht exemplarisch drei Beispiele (das Herantragen/Herbeibringen der Gaben einschließlich der Speisen und Getränke; die Gebete, die vor dem Beginn der Mahlzeiten gesprochen werden; das Brechen des Brotes) und kommt zu dem Ergebnis, dass „sich im frühen Christentum ab dem zweiten oder dritten Jahrhundert, trotz der großen Vielfalt an Mahlformen und ‑riten und trotz kontinuierlicher Verschiebungen und wechselseitiger theologischer Deutungen, klar unterscheidbare Traditionsstränge nachweisen lassen. Dabei fallen vor allem die Unterschiede zwischen dem östlichen Mittelmeerraum und dem westlichen, lateinischsprachigen Christentum ins Auge.“45

Lukas Bormann vertritt die These, „dass in neutestamentlicher Zeit der für die Identität der ekklesialen Gemeinschaften zentrale Sachverhalt nicht der Vollzug des Rituals, sondern die das Ritual begründende Glaubensüberzeugung (Bekenntnis) ist.“46 Aber ist diese heuristische Unterscheidung tatsächlich weiterführend, wenn Bormann selbst betont, „dass Handlung und Sprache keine Gegensätze sind“47? Seine Deutung der Ritualmedien ist keineswegs plausibel: „Die auffällig alltäglichen Ritualmedien Brot und Wein werden durch intensive symbolische Interpretationen zu kontraintuitiven Repräsentationen transformiert. […] Der geringe sinn42 Ebd.

772. 774. 44  Ebd. Rouwhorst baut hier eine einseitige Heuristik auf, die mit zu einfachen Alternativen arbeitet. 45  Ebd. 782. 46  L. Bormann, Das Abendmahl. Kulturanthropologische, kognitionswissenschaftliche und ritualwissenschaftliche Perspektiven, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist  – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), I 697–731, hier 698. 47  Ebd. 713. 43 Ebd.

1.  Ausgangspunkte in der neuesten Forschung

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liche Gehalt der beiden zentralen Ritualmedien Brot und Becher führt dazu, dass weitere Ritualmedien wie Öl, Käse und Oliven ergänzend neben diese treten.“48

Einspruch angemeldet sei zudem im Blick auf seine starke, ja gewaltsame Trennung von Symbolhandlung bzw. Ritus und Interpretation: „Beide Deutungen, die der prophetischen Symbolhandlung und die der für die Gemeinschaft wirksamen Lebenshingabe, sind Interpretationen, die sich nicht aus dem Ritus als solchem ergeben.“

Bormann spricht von einer „nicht-sinnlichen und damit kontraintuitiven Verbindung von Brot und Wein mit der Lebenshingabe Jesu.“49 Insgesamt läuft diese Auslegung des Abendmahls konsequent auf eine Trennung von Mahlgemeinschaft und ekklesialer Gemeinschaft hinaus: „Nicht das Zusammenessen macht die Identität der Gemeinschaft aus, sondern die Erwartung, dass diese Zusammenkunft als Ganze die Beziehung zum Supranaturalen herstellt […].“50

1.2.5 Didache Die zeitliche Einordnung der Didache51 (etwa 100 n. Chr.) und ihre Aussagen zur Eucharistie haben die Aufmerksamkeit der Forschung seit langem auf sich gezogen.52 Dietrich-Alex Koch hält fest, dass es sich „in Did 9–10 um das rituelle Mahl dieser Gemeinde handelt“. Die Einsetzungsworte kommen hier nicht zur Anwendung, so dass „wir in Did 9–10 die vollständige Liturgie des rituellen Mahls vor uns haben.“53 Koch arbeitet Unterschiede zwischen der Didache und dem hellenistischen Symposion heraus und betont die jüdischen Mahlgebete als traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Eucharistiegebete in der Didache. In der Didache wird εὐχαριστία eindeutig „als Bezeichnung des rituellen Mahls selbst“ verwendet: „Zentrales Element, durch welches das Mahl zum rituellen Mahl wird und seine entscheidenden Interpretationen erhält, sind die Dankgebete (εύχαριστίαι). […] Von diesem  Ebd. 721. 723. Diese These lädt zum Widerspruch ein: Ob nicht das exakte Gegenteil zutreffend

48

49 Ebd.

ist?

 Ebd. 728. C. Clauẞen, The Eucharist in the Gospel of John and in the Didache, in: A. Gregory / ​ Chr. Tuckett (Hgg.), Trajectories through the New Testament and the Apostolic Fathers, Oxford 2005, 135–163. Zu weiteren christlichen Autoren bzw. Zeugnissen auch J. Schröter, Eucharistie, Auferstehung und Vermittlung des ewigen Lebens. Beobachtungen zu Johannes und Ignatius (mit einem Ausblick auf Justin, Irenäus und das Philippusevangelium), in: R. Bieringer u. a. (Hgg.), Docetism in the Early Church. The Quest for an Elusive Phenomenon, WUNT 402 Tübingen 2018, 89–111; I. Dunderberg, The Eucharist in the Gospels of John, Philip and Judas, EC 7 (2016), 484–507. 52  Vgl. D.-A. Koch, Eucharistievollzug und Eucharistieverständnis in der Didache, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts (s. Anm. 13), II 845–881 (Lit.). 53  Ebd. 857 f. 50

51 Vgl.

290

4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

zentralen Moment her empfängt der gesamte Vorgang, der ja an sich ein Mahlvorgang ist, seinen Namen.“54

Während Paulus in 1 Kor 11 klare Bezüge zwischen Kelch und dem Blut Christi einerseits („mit dem Thema αἵιμα verbindet sich natürlich die sühnende Wirkung des Todes Jesu [vgl. Röm 3,25]“55) und zwischen dem Brot und dem Leib Christi andererseits herstelle, fehle in der Didache „auch inhaltlich jeder Bezug zum Tod Jesu und seiner Heilswirkung.“56

2.  Die Bildrede Johannes 6 2.1  Die johanneische Brot‑ und Wein-Metaphorik bei Jan Heilmann Jan Heilmann legt die Bildrede in Joh 6 durchgehend und ausschließlich metaphorisch in einem ganz bestimmten Sinn aus und schließt darin auch die Joh 6,51–58 ein.57 In Joh 6 gehe es dem Evangelisten darum, die „konzeptuelle Metapher“: „ESSEN/TRINKEN IST ANNAHME VON LEHRE“ zu etablieren, nachdem er diese in Joh 4 präfiguriert habe: „Das Brot, das der johanneische Jesus geben wird, ist der ‚Glaubensgegenstand‘ oder die Glaubenslehre, dass er sterben und weggehen muss (…), dass sein Weggehen notwendig ist, damit der Geist kommt (…), dass er dennoch Gottes Sohn ist, auch wenn die Welt ihn nicht erkennen und den Geist nicht empfangen kann (Joh 16,15), und dass die Jünger dem Hass der Welt ausgesetzt sind (Joh 15,18–16,4).“58

Da J. Heilmann davon ausgeht, dass es in den ersten christlichen Gemeinden eine liturgische bzw. ‚sakramentale‘ Feier eines Abendmahles Jesu nicht gegeben habe, rechnet er damit, dass „die Rezipienten des JohEv ein Gemeinschaftsmahl als normale Versammlungsform am Abend abgehalten haben.“59 Die Stärken seiner Auslegung finden sich (a) in der konsequent synchronen Auslegung von Joh 6, (b) im Rekurs auf Weisheitstraditionen sowohl in der johanneischen Christologie als auch in der johanneischen Metaphorik des Essens und Trinkens, (c) in der These von einer kreativen Aufnahme des schon in der markinischen Vorlage bei den Brotwundern vorfindlichen Missverstehens der Jünger durch den vierten Evangelisten60 sowie (d) der ekklesiologischen und nicht nur christologischen Relevanz von Joh 6.  Ebd. 866. 868. 56 Ebd. 57 Vgl. J. Heilmann, Wein und Blut (s. Anm. 4), 144–240. 58  Ebd. 202. 59  Ebd. 173. 60 Vgl. hierzu auch I. D.  Mackay, John’s Relationship with Mark. An Analysis of John 6 in the Light of Mark 6–8, WUNT II/182, Tübingen 2004. I. D.  Mackay arbeitet insgesamt heraus, dass und wie Johannes der markinischen Erzählstrategie in Mk 6–8 folgt und diese in seinem Sinne noch weiter ausbaut; vgl. ebd. 300–303 et passim. 54

55 Ebd.

2.  Die Bildrede Johannes 6

291

In der Konsequenz seines Auslegungsansatzes legt Jan Heilmann auch Joh 15 mit starkem Bezug zum Symposiongespräch aus.61 Hilfreich sind die Ausführungen zur johanneischen Metaphorik in Joh 15, die sich schwerpunktmäßig auf die Studien von Jan G. van der Watt beziehen, sowie die Berücksichtigung des alttestamentlichen Bildhintergrundes. Im Kapitel über die „semantische Fülle der Weinmotivik in der antiken Kultur“ kommt J. Heilmann für das Alte Testament zu der Schlussfolgerung: „Der Bund wird also weder durch ein Opfer noch durch ein Blutritual in Kraft gesetzt, vielmehr wird im geschilderten Ritual selbst Gemeinschaft (untereinander und mit Gott) inszeniert und symbolisch erfahrbar gemacht.“62 „Weinberg und Weinstock (werden) als Sinnbilder für das Verhältnis zwischen Gott und Gottesvolk und als Sinnbilder für Wohlsein und göttlichen Segen in einer eschatologischen Ausrichtung“63 verstanden. Im hellenistischen Kulturraum sei die Weinmotivik besonders mit dem Dionysoskult verbunden: „Die wichtigste Funktion des Symposions, als dessen Hauptgott Dionysos galt, war das gemeinschaftliche Zusammenkommen bzw. die Konstituierung von Sozialität.“64 „Es ist festzuhalten, dass die Trink‑ und Libationspraxis mit Wein beim Symposion untrennbar mit der Sozialdimension verbunden ist. Sie korrespondiert mit den zentralen Werten, die der Institution des Symposions im antiken Diskurs zugeschrieben wird, steht aber zugleich in Spannung zur sozialen Realität, in der durch die Sitzordnung und ritualisierten Formen des Zutrinkens Sozialbeziehungen sichtbar werden.“65

Im Ergebnis hält Heilmann fest, dass sich weder für das AT noch für die Antike die oftmals angenommene semantische Nähe von Wein und Blut bestätigen lassen. „Wein als Grundnahrungsmittel (ist) eng mit der Alltagskultur der Menschen in der Antike verbunden. Von der Vielfalt seiner ihm zugeschriebenen Funktionen und seiner Polyvalenz als Zeichen ist besonders die gemeinschaftsstiftende sowie einheits‑ und identitätsstiftende Dimension hervorzuheben.“66

Ertragreich, aber auch kritisch zu diskutieren ist die innovative Deutung der Abschiedsrede(‑n) auf der Folie eines Symposiongesprächs mit vier Implikationen: der Sinnlinie Fruchttragen als Klammer zwischen Joh 12,24 und 15,1 ff, der Beziehung zwischen Joh 13 (Fußwaschung) und Joh 15, der Freundschafts‑ und Liebesthematik sowie des Verhältnisses der Bildrede zu Jesu Tod.67 Die Verwendung von Blut und Wasser in der Kreuzigungsszene Joh 19,34 deutet der Autor

61 Vgl.

ebd. 241–280.  Ebd. 52. 63  Ebd. 53. 64 Ebd. 57. 65  Ebd. 67. 66  Ebd. 79. 67  Vgl. ebd. 258–257. 62

292

4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

wie folgt: „Blut“ sei als eine „Allusion auf das Blut des ägyptischen pascha zu verstehen“68, „Wasser“ sei „als Verweis auf den Geist zu verstehen.“69 Für die Auslegung der Vorkommen von „Wein“ in den neutestamentlichen Abendmahlstexten bei den Synoptikern und bei Paulus rekurriert Heilmann erneut maßgeblich auf Matthias Klinghardts These, dass ausschließlich das antike Gemeinschaftsmahl als „kulturelles Erfahrungswissen“ 70 zur Deutung herangezogen werden könne. In der markinischen und matthäischen Fassung der Erzählung vom letzten Mahl werde „nicht der Wein … als Blut Jesu gedeutet, sondern der gemeinschaftlich getrunkene Becher, also das durchaus mit Wein vollzogene Ritual wird als Bundesblut qualifiziert. … Nicht durch das Blut bzw. den Wein, sondern durch das gesamte Ritual wird der Bund geschlossen. Sowohl der markinische als auch der matthäische Jesus stiften einen Bund, der nicht durch ein Blutritual, sondern durch ein Trinkritual als messianischer ‚Weinbund‘ konstituiert wird.“ 71

Auch die vielfach angenommenen Bezüge zum Kreuzestod Jesu (und dessen Deutung als stellvertretende, sühnende Lebenshingabe) in den Abendmahlserzählungen (sowohl bei den Becherworten als auch bei den Brotworten) missverstehen – folgt man J. Heilmann – den ursprünglichen Textsinn. Das Motiv der Sündenvergebung sei ausdrücklich nichtkultisch zu verstehen und auf die durch das Trinken des Bechers konstituierte Gemeinschaft bezogen, die sich gegenseitig die Sünden vergebe.72 Auf der Basis dieser Thesen und von diesem Ansatz geprägt wendet sich der Autor zunächst der Einzelauslegung des Weinwunders Joh 2,1–12 zu: Der Wein werde hier als „Ausweis von Jesu Messianität und der von ihm geschenkten Fülle und Freude“ 73 gedeutet. Anspielungen bzw. Bezüge zum Abendmahl seien hier nicht gegeben. Dazu setzt sich der Autor insbesondere mit der These auseinander, der Tod Jesu habe im Johannesevangelium stellvertretenden bzw. sühnenden Charakter: Diese Deutung weist er als nicht textgemäß zurück. Die Bezeichnung Jesu als „Lamm Gottes“ (Joh 1,29.36) im unmittelbaren Kontext von Joh 2,1–12 ziele darauf, „die Sünde als verkehrt zu entlarven.“ 74 Heilmann deutet (wie eine Reihe Ausleger vor ihm) Joh 2,1–12 auf dem Hintergrund der antiken Dionysostraditionen, mit deren Hilfe der Evangelist  – im Sinne seiner „Inkulturationsstrategie“ – die Inkarnation des Logos, die messianische Heilsfülle sowie die Neukonstituierung der familia dei veranschauliche.75

 Ebd. 287. 288. 70  Ebd. 86. 71  Ebd. 89 f. 72  Vgl. ebd. 90–94.104–106. 73  Ebd. 122. 74  Ebd. 121. 75  Vgl. ebd. 126–143. 68

69 Ebd.

2.  Die Bildrede Johannes 6

293

2.2  Kritische Rückfragen an die Auslegung von Jan Heilmann Aufgrund seiner exegetischen Ausführungen spricht Jan Heilmann ausweislich seines Untertitels vom „Ende der Eucharistie im Johannesevangelium“. Freilich beinhaltet die polemische These einen Widerspruch: Wenn es nie einen verifizierbaren Anfang ‚der‘ Eucharistie im ersten christlichen Jahrhundert gegeben hat, dann kann nicht wirklich vom „Ende der Eucharistie“ gesprochen werden.76 Gleichwohl müsse die von Heilmann postulierte anachronistische Interpretation neutestamentlicher Texte einer sachgemäßen Auslegung weichen. Dazu möchte er einen weiterführenden Beitrag im Blick auf das Johannesevangelium leisten. Ist seine Hauptthese überzeugend? Der Rekurs auf den methodischen Ansatz der Ritualforschung bzw. auf das antike Symposion (und die zugehörige Symposienliteratur) ist eine erkennbare und nachvollziehbare Erweiterung exegetischer Forschung. In der Studie von Jan Heilmann wird diesem Ansatz jedoch eine viel zu große Last aufgebürdet. Die Ritualforschung kann als Methode auch auf (früh‑)jüdische Mahlformen (z. B. die Paschafeier) angewendet werden und muss sich nicht ausschließlich auf das antike Symposion beziehen. Darüber hinaus ist zu unterscheiden zwischen dem Symposion als Rezeptionshorizont auf Seiten der Adressaten neutestamentlichen Schriften und der Hypothese, frühchristliche Mahlgemeinschaften und die ihnen zuzuordnenden frühchristlichen Textpassagen könnten bzw. dürften ausschließlich im inhaltlichen Deutehorizont der antiken Symposien (mit den zentralen Wertvorstellungen: Gemeinschaft, Einmütigkeit, Freundschaft, Gleichheit)77 ausgelegt werden. Damit ist eine methodische und inhaltliche Engführung verbunden, die unbegründet ist.78 Ohne diese methodische und inhaltliche Engführung fällt die traditionsgeschichtliche Rekonstruktion der neutestamentlichen Abendmahlsüberlieferung eben doch erheblich anders aus.79 Eine für die johanneische Theologie zentrale Frage stellt sich auch für die Inkarnationsaussage in Joh 1,14, die Jan Heilmann in Joh 6 wie folgt ausgelegt: „Nur wer Jesu Lehre gleichsam in seiner Fleisch und Blut gewordenen Form trinkt und kaut, also den inkarnierten logos in Form seiner Lehre aufnimmt, kann Teil der von der Welt (…) abgegrenzten Glaubensgemeinschaft werden ….“80 Zugespitzt formuliert: Geht es dem Evangelisten im Kern darum, für die „Aufnahme“ 76  Dezidiert gegen diese These argumentieren u. a. H. Löhr, Entstehung (s. Anm. 13), 85: „Doch sollten solche Vergleiche nicht dazu führen, in Reaktion auf frühere Forschungsansätze nunmehr eine unliturgische, unkultische oder gar kultkritische Frühphase des christlichen Gottesdienstes zu behaupten, die im Gegensatz zur späteren Entwicklung (erstmals greifbar in der Didache, deutlich ausgebildet bei Justin) stünde: …“. 77  Vgl. J. Heilmann, Wein (s. Anm. 4), 271. 78  Diese Engführung wird bei A. Schubert, Gott essen. Eine kulinarische Geschichte des Abendmahls, München 2018, völlig überdehnt; vgl. die kritische Rezension von D. Wendebourg, ThLZ 144 (2019), 12–14. 79  Dieser Frage kann hier im Einzelnen nicht weiter nachgegangen werden. Hingewiesen sei hier nur auf die Beiträge in Anm. 13. 80  Ebd. 302.

294

4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

der „Lehre Jesu“ zu werben oder für die „Aufnahme“ des fleischgewordenen göttlichen Logos in persona? Vor diesem Hintergrund ist auch die spezielle Deutung der johanneischen Metaphorik insgesamt sowie insbesondere der johanneischen Brot-Metaphorik bei Jan Heilmann kritisch zu befragen (vgl. 2.4). Zunächst sei hierzu ein genauerer Blick auf die sprachliche Gestalt des 6. Kapitels im Johannesevangelium geworfen: 2.3  Zur literarischen Einheit und zur narrativen Strategie von Joh 6,1–71 Das 6. Kapitel des Johannesevangeliums erfreut sich einer intensiven exegetischen Forschung mit kontroversen Positionen.81 Maßgeblicher Ausgangspunkt für die Analyse und Interpretation von Joh 6 ist eine textgenaue Gliederung: Der Exposition (Joh 6,1–4) und den beiden Zeichen in Joh 6,5–15 und 6,16–21 folgen zunächst in Joh 6,22–58 sechs strukturbildende Dialoge zwischen Jesus und dem Volk mit den beiden Elementen: Frage an Jesus und unterschiedlich ausführliche Antwort Jesu. In den vier ersten Dialogen antwortet Jesus auf die Fragen „der Volksmenge“ (6,25–40), in den zwei folgenden auf die Fragen „der Juden“ (6,41–58). Dann folgen zwei weitere Dialoge zwischen Jesus und seinen Jüngern (Joh 6,60–71). Der achte, abschließende Dialog wird betont abweichend von dem Schema: Frage an Jesus – Antwort Jesu mit einer Frage Jesu an die Zwölf eröffnet, die das Credo des

81  Vgl. hierzu „Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71“, in diesem Band, S. 257–278, sowie P. Borgen, Bread from Heaven. An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo (1965; 21981), The Johannine Monograph Series 4 (2017), (vgl. ebd. IX– XXXIV: Foreword by P. N. Anderson; ebd. XXXV–XLIV: Preface P. Borgen); H. Weder, Die Menschwerdung Gottes. Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6 (1985), in: Ders., Einblicke in das Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik, Göttingen 1992, 363–400; Th. Söding, Das Mahl des Herrn. Zur Gestalt und Theologie der ältesten nachösterlichen Tradition, in: B. J. Hilberath / ​ D. Sattler (Hgg.), Vorgeschmack. Ökumenische Bemühungen um die Eucharistie (FS Th. Schneider), Mainz 1995, 134–163; M. Theobald, Schriftzitate im „Lebensbrot“-Dialog Jesu (Joh 6). Ein Paradigma für den Schriftgebrauch des vierten Evangelisten, in: C. M. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997, 327–366; M. Labahn, Jesus als Lebensspender. Untersuchungen zu einer Geschichte der johanneischen Tradition anhand ihrer Wundergeschichten, BZNW 98, Berlin 1999; Ders., Offenbarung in Zeichen und Wort. Untersuchungen zur Vorgeschichte von Joh 6,1–25a und seiner Rezeption in der Brotrede, WUNT II/117, Tübingen; Ders., Controversial Revelation in Deed and Word. The Feeding of the Five Thousand and Jesus’ Crossing of the Sea as a Prelude to the Johannine Bread of Live Discourse, IBS 80 (2000), 146–181; M. Stare, Durch ihn leben. Die Lebensthematik in Joh 6, NTA.NF 49, Münster 2004; M. Theobald, Eucharistie in Joh 6 (s. Anm 1); I. D.  Mackay, John’s Relationship with Mark (s. Anm. 60); E. Kobel, Dining with John. Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context, BIS 109, Leiden 2011. Vgl. auch Th. Popp, Grammatik des Geistes (s. Anm. 2); J. Frey, Das Bild als Wirkungspotential. Ein rezeptionsästhetischer Versuch zur Funktion der Brot-Metapher in Johannes 6 (2000), in: Ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften I, WUNT 307, Tübingen 2013, 381–407 (Lit.); U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThKNT IV, Leipzig 52016, 158–189 (Lit.); J. Beutler, Das Johannesevangelium. Kommentar, Freiburg 2 2016, 202–233.

2.  Die Bildrede Johannes 6

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Petrus provoziert (Joh 6,67–69).82 In dieser Gliederung spiegelt sich die narrative Strategie des Evangelisten. Dazu setzt der Evangelist klare Signale: (a) Die „Zeichen“ Jesu in 6,5–15.16–21 lösen Fragen aus und fordern Deutungen. Wie alle „Zeichen“ im Johannesevangelium provozieren sie und führen zu unterschiedlichen Reaktionen bei den verschiedenen Dialogpartnern Jesu (in Joh 6: ὄχλος πολύς; οἱ Ἰουδαῖοι, πολλοὶ ἐκ των μαθητῶν, οἵ δώδεκα). Die Adressaten des Johannesevangeliums sind in der komfortablen Situation, diese Dialoge und die darin wiederholend, umschreibend und vertiefend ausgeloteten Antworten Jesu sowie die verschiedenen Reaktionen der Dialogpartner vor Augen geführt zu bekommen. Ihnen wird der Anspruch Jesu entfaltet vorgestellt. Ihnen wird die Argumentation Jesu sowie die seiner Dialogpartner ausführlich präsentiert. Die aus Sicht des Evangelisten gewünschte Reaktion der Hörerinnen und Hörer ist im exemplarischen Glaubensbekenntnis des Petrus Joh 6,68 f formuliert. (b) Der Evangelist stellt seine Adressaten in eine Entscheidungssituation, aber er lässt sie auf dem Weg zu einer adäquaten Glaubensantwort nicht allein: Wie die Dialogpartner Jesu werden die Adressaten selbst auch in die Gesprächsgänge verwickelt mit dem Ziel, eine je eigene Antwort zu geben. Die Fragen, die Bitten und das Unverständnis (vgl. V. 25.28.30–31.34.41–42.52.60) führen die Selbstoffenbarung Jesu weiter, vertiefen sie und grenzen sie gegenüber verschiedenen Missverständnissen ab. Die Hörerinnen und Hörer können die an Jesus herangetragene Zeichenforderung des Volkes und ihre Schriftbegründung sowie die Antwort Jesu darauf (Joh 6,30–35) doppelt interpretieren: Sie haben gerade erst die beiden Zeichen Jesu (Speisung und Seewandel) gehört und werden damit – in einer ironischen Fremdprophetie83  – an diese beiden sprechenden Zeichen zurückverwiesen: Die Zeichenforderung ist längst erfüllt! Gleichzeitig führen die Deutung der Wüstenspeisung durch Jesus (Joh 6,32–33) und die Selbstidentifikation Jesu: „ICH bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35) die Hörerinnen und Hörer zwei Verstehensschritte weiter: den Schritt vom vergänglichen (vgl. die Bitte in Joh 6,34 und ihre Analogie in Joh 4,15) zum unvergänglichen Brot und den Schritt zur personalen Identifikation: Jesus selbst ist in persona das „Brot des Lebens“. Mit dem Vers 6,35 ist das zentrale Referenzwort der Bildrede in Joh 6 ins Wort gebracht: „ICH bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ Das ἐγώ εἰμι in Joh 6,35 nimmt das ἐγώ εἰμι in Joh 6,20 wieder auf. Auch dieser Brückenschlag zur Zeichenerzählung in Joh 6,16–21 verbindet eindrucksvoll das offenbarende Wirken Jesu in Tat und Wort. Die prädikativen „Ich-bin“-Worte Jesu in Joh 6 explizieren den Offenbarungsanspruch des absoluten „ICH-bin“-Wortes auf dem See in Joh 6,20. Auf der Ebene des Evangelisten geht auch das absolute „ICH-bin“

 Vgl. die Gliederung in „Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71“, in diesem Band, S. 257–278. zu diesem Stilmittel im Johannesevangelium, „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, in diesem Band, S. 349–368. 82

83 Vgl.

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4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

Jesu in Joh 6,20 über eine Selbstidentifikation des Sprechers hinaus und darf daher nicht marginalisiert werden.84 (c) Der Evangelist setzt mit dieser narrativen Strategie „Zeichen“ und Worte Jesu in das von ihm gewünschte Verhältnis: Beide werden nicht durch Über‑ oder Unterordnung gegeneinander ausgespielt, sondern in ein komplementäres Verhältnis zueinander gesetzt. Jesus offenbart seinen Anspruch in Taten und Worten. Beide, Worte und Taten, können unterschiedlich interpretiert werden und werden dies auch. Beide rufen zum Glauben und legen sich wechselseitig aus. Zusammen mit weiteren konvergierenden Argumenten85 sprechen die genannten Beobachtungen zur narrativen Strategie für die literarische Einheitlichkeit des gesamten 6. Kapitels im Johannesevangelium.86 2.4  Die johanneische Brot-Metaphorik Hinsichtlich des grundlegend metaphorischen Charakters der Brotrede besteht hoher Konsens in der Forschung: Jesu Worte haben lehrenden, katechetischen Charakter. Dazu wird die biblische Bildersprache aufgegriffen. „Das Johannesevangelium wirkt auf seine Leserinnen und Leser in ganz erheblichem Maße durch seine Bilder. Dazu gehören die bei Johannes breit ausgeführten ‚Szenenbilder‘, wie

84  Zu den ICH-bin-Worten vgl. grundlegend H. Thyen, Art. „Ich-Bin-Worte“, RAC 17 (1994), 147–213; Ders., Ich bin das Licht der Welt. Das Ich und Ich-Bin-Sagen Jesu im Johannesevangelium, JAC 35 (1992), 19–46; H. Roose, Ich-bin-Worte, WiBiLex (2013). 85 Vgl. nur I. D.  Mackay, John’s Relationship with Mark (s. Anm. 60); Th. Popp, Grammatik des Geistes (s. Anm. 2), 379–386.437–456; U. Schnelle, Johannes (s. Anm. 81), 153–157.158–189 (Lit.); vgl. ebd. 188: „Joh 6 ist keine traditionsgeschichtliche, wohl aber eine kompositionelle Einheit.“ Im Blick auf die Frage nach der Abhängigkeit des Johannesevangeliums insgesamt bzw. von Joh 6,1–15 von synoptischen Vorgaben vertritt M. Labahn, Offenbarung in Zeichen und Wort (s. Anm. 81), die These von einer doppelten Beeinflussung des Johannesevangeliums durch synoptisch beeinflusste Traditionen (vgl. die beiden „Zeichen“ in Joh 6) und durch eine freie („gedächtnismäßige“; ebd. 246) Rezeption von synoptischen Evangelienstoffen durch den Evangelisten, die ihm vielleicht in einer secondary orality vorgelegen hätten (vgl. ebd. 231–246). Zu diesem Ergebnis kommt auch sein synoptischer Vergleich zu Joh 6,1–25 (vgl. ebd. 247–271). Vgl. Ders., „Secondary Orality“ in the Gospel of John. A „Post-Gutenberg“ Paradigm for Understanding the Relationship between Written Gospel Texts, in: St. E. Poster / ​H. T. Ong (Hgg.), The Origins of John’s Gospel, Johannine Studies 2 (2015), 53–80. 86  Zur Abkehr von der klassischen Literarkritik am Johannesevangelium vgl. auch „Aktuelle Perspektiven der Johannesforschung“, in diesem Band, S. 3–147 (Kap. 3.1). Zu Joh 3 und 6 vgl. auch Th. Popp, Grammatik des Geistes (s. Anm. 2), 216–218.228.233–255.437–456: Alle Teiltexte in Joh 3 und 6 sind planvoll miteinander vernetzt und aufeinander bezogen. Bei der Analyse der beiden Kapitel 3 und 6 zeigt sich, dass sie sowohl linear als auch konzentrisch zu lesen sind: Joh 3 entfaltet sukzessiv die Amen-Worte Jesu in Joh 3,3.5 und hat zugleich in Joh 3,16–17 ihre von Joh 3,15.18 gerahmte Mitte (vgl. ebd. 465). Joh 6 entfaltet schrittweise die Brotthematik und hat in Joh 6,35 ihren konzentrischen Nucleus (vgl. ebd. 359.382–385.466). Vgl. hierzu auch P.  Maritz  / ​ G. Van Belle, The Imagery of Eating and Drinking in John 6,35, in: J. Frey u. a. (Hgg.), Imagery in the Gospel of John. Terms, Forms, Themes, and Theology of Johannine Figurative Language, WUNT 200, Tübingen 2006, 333–352.

2.  Die Bildrede Johannes 6

297

etwa in der Perikope von der Begegnung am Jakobsbrunnen (Joh 4) oder von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11).“87

In Joh 6 findet sich erneut das zentrale Thema des ganzen Evangeliums: Jesus offenbart sich selbst als das „Brot des Lebens“ (Joh 6,35; vgl. die Echowörter Joh 6,41.48.51), das unvergängliches „Leben“88 schenkt. Jesu Selbstoffenbarung in Joh 6,22–58 erschließt seine „Zeichen“ in 6,1–15 und 6,16–21 in ihrem Gehalt und ihrer Intention. Jesu Worte zielen auf Glaubensentscheidung, sie entlarven den Unglauben, führen in die „Krise“ und provozieren das Credo, das Petrus in V. 68–69 stellvertretend spricht. In dem „Ich-bin-Wort“ Joh 6,35: „ICH bin das Brot des Lebens“ wird die Grundaussage des Kapitels wie des gesamten Johannesevangeliums in typisch johanneischer Manier verdichtet zusammengefasst. Die Brotrede Jesu variiert diese eine Grundaussage in vielfachen Umschreibungen.89 Wie ist die johanneische Brotmetaphorik – exemplarisch für die Bildsprache des vierten Evangelisten insgesamt – näher zu verstehen? Jörg Frey identifiziert fünf verschiedene Sinnebenen der Brotrede.90 1. Brot als Nahrungsmittel (vgl. die Speisungsperikope); 2. Brot metaphorisch verstanden als unvergängliches, zum ewigen Leben führendes Brot, dass der Menschensohn geben wird (vgl. Joh 6,26 f ); 3. Brot als personale Metapher: Jesus selbst ist im Kontrast zum Schriftwort vom Himmelsbrot der Wüstenzeit das wahre, von Gott gegebene Brot, das der Welt das Leben gibt (vgl. V. 31–35); 4. Variation des Lexems „Brot des Lebens“ zu „lebendiges Brot“: Damit kommt zur Geltung, dass Jesus selbst der Träger und Geber des Lebens ist (vgl. V. 48–51ab); 5. Brot als eucharistische Gabe: „In V. 51c–58 wird schließlich das personale Brot des Lebens interpretiert durch das eucharistische Fleisch und Blut, dessen Genuss für die nachösterliche Gemeinde der konkrete Modus der Teilhabe an dem in den Tod gegebenen Jesus und dem durch seinen Tod gewirkten Heil bedeutet.“91 Diese fünf Sinnebenen spiegeln sich in der Komposition von Joh 6 wieder, sie werden anverwandelt und erschließen sich wechselseitig, sie konstituieren einen kohärenten Gedankengang. „Der Textzusammenhang in Joh 6 ist weithin geprägt durch die Brotmetapher und die mehrfache Wandlung ihrer Bezüge.“92 Eine literarkritische Abtrennung von Joh 6,51c–58 ist auch deshalb nicht sachgemäß.93 87  J. Frey, Bild (s. Anm. 81), 383. Vgl. zum Thema auch J. S.  Webster, Ingesting Jesus. Eating and Drinking in the Gospel of John, Academia Biblica 6, Atlanta 2003. 88 Vgl. hierzu die Monographie von M. Stare, Durch ihn leben (s. Anm. 81). 89 Dies hat insbesondere die Studie von Th. Popp, Grammatik des Geistes (s. Anm. 2), nachgewiesen. 90 Vgl. J. Frey, Bild (s. Anm. 81), 405 f. 91  Ebd. 406. 92  Ebd. 405. 93 Vgl. ebd. 394.403 f. Zum gegenteiligen Ergebnis kommt M. Theobald, Eucharistie (s. Anm. 1), 193–196. Es fällt jedoch sehr schwer nachzuvollziehen, dass Joh 6,51c–58 einerseits „in diesem Bauplan [scil. der vorredaktionellen Brotrede Joh *6,25–29.30–51b.60 ff ] keinen Ort“ (ebd. 194) habe, andererseits jedoch gelte: „Im vorliegenden Endtext bilden 6,51c–58 die Klimax der

298

4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

Ruben Zimmermann hat in seiner Studie zur „Christologie der Bilder im Johannesevangelium“94 die Bildlichkeit der johanneischen Theologie literar‑ und rezeptionsästhetisch intensiv reflektiert und herausgestellt: „Bei den metaphorischen Christusbildern tritt die semantische Innovation und sprachkreative Kraft des Bildes besonders in den Vordergrund. Indem Jesus ‚als Tür‘, ‚als Licht‘ oder ‚als Hirte‘ präsentiert wird, sehen die Betrachter neue, bislang verborgene Aspekte der Christuswirklichkeit. Das Innovationspotenzial des Sprachbildes wird somit unmittelbar für einen christologischen Erkenntnisgewinn nutzbar gemacht.“95

Der Evangelist ist verwurzelt in der Symboltradition seiner Sprachgemeinschaft und er nutzt diese für seine theologischen Intentionen: „Die Pointe dieser symbolischen Bildlichkeit besteht darin, dass die geprägte Symbolsprache explizit auf Jesus übertragen wird. … Oftmals spielt der Verfasser des JohEv auch mit den unterschiedlichen Prägungen und Nuancierungen eines Symbols (z. B. „Wasser“ in Joh 4 als Grundnahrungsmittel, Liebes‑, Tora‑ und Geistsymbol), um damit die Leser zu einem stufenweisen christologischen Erkenntnisprozess zu führen.“96

Hier wird die These vertreten, dass die Pointe der johanneischen Metaphorik in Gänze und der Brot-Metaphorik in Joh 6 mit der Formulierung von Jan Heilmann: „Nur wer Jesu Lehre gleichsam in seiner Fleisch und Blut gewordenen Form trinkt und kaut, also den inkarnierten logos in Form seiner Lehre aufnimmt, kann Teil der von der Welt (…) abgegrenzten Glaubensgemeinschaft werden …“97 nicht richtig getroffen ist. Die metaphorischen Aussagen in Joh 6 zielen im Kern darauf, die Lehre Jesu und seine Person nicht mehr zu unterscheiden, sondern beides gleichzusetzen. Geber und Gabe sind ununterscheidbar, ja identisch. Anders formuliert: Der Offenbarer offenbart sich selbst und nicht etwas von ihm zu Trennendes. In der Brotmetaphorik von Joh 6 geht es um nicht weniger als die Aufnahme des Offenbarers selbst in persona. Dieser Skopus der johanneischen Brotrede konvergiert nicht zufällig mit dem Skopus des Johannesprologs: Ziel ist nicht die „Aufnahme“98 einer wie auch immer gearteten inhaltlichen Lehre, sondern die Aufnahme einer Person (vgl. Joh 1,11–13).

Komposition“ (ebd.). Demzufolge gelänge es der Literarkritik also, entgegen der Kompositionsrichtung des Endtextes (!) eine strikt divergente Vorlage plausibel zu rekonstruieren. 94  R. Zimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10, WUNT 171, Tübingen 2004. 95  Ebd. 408. 96  Ebd. 408 f. Konsequent stimmt R. Zimmermann der Auslegung von Joh 6 bei J. Frey ausdrücklich zu; vgl. ebd. 416. 97  J. Heilmann, Wein und Blut (s. Anm. 4), 302. 98  Zur Bedeutung von παραλαμβάνομαι für die Familienmetaphorik des Johannesevangeliums und die das ganze Johannesevangelium durchziehende Sinnlinie bzw. semantische Achse Joh 1,11–12 vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000, 222–240, sowie „Rabbi, wo wohnst du?“, in diesem Band, S. 441–458.

3.  Die johanneische Eucharistiekatechese

299

3.  Die johanneische Eucharistiekatechese Ausgehend von den zuvor diskutierten Befunden zur These von Jan Heilmann hinsichtlich der Abendmahlspraxis der ersten Christen sowie der Deutung der johanneischen Brot-Metaphorik ergibt sich ein gänzlich anderer Blick auf die Verse Joh 6,51–58, ihren Zusammenhang in Joh 6 sowie die bestrittene Eucharistiepraxis in der bzw. den johanneischen Gemeinden:99 (a) Die Eucharistiepraxis in den ersten Gemeinden hat ihren Ursprung in einer Zeichenhandlung Jesu unmittelbar vor seinem Tod. Diese Zeichenhandlung Jesu hat nonverbal (sinnenfällig) und verbal seinen bevorstehenden Tod, seine auch im Angesicht des Todes aufrechterhaltene endzeitliche Erwartung (vgl. Mk 14,25) und den Zusammenhang beider reflektiert. (b) Aufgrund der Abendmahlszeugnisse in 1 Kor 11,17–34 und Mk 14,22–25 parr kann mit hoher Zuversicht gefolgert werden, dass es im frühen Christentum entgegen der Annahme von Matthias Klinghardt und Jan Heilmann eine weithin verbreitete, vom Oster-Glauben geprägte Abendmahlspraxis gegeben hat. Diese Abendmahlspraxis ist weder in ihrer konkreten Gestalt noch von ihrer Sinndeutung monokausal von den zeitgenössischen Symposien herzuleiten und zu interpretieren. Die theologisch anspruchsvollen und mitunter sperrigen Theologumena der neutestamentlichen Eucharistietexte (Bundestheologie, soteriologische Deutung des Todes Jesu, österliche Präsenz Christi im Herrenmahl, Sakrament, Sündenvergebung) fordern nach wie vor eine intensive Auseinandersetzung. Sie im Zuge einer theologischen Sachkritik zu verabschieden und durch die vermeintlich smarten Leitwörter „Gemeinschaft“ und „Freundschaft“ zu ersetzen, widerspricht dem neutestamentlichen Zeugnis. Zudem darf nicht übersehen werden, dass die Begriffe „Freundschaft“ und „Gemeinschaft“ in den neutestamentlichen Schriften eine anspruchsvolle theologische Neucodierung erfahren (vgl. nur 1 Kor 10,14–22; 11,17–34; Joh 15,13).100 (c) Auch die johanneische Gemeinde teilt die frühchristliche Eucharistiepraxis. Der Evangelist Johannes hat in Joh 6 und insbesondere in den Versen 6,51–58 die Abendmahlspraxis seiner Gemeinde(‑n) im Licht des Osterglaubens erneut reflektiert101 und im Horizont seiner entfalteten Brot-Metaphorik neu interpretiert: Im Abendmahl schenkt sich Jesus Christus den Teilnehmenden selbst als das eine wahre Brot des Lebens. Die „Aufnahme“ Jesu Christi im Glauben und durch den Glauben des je einzelnen widerspricht nicht der liturgischen Feier dieses Geschenks. Die Feier des Abendmahles wird im Kern als liturgischer Voll Vgl. hierzu K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 98), 194–210 (Lit.); Th. Popp, Grammatik des Geistes (s. Anm. 2), 360–379. 100  Vgl. hierzu besonders H. Löhr, Gemeinschaftsmahl (s. Anm. 36). Zu Joh 15,13 vgl. auch „Eine größere Liebe hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13), in diesem Band, S. 323–346. 101  So u. a. H. Löhr, Entstehung (s. Anm. 13), 81.  99

300

4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

zug der „Aufnahme“ Jesu Christi gedeutet. Inhaltlich konvergiert die johanneische Brot-Metaphorik mit der johanneischen Abendmahlsinterpretation: Es geht um die Aufnahme der Person, die selbst das eine und einzige „Brot des Lebens“ zu sein beansprucht. Der Evangelist beantwortet in den Versen 6,51–58 die Frage, wodurch und wie die Gegenwart, die personale Begegnung und die wechselseitige Immanenz Jesu Christi in den Glaubenden und der Glaubenden in Jesus Christus (Joh 6,56) möglich wird. Hans Weder macht zu Recht darauf aufmerksam, dass sich die folgende Fragestellung zwingend aus der inkarnatorischen Theologie des Evangelisten ergibt: Wenn für den Evangelisten die personale Begegnung mit dem Fleischgewordenen und Erhöhten vorösterlich wie österlich fundamental ist, dann stellt sich die Frage nach dem Ort, dem Medium dieser österlichen Begegnung. In den Versen 6,51–58 findet sich hierzu eine grundlegende Antwort des Evangelisten.102 Es ist kein Zufall und genauso wenig ein literarischer Bruch, dass der Evangelist in Joh 6,51–57 das bisherige Leitwort ἄρτος durch σάρξ (sechs Vorkommen) und αἵμα (vier Vorkommen) ersetzt, um dann in Vers 58 erneut wieder in einer definitorischen Formel: οὗτὀς ἐστιν zwei Mal das Leitwort ἄρτος aufzugreifen. Die Verse 6,51a–d und 6,58 rahmen und interpretieren mit ihren „Brot“-Worten die „Fleisch“-Worte in den Versen 6,51ef–57. Der Evangelist greift mit σάρξ die Inkarnationsaussage in Joh 1,14 auf, mit αἵμα die Lebenshingabe Jesu in den Tod (vgl. Joh 6,51 fin; 19,34103): Die Verwendung von σάρξ als Inkarnationsaussage und αἵμα für die Lebenshingabe Jesu einerseits und für die eucharistische Selbstgabe andererseits ist bei aller Anstößigkeit, die der Evangelist ausführlich reflektiert (vgl. Joh 6,60–71), intendiert: Er möchte unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass es der inkarnierte und österliche erhöhte Gottessohn ist, der sich in den eucharistischen Gaben den Glaubenden dauerhaft selbst gibt. Der gesamte Kontext der Verse 51–58 in Joh 6,1–71 betont und reflektiert (a) den (geforderten) Glauben (vgl. Joh 6,29.35.47)104 sowie die Rolle des Geistes für den 102  Vgl. H. Weder, Die Menschwerdung Gottes. Überlegungen zur Auslegungsproblematik des Johannesevangeliums am Beispiel von Joh 6 (1985,) in: Ders., Einblicke in das Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980–1991, Göttingen 1992, 363–400, hier 386 f. 103 Zur Auslegung von Joh 19,34 vgl. I. De La Potterie, Le symbolisme du sang et de l’eau en Jn 19,34, Didaskalia 14,1/2 (1984), 201–230; Th. Popp, Das Kreuz mit den Sakramenten (s. Anm. 1), 519–521: Popp hebt die doppelte Sinnebene in Joh 19,34 hervor: Der Evangelist betont sowohl den physischen Tod Jesu als auch den „soteriologischen Ertrag des Todes Jesu und seine ekklesiologische Relevanz in pneumatologischer Perspektive … Wie die Wortverknüpfung αἵμα (vgl. 6,53–56) und ὕδορ (vgl. 3,5) in johanneischer Symbolsprache subtil signalisiert, dürfte Jesu lebensspendende Hingabe am Kreuz im Konnex mit der Geistgabe (19,30; vgl. 7,37–39), die Voraussetzung für die Heilswirkung der Lebenssakramente Eucharistie und Taufe sein“ (ebd. 519). Vgl. auch D. Sawyer, John 19,34: From Crucifixion to Birth, or Creation?, in: A.-J. Levine (Hg.), A Feminist Companion to John. Bd. II, Sheffield 2003, 130–139. 104  Vgl. auch die z. T. wörtlichen Parallelen in Joh 3,16.36; 5,24.

3.  Die johanneische Eucharistiekatechese

301

Glauben bzw. für die Deutung der Worte Jesu (Joh 6,63) und (b) den fehlenden Glauben der Gesprächspartner Jesu: So findet sich in Joh 6,41 für „die Juden“ und in Joh 6,61 für „die Jünger“ das aus der Exodustradition bekannte „Murren“ als Chiffre für den Unglauben (vgl. auch die explizite Aussage in Joh 6,64). Damit wird einer magischen Deutung des eucharistischen Mahls ein unübersehbarer Riegel vorgeschoben.105 Dieses anthropophagische Missverständnis wird in Joh 6,62 „den Juden“ in den Mund gelegt und in der Antwort Jesu (Joh 6,53–58) in der Sicht des Evangelisten überwunden. Der Evangelist Johannes begegnet magischen Deutungen der Eucharistie mit seinem personalen Realismus: In der österlichen Mahlgemeinschaft begegnen und empfangen die Glaubenden Jesus Christus selbst, den menschgewordenen und österlich erhöhten Gottessohn. Diese johanneische Interpretation der Eucharistie wird durch zwei weitere johanneische Spitzenaussagen vertieft und ausgeleuchtet: (a) Joh 6,63 („Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht esst das Fleisch des Menschensohnes, und trinkt sein Blut, habt ihr nicht Leben in euch“) bindet die inwendige Lebenshabe an den konkreten eucharistischen Vollzug. Die johanneische ζωή-Theologie ist eine Präformation bzw. ein Äquivalent zu den personalen Immanenzaussagen, da der Evangelist „das Leben“ in einem absoluten Heilssinn christologisch definiert (vgl. nur Joh 14,6).106 (b) Joh 6,65 verwendet die im Johannesevangelium vielfältig begegnende Formel der reziproken Immanenz: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich (bleibe) in ihm.“ Die johanneische Immanenztheologie107 hat ihren sprachlichen und sachlichen Ausgangspunkt in der Vater-Sohn-Relation (vgl. Joh 10,30.38; 14,10–11), die der Evangelist auf die Sohn-Christen-Relation überträgt. Die johanneische Eucharistiekatechese fokussiert sich in strenger Konzentration auf eine Grundaussage: Dem Gesamtduktus der Brotrede von Joh 6 (wie dem ganzen Evangelium) folgend geht es dem Evangelisten darum, Jesus Christus als wahres Lebens-Brot vorzustellen, in dem und durch den Gott den Glaubenden Leben vermittelt: wahres, endgültiges, bleibendes Leben im umfassenden Sinn. Jesus Christus ist Geber und Gabe zugleich: Er schenkt den Glaubenden nicht etwas Zweites oder Drittes außerhalb seiner selbst, sondern sich selbst in persona. Darin kommen Gottes Verheißungen108 und der menschliche Lebens-Hunger bzw. ‑Durst zum Ziel. Dabei wird der zentrale Ankervers Joh 6,35 in allen seinen Elementen ausgeleuchtet: 105  Dies wird zudem durch den in unmittelbarer Nähe betonten Regelsatz verstärkt: „Das Fleisch ist nichts nütze“ (Joh 6,63). Hier wie in Joh 3,6; 17,2 verwendet der Evangelist σάρξ konventionell für die Zugehörigkeit zur irdischen Sphäre, zur geschöpflichen Vergänglichkeit. 106  Vgl. auch K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 98), 207. 107  Vgl. hierzu ausführlich K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 98) und „Rabbi, wo wohnst du?“, in diesem Band, S. 441–458. 108 Vgl. hierzu einführend J. Zumstein, Die Schriftrezeption in der Brotrede (Joh 6), in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.),Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 123–139.

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4.  „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35)

„ICH bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmermehr dürsten.“ In diesem Vers geht es um die Selbstoffenbarung Jesu Christi als Lebens-Brot in einem emphatischen Sinn. Der sich anschließende synthetische Parallelismus beschreibt die diesem Gottesgeschenk entsprechende Antwort der Menschen und verheißt den zu ihm Kommenden bzw. an ihn Glaubenden dauerhafte, ewige Erfüllung ihres Lebens-Hungers und ‑Durstes (vgl. nur Joh 10,10). Der Evangelist deutet die österliche Mahlgemeinschaft der Christen als konkreten Ort und Vollzug der inwendigen Begegnung zwischen den Glaubenden und Jesus Christus. Diese Begegnung und Beziehung, die nicht bei einem punktuellen Kontakt stehen bleibt, wird mit der Spitzenaussage der reziproken Immanenz interpretiert und als Ineinander, Miteinander und Füreinander verstanden.109 Von der Abendmahlskatechese in Joh 6 fällt auch Licht auf die johanneische Fußwaschungserzählung in Joh 13,1–30:110 Wie in Joh 6 geht es dem Evangelisten auch hier um eine theologisch-katechetische Deutung des Abendmahls – mit den Schwerpunkten: soteriologische Interpretation des Todes Jesu und ethische Verpflichtung derer, die „Anteil haben“ (Joh 13,8) an Jesus Christus selbst. Auch hier begegnet erneut die personalisierte Zuspitzung der johanneischen Soteriologie.111

109  Th. Popp urteilt zusammenfasend: In Joh 3 und 6 entfaltet der Evangelist seine kreuzestheologisch rückgebundene Tauf‑ und Eucharistiekatechese bzw. ‑theologie, die jeweils im Kontext des Glaubens, d. h. der vom Geist geführten Einsicht in die neubestimmte johanneische Zeichen‑ und Sinnwelt entfaltet werden. In der Taufe wird „nach joh. Sicht nicht die natürliche menschliche Existenz überhöht, sondern durch die Gabe des geistbestimmten neuen Lebens ein radikaler Neuanfang gesetzt“ (Ders., Grammatik [s. Anm. 2], 125). In der Eucharistie geht es „um die Glaubenseinheit mit dem im Sakrament gegenwärtigen Erhöhten als dem Lebensraum in Zeit und Ewigkeit“ (ebd. 373). Hingewiesen sei hier auf die exegetisch und ökumenisch interessante Auslegung der johanneischen Eucharistietheologie in Joh 6 insgesamt; vgl. ebd. 276–456. E. E.  Popkes betont die Bezüge zu eucharistischen Traditionen in Lk 24 und in den johanneischen Schriften (bes. Joh 6) und kommt zu dem Ergebnis: Das Johannesevangelium bietet „eine der tiefgründigsten theologischen Deutungen der eucharistischen Traditionen, die sich im facettenreichen Spektrum frühchristlicher Schriften beobachten lassen und sie wirkungsgeschichtlich für die Entwicklung eucharistie-theologischer Diskurse von höchster Relevanz werden sollte“ (Ders., Die verborgene Gegenwärtigkeit Jesu. Bezüge zu eucharistischen Traditionen in Lk 24* und in den johanneischen Schriften, in: D. Hellholm / ​D. Sänger (Hgg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts [s. Anm. 13], I 503–512, hier 507). 110 Vgl. weiterführend zu Joh 13,1–30, vgl. „Eine größere Liebe hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13), in diesem Band, S. 323–346. 111 Zu einer gänzlich anderen Auslegung von Joh 13 kommt E.-M. Becker, die postuliert: „My claim is that, by omitting the narrative about the Last Supper, the Fourth Gospel manipulates memory. John installs a counter-memory that is particulary oriented against Luke, and he does this in order to present a farewell scene (John 13 and 14–17) and a passion narrative (John 18– 20) that both ‚forget‘ the Eucharist and the narrative meaning it obtained in Luke“; Dies., John 13 as Counter-Memory. How the Fourth Gospel Revises Early Christian Historiography, in: K. B. Larsen (Hg.), The Gospel of John as Genre Mosaic, SANt 3, Göttingen 2015, 268–281, hier 275.

5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15) Die Diakonie Jesu und die Diakonie der Christen in der johanneischen Fußwaschungserzählung als Konterkarierung römischer Alltagskultur 1. Einleitung Das sozial-kulturelle System der römischen Herrschaft, die Definition und die Durchsetzung des römischen Machtanspruchs haben erheblichen, oft unterschätzten Einfluss auf jüdische und christliche Minderheiten, ihr Leben und ihre sich weiter entwickelnde Selbstverständigung. An dieser mehrschichtigen Auseinandersetzung und Abgrenzung hat auch das Johannesevangelium1 erkennbaren Anteil. Dem widerspricht nicht die Wahrnehmung, dass das Johannesevangelium sich zunächst und primär an die eigenen Gemeindeglieder richtet und ihren Glauben stärken will. Gerade zur Verwirklichung dieser Absicht gilt es, die Begründung, innere Plausibilität und Kraft des christlichen Bekenntnisses so vorzutragen, dass die johanneischen Christen in ihrer vorfindlichen und vertrauten kulturellen Umwelt einerseits und der Pax Romana andererseits die ihrem Bekenntnis eigene sozio-kulturelle Identität finden und konstruktiv verteidigen können. Allein schon ausweislich des Prologes eignet dem Johannesevangelium ein kosmologisch-schöpfungstheologischer Anspruch. Anthropologie, Metaphorik und Ethik des vierten Evangeliums denken universell und bieten vielfältige Anknüpfungs‑ und Vermittlungsangebote für unterschiedliche philosophische, kulturelle und religiöse Konzepte. Der Evangelist Johannes vertritt eine universelle Soteriologie und eine klare christologisch verankerte missionarische Strategie. Das vierte Evangelium wird in der Regel nicht mit dem Stichwort Diakonie2 in Verbindung gebracht – der Wortstamm διακονέω begegnet nur in 12,26 (zweimal διακονέω; einmal διάκονος).3 Der nachfolgende Beitrag zeigt am Beispiel der johanneischen Deutung der Fußwaschung Jesu dennoch, dass und wie diakonische 1 Zur neueren Johannesforschung vgl. K.  Haldimann / ​H .  Weder, Aus der Literatur zum Johannesevangelium 1985–1994, ThR 71 (2006), 91–113; J. Frey, Grundfragen der Johannesinterpretation im Spektrum neuerer Gesamtdarstellungen, ThLZ 133 (2008), 743–760 (Lit.); Ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften I, WUNT 307, Tübingen 2013 (Lit.); vgl. hierzu die eigene ausführliche Rezension in ThLZ 139 (2014), 576–579; J. Beutler, Das Johannesevangelium, Freiburg i. Br. 2013 (Lit.). 2  Vgl. einführend K. Scholtissek, Neutestamentliche Grundlagen der Diakonie (2014), in K. Scholtissek – K.-W. Niebuhr (Hgg.), Diakonie biblisch. Neutestamentliche Orientierungen, BThS, Göttingen 2020, 1–21. 3 Der Sache nach wird das Thema Diakonie in der Fußwaschungserzählung (Joh 13,1–17) ausführlich verhandelt. In der Johannesforschung wird diese Fragestellung bisher völlig unzureichend berücksichtigt. Die folgenden Ausführungen fragen neu nach der johanneischen

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5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15)

Praxis der Christen – orientiert am „Beispiel“ Jesu (13,15) – die soziale Praxis der dominanten römischen Alltagskultur intelligent konterkariert. Dazu wird das Ritual der Fußwaschung in neue Sinnzusammenhänge gestellt (Refraiming), mit neuen Deutungsebenen ausgestattet und so zu einem erschließenden Ritual der christlichen Glaubenspraxis aufgewertet.

2.  Der Ort des letzten Mahles Jesuin der erzählerischen Komposition und theologischen Intention des Johannesevangeliums Das Johannesevangelium ist  – hier ist nur eine erste Annäherung möglich  – in zwei Hauptteile aufgeteilt. Der erste Hauptteil geht um Jesu Offenbarungswirken in Wort und Tat (Joh 1,19–11,57) – hier spielen die sieben „Zeichen“ eine herausragende Rolle. Er schließt mit der Verurteilung Jesu durch den Hohen Rat aufgrund der „Zeichen“ und des durch diese Zeichen ausgelösten Glaubens (11,47–52[53–57]). Der zweite Hauptteil umfasst Jesu Abschied, seinen Tod, die Ostererfahrungen und die Sendung der Jünger (13,1–21,25). Eröffnet wird das Johannesevangelium von dem sprachlich und theologisch hochkarätigen Prolog (1,1–18), der den theologischen Anspruch und die Reichweite des Evangelisten ins Wort hebt, die Kernbotschaft des Evangeliums verdichtet vorstellt und gleichzeitig eine geschickte Leserführung intoniert. Das Kapitel 12,1–50 zwischen den beiden Hauptteilen hat eine (noch viel zu wenig beachtete) Scharnierfunktion.4 Mit dem Vers 13,1 beginnt der zweite Hauptteil des Johannesevangeliums. Dieser Vers ist vom Evangelisten als Überschrift zum letzten Mahl Jesu und gleichzeitig zum gesamten zweiten Hauptteil gestaltet worden.5 „Vor dem Paschafest aber, als Jesus erkannte, dass seine Stunde gekommen war, aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen, und da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung (εἰς τέλος).“

Dieser Vers hat zunächst einleitenden Charakter: Zeitangabe und Protagonist werden genannt. Gleichzeitig ist die prima facie harmlos daherkommende Zeitangabe „vor dem Paschafest“ als theologische Zeitangabe zu lesen bzw. hören: Jesu Wirken, seine Sendung, sein bevorstehender Tod stehen in einem inhaltDeutung der Fußwaschung Jesu und den Konsequenzen für die johanneische Darstellung der Diakonie Jesu und der Diakonie der Christen. 4  Margareta Gruber betont in erhellender Weise die Verbindungslinien zwischen der Salbung der Füße Jesu durch Maria in 12,1–2 und der Fußwaschung Jesu: M. Gruber, Zumutung der Gegenseitigkeit. Zur johanneischen Deutung des Todes Jesu anhand einer pragmatisch-intertextuellen Lektüre, in: G. van Belle (Hgg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, BETL 200, Leuven 2007, 647–660. 5 Joh 13,1 ist sowohl die „Überschrift zum ganzen 2. Hauptteil als auch die Einleitung der Fußwaschung im joh. Verständnis.“ R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, Band 3, Freiburg i. Br. 51986, 17.

2.  Der Ort des letzten Mahles Jesu

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lichen Verhältnis zum Festinhalt des Paschafestes (vgl. 1,29.36; 2,13.23). Gleichzeitig wird diese Deutung durch eine zweite nachfolgende Zeitangabe verstärkt: Jetzt  – darauf weist der Erzähler seine Hörer unmissverständlich hin  – ist die wiederholt angesagte und mit Spannung erwartete „Stunde“ Jesu (vgl. 2,4; 12,23) gekommen. Über diese Stunde Jesu, die eben nicht zufällig in unmittelbarer Nähe mit dem Paschafest steht, handeln die folgenden Ausführungen in Joh 13 und im gesamten zweiten Hauptteil. Der Erzähler spricht in diesem Vers weitere in der narrativen6 und theologischen Linienführung des Evangelisten zentrale Inhalte an: die Sendung Jesu vom Vater in diese Welt und wieder aus dieser Welt zurück zum Vater; sodann den inneren Grund und Antrieb seiner Sendung: die Liebe zu den Seinen, die Jesus mit und in der gekommenen Stunde als εἰς τέλος erweist. „Gemeint ist die Manifestation seiner Liebe zu den Seinigen, die am Ende steht und unübertrefflich ist. Denn εἰς τέλος kann sowohl einen zeitlichen wie einen qualitativ-eminenten Sinn haben.“ 7 „Bis zur Vollendung“ bezieht sich auf die Hingabe Jesu in den Tod – eben diese wird in der Fußwaschung gedeutet. Es ist kein Zufall, sondern johanneische Komposition, dass das letzte Wort Jesu am Kreuz: τετέλεσται („es ist vollbracht/vollendet“; 19,30), das letzte Wort in der Überschrift des zweiten Hauptteils (13,1) wieder aufnimmt und jetzt im Moment des Todes Jesu die Vollendung seiner Sendung, seiner Liebe zu den Seinen, bekräftigt. Auch diese verbale Brücke bestätigt den Überschriftcharakter von 13,1 für den gesamten zweiten Hauptteil. Es ist ebenfalls kein Zufall, dass der Evangelist mit dem Stichwort „die Seinen“ (οἵ ἴδιοι) an den Prolog (1,11) und die Hirtenrede in Kapitel 10 anknüpft. Zum theologischen Profil des Johannesevangeliums gehören folgende charakteristischen Merkmale. Was sich bei den synoptischen Evangelien bereits abzeichnet und keimhaft andeutet, das führt der Evangelist Johannes konsequent weiter. Im Sinne einer Verschmelzung der Zeiten8 unterscheidet der Evangelist nicht mehr zwischen den Worten des vorösterlichen und denen des nachösterlichen Jesus. Im irdischen Jesus spricht schon der Auferstandene. Diese konsequente Weiterführung synoptischer Tendenzen zu einer nachösterlichen Hermeneutik (vgl. Joh 2,22; 16,13) trifft ebenfalls für die konsequent vorangetriebene Transparenz der Dialoge Jesu mit seinen Jüngern in Richtung auf die nachösterliche Gemeinde zu. Die ersten Jünger Jesu, die von Johannes dem Täufer zu Jesus verwiesen werden (vgl. 1,35–51), die 6  Zur Bedeutung der Narratologie für die Auslegung des Johannesevangeliums vgl. zuletzt Jörg Frey / ​Uta Poplutz (Hgg.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium, BThS 130, Göttingen 2012; T. Schultheiss, Das Petrusbild im Johannesevangelium, WUNT II/32, Tübingen 2012. 7  R. Schnackenburg, Johannesevangelium (s. Anm. 5), 16. 8  Vgl. hierzu grundlegend Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsrede als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84; Tübingen 1996; J. Frey, Die johanneische Eschatologie I–III, WUNT 96/110/116, Tübingen 1997/1998/2000; Ders., Eschatology in the Johannine Circle, in: Ders. , Herrlichkeit (s. Anm. 1), 663–698.

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5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15)

Teilnehmenden an der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11), der Ratsherr Nikodemus (Joh 3), die Samariterin (Joh 4) und alle weiteren Dialoge und Begegnungen mit Jesus sind konsequent so erzählt, dass sich Christen der Gemeinden, für die der Evangelist in seiner Zeit schreibt, in diesen Personen wiedererkennen können, ihre eigenen Glaubenswege durchbuchstabiert sehen. In diesem Sinne ist das Johannesevangelium ein eminent katechetisches, im Blick auf die Glaubensbiographie des einzelnen Menschen ein in den Glauben und im Glauben führendes, ein mystagogisches Evangelium.9 Dem Evangelisten geht es um Glaubensvertiefung, um das Überwinden von Glaubenswiderständen, von vordergründigen Missverständnissen. Dieses theologische Profil des Johannesevangeliums lässt sich in allen Kapiteln aufweisen, in den Begegnungsgeschichten, den sieben Zeichen, den Reden Jesu, dem Abschied und den Abschiedsreden Jesu, den Szenen am Kreuz, seinen Osterbegegnungen.10 Auch die Darstellung des letzten Mahles Jesu11 ist von diesem Anliegen des Evangelisten durchdrungen.

3.  Aufbau und Leserführung in Joh 13,1–30 Nachdem die Doppelfunktion des einleitenden Verses 13,1 als Überschrift für das Kapitel 13 und für den gesamten zweiten Hauptteil des Johannesevangeliums vorgestellt wurde, geht es im Folgenden um den Aufbau und die Gedankenführung in Joh 13,1–30. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern lässt sich in zwei Teile gliedern: die Fußwaschung als Sinnbild des erlösenden Lebensdienstes Jesu und als Vorbild für seine Jünger (13,2–17) und der Verrat des Judas als Gegenbild eines Jüngers Jesu (13,18–30). Die Aufmerksamkeit gilt hier vornehmlich V. 2–17, die eine Dreigliederung aufweisen. Der Handlung Jesu in V. 2–5 folgen ein Dialog und ein Monolog: V. 2–5: Die Fußwaschung Jesu V. 6–11: Dialog: Jesus und Simon Petrus V. 12–17: Ansprache Jesu an seine Jünger  9  Vgl. A. Meyer, Kommt und seht. Mystagogie im Johannesevangelium ausgehend von Joh 1,35–51, FzB 103, Würzburg 2005. 10 Vgl. dazu exemplarisch „Mündiger Glaube“, in diesem Band, S. 230–256. 11  Joh 13 verdient eine neue, intensive exegetische Diskussion. Als neuere Beiträge vgl. H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT VI, Tübingen 2005, 582–594; Ders., εἰ μὴ τοὺς πόδας (Joh 13,10). Die Wirkungsgeschichte einer frühen Glosse, in: Ders., Studien zum Corpus Johanneum, WUNT 214, Tübingen 2007, 595–602; A. Stimpfle, Teilhabe in Hingabe. Zur „Fremdheit“ der johanneischen Fußwaschung (Joh 13,1–17), in: G. Hotze / ​E. Spiegel (Hgg.), Verantwortete Exegese. Hermeneutische Zugänge  – Exegetische Studien  – Systematische Reflexionen  – Ökumenische Perspektiven  – Praktische Konkretionen (FS F. G. Untergaßmair), Münster 2006, 219–229; J. Frey, ‚Ethical‘ Traditions, Familiy Ethos and Love in the Johannine Literature, in: Ders,. Herrlichkeit (s. Anm. 1), 768–802, 793–796; J. Beutler, Johannesevangelium (s. Anm. 1), 376–393.

3.  Aufbau und Leserführung in Joh 13,1–30

307

(a) V. 2–5: Die Fußwaschung selbst ist in aller Einfachheit und Nüchternheit geschildert. Nach der Situationsangabe „Und als ein Mahl war, …“ (13,2) folgen konkludent sieben Verben: aufstehen, Gewand ablegen, Leinentuch nehmen, sich umgürten, Wasser ins Becken schütten, Füße waschen, trocknen. Dieser einfache Erzählstil wird durch eine sprachlich und grammatikalisch schwierige Parenthese unterbrochen und aufgebrochen: „Und als ein Mahl war – der Teufel hatte Judas Iskariot, dem Sohn Simons, schon ins Herz gegeben, ihn auszuliefern; Jesus wusste, dass ihm der Vater alles in die Hände gegeben hat und dass er von Gott ausgegangen ist und zu Gott zurückkehrt – …“ (13,2–3)

Es ist kein Wunder, dass sich daran literarkritische Diskussionen entzünden, denen hier nicht nachgegangen werden kann. Die Aufgabe, den vorliegenden Endtext des Johannesevangeliums zu interpretieren, darf dabei nicht aus dem Auge verloren werden. Formal lässt sich diese Parenthese als eingeschobener Erzählerkommentar kennzeichnen. Der Erzähler gibt seinen Lesern bzw. Hörern zwei Hinweise. Der erste ist neu: Es geht um den Verrat des Judas im Vorgriff auf 13,18–30, die das Gegenbild zur Fußwaschung Jesu ausleuchten. Der zweite Hinweis nimmt die schon in Vers 1 angesprochene Sendungschristologie auf und entfaltet diese. Die Parenthese verknüpft also die nüchterne Fußwaschungserzählung mit der Überschrift in 13,1 und dem zweiten Teil der Erzählung in Joh 13. Beide Hinweise, der Vorverweis auf den Verrat des Judas und der Rückverweis auf die johanneische Sendungschristologie, sind offensichtlich unverzichtbare Interpretationsbezüge für den nüchternen Bericht der Fußwaschung Jesu. Die Einspielung der verstärkend ausgeführten Sendungschristologie betont die johanneische Zielaussage: „Der niedrige Dienst verweist auf den Tod Jesu, der doch als Anteilgabe am Heil ein Dienst voll innerer Hoheit ist.“12 (b) V. 6–11: Ausgangspunkt des kurzen Dialoges zwischen Petrus und Jesus ist der Einwand des Petrus: „Herr (κύριε), Du wäschst mir die Füße?“ (13,6). Petrus fasst das in klare Worte, was gewissermaßen in der Luft liegt: Warum wäscht der Kyrios seinen Jüngern die Füße? Denn das, was Jesus tut, ist eine anstößige und offensichtlich unverständliche Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse. Das soziale Paradoxon, das Petrus in aller Klarheit anspricht, wird noch dadurch gesteigert, dass der Titel κύριος im NT und auch im Johannesevangelium die Konnotation des Gottesnamens bzw. der Gottesanrede in der Septuaginta trägt. Der in Frageform gehaltene Einwand des Petrus ist erzähltheoretisch von doppelter Bedeutung: Petrus stellt die Frage, die aufgrund des Tuns Jesu jedem Leser und Hörer des Johannesevangeliums auf den Lippen liegt – er stellt die Frage der Lesenden und Hörenden, die Frage, die gestellt werden muss! Und zweitens gibt der Einwand des Petrus Jesus die Möglichkeit zu antworten, sein Tun zu

 R. Schnackenburg, Johannesevangelium (s. Anm. 5), 19.

12

308

5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15)

deuten. Jeder Versuch, von der hier gestellten Frage des Petrus auf seine geschichtliche Persönlichkeit zurückzuschließen, ist deshalb unangebracht. Schließlich steht die Frage des Petrus in einer typisch johanneischen Tradition. Zahlreiche Dialoge zwischen Jesus und einer zweiten Person nehmen ihren Ausgang beim Nichtbegreifen bzw. einem Missverständnis, das durch Jesu Antwort auf einen tieferen Sinn hin erschlossen wird.13 Ein Beispiel dafür ist Nikodemus, der fragt: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ (3,4) oder die Samariterin, die bemerkt: „Herr, du hast doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du dann lebendiges Wasser?“ (4,11). In den Fragen der Menschen im Johannesevangelium spiegeln sich die Fragen der Christen in der johanneischen Gemeinde. Ihre Fragen werden gestellt, ihre zu kurz greifenden Missverständnisse werden artikuliert – nicht, um sie vorzuführen, sondern um alle Lesenden und Hörenden auf den Weg zu einem vertieften Verstehen der Sendung Jesu mitzunehmen.14 Eben darum geht es auch hier: Die Fußwaschung Jesu kann und soll irritieren, sie kann missverstanden werden – Jesus aber geht es um das richtige Verständnis seines Tuns. Jesu erste Antwort, „Was Ich tue, verstehst Du jetzt nicht, du wirst es aber nachher verstehen“ (13,7), klingt zunächst rätselhaft. Sie verweist auf einen späteren Zeitpunkt des Verstehens – für die aufmerksamen Leser des Johannesevangeliums ist die Zeitangabe „nachher“ jedoch klar. Es geht ausweislich von 13,1 um „die Stunde“ Jesu, es geht um seinen Tod, seine Auferstehung und das vom Wirken des Geistes getragene nachösterliche Verstehen des gesamten Lebensweges Jesu. Erst im Licht der Auferstehung Jesu wird die Fußwaschung seiner Jünger angemessen und richtig verständlich. Der zweite Einwand des Petrus, „Nicht sollst du meine Füße waschen bis in Ewigkeit“ (V. 8), betont das Nichtverstehen des Petrus – der wohlwollende Leser ist dem Petrus schon ein Stück voraus. Aber auch dieser zweite Widerstand des Petrus hat seine erzählerische Funktion. Sie ermöglicht Jesus eine zweite Antwort: „Wenn ich Dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“ (V. 8). Hier geht es nicht um den Zeitpunkt und die Möglichkeitsbedingungen des Verstehens, sondern um das Ziel der Sendung Jesu insgesamt, wie um das Ziel der Zeichenhandlung Jesu, der Fußwaschung: Es geht um die Anteilhabe an Jesus selbst. Es geht ums Ganze: Jesu Heilssendung, seine Lebensgabe kommt dort zum Ziel, wo die Jünger Jesu vor Ostern wie die Jünger Jesu zu allen Zeiten nach Ostern Jesu Tun zulassen und dieses im Licht des Osterglaubens deuten. Jesu gesamte Sendung ist ein Lebens-Dienst für die Menschen, in der Fußwaschung wird dieses Sinnziel des Wirkens Jesu fokussiert. Jesus macht in dieser Zeichenhandlung „seine Hingabe in den Tod für die Jünger anschaulich und wirksam … kraft seiner Liebe,  Vgl. u. a. Joh 3,4; 4,11.31–34; 6,7–9.67–70; 9,2–5; 11,8–10; 14,5–10. auch 13,27–29. Auch hier werden zu kurz greifende Deutungen der Worte Jesu zurückgewiesen. 13

14 Vgl.

3.  Aufbau und Leserführung in Joh 13,1–30

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die sie dadurch bis zum äußersten erfahren.“15 Im Kern geht es um die Anteilhabe an Jesus, an dem Leben, das er schenkt, an seiner Beziehung zum Vater, an seiner nachösterlichen Herrlichkeit. Im Johannesevangelium ist Jesus ausweislich der „Ich-bin“-Worte in persona das Heilsgeschenk Gottes an die Menschen: „Ich bin das Brot des Lebens“ (6,35); „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (14,6). Die Antwort des Petrus (V. 9) zeigt erneut ein vordergründiges Missverständnis. Es ist nicht die Verteilung des Waschwassers über alle Körperteile, die zum Anteil an Jesus selbst führt, sondern das Tun Jesu in seiner Selbsthingabe in den Tod und die Bereitschaft, diesen Weg Jesu als heilsam anzunehmen. (c) V. 12–17: In den nächsten Versen hält Jesus eine feierliche Ansprache an seine Jünger. In der Einleitung markiert der Evangelist den Abschluss der Fußwaschung  – Jesus nimmt wie zu Beginn der Mahlzeit die Rolle des sitzenden Lehrers ein. Jesus betont ausdrücklich die ihm zustehenden hoheitlichen Titel „Lehrer“ und „Kyrios“. Er verwendet die im Johannesevangelium öfter begegnende, die Vollmacht Jesu betonende Einleitungsformel: „Amen, amen, ich sage euch: …“ und gebraucht abschließend eine Seligpreisung. Aufgrund der einleitenden Frage „Versteht ihr, was ich euch getan habe?“ (V. 12) geht es erneut um das Verstehen. Um das Verstehen des Tuns Jesu ging es schon beim vorausgehenden Dialog mit Petrus. Wiederholt sich also die Aussageabsicht aus V. 6–11 in V. 12–17? Nein, sie wiederholt sich nicht. Der Ansprache Jesu geht es um ein neues Moment, das offensichtlich zum Verstehen der Fußwaschung respective der Sendung Jesu konstitutiv dazugehört. Zunächst bestätigt Jesus das schon von Petrus angesprochene Paradoxon der Fußwaschung. Es ist tatsächlich der „Lehrer“ und „Kyrios“ seiner Jünger, der ihnen die Füße gewaschen hat (V. 13). Aus dieser Wahrnehmung und Beschreibung der Situation leitet Jesus die entscheidende Schlussfolgerung ab. Wenn schon der „Lehrer“ und „Kyrios“ seinen Jüngern die Füße gewaschen hat, dann „müssen“ auch die Jünger einander die Füße waschen (V. 14). Jesus verweist zur weiteren vertiefenden Begründung auf das vorbildliche „Beispiel“, das er ihnen gegeben hat (V. 15) und erinnert an eine plausible Lebenswahrheit. Der Knecht ist nicht größer als sein Kyrios und der Gesandte nicht größer als der Sendende (V. 16). Mit anderen Worten: Die von Jesus gesandten Jünger können ihre Sendung nicht anders gestalten und verwirklichen als in der Nachfolge des „Beispiels“ Jesu. Ein anderer Weg als der Weg Jesu steht ihnen nicht zur Verfügung. Jesu Seligpreisung (V. 17) gilt denen und nur denen, die dem Beispiel Jesu tatsächlich und in adäquater Entsprechung folgen. Dieser Weg Jesu, das Ur-Bild der Jüngernachfolge, wird im Johannesevangelium insgesamt und in der Fußwaschungserzählung in besonderer Dichte veranschaulicht. Zur Vertiefung und Absicherung der bisherigen Auslegungsschritte werden die beiden folgenden Fragestellungen vertieft: die Bedeutung der Fußwaschung in  R. Schnackenburg, Johannesevangelium (s. Anm. 5), bes. 21.

15

310

5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15)

der zeitgenössischen Umwelt und die Fußwaschung als Zeichenhandlung bzw. als paradoxe Intervention.

4.  Die Bedeutung der Fußwaschung in der zeitgenössischen Alltagskulturund vor dem Hintergrund römischen Standesdenkens In der Umwelt des Neuen Testaments16 lassen sich drei zeitgenössische Konnotationen der Fußwaschung identifizieren. (a) In der griechisch-römischen Literatur finden sich zahlreiche Belege, die direkt oder beiläufig Zeugnis davon geben, dass das Fußwaschen als typische Aufgabe von Sklaven, Dienern und Mägden vertraut war. Die hierarchische Unterordnung der Fußwaschenden wurde so dokumentiert und bekräftigt. Ein anschauliches Beispiel ist uns bei Plutarch überliefert: „Als es aber Zeit für die Hauptmahlzeit war und der Kapitän das Essen aus den Vorräten zubereitete, sah Favonius [ein Prätor des Pompeius], dass Pompeius in Ermangelung von Sklaven begann, seine eigenen Schuhe auszuziehen, und eilte herbei, zog ihm die Schuhe aus und salbte seine Füße“ (Plutarch, Pompeius 73.6).17

Schon die Bekleidung mit einem Lendenschurz, der zum Abtrocknen der Füße nach dem Fußwaschen verwendet werden konnte, gilt für sich genommen als Ausdruck einer Standeszuordnung. In Suetons Kaiservita zu Caligula heißt es: „Mit ebenso wenig Ehrerbietung und Milde ging er (scil. Caligula) mit dem Senat um. Einige Senatoren, die höchste Ämter verwaltet hatten, ließ er einige Meilen in der Toga neben seinem Reisewagen herlaufen und, während er speiste, einmal unter dem Sofa, einmal zu seinen Füßen nur mit einem Lendenschurz bekleidet stehen“ (Sueton, Caligula 26.2).18

(b) Vorwiegend in der jüdischen Tradition aber auch in der griechisch-römischen Überlieferung wird die Fußwaschung als Ausdruck der Reinheit und der Nähe zu Gott bzw. einer Gottheit verstanden. Nach Philo besprengen sich die Priester beim Betreten des Heiligtums Hände und Füße als „Sinnbild fleckenlosen Lebens und

16 Vgl. B.  Kötting / ​D.  Halama, Fußwaschung, RAC VIII (1972), 743–745; J. Ch. Thomas, Footwashing in John 13 and the Johanninne Community, JSNTSup 61, Sheffield 1991, 26–56; K. Wengst, Das Johannesevangelium, ThKNT IV/2, Stuttgart 2001, 91–93 (zu Zeugnissen in der rabbinischen Tradition). 17  Zitiert nach U. Schnelle (unter Mitarbeit von M. Labahn und M. Lang) [Hgg.]), Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Band I/2, Berlin 2001, 641. Vgl. auch Homer, Odyssee 19.317–324.343–348.386–388; Herodot 2.172–175; 6.19.2; Catull 64,158–163. 18 H. Martinet, C. Suetonis Tranquillus. Die Kaiserviten – De vita Caesarum, Düsseldorf / ​ Zürich 1997, 485; zitiert nach Neuer Wettstein (s. Anm. 17), 636.

4.  Die Bedeutung der Fußwaschung in der zeitgenössischen Alltagskultur

311

reinen Lebenswandels in lobenswerten Werken“ (vgl. Philo, Vita Mosis 2.13819). Das Waschen der „Eingeweide“ bzw. „des Bauches“ und „der Füße“ wird als „Reinigung“ verstanden: „… mit dem Bauch deutet das Gesetz auf die Begierde hin, deren Reinigung sehr heilsam ist, da sie mit Befleckungen, Besudelungen, Trunksucht und Völlerei behaftet ist, also auf den schlimmsten Schädling, der zum Verderben für unser Leben uns angeheftet und ausgeschmiedet ist. Das Waschen der Füße aber bedeutet, dass wir nicht mehr auf Erden gehen, sondern in Aethers Höhen schweben sollen; denn in Wahrheit schwebt ja die Seele des von Liebe zu Gott erfüllten Menschen von der Erde hinauf zum Himmel und wandelt beflügelt in der Höhe …“ (Philo, De specialibus legibus 1.206–207; vgl. Philo, Legum allegoriae 3.143).20

(c) Besonders bei Josef und Aseneth, einer zeitgenössischen Schrift „an der Schnittstelle zwischen jüdischer Novelle und griechischem Roman, namentlich dem Abenteuer‑ und Liebesroman,“21 findet sich ein beeindruckendes Zeugnis zum Fußwaschen als Ausdruck der Liebe und Beziehungsintensität.22 Josef und Aseneth 20.1–5: „[1] Und sie umschlangen einander lange und verflochten die Bande ihrer Hände. Und Aseneth sprach zu Joseph: „Wohlan, mein Herr (κύριέ μου), tritt ein in unser Haus. Ich habe nämlich unser Haus vorbereitet und ein großes Mahl gemacht.“ [2] Sie ergriff seine rechte Hand, führte ihn in ihr Haus und setzte ihn auf den Thronsessel ihres Vaters. Und sie brachte Wasser, um seine Füße zu waschen. [3] Joseph sprach zu ihr: „Es soll doch eine deiner Jungfrauen kommen und meine Füße waschen!“ [4] Und Aseneth sagte: „Mitnichten, mein Herr (κύριέ μου), denn von jetzt an bist du mein Herr, und ich deine Sklavin. Warum sagst du das, eine andere Jungfrau solle deine Füße waschen? Deine Füße sind ja meine Füße, deine Hände sind meine Hände, deine Seele ist meine Seele.“ [5] Und sie bedrängte ihn und wusch seine Füße. Joseph betrachtete ihre Hände. Sie waren wie Hände des Lebens und ihre Finger wie Finger eines von Liebe ergriffenen Schnellschreibers. Und danach ergriff Joseph ihre rechte Hand und küsste sie. Und Aseneth küsste sein Haupt und setzte sich zu seiner Rechten.“23

In der johanneischen Fußwaschungserzählung finden sich alle drei Konnotationen aus der zeitgenössischen Umwelt wieder – jeweils in spezieller Profilierung: (a) Die in der zeitgenössischen Umwelt selbstverständliche hierarchische Zuordnung von Fußwaschung an die Untergebenen und niederen Dienste wird in Joh 13 einerseits von Petrus vorausgesetzt und zum Gegenstand seines ersten Ein19  Philo, Vita Mosis 2.138: „Diese [sc. die erzenen Spiegel der Frauen] nahm der Künstler, und er beschloss, sie zu schmelzen und nichts anderes als das Waschbecken aus ihnen zu verfertigen, damit die Priester beim Betreten des Heiligtums (…) dies als Gefäß für das Sprengwasser, besonders beim Waschen von Händen und Füssen benützten – ein Sinnbild fleckenlosen Lebens und reinen Lebenswandels in lobenswerten Werken …“ 20  Vgl. auch Plinius, Naturalis historia 24.103. 21  Vgl. hierzu im Überblick M. Vogel, „Einführung“ in Joseph und Aseneth, Sapere 15, Tübingen 2009, 3–31, 6. M. Vogel datiert Joseph und Aseneth in die zweite Hälfte des 1. Jh. n. Chr. bzw. die ersten Jahre des 2. Jh. n. Chr. (vgl. bes. 11–15). 22  Vgl. auch Joseph und Aseneth 7.1. 23 Übersetzung nach Eckart Reinmuth. Vgl. Ch. Burchardt, Joseph und Aseneth, JSHRZ 2.4, Gütersloh 1983, 683. Vgl. auch Catull 64.158–163; Anthologia Graeca 13.68.

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5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15)

wandes gemacht. Gleichzeitig betont Jesus seine hoheitliche Sendung als Lehrer und Kyrios. Andererseits durchbricht Jesus in seinem Tun diese Rollenzuweisung in paradoxer Umkehrung bei ausdrücklicher Wahrung seines Status als Lehrer und Kyrios. (b) Das Thema der Reinheit und der sich daraus ergebenden (wachsenden) Gottesnähe greift Joh 13 in V. 10–11 auf. Die erstrebte Reinheit ist durch die Fußwaschung, genauerhin durch die in der Fußwaschung gedeutete Lebenshingabe Jesu, vollumfänglich bewirkt. Die Jünger Jesu sind „rein“  – mit der einen Ausnahme des Judas. Zwischen Judas auf der einen Seite und Jesus und seinen Jüngern auf der anderen Seite verläuft die Trennlinie zwischen rein und unrein. (c) In der johanneischen Fußwaschungserzählung geht es nicht um die erotische Liebe zwischen Mann und Frau, es geht jedoch sehr wohl um Liebe (vgl. 13,1.34–35; 15, 9–17 bes. 15,13: „Niemand hat eine größere Liebe als der, der sein Leben gibt für seine Freunde“: Lebenshingabe als höchste Konsequenz der Liebe) und die durch die praktizierte Liebe Jesu gewonnene Beziehungstiefe (vgl. 13,8: Anteil haben an Jesus). Aseneth versteht ihr Tun  – sie besteht darauf, dass sie allein und niemand sonst Josef die Füße wäscht – als Liebesdienst, den sie dem Geliebten und nur ihm erweisen will. Als Liebesdienst versteht auch Jesus sein Tun an den Jüngern  – in der Hingabe seines Lebens in den Tod (vgl. 15,13). Diese Lebenshingabe in den Tod wird in der Fußwaschung als reinigender und beziehungsstiftender Lebensdienst gedeutet.

5.  Fußwaschung als Zeichenhandlung und als paradoxe Intervention Die Fußwaschung Jesu reiht sich ein in viele andere Zeichenhandlungen Jesu:24 der Jüngerkreis Jesu als solcher, der Zwölferkreis, die Mahlveranstaltungen Jesu, die sogenannte Tempelreinigung, der Einzug Jesu in Jerusalem auf einem Esel, das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern. Jesus steht mit diesen Zeichenhandlungen in der Tradition der Propheten. Zeichenhandlungen in der biblischen Tradition begleiten, veranschaulichen und deuten die Verkündigung der Propheten bzw. Jesu. Auch die Fußwaschung Jesu ist in diese Tradition einzuordnen. Ob wir von einer historisch sicheren Überlieferung ausgehen können  – die Synoptiker kennen die Fußwaschung nicht25 – kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Viele Argumente sprechen für die Annahme, dass Jesus beim letzten Abendmahl diese Zeichenhandlung bewusst verwendet hat.26 Die Fuß24  Vgl. hierzu grundlegend H. Schürmann, Die Symbolhandlungen Jesu als eschatologische Erfüllungszeichen. Eine Rückfrage nach dem historischen Jesus, in: Ders., Jesus – Gestalt und Geheimnis. Gesammelte Beiträge, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn 1994, 136–156. 25  Vgl. aber Lk 22,7–13.14–23.24–30; bes. 22,27. 26  Vgl. R. Schnackenburg, Johannesevangelium (s. Anm. 5), 45–48; H.-J. Klauck, Die Sa-

5.  Fußwaschung als Zeichenhandlung und als paradoxe Intervention

313

waschung Jesu kann als historisch glaubwürdige Überlieferung gelten, die in der kompositionellen Deutung des Johannesevangeliums eine herausragende Bedeutung erhält. Dafür sprechen auch die synoptischen Analogien in Mk 10,45; Lk 12,37; 22,27; insbesondere die Kompatibilität mit dem zeichenhaften Tun Jesu.27 Für die Auslegung der Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium ist das genaue Profil dieser Zeichenhandlung von Interesse. Die johanneische Darstellung unterstreicht das Paradox. Die hoheitliche Rolle Jesu wird nachdrücklich betont und gleichzeitig durch seine konkrete Tat im Sinne der zeitgenössisch-kulturellen Plausibilität unterlaufen mit dem Ziel, die hoheitliche Rolle Jesu – in der Weise des Kontrastes zu kulturellen Plausibilitäten – neu zu bestimmen: Als Herr und Lehrer erweist Jesus sich gerade in der Fußwaschung, die als Sinnbild die erlösende Lebenshingabe Jesu veranschaulicht. Zum besseren Verständnis der Fußwaschung Jesu soll im Folgenden eine neue Interpretationskategorie zur Anwendung kommen: Bietet sich der Gedanke der „paradoxen Intervention“ als ein Hilfsinstrument an für das Verständnis der Fußwaschung Jesu? Der Begriff „paradoxe Intervention“ stammt aus der modernen systemischen Therapie. Eine paradoxe Intervention zielt darauf, eine paradoxe Kommunikation aufzulösen bzw. die Lösung von festen Mustern zu ermöglichen. Manchmal nennt man sie auch Symptomverschreibung, bei der das nicht erwünschte Verhalten gefördert wird, teils bis zur Übertreibung. Im engeren therapeutischen Kontext zielt die paradoxe Intervention z. B. darauf, persönliche Gefühls‑, Verhaltens‑ und Reaktionsmuster zu erkennen und durch die Bewusstwerdung zu heilen. Bei den Zeichenhandlungen Jesu geht es jedoch nicht um die übertriebene Veranschaulichung eines problematischen Verhaltens bzw. internalisierten Reaktionsmusters, sondern im Gegenteil um die veranschaulichende und verstärkende In-Szenierung der Botschaft und Sendung Jesu, die geprägte Verhaltens‑ und Denkmuster unterläuft und dekonstruiert. Dennoch kann von dem Gedanken der „paradoxen Intervention“ Licht auf die Fußwaschungserzählung fallen. Drei Beobachtungen sollen hier hervorgehoben werden. kramente und der historische Jesus, in: Ders., Gemeinde – Amt – Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 273–285, hier 276–279. 27  Das Johannesevangelium steht mit der Fußwaschungserzählung in inhaltlicher Kongruenz mit den synoptischen Evangelien. Im Lukasevangelium ist das Wort Jesu im Zusammenhang mit dem Abendmahl überliefert: „Er aber sprach zu ihnen: Die Könige herrschen über ihre Völker, und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen. Ihr aber nicht so! Sondern der Größte unter Euch soll sein wie der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener (ὡς ὁ διακονῶν). Denn wer ist größer: der zu Tisch sitzt oder der dient (ὁ διακονῶν)? Ist’s nicht der, der zu Tisch sitzt? Ich aber bin unter euch wie ein Diener (ὁ διακονῶν)“ (Lk 22,25–27). Der Evangelist Lukas überliefert hier Jesusworte zum Tischdienst Jesu: Jesus stellt sich als Tischdiener vor – auch wenn die Fußwaschung nicht genannt wird. Der Tischdienst Jesu hat die gleiche Provokationskraft: ‚Größe‘ und ‚Vornehmheit‘ werden dekonstruiert und neu bestimmt. Gleichzeitig verbindet Lukas Jesu Tischdienst mit der Herrscherkritik Jesu (vgl. Mk 10,35–45). Die markinische Parallele zu Lk 22,25 in Mk 10,42 („Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an“) verstärkt noch die Kritik Jesu am zeitgenössischen System der Macht.

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5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15)

(1) Eine paradoxe Intervention lebt – wie die Fußwaschung Jesu – von der Konkretion, Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit. (2) Die paradoxe Intervention – wie die Fußwaschung Jesu – bricht mit einem Muster, mit einer allgemeinen oder gruppeninternen Kultur bzw. Plausibilität um eines Zieles willen. (3) Die paradoxe Intervention – wie die Fußwaschung Jesu – provoziert, irritiert, fordert heraus. Sie weist über sich hinaus, sie will gedeutet und verstanden werden. In Anwendung auf die Fußwaschung Jesu heißt das: Jesus erweist sich in der Fußwaschung in neuer Weise als „Lehrer“ und „Herr“. Beim letzten Mahl mit seinen Jüngern vor seinem Tod und den eigenen Tod vor Augen durchbricht Jesus die verinnerlichten kulturellen Spielregeln seiner Zeit. Die banale Fußwaschung vor Beginn der Mahlzeit wird durch sein paradoxes Handeln zu einer Provokation, die die Jünger Jesu – die in der Erzählung anwesenden Jünger Jesu ebenso wie die Hörer und Leser des Johannesevangeliums zu allen Zeiten – massiv herausfordert: Was geschieht hier? Warum handelt Jesus so? Die Fußwaschung Jesu löst einen Such‑ und Verstehensprozess aus, der sich in dem Dialog zwischen Jesus und Petrus (V. 6–11) und in der anschließenden Ansprache Jesu (V. 12–17) niederschlägt. Wie der Evangelist Johannes die Fußwaschung Jesu verstanden wissen will, zeigt er zudem in der Komposition des 13. Kapitels (vgl. bes. 13,1) und in der Gesamtkomposition seines Evangeliums. Mit und in der Fußwaschung deutet Jesus selbst seinen Weg in den Tod als Anteilgabe an ihm, an seinem Leben, an seiner Lebensgemeinschaft mit dem Vater.

6.  Die johanneische Interpretation In der exegetischen Fachdiskussion gibt es einen deutlichen Trend, die zwei Deutungen der Fußwaschung Jesu, die christologisch-soteriologische (V. 6–11) und die ethische (V. 12–17) zu trennen bzw. sie gegenüberzustellen. Beide stünden in einer inhaltlichen und literarkritisch zu separierenden Spannung zueinander.28 Der Wortlaut des Textes selbst liefert dazu keine überzeugenden Anhaltspunkte. Im Gegenteil: Die Komposition des Kapitels 13 und das in dieser Komposition erkennbare Interesse bzw. die Leserführung des Evangelisten sind erzählerisch und theologisch kohärent.29 Im Folgenden werden fünf zentrale Anliegen des Evangelisten in Joh 13,1–30 hervorgehoben. 28   So u. a. R. Schnackenburg, Johannesevangelium (s. Anm. 5), 7; M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, HBS 34, Freiburg 2002, 130–138; H. Thyen, Johannes 13 und die „Kirchliche Redaktion“ des vierten Evangeliums, in: Ders., Studien zum Corpus Johanneum (s. Anm. 11), 29–41. (Selbst‑)Kritisch dazu Ders., Joh 13,1 ff als Objekt literarkritischer Analysen, ebd., 591–594. 29  Zur johanneischen Ethik, vgl. „Eine größere Liebe hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13), in diesem Band, S. 323–346; J. Frey, Love Relations in the Fourth Gospel. Establishing a Semantic Network, in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 1), 739–765; J. G. van der Watt / ​Ruben Zimmermann (Hgg.), Rethinking the Ethics of John. „Implicit Ethics“

6.  Die johanneische Interpretation

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6.1  Deutung der Sendung Jesu Das „Beispiel“, das Jesus in der Fußwaschung gibt, ist eine In-Szenierung seiner paradox erscheinenden Sendung: Jesus unterläuft die kulturelle Plausibilität und den Status Quo der griechisch-römischen Standesgesellschaft (vgl. 3.1.). Sein Dienst stellt die gewohnte Rollenzuweisung ‚auf den Kopf ‘. Sein Dienst hat zugleich eine erheblich größere Reichweite als alle anderen üblichen sozialen Dienstleistungen. Seine Sendung zielt auf die Rettung des Menschen, auf die Gemeinschaft mit ihm und durch die Gemeinschaft mit ihm auf die ewige, unzerstörbare Gemeinschaft mit seinem Vater. 6.2  Deutung des Todes Jesu Ausweislich der Gesamtkomposition des Johannesevangeliums und der Überschrift in 13,1 geht es dem Evangelisten im gesamten zweiten Hauptteil um die existenzielle Bewältigung und die theologische Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu.30 Das letzte Mahl Jesu mit „den Seinen“ (13,1) und hier besonders die Fußwaschung Jesu bildet dazu den Auftakt, das Präludium im engsten Kreis der Jünger – aus dem Judas noch ausscheidet: Sein von Jesus vorhergesagter Verrat führt zum Weggang aus dem Jüngerkreis in die „Nacht“ (13,30). Jesus erweist sich angesichts des bevorstehenden Todes genauso souverän und hoheitsvoll wie in der gesamten Zeit seines öffentlichen Wirkens im Johannesevangelium. Freilich ist der drohende Tod Jesu insbesondere aus der Jüngerperspektive eine erhebliche Infragestellung der Botschaft Jesu und des Boten selbst. Wie kann es sein, dass Gottes Sohn von menschlichem Kalkül und menschlicher Willkür in den Tod gegeben wird? Widerspricht der von Menschen gemachte Tod Jesu nicht seiner Botschaft und Sendung? Welchen Sinn hat der Tod Jesu? Wie geht es nach dem Tod Jesu weiter? Diese Fragen beantwortet der Evangelist konzentriert im zweiten Hauptteil seines Evangeliums, so sehr deutliche Spuren schon im ersten Hauptteil gelegt werden. Der zweite Hauptteil des Evangeliums wird geprägt von den Abschiedsreden, die von Abschied (der Name sagt es bereits) und zugleich von neuer Gegenwart Jesu handeln,31 von dem Prozess gegen Jesus, in dem Jesus sich in ironischer Rollenverkehrung als der wahre Richter erweist,32 und von den Osterin the Johannine Writings, WUNT 291, Tübingen 2012; V. R abens, Johannine Perspectives on Ethical Enabling in the Context of Stoic and Philonic Ethics, ebd. 114–139. 30  Vgl. weiterführend Th. Söding, Kreuzerhöhung. Zur Deutung des Todes Jesu nach Johannes, ZThK 103 (2006); 2–25; J. Frey, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 1), 485–554 (Lit.); vgl. Ders., Edler Tod – wirksamer Tod – stellvertretender Tod – heilschaffender Tod. Zur narrativen und theologischen Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, ebd. 555–584. 31  Vgl. hierzu auch „Abschied und neue Gegenwart“, in diesem Band, S. 368–394. 32 Vgl. hierzu auch „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, in diesem Band, S. 349–368.

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5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15)

begegnungen, in denen der Auferstandene die Gemeinschaft mit den Jüngern erneuert und sie sendet. In der Fußwaschungserzählung interpretiert der Evangelist den Tod Jesu nicht als Scheitern der Sendung Jesu, sondern als Aufgipfelung seines Lebensdienstes aus Liebe (vgl. 13,1). Die Fußwaschung setzt das Paradox der Hoheit Jesu im niedrigen Dienst in Szene. Hoheit und Niedrigkeit Jesu spiegeln sich in seinem ganzen Leben in der johanneischen Darstellung. Dieses Paradox liegt in der Linie der im Prolog hymnisch besungenen Inkarnation des Weltenschöpfers, des Logos, in menschliches Fleisch (vgl. 1,14) und wird im Prozess Jesu weiter ausgeführt. 6.3  Deutung des Abendmahles Der zweite Hauptteil wird präludiert von dem letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern. Es ist bekannt, dass Johannes hier nicht das letzte Mahl mit den Einsetzungsgesten und ‑worten erzählt, sondern die Fußwaschung.33 Die Fußwaschung tritt an die Stelle, an der die synoptischen Evangelien das letzte Mahl Jesu berichten34  – nicht, weil Johannes das letzte Mahl nicht kannte oder es ablehnte (vgl. die Brotrede in Joh 6), sondern weil er mit der Fußwaschung Jesu das in der Gemeinde gefeierte Abendmahl Jesu interpretiert und der „feiernden Gemeinde eine Lehre erteilen (wollte)“, etwa in der gleichen Richtung wie Paulus: „Sooft ihr dieses Brot esst und den Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn“ (1 Kor 11,26), johanneisch gesprochen: die äußerste Liebe Jesu, der sich in den Tod gab, um euch Anteil an seinem Leben zu schenken (vgl. das Wort an Petrus 13,8b).35 So interpretiert der Evangelist in der Fußwaschungserzählung das in der Gemeinde gefeierte Abendmahl als Teilgabe Jesu an seiner erlösenden Lebenshingabe und als Anteilhabe an ihm. 6.4  Verpflichtung auf einen Liebesdienst nach dem Vorbild Jesu Der in der Lebenshingabe gipfelnde Lebensweg Jesu und die Feier der Teilhabe an ihm als Frucht seiner Lebenshingabe verpflichten die Jünger Jesu, „seine Freunde“ (vgl. Joh 15,12–17): Sie werden verpflichtet auf einen innergemeindlichen Liebesdienst, der sich am Maßstab Jesu orientiert (13,15–17; vgl. 13,1.34–35; 15,12–14). Dazu ist die Fußwaschung ein anschauliches und zugleich normierendes „Beispiel“.36 33 Vgl.

R. Schnackenburg, Johannesevangelium (s. Anm. 5), 38–53.  Zum Problem und zu Deutungsmöglichkeiten vgl. ebd. 48–53. 35  Vgl. ebd. 52: „Damit wird die Fußwaschung nicht zu einem Symbol für die Eucharistie, aber in ihrem auf den Tod Jesu verweisenden Symbolgehalt zu einer Verständnishilfe für die Teilnehmer am eucharistischen Mahl.“ 36  Das griechische Wort in V. 15: ὑπόδειγμα ist ein johanneisches Hapaxlegommenon. In der griechischsprachigen Literatur begegnet ὑπόδειγμα im Sinne des nachzueifernden ethischen Vorbilds (beispielsweise Josephus, Bellum Judaicum 1.374: „… das könnt ihr am eigenen Beispiel lernen: …“; Polybios 15.20.5: „… um durch das Exempel (ὑπόδειγμα), das sie mit aufstellte, der Nachwelt eine eindrückliche Warnung zu erteilen, sich eines Besseren zu belehren“. 34

6.  Die johanneische Interpretation

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Das treibende Motiv für die Verhaltensaufforderung und Verpflichtung der Freunde Jesu ist die Liebe (13,1) in der konkreten Auslegung Jesu (13,2–17): Anders als bei Jesus trifft auf die Freunde Jesu in der Aufforderung Jesu, nach seinem „Beispiel“ zu handeln, primär nicht die Paradoxie von Hoheit und Niedrigkeit zu. Gleichwohl sollen auch sie mit einer kulturellen Plausibilität brechen: eine wiederholte und wechselseitige Verpflichtung zur Fußwaschung ist der griechischrömischen Kultur zutiefst fremd. Diese Wiederholungen und Wechselseitigkeit einschließende Inpflichtnahme der Freunde Jesu ist eine bleibende Provokation ad intra, für die Jünger Jesu selbst (die, die die Füße anderer waschen, und die, die die Füße gewaschen bekommen), als auch ad extra, für die Außenstehenden, die durch dieses Verhalten nach dem „Beispiel“ Jesu erheblich angefragt werden. Die johanneische Verpflichtung auf die gegenseitige Liebe ist zunächst eine innergemeindliche Verpflichtung. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass diese innergemeindlich praktizierte Liebe auf die Menschen zielt, die diese Liebe „sehen“ (13,35; vgl. 17,20–23). An der Liebe der Freunde Jesu untereinander soll die Welt erkennen, wie sehr sie selbst geliebt ist. Die Universalität der Liebe Gottes in seinem Sohn (vgl. 3,16!)37 wird durch das johanneische Modell nicht aufgehoben oder eingegrenzt, sondern an konkrete Subjekte gebunden – an jeden einzelnen Christen in der Gemeinde Jesu. Die Inpflichtnahme der Freunde Jesu wird in 13,16 mit einer feierlich eingeleiteten Doppelregel begründet: „Amen, amen, ich sage euch: Der Knecht (δοῦλος) ist nicht größer als sein Herr (τοῦ κυρίου), noch ist der Gesandte größer als der Ihn Sendende“ (13,16).

Jesus betont hier erneut sein Herr-Sein und das entsprechende Knecht-Sein der Jünger Jesu. Das ist eine vor‑ wie nachösterliche Konstante. Ihr folgend gilt die Verpflichtung auf den Kyrios und seinen Willen. Verstärkt wird dieser Anspruch Jesu durch das grundlegende Sendungsprinzip bzw. ‑recht. Wie bei Jesus als dem Gesandten des Vaters gilt auch für die Gesandten Jesu. Sie folgen dem Auftrag des Sendenden rückhaltlos. Dem Tun des Willens des Sendenden verspricht Jesus zudem die Seligkeit: „Wenn ihr dieses wisst, selig seid ihr, wenn ihr dieses tut“ (3,17). 6.5  Aufnahme in die Gemeinschaft der Freunde Jesu, in die Gemeinschaft mit Jesus und mit seinem Vater In der johanneischen Fußwaschungserzählung begegnen den Lesenden und Hörenden ekklesiologische Grundaussagen:38 Dazu gehören die oben genannte  Vgl. weiterführend Th. Söding, „Er ist der Retter der Welt“ (Joh 4,42). Die Heilsuniversalität Jesu nach Johannes, in: Chr. Schaller / ​M. Schulz / ​R. Voderholzer (Hgg.), Mittler und Befreier. Die christologische Dimension der Theologie (FS G. L. Müller), Freiburg i. Br. 2008, 219–232. 38 Vgl. hierzu auch M. L.  Coloe, God Dwells with us. Temple Symbolism in the Fourth Gospel, Minneapolis 2001; Dies., Welcome into the Household of God. The Footwashing in 37

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5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15)

Deutung der Feier des Abendmahls in der Gemeinde als gemeinsame Teilhabe am erlösenden Lebensdienst Jesu und die Verpflichtung auf den gegenseitigen Liebesdienst nach dem Vorbild Jesu. Zur Ekklesiologie der johanneischen Fußwaschungserzählung gehört noch eine weitere zentrale Aussage: der Verrat des Judas als Gegenbild eines Jüngers Jesu: „Amen, Amen, ich sage euch: Wer aufnimmt, wen (immer) ich senden werde, nimmt mich auf, wer aber mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat“ (13,20).39

Die beiden dominierenden Verben sind „senden“ (πέμπω) und „aufnehmen“ (παραλαμβάνω): Eine gründliche Übersicht über den vollständigen Gebrauch des Wortes παραλαμβάνω im Johannesevangelium erweist sich dieses Verb als eine zentrale ekklesiologische Vokabel des Evangelisten:40 „Er kam in sein Eigenes (εἰς τὰ ἴδια) und die Seinen (οἳ ἴδιοι) nahmen ihn nicht auf (οὐ παρέλαβον)“ (Joh 1,11). „… und von jener Stunde an nahm sie der Jünger in sein Eigenes (εἰς τὰ ἴδια) auf “ (Joh 19,27).

Der Evangelist Johannes definiert die „Aufnahme“ durch die Seinen geradezu als das Sinnziel der Sendung Jesu. Dort, wo er „aufgenommen wird“, entsteht die Gemeinschaft der Freunde Jesu bzw. der Kinder Gottes. Seine Aufnahme bewirkt die Gemeinschaft mit ihm und mit seinem Vater. Die Verse 13,16 und 13,20 sind zusammen zu sehen: „Zwischen den beiden Logien besteht eine Dialektik: Der Abgesandte ist nicht größer als der ihn Sendende, und doch partizipiert er auch an dessen Hoheit und Würde.“41 Auf seine Jünger bezogen heißt dies: Sie haben Gemeinschaft mit Jesus und über ihn mit dem Vater, sie haben Teil an seiner vollmächtigen Sendung – sie haben Teil an der Hoheit Jesu aufgrund der von Jesu Sendung eröffneten und ermöglichten Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn.

John 13, CBQ 66 (2004), 400–415; Dies., Sources in the Shadows. John 13 and the Johannine Community, in: Francisco Lozada Jr. / ​Tom Thatcher (Hgg.), New Currents Through John. A Global Perspective, SBL. Resources for Biblical Studies 54, Atlanta 2006, 69–82. 39  Vgl. Mt 10,40. 40  Vgl. weiterführend auch „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, S. 205–229, und „Eine größere Liebe hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13), in diesem Band, S. 323–346; K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000; B. Repschinski, Freundschaft mit Jesus. Joh 15,12–17, in: K. Huber / ​B. Repschinski (Hgg.), Im Geist und in der Wahrheit. Studien zum Johannesevangelium und zur Offenbarung des Johannes sowie weitere Beiträge. FS M. Hasitschka, NTA 52, Münster 2008, 155–167. 41  R. Schnackenburg, Johannesevangelium (s. Anm. 5), 32.

7.  Diakonie als gegenkulturelle Praxis – eine Zusammenfassung

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7.  Diakonie als gegenkulturelle Praxis – eine Zusammenfassung 7.1  Die Diakonie Jesu Auch wenn die Wortfamilie διακονέω, διάκονος, διακονία im Johannesevangelium nur selten vorkommt (vgl. 12,26), die Sendung Jesu lässt sich als Diakonie verstehen. Ausweislich der Fußwaschungserzählung dient Jesu Botschaft sowie sein gesamtes Leben einschließlich seines Sterbens den Menschen, denen, die ihn „aufnehmen“. Durch seinen Lebensdienst begründet und ermöglicht Jesus Gemeinde, die Gemeinschaft der Freunde Jesu und der Kinder Gottes. Ohne diesen konkreten Dienst Jesu gibt es keine Gemeinde Jesu. Sie erwächst geradezu aus dem Lebensdienst Jesu, der in der Lebenshingabe gipfelt. Am Kreuz, unter dem Kreuz vollzieht sich ein idealtypischer gemeindegründender Akt. Jesus verweist, sendet seine Mutter zu dem Lieblingsjünger. Dieser „nimmt“ Maria „in sein Eigen auf “. Durch die Inpflichtnahme des Lieblingsjüngers erfüllt sich die Evangeliumsregel aus 13,20. Am Kreuz werfen die Lesenden und Hörenden des Johannesevangeliums einen Blick auf die Urzelle der christlichen Gemeinde. Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu ist eine anschauliche In-Szenierung der Diakonie Jesu. Er durchbricht provokativ-zeichenhaft kulturelle Normen und Muster seiner Umwelt. Jesus entzieht sich selbst den bekannten sozialen Hierarchien mit den ihnen eigenen und sie dokumentierenden sozialen Dienstleistungen und stellt sie in der Fußwaschung in paradoxer Zuspitzung auf den Kopf. Mit dieser Zeichenhandlung deutet Jesus seinen Weg und das Ziel seiner Sendung. Er dient, um erlöstes Leben zu ermöglichen. Er dient auch und gerade in seinem Sterben, um Menschen durch seinen Dienst in die endgültige Gemeinschaft mit ihm und seinem Vater zu führen. Der Lebens-Dienst Jesu – und nur er – befreit aus der Verlorenheit des Menschen an „die Nacht“ (um die johanneische Metaphorik42 aufzugreifen; vgl. 13,30). 7.2  Die Diakonie Jesu verstehen Die Absicht des Evangelisten, seine Leserführung und Leserlenkung, zielt insgesamt darauf, die Lesenden und Hörenden mit dem Weg Jesu, seinem Leben, Sterben und Auferstehen vertraut zu machen. Dabei richtet sich der Evangelist zunächst an die Christen selbst. Sie sollen noch tiefer in den Glauben hineinwachsen, sie sollen über vordergründige, vorläufige Deutungen zur Mitte der Sendung Jesu vorstoßen, ihn ‚verstehen‘. Indem der Evangelist seinen Christen vertiefend das Leben Jesu vor Augen führt, will er sie stärken, sie tiefer in der Gemeinde der Freunde Jesu verankern und sie ermächtigen, ihren Auftrag (vgl. 13,15: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“) zu leben. 42  Vgl. hierzu grundlegend O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg 1995; J. Frey, Das Bild als Wirkungspotential. Ein rezeptionsästhetischer Versuch zur Funktion der Brot-Metapher in Johannes 6, in: Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 1), 381–407.

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5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15)

Dazu gilt es, das Leben und Sterben Jesu, seinen Lebens-Dienst, besser „zu verstehen“, alles Vordergründige hin zur Mitte der Sendung Jesu zu überschreiten. Am Beispiel der Fußwaschungserzählung wird den Lesenden und Hörenden aller Zeiten dieser Verstehensprozess vor Augen geführt. Am Beispiel des Petrus werden mögliche Missverständnisse der Lesenden und Hörenden aufgedeckt und überwunden. Der Weg des Judas veranschaulicht ein (freilich genauer zu betrachtendes) Nichtverstehen bzw. Missverstehen der Sendung Jesu. 7.3  Die neue Diakonie der Christen Der die Füße seiner Jünger waschende Jesus verpflichtet „die Seinen“ auf seine eigene Praxis. Seinem „Beispiel“ folgend sollen sie einander die Füße waschen (13,14–15). Der Logik und der konkreten Gestalt seines Dienstes folgend, werden die Jünger darauf verpflichtet, sich gegenseitig zu dienen. Nur so entsprechen sie dem erlösenden Dienst Jesu. Diesem Auftrag korrespondiert auch das einzige Jesuswort im Johannesevangelium, in dem die Wortfamilie διακονέω, διάκονος, διακονία vorkommt: „Wenn jemand mir dienen will, dann folge er mir nach, und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn jemand mir dient, wird er den Vater ehren“ (12,26). Ziel des Dienstes der Jünger Jesu ist es, wie Jesus den Vater zu ehren, von ihm beauftragt und gesandt, dem Vater alle Ehre zu geben. Es gibt drei Kennzeichen der neuen Diakonie der Christen in der Lesart des Johannesevangeliums: Refraiming, innergemeindliche Diakonie und missionarische Diakonie. 7.3.1 Refraiming Die Verpflichtung der Freunde Jesu auf den Lebensdienst Jesu beinhaltet das gesamte Wirken und die gesamte Verkündigung Jesu. In der Fußwaschung Jesu lenkt der Evangelist den Blick der Lesenden und Hörenden auf eine konkrete Praxis, eine soziale Dienstleistung, ein alltägliches Ritual. Dieses Ritual wird neu gedeutet. Hier setzt ein Refraiming ein – eine Neubestimmung des normativen Rahmens. Kulturell festgeschriebene Rollen werden in Frage gestellt, durchbrochen und überholt bzw. in einen neuen Sinnhorizont gestellt. In der Gemeinde Jesu gelten im Unterschied zur sozialen Umwelt neue diakonische Regeln. Galt in der Umwelt der frühen Christen die Fußwaschung als eine soziale Dienstleistung, die eine bestimmte soziale Hierarchie dokumentiert und verstetigt, so wird die Fußwaschung durch das „Beispiel“ Jesu zum Ausdruck einer neuen Diakonie. Fußwaschung nicht mehr als Ausdruck einer Gesellschaft, die von sozialer Unter‑ und Überordnung bestimmt wird, sondern als Zeichen einer Gemeinschaft, die sich wechselseitig dient: in den konkreten, notwendigen Alltagsvollzügen und in der unabschließbaren Aufgabe, den Lebensdienst Jesu in seiner ganzen Reichweite für sich selbst und für andere zu erschließen.

7.  Diakonie als gegenkulturelle Praxis – eine Zusammenfassung

321

7.3.2  Innergemeindliche Diakonie und Vertiefung des Glaubens Im Sinne des Johannesevangeliums hat die christliche Gemeinde die Aufgabe, sich untereinander zu dienen. Das kann und muss in den scheinbar banalsten helfenden Lebenssituationen konkret werden: Maßstab für innergemeindliche Diakonie ist das normierende „Beispiel“ Jesu – nicht die jeweils gültigen Standes‑ oder Verhaltensregeln der zeitgenössischen Umwelt. Diese innergemeindliche Diakonie kann nicht von der Verkündigung des Evangeliums getrennt und gegebenenfalls an Dritte delegiert werden. Im Gegenteil: Die innergemeindliche Diakonie ist integraler Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums. Worte ohne kongruente Taten gab es im Leben Jesu nicht, sie darf es auch nicht in der Gemeinde Jesu geben. Positiv formuliert: innergemeindliche Diakonie verfügt über ein nicht zu unterschätzendes Gemeinschafts‑ und Erschließungspotential. Innergemeindliche Diakonie verbindet Menschen miteinander, verstärkt ihre Einbindung in die Gemeinde Jesu und hilft bei der Erschließung des Evangeliums Jesu Christi. Wie bei der Fußwaschung Jesu werden Fragen wach, deren Antworten Christen schrittweise und je neu voneinander lernen können: Die Frage des Petrus „Herr, Du willst mir die Füße waschen?“ und die Frage Jesu: „Versteht ihr, was ich euch getan habe?“ bleiben virulent, werden je neu gestellt und rufen zur Vertiefung des Glaubens und einer persönlichen Antwort. 7.3.3  Missionarische Diakonie Die neue Diakonie der Christen, die sich nicht an den kulturellen und sozialen Standards ihrer Umwelt orientiert, sondern am „Beispiel“ Jesu, hat eine starke Außenwirkung. Die gelebte Infragestellung und Neubestimmung des sozialen Zusammenlebens in der christlichen Gemeinde wird wahrgenommen und entfaltet die ihr innewohnende Provokation. Jede religiöse Überhöhung der staatlichen Ordnung (s. den zeitgenössischen römischen Kaiserkult), jede Gestalt einer auf Privilegien bzw. einer auf sozialer Herkunft beruhenden oder auf gewaltsam herbeigeführten Standesunterschieden beruhenden Sozialordnung wird von der Gemeinde Jesu zutiefst in Frage gestellt und delegitimiert. In der Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu gelten andere soziale Regeln – Urgrund der kontrastiven Ethik Jesu und der ihm Nachfolgenden ist nicht der Kontrast um des Kontrastes, sondern um seiner Botschaft willen, die nur so von Menschen gehört, gelebt und verstanden werden kann. Es geht um die Identität und Strahlkraft des Evangeliums selbst. Die in der Sendung Jesu den „Seinen“ erwiesene Liebe, die in den Tod geht und ihn überwindet, gilt der ganzen Welt, dem Kosmos: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (3.16). Die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, zu dem vom Logos ins Leben gerufenen Kosmos (vgl. 1,1–3), will

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5.  „Ein Beispiel habe ich euch gegeben …“ (Joh 13,15)

alle Menschen erreichen.43 Die von Jesus gerufene, an ihn glaubende und von ihm gesandte Gemeinschaft der Kinder Gottes ist der konkrete Ort, in dem diese universale Liebe Gottes gelebt und veranschaulicht wird und ausstrahlt. So verkündigt sie die Botschaft Jesu an alle anderen Menschen, die am Beispiel der sich dienenden Christen ablesen können, wie sehr sie selbst geliebt sind: Joh 17,20–23 spricht von der innigen Einheit der Christen und ihrem Zweck: „… damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast … und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst“ (Joh 17,20–23).

43 Das Johannesevangelium kennt keine Prädestinationslehre; vgl. J. Frey, Herrlichkeit (s. Anm. 1), 230–231.460–467.480.

6.  „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13) Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevangelium 1. Einleitung Das Thema Freundschaft hat im ethisch-philosophischen Diskurs Konjunktur1 und steht doch zugleich unter einem erheblichen Vorbehalt. In der neuzeitlich-modernen philosophischen Diskussion um die ethische Relevanz der Freundschaft rückt die Frage nach der Parteilichkeit in den Vordergrund: Der kantianischen Moralphilosophie gilt nur diejenige Ethik als normativ, die Ausdruck eines universalen, unparteilichen Altruismus ist. Der Bostoner Philosoph L. A.  Blum wendet ein, daß eine auf der Basis von Freundschaft beruhende und in diesem Sinne ‚parteiliche‘ Ethik zu einem ethischen Niveau führen kann, das das übliche Maß menschlichen Handelns übersteigt und deshalb höchst erstrebenswert ist.2 Wie immer man innerhalb der Kontroverse zwischen universalem, ‚unparteiischem‘ Altruismus und (vermeintlich) partikularer Freundschaftsethik Stellung bezieht, der griechisch-römische Freundschaftsdiskurs der Antike bietet weitreichende Anknüpfungspunkte auch für die moderne Debatte. Nach F. Nietzsches berühmten Diktum gilt: „Das Höchste, was bewußte Ethik der Alten erreicht hat, ist die Theorie der Freundschaft.“3 Die folgenden Ausführungen wollen nicht direkt in die moderne Diskussion eingreifen; sie gehen der antiken Freundschaftsethik nach im Blick auf die Frage nach möglichen Einflüssen und Analogien zu den Freundschaftsaussagen im JohEv. Das in diesem Zusammenhang wiederholt zustimmend zitierte Wort von R. Schnackenburg: „Der Satz von Jesu verpflichtender Freundesliebe zeigt die Aufnahme hellenistischen Denkens und Fühlens im joh. Christentum“4 bedarf der vertieften Präzision. Deshalb werden die folgenden Fragen aufgegriffen: Welche  Vgl. F. Ricken, Ist Freundschaft eine Tugend? Die Einheit des Freundschaftsbegriffs der Nikomachischen Ethik, in: ThPh 75 (2000) 481–492 (Lit.); A. Honneth, Schwerpunkt: Die Moralität von Freundschaften, in: DZPh 45 (1997), 215 f; vgl auch das Themenheft „Freundschaft“, in: Diak. 33 (2002), hier insbes. den Beitrag von G. Fuchs, „Als Gottes Freundschaft über meinem Zelte stand“ (Hiob 29,4). Kulturgeschichtliche Bemerkungen in theologischer Absicht, ebd. 385–392. 2  Vgl. L. A.  Blum, Friendship, Altruism and Morality, London u. a. 1980; Ders., Freundschaft als moralisches Phänomen, in: DZPh 45 (1997), 217–233 (= Nachdr. aus seiner Monographie, 67–83.214–216). 3  F. Nietzsche, Nachgelassene Werke, Bd. 9, Leipzig 11903, 67. 4  R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/3, Freiburg i. Br. 51986, 125. 1

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6.  „Eine größere Liebe als diese hat niemand“

ethischen Kriterien und Profile bestimmen den freundschaftsethischen Diskurs der griechisch-römischen Antike? Gibt es frühjüdische Vorgaben zur joh Freundschaftsethik und welcher Stellenwert kommt ihnen gegebenenfalls zu? Welche Freundschaftsethik vertritt das JohEv? Welche Bedeutung kommt innerhalb der joh Freundschaftsethik dem Tod Jesu zu und wie wird er verstanden?5 Zu welchen Ergebnissen kommt der religionsgeschichtliche Vergleich? Um diese Fragen beantworten zu können, werden im Folgenden zunächst die Grundlinien der antiken Freundschaftsethik in ihrem eigenen Selbstverständnis vorgestellt (2.1–2.3). Im zweiten Schritt wird nach einer möglichen Vermittlungsfunktion von Freundschaftsaussagen im hellenistischen Judentum gefragt (3). Daran anschließend wird die joh Freundschaftsethik im Kontext der theologischen Linienführung des vierten Evangelisten vorgestellt (4.1–4.2). Abschließend wird eine Auswertung vorgenommen, die einen nicht unbedeutenden Mosaikstein der übergreifenden Fragestellung nach dem religionsgeschichtlichen Ort des JohEv freilegt (5). Aufgrund der Knappheit des zur Verfügung stehenden Raumes können nur die wichtigsten Grundzüge angesprochen und reflektiert werden.

2.  Die griechisch-römische Freundschaftsethik In der griechisch-römischen Freundschaftstopik6 verbinden sich individuelle, soziale, politische und philosophische Dimensionen, die hier idealtypisch nach 5 Damit ist das Thema der Deutung des Todes Jesu im JohEv und spezieller der in der Forschung umstrittenen joh Kreuzestheologie angesprochen sowie die mit diesem Thema verbundenen Fragen nach den Momenten von Stellvertretung und Sühne im JohEv; vgl. hierzu: H. Kohler, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium, AThANT 72, Zürich 1987, 45–63; Th. Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums. Das Verständnis des Todes Jesu im Rahmen der johanneischen Inkarnations‑ und Erhöhungschristologie, WMANT 69, Neukirchen-Vluyn 1994; U. Wilckens, Christus traditus, se ipse tradens. Zum johanneischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu, in: E. Brandt (Hg.), Gemeinschaft am Evangelium (FS W. Popkes), Leipzig 1996, 363–383; H. K.  Nielsen, John’s Understanding of the Death of Jesus, in: J. Nissen / ​ S. Pedersen (Hg.), New Readings of John. Literary and Theological Perspectives, JSNT.S 182, Sheffield 1999, 232–254; R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium, WUNT 122, Tübingen 2000, 128–158; Th. Knöppler, Sühne im Neuen Testament, WMANT 88, Neukirchen-Vluyn 2001, 220–252. Vgl. zuletzt die umfassende und instruktive Stellungnahme von J. Frey, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, in: Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151, Tübingen 2002, 169–238 (Lit: 170 f Anm. 2); hier findet sich eine ausführliche Diskussion und Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur; u. a. mit der These von J. Schröter, Sterben für die Freunde. Überlegungen zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: A. von Dobbeler / ​K . Erlemann / ​R . Heiligenthal (Hgg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS K. Berger), Tübingen 2000, 263–287. Für die Einschätzung des Befundes im JohEv sind auch die sühnetheologischen Aussagen des 1 Joh zu berücksichtigen; vgl. Th. Knöppler, Sühne (s. o. in dieser Anm.), 220–233 (zu 1,5–22; 3,16; 4,10; 5,6–8). 6 Vgl. grundlegend: K. Treu, Art. „Freundschaft“, RAC 8 (1972), 418–434; J. C.  Fraisse, Philia. La notion d’amitié ans la philosophie antique, Paris 1974; H. Hutter, The Politics of Friendship. The Origins of Classical Notions of Politics in the Theory and Practice of Friendship, Waterloo

2.  Die griechisch-römische Freundschaftsethik

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den beiden Stichworten Sozialgeschichte und Philosophie unterschieden werden sollen: 2.1  Sozialgeschichtliche Normierungen Freundschaft ist für die Griechen eine elementare soziale Beziehung und Verhaltensnorm, die grundsätzlich egalitär verstanden wird und von dem griechischen Reziprozitätsdenken7 sowie der „agonistischen Konkurrenzmentalität“ bestimmt ist.8 So sehr Freundschaft affektive Momente wie gefühlsmäßige Verbundenheit, Nachsicht und Zuneigung einschließt, so sehr gelten für sie die gesellschaftlichen Normen von Gleichheit und Gegenseitigkeit. Aus einem eher privaten wie aus einem politischen Freundschaftsverhältnis (einzelner Personen oder von Stadtstaaten) leiten sich Rechte und Pflichten ab, die sanktioniert werden (vgl. die geprägte Wendung in griechischen Staatsverträgen: „dieselben Freunde und Feinde haben“). Auch in der Monarchie kam den ritualisierten Freundschaftsverhältnissen eine eminent politische Bedeutung zu.9 Die politische Relevanz der Freundschaftsbeziehungen spiegelt sich auch in der römischen Verwendung von amicitia bzw. amicus wieder (im Unterschied zum privaten Freund = familiaris): Mit amicitia kann die Beziehung zwischen gleichrangigen hochgestellten Personen, die sich gegenseitig politisch unterstützen, oder asymmetrisch zwischen einem Aristokraten und einem Abhängigen (so nannten Klienten ihren Patron amicus) beschrieben werden.10 Unter Kaiser Augustus erhielten möglicherweise alle hohen Funktionäre den Titel amicus Augusti. Die Aufkündigung der kaiserlichen amicitia war lebensbedrohlich (vgl. Sueton, Aug 66; Vesp 4; Tac 58; Tacitus, Hist 3,38).11 1978; G. Herman, Art. „Ritualized Friendship“. The Oxford Classical Dictionary 31996, 611– 613; L. Pizzolato, L’idea di amicizia nel mondo classico e cristiano, Turin 1993; D. Konstan, Friendship in the Classical World, Cambridge 1997; J. T. Fitzgerald (Hg.), Greco-Roman Perspectives on Friendship, SBL.RBS 34, Atlanta 1997.  7  Vgl. Chr. Gill u. a. (Hg.), Reciprocity in Ancient Greece, Oxford 1998. Freilich wird der genaue Zusammenhang zwischen Freundschaft und Reziprozität in der Forschung unterschiedlich eingeschätzt; vgl. D. Konstan, Reciprocity and Friendship, ebd. 279–301.  8  Vgl. H.-J. Gehrke, Art. „Freundschaft I. Sozialgeschichtlich A. Griechenland“, DNP 4 (1998), 669–671, hier 669.  9 Vgl. ebd.; weiterführend: M. Schofield, Political Friendship and the Ideology of Reciprocity, in: P. Cartledge u. a. (Hgg.), Kosmos. Essays in Order, Conflict and Community in Classical Athens, Cambridge 1998, 37–51. 10  Vgl. E. Badian, Art. „Amicitia“, DNP 1 (1996), 590 f; D. Konstan, Reciprocity and Friendship (s. Anm. 7), 296–298. 11  Vgl. hierzu Joh 19,12: Pilatus als „Freund des Kaisers“ (φίλος τοῦ Καίσαρος). Vgl. weiterführend: W. Kierdorf, Freundschaft und Freundschaftskündigung, in: G. Binder (Hg.), Saeculum Augustum I. Herrschaft und Gesellschaft, WdF 266, Darmstadt 1987, 223–245; vgl. auch den instruktiven Beitrag von B. Meiẞner, Hofmann und Herrscher. Was es für die Griechen hieß, Freund eines Königs zu sein, in: AKuG 82 (2000), 1–36, hier 28: „Freunde und Hofangehörige unterstehen der Verfügung des Herrschers, der sie zu seinen Zwecken einsetzt und kommandiert.“ Vgl. auch 1 Kön 4,5: „Freund des Königs“; 3 Esra 8,11.13; und öfter in: Est; 1–2 Makk.

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2.2  Philosophie: Freundschaft zwischen Autarkie und Eudämonie Für die antike Freundschaftsphilosophie gilt grundsätzlich, dass das neuzeitlichmoderne Verständnis von Freundschaft als persönliche, emotionale Verbindung nicht aus der Distanz eingetragen werden darf. Mit Platon und Aristoteles beginnt die philosophische Reflexion auf die Freundschaft12: Der platonische Dialog Lysis lässt eine genaue Definition von Freundschaft offen,13 nennt aber Voraussetzungen bzw. Charakteristika der Freundschaft: sich selbst Freund sein; Ausrichtung der eigenen Seele auf das Gute; Freunde mit ähnlichem Seelenstreben helfen bei diesem Prozess.14 Exkurs: Die aristotelische Freundschaftslehre Der erste umfassend diskutierte Entwurf einer Freundschaftstheorie stammt von Aristoteles (vgl. EN VIII–IX; EE VII; MM II 11–17).15 Seine Ethik zielt grundsätzlich auf das Glück (eudaimonia)16 als das höchste aller erstrebenswerten Güter: Glück definiert er dabei, „als Tätigsein der Seele im Sinne der ihr eigenen Tugend (τὸ ἀνθρώπινον ἀγαθὸν ψυχῆς ἐνέργεια γίνεται κατ’17 ἀρετήν)“ (EN I 7,15; X 718). 12  Vgl. B. von Reibnitz, Art. „Freundschaft II. Philosophisch“, DNP 4 (1998), 671–674. Vgl. weiterführend: F. Dirlmeier, ΦΙΛΟΣ und ΦΙΛΙΑ. Im vorhell. Griechentum, Diss. München 1930; A. Fürst, Streit unter Freunden. Ideal und Realität in der Freundschaftslehre der Antike, Beiträge zur Altertumskunde 85, Stuttgart 1996 (Lit.); A. W.  Price, Love and Friendship in Plato and Aristotle, Oxford 21991; P. Schulz, Freundschaft und Selbstliebe bei Platon und Aristoteles. Semantische Studien zur Subjektivität und Intersubjektivität, Freiburg i. Br. 2000; M. Peachin (Hg.), Aspects of Friendship in the Greco-Roman World, Portsmouth 2001. 13  Vgl. den letzten Satz in Plat Lys 223B: „was aber ein Freund sei, hätten wir noch nicht vermocht ‚auszufinden‘.“ Vgl. weiterführend M. Bordt, Platon, Lysis. Übersetzung und Kommentar, Platon Werke V 4, Göttingen 1998. 14  Vgl. O. Kaiser, Lysis oder von der Freundschaft, in: Ders., Der Mensch unter dem Schicksal. Studien zur Geschichte, Theologie und Gegenwartsbedeutung der Weisheit, BZAW 161, Berlin 1985, 206–231; U. Wolf, Die Freundschaftskonzeption in Platons Lysis, in: E. Angehrn u. a. (Hgg.), Dialektischer Negativismus (FS M. Theunissen), stw 1034, Frankfurt a. M. 1992, 103–129. 15 Vgl. auch MM 2,11–17; Rhet II 4; Pol II 4 (= 1262b7–23). Vgl. Aristote, L’Éthique à Nicomaque. Introduction, Traduction et Commentaire par R. A. Gauthier et J. Y. Jolif (I/1–2; II/1–2), Louvain / ​ Paris 21970 (zu: Eth Nic VIII–IX vgl. II/2, 655–770); J. M.  Cooper, Aristotle on Friendship, in: A. O. Rorty (Hg.), Essays on Aristotle’s Ethics, Berkeley 1980, 301–340; A. W.  Price, Friendship (VIII–IX), in: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik (Klassiker Auslegen 2), hg. v. O. Höffe, Berlin 1995, 229–251; O. Höffe, Aristoteles (BsR 535), München 1996, 243–248; D. Konstan, Reciprocity and Friendship (s. Anm. 7), 283–286; F. M.  Schroeder, Friendship in Aristotle and some Peripathetic Philosophers, in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Greco-Roman Perspectives on Friendship (s. Anm. 6), 35–57; M. Pakaluk, Aristotle, Nicomachean Ethics Books VIII and IX, Oxford 1998; F. Ricken, Freundschaft (s. Anm. 1); A. Payne, Character and the Forms of Friendship in Aristiotle: Apeiron 33 (2000), 53–74; U. Wolf, Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘, Werkinterpretationen, Darmstadt 2002, 213–238. 16  Vgl. einführend O. Höffe, Aristoteles (s. Anm. 15), 212–221; J. L.  Achrill, Aristotle on Eudaimonia (I 1–3 und 5–6) (1974), in: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Klassiker Auslegen 2, (s. Anm. 15), 39–62; U. Wolf, Nikomachische Ethik (s. Anm. 15), 23–56. 17 F. Dirlmeier legt auf das κατά großen Wert: „Dieses Wörtchen ‚gemäß‘ ist ein Schlüssel zur Nikomachischen Ethik. Der Mensch ist glücklich, wenn seine Seele wirkt ‚gemäß‘, ‚im Sinne‘ der in ihr vorhandenen Trefflichkeit. Damit aber haben wir eine Definition, die nicht auf die

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In der Nikomachischen Ethik deutet Aristoteles Freundschaft als Tugend bzw. genauer als mit Tugend verbunden (EN VIII 1,1) und erkennt in ihr einen notwendigen Bestandteil des guten Lebens. Er unterscheidet u. a. zwischen zwei Arten von Freundschaft: die Kameradschaft (ἡ ἑταιρικὴ φιλία; EN VIII 5,3) und die Freundschaft im Raum der Polis (vgl. EN VIII 9,4; 12,1) und nennt drei Gründe für die Freundschaft: den Nutzen (τὸ χρήσιμον), die Lust bzw. das Angenehme (ἡδονή) und das Streben nach dem Guten (ἀγαθός; EN VIII 3,1–3.5). In diesen drei Gestalten von Freundschaft zeigt sich nach Aristoteles die Regel, daß die Formen der Freundschaft soziale Reflexe des Verhältnisses sind, das der Mensch zu sich selbst einnimmt (vgl. EN IX 4,1): „In der Art der Freundschaft, die jemand eingeht, zeigt er, was für ihn im Leben letztlich zählt.“19 Als vollkommen wird diejenige Freundschaft (τελεία φιλία) angesehen, die sich am moralischen Wert bzw. der Tugend des vertrauten Freundes orientiert (Charakterfreundschaft), die dessen Wohlergehen und Glück anstrebt und sich in einem gemeinsamen tugendhaften Leben realisiert (EN VIII 3,6–9).20 Einem Freund gegenüber gilt es, dessen Wohl anzustreben (τἀγαθὰ ἐκείνου ἕνεκα; EN VIII 2,3) und das Gute für den Freund auch öffentlich und unverborgen (NE VIII 3,1) anzustreben. Dieses Wohlwollen kann zwar in manchen Fällen einseitig sein; erst wenn es wechselseitig ist, verdient es den Namen Freundschaft (EN VIII 2,3; vgl. IX 4,1; Rhet 1380b36–1381a1).21 In EN IX 4,5 (vgl. auch 9,1; EE VII 12) betont Aristoteles, daß ein Freund ein „anderes Selbst“ (ἄλλος αὐτός) ist. Deshalb gründet die Freundesliebe wie die Selbstliebe letztlich in der Tugendhaftigkeit, die ein Mensch bei sich selbst und bei anderen liebt. Nur als guter Mensch „kann man zu sich selbst ein freundschaftliches Verhältnis haben und einem anderen Menschen Freund werden“ (EN IX 4,10). Für Aristoteles setzt Freundschaft im engeren, philosophischen Sinn Gleichheit voraus. Hier steht er in der platonischen Tradition des ὅμοια ὁμοίοις (vgl. Plat Lysis 214d: „Dieses also, o Freund, wollen jene, …, andeuten, welche sagen, das ‚Ähnliche ist dem Ähnlichen ein Freund‘ [τὸ ὁμοῖον τῷ ὁμοίῳ φίλον], daß nämlich nur der Gute dem Guten ein Freund ist“; vgl. schon Homer, Od 17,218). In EN VIII 5,5 zitiert Aristoteles den platonischen Satz φιλότης ἰσότης („Freundschaft ist Gleichheit“ bzw. Freundschaft setzt Gleichheit voraus, fordert sie ein oder stellt sie her22).23 Kriterium der Freundschaft ist für Aristoteles dabei die Gleichheit der Tugend, nicht die Gleichheit des Standes, des Geschlechts oder des Alters. Strittig wird in der Forschung die Frage diskutiert, ob die aristotelische (Freundschafts‑) Ethik altruistisch oder utilitaristisch zu interpretieren ist:24 Für Aristoteles ist offensichtlich der gegenseitige Nutzen der Freundschaft, der zu wechselseitigen Verpflichtungen führt, Dynamik ethischer Entwicklung abgestellt ist, sondern auf Beschreibung des vollendeten Zustands, auf Statik“ (F. Dirlmeier, Nachwort, in: Aristoteles. Nikomachische Ethik, RecUB 8586, Stuttgart [1969] 1997, 370). 18  Für die Zitation der EN wird hier und im Folgenden die Zählung der Ausgabe in LCL übernommen. 19  O. Höffe, Aristoteles (s. Anm. 15), 244; vgl. U. Wolf, Nikomachische Ethik (s. Anm. 15), 226–236 (zu Freundschaft und Selbstbeziehung). 20 Vgl. auch EN VIII 12,1: „Freundschaft bedeutet also immer Gemeinschaft, wie wir festgestellt haben“ (vgl. VIII 9,1–2). 21 Vgl. auch EN IV 3,29: καὶ πρὸς ἄλλον μὴ δύνασθαι ζῆν ἀλλ’ ἢ φίλον. 22  Vgl. den Hinweis bei H.-J. Klauck, Kirche als Freundesgemeinschaft. Auf Spurensuche im Neuen Testament (1991), in: Ders., Gemeinde zwischen Haus und Stadt. Kirche bei Paulus, Freiburg 1992, 95–123 (99 f ). 23  Vgl. hierzu auch den Abschluss von Buch IX mit dem Theogniszitat (Vers 35): ἐσθλῶν μὲν γὰρ ἄπ᾽ ἐσθλά. 24  Vgl. die Diskussion bei P. Schulz, Freundschaft (s. Anm. 12), 267–283.

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führend.25 Da bei einem tugendhaften Freund das Sein des Freundes und das erstrebte und geliebte Gutsein zusammenfällt, kann Aristoteles auch davon sprechen, den Freund um seinetwillen zu lieben.26 O. Höffe verweist auf die Nähe zwischen Kant und Aristoteles, denn die aristotelische Ethik sei – entgegen ihrer modernen kommunitaristischen Interpreten – durchaus universalistisch (der bios theoretikos habe eine „transhumane Gültigkeit“).27 Der Freundschaftsbegriff wird bei Aristoteles ausgeweitet von den persönlichen Beziehungen hin zu den politischen, den die Polis betreffenden Beziehungen. Freundschaft ist die Quelle für den Zusammenhalt innerhalb (und außerhalb) der Stadtstaaten. Aristoteles ordnet deshalb auch die verschiedenen Freundschaftstypen den unterschiedlichen Verfassungstypen (EN VIII 10,1–11,4). Damit aber ist die Untrennbarkeit von privat-persönlichen und politischen Freundschaften behauptet, d. h. die aristotelische Definition des Menschen als von Natur aus ‚politisches Lebewesen‘ (Pol I 2) wird hier bestätigt.28 Zusammenfassend kann festgehalten werden: Aristoteles erkennt das Glück des Menschen in der Verwirklichung der der menschlichen Seele gegebenen Tugenden. Dieser Weg verbindet Menschen zur Gemeinschaft und Freundschaft (ἐν κοινωνίᾳ γάρ ἡ φιλία; EN VIII 9,1; vgl. 12,1). Im wechselseitigen Geben, das auch um das Wohl des anderen willen geschieht, und Nehmen erreicht das tugendhafte Leben das Glück. Allerdings kennt Aristoteles keine altruistische Freundschaft in dem Sinne, daß sich das Wohltun und Wohlwollen auf jeden Menschen richtet;29 er fordert keine einseitigen Wohltaten, die allein um ihrer selbst willen und unabhängig von Solidarität und Reziprozität ausgeführt werden sollen.30 Diese Position würde die aristotelische Bestimmung der Eudaimonia, die die Autarkie zur Bedingung hat, sprengen.31 (Ende des Exkurses)

Epikur versteht seine eigene Philosophenschule als Freundesgemeinschaft.32 Freundschaft steht zwar in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem eigenen Autarkieideal; sie ist jedoch ein Gut in sich selbst; sie gibt Sicherheit, befreit von Angst und führt zur Glückseligkeit in einem erfüllten Leben.33 25  Vgl. die Diskussion bei: J. Annas, Plato and Aristotle on Friendship and Altruism, Mind 86 (1977) 532–554; Ch. H.  Kahn, Aristotle and Altruism, Mind 90 (1981) 20–40; D. Konstan, Reciprocity and Friendship (s. Anm. 7), 283–286; Ch. Gill, Altruism or Reciprocity in Greek Ethical Philosophy, in: Ders. u. a. (Hgg.), Reciprocity (s. Anm. 7), 303–328 (317–323); F. Ricken, Freundschaft (s. Anm. 1). O. Höffe, Aristoteles (s. Anm. 15), 245, rechnet mit einem gewissen Altruismus des Aristoteles: „Er richtet sich allerdings nur auf gewisse, durchaus viele, aber nicht alle Menschen. Eine generelle Menschenfreundlichkeit, eine Nächstenliebe nach dem Muster des biblischen Samaritergleichnisses, tritt nicht in den Blick.“ 26  Vgl. U. Wolf, Nikomachische Ethik (s. Anm. 15), 217. 27  Vgl. O. Höffe, Ausblick: Aristoteles oder Kant – wider eine plane Alternative, in: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Klassiker Auslegen 2 (s. Anm. 15), 277–304 (283). 28  Vgl. H. Flashar, Aristoteles, in: Ders. (Hg.), Die Philosophie der Antike 3. Ältere Akademie Aristoteles-Peripatos, Basel 1983, 175–457 (338). 29  Dies ändert sich allerdings bei seinem Schüler Theophrast, der in De pietate bzw. in Über Freundschaft (zur Problematik dieser Schrift, die bei Diog L V 45 angezeigt ist, vgl. O. Regenbogen, Art. „Theophrastos“, PRE Suppl. VII (1940), 1354–1562, hier 1486) die These vertritt, dass alle Menschen miteinander verwandt sind und deshalb auch Freunde sind. 30 Mit Ch. Gill, Altruism (s. Anm. 25), 319 f. 31  Eben dies nimmt U. Wolf allerdings für Aristoteles an; vgl. Dies., Nikomachische Ethik (s. Anm. 15), 237. 32 Vgl. Epikur, ΚΥΡΙΑΙ ΔΟΞΑΙ 27; ΕΠΙΚΟΥΡΟΥ ΠΡΟΣΦΩΝΗΣΙΣ 23; 28; 34; 39; 52; 66; 78; vgl. auch Diog L 8,10; 10,9–11. 33 Vgl. hierzu und zum folgenden: B. von Reibnitz, Art. „Freundschaft“ (s. Anm. 12), 672 f; Ch. Gill, Altruism (s. Anm. 25), 323–325.

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Die Alte Stoa kennt die Freundschaft der Weisen untereinander, die sich in ihrer Einmütigkeit (ὁμοδογματία) erweist. Sie ist frei von Emotionen und persönlichen Beziehungen. Für die erstrebte Eudämonie bedarf es ihrer nicht. Die römische Stoa urteilt ein wenig differenzierter: Cicero konzipiert sein Verständnis von Freundschaft von der Politik und Öffentlichkeit normierenden amicitia (s. o. 2.1) her. Im Laelius definiert er Freundschaft als „Verbindung von intellektueller und moralischer Übereinstimmung (consensio) mit gegenseitiger Zuneigung (cum benevolentia et caritate) (De Amicitia 20).“34 Sie „ist bestimmt, klar und nüchtern, ohne Schwärmen und Gefühlsüberschwang, der dem Freunde zuviel an Eigentum oder gar das Leben opfern würde.“35 Seneca deutet Freundschaft als Mittel zur Selbstvollendung, als wechselseitige Hilfe auf dem Weg zur idealen, philosophischen Lebensweise.36 Dabei zielt die stoische Ethik insgesamt auf die Verwirklichung des Wohlergehens aller Menschen, die sich dem tugendhaften Leben der stoischen Weisen anschließen sollen.37 Dennoch bleibt auch für die Stoa das wechselseitige Wohl maßgeblich.38 Plutarch diskutiert das Freundschaftsthema in den Parallelbiographien und expressis verbis in De amicorum multitudine und De fraterno amore.39 In der Schrift „Von der Vielzahl der Freunde“ definiert er Freundschaft: „Wahre Freundschaft erfordert vor allem drei Dinge: (1) die Tugend als etwas Gutes, (2) den vertrauten Umgang als etwas Angenehmes und (3) den Nutzen als etwas Notwendiges“ (Amic Mult 3). Sodann hält er fest: „Ohne Freunde zu leben, gänzlich isoliert in völliger Einsamkeit, vermögen wir nicht, und wir sind auch nicht dafür geschaffen“ (De fraterno amore 3). Wie schon bei Aristoteles (und anderen) ist auch bei Plutarch der Schmeichler (κόλαξ) das Kontrastbild zum wahren Freund (vgl. Plutarch, Quomodo adulator ab amico internoscatur). Als herausragendes Kriterium für die Unterscheidung zwischen Schmeichler und Freund gilt die παρρησία.40

34  Vgl. B. Fiore, The Theory and Practice of Friendship in Civero, in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Greco-Roman Perspectives on Friendship (s. Anm. 6), 59–76; B. von Reibnitz, Freundschaft (s. Anm. 12), 673. 35  Vgl. R. Feger, Nachwort, in: M. T. Cicero, Laelius – Über die Freundschaft, RecUB 868, Stuttgart 1970, 67–87 (79). 36  Vgl. Ep. 3; 6; 9; Quomodo amicitia continenda sit. Vgl. U. Knoche, Der Gedanke der Freundschaft in Senecas Briefen an Lucilius, in: G. Maurach (Hg.), Seneca als Philosoph, WdF 414, Darmstadt 21987, 149–166. Zum stoischen Freundschaftsbegriff vgl. auch: G. Lesses, Austere Friends. The Stoics and Friendship: Apeiron 26 (1993), 57–75. 37  Vgl. Cicero, De Amicitia 19: „wir sind so geschaffen, dass zwischen allen eine gewisse Gemeinschaft besteht“. 38  Vgl. Ch. Gill, Altruism (s. Anm. 25), 325–328. 39  Zu den beiden genannten Schriften vgl. die kommentierte Übersetzung von H.-J. Klauck, Plutarch von Chaironeia, Moralphilosophische Schriften, RecUB 2976, Stuttgart 1997, 39–52.83– 122. Zum J. T. Fitzgerald (Hg.), Freundschaftsbegriff bei Plutarch vgl. E. N. O’Neil, Plutarch on Friendship, in: Greco-Roman Perspectives on Friendship (s. Anm. 6), 105–122. 40  Vgl. E. N. O’Neil, Plutarch (s. Anm. 39), 116 f; vgl. auch 4.1.2.

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2.3  Grenzfälle der griechisch-römischen Freundschaftsethik Griechische und römische Autoren kennen als Grenzfall der Freundschaft die Hingabe des eigenen Lebens, die sinnvollerweise im Zusammenhang mit der Lebenshingabe für das Vaterland, den Staat bzw. die Polis zu betrachten ist. 2.3.1  Lebenshingabe für das Vaterland, den Staat, die Polis In politischen Kontexten wird die Lebenshingabe für das Wohl des größeren Ganzen von verschiedenen Autoren in unterschiedlichen Kontexten als ethisch vorbildlich vor Augen gestellt:41 Klassisch ist das Lob auf diejenigen, die für das Vaterland zu sterben bereit sind: Hom Il XV 494–499; Thukydides 2,35–46 (Grabrede des Perikles für die gefallenen Athener); Plat Menex 237a–b; Arist EN IX,8; Diod S XI 4,4; Plut Pelop 21,2–3; Moralia 225; Epic Diss IV 1,154–155; Cic Tusc I 102; Vergil Aen V 812–815; Horaz Carm III 2,13–24. In den euripideischen Tragödien begegnen wiederholt Situationen, in denen der stellvertretende Tod eines unschuldigen Menschen eine tragische Notlage überwinden kann (vgl. Eur Heraclid 501–502; Alc 155; 681–684; Tro 386–390; Phoen 911–914.991–998.1090–1098; Iph Aul 1269–1275; 1375–1398; 1553–1555; vgl. auch die römische Rezeption dieses Motiovs in der devotio: Livius, Ab urbe condita 8,9,4–10; Cic Tusc I 89; Verg Aen 5,815: unum pro multis dabitur caput; vgl. 1 Clem 55,1). 2.3.2  Lebenshingabe für einen Freund Neben den politischen Kontexten kennt die hellenistisch-römische Freundschaftsethik die Bereitschaft zur Lebenshingabe für einen Freund:42 Platon, der die Lebenshingabe für einen Freund mehrfach anspricht, bezieht sie weithin auf den Einsatz für einen Geliebten (vgl. Menex 237a–b; Symp 7 [= 179b]: „Ja, gar füreinander sterben mögen Liebende allein, und nicht Männer nur, sondern sogar Frauen“; 179e–180a; 207a–b; 208d). Über den epikuräischen Mathematiker Philonides heißt es: Für „den am meisten Geliebten unter den Verwandten oder den Freunden würde er wohl bereitwillig den Hals darbieten“ (Vita Philonides 22).43 Aristoteles parallelisiert in NE 9,8 die Lebenshingabe für das Vaterland mit der für einen Freund: „Von einem hervorragenden Mann gilt auch die Wahrheit, daß er für Freund und Vaterland sich immer wieder einsetzt und, wenn es nottut, für sie sein Leben gibt.“ Movens für diese weitreichende Tat ist das Schöne, das Edle  Davon deutlich zu unterscheiden ist die Maxime Dritter, die den Tod eines Menschen als vergleichsweise geringeres Übel einschätzen und ihn deshalb befürworten, um ein vermeintlich wichtigeres Ziel zu erreichen; vgl. Joh 11,50 und Jos Ant 18,118. 42 Vgl. G. Stählin, Art. „φίλος κτλ.“, ThWNT 9 (1973), 144–169, hier 151; Der Neue Wettstein I/2, 715–725. 43  Vgl. Der Neue Wettstein I/2, 719. 41

3.  Vermittlungen: Freundschaftsethik im Frühjudentum

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bzw. die Ehre. In dieser Perspektive erscheint die Lebenshingabe für einen Freund als eine Form der Selbstliebe, weil dieses Tun zur höchsten Ehre gereicht (vgl. ebd.). Die Parallelisierung der Lebenshingabe für Freund und Vaterland findet sich auch bei Diogenes (Diog L VII 130), Epiktet (Ench 32,3) und bei Apollonius (Philostr Vit Ap VII 14). Nach dem pythagoräischen Freundschaftsideal kann ein Freund für den anderen als Bürge mit seinem Leben haften (Diod S X 4,3–6; Jambl Vit Pyth 235– 236; vgl. auch Val Max IV 7 ext 1). Vom Lebenseinsatz für den Freund sprechen auch Epiktet (Diss II 7,2–3; Ench 32,2), Epikur (Diog L X 121; 148) und Lukian (Tox 6; 36; 37).44 Auch der stoische Freundschaftsbegriff schließt die Lebenshingabe ein, wie Seneca in lapidarer Kürze festhält: „In quid amicum paro? Ut habeam pro quo mori possim“ (Ep 9,10).

3.  Vermittlungen: Freundschaftsethik im Frühjudentum Die Hebräische Bibel kennt zwar keinen speziellen Begriff für Freundschaft (vgl. aber ‫)אהב ֵ;ר ַע‬, wohl aber das Phänomen, das oft als Liebe gedeutet wird (vgl. Ruth und Noomi; Jonathan und David):45 Nach dem Maß der Selbstliebe ist der Freund wie der Bruder zu lieben (Dtn 13,7; vgl. Lev 19,18; Ps 35,14). Besonders in Notsituationen gilt dem Freund Solidarität und Loyalität (1 Sam 20,8; 2 Sam 16,16 f ). In der jüdischen Tradition gelten Abraham (Jes 41,8; 2 Chr 20,7; Jdt 8,19; Gebet Asarjas 11; Bar 15; vgl. Jak 2,23) und Mose (Ex 33,11 [LXX: καὶ ἐλάλησεν κύριος πρὸς Μωυσῆν ἐνώπιος ἐνωπίῳ, ὠς ἔι τις λαλήσει πρὸς τὸν ἑαυτοῦ φίλον]; 2 ChrVg 20,7) als „Freunde Gottes“ (vgl. schon Plat Leg 716C/D; Symp 193B; Tim 53D). Auch die frühjüdische Literatur greift diese Bezeichnung auf (Weish 7,27; Jub 19,90; ApkAbr 9,6; Philo Abr 129; Her 21; Sobr 56; vgl. Jak 2,23). Die hellenistisch geprägte Weisheitsliteratur nimmt die griechische Begrifflichkeit (φίλος κτλ.) und Thematik auf (Spr 14,20; zu Sir vgl. 3.1.). In Qumran bezeichnen sich die Gemeindemitglieder untereinander als Freunde Gottes (1QH VIII,13; 4Q525 Frg. 5,12; CD III,3 f (= 4Q269 Frg. 2) (Isaak und Jakob); 4Q176a I,10 (Abraham); 4Q372 Frg. 1,21 (Jakob).

44  Vgl. R. I.  Pervo, With Lucian: Who Needs Friends? Friendship in the Toxaris, in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Greco-Roman Perspectives on Friendship (s. Anm. 6), 163–180. 45 Vgl. auch die Hinweise bei R. Scoralick, Freundschaft in der Bibel. Ansatzpunkte zum Weiterdenken, in: Diak. 33 (2002), 393–399.

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6.  „Eine größere Liebe als diese hat niemand“

3.1  Jesus Sirach Das ganze Buch Jesus Sirach46 ist von der Freundschaftsthematik durchzogen: 6,5–1747 betont die hellenistischer Überlieferung geschuldete Skepsis gegenüber der Freundschaft  – L. Schrader spricht sogar von einer „Mißtrauensethik“48  –, die sich erst bewähren muss, und kontrastiert wahre und falsche Freunde – eine Gegenüberstellung, die ebenfalls aus der griechischen Literatur vertraut ist (vgl. auch Sir 12,8–12; 37,1–6). Zur Skepsis gegenüber dem Freund tritt die Betonung der Gottesfurcht als Voraussetzung der Freundschaft sowie der Verletzlichkeit der Freundschaft (vgl. 19,6–19; 22,9–26). Unter Freunden sind Geheimnisse streng zu bewahren (vgl. 27,16–2149). Im Blick auf nachweisbare genetische Abhängigkeiten z. B. zwischen Sir 12,8–12 und der Theognis (6. Jh. v. Chr.) bzw. Aristoteles (EN VIII 3) hinsichtlich des Themas „falsche Freunde“ ist Zurückhaltung geboten. Aber es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Jesus Sirach in engem Austausch mit hellenistischer Bildung und Kultur steht.50 3.2  Philo von Alexandrien Unbestritten gilt Philo als ein herausragender Vermittler zwischen hellenistischem und jüdischem Denken  – mit Auswirkungen auch auf die ethische Theoriebildung (vgl. Philo, De virtutibus).51 Nach G. E.  Sterling steht Philo in der stoischen Tradition, deren universalistische Tendenz er aufnimmt (nicht aber deren gesamtes Weltbild).52 In De plantatione 104–106 spricht Philo vom dem „Baum der Freundschaft bzw. Liebe (φιλία)“, den es zu beschneiden und zu pflegen gilt. Philo 46 Vgl. F. V. von Reiterer (Hg.), Freundschaft bei Ben Sira. Beiträge des Symposions zu Ben Sira. Salzburg 1995, BZAW 244, Berlin 1996; J. Corley, Friendship According to Ben Sira, in: R. Egger-Wenzel / ​I. Krammer (Hgg.), Der Einzelne und die Gemeinschaft bei Ben Sira, BZAW 270, Berlin 1998, 65–71; Ders., Ben Sira’s Teaching on Friendship, BJSt 316, Providence 2002. 47  Vgl. G. Krinetzki, Die Freundschaftsperikope Sir 6,5–17 in traditionsgeschichtlicher Sicht, BZ 23 (1979), 212–233; P. C.  Beentjes, „Ein Mensch ohne Freund ist wie eine linke Hand ohne die Rechte“. Prolegommena zur Kommentierung der Freundschaftsperikope Sir 6,5–17, in: F. V. von Reiterer (Hg.), Freundschaft bei Ben Sira (s. Anm. 46), 1–18. 48  L. Schrader, Unzuverlässige Freundschaft und verläßliche Feindschaft. Überlegungen zu Sir 12,8–12, in: F. V. von Reiterer (Hg.), Freundschaft bei Ben Sira (s. Anm. 46), 19–59, hier 34. 49  Vgl. ausführlich O. Kaiser, Was ein Freund nicht tun darf. Eine Auslegung von Sir 27,16–21, in: F. V. von Reiterer (Hg.), Freundschaft bei Ben Sira (s. Anm. 46), 107–122. 50 Vgl. O. Wischmeyer, Die Kultur des Buches Jesus Sirach, BZNW 77, Berlin 1995. Zum Thema Freundschaft nimmt die Autorin nicht Stellung. Zu einem Überblick über die frühjüdische Ethik und ihre Rezeption hellenistischer Positionen vgl. K.-W. Niebuhr, Hellenistisch-jüdisches Ethos im Spannungsfeld von Weisheit und Tora, in: M. Konradt / ​U. Steinert (Hgg.), Ethos und Identität. Einheit und Vielfalt des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit, Paderborn 2002, 27–50. 51 Vgl. einführend D. Winston, Philo’s Ethical Theory, ANRW II 21,1 (1984), 391–400 (zu φιλανθρωπία). 52  Vgl. (auch zum folgenden) G. E.  Sterling, The Bond of Humanity. Friendship in Philo of Alexandria, in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Greco-Roman Perspectives on Friendship (s. Anm. 6), 203–223; vgl. 222: „Viewed from the perspective of the Jewish community, friendship meant the enlargement of Judaism to all who shared the same friend.“

3.  Vermittlungen: Freundschaftsethik im Frühjudentum

333

wendet sich in metaphorischer Sprache gegen die Auswüchse der Dirnen und Schmeichler, die ihre Liebe um der Selbstliebe willen nur vortäuschen. Wahrer Freundschaft geht es um die „unbestechliche Wahrhaftigkeit“ (τὸ ἀδέκαστον), die dem Freund „um seiner selbst willen“ (τὰ ἀγαθὰ αὐτοῦ χάριν ἐκείνου) dient. Hier und an anderen Stellen kontrastiert Philo Freunde und Schmeichler,53 eine Vorgehensweise, die sich auch bei Aristoteles, Theophrast, Philodemus, Plutarch, Cicero, Stobäus und Maximus von Tyrus findet. Aus der gleichen griechischen Tradition entnimmt Philo die Gegenüberstellung von Schmeichelei (νόσος γὰρ φιλίας ἡ κολακεία; LegAll 3,182) und offener Rede (παρρησία δὲ φιλίας συγγενές; Her 21). Ebenfalls mit seinen Gewährsleuten warnt Philo davor, die Geheimnisse eines Freundes zu verraten (Hypoth 8,7,8). In Plant 106 definiert Philo Freundschaft als echtes Wohlwollen: εὔνοια γάρ ἐστι βούλησις τοῦ τῷ πλησίον εἶναι τὰ ἀγαθὰ αὐτοῦ χάριν ἐκείνου. (= „Denn Wohlwollen ist der Wunsch, daß es dem Nächsten wohl ergehen möge um seiner selbst willen“). Eben diese Deutung des Wohlwollens ist bis in den Wortlaut hinein stoisch (vgl. Andronikus, De passionibus 6).54 Hier zeigt sich die stoisch-altruistische Traditionslinie, in die sich Philo stellt, im Unterschied zum epikuräisch-utilitaristischen Ansatz.55 Wie die mittlere Stoa und der Mittelplatonismus verwendet Philo εὔνοια und φιλία nahezu austauschbar. Ganz nah an die aristotelische Bezeichnung des Freundes als „anderes Ich“ (s. o. 2.2. Exkurs) kommt die Aussage Philos: „Nach Moses aber steht der Freund so nahe, dass er sich nicht von der Seele unterscheidet; sagt er doch: ‚Der Freund, der deiner Seele gleich ist‘“ (Her 83 mit Zitat aus DtnLXX 13,6).56 Während die stoische Philosophie von der Natur der Menschen her auf ein universales Band der Freundschaft zwischen allen Menschen schließt (Cicero, De finibus bonorum et malarum 5,65; De legibus 1,33–34), sieht Philo alle, die dem einen, wahren Gott dienen (d. h. die Israeliten), zur Freundschaft verbunden (vgl. u. a. Virt 179; Spec Leg 1,69–70; Praem 154; VitMos 1,39.303.307.322; 2,42.171.273).57 Philo spricht mit Teilen der griechischen Tradition58 von der Freundschaft mit Gott:59 Abraham, Isaak und Jakob (vgl. u. a. Sobr 56; Abr 50; 129; 235) sowie Mose (VitMos I 156) werden als Musterbeispiele herausgehoben. In Abr 235 wendet Philo das griechische Sprichwort κοινὰ τά φίλων60 auf das Verhältnis von Gott und Abraham an (vgl. ana53 Vgl.

Leg 2,10; 3,182; Agr 164; Conf 48; Migr 111–112; Flacc 19. Schrift wird Andronikus von Rhodos sekundär zugeschrieben; vgl. H. B.  Gottschalk, Art. „Andronikus [4, aus Rhodos]“, DNP 1 (1996), 694. 55 Vgl. G. E.  Sterling, The Bond od Humanity (s. Anm. 52), 208 f. 56 Vgl. Philo Det 33; Virt 103; Spec Leg 1,68. 57 Vgl. ausführlicher G. E.  Sterling, The Bond of Humanity (s. Anm. 52), 216–221. 58  Vgl. Plat Leg 716CD; Symp 193B; Tim 53D; weitere Stellen bei D. Winston, The Wisdom of Solomon, AncB 53, New York 1979, 188 f. (zu Weish 7,27); Aristoteles hingegen hält Freundschaft mit Gott für ausgeschlossen (vgl. EN VIII 7,5–6). 59  Vgl. Plant 90; Her 21; Fug 58; Contempl 90. Vgl. weiterführend E. Peterson, Der Gottesfreund. Beiträge zur Geschichte eines religiösen Terminus, ZKG 42 (1923), 161–202. 60  Vgl. Diog L 8,10 (Pythagoras); Plat Lys 207C; Arist EN 9,8. 54 Diese

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6.  „Eine größere Liebe als diese hat niemand“

log: Gott und Mose nach VitMos 1,147–162; vgl. Ex 33,11). Wie sehr Philo aus der griechischen Freundschaftsethik insgesamt schöpft, zeigt sich auch an weiteren mit φιλία verbundenen Begriffen: ὁμόνοια, συμφωνία, κοινωνία, ἑταιρία und συνήθεια. In ihren freundschaftsethischen Ausführungen sprechen weder Jesus Sirach noch Philo vom Grenzfall der Lebenshingabe für den Freund. In den Makkabäerbüchern, auf die im Folgenden kurz hingewiesen werden soll, fällt der Freundschaftsdiskurs aus, aber es finden sich markante Aussagen zum „Sterben für“ die eigene Glaubensgemeinschaft: 3.3  Die makkabäische Märtyrertheologie 1–2 und 4 Makk bezeugen die frühjüdische Rezeption der griechisch-hellenistischen Vorstellung vom wirksamen Sterben für das Vaterland (πατρίδα) bzw. die eigene politische Gemeinschaft (πόλις).61 Anwendung findet diese Motivübernahme im Blick auf den makkabäischen Kampf gegen die seleukidische Fremdherrschaft. In spezifisch jüdischer Gestalt wird das Sterben für das eigene Volk und Vaterland,62 für das Gesetz63 bzw. den Bund der Väter64 positiv gewertet. Während in 2 Makk 6–7 noch nicht vom stellvertretenden Sühnetod die Rede ist, ist diese Vorstellung in 4 Makk 6,27–29; 17,20–22 gegeben. Die Übernahme alttestamentlicher Kult‑ bzw. Opferterminologie ist eindeutig. H.-J. Klauck sieht zudem einen Einfluss des stellvertretenden Sterbens bei den Griechen gegeben (vgl. Eur Iph Aul 1368–1401).65

4.  Die johanneische Freundschaftsethik Das vierte Evangelium entwickelt eine eigenständige Freundschaftsethik, die im Zusammenhang des Gesamtzeugnisses der joh Theologie wahrgenommen werden will. Insbesondere in Kapitel 15 entfaltet das JohEv den ihr eigenen Zugang zur Frage nach dem Verhalten von Freunden untereinander. Höchster Ausdruck der Freundschaft ist die Hingabe des eigenen Lebens für den Freund. Im 61  Vgl. die Diskussionen bei: M. de Jonge, Jesus’ Death for others and the Death of the Maccabean Martyrs, in: T. Baarda (Hg.)., Text and Testimony (FS A. F. J. Klijn), Kampen 1988, 142–151; J. W. van Henten (Hg.), Die Entstehung der jüdischen Martyrologie, StPB 38, Leiden 1989; Ders., The Maccabean Martyrs as Saviors of the Jewish People. A Study of 2 and 4 Maccabees, JSJ.S 57, Leiden 1997. 62  Vgl. 1 Makk 6,43–46: „er gab sich selbst hin, um sein Volk zu retten“; vgl. 2 Makk 8,21; 4 Makk 6,27–29 (vgl. 2 Makk 14,42). 63  Vgl. 2 Makk 6,27–28: „bereitwillig und aufrecht sterben für die ehrwürdigen und heiligen Gesetze“; 7,9.11.37 f; 8,21; 4 Makk 6,27–29; 13,8–12. 64  Vgl. 1 Makk 2,49–50: „das Leben geben für den Bund unserer Väter“. 65 Vgl. H.-J. Klauck, 4. Makkabäerbuch, JSHRZ III/6, Gütersloh 1989, 670 f.; vgl. auch J. Gnilka, Martyriumsparänese und Sühnetod in synoptischen und jüdischen Traditionen, in: Die Kirche des Anfangs. (FS H. Schürmann), Freiburg i. Br. 1977, 223–246.

4.  Die johanneische Freundschaftsethik

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Folgenden soll den sprachlichen, inhaltlichen und argumentativen Zusammenhängen nachgegangen werden, die der joh Freundschaftsethik ihr spezifisches Profil verleihen. Dazu gehört zunächst ein Blick auf die Sprache der Freundschaft im JohEv (4.1), an den sich Grundzüge einer exegetischen Interpretation von Joh 15,9–17 im Blick auf die Freundschaftsthematik anschließen (4.2). Neben dem JohEv begegnet das Thema der Freundschaft auch in anderen Schriften des NT,66 besonders im LkEv und in der Apg (vgl. Lk 12,4; 14,12 f; 21,16; Apg 2,44–47; 4,32–37; 27,3),67 in Röm 5,6–8 und im Philipperbrief (vgl. 2,25–30; 4,1–20),68 der unter epistolarischen Gesichtspunkten als Freundschaftsbrief eingeordnet werden kann (aber nicht muss).69 In jedem Fall gehört die freundschaftliche Verbundenheit (philophronesis) zu den Grundlagen der antiken Brieftheorie: Cicero bestimmt den Brief als amicorum conloquia absentium (Phil 2,7).70 4.1  Die Sprache der Freundschaft im Johannesevangelium 4.1.1  Freundschaft und Liebe Im joh Sprachgebrauch71 begegnen ἀγαπάω (= lieben) und ἀγάπη (= Liebe)72 bzw. φιλέω (= lieben), φιλία (= Liebe) und φίλος (= Freund) sehr häufig und sind weithin austauschbar. Schon allein diese Beobachtung verweist auf die wechselseitige Durchdringung und semantische Füllung von Liebe bzw. Freundschaft im JohEv. So wird z. B. der geliebte Jünger mit der Wendung „den Jesus liebte“ (ὅν ἠγάπησα in 13,23; 19,26; 21,7.20 und ὅν ἐφίλει in 20,2) ausgezeichnet. Eine semantische Differenzierung wird zwischen den Verben ἀγαπάω und φιλέω nicht erkennbar.73 66  Vgl. die Beiträge in bei J. T. Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech. Studies on Friendship in the New Testament World, NT.S 82, Leiden 1996; vgl. auch: H.J. Klauck, Freundesgemeinschaft (s. Anm. 22); M. Theobald, Art. „Freundschaft I. Griechischhellenistisch und NT“, LThK3 4 (1995), 132 f. 67  Vgl. hierzu: A. C.  Mitchell, The Social Function of Friendship in Acts 2:44–47 and 4:32– 37: JBL 111 (1992), 255–272. 68 Zur Freundschaftsthematik im Phil vgl. R. Metzner, In aller Freundschaft. Ein frühchristlicher Fall freundschaftlicher Gemeinschaft, NTS 48 (2002), 111–131 (Lit.). 69 Vgl. J. T.  Fitzgerald, Philippians in the Light of Some Ancient Discussions of Friendship, in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech (s. Anm. 66), 141–160, hier 142–144; R. Metzner, Freundschaft (s. Anm. 68); vorsichtig urteilt H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr‑ und Arbeitsbuch, utb 2022, Paderborn 1998, 240 f. 70  Vgl. ausführlich hierzu: H.-J. Klauck, Briefliteratur (s. Anm. 69), 148–156. 71  Die Sprache der Freundschaft im Johannesevangelium ist noch wenig gründlich untersucht worden; vgl. aber E. Puthenkandathil, Philos. A Designation for the Jesus-Disciple Relationship. An Exegetico-Theological Investigation on the Term in the Fourth Gospel, EHS.T 475, Frankfurt a. M. 1993. 72 „Geliebter“ für den im Brief angeredeten „geliebten Gaius“ (3 Joh 1) findet sich nur in 3 Joh 2.5.11. Vgl. 3 Joh 15: „Es grüßen dich die Freunde (οἱ φίλοι)!“ 73 Dies gilt auch für Joh 21,15–17; mit R. Schnackenburg, Johannesevangelium III (s. Anm. 4), 432 f.

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6.  „Eine größere Liebe als diese hat niemand“

Das Substantiv φίλος begegnet im JohEv (1) in 3,29, wo Johannes der Täufer sich selbst als „Freund des Bräutigams“ vorstellt, (2) in 11,11, wo Lazarus im Munde Jesu als „unser Freund“ (vgl. auch die Verwendung des Verbs φιλέω in 11,3.36 und von ἀγαπάω in 11,5) bezeichnet wird, (3) in 19,12, wo es um Pilatus als „Freund des Kaisers“ geht, und schwerpunktmäßig in 15,13–15, wo Jesus seine Jünger als „seine Freunde“ bezeichnet. (1) Johannes der Täufer wird im JohEv als vorbildlicher Zeuge für Jesus Christus vorgestellt, der ganz in seinen Auftrag, Zeugnis für Jesus Christus abzulegen, aufgeht. Er ist der Prototyp wahrer Jünger‑ und Zeugenschaft, die in die Jesusbegegnung vermittelt. Auf ihn trifft das selbstgewählte Bild eines „Freundes des Bräutigams“ (3,29) zu: Seine Freude erfüllt sich darin, als Brautführer Menschen zu Jesus zu führen.74 (2) Joh 11,1–12,11 stellt uns mit Martha, Maria und Lazarus drei Geschwister vor Augen – eine familiäre Gemeinschaft in Bethanien, der die Liebe Jesu gilt: „Jesus aber liebte (ἠγάπησα) Martha und ihre Schwester und Lazarus“ (11,5). Die auffällige Betonung der Freundschaft zwischen Jesus und Lazarus (vgl. 11,3.5.11.36), das Bekenntnis der Martha (11,20–27), ihr Dienst (12,2) und die vorgreifende Liebestat der Maria (12,3–8) stellt den Lesern die Geschwister von Bethanien als vorbildliche Freundesgemeinschaft, um die sich Jesus ebenso sorgt, wie sie sich um Jesus sorgen, vor Augen. Die über den Tod hinausreichende Macht der Freundesliebe Jesu und ihre Konsequenzen für die Freunde Jesu, wie sie in 15,9–17 programmatisch formuliert sind, werden in 11,1–12,11 schon erheblich vorgedeutet. (3) Für den joh Prozess Jesu vor Pilatus in 18,28–19,16b ist die Kontrastierung zwischen Pilatus, dem Vertreter des römischen Kaisers, und Jesus, dem „König der Juden“, charakteristisch. In ironischem Rollenwechsel stehen sich Richter und Angeklagter gegenüber. In dem ihm ausgelieferten Juden Jesus kann Pilatus keinen ihm bzw. dem römischen Imperium bedrohlichen „König“ erkennen.75 Als letztes, durchschlagendes Argument berufen sich die anklagenden „Juden“ in 19,12 auf den Anspruch des Pilatus, „Freund (φίλος) des Kaisers“ zu sein. Unabhängig von der zeithistorischen Frage, ob Pilatus den Titel amicus Caesaris tatsächlich in Anspruch nehmen konnte,76 verwendet der Evangelist mit φίλος ein Signalwort, das bisher im corpus evangelii ausschließlich für die Freundschaft Jesu bzw. mit Jesus verwendet wurde. Hier im unmittelbaren Konnex zur Verurteilung Jesu zum Tod wird für die Leser eine gegnerische ‚Freundschaft‘ erkennbar, die den römischen Kaiser, Pilatus als seinen willfährigen Repräsentanten und die Jesus anklagenden „Juden“ zusammenschließt, die sich ausdrücklich zum imperialen Anspruch des römischen Kaisers bekennen (und damit ihre eigene Messaiserwartung verleugnen): „Wir haben keinen König, außer dem Kaiser“ (19,15). 74  Vgl. weiterführend J. Ernst, Johannes der Täufer: Interpretation – Geschichte – Wirkungsgeschichte, BZNW 53, Berlin 1989, 186–216; P. Dschulnigg, Jesus begegnen. Personen und ihre Bedeutung im Johannesevangelium, Theologie 30, Münster 2000, 10–35. 75  Vgl. hierzu „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, in diesem Band, S. 349–368. 76  Vgl. hierzu R. Schnackenburg, Johannesevangelium III (s. Anm. 4), 303. Vgl. Anm. 11.

4.  Die johanneische Freundschaftsethik

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Diese Weise der ‚Freundschaft‘ führt zur Verurteilung und Hinrichtung Jesu. Sie steht innerhalb des joh Erzählgefälles im strengen Kontrast zur Praxis und zu den Normen der Freundschaft, die für Jesus maßgeblich sind (vgl. 11,1–12,1177; 15,13– 15). Indem sich „die Juden“ auf die Seite des Kaisers stellen und sich mit Pilatus als Freunde des Kaisers deklarieren, entstehen subtil, aber doch unübersehbar zwei kontrastierende Freundschaftskreise: Joh 19,12–16 ist als Kontrastbild zu 15,13–15 zu lesen. 4.1.2  Freundschaft und Parresia In der griechisch-römischen Tradition gehört die Parresia zu den maßgeblichen Charakteristika eines Freundes, die ihn von einem Schmeichler bzw. Heuchler unterscheiden (vgl. nur Philodemus, Lib [= Περὶ παρρησίας];78 Plutarch, Adulator).79 Bei Plutarch bilden die drei Momente: Freundschaft, Schmeichelei und offene, freie Rede einen engen Motivzusammenhang, in dem die Leitwerte eines sozialen Systems (Treue, Glaubwürdigkeit, Sicherheit, Charakter und Zuverlässigkeit) sowie ihre jeweiligen Gegenpole angesprochen und reflektiert werden.80 Im JohEv fällt zwar das Motiv der Schmeichelei aus, Parresia und Freundschaft stehen jedoch in einem engen Zusammenhang. Dabei betont das JohEv durchgehend die παρρησία Jesu,81 sein offen-öffentliches Leben (7,4: ἐν παρρησίᾳ εἶναι) und seine freimütige Verkündigung, die nichts zurückhält (vgl. die Wurzel: πᾶν; ῥῆσις). Dem Begriff παρρησία eignen die Bedeutungsmomente: Offenheit, Öffentlichkeit, Freimütigkeit, Zuversicht, Unerschrockenheit im Gegenüber zu Menschen bzw. zu Gott.82 77 Innerhalb von 11,1–12,11 ist besonders auf 11,47–53 hinzuweisen, wo dem machtpolitischen Kalkül in ironischer Verkehrung der Rollen das stellvertretende Sterben Jesu entgegengestellt wird; vgl. J. Beutler, Zwei Weisen der Sammlung. Der Todesbeschluß gegen Jesus in Joh 11,47– 53 (1994), in: Ders., Studien zu den johanneischen Schriften, SBAB 25, Stuttgart 1998, 275–283; K. Scholtissek, Ironie (s. Anm. 75); C. Umoh, The Plot to Kill Jesus. A Contextual Study of John 11,47–53, EHS.T 696, Frankfurt a. M. u. a. 2000; T. Nicklas, Die Prophetie des Kajaphas. Im Netz der johanneischen Ironie: NTS 46 (2000), 589–594. 78  Vgl. die Edition: Philodemus, On Frank Criticism. Introduction, Translation and Notes by D. Konstan u. a., Atlanta 1998. 79  Vgl. D. Konstan, Reciprocity and Friendship (s. Anm. 7), 290–293; Ders., Friendship, Frankness and Flattery, in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery and Frankness of Speech (s. Anm. 66), 7–19; C. E.  Glad, Frank Speech, Flattery, and Friendship in Philodemus, ebd. 21–59; T. Engberg-Pedersen, Plutarch to Prince Philopappus on How to Tell a Flatterer from a Friend, ebd. 61–79; vgl. auch M. Labahn, Die παρρησία des Gottessohnes im Johannesevangelium. Theologische Hermeneutik und philosophisches Selbstverständnis, in: J. Frey / ​U. Schnelle (Hgg. unter Mitarbeit von J. Schlegel), Kontexte des Johannesevangeliums Das vierte Evangelium in religions‑ und traditionsgeschichtlicher Perspektive, WUNT 175, Tübingen 2004, 321–363. 80  Vgl. T. Engberg-Pedersen, Plutarch (s. Anm. 79), 79. 81  Vgl. hierzu: W. Klassen, Παρρησία in the Johannine Corpus, in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech (s. Anm. 66), 227–254; M. Labahn, Die παρρησία des Gottessohnes (s. Anm. 79). 82 Vgl. W. Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, 6. völlig neu bearbeitete Auflage v. K. und B. Aland, Berlin 1988, 1273 f. Zur Zuversicht vor Gott vgl. 1 Joh 3,21; 5,14.

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6.  „Eine größere Liebe als diese hat niemand“

In der attischen Demokratie steht παρρησία als aristokratisches Ideal für die Redefreiheit der freien und gleichen Bürger. Im philosophischen Diskurs meint παρρησία die Offenheit, Freiheit und Unabhängigkeit des Lebens und Sprechens des ethisch Vorbildlichen gegenüber Mitbürgern, Freunden und Feinden (vgl. Arist EN IV 3,27–30 [= 1124b]; IX 2,9 [= 1165a]: πρὸς ἑταίρους δ’ ἆν καὶ ἀδελφοὺς παρρησίαν καὶ ἁπάντων κοινότητα; Philo SpecLeg I 321; Her 14; diese Freiheit wurde von den Kynikern bis zur Schamlosigkeit vorangetrieben; vgl. Diog L VI 69 [zu Diogenes]). Die alttestamentlich-frühjüdische Tradition begründet die παρρησία der Glaubenden im rettenden Beistand Gottes (vgl. LevLXX 26,13; HiLXX 22,26; Weish 5,1), der selbst in παρρησία wirkt (vgl. PsLXX 93,1; 11,6). In jüdisch-hellenistischen Schriften kommt der παρρησία Gottes Offenbarungscharakter zu.83 Die παρρησία der Glaubenden ist von diesem Verständnis her zugleich auch ein Ausdruck „eschastologischen Vertrauens“ und „Gewissheit der künftigen Freude bei Gott“ (4 Esra 7,98; vgl. äthHen 61,1–13; 62,15–16; 69,26; vgl. 1 Joh 2,28; 4,17).84 Auch Philo spricht von der παρρησία, die Gott verleiht (vgl. Her 27), die von ihm her auch auf die Freunde Gottes wie Abraham und Mose übergeht (vgl. Her 14.21: „Freimut aber ist mit Freundschaft verwandt [παρρησία δὲ φιλίας συγγενές]. Denn zu wem anderes als zu seinem Freunde wird man freimütig sprechen?“). Insgesamt steht die frühjüdische Verwendung von παρρησία der joh weitaus näher als die kynische.85 Der joh Jesus betont seine offene und öffentliche Verkündigung im Verhör gegenüber dem Hohenpriester Hannas: „Ich habe öffentlich (παρρησίᾳ) zur Welt gesprochen; ich habe immer in einer Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammen kommen, und im Verborgenen (ἐν κρυπτῷ) habe ich nichts gesprochen“ (18,20; vgl. 7,4.13.26; 10,24; 11,14.54; 16,25.29).86 Dieser auffallend programmatisch formulierte Rückblick auf sein öffentliches Wirken will beachtet werden: Jesus hat nichts im Verborgenen, alles aber offen und öffentlich „zur Welt“ und zu „allen Juden“ gesprochen. Falsches Zeugnis oder Lügen müssten ihm erst einmal nachgewiesen werden (18,23); sonst ist jede Anklage gegenstandslos und jede Verurteilung schweres Unrecht. In den joh Jesusreden im corpus evangelii weist Jesus, der fast durchgehend einem Verhör unterzogen wird, je neu die Wahrheit seines Offenbarungsanspruchs und die Haltlosigkeit der Vorwürfe gegen ihn auf. Anders als seine Gegner (vgl. 7,26: „Und siehe, er redet in Offenheit und sie reden nicht mit ihm“) führt Jesus sein Leben ἐν παρρησία. Mit dieser öffentlich-freimütigen Rede, die ihm zum Verhängnis wird, erfüllt Jesus ein markantes Kriterium antiker Freundschaftsethik: Unter Freunden darf es keine Geheimnisse geben, die man voreinander verborgen hält (vgl. nur Polyb  Mit M. Labahn, Die παρρησία des Gottessohnes (s. Anm. 79) (Kap. 2.3.). H. Balz, Art. „παρρησία“, EWNT 3 (1983), 105–112 (hier 106 f.). 85  Mit W. Klassen, Παρρησία (s. Anm. 81), passim. 86 Zu diesen Vorkommen vgl. jetzt ausführlich M. Labahn, Die παρρησία des Gottessohnes (s. Anm. 79). 83

84 Vgl.

4.  Die johanneische Freundschaftsethik

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Hist XXI 23,11–12; XXXVIII 4,3–5; Sen Ep 3,2–3; Philo, Her 21). Jesus erfüllt dieses Kriterium nicht nur gegenüber seinen Jüngern (vgl. 15,15; siehe dazu unter 4.2.), sondern eben auch in aller Öffentlichkeit  – vor „dem Kosmos“ bzw. vor „allen Juden“. Damit überschreitet er die in der Regel auf eine kleine Zahl, auf status‑ oder tugendbezogene Gleichheit und auf Reziprozität angelegten Beziehungen des antiken Freundschaftsdiskurses erheblich. 18,20 steht in der in 3,16 programmatisch formulierten Linie der universalen Liebe Gottes zur Welt! 4.1.3  Freundschaft und Familienmetaphorik Für das JohEv selbst wie für religionsgeschichtliche Analogien gilt eine enge Verwobenheit von Freundschaftsethik und Familienmetaphorik. In Plutarchs Traktat De fraterno amore werden enge Beziehungen zwischen Bruder‑ und Freundesliebe erkennbar, die schon auf Aristoteles zurückverweisen (vgl. EN VIII 15,5 [1161a]; IX 2,9 [1165a]; VIII 10,6 [1161a]): Plutarch erwähnt die Praxis der Pythagoreer, die sich untereinander als „Freunde“ bezeichnen (vgl. Diog Laert 8,10 [über Pythagoras]; 10,9–11) und sich nach einem Streit noch am gleichen Tage wieder zu versöhnen, wie es sich für „Brüder“ geziehmt (Frat Am 17 [488BC]). Zudem kritisiert er diejenigen, die einem leiblichen Bruder so weit ausweichen, dass sie mit nicht einmal denselben Weg gehen, während sie einen Freund in Briefen als „Bruder“ anreden (Frat Am 3 [479D]). Auch Formen der Gütergemeinschaft unter Brüdern sind charakteristisch für die Freundschaftsethik (Frat Am 1 [478C]).87 Sodann lässt auch die Aufforderung Plutarchs, ungleich verteilte Gaben unter Geschwistern auszugleichen (Frat Am 12 [484B-F]), auf das Gleichheitsideal der antiken Freundschaftsethik schließen.88 Auch im Corpus Johanneum verbinden sich insbesondere vermittels des Liebesgebotes Familienmetaphorik89 (vgl. u. a. 1,11–13; 13,20; 14,2–3.23; 19,25–27; 20,17; vgl. auch: „Kinder“ in 1 Joh 2,1.12.18 u. ö.; „an die auserwählte Herrin und ihre Kinder“ in 2 Joh 1; „die Kinder deiner auserwählten Schwester“ in 2 Joh 13) und Freundschaftsethik: In 15,9–17 erweist sich die joh Freundschaftsethik als eine Entfaltung der geschenkten und erfahrenen Liebe Jesu sowie des in dieser zuvorkommenden Liebe gründenden Liebesgebotes (s. im Folgenden). 87  Vgl. weiterführend H.-J. Klauck, Gütergemeinschaft in der klassischen Antike, in Qumran und im Neuen Testament (1982), in: Ders., Gemeinde – Amt – Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 69–100. 88 Die hier genannten Beobachtungen zu Plutarch verdanken sich H.-J. Klauck, Freundesgemeinschaft (s. Anm. 22), 97–101; vgl. Ders., Die Bruderliebe bei Plutarch und im vierten Makkabäerbuch (1990), in: Ders., Alte Welt und neuer Glaube. Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments, NTOA 29, Fribourg-Göttingen 1994, 83–98. 89  Zur joh Familienmataphorik vgl. H.-J. Klauck, Der erste Johannesbrief, EKK XXIII/1, Zürich 1991, 277–280; „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, in diesem Band, S. 205–229; Ders., In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000, 162–165.179–184; 222–253; J. G. van der Watt, Family of the King. Dynamics of Metaphor in the Gospel According to John, BIS 47, Leiden 2000.

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6.  „Eine größere Liebe als diese hat niemand“

4.2  Der Freund Jesus und seine Freunde: Joh 15,9–17 Der zentrale Bezugstext der joh Freundschaftsethik ist Joh 15,9–17, ein Passus innerhalb der joh Abschiedsrede, der von der Bildrede vom Weinstock (15,1–8) und den Ausführungen über den Hass „der Welt“ gegen die Jünger Jesu (15,18–25) gerahmt wird.90 Die Weinstockmetaphorik und die mit ihr eng verbundenen Immanenz-Aussagen in 15,1–8 haben in den Ausführungen über die Liebe bzw. die Freundschaft in 15,9–17 ein interpretatorisches Äquivalent.91 Die Zuordnung von 15,9–17 und 15,18–25 ergibt sich durch die kontrastierenden Leitwörter ἀγαπάω und μισέω. Insgesamt erfolgt in Joh 15,1–25 eine wechselseitige Ausleuchtung und Vertiefung joh Leitthemen: (a) der reziproken Immanenz zwischen den Glaubenden und dem erhöhten Jesus Christus, (b) der Liebe zwischen Vater, Sohn und den Christen einerseits sowie der Christen untereinander andererseits, (c) der Freundschaftsbeziehung zwischen Jesus und seinen Freunden und innerhalb der Freundesgemeinschaft Jesu sowie (d) der Ablehnung bzw. des Hasses „der Welt“ gegenüber dem Vater, dem Sohn und den an sie Glaubenden. Innerhalb von 15,9–17 ergibt sich eine gewisse Rahmung der Freundschaftsthematik in V. 13–16 durch das Leitmotiv der Liebe in 15,9–12 und 15,17 (ἀγάπη; ἀγαπάω): Genauerhin wird die von den Jüngern geforderte wechselseitige Liebe (V. 12), die ihren alleinigen Grund in der zuvorkommenden Liebe des Vaters und des Sohnes hat (V. 9), als Liebe unter Freunden (φίλοι) ausgelegt: 15,13 a b 15,14 a b c 15,15 a b c d e f g

Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage. Nicht mehr nenne ich euch Knechte, weil der Knecht nicht weiß, was sein Herr tut. Euch habe ich Freunde genannt, weil ich alles, was ich von meinem Vater gehört habe, euch kundgetan habe.

(1) Die joh Freundschaftsaussagen werden kompositorisch und expressis verbis eingeführt als inhaltliche Erläuterungen und Ausleuchtungen derjenigen Liebe, die vom Vater ausgehend dem Sohn gilt (V. 9a) und die vom Sohn an seine Jünger 90  Zur exegetischen und hermeneutischen Bedeutung und Interpretation der joh Abschiedsrede Joh 13,31–17,26, zur detaillierten Auslegung von 15,1–17 und zur Abgrenzung der Verse innerhalb von 15,1–25 vgl. „Abschied und neue Gegenwart“, in diesem Band, S. 369–394; Ders., In ihm sein (s. Anm. 89), 210–339. Die dortigen Ausführungen können im Folgenden vorausgesetzt werden. Den älteren Forschungsstand bespricht kritisch H. Thyen, „Niemand hat eine größere Liebe als die, daß er sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13). Das johanneische Verständnis des Kreuzestodes Jesu, in: C. Andresen / ​G. Klein (Hgg.), Theologia crucis – Signum crucis (FS E. Dinkler), Tübingen 1979, 467–481. 91  Vgl. K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 89), 170 f.298 f.315 f.366 f.

4.  Die johanneische Freundschaftsethik

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weitergegeben wird (V. 9b). Wie die reziproke Vater-Sohn-Immanenz nachösterlich auf das Verhältnis des Sohnes zu den Glaubenden übertragen wird (vgl. 14,17.23; 15,1–8), so wird auch die reziproke Liebe zwischen Vater und Sohn auf die Sohn-Christen-Relation übertragen (vgl. 14,15.21.23; 15,9–10). Diese Vater‑ und Sohnesliebe gilt es zu bewahren, „in ihr zu bleiben“ (15,9c.10). Mit den Imperativen und der Sprache der Immanenz in V. 9–10 knüpft der Abschnitt 15,9–17 an 15,1–8 an (Deshalb können die V. 9–10[11] auch als Überleitung zum Folgenden verstanden werden). Jesus bezeichnet die Lebenshingabe für „seine Freunde“ als den denkbar größten Ausdruck dieser vom Vater ausgehenden und durch ihn die Glaubenden erreichenden Liebe vgl. 1 Joh 3,16). (2) Dazu verwendet der joh Jesus einen für das JohEv typischen Regelsatz: „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (15,13). Genauerhin ist von einer Grenzregel zu sprechen, die nicht von einem singulären, unerreichbaren Einzelfall, sondern durchaus von einem regulären Geschehen handelt. So sehr das ὑπέρ im JohEv grundlegend für die stellvertretende Lebenshingabe Jesu92 reserviert ist (vgl. 6,51; 10,11.15; 11,50–52; 17,19; 18,14), so kann es nachösterlich93 doch auch auf der Grundlage der Lebenshingabe Jesu auf das Verhalten der Jünger Anwendung finden (vgl. 15,13; 1 Joh 3,1694). Damit wird die Aussage über den Grenzfall der Lebenshingabe auf verschiedene Situationen anwendbar: zunächst auf Jesus selbst, dann aber auch auf die Jüngergemeinschaft. Daß Jesus hier von seinem eigenen Tod spricht und diesen als Lebenshingabe für seine Freunde deutet, ist durch den nahen (die Liebe Jesu zu den Jüngern in V. 9b weist zurück auf 13,1, der Liebe Jesu „bis zur Vollendung“ im Tod und durch den Tod hindurch), den weiteren Kontext (Abschiedsrede) sowie das gesamte Evangelium (vgl. die Konkordanzen zu 10,11 [τὴν ψυχὴν αὐτοῦ τίθησιν ὑπὲρ τῶν προβάτων]; vgl. analog 10,15.17–18) sichergestellt. In 15,13 sowie in 15,14–15 stellt Jesus sich mithin als Freund seiner Jünger vor, der bereit ist, die von ihm selbst aufgestellte Freundschaftsregel zu erfüllen. (3) In welchem Sinne deutet Jesus seinen eigenen Tod, wenn er ihn als höchsten Ausdruck der Freundschaftsliebe deklariert? Ist sein Tod nach 15,13–15 als „wirksames Sterben“ (effective death) zum Wohl bzw. Schutz einer Gemeinschaft in der Tradition des griechisch-hellenistischen Denkens zu verstehen? Und ist diese Deutung gegebenenfalls für das ganze JohEv federführend (so K. Berger; J. Schröter)? Oder kommt für die Deutung des Todes Jesu im JohEv nicht auch zwingend das soteriologische Moment der stellvertretenden Sühne hinzu (J. Frey)? An J. Schröter ist die Rückfrage zu stellen, ob er von seinen traditionsgeschichtlichen Differenzierungen (denen hier nicht nachgegangen werden kann) nicht 92  Zu den Motiven der Sühne und der Stellvertretung in der joh Soteriologie (bes. 1,29–34.36; 19,33–35) vgl. Th. Knöppler, theologia crucis (s. Anm. 5), bes. 67–101.201–216.274. 93  Vorösterlich offenbart das Ansinnen des Petrus, Jesu stellvertretendes Sterben durch sein stellvertretendes Sterben zu umgehen (vgl. 13,37: τὴν ψυχήν μου ὑπὲρ σοῦ θήσω), sein Unverständnis und ist zum Scheitern verurteilt (vgl. 13,38). 94 Vgl. in diesem Vers die logische Koordination von ἐκεῖνος ὑπὲρ ἡμῶν und καὶ ἡμεῖς ὀφείλομεν ὑπὲρ τῶν ἀδελφῶν τὰς ψυχὰς θεῖναι.

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6.  „Eine größere Liebe als diese hat niemand“

zu unvermittelt auf die joh Aussage schließt und deshalb die joh Deutung des Todes Jesu nicht angemessen in den Blick bekommt. Die traditionsgeschichtliche Rückfrage kann die joh Interpretation, die nur im Gesamt der erzählerischen und theologischen Linienführung des JohEv erkennbar wird, nicht ersetzen.95 Für das JohEv kann und darf das Gesamtzeugnis der Deutung des Todes Jesu nicht ausgeblendet oder marginalisiert werden. Darauf hat J. Frey überzeugend und mit Nachdruck hingewiesen. Die gegenüber den Synoptikern erheblich gesteigerten proleptischen Todeshinweise und ‑deutungen im JohEv sind ernst zu nehmen:96 die in das 2. Kapitel „vorgezogene“ Tempelreinigung; die Tötungsabsicht der Gegner97 und ihre Versuche, ihn zu ergreifen98 bzw. zu steinigen99; die Hinweise auf Judas als Verräter100; die Pascha-Hinweise (vgl. 2,13.23; 6,4; 11,55); Jerusalem als Ort der Gegner Jesu und seines Todesgeschicks (vgl. 1,19; 2,13.23; 4,45; 5,1 f; 10,22; 11,18.55; 12,12); das Wort Jesu in 9,4 (vgl. 13,30); die Salbung Jesu in Bethanien (vgl. 12,7); die Erzählkommentare in 2,22; 7,39; 12,16; die Abschiedsreden; die „Stunde“; das Erzähltempo, das sich zur Passion hin zunehmend verlangsamt; das Täuferbekenntnis in 1,29: „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegträgt“; Jesu Worte in 6,51: „Mein Fleisch für das Leben der Welt“; 10,11.15.17: „mein/sein Leben [hingeben] für die Schafe“; 11,51 f: „[sterben] für das Volk“ und „damit die zerstreuten Kinder Gottes zur versammelt werden in eins/zur Einheit“; die soteriologische Deutung der Fußwaschung in 13,8–10; Jesu Worte in 12,24–26; 15,13 und 17,19; die Worte über die Erhöhung (3,14 f; 8,28; 12,32.34) und Verherrlichung Jesu (7,39; 11,4) sowie die an Tod und Auferstehung anschließende Gabe des Geistes (7,19; 19,30) und die nachösterliche Memoria der Jünger (2,22; 12,16). Die Deutung des Todes Jesu als stellvertretende Sühne ergibt sich insbesondere aus 1,29 („Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünder der Welt wegträgt“; vgl. 1,36; 10,41); 11,51–52 und 17,19 (vgl. auch 1 Joh 1,7; 2,2; 4,10).101 Auch die ὑπέρ-Aussagen in 6,51; 10,11.15; 11,51–52; 15,13; 17,19 und 18,14 sind in diesem joh Zusammenhang zu verstehen.102  95  Vgl. auch die berechtigte Kritik von J. Frey, theologia crucifixi (s. Anm. 5), 197 f.213 f. Auch K. Berger (Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 1994, 188; Im Anfang war Johannes, Stuttgart 1997, 238), der sich sonst gerne (und zu Recht) von R. Bultmann distanziert, scheint im Blick auf die kritischen Reserven gegenüber dem Thema Sühne deutlich von R. Bultmann beeinflusst; vgl. die forschungsgeschichtlichen Ausführungen zu R. Bultmann, E. Käsemann, U. B.  Müller, J. Becker u. a. von J. Frey, theologia crucifixi (s. Anm. 5), 169–191.204.  96 Zum folgenden vgl. J. Frey, theologia crucifixi (s. Anm. 5), 191–200; und vor ihm: Th. Knöppler, theologia crucis (s. Anm. 5), passim.  97 Vgl. 5,18; 7,1.19 f.25; 8,37.40; 11,53; 12,10.  98 Vgl. 7,30.32.44; 8,20; 10,39; 11,57.  99 Vgl. 10,31–33; 11,8. 100  Vgl. 6,64 f.70 f; 1,4 (vgl. 13,2). 101  Vgl. hierzu die Ausführungen bei J. Frey, theologia crucifixi (s. Anm. 5) passim (Lit.). 102  Von einem unverbundenen Nebeneinander der beiden Deutungen des Todes Jesu als Liebestat zum Schutz der Gemeinschaft und als stellvertretende Sühne im Urchristentum – so die These von J. Schröter, Sterben (s. Anm. 5) – kann mindestens im Blick auf das JohEv nicht gesprochen werden.

4.  Die johanneische Freundschaftsethik

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Auch wenn in V. 13 isoliert betrachtet und rein formaliter ‚nur‘ von einem ‚Sterben für die Freunde‘ die Rede ist, expressis verbis also nicht unmittelbar von einem stellvertretend-sühnenden Sterben gesprochen wird (so sehr die Formulierung diese Deutung einschließen kann), ist der Gesamtzusammenhang der joh Deutung des Todes Jesu wahrzunehmen und auch für 15,13 zu berücksichtigen. Dann ergibt sich folgende Schlussfolgerung: Johannes deutet den Tod Jesu, den er in toto als sühnende Stellvertretung versteht (wozu er auf frühchristliche Traditionen zurückgreifen kann, die wiederum Motive alttestamentlicher und frühjüdischer Theologie aufnehmen), in Joh 15 im Paradigma der Freundschaft, die er freilich gegenüber griechisch-römischen und hellenistisch-jüdischen Auslegungen charakteristisch reformuliert – eine Interpretation, die wiederum auf den besonderen Charakter des Todes Jesu im Verständnis des JohEv rückverweist: (4) In Vers 15 begründet Jesus die Anrede der Jünger als Freunde im Kontrast zu ihrer Einschätzung als Knechte bzw. Sklaven (δούλοι): Dazu verwendet er erneut einen Regelsatz: „Denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut“ (V. 15bc). Diese reguläre Asymmetrie wird von Jesus dadurch einseitig aufgebrochen und überwunden, dass er seinen Freunden alles bekannt macht, was er von seinem Vater gehört hat (V. 15c–e). Damit erfüllt er von seiner Seite aus ein verbreitetes Ideal im antiken Freundschaftsdiskurs (Parresia als vorbehaltlose Mitteilung, die unter Freunden Geheimnisse ausschließt; Teilen der Güter). Inhaltlich bezieht sich die Gütergemeinschaft, die der joh Jesus seinen Freunden anbietet, auf die reziproke Güter‑ und Besitzgemeinschaft von Vater und Sohn (vgl. 10,14; 16,14–15; 17,9–10), auf das heilvolle „Wissen“ vom Vater, das Jesus den Seinen offenbart und mit ihnen teilt, letztlich auf die Aufnahme in die personale Communio zwischen Vater und Sohn. Dabei unterläuft und zerstört Jesus die vorgegebenen Rollenzuweisungen zwischen Kyrios und Doulos. Jesus selbst macht aus Knechten Freunde, indem er seine Sendung vollzieht: in der Verkündigung der Liebe des Vaters in Wort und Tat und in seiner diese Verkündigung besiegelnden liebenden Lebenshingabe. Joh 15,1–17 hat ein bedeutendes Vor-Spiel in der Fußwaschungserzählung 13,1– 17; anders formuliert: 15,1–17 ist als relecture von 13,1–17 zu lesen.103 Beide Perikopen deuten den Tod Jesu in der Konsequenz seiner Sendung vom liebenden Vater (vgl. 13,1; 15,9) als rettend-dienende Liebestat für die Jünger. Beide Perikopen begründen und verankern das an die Jünger gerichtete Liebesgebot in dem liebenden Tun Jesu und reflektieren über das Verhältnis zwischen „Herr“ (bzw. „Lehrer“) und „Knecht“ (13,14–16) bzw. „Freund“ und „Knecht“ (15,15). Ebenso wie die Fußwaschung durch Jesus eine radikale Umwertung der Werte beinhaltet, 103 Vgl. die ausführliche Begründung dieser These bei A Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169, Göttingen 1995, 60– 110. Zur Bedeutung des Paradigmas der relecture für das JohEv vgl. J. Zumstein, Kreative Erinnerung, Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999; K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 89), 131–137.198–202.340–343.357–362; Ders., Relecture – zu einem neu entdeckten Programmwort der Schriftauslegung (mit Blick auf das Johannesevangelium), BiLi 70 (1997), 309–315; „Relecture und réécriture“, in diesem Band, S. 173–202.

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6.  „Eine größere Liebe als diese hat niemand“

so ist auch die Lebenshingabe Jesu ein Freundschaftsdienst, der herkömmliche soziale Hierarchien konterkariert. Dabei stellt die soteriologische Deutung der Fußwaschung in 13,6–11 klar, dass Jesus in und mit diesem Tun seinen Tod als heilsvermittelnd versteht und darstellt.104 Diese heilsmittlerische Deutung des Todes Jesu in 13,1–17 als Bezugstext, hat dann auch Gewicht für die fortschreibende Deutung des Todes Jesu in 15,12–17 als Rezeptionstext.105 (5) Im Unterschied zum antiken Freundschaftsideal, das auf Gleichheit und Reziprozität abhebt, betont das JohEv die Asymmetrie der Zuwendung Jesu. In 15,16 betont Jesus nachdrücklich: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt …“ (vgl. 6,70; 13,18; 15,19). Jesu offene und freimütige Verkündigung und Offenbarung (vgl. 4.1.2) der Liebe des Vaters (vgl. 15,15: „alles, was ich von meinem Vater gehört habe“) und die Wahl seiner Jünger geschieht aus eigener Initiative bzw. genauer aus Sendungsgehorsam gegenüber seinem Vater. Die Verkündigung Jesu, seine Wahl der Jünger und die Aufgipfelung seines Offenbarerwirkens in der stellvertretenden Lebenshingabe geschehen zunächst einseitig und ohne Gegenleistung seitens der Jünger. M.a.W.: Die Selbsthingabe Jesu in den Tod ist für das JohEv nicht ein seltener Grenzfall innerhalb einer bestehenden, sich wechselseitig bereichernden Freundschaft, sondern allererst die Begründung der nachösterlichen Freundschaft zwischen Jesus und den Jüngern. (6) Auf diesem, von Jesu Sendung allein begründeten Fundament kann die nachösterliche Gemeinschaft der Freunde Jesu wachsen. Nachösterlich gilt auf der Grundlage der erwiesenen Freundschaft Jesu (als Indikativ) der ethische Imperativ: die antwortende Liebe der Jünger Jesu gegenüber Jesus und untereinander. Die joh Ethik und mit ihr die Freundschaftsethik in 15,13–15 ist responsorische Ethik.106 Innerhalb dieser Antwort auf die erwiesene Freundschaftsliebe Jesu gilt dann neu die wechselseitige Liebe zwischen Jesus und seinen Freunden sowie die wechselseitige Liebe der Jünger Jesu untereinander107 – in dieser Hinsicht ist eine Analogie zum Gleichheits‑ und Reziprozitätsideal antiker Freundschaftsethik gegeben. Diese nachösterliche Liebe in der Gemeinschaft der Freunde Jesu hat ihr Maß an der erfahrenen Liebe Jesu: Im Grenzfall kann die Liebe zu Jesus bzw. zu seinen Freunden auch die Hingabe des eigenen Lebens einschließen. In diesem Sinne wird die 104  Vgl. bei A. Dettwiler (Gegenwart [s. Anm. 103], 72–74) die überzeugende Zurückweisung der Deutung, die soteriologische und die ethische Deutung der Zeichenhandlung Jesu stünden in Konkurrenz zueinander. M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, HBS 34, Freiburg i. Br. 2002, 130–138, erneuert für Joh 13 die die literarkritische Dissoziierung nach dem klassischen Drei-Schichten-Modell, obwohl er die „Verzahnung beider“ (138 Anm. 362) Deutungen der Fußwaschung, die er dem ‚Redaktor‘ zuschreibt, sieht. 105  Zu dieser Terminologie und zur wechselseitigen, intertextuellen Beeinflussung von Bezugs‑ und Rezeptionstexten vgl. A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 103), 46–52. 106  Vgl. O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995, 375–383; K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 89), 310–312. 107 Vgl. A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 103), 98: „Die geforderte Liebe der Jünger untereinander ist nicht die Bedingung, sondern die Konsequenz resp. die folgerichtige Äusserung des religiösen Status der Jünger als Freunde (φίλοι) Jesu.“

5. Auswertung

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Regel Jesu „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (15,15) jetzt auch für die Jünger Jesu anwendbar (vgl. 1 Joh 3,16).

5. Auswertung Im Rückblick auf die zurückgelegten Stationen (vgl. 2–4) kann die schon eingangs zitierte These von R. Schnackenburg: „Der Satz von Jesu verpflichtender Freundesliebe zeigt die Aufnahme hellenistischen Denkens und Fühlens im joh. Christentum“108 präzisiert werden: (1) Griechisch-hellenistische und römische Freundschaftspositionen sind (mit unterschiedlichen Akzenten) von den Charakteristika der gegenseitigen Solidarität, des gemeinsamen Lebens, des gleichgerichteten Tugendstrebens, des wechselseitigen Nutzens (Reziprozität), der offenen Rede, die Geheimnisse voreinander ausschließt (Parresia), und der Öffentlichkeit geprägt. Dies gilt vorzugsweise für symmetrische (nur teilweise auch für asymmetrische) Beziehungen privater oder politischer Natur. Freundschaftsnormen gelten strikt innerhalb der eng umgrenzten Freundschaftsbeziehungen (die die Stoa allerdings tendenziell universal auslegt). Auch die Grenzregeln (Lebenshingabe für das Vaterland, für einen Freund) gelten innerhalb eines klar abgesteckten Rahmens. Eine Verpflichtung zu einer einseitigen Verwirklichung von Freundschaft gibt es nicht. (2) Die frühjüdischen Freundschaftsaussagen (vgl. Jesus Sirach; Philo) zeigen deutlich hellenistische Einflüsse. Während Jesus Sirach aus seiner weisheitlichen Skepsis an eng umgrenzte Freundschaftsbeziehungen denkt, kann Philo alle diejenigen zur Freundschaft verbunden sehen, die dem einen, wahren Gott dienen. Philo rezipiert zudem die Verbindung von Parresia und Freundschaft (vgl. 4.1.2), setzt jedoch mit der biblisch-frühjüdischen Verwendung von παρρησία auch eigene Akzente: Anders als in der nichtjüdischen Umwelt wird παρρησία im Frühjudentum als Moment und Ausdruck der Gottesbeziehung verstanden. Auffälligerweise sprechen die frühjüdischen Zeugnisse nicht von dem Grenzfall der Lebenshingabe für einen Freund (2 und 4 Makk kennen allerdings die Lebenshingabe für das „Gesetz“; vgl. 3.3). So können die frühjüdischen Freundschaftsaussagen teilweise, aber nicht vollständig als eine Brücke zur joh Sprache und Theologie der Freundschaft angesehen werden. (3) Im Zentrum der joh Theologie steht die Auslegung und Verkündigung der eschatologischen Gottesoffenbarung in Jesus Christus. Die joh Freundschaftsethik als Teil der theologischen Linienführung des JohEv gewinnt ihr Profil aus einer unübersehbaren Anknüpfung an hellenistische und hellenistisch-jüdische Vorgaben (u. a. die enge Verbindung von Freundschaftsethik und Familienmetaphorik; vgl. 4.1.3) und zugleich einer inhaltlichen Neubestimmung, die  Vgl. Anm. 4.

108

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6.  „Eine größere Liebe als diese hat niemand“

sich aus der ‚einseitigen‘ Lebenshingabe Jesu Christi109 ergibt. Auf der Grundlage dieser Lebenshingabe Jesu, die das Leben in Fülle wirkt, erwächst die von den Christen geforderte Freundschaftsliebe. Da die Lebenshingabe für einen Freund als ethischer Grenzfall im Frühjudentum nicht thematisiert wird, ist in Joh 15,13 eine deutlich erkennbare Analogie zum hellenistisch-römischen Diskurs gegeben. Eine genetische Ableitung ist jedoch weder verifizierbar noch falsifizierbar.110 Als treibendes Moment für diese joh Motivaufnahme ist die soteriologische und davon abgeleitet auch die ethische Deutung des Todes Jesu, um die es in der joh Abschiedsrede 13,31–17,26 insgesamt geht, anzusprechen. Dabei darf die joh Reformulierung bzw. ‑interpretation der griechisch-römischen Tradition nicht übersehen werden. Im JohEv wird bei aller Anknüpfung an das hellenistische Freundschaftsethos der Kontrast bewusst betont: Jesu Freundschaft ist einseitig, wird ohne Vorbedingungen geschenkt, ist universal und überwindet soziale Hierarchien (von Knechten zu Freunden). Die freiwillige Lebenshingabe Jesu in den Tod wird als ein soteriologisch einzigartiger, stellvertretender Freundschaftsdienst verstanden, die die „Freunde Jesu“ ermächtigt und beruft, in der Freundesgemeinschaft Jesu zu leben. Ihre antwortende Liebe findet ihr Maß an der Gleichheit, Geschwisterlichkeit und Gegenseitigkeit stiftenden, bis zur Lebenshingabe erwiesenen Freundschaftsliebe Jesu. Abschließend kann festgehalten werden: Das JohEv erweist sich als Zeugnis einer eigenständigen Theologie des urchristlichen Evangeliums, die über einen erstaunlich weiten religionsgeschichtlichen Horizont verfügt und diesen auch für die eigene Botschaft und ihre Rezeption bei unterschiedlichen Adressaten fruchtbar zu machen versteht.111 Insofern ist dem JohEv eine erhebliche kultur‑ und zeitübergreifende ‚ökumenische‘ Reichweite eigen, die sich der hohen Inkulturationsleistung der joh Theologie verdankt und die bis in die Gegenwart noch keineswegs ausgeschöpft ist. Der Sitz im Leben des JohEv kann nicht monokausal bzw. monokulturell auf eine einzige, religionsgeschichtlich verrechenbare Situation und Konstellation festgelegt werden.

109 Auch

Paulus hat in Röm 5,6–8 die unvergleichliche Liebestat Gottes in Jesus Christus scharf herausgestellt, indem er von der einseitigen ‚Vorleistung‘ Jesu spricht, die ausgerechnet die Gottfernen, die Sünder, erreichen will; vgl. 5,8: „als wir noch Sünder waren“. Vgl. einführend H-J. Klauck, Freundesgemeinschaft (s. Anm. 22), 111–113. 110  Zur Terminologie und Unterscheidung zwischen Analogie und genealogischer Ableitung im religionsgeschichtlichen Vergleich vgl. G. Seelig, Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart. Studien zur Geschichte und Methode des religionsgeschichtlichen Vergleichs in der neutestamentlichen Wissenschaft, ABG 7, Leipzig 2001, bes. 312–335 (vgl. zu dieser Grundlagenstudie auch die Rez. von R. Deines, ThLZ 128 [2003], 48–52). 111 Vgl. hierzu auch exemplarisch die Auslegung des Johannesprologs bzw. der Licht-FinsternisMetaphorik im JohEv von O. Schwankl, Licht (s. Anm. 106), bes. 80–113.384–388.

IV. Christologie

1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49) Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. … Das Mögliche umfasst jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes.“

Mit diesen Worten weist Robert Musil1 auf die Grenzlinie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit hin, an der die Ironie angesiedelt ist. Der moderne, deutlich pejorative Gebrauch von Ironie als „feiner, verdeckter Spott, mit dem man etwas dadurch zu treffen sucht, daß man es unter dem auffälligen Schein der eigenen Billigung lächerlich macht,“2 kann den Blick für die hermeneutisch-positive Bedeutung der Ironie, wie sie literaturwissenschaftlich und ‑geschichtlich belegt ist (s. u. 1.), verstellen und hat dies wohl auch im Bereich der Schriftauslegung getan. Von den „Möglichkeiten“ und „Absichten“ Gottes an den Grenzen des menschlichen Wirklichkeitssinns spricht die Theologie, gerade auch die biblische Theologie. Da keimt der Verdacht, dass Ironie und biblische Theologie einander etwas zu sagen haben. Mit Blick auf das JohEv und hier insbesondere die joh Christologie soll diesem Verdacht nachgegangen werden. Das Johannesevangelium, „die reifste Frucht der Evangelienproduktion“3, geht einen speziellen Weg, die christologisch-soteriologische Identität Jesu für die Menschen zu erschließen. Als These sei vorangestellt: Der Weg zur gelingenden Begegnung mit Jesus, der Weg zum christologischen „Fund“ (vgl. 1,42.45), der Weg zur „Erkenntnis“ Jesu ist ein Weg durch hintergründige Rollenwechsel und ironische Verkehrungen hindurch. So erst sieht der Evangelist Johannes die Christus-Erkenntnis vor vorschnellem Zugriff und Vereinnahmungen geschützt, so erst erschließt sich die überraschende Heilsfülle des Geschenkes Gottes (vgl. 4,10).

1 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften I, Reinbek 1988, 16. Vgl. den Hinweis auf R. Musil bei: U. Japp, Theorie der Ironie (Das Abendland. NF 15), Frankfurt a. M. 1983, 20–23 (et passim); H. M.  Schmidinger, Ironie und Christentum, PhJ 97 (1990), 277–296, hier 295. 2  Vgl. Das Fremdwörterbuch (Duden Bd. 5), Mannheim 31974, 342; vgl. ebd. auch eine zweite Bedeutung für Ironie: „paradoxe Konstellation, die einem als frivoles Spiel einer höheren Macht erscheint, z. B. eine Ironie des Schicksals, der Geschichte.“ 3  R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThKNT IV/1, Freiburg i. Br. (1965) 71992, 2. Zur neuesten Johannesforschung vgl. K. Scholtissek, Johannine studies. Surveying recent research with special regard to German contributions, Currents in Research. Biblical Studies 6 (1998), 227–259.

350

1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49)

Die vorliegende Abhandlung hat diese Gliederung: Zu Beginn sensibilisieren die Ausführungen zur Ironie in der Antike für das Phänomen (1). Die folgenden Kapitel weisen die joh Verwendung von Ironie und ironischen Rollenwechseln an zentralen Textzusammenhängen auf (2–3). Abschließend wird nach der christologischen und pragmatischen Intention sowie dem spirituellen Interesse des Evangelisten gefragt, die in dieser Darstellungsart erkennbar werden (4).

1.  Ironie: Urteile in der antiken Literatur4 „Grundsätzlich kommt der Ironie in der Antike die Bedeutung einer Verstellung zu.“5 Als rhetorisches Stilmittel ist die Verstellung in der Rede (vgl. dissimulatio oder simulatio bei Cic Or II 67,2706; Quint Inst VI 2,15; IX 2,44) eine „zeitlose Möglichkeit des kunstvoll-indirekten Sprechens und Schreibens.“ 7 (1) Sokrates gilt als der berühmteste und zugleich umstrittene Eiron der Antike:8 Im platonischen „Symposion“ (Plat Symp 216d7–e5) klingt der Vorwurf an, dass Sokrates sich mit seinem Wissen des Nicht-Wissens bewusst „gegen die Menschen verstelle (εἰρωνευόμενος) und mit ihnen sein Leben lang Scherz treibe“. In Plat Rep 336b7–337a7 wird der Vorwurf an die sokratische Redekunst aufgegriffen, er weiche durch „Verstellung“ (εἰρωνεία)9 bewusst der geforderten direkten Antwort auf eine an ihn gerichtete Frage aus. Im Sinne Platons freilich fallen die Vorwürfe gegenüber Sokrates ironischerweise auf ihre Urheber zurück, da sie die 4  Vgl. E. Behler, Klassische Ironie – Romantische Ironie – Tragische Ironie, Darmstadt 1972; H. Weinrich, Art. „Ironie“, HWP 4 (1976), 577–582 (Lit.); T. G.  Rosenmeyer, Irony and tragic choruses, in: J. H. D’Arms / ​J. W. Eadie (Hgg.), Ancient and modern. Essays in honour of G. F. Else, Ann Arbor 1977, 31–44; M. Walser, Selbstbewusstsein und Ironie. Frankfurter Vorlesungen (Edition Suhrkamp. NF 90), Frankfurt a. M. 1981; U. Japp, Theorie der Ironie (s. Anm. 1); Ders., Art. „Ironie“, TRE 16 (1987/1993), 287–292 (Lit.); J. Mittelstrass, Art. „Ironie“, EPhW 2 (1984), 295– 297 (Lit.); M. Müller, Die Ironie. Kulturgeschichte und Textgestalt, (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft 149), Würzburg 1995, bes. 3–25; C.F. Geyer, Art. „Ironie“, LThK3 5 (1996), 600 f (Lit.). Vgl. die Hinweise bei G. W.  MacR ae, Theology and Irony in the Fourth Gospel (1973), in: M. W. G. Stibbe (Hg.), The Gospel of John as Literature. An Anthology of Twentieth-Century Perspectives, NTTS 17, Leiden 1993, 103–113, hier: 104–107. Weiterführend ist der Beitrag von H. M.  Schmidinger, Ironie (s. Anm. 1), dem freilich in einem Punkte widersprochen werden muss (s. Anm. 16). 5  U. Japp, Ironie (s. Anm. 1), 289. 6  „(269) Urbana etiam dissimulatio est cum alia dicuntur sentias … cum toto genere orationis severe laudas, cum aliter sentias as loquare.“ 7  U. Japp, Ironie (s. Anm. 1), 289. 8  Vgl. Cicero, Or. II 270: „… doch nach der Aussage von Leuten, die sich darin besser auskennen, hat wohl Sokrates in dieser Kunst der Ironie (ironia) und der Verstellung (dissimulantia) alle übertroffen“. Zur sokratischen Ironie vgl. G. Vlastos, Socratic irony, CQ 37 (1987), 79–96. Vgl. auch: W. Boder, Die sokratische Ironie in den sokratischen Frühdialogen, Amsterdam 1973; D. Roloff, Platonische Ironie. Das Beispiel: Theaitetos (BKAW 54), Heidelberg 1975 (zu: Plat Phaidr 275–278; Theait 151D7–186E12; 187A1–201C7; 201C8–210B3). 9 Die Grundbedeutungen von εἰρωνεία sind: (1) Verstellung: (a) Anschein von Unwissenheit, (b) Scheinheiligkeit (vgl. 2 Makk 13,3; Diogn 4,1); (2) Mangel an Einsicht, Leichtherzigkeit.

1.  Ironie: Urteile in der antiken Literatur

351

Verstehensgrenzen der Anklagenden aufzeigen.10 Diese pejorative Deutung der Ironie (als „Tiefstapelei“ bzw. „Kleintun“) findet sich auch bei Aristophanes11 und Theophrast12. Die sokratische Ironie erfüllt positiv die zweifache Funktion, „erstens das Scheinwissen der anderen zu entlarven und zweitens das richtige Wissen im anderen und durch den anderen herauszustellen. Beide Funktionen, die limitierende und die mäeutische, können aber in der sokratischen Ironie zugleich präsent sein.“13

(2) Aristoteles deutet die εἰρωνεία des εἴρων als „Untertreibung“ im Gegenüber zur „Übertreibung“ (ἀλαζονεία) des ἀλαζών. Da der „Übertreibende“ auf den eigenen Vorteil bedacht sei, sei dieser mehr zu kritisieren als der „Untertreibende“, für den Aristoteles Sokrates als Beispiel anführt (Aristot Eth Nic IV,7,14). Beide sind der mittleren Einstellung, „der Wahrheit (bzw. Aufrichtigkeit) (ἀλήθεια)“, ethisch unterlegen (vgl. Aristot Eth Nic II 7,12; IV,6,9–IV,7,17).14 (3) Bei Cicero Or III 3,203 (alia dicentis ac significantis dissimulatio) und Quintilian findet sich in Inst VI 2,15 die klassische Definition: Die Ironie will „als das Gegenteil von dem, was ausgesprochen wird verstanden werden“. Quint Inst IX 2,44 überträgt dieses Phänomen auf die Perspektive des Hörers (in utroque enim contrarium ei, quod dicitur, intellegendum est). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Ironie von einer durchschaubaren Diskrepanz zwischen dem, was sie aussagt, und dem, was sie meint, lebt.15 Die Ironie relativiert Erkenntnisansprüche und zeigt deren Grenzen auf.16 Als „perception of incongruity“ bezieht sich Ironie auf doppelte oder mehrfache Verstehensmöglichkeiten bei Sprechenden und Hörenden. Wer ironisch spricht, handelt über eine Einsicht „into the thruth of things that is not shared by everyone.“17

10 Vgl. die Interpretation der sokratischen Ironie bei R. Burger, Socratic εἰρωνεία, Interpretation, A Journal of Political Philosophy 13 (1985), 143–149. 11  Vgl. Aristophanes, Nu 443–451; Vesp 174; Av 1211. 12 Vgl. Theophrast, Char I (ἡ … εἰρωνεία δόξειεν ἄν εἶναι, ὡς τύπω λαβεῖν, προσποίησις ἐπὶ χεῖρον πράξεων καὶ λόγων); vgl. Char. XXIII (zur Prahlerei: ἡ ἀλαζονεία). 13 U. Japp, Ironie (s. Anm. 1), 289. 14  Zur epikuräischen Kritik an der sokratischen „Untertreibung“ vgl. M. T.  Riley, The Epicurean criticsm of Socrates, The Phoenix 34 (1980), 55–68. 15 H. M.  Schmidinger, Ironie (s. Anm. 1), 279. 16 H. M.  Schmidinger, Ironie (s. Anm. 1), schlussfolgert aus dieser Einsicht, dass die Bibel als „Anstoß zur Ironie oder gar als Quelle derselben“ ausscheiden muss, weil die Bibel „Verkündigung ist und diese Verkündigung mit einem absoluten Anspruch verbindet“ (ebd. 281 f ). Aber diese Schlussfolgerung ist weder notwendig noch naheliegend, weshalb H. M.  Schmidinger sie auch nicht durchhält; vgl. ebd. 288: „Warum aber konkretisiert sich Glaube ausgerechnet in der Ironie? Ich würde antworten: Weil die Ironie die konsequente Form ist, in der das Denken seine Grenzen anerkennt und seine Anspruchsrechte entsprechend absteckt.“ So stimmt es dann wohl auch nicht, dass „Jahwe keine Ironie kennt“ (vgl. 283). 17 G. W.  MacR ae, Theology (s. Anm. 4), 104. G. W.  MacRae bezieht sich auf E. M.  Good, Irony in the Old Testament, Philadelphia (1965) 21981, 30–31.

352

1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49)

Als rhetorische Figur gehört die Ironie mit der Metapher,18 der Metonymie, der Litotes und der rhetorischen Frage zum uneigentlichen Sprechen.19

2.  Johanneische Ironie im Spiegel der Forschung Die thematische Beobachtung und exegetisch-theologische Auswertung ironischer Züge im JohEv ist relativ jung und hat insbesondere in der deutschsprachigen Johannesforschung noch wenig Aufmerksamkeit erfahren.20 Insgesamt haben Untersuchungen zu ironischen Aussagen und Zügen in biblischen Texten keine große Tradition. Erste Studien für das AT,21 für Paulus,22 die synoptischen Evangelien23 und das JohEv24 liegen jedoch vor.25 18 Zum meisterlichen Umgang des Evangelisten mit metaphorischen Bildfeldern vgl. exemplarisch O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995. 19  Vgl. hierzu W. Berg, Uneigentliches Sprechen. Zur Pragmatik und Semantik von Metapher, Metonymie, Ironie, Litotes und rhetorischer Frage, Tübinger Beiträge zur Linguistik 102, Tübingen 1978, 82–93 (zu Ironie). Vgl. auch E. Lapp, Linguistik der Ironie, Tübinger Beiträge zur Linguistik 369, Tübingen 1992 (Ironie bes. in sprechaktanalytischer Sicht). Zur Interpretation joh Ironie greift auch P. E.  Botha die Sprechaktanalyse auf, vgl. Ders., The Case of Johannine Irony Reopened II: Suggestions, Alternative Approaches, Neotest. 25 (1991), 221–232. 20 Vgl. die folgenden Beiträge zu Ironie im JohEv: H. Clavier, L’ironie dans le quatrième Évangile, StEv (= TU 73) 1 (1959), 261–276; D. Wead, The Literary Devices in John’s Gospel, ThD 4, Basel 1970, 47–68; Ders., Johannine Irony as a Key to the Author – Audience Relationship in John’s Gospel, in: Biblical Literature. 1974 Proceedings, hrsg. v. F. O. Francis, Tallahassee, Fla. 1974, 33–50; G. W.  MacR ae, Irony (s. Anm. 4); R. A.  Culpepper, The Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia 1983 21987, bes. 165–180; P. D.  Duke, Irony in the Fourth Gospel, Atlanta 1985 (die einzige monographische Abhandlung); G. R. O’Day, Revelation in the Fourth Gospel. Narrative Mode and Theological Claim, Philadelphia 1986 (zu Joh 4,1–42), bes. 11–32; P. E.  Botha, The Case of Johannine Irony Reopened I: The Problemtic Current Situation, Neotest. 25 (1991), 209–220 (Lit.); Ders., Case II (s. Anm. 19); Ch. Welck, Erzählte Zeichen. Die Wundergeschichten des Johannesevangeliums literarisch untersucht. Mit einem Ausblick auf Joh 21, WUNT II/69, Tübingen 1994, 101 f.104 f.107.114.129.159–163.201; P; R. A.  Culpepper, Reading Johannine Irony, in: Ders. (Hg.), Exploring the Gospel of John, FS D. M. Louisville 1996, 193–207 (Lit.). J. Grosjean betitelt seine Meditationen zum JohEv: L’ironie christique. Commentaire de L’Évangile selon Jean, Paris 1991, ohne freilich für die Exegese oder die Ironie im JohEv weiterzuhelfen. 21 Vgl. Good, Irony (s. Anm. 17); Y. T.  R adday / ​A .  Brenner, On Humour and the Comic in Hebrew Bible, JSOT.SS 92, Sheffield 1990. 22  Vgl. A. B.  Spencer, The wise fool (and the foolish wise). A study of irony in Paul, NT 23 (1981), 349–360; K. A.  Plank, Paul and the irony of affliction, SBL Semeia Studies, Atlanta 1987; A. Mattioli, La sorridente ironia di Paolo, Ter. 46 (1995), 367–411. 23  Vgl. W. Harnisch, Die Ironie als Stilmittel in den Gleichnissen Jesu, EvTh 32 (1972), 421– 436; J. Camery-Hoggatt, Irony in Mark’s Gospel, MSSNTS 72, Cambridge 1992; J. M.  Dawsey, The Lukan Voice. Confusion and irony in the gospel of Luke, Macon 1986; J. A.  Morris, Irony and Ethics in the Lukan Narrative World. A Narrative Rhetorical Reading of Luke 4,14–30, (University Microfilms International), Ann Arbor 1992; J. L.  Ray, Narrative irony in Luks-Acts. The paradoxical interaction of prophetic fulfillment and Jewish rejection, Mellen Biblical Press series 28, Lewiston 1996. 24  Vgl. Anm. 20. 25  Vgl. auch den Überblick von J. Jónsson, Humour and Irony in the New Testament.

2.  Johanneische Ironie im Spiegel der Forschung

353

Innerhalb der englischsprachigen Beiträge zur Ironie im JohEv unterscheidet R. A.  Culpepper26 zwei Forschungsgruppen: Während die eine „stable ironies“ im JohEv erkennen möchte,27 plädiert eine zweite, deren Argumentation er zurückweist, für „instable ironies.“28 Mit D. C.  Muecke29 und W. C.  Booth30 definiert er: „Stable ironies are (1) intended, (2) covert (they inquire reconstruction), (3) stable or fixed, and (4) finite, in that they do not mock our effort to find the meaning.31 „Bei den „instabilen Ironien“ verwehrt der Autor seinen Adressaten eine klare Botschaft bzw. eine eindeutige Sinnkonstruktion.32 Positiv ist mit R. A. Culpepper an der „Stabilität“ bzw. Eindeutigkeit der joh Ironien festzuhalten: Sie haben die Funktion, den Erzähler und den Leser, die beide niemals „Opfer“ der Ironien werden,33 in eine gemeinsame Sicht der Erzählungen zusammenzubinden: „The effect of John’s irony is to provide a subtle but powerful incentive for the reader to believe‚ ‚that Jesus is the Christ, the Son of God‘ (20:31).“34 Die folgenden Ausführungen wollen nicht alle Verse bzw. Versteile, die von verschiedenen Autoren mit verschiedenen Gründen als ironisch eingeschätzt werden, vorstellen und diskutieren.35 Ziel ist es vielmehr, einen Zusammenhang joh Ironie aufzuzeigen, der in der Johannesexegese noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat: den christologisch interessierten ironischen Rollenwechsel. Illuminated by Parallels in Talmud and Midrash, BZRGG 28, (Reykjavík 1965) Leiden 1985; vgl. auch L. Kretz, Witz, Humor und Ironie bei Jesus. Mit einem Vorwort von Mario Galli, Olten 1981. 26  Vgl. R. A.  Culpepper, Johannine Irony (s. Anm. 20), 193–207. 27  Vgl. R. A.  Culpepper, Anatomy (s. Anm. 20); P. D.  Duke, Irony (s. Anm. 20); G. R. O’Day, Revelation (s. Anm. 20). G. R. O’Day interpretiert die joh Ironie als „a mode of revelatory laguage“, ebd. 31 f. 28  Vgl. J. L.  Staley, The Print’s First Kiss. A Rhetorical Investigation of the Implied Reader in the Fourth Gospel, SBLDS 82, Atlanta 1988; kritisch hierzu: R. A.  Culpepper, Johannine Irony (s. Anm. 20), 198 f.; Vgl. W. H.  Kelber, In the beginnings were the words. The apotheosis and narrative displacement of the Logos, JAAR 58 (1990), 69–98; Ders., The birth of the beginning: John 1:1–18, Semeia 52 (1990), 121–144; St. D.  Moore, Literary Criticism and the Gospels. The Theoretical Challenge, New Haven/Conn. 1989, 159–163; Ders., Are there impurities in the living water that the Johannine Jesus dispenses? Deconstruction, feminism, and the Samaritan woman (1993), in: Ders., Poststructuralism and the New Testament. Derrida and Foucault at the foot of the cross, Minneapolis 1994, 43–64. 29  Vgl. D. C.  Muecke, The Compass of Irony, London 1969; Ders., Irony and the Ironic, The Critical Idiom 13, London (1970) 21982. 30 Vgl. W. C.  Booth, A Rhetoric of Irony, Chicago (1974) 21975. 31 R. A.  Culpepper, Johannine irony (s. Anm. 20), 193. 32  Vgl. ebd. 193 f. 33  Ironische Erzählungen setzen mindestens drei Personen voraus: „the ironist, a victim, and the observer or reader“, ebd. 194. 34  Ebd. 195. 35 Dazu gehören: 1,46; 4,12; 6,25.42.52; 5,7; 7,4.15.20.26.27–29.35–36.41.42.47.48.52; 8,22.48.53; 9,16.27.40; 11,50; 12,19; 13,37–38; 16,30–32; 18,30.38; 19,14. Vgl. auch die bei R. A. Culpepper, Anatomy (s. Anm. 20), 165–180, aufgeführten Stellen und die lange Liste bei Botha, The Case I (s. Anm. 20), 214.

354

1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49)

3.  Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium Im JohEv finden sich überraschend oft ironische Verkehrungen und Rollenwechsel, die der Evangelist aus christologischem und mystagogischem Interesse einsetzt. Die abgründige Tiefe vieler joh Streit‑ und Begegnungserzählungen erschließt sich erst, wenn dieses joh Stilmittel erkannt ist. In den Gesprächen zwischen Jesus und dem oder den Schülern bzw. Gegnern oder in den erzählten Begebenheiten werden ursprüngliche Situationen des Öfteren offen oder in feinsinnigen Anspielungen umgekehrt bzw. überstiegen: Unbemerkt von der Mehrzahl der Teilnehmer an der Hochzeit zu Kana tritt zu dem Bräutigam und dessen Hochzeitsfeier der Bräutigam einer neuen Heilszeit ans Licht der Öffentlichkeit (2,1–11; vgl. 3,27–39). Dem „Lehrer Israels“, der Jesu Worte „nicht versteht“ (3,10; vgl. 11,49) steht der „von Gott gekommene Lehrer“ (3,2) gegenüber.36 Der Bittsteller Jesus fordert die Samariterin auf, ihn um das „lebendige Wasser“ zu bitten, also zur Bittstellerin zu werden. Aus dem Angeklagten wird der Richter und aus den Richtern die Angeklagten (5,19–47; 9,39; 18,28–19,16). Dem Rat der Hohenpriester wird der eine wahre Hohepriester gegenübergestellt (11,47–53; 17,1–26; 18,1–27; 19,23–24). Dem Statthalter des Kaisers steht der wahre König gegenüber (18,33–38; 19,3.12.14.19–22.39). Am leeren Grab fragt die suchende und liebende Maria Magdalena  – in äußerster ironischer Zuspitzung – den Lebenden nach dem Toten (20,11–18).37 Im Folgenden werden wichtige Stationen für diesen ironisch-verkehrenden Rollenwechsel vorgestellt: 3.1  Doppelhochzeit in Kana Das „erste Zeichen“ Jesu im Johannesevangelium, das Weinwunder zu Kana Joh 2,1–11,38 ist die programmatische Auftakterzählung des JohEv: Jesus wirkt 36 Zur Ironie im Nikodemusgespräch vgl. treffend F. Moser, Missverständnis und Ironie in der johanneischen Argumentation und ihr Gebrauch in der heutigen pfarramtlichen Praxis, in: M. Rose (Hg.), Johannesstudien. Interdisziplinäre Zugänge zum Johannes-Evangelium, Freundesgabe für Jean Zumstein, Zürich 1991, 47–73, hier: Die Ironie in 3,10 „hat hier in gewisser Weise die Funktion einer Mäeutik, die derjenigen des Sokrates ähnelt: Sie bringt den Gesprächspartner letztlich dahin, sich selbst die Fragen zu stellen, besonders hinsichtlich der Ansichten, deren es sich völlig sicher meinte.“ Kritisch zu einer ironischen Deutung von 3,10 äußert sich Botha, The Case I (s. Anm. 29), 214 f. 37 Zur Auslegung von 20,11–18 vgl. auch „Relecture und réécriture“, in diesem Band, S. 173–202. 38  Zur Auslegung von Joh 2,1–11 vgl. die Monographien: W. Lütgehetmann, Die Hochzeit zu Kana (Joh 1,26). Zu Ursprung und Deutung einer Wundererzählung im Rahmen johanneischer Redaktionsgeschichte, BU 20, Regensburg 1990; zuletzt: H. Riedl, Zeichen Zeichen und Herrlichkeit. Die christologische Relevanz der Semeiaquelle in den Kanawundern Joh 2,1–11 und Joh 4,46–54, RSTh 51, Frankfurt a. M. 1997 (Lit.). W. Lütgehetmann (vgl. auch Ders., Die Hochzeit zu Kana – Der Anfang der Zeichen Jesu, in: J. Hainz [Hg.], Theologie im Werden, Studien zu den theologischen Konzeptionen im Neuen Testament, Paderborn 1992, 177–197) deutet Joh 2,1–11 primär christologisch. Dazu sucht er zu begründen, dass die „Verwandlung von Wasser in Wein als Symbol für die Inkarnation des Logos, die heilige Hochzeit von Logos und Sarx, plausibel“ sei (ebd. 195). Er beruft sich auf eine enge Verbindung zwischen Joh 1 und 2,1–11 (insbes. von 1,14 und

3.  Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium

355

das erste öffentlichkeitswirksame Zeichen. Vorausgesetzt ist die für das JohEv typische Gegenwart und Nähe Jesu in den Hoch-Zeiten (vgl. Hochzeit, jüdische Feste in Jerusalem) und den Not-Zeiten (vgl. Hunger, Durst, Krankheit, Trauer und Tod) des menschlichen Lebens. Ausgehend von diesen anthropologischen Ursituationen und diese aufgreifend offenbart sich Jesus als wirkliche und zureichende Antwort auf den sich in diesen Lebenssituationen manifestierenden Mangel der Menschen.39 Die besondere Ironie besteht in 2,1–11 darin, dass der Tafeldiener sich an den nicht namentlich genannten Bräutigam wendet, um ihm für die Weingabe zu danken (V. 10). Unwissentlich verwechselt er den Adressaten seines Dankes. Der richtige Adressat wäre Jesus gewesen. Nun ist es für die joh Erzählweise typisch, dass Jesus unerkannt mitten unter den Menschen steht: Die Messias-Regel des Täufers – „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (1,26) – erfüllt sich auch in Kana.40 An die Leser gewandt impliziert diese ironische Verwechslung die Aufforderung, selbst sehr genau darauf zu achten, wem sie überraschende Nothilfen und überreiche Geschenke verdanken. Die Leser/‑innen sollen sich klüger verhalten als der Tafelmeister. Im sprechenden Kontrast zum Tafelmeister weisen die Diener, die das Wasser geschöpft hatten, „woher“41 es war (vgl. 2,9), die Leser auf die richtige Richtung. Die Deutung der Teilnahme Jesu an der Hochzeit zu Kana griffe zu kurz, wollte man Jesus hier ‚nur‘ als Nothelfer sehen, der dem Brautpaar aus einer großen Verlegenheit hilft. Dem johanneischen Verständnis kommt man auf die Spur, wenn erkannt wird, dass Jesus hier selbst als Bräutigam einer neuen messianischen Heilszeit, für die die Überfülle des guten Weines steht, auftritt: Mitten in der menschlichen Hochzeitsfeier offenbart Jesus, dass es noch eine andere Hochzeit zu feiern gilt: den herrlichen Anbruch der messianischen Hochzeit, die Gott heraufführt.42 Diese Hochzeit stellt die erste Hochzeit nicht in den Schatten, sie relativiert diese auch nicht, sie konkurriert nicht mit ihr, im Gegenteil: Die neue, durch den Bräu2,1; vgl. 185–195). Seine Interpretation, Joh 2,1–11 identifiziere Jesus mit der Heilsgabe, sowohl dem Wasser wie dem Wein (vgl. 195 Anm. 25), ist vom Text nicht gedeckt und verstellt den Blick auf die wahrscheinlichere Verbindung von Joh 1 und 2: Das Weinwunder bringt nicht eine Verdoppelung der Prologausssage, sondern verweist auf die soteriologische Bedeutung der Inkarnation: Der fleischgewordene Logos qualifiziert die Gegenwart als messianische Heilszeit. 39  Vgl. hierzu K. Scholtissek, Mystagogische Christologie im Johannesevangelium? Eine Spurensuche, GuL 68 (1995), 412–426. 40 Vgl. die Auslegung in „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), in diesem Band, S. 151–172. 41  Das joh „woher“ (πότεν; ποῦ) fragt nach dem Ursprung bzw. der Herkunft, die einen Menschen oder eine Sache bestimmt; vgl. nur: 1,38 (ποῦ μένεις); 4,11; 7,27–28; 8,14; 9,29–30; 19,9; vgl. auch das joh ἐκ. 42  Vgl. M. W. G.  Stibbe, John, Readings: A New Biblical Commentary, Sheffield 1993, 60: „In 2.1–11, the symbolic import of the Cana miracle is that the eschatological wedding, along with the messianic banquet, has now begun.“ M. W. G.  Stibbe deutet die Hochzeit zu Kana „as a symbol of the eschatological marriage of the bridgeroom Jesus (Jn 3.29) with the church (Isa. 54,4–8)“ (ebd. 46).

356

1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49)

tigam Jesus heraufgeführte messianische Heilszeit hilft der menschlichen Hochzeit nicht nur, sie bereichert sie durch die überfließend-bessere Weingabe und macht sie damit zu einem noch größerem Anlass der Freude. Trotz Joh 3,27–29,43 wo Johannes eindeutig als Brautführer, als „Freund des Bräutigams“ und Jesus als „Bräutigam“ identifiziert werden, wird die Deutung Jesu als „Bräutigam“ für Joh 2,1–11 oftmals abgelehnt.44 Zuletzt argumentierte H. Riedl: „Außerdem steht die Erzählung selbst einer solchen Symbolik entgegen, denn Jesus kann nicht zusammen mit seinen Jüngern zu einer Hochzeit eingeladen werden (vgl. 2,1) und gleichzeitig im symbolischen Sinn selbst der Bräutigam sein.“45

Damit verkennt er jedoch die Intention dieser Wundererzählung in einem grundlegenden Sinn: Die Identifizierung Jesu als Bräutigam beruht nicht auf (und führt auch nicht zu) einer Konkurrenz mit dem Bräutigam aus Kana (als wolle Jesus an seine Stelle treten oder ihm die „Schau stehlen“). Vielmehr ist diese Hochzeit für den Evangelisten der ideale Anfangs‑ und Anknüpfungspunkt, um den Lesern, die ja der Erzählung aus der Perspektive der Eingeweihten folgen können, die Heilssendung Jesu in Korrelation zu einer herausgehobenen Feier, hier einer Hochzeit, zu erhellen. Die Herrlichkeitsoffenbarung Jesu, die die Jünger im (anfanghaften) Glauben ergreifen (2,11), stellt die Hochzeit des Brautpaares zu Kana in einen neuen Rahmen: Ihre Hochzeit wird beschenkt und getragen von einer größeren, umfassenderen Heilsfeier, die freilich wahrgenommen und „erkannt“ werden will. Für die Gäste der Hochzeit in Kana (die Figuren in der erzählten Welt) erfüllt sich – im Unterschied zu den idealen Lesern – weitgehend das Wort Johannes des Täufers aus 1,26, das die Verborgenheit und Unerkanntheit des sich einem schnellen Zugriff entziehenden Messias (vgl. bes. 2,23–25; 6,15; 7,1–13.30.44; 8,20.59; 9,12; 10,39) betont.46 3.2  Ironische Fremdprophetien 3.2.1  „Wenn der Messias kommt, wird er uns alles verkünden“ (4,25) In der Begegnung zwischen Jesus und der Samariterin (und vermittelt durch sie mit den Samaritern) in Joh 4,1–42 haben die Missverständnisse47 der Samariterin eine Affinität zur Ironie. Jesus selbst führt die Samariterin über ihre Missverständ Auch Joh 4,1–42 lässt sich von diesem Bildfeld her interpretieren; vgl. ebd. 60–70.  Positiv urteilt W. Lütgehetmann, Hochzeit (s. Anm. 38), 140–147. 45 H. Riedl, Zeichen (s. Anm. 38), 286. 46  Zum joh Motiv des sich entziehenden Messias vgl. M. W. G.  Stibbe, The Elusive Christ. A New Reading of the Fourth Gospel, JSNT 44 (1991), 20–39. 47  Neben den im folgenden vorgestellten Fremdprophetien sind zu nennen: 7,15.35; 11,48; (12,19); vgl. auch P. D. Duke, Irony (s. Anm. 20), 82–90. Auch 7,48 kann als ironische Fremdprophetie gelesen werden: Noch ist den vorwurfsvoll fragenden Pharisäern nicht klar, dass Nikodemus, der als Ratsherr von ihnen (!) nicht so einfach zu den Unwissenden (vgl. 7,49) gerechnet werden kann, Partei ergreifen wird für Jesus (7,51; 19,38–42). Auch ihr Hinweis auf das Schriftstudium in 7,51 ist unfreiwillig doppelbödig: Nach der Auslegung Jesu zeugt die Schrift für ihn. 43 44

3.  Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium

357

nisse (vgl. 4,11–12.15.25) hinweg. Im Verlauf des Gespräches wechseln mit der Vertiefung des Themas („Wasser“ – „lebendiges Wasser“) auch die Rollen: Ist zunächst Jesus selbst der Bittsteller (4,7), so fordert Jesus die Samariterin auf, Bittstellerin zu sein (4,10). Dabei soll die Bitte der Samariterin im Vergleich zur Ausgangsbitte Jesu auf eine ungleich größere Gabe zielen. Das Gespräch mit Jesus weckt bei der Samariterin ihr Verständnis von prophetischer Begabung (vgl. 4,16–19) und erinnert auf die Worte Jesu in V. 20– 24 hin ihre Messiaserwartung: „Ich weiss, dass der Messias kommt, der ChristusGenannte, wenn er kommt, wird er uns alles verkünden“ (4,25).48 Ohne dass es der Samariterin schon bewusst geworden ist, hat Jesus in seinen Worten zuvor genau diese Messiasdefinition der Samariterin erfüllt. Jesus hat ihr „alles“ gesagt (vgl. 4,10.13–14.16–18.21–24.29). Die Ironie dieser Szene entsteht, weil die idealen Leser und Hörer über einen Wissensvorsprung verfügen, der sich der Samariterin erst durch die Selbstoffenbarung Jesu erschließt. Jesus erfüllt die Messiaserwartung der Samariterin  – dennoch bedarf sie der direkten Selbstidentifizierung Jesu.49 Auch über die Begegnung in Joh 4 hinausgehend bewahrheitet sich die Fremdprophetie der Samariterin: Der Messias Jesus „verkündet“ seinen „Freunden“ „alles, was er von seinem Vater gehört hat“ (15,14–15; vgl. 3,11–12.32; 8,40; 18,20; 1 Joh 1,1–4). 3.2.2  „Wenn aber der Messias kommt, weiss niemand, woher er ist“ (7,27) Die Suche und Frage nach dem Messias und seiner Identifizierung durchzieht das ganze JohEv – im corpus evangelii beginnend mit den abwehrenden (vgl. 1,19– 23) und den Zeugnis ablegenden (vgl. 1,24–34) Aussagen des Täufers und den sich anschließenden Begegnungen zwischen Jesus und den Johannesjüngern (vgl. 1,35–51), die diese zum christologischen „Fund“ (vgl. 1,41: „Wir haben den Messias gefunden“; vgl. 1,45) führen. Das Wirken Jesu in Wort und Tat weckt bzw. erinnert an messianische Erwartungen bei den Menschen (vgl. 4,25; 6,15; 12,13), löst skeptische oder interessierte Fragen aus (vgl. 1,46; 7,25–26) oder ruft Widerstand hervor. Eine Argumentationslinie der Gegner der Messianität Jesu heißt im Munde „einiger von den Bewohnern Jerusalems“ (7,25): „Aber diesen kennen wir, woher er ist. Wenn aber der Messias kommt, weiß niemand, woher er ist“ (7,27). Diese Messias-Regel im Munde der Einwohner Jerusalems spielt eine prominente Rolle im JohEv: Hier liegt eine ironische Fremdprophetie vor, die sich 48  Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von 4,25 vgl. zuletzt J. Rinke, Kerygma und Autopsie. Der christologische Disput als Spiegel johanneischer Gemeindegeschichte, HBS 12, Freiburg i. Br. 1997, 99 f, der zu Recht auf die innerjoh Parallelen 2,24; 13,1.3; 18,28; 14,26; 16,13 hinweist. Das Wort über den Messias in 4,25 deutet J. Rinke einerseits als für den Leser erkennbare Ironie (ebd. 88), andererseits spricht er mit Bezug auf 4,25 von einem „Fehlen von Ironie und Missverständnis“ (ebd. 100). 49  Zu weiteren ironischen Zügen in Joh 4 vgl. M. W. G.  Stibbe, John (s. Anm. 42), 65.

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1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49)

im JohEv fast durchgehend erfüllt. Die Skeptiker und Gegner Jesu wähnen nur, die Herkunft Jesu zu kennen (vgl. 1,46; 6,42; 7,25–27.41–44.52; 8,14; 9,29–34; 19,9). Ihre Herkunftsbestimmung greift zu kurz und eben darin erfüllt sich ironischerweise ihre eigene Ankündigung: Der Messias ist gekommen und niemand weiß, „woher“ Jesus wirklich ist (vgl. 8,14 und die konvergierende Messias-Regel in 1,26). Sein Kommen „von oben“, seine Sendung vom Vater, von der Jesus im JohEv zu sprechen nicht müde wird, wird weitgehend nicht „erkannt“. Der entscheidende Überschritt im Glauben vom „Irdischen“ zum „Himmlischen“ (vgl. 3,1–13), von Nazareth als Heimatstadt Jesu zum Kommen Jesu vom Vater, bleibt vielfach aus. Diese ironische Fremdprophetie stellt den Lesern und Hörern, die aus einer privilegierten Vogelperspektive das Geschehen verfolgen können, die von ihnen erwünschte Option vor Augen: Anders als die Mehrheit der jüdischen Zeitgenossen Jesu sollen sie nicht kurzschlüssig die christologische Identifizierung Jesu an den bekannten Herkunftsort Jesu binden, sondern sich von seinem Offenbarungswirken in Wort und Tat ansprechen und leiten lassen. Wer Jesus als den Messias „erkennen“ will, der muss bereit sein, die eigene, oftmals vordergründige „Messiaserwartung“ von Jesus selbst überführen zu lassen. 3.2.3  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49) Die Synhedrialversammlung nach Joh 11,47–53 entfaltet den Zusammenhang von Christologie, Soteriologie und Ekklesiologie programmatisch: In der unfreiwilligen Fremdprophetie des Kajaphas Joh 11,49b–50 und dem sich anschließenden Erzählerkommentar V. 51–52 korrespondiert dem εἵς ἄνθρωπος (50) die Sammlung der Gotteskinder εἰς ἕν (52). Diese Entsprechung zwischen dem „einen Menschen“ und der Sammlung der versprengten Gotteskinder „in eins“ ist in ein fein gesponnenes Netz voll ironischer Verkehrungen eingewoben: Ausgangspunkt der Beratung im Synhedrium ist die Gefahr, dass durch „diesen Menschen“ (47) „alle zum Glauben an ihn gelangen“ (48). In V. 49 wird Kajaphas mit betont vorangestelltem εἵς δέ τις ἐξ αὐτων eingeführt: „Einer aber von ihnen, Kajaphas, Hohepriester jenes Jahres“ (49). Dieser Hohepriester prophezeit den stellvertretenden Sühnetod des „einen Menschen“ „für das (ganze) Volk“ (50), der die Sammlung der zerstreuten Gotteskinder „in eins“ begründet. In ironischem Rollenwechsel stehen sich Kajaphas, der Hohepriester jenes Jahres, und Jesus, der stellvertretend für das Volk sterben wird, gegenüber. Dem wechselnden Hohepriesteramt, das mit Kajaphas zudem von jemandem besetzt ist, der  – in ironischer Umkehrung seines Wortes – selbst „nichts versteht“ (49), wird der „eine Mensch“ mit der einen stellvertretenden Lebenshingabe entgegengesetzt. Die Deutung von τοῦ ἐνιαυτοῦ ἐκείνου in 11,49.51; 18,13 ist umstritten: Nimmt der Evangelist – entgegen den historischen Tatsachen – einen jährlichen Wechsel

3.  Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium

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des Hohepriesteramtes an,50 oder ist der Genetiv „in jenem Jahr“ temporal zu verstehen?51 M. E. ist dem Evangelisten im Zuge seiner auf einen Rollenwechsel zielenden Gegenüberstellung von Kajaphas und Jesus auch eine gezielte Kontrastierung zuzutrauen. Dann würde das dreimalige ἐνιαυτοῦ den Leser daran erinnern, „that it was the duty of Caiaphas to perform ‚that year‘ the atonement sacrifice for the people.“52 Frucht dieses hohepriesterlichen Todes ist die Sammlung des Volkes und der zerstreuten Kinder Gottes „in eins“ (52). Dem „Zusammenführen“ (συνάγειν) Jesu nach 52 kontrastiert vielsagend das die Verurteilung Jesu auslösende vorausgegangene „Zusammenführen“ des Synhedriums:53 Ist das Tun der Gegner Jesu aus kalter Berechnung tödlich, so bewirkt der stellvertretende Tod Jesu (der Planung der Gegner zum Trotz bzw. diese ironisch in ihr Gegenteil verkehrend) die eschatologische Sammlung der Heilsgemeinde (vgl. 6,12–13; 10,16; 17,20). Obwohl Jesus in dieser Versammlung des Synhedriums nach 11,47–53 nicht in persona anwesend ist, ist er doch als unfreiwillig gedeutetes Gesprächsobjekt Inhalt der Verhandlung (vgl. vorbereitend auch schon 7,45–52). Nach seiner Gefangennahme wird er direkt vor Hannas (und Kajaphas) geführt und von ihnen verhört (18,13 f.19–24). Im scharfen Kontrast zu den „Hohenpriestern und Pharisäern“, ihrer Arroganz und Verachtung für das eigene Volk (vgl. 7,45–52), ihrer Unbelehrbarkeit (vgl. 9,34) und vermeintlichen Gesetzes‑ bzw. Schriftkenntnis (vgl. 7,49), ihrem fehlenden Gesetzesgehorsam (vgl. 7,51–52), ihrer ‚Realpolitik‘ und ihrem Nichtwissen (vgl. 11,47–52), ihrer Auslieferung und politischen Verleumdung Jesu sowie ihrer opportunistischen Preisgabe der Messiashoffnung (vgl. 18,28–19,16) erweist sich Jesus selbst in überbietender Weise54 als priesterlicher Mittler der

50   So u. a.: R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK II, Göttingen (101941–211986) 1962, 314 Anm. 2; J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTBK IV/1–2, Gütersloh (1979.1981) 31991, II 433. 51   So u. a.: R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThKNT IV/2, Freiburg i. Br. (1971) 41985, 449; J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, GSL.NT IV/1b, Düsseldorf 1981, 278. 52 J. P.  Heil, Jesus the Unique High Priest in the Gospel of John, CBQ 57 (1995), 729–745, 732. 53 Richtig gesehen von M. W. G.  Stibbe, John 129 (s. Anm. 42); J. P.  Heil, Jesus (s. Anm. 52), 734. 54 J. P.  Heil, Jesus (s. Anm. 52), 745, weist zu Recht darauf hin, dass diese Aussage mit der joh Figur der Überbietung jüdischer Institutionen konvergiert; vgl. zum Gesetz 1,17; zum Tempel 2,14–22; zur Wüstenspeisung Joh 6; Zu ergänzen sind die jüdischen Feste (Sabbat [5,1–47], Passah [6,1–71], Laubhüttenfest [7,1–10,21], Tempelweihfest [10,22–42]), deren wahrer Inhalt und wahre Erfüllung Jesus zu sein beansprucht. F. J.  Moloney macht diese Intention zum Interpretationsansatz seines mit „Signs and Shadows“ (vgl. Leo der Grosse, PL 54,341B) überschriebenen zweiten Bandes eines narrativen Johanneskommentars; vgl. Ders., John II; vgl. ebd. IX: „It suggests that John 5–10 presents Jesus as the perfection of Jewish liturgy and theology, and that John 11–12 points to a ‚lifting up‘ that attract all nations.“ 17

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1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49)

eschatologischen Heilsgemeinde (11,47–53; 17,1–26; 18,1–27;55 19,23–2456). Jesu Lebenshingabe zeigt, worin priesterliches Tun wahrhaft besteht. Auch wenn das JohEv keine so ausgefeilte Hohepriester-Christologie wie der Hebräerbrief entwickelt,57 so lassen die angesprochenen ironischen Kontrastierungen doch klare Urteile zu: Einerseits werden „die Hohenpriester und Pharisäer“ als denkbar schlechte Vertreter ihrer Zunft ganz und gar entlarvt, andererseits sind diese unfreiwillig und unwissentlich ‚Erfüllungsgehilfen‘ des wahren und endgültigen priesterlichen Dienstes Jesu, d. h. seines Heilstodes zur Sammlung der eschatologischen Heilsgemeinde. 3.2.4  „Sieh, euer König!“ (19,14) Auch Pilatus stellt sich in der Auseinandersetzung mit Jesus im Rahmen des Prozesses Joh 18,28–19,16 in die Reihe der Fremdpropheten.58 Um die beiden Leitthemen „Wahrheit“ und „König/Königtum“ entwickelt sich ein komplexes Netz ironischer Anspielungen, das – durch die Orts‑ und Gesprächswechsel zusätzlich verstärkt – das eigentümlich verschränkte Zusammenspiel zwischen „den Juden“, Pilatus und Jesus in der joh Prozessdarstellung ausleuchtet. Bei der direkten Begegnung zwischen Pilatus und Jesus stehen sich Richter und Angeklagter, der Statthalter des römischen Kaisers und der der Lächerlichkeit preisgegebene Jesus gegenüber. Die joh Prozessdarstellung lebt nun vom ironischen Wechsel dieser Rollen:59 Jesus selbst offenbart sich als „König“ (18,36–37)  Vgl. hierzu die erhellende Auslegung von J. P.  Heil, Jesus (s. Anm. 52), 735–740, der das zweimalige γνωστὸς τῷ ἀρχιερεῖ des nichtgenannten Jüngers in 18,15.16 neben dem offensichtlichen Bezug auf Kajaphas auch auf Jesus bezogen sieht (vgl. 10,14). Weitere relecture-Prozesse werden zwischen Joh 10 und 18 erkennbar, wenn αὐλή in 18,15 in Bezug zu 10,16 gesetzt wird. Hierzu und zu weiteren Beobachtungen vgl. ebd. 56  Die Deutung des nahtlosen Leibrockes Jesu ist umstritten. U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 1998, 294, lehnt eine hohepriesterliche Deutung ab. Vgl. J. Eckert, Die johanneische Erzählung vom nahtlosen Gewand Jesu (Joh 19,23 f.), in: E. Aretz u. a. (Hg.), Der heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier (1995) 21996, 13–37, hier 35: „das nahtlose Gewand des Gekreuzigten repräsentiert in erster Linie denjenigen, in dem alle an ihn Glaubenden ihre Einheit mit ihm und dem himmlischen Vater und damit das Leben gewinnen.“ 57  Vgl. aber das Gebet Jesu in Joh 17, in dem der irdische und der erhöhte Jesus nicht getrennt werden können. 58 Zu verschiedenen ironischen Zügen des Prozesses Jesu vor Pilatus im JohEv vgl. G. W. MacR ae, Theology (s. Anm. 4), 109–112. Während G. W.  MacRae von Ironien mit Analogien im antiken Drama spricht, rechnet M. W. G.  Stibbe eher mit Anleihen von antiken Tragödien; vgl. Ders., John (s. Anm. 42), 192 f. Zur Auslegung von Joh 18,28–19,16 vgl. zuletzt: Th. Söding, Die Macht der Wahrheit und das Reich der Freiheit. Zur johaneischen deutung des Pilatus-Prozesses (Joh 18,28–19,16), ZThK 93 (1996), 35–58; C. Diebold-Scheuermann, Jesus vor Pilatus. Eine exegetische Untersuchung zum Verhör Jesu durch Pilatus (Joh 18,28–19,16a), SBB 32, Stuttgart 1996 (Lit.), die freilich das Stilmittel der Ironie für Joh 18,18–19,16a ablehnt, in der Annahme Ironie sei „für einen kerygmatischen Text sehr ungewöhnlich“ (ebd. 207–211, hier: 211; vgl. exemplarisch auch ihre Deutung des „ecce homo“ in 19,5 ebd. 155–161). 59 Vgl. hierzu: J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, GSL.NT IV/3, Düsseldorf 1977, 11–13; Th. Söding, Macht (s. Anm. 58), 40–42, hier 41: „… im Grunde ist es Jesus, der durch sein ge55

3.  Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium

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und als Richter,60 wohingegen sich Pilatus durch sein schwankendes, opportunistisches Verhalten zur Karikatur eines „Freundes des Kaisers“ bzw. gerechten Richters macht. Jesus belehrt den Pilatus – und so auch die Adressaten des JohEv – über die Art seines Königtums: In 18,36–37 gibt Jesus eine präzise Kurzfassung seiner Sendung. Mit der Rückfrage des Pilatus: „Was ist Wahrheit?“ (18,38) weicht er dem Anspruch Jesu aus und verkennt, dass die personifizierte Wahrheit (vgl. 14,6) vor ihm steht.61 In zugespitzter Antithetik ist es gerade der gegeißelte, gefesselte, dornengekrönte und einen purpurfarbenen Mantel tragende Jesus („Siehe, der Mensch“, 19,5), der in Wahrheit der König Israels ist (vgl. den auf einem Esel kommenden König nach 12,13–16). Wenn Pilatus, der opportunistisch unter allen Umständen „Freund des Kaisers“ (19,12) sein will, den Juden Jesus mit den Worten „Sieh, euer König!“ vorstellt, dann wird die Ironie auf die Spitze getrieben:62 So sehr Pilatus hier und bei dem Kreuzestitel (19,19) aus der Sicht des Evangelisten und der ihm gewogenen idealen Leser unwissentlich die Wahrheit ausspricht, so sehr gilt für die textinterne Kommunikation: Beide Parteien verkennen Jesus, „die Juden“, insofern sie einen „Räuber“ statt Jesus wählen (vgl. 18,39–40) und zudem bereit sind, um der Hinrichtung Jesu willen, ihre Messiaserwartung aufzugeben und sich dem ihrem Gottesglauben widersprechenden Anspruch des Kaisers zu unterwerfen, Pilatus, weil er in dem ohnmächtigen, der Lächerlichkeit preisgegeben „Menschen“ keinen königlichen Anspruch erkennen kann und Jesus als politisch in jeder Hinsicht ungefährlich darstellt.63 Unwissentlich und entgegen ihren (vom Evangelisten negativ gewerteten) Absichten und Motiven werden samtes Verhalten im Prozess, durch sein Reden genauso wie durch sein Schweigen, durch sein Handeln ebenso wie durch sein Dulden, diesen Pontius Pilatus vor die entscheidende Frage seines Lebens stellt: die Frage nach Wahrheit und Lüge (18,37), nach Recht und Unrecht (19,11), nach Schuld und Sühne (19,11): die Frage also des Glaubens (vgl. 18,37), der über Heil und Unheil entscheidet.“ 60  In Joh 19,13 kann der Teilvers „und er setzte (sich) auf einen Richterstuhl“ nicht nur intransitiv („er [Pilatus] setzte sich …“) oder transitiv („er [Pilatus] setzte ihn [Jesus] …“) verstanden werden, sondern auch intransitiv mit einem Subjektwechsel („und er [Jesus] setzte sich …“). Dann ergäbe sich eine enorme szenische Verstärkung des Wortes des Pilatus im folgenden Vers 14: „Sieh, euer König!“ Warum eine solche „Doppelsinnigkeit“ ausgeschlossen sein soll (vgl. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThKNT IV/3, Freiburg i. Br. [1975] 51986, 305), wenn die gesamte Prozessdarstellung mit ironischen Rollenwechseln operiert, leuchtet nicht ein. J. J.  Kanagaraj deutet ἐκάθισεν in 19,13 transitiv; vgl. die Begründung in: Ders., Jesus the King, Merkabah Mysticism and the Gospel of John, TynB 47 (1996), 349–366, hier: 363–365; Ders., „Mysticism“ in the Gospel of John. An Inquiry into the Background of John in Jewish Mysticism, Ph.D. Durham University 1995 (microfilm), 204–206. Freilich ist seine Einordnung der Ironie (wie der Symbole, Semeia, Missverständnisse) im JohEv unter dem Leitwort „esoteric elements“ irreführend. 61 Gesehen auch von M. W. G.  Stibbe, John (s. Anm. 42), 190. 62  So auch G. W.  MacR ae, Theology (s. Anm. 4), 111 f. 63 R. Schnackenburg meint allerdings, das Wort des Pilatus „Sieh, euer König!“ sei ernst gemeint, in: Ders., Das Johannesevangelium III (s. Anm. 60), 307.

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1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49)

Pilatus wie „die Juden“ zu Vollstreckern eines Heilsplanes, der sich ausschließlich nach dem Willen Gottes vollzieht.64 3.3  „Sind etwa auch wir Blinde?“ – Blindheit und Sünde in Joh 9,1–41 Im Anschluss an das sechste Zeichen Jesu im JohEv, die Heilung eines Blinden am Schiloachteich 9,1–7,65 entwickelt sich eine Gesprächsfolge, an deren Ende eine ironische Umkehrung der vermeintlichen Ausgangsituation steht:66 Setzen die Jünger Jesu zunächst fraglos voraus, dass der Blinde ein Sünder ist, und wollen sie ‚nur‘ noch die theologische Fachfrage klären, ob seine Eltern oder er selbst gesündigt habe (mit der Blindheit als Schuldfolge; vgl. 9,2), so konstatiert Jesus am Schluss, dass die Pharisäer zwar nicht im physiologischen Sinn blind sind (das würde sie entschuldigen), wohl aber, dass die Sünde sie blind macht für die angemessene Deutung des Heilungszeichens (9,40–41). Der vorausgesetzte Zusammenhang von Blindheit und Sünde wird neu buchstabiert: Nicht der von Geburt an Blinde bzw. dessen Eltern haben Schuld auf sich geladen, so dass die Strafe vermeintlich berechtigt ist, sondern diejenigen, die als „Fachleute“ keine Belehrungen annehmen wollen, sondern Schuldzuschreibungen vornehmen (9,34) und zudem dem Wirken Jesu gegen die sichtbare Evidenz (vgl. 9,33: „Wenn dieser nicht von Gott wäre, könnte er nichts tun“) die Qualität eines gottgegebenen Handelns absprechen, sind in einem übertragenen Sinne blind und sündig. Die Frage der Gegner Jesu „Sind auch wir Blinde?“ (9,40) reiht sich ein in eine lange Reihe von unbeantworteten Fragen (vgl. 1,46; 4,12; 6,25.42.52;67 7,15.20.26.35–36.41.4268.47.48.52; 8,22.48.53; 9,27; 18,[30].38), deren ironische Diskrepanz oftmals darin besteht, dass die jeweiligen Sprecher sie gegenteilig beantworten als die Leser, die die Antwort im richtig verstandenen Sinn kennen. In der Art und Weise, wie der Geheilte die ihn Verhörenden angeht (vgl. V. 25.27.31), wird ein Rollenwechsel erkennbar: „The manner in which he reminds the authorities of some basics of Jewish theology (‚We know that God does not listen to sinners‘, v. 31) is heavily ironic.“69 Der Geheilte übernimmt in seiner zur 64 Vgl.

J. Blank, Joh III (s. Anm. 59), 11 f. Zur Einschätzung „der Juden“ im JohEv, vgl. auch „Antijudaismus im Johannesevangelium?“, in diesem Band S. 483–508. 65 Zur Auslegung von Joh 9 vgl.: J. L.  Resseguie, John 9: A Literary-Critical Analysis (1982), in: M. W. G. Stibbe (Hg.), The Gospel of John as Literature (s. Anm. 4), 115–122; M. Hasitschka, Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium. Eine bibeltheologische Untersuchung, ITS 27, Innsbruck 1989, 283–342; M. Rein, Die Heilung des Blindgeborenen (Joh 9). Tradition und Redaktion, WUNT II/73, Tübingen 1995 (die Ironie in Joh 9 wird nur angedeutet: 148 f.182.184). Vgl. R. A.  Culpepper, Anatomy (s. Anm. 20), 175: „The evangelist’s power and craft as an ironist are fully displayed in the delightful figures woven into the carpet of chapter 9.“ 66  Vgl. R. A.  Culpepper, Anatomy (s. Anm. 20), 175. 67  Zur Ironie in der Brotrede Joh 6 vgl. P. N.  Anderson, The Christology of the Fourth Gospel. Its Unity and Disunity in the Light of John, WUNT II/78, Tübingen 1996, 92–97.199–204.211–213 et passim. 68  7,42 verlangt aus der Sicht der Fragenden ein „ja“, diese Auffassung stößt sich aber mit der Messias-Regel in 7,27. 69  M. W. G.  Stibbe, John (s. Anm. 42), 106.

3.  Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium

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Anklage übergehenden Verteidigung Gesprächsstrategien Jesu, wie sie z. B. aus dem Nikodemusgespräch in Joh 3 bekannt sind.70 Diese Parallelisierung zwischen Jesus und dem Geheilten zeigt die Schicksalsgemeinschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern (vgl. 12,26; 15,18–25). Mit dem geheilten Blinden sollen sich die Leser und Hörer wundern über die Unkenntnis der Gegner Jesu, da angesichts der „Zeichen“, „Worte“ und „Werke“ Jesu seine messianische Identität evident ist: „Darin liegt nämlich das Erstaunliche, dass ihr nicht wisst, woher er ist, aber er öffnete mir die Augen. … In Ewigkeit wurde nicht gehört, dass einer die Augen eines Blindgeborenen geöffnet hat“ (9,30–32). Diese Umkehrung der Zustände wird theologisch mit der jesajanischen Verstockungstheologie erläutert: „Zum Gericht bin ICH in diese Welt gekommen, damit die Nicht-Sehenden sehen und die Sehenden blind werden“ (9,39; vgl. Jes 6,10; Joh 12,39–40).71 Die von Jesus heraufgeführte Krisis (vgl. 3,19; 5,24 u. ä.) hat eine doppelte statusverändernde Wirkung: (a) Ein von Geburt an Blinder kann geheilt werden und in einem weiterführenden Sinn sehend werden für die Offenbarung Gottes in seinem Sohn. (b) Diejenigen, deren Augen gesund sind, können durch ihre „erstaunliche“ (9,30) Weigerung, das Wirken Jesu zu deuten, schuldig werden, also im übertragenen Sinn blind werden (d. h. sich das Gericht zuziehen). Jesu Wirken und Worte als „Licht der Welt“ (9,5; 8,12) widerlegen den vermeintlichen Zusammenhang von physiologischer Blindheit und Sünde, provozieren zugleich aber Reaktionen, die den tatsächlichen Zusammenhang von Sünde und Blindheit im übertragenen Sinn aufdecken. Blindheit und Sehen, Krankheit und Gesundheit, Schuld und Unschuld, Glaube und Unglaube werden coram luce mundi neu buchstabiert. Die Gesprächssequenzen in Joh 9 folgen einer subtilen Ausrichtung:72 An das Gespräch zwischen dem Geheilten und den Nachbarn (9,8–12) schließen sich die Gespräche zwischen den Pharisäern und dem Geheilten (9,13–17), zwischen den Juden und den Eltern des Geheilten (9,18–23) und ein zweites Verhör des Geheilten durch „die Juden“ an (9,24–34), bevor es abschließend zu direkten Begegnungen zwischen Jesus und dem Geheilten (9,35–38) und zwischen Jesus und einigen Pharisäern (9,39–41) kommt. Ist Jesus in den ersten vier Gesprächssequenzen ‚nur‘ Objekt der interessierten (9,8–12) oder verhörenden (9,13–34) Nachfrage, so tritt er in den beiden letzten Kontrastszenen selbst auf: Während Jesus sich dem Geheilten als „Menschensohn“ offenbart und der Geheilte sich zu

 Vgl. ebd. 112 f.  Zum traditions‑ und religionsgeschichtlichen Hintergrund und zur joh Deutung vgl.: M. Rein, Heilung (s. Anm. 65), 315–339; vgl. auch R. Kühschelm, Verstockung, Gericht und Heil. Exegetische und bibeltheologische Untersuchung zum sogenannten „Dualismus“ und „Determinismus“ in Joh 12,35–50, BBB 76, Frankfurt a. M. 1990. 72 Vgl. M. W. G.  Stibbe, John (s. Anm. 42), 104: „John 9 is an artfully constructed study of growing insight (the man born blind) and growing unbelief (the Pharisees/Jews).“ 70

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1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49)

ihm in Wort und Tat bekennt (V. 35–38), spricht er „einigen von den Pharisäern“ Verstockung, Blindheit und Sünde zu (V. 39–41; vgl. 8,21.24). Das gesamte Kapitel 9,1–41 ist geprägt von der joh Lichtmetaphorik73 und der forensischen Bildsprache. „Much of the irony of the story derives from Jesus’ ability to function as judge even when he is apparently in the dock.“ 74 3.4  Angeklagte und Richter Die Rechtssprache ist eine führende Metaphorik im JohEv, die Wirken und Wirkung Jesu ausleuchtet (vgl. nur: κρίσις κτλ. und μαρτυρία κτλ. im JohEv).75 Jesus sieht sich aufgrund seines Wirkens immer wieder von verschiedenen Autoritäten ins Verhör genommen (vgl. bes. 5,17–47; 7,14–52; 8,12–59; 18,12–14.19–24; 18,28–19,16). Er wird angeklagt, sich selbst Gott gleich zu machen und so Gott zu lästern (5,18; 8,53.58–59; 10,31.33.36; 19,7). Die Gesprächsverläufe kennzeichnet eine subtile und teilweise offene Umkehrung der Rollen: In seiner Verteidigung erweist Jesus sich selbst als Richter76 und Ankläger,77 der seine Ankläger ihrer Schuld bzw. Ignoranz überführt. Immer sind diese Rollenwechsel ironisch grundiert: Die Gegner Jesu erreichen nicht nur nicht ihr Ziel, Jesus einer Schuld zu überführen; im Gegenteil: Sie selbst werden gerade, indem und wie sie Jesus anklagen, vor den Augen und dem Urteil der Leser ihrer eigenen Schuld überführt. Zur Ironie dieser Verhöre gehört es auch, dass Jesus seinen Opponenten alle ihre Argumente und Rekursinstanzen entwindet: Der Berufung auf die Schrift bzw. das Gesetz, auf Abraham und Mose, der Berufung auf den „einen Gott“ (8,41) und der Anklage der Gotteslästerung widerspricht Jesus und belegt zugleich, warum diese Instanzen nicht gegen, sondern gerade für ihn sprechen. Am Ende der Verhöre steht nicht mehr Jesus, sondern seine Gegner bloß da. Die, die den Willen Gottes zu erfüllen beanspruchen, erkennen nicht, dass sie dem gegenüberstehen, der in einzigartiger Weise aus dem und für den Willen Gottes lebt (4,34). Dem Maßstab und der Aufforderung Jesu: „Richtet nicht nach dem Augenschein, sondern richtet ein gerechtes Gericht!“ (7,24) werden sie nicht gerecht. Im Gegensatz zu den Gegnern Jesu, die „nach dem Fleisch richten“, ist das Gericht Jesu „wahrhaftig“ (8,15–16). Charakteristisch für diesen ironischen Rollenwechsel ist, dass Jesus sich als ein Richter zu erkennen gibt, der anders als seine Gegner nicht zum Tode verurteilt (vgl. 3,17–21; 8,15), sondern selbst zum Tode verurteilt wird, als ein Richter, der Leben nicht preisgibt, sondern in der Preisgabe des eigenen Lebens anderes Leben  Vgl. O. Schwankl, Licht und Finsternis (s. Anm. 18), 186–234.  M. W. G.  Stibbe, John (s. Anm. 42), 108. 75 Vgl. grundlegend: J. Blank, Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg i. Br. 1964; J. Beutler, Martyria. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Zeugnisthema bei Johannes, FTS 10, Frankfurt a. M. 1972. 76 Vgl. nur: 5,22.27.30. 77  Vgl. nur: 5,36–44; 7,17–24; 8,12–58 (vgl. in V. 43–47 als Zuspitzung). In 5,45–47 wird zudem Mose als „Ankläger“ (κατηγορεύω; 5,45 [bis]) gegen die Gegner Jesu angeführt. 73 74

4.  Das Profil johanneischer Ironie

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in einem endgültigen Sinn rettet.78 Jesu Gericht ist keine richterliche Verurteilung der Menschen, die er selbst aktiv vornimmt. Vielmehr überführt seine auf die „Rettung des Kosmos“ (3,17) zielende Sendung die Menschen ihrer „Herkunft“, ihrer nicht aus Gottes Willen gespeisten Antriebe. Die Glaubensverweigerung gegenüber dem „Licht der Welt“ (vgl. 1,4–5.9–11; 3,19; 8,12; 9,1–41) zieht sich selbst das Gericht zu (vgl. 3,18–21). Wer dem „Licht der Welt“ den Prozess machen will, vollzieht ihn in Wahrheit an sich selbst. Die Strategie der ironischen Rollenverkehrungen in den vielfachen Verhören dient der Überführung der Gegner Jesu, von deren schlechtem Beispiel die Leser des JohEv via negationis lernen sollen. Im betonten Kontrast zu den offiziellen und öffentlich anerkannten Autoritäten und (vermeintlich) Gesetzeskundigen zeigt sich Jesu „Richten“ als endzeitlich rettende Heilszuwendung, die freilich im Glauben ergriffen sein will oder der Glaubensverweigerung überführt.

4.  Das Profil johanneischer Ironie 4.1  Die Ironie des Evangelisten Die Ironie lebt von einer dissimulatio, einer Ver-Stellung, einer „durchschaubaren Diskrepanz“.79 Diese kann sich einmal auf die Differenz zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten beziehen (verbal irony): dann lässt sich unterscheiden zwischen (1) einer vom jeweiligen Sprecher bewusst eingesetzten Ironie (als didaktischem Mittel: Sokrates) und (2) einer unbewusst ironischen Aussage (einer „Fremdprophetie“). Die ironische Differenz kann sich aber zum anderen auch beziehen auf Gesprächssituationen und Rollenverteilungen in diesem Gespräch (situational irony): (3) Die Identität einer am Gespräch (direkt oder indirekt) beteiligten Person kann verkannt und ver-stellt werden oder in Zuspitzung dieser Ver-Stellung kann (4) ein verfremdender Rollenwechsel die Identität der verkannten Person erhellen. Im JohEv begegnen diese vier möglichen Fälle: Jesu Rückfragen haben ironische Zwischentöne in 1,50; 3,10; 7,23; 10,32; 13,38; 16,31. Großer Beliebtheit erfreuen sich ironische Fremdprophetien, in denen die Sprechenden mehr und treffenderes aussagen, als sie wissen, und Ver-Stellungs-Szenen, in denen die Identität Jesu oftmals durch überbietende und verfremdende Rollenwechsel sub contrario entdeckt wird. Zur Deutung joh Ironien gehört die Berücksichtigung der zwei wesentlichen Kommunikationsebenen: Die Erzählregie des Evangelisten erlaubt es den Lesern 78  Diese kontrastierende Antitypik realisiert der Evangelist auch in der biblischen Hirtenmetaphorik: Joh 10,1–21 stellt dem einen „guten Hirten“ die „Diebe“, „Räuber“ und „Fremden“ gegenüber. Während Jesus bereit ist, als guter Hirt sein Leben hinzugeben, trachten seine Gegner danach, ihn zu töten (vgl. 10,22–39). 79  H. M.  Schmidinger, Ironie (s. Anm. 1), 279.

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1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49)

und Hörern (Kommunikation durch Erzählung), ironische Verkehrungen mitzuvollziehen,80 während innertextlich (erzählte Kommunikation) die Erzählfiguren in der Begegnung mit Jesus (a) entweder erst über Missverständnisse und die Selbstoffenbarung Jesu hinweg wirklich zu ihm finden, (b) die Begegnung zunächst unentschieden und offen bleibt oder (c) die Begegnung mit Jesus scheitert. Ironien im JohEv haben eine doppelte Funktion: Sie entlarven das partielle oder totale Unwissen der ‚Opfer‘ der Ironie, sie zielen aber gerade mit der Aufdeckung von Differenzen zwischen Gesagtem und Gemeintem bzw. mit den Rollenwechseln auf die Leser,81 die selbst für ihre eigene Überzeugung die im Evangelium angesprochenen „Diskrepanzen“ ausgleichen sollen. Dazu können ihnen einerseits die „Opfer“ der Ironie via negationis und andererseits die durch die ironischen Verkehrungen gewonnene Profilierung der Identität Jesu helfen.82 Im Sinne der ironischen Strategie des Sokrates, dessen Nichtwissen mäeutisch eingesetzt wird und gerade darin durchaus manches Wissen transportiert, ist der joh Jesus kein Eiron. Jesus offenbart den Heilswillen seines Vaters und damit sich selbst in direkter Aussage – was eine höchst sensible, didaktisch-mystagogische Gesprächsführung (vgl. Joh 4,1–26) keineswegs ausschließt. Das ist ein grundlegender Unterschied zwischen dem joh Jesus und Sokrates. Als Ironiker hingegen erweist sich der Evangelist, insofern er durch ironische Fremdprophetien und Rollenwechsel auf seine Leser/‑innen zielt, bei denen die ironischen Ver-Stellungen durchaus einen Lernprozess anstoßen sollen.83 4.2  Brechung und Überbietung, Entzug und Offenbarung Ein Charakteristikum der verborgen-offenbaren Rollenwechsel im JohEv ist es, dass Jesus nur in Brechung bzw. Überbietung „der Lehrer Israels“, der „Bräutigam“, der „König Israels“, der „Lehrer und Herr“, der „Richter“, der „Messias Israels“, der „Hohepriester“ ist. 80  Vgl. G. W.  MacR ae, Irony (s. Anm. 4), 107: Die joh Ironie ist „a dramatic irony, in that it presumes upon the superior knowledge of the reader to recognize the true perspective within which the Gospel’s assertions are ironical.“ 81  Vgl. hierzu die Analogie bei Platon: „Bis zur Unglaubwürdigkeit lässt Platon sie (die Gesprächspartner des Sokrates; Anm. d. Verf.) die Ironie übersehen, sie sind also Objekt, nicht aber zugleich auch Adressat der Ironie. Adressat ist vielmehr der Leser; wir entdecken also genuin platonische Züge in dieser Ironie“, W. Boder, Ironie (s. Anm. 20), 161; vgl. ebd. 161–165: „Die Belehrung durch Ironie“. 82  Vgl. R. A.  Culpepper, Anatomy (s. Anm. 20), 165 f: „The ‚silent‘ communication between author and reader aussumes its most intriguing form in the ironies of the gospel. The implied author smiles, winks and raises his eyebrows as the story is told. The reader who sees as well as hears understands that the narrator means more than he says and that the characters do not understand what is happening or what they are saying.“ 83  Das Urteil von G. W.  MacR ae, Theology (s. Anm. 4), 105 („the irony of the Fourth Gospel is not Socratic irony … The Socratic irony was a didactic method employed by the philosopher in the well-known manner and with the well-known results“) ist deshalb erheblich zu modifizieren: Der Evangelist bedient sich einer ironischen Strategie mit mäeutischer Zielsetzung.

4.  Das Profil johanneischer Ironie

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(a) Jesus akzeptiert und bestätigt seine Anrede als „der Lehrer und der Herr“ (13,13), aber in der Fußwaschung, von der er sich nicht abbringen lässt, zeigt er, wie er sein „Lehrer‑ und Herr-Sein“ bestimmt (vgl. 13,1–10). Jesus ist und bleibt der „Kyrios“, gerade indem er seine Jünger nicht mehr als unwissende Sklaven behandelt, sondern für sie sein Leben hingibt und seinen Freunden „alles mitteilt“ (15,13–15; vgl. 4,25.29). (b) Der, welcher dem Hohenpriester (Kajaphas bzw. Annas) gegenübergestellt wird, erweist sich selbst in überbietender Weise als priesterlicher Mittler der eschatologischen Heilsgemeinde (11,47–53; 17,1–26; 18,1–27; 19,23–24). Im Gegenüber zu den Hohenpriestern (11,47–53; 18,1–17) offenbart der Tod Jesu, welches Tun und wessen Tun wider allen Erwartens tatsächlich zum Heil führt. Der joh Christologie und Soteriologie liegt die einheitliche Figur der Identität von Geber und Gabe zugrunde: Jesus spendet das Leben, das er selbst ist; er gibt das wahre Brot vom Himmel, das er selbst ist. In Anwendung auf die priesterliche Funktion Jesu gilt: Jesus wirkt priesterlich als Lebensmittler und ‑spender zwischen Gott und seinen Geschöpfen, er ist der „neue Tempel“, der neue Ort der Gottesanbetung im Geist und in der Wahrheit, der Weg, die Wahrheit und das Leben, er ist Priester und Opfer (vgl. die Paschalammtypologie in 1,29.36; 19,36) zugleich. Indem Jesus als Heilsgabe sich selbst schenkt und hingibt (vgl. 10,11.17–18) – im sprechenden Kontrast zu der ‚Realpolitik‘ eines Kajaphas nach 11,48–50 – und nur daraus die soteriologische Heilsfülle „fließt“ (vgl. 19,34), übersteigt er das jüdische Konzept hohepriesterlicher Mittlerschaft. Im Sinne des JohEv ist Jesus kein direkter Konkurrent des Kajaphas in dem Sinne, dass er das Amt des Kajaphas als solches anstrebte, um es nach dem Personenwechsel in der Sache fortzusetzen; er ist es aber in dem Sinne, dass seine priesterliche Vermittlung die des jüdischen Hohenpriesters in einer endgültigen Weise ‚aufhebt‘. (c) Diese Deutung konvergiert mit der joh Figur der Überbietung der jüdischen Institutionen (vgl. zum Gesetz 1,17; zum Tempel 2,14–22; zur Wüstenspeisung Joh 6) und der jüdischen Feste (Sabbat [5,1–47], Passah [6,1–71], Laubhüttenfest [7,1–10,21], Tempelweihfest [10,22–42]), deren wahrer Inhalt und wahre Erfüllung Jesus zu sein beansprucht. Das ganze JohEv ist durchgehend von einer zugespitzten Theozentrik (vgl. 6,44) und einer dieser zugeordneten Christozentrik (vgl. 6,44; 12,32) bestimmt. Vorschnellen und vereinnahmenden Zugriffen entzieht Jesus sich (2,23–25; 6,15; 7,1–13.30.44; 8,20.59; 9,12; 10,39).84 Erst wenn seine „Stunde“ da ist, können die Gegner Jesu ihn ergreifen  – vorher haben sie keine Macht über ihn, und auch dann nur, insofern sie ihnen „von oben gegeben ist“ (vgl. 19,11). Erst, wenn Jesus sich selbst offenbart, können die „suchenden“ Menschen ihn „finden“ (vgl. 1,35–51; 6,24.26; 20,11–18).85  Vgl. M. W. G.  Stibbe, The Elusive Christ (s. Anm. 46). Duo „suchen und finden“ begegnet sowohl im AT und im frühen Judentum als auch in der griechischen Philosophie für die religiöse Gott-Suche bzw. die philosophische WahrheitsSuche. 84

85 Das

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1.  „Ihr versteht nichts …“ (Joh 11,49)

Als der Gesandte des Vaters tut der Sohn nur das, was er vom Vater gehört hat (vgl. 1,1–18; 4,34; 5,30; 6,38; 10,30.38), als die Gesandten des Sohnes können die Christen ohne ihn nichts vollbringen (vgl. 15,5). Jesus „erfüllt“ die Heilserwartungen bzw. die mit den Messiaserwartungen verbundenen Konzepte in der ihm eigenen Weise. Gerade indem Jesus messianische Erwartungen immer wieder in ironischer Brechung erfüllt und sich vereinnahmenden Zugriffen entzieht, gewinnt der Evangelist Raum und Zeit, Jesu messianische Gottessohnschaft in der ihm angemessenen Weise zu profilieren. Für die Leser ergibt sich aus diesen Erzählungen die Aufforderung, sich selbst und ihre eigenen Heilserwartungen im Gegenüber zu Jesus auf den Prüfstand stellen zu lassen, d. h. „zu Jesus zu kommen und zu sehen“ (vgl. 1,35–51).86 Ohne die Bereitschaft, sich in der Begegnung mit Jesus überraschen zu lassen, gelingt der christologische „Fund“ im JohEv nirgends. Die sokratische Ironie  – so hatten wir oben unter 1. beobachtet  – wirkt limitierend bzw. wissensrelativierend. Gerade mit dieser kritischen Kraft ist sie mäeutisch – sie ermöglicht es, „das richtige Wissen im anderen und durch den anderen heraus(zu)stellen.“87 Dieser mäeutischen Wirkung bedient sich auch die Ironie des Evangelisten. Robert Musil hat neben dem Wirklichkeitssinn mit einem Möglichkeitssinn gerechnet und letzterem „auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes“88 zugetraut: Die joh Begegnungsgeschichten handeln mit ihren ironischen Verkehrungen und Wechseln von den erwachten Absichten Gottes.

86  Zur joh Sehweise (F. Mußner) und zum joh „Sehakt“ vgl. zuletzt C. Hergenröder, Wir schauten seine Herrlichkeit. Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont der Selbsterschliessung Jesu und Antwort des Menschen, FzB 80, Würzburg 1996. Nach seiner Interpretation hat „Sehen“ im JohEv personalen, ganzheitlichen, intuitiven (und nicht zergliedernden), gegebenen (und nicht beherrschenden) Charakter. „Sehen“ meint das Geschehen eines Empfangens und Entgegennehmens (vgl. ebd. 204–216). 87  Zitat von U. Japp, Ironie (s. Anm. 1), 289. 88  Vgl. Anm. 1.

2.  Abschied und neue Gegenwart Exegetische und theologische Reflexionen zur johanneischen Abschiedsrede 13,31–17,26 Die Abschiedsrede Jesu in Joh 13,31–17,261 hat in der synoptischen Tradition keine Parallele (vgl. aber Lk 22,14–30) und markiert damit ein Proprium Johanneum. Bis in die jüngste Zeit hat die joh Abschiedsrede die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen: Leitend sind dabei nicht nur gattungsgeschichtliche,2 literarkritische3 und erzähltheoretische,4 sondern – im Ausgang von diesen Fragestellungen – insbesondere auch hermeneutische und theologische Gesichtspunkte.5 M. Winter versteht Joh 13–17 als die hermeneutische und theologische 1 Vgl. neben den Kommentaren die forschungsgeschichtlichen Überblicke und Literaturhinweise bei: F. F. Segovia, The Farewell of the Word. The Johannine Call to Abide, Minneapolis 1991, 25–47; M. Winter, Das Vermächtnis Jesu und die Abschiedsworte der Väter. Gattungsgeschichtliche Untersuchung der Vermächtnisrede im Blick auf Joh. 13–17, FRLANT 161, Göttingen 1994, 9–36; D. F.  Tolmie, Jesus’ Farewell to the Disciples. John 13:1–17:26 in Narratological Perspective, BibIS 12, Leiden 1995, 1–7; J. Neugebauer, Die eschatologischen Aussagen in den johanneischen Abschiedsreden. Eine Untersuchung zu Joh 13–17, BWANT 140, Stuttgart 1995, 14– 34; A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169, Göttingen 1995, 14–44; Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II 84, Tübingen 1996, 82–92; H.-J. Klauck, Der Weggang Jesu. Neue Arbeiten zu Joh 13–17, BZ 40 (1996), 236– 250; F. J.  Moloney, The Function of John 13–17 within the Johannine Narrative, in: F. F. Segovia (Hg.), „What is John?“ Vol. II: Literary and Social Readings of the Fourth Gospel, SBL.SS 7, , Atlanta 1998, 43–65. Zur singularischen Formulierung „Abschiedsrede“ vgl. 5. Zur neueren Johannesforschung insgesamt vgl. K. Scholtissek, Johannes auslegen I–II. Forschungsgeschichtliche, methodische, hermeneutische und einleitungswissenschaftliche Reflexionen, SNTU 24 (1999), 35–84; 25 (2000), 98–140; Ders., Neue Wege der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I–II, ThGl 89 (1999), 263–295; 90 (2000), 109–133 (Teil I dieses Forschungsberichtes ist die erweiterte Fassung von Ders., Johannine Studies. Surveying recent research with special regard to German contributions, in: Ders., Currents in Research. Biblical Studies 6 [1998], 227–259). 2 Vgl. zuletzt mit einem umfangreichen gattungsgeschichtlichen Programm: M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1). 3  Vgl. zum Stand der Forschung ebd. 214–231 (Lit.). 4 Vgl. F. F. Segovia, Farwell (s. Anm. 1); D. F.  Tolmie, Farewell (s. Anm. 1) (vgl. die Besprechung v. K. Scholtissek, ThRv 92 [1996], 230–232); H.-J. Klauck, Weggang (s. Anm. 1), 241–243; F. J.  Moloney, Glory not Dishonor. Reading John 13–21, Minneapolis 1998. 5  Vgl. hierzu bes. die beiden unterschiedlichen, sich jedoch ergänzenden Arbeiten von A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1) und Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 1); vgl. auch X . Léon-Dufour, Lecture de l’évangile selon Jean I–IV, Paris I (1988) 21990, II 1990, III 1993, IV 1996, hier: Jean III. Zur patristischen Auslegung der joh Abschiedsrede vgl. C. P.  Bammel, The

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2.  Abschied und neue Gegenwart

Mitte des Evangeliums.6 Auch wenn diese Qualifikation über das Ziel hinausschießt, die joh Abschiedsrede reflektiert die Mitte des Evangeliums und ist ein hermeneutischer Schlüssel par excellence zum Verständnis der „johanneischen Sehweise.“ 7 So gesehen kann sich aus der crux interpretum, der Exegese der joh Abschiedsrede, ein clavis interpretum joh Theologie entwickeln. Diesem Ziel dienen die folgenden exegetischen, hermeneutischen und theologischen Reflexionen.

1.  Zur literarischen Verortung, Genese und Gestalt der johanneischen Abschiedsrede Die divergierenden Forschungspositionen zur Gliederung von Joh 13–178 dokumentieren für manche Passagen eine fehlende Eindeutigkeit von GliederungssigFarewell Discourse in Patristic Exegesis, in: Neotest. 25 (1992), 193–207 (= Dies., Tradition and Exegesis in Early Christian Writers [CStS; CS 500], Aldershot, Hamshire 1995, IX) (Lit.). 6  Vgl. M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 297–303.322 f. 7 Vgl. F. Muẞner, Die johanneische Sehweise und die Frage nach dem historischen Jesus, QD 28, Freiburg i. Br. 1965; J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, GSL.NT IV/1ab.2–3, Düsseldorf II.III 1977; Ia.Ib 1981, vgl. Joh II 7–14, hier 24 f: „Gerade die Abschiedsreden stehen im Zentrum der johanneischen ‚Vergegenwärtigungs-Theologie‘, sie bilden in gewissem Sinn hierzu sogar den Schlüssel. … Johannes muß ‚im Namen Jesu‘, unter Berufung auf Jesus, selbständig neue Antworten formulieren; er durfte die Gemeinde Jesu in dieser kritischen Situation mit ihren Fragen nicht allein lassen. Gerade die Glaubensbindung an Jesus und seine Botschaft ermutigt ihn zur Neu-Interpretation des christlichen Glaubenszeugnisses im Sinne einer ‚johanneischen‘ Theologie.“ Vgl. auch Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 1), VII.306 et passim, hier 2 f: „Erst das im nachösterlichen Wirken des Geistes gründende Erkennen hat die Glaubenden zur Deutung Jesu im Rückblick ermächtigt und sie in Kraft gesetzt, von Jesus als dem gesandten Sohn Zeugnis abzulegen.“ 8 Vgl. folgende Gliederungsversuche: (1) 13,1–14,31; 15,1–17; 15,18–16,15; 16,16–33; 17,1–26 (J. Becker, Die Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium, ZNW 61 (1970), 215–246; Ders., Das Evangelium nach Johannes, ÖTBK IV/1–2, 3. erw. Aufl. Gütersloh [1979.1981] 1991, hier II 572 f; kritisch zur Zusammenbindung von 15,18–16,15 bei J. Becker urteilt M. Winter, Vermächtnis [s. Anm. 1] 249 f ); (2) 13,1–30; 13,31–38; 14,1–31; 15,1–16,4a; 16,4b–33; 17,1–26 (R. Schnackenburg); (3) 13,1–30; 13,31–14,31; 15,1–16,33; 17,1–26; (J. Blank; er rechnet mit zwei ursprünglich selbständigen Abschiedsreden von einem einzigen Verfasser, da sie in Sprache und Theologie sehr einheitlich seien; Ders., Joh II [s. Anm. 7], 26); (4) 13,1–20; 13,21–30; 13,31–17,26 (mit 13,31–14,31; 15,1–17; 15,18–16,4a; 16,4b–31; 17,1–26) (F. F.  Segovia; für ihn ist 15,1–17 der letzte redaktionelle Eintrag in die Abschiedsrede; Ders., Farewell [s. Anm. 1], 319–327; Joh 17,1–26 gehört unbedingt zur joh Abschiedsrede, wird von ihm jedoch seiner Monographie nicht eigens analysiert und interpretiert. Er rechnet mit einer konzentrischen Anordnung A-B–B-A: dem Rahmen 13,31–14,31 und 16,4b–33 und den mittleren Partien 15,1–17 und 15,18–16,4a); (5) 13,1–30; 13,31–14,31; 15,1–17; 15,18–16,4a; 16,4b–33; 17,1–26 (M. Winter, Vermächtnis [s. Anm. 1], 231–260); (6) 13,1–30; 13,31– 14,31; 15,1–16,33 (mit Teilen: 15,1–17; 15,18–16,4a; 16,4b–33); 17,1–26 (D. F.  Tolmie, Farewell [s. Anm. 1], 28–32); (7) 13,1–30; 13,31–14,31; 15,1–17; 15,18–16,4a; 16,4b–33; 17,1–24 (A. Dettwiler, Gegenwart [s. Anm. 1], 53–59); (8) 13,1a–3d; 13,4a–35c; 13,36a–16,16b; 16,17a–33e; 17,1a–26 f (Ch. Koch, Der Abschied des Liebenden. Narrative Analyse zu Joh 13,1–17,26, Diss. Innsbruck 1996 [Manuskript] 147–149). Ch. Hoegen-Rohls versteht die fünf Parakletworte in formaler und inhaltlicher Hinsicht als kompositionelles Grundgerüst der Abschiedsrede (vgl. DIES., Johannes [s. Anm. 1], 220–224). Bei aller beachtenswerten Neuakzentuierung der joh Pneumatologie in ihrer Monographie zeigt sich

1.  Zur literarischen Verortung, Genese und Gestalt der johanneischen Abschiedsrede

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nalen. Bilden die Abschnitte 13,1–30; 13,31–14,31 und 17,1–26 relativ unbestritten in sich geschlossene Sinneinheiten, so zeigt sich die Gliederung der Kapitel 15 und 16 schwieriger. Aus Berücksichtigung der narrativen Einbindung und einer synchronen Analyse der joh Abschiedsrede ergibt sich folgende Verortung und Gestalt der Abschiedsrede im JohEv: 1. Ab Kapitel 11 werden Tod und Auferstehung Jesu als die „Stunde“ der Verherrlichung Jesu direkt und durchgehend als leitendes Thema thematisiert und reflektiert. Kapitel 11 und 12 haben eine Überleitungsfunktion zwischen dem ersten und dem zweiten Hauptteil des JohEv. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass auch der gesamte erste Hauptteil in Ankündigungen und Reflexionen über die Passion Jesu handelt und damit vorbereitenden Charakter hat (vgl. nur die retardierenden Bemerkungen über „die Stunde Jesu“).9 Eine ungenaue Zweiteilung des JohEv in die Hauptteile „Offenbarung Jesu in seinem Kommen vom Vater“ (1,19–11,54) und „Offenbarung Jesu in seinem Gehen zum Vater“ (10,55–20,29) legt sich vom joh „Weg“-Schema her nahe. Das JohEv erzählt die Selbstoffenbarung Gottes in seinem Sohn als Weg des Sohnes vom Vater in die Welt und aus der Welt zum Vater. Von hierher erschließen sich auch die Reflexionen über den Weg Jesu zum Vater in 14,4–5 und das christologische Symbolwort in 14,6. Die Kapitel 11,55–12,50 werden in der Forschung fast durchgehend zu dem ersten Hauptteil gezogen. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass diese beiden Kapitel thematisch eng an den 2. Hauptteil angebunden sind und diesen in mehrfacher Hinsicht erzählerisch und inhaltlich vor‑ und aufbereiten.10 Am treffendsten ist daher von einer Brückenfunktion der Kapitel 11 und 12 zwischen dem ersten Hauptteil in 1,18–10,42 und dem zweiten in 13,1–20,29 zu sprechen.11 hierin doch eine latente Überschätzung. Zu den joh Parakletworten vgl. auch H.-Ch. Kammler, Jesus Christus und der Geistparaklet. Eine Studie zur johanneischen Verhältnisbestimmung von Pneumatologie und Christologie, in: O. Hofius / ​Ders. (Hgg.), Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums, WUNT 88, Tübingen 1996, 87–190, bes. 89–151.  9  Ausgehend von dieser Gesamtanlage des JohEv ist die umstrittene Frage nach einer joh Kreuzestheologie zu diskutieren; vgl. die Positionen von: M. Hengel, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund urchristlicher Exegese, JBTh 4 (1989), 249–288, hier 281: der „stellvertretende Sühnetod Jesu“ als „Integral des Evangeliums“; H. Kohler, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium. Ein exegetisch-hermeneutischer Versuch zur johanneischen Kreuzestheologie, AThANT 72, Zürich 1987; Th. Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums. Das Verständnis des Todes Jesu im Rahmen der johanneischen Inkarnations‑ und Erhöhungschristologie, WMANT 69, Neukirchen-Vluyn 1994 (Lit.); U. Wilckens, Christus traditus, se ipsum tradens. Zum johaneischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu, in: E. Brandt (Hg.), Gemeinschaft am Evangelium (FS W. Popkes), Leipzig 1996, 363–383. 10 Gesehen von H. Thyen, Johannes 10 im Kontext des vierten Evangeliums, in: J. Beutler / ​ R. T. Fortna (Hgg.), The Shepherd Discource of John 10 and its Context, MSSNTS 67, Cambridge 1991, 116–134, hier 124–128. 11  Vgl. G. Mlakuzhyil, The Christocentric Literary Structure of the Fourth Gospel, AnBib 117, Rom 1987, 181–183.221.239–240; R. Kühschelm, Verstockung, Gericht und Heil. Exegetische und bibeltheologische Untersuchung zum sogenannten „Dualismus“ und „Determinismus“ in Joh 12,35–50, BBB 76, Frankfurt a. M. 1990, 14–16.

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2.  Abschied und neue Gegenwart

2,1–12, das erste Zeichen Jesu, und 11,1–44, das siebte Zeichen Jesu, bilden eine Inklusio ebenso wie die zwei Auferstehungskapitel 11,1–44 und 20,1–29. 2. Aus der Gliederung des JohEv ergibt sich ein relativer Neueinsatz in 13,1: Dieser Vers leitet den 2. Hauptteil des JohEv ein, indem er Themen des ersten Hauptteils aufnimmt (vgl. die zeitlich zulaufende Paschamotivik, „die Stunde“, „Hinübergang zum Vater“, „Liebe zu den Seinen“) und zugleich auf die Rückkehr Jesu zum Vater und die Vollendung seiner Sendung vorausblickt (vgl. 13,1e: τέλος und 19,28[bis].30: τελέω). 13,1–30, das letzte Mahl Jesu mit den Seinen, ist die grundlegende narrative Eröffnung und Situierung des gesamten zweiten Hauptteiles des JohEv. 13,1 ist mit seinen zeitlichen und inhaltlichen Aussagen ein unübersehbar starkes, narratives Signal, das die Abschiedsrede und die joh Passions‑ und Auferstehungserzählung umgreift und zusammenschließt (vgl. 13,3.6–10 und die Verratsankündigung in 13,10 fin.11.18.21–30). 3. Die erste ursprüngliche Abschiedsrede des Evangelisten ist 13,31–14,31. Die Inklusio 14,1 und 14,27 hat gliedernde Funktion: 13,31–38 – 14,1–27 – 14,28–31. In der die joh Mahlszene ursprünglich abschließenden Wendung 14,31ef wird die narrative Rahmung und Einbindung der Abschiedsrede direkt angesprochen. 18,1 ist deren ursprüngliche erzählerische Fortsetzung. 4. Die fortschreibende Theologie des JohEv hat die sich ihr bietende Chance genutzt,12 die Abschiedsrede in 13,1–14,31 einer komplexen relecture zu unterziehen. Sie ist vermutlich verantwortlich für die Einfügung von drei weiteren Redepartien in 15,1–16,4d; 16,4e–33 und 17,1–26. (a) Die Rede über die „Verbundenheit mit Jesus und die Geschiedenheit von der Welt“ in 15,1–16,4d knüpft an 13,1–14,31 an, führt zugleich aber weit über die dortigen Aussagen hinaus. (b) 16,4e–33 greift weitaus stärker als 15,1–16,4d auf 13,31–14,31 zurück und reflektiert erneut die Abschiedssituation. Die Redepartie Jesu 16,4e–33 lässt sich verstehen als „Variante“13 bzw. präziser als relecture14 zu 13,31–14,31. (c) Das Abschiedsgebet Jesu in 17,1–26, das sich durchgehend an den Vater richtet, enthält mit den Momenten der Rechenschaft und der Fürbitte Gattungsmerkmale der Abschiedsrede und ist als Ganzes als abschließender Kulminationspunkt der joh Abschiedsrede 13–17 zu verstehen. Die These von R. Bultmann, die Reden 15–17 seien „situationslos“15 gilt deshalb nur prima facie: Zwar unterbrechen sie den Zusammenhang von 14,31 und 18,1, gleichwohl sind die inhaltlichen Bezüge (Anspielungen, Wiederaufnahmen, Weiterführungen) unübersehbar und hermeneutisch wirksam.

12 Mit den Erweiterungen entspricht die joh fortschreibende relecture durchaus dem gattungsgeschichtlichen Befund zu den Abschiedsreden, die zur relecture geradezu einladen. 13  R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/1–4, Freiburg i. Br. I (1965) 71992, II (1971) 41985, III (1975) 61992, IV (1984) 31994, hier: Joh III 102. 14  Ebd. 103; so auch X . Léon-Dufour, Jean III (s. Anm. 5), 217. 15 R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK II, Göttingen (101941–211986) 171962, 349; vgl. J. Becker, Joh II (s. Anm. 8) 531.

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5. Hinsichtlich der literarkritischen und traditionsgeschichtlichen Beurteilung stehen sich – wie für das JohEv insgesamt – die Vertreter einer literarischen Einheitlichkeit16 und die Verfechter einer literarkritisch rekonstruierbaren Traditionsgeschichte17 gegenüber.18 Zu unterscheiden ist freilich zwischen Forschungspositionen, die eine redaktionsgeschichtliche Fragestellung methodologisch zurückweisen, und Positionen, die die vorliegende kanonische Endgestalt des JohEv als die auszulegende literarische Größe benennen,19 deshalb literar‑ und traditionsgeschichtliche Fragen jedoch nicht ausschließen. M. Winter rechnet damit, dass nur die 1. Vermächtnisrede 13,31–14,31 vom Evangelisten selbst stammt, die weiteren Vermächtnisreden 15,1–17; 15,18–16,4a; 16,4b– 33 bzw. das Abschiedsgebet Jesu Joh 17 in der vorliegenden Reihenfolge nacheinander von verschiedenen Redaktoren der joh Schule angefügt worden seien, da sie sich jeweils voraussetzen.20 Da die Versuche, 14,31ef in einem übertragenen bzw. doppeldeutigen Sinn zu interpretieren,21 sich als Verlegenheitslösungen zu erkennen geben und zudem über16   Vgl. u. a.: Ch. K.  Barrett, Das Evangelium nach Johannes, KEK Sonderb., (engl. London 1978) Göttingen 1990, 33–44; H. Thyen, Art. „Johannesevangelium“, TRE 17 (1987), 200–225. Kritisch hierzu A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1), 37–41. 17   Vgl. u. a.: J. Wellhausen, Das Evangelium Johannis, Berlin 1908, 79; J. Becker, Abschiedsreden (s. Anm. 8); Ders., Joh II (s. Anm. 8) passim; F. F. Segovia, The Theology and Provenance of John 15:1–17, JBL 101 (1982), 115–128; Ders., Farewell (s. Anm. 1), 319–327; J. Painter, The Quest for the Messiah. The History, Literature and Theology of the Johannine Community, (1991) 2nd rev. and enl. Ed., Edinburgh 1993, 417–435. 18  Zur Forschungsgeschichte und zum Stand der Forschung vgl. u.a: R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 13), 101–104; U. Schnelle, Die Abschiedsreden im Johannesevangelium, ZNW 80 (1989), 64–79; M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 214–227; A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1), 34–52. 19  Vgl. F. F. Segovia, Farewell (s. Anm. 1), 48: „The present text of the farewell speech undoubtedly did represent to someone, somewhere, at some time, not only a unified and coherent literary whole but also a proper and meaningful form of communication with an audience – an artistic and strategic whole.“ 20 Vgl. M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 231–260. In gewisser Spannung zueinander stehen seine Urteile, einerseits sei die Vermächtnisrede ein bevorzugter Ort von sekundären Ergänzungen und Erweiterungen, andererseits seien die joh Vermächtnisreden als Mitte des gesamten Evangeliums konzipiert. Diese Verlegenheit signalisiert, dass die Frage nach dem erzählerischen und hermeneutischen Ort der joh Abschiedsreden noch nicht befriedigend beantwortet ist. Ähnlich wie M. Winter urteilt auch Ch. Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden, WUNT 95, Tübingen 1997, 247–253, der die Texte, die er zuvor literarkritisch und theologisch entflochten hat, ebd. 359–362 wieder „als großes und differenziert gestaltetes Mosaik“ (360) zusammenführt. 21  Vgl. u. a.: U. Schnelle, Abschiedsreden (s. Anm. 18), 73 (kritisch zu ihm: M. Winter, Vermächtnis [s. Anm. 1], 223 f ); Ders., Das Evangelium nach Johannes, ThHK IV, Berlin 1998, 237 f; H. Zimmermann, Struktur und Aussageabsicht der johanneischen Abschiedsreden (Jo 13–17), BiLe 8 (1967) 279–290, 289 f (14,31ef als „doppelsinnige Wendung“); Ch. H.  Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, Cambridge (11953–81968), paperback editions (11968–71988) 81992, 406–409; T. Onuki, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium. Ein Beitrag zur Frage nach der theologischen und pragmatischen Funktion des johanneischen „Dualismus“, WMANT 56, Neukirchen-Vluyn 1984, 101; X . Léon-Dufour, Jean III (s. Anm. 5), 144. Auch Ch. Hoegen2

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2.  Abschied und neue Gegenwart

sehen, dass die V. 27–31 insgesamt Abschlusscharakter haben, führt kein Weg an einer literarischen Wachstumsgeschichte vorbei.22 Eine überzeugende Erklärung dieser Wachstumsgeschichte ermöglicht das von A. Dettwiler aufgewiesene Paradigma der relecture: Exemplarisch zeigt er auf, dass die Redepassagen 13,1– 17.34–35 bzw. 13,31–14,31 als Bezugstexte für die Rezeptionstexte 15,1–17 bzw. 16,4b– 33 interpretiert werden können.23 Gerade die joh Abschiedsrede zeigt nachdrücklich, dass vielfältige Grundmotive und ‑themen aus dem Prolog und aus den Reden Jesu im ersten Hauptteil aufgenommen und fortgeschrieben werden  – im Sinne einer diachronen relecture bzw. einer synchronen réécriture. Auch innerhalb der Abschiedsrede lassen sich relecture‑ bzw. réécriture-Prozesse verifizieren: So ergibt sich bei der vielverhandelten Auslegung des futurisch-eschatologischen Jesuswortes aus 14,2–3 im weiteren Verlauf des 14. Kapitels unter dem Gesichtspunkt einer réécriture eine Auslegung, die nicht auf die Korrektur, sondern auf die weiterführende thematische Entfaltung der in 14,2–3 grundgelegten Eschatologie zielt.24 Der hier verwendete Begriff von relecture setzt ein gegenüber A. Dettwiler erweitertes Verständnis voraus, das sich gleichwohl mit innerer Konsequenz aus seinem Ansatz ergibt: Wenn relecture beide Momente enthält, die „explizierende Rezeption“ und die „thematische Akzentverlagerung“, dann sind folgende Urteile von A. Dettwiler fragwürdig:

Rohls lehnt eine literarkritische Auswertung der Inkohärenz zwischen 14,31 und 15,1 ab (Dies., Johannes [s. Anm. 1], 87–88.121–122) und deutet die Aufforderung an die Jünger in 14,31ef „als Signal für die bevorstehende Zäsur zwischen den Zeiten“, der „in Form einer räumlichen Aussage dieselbe Funktion, die sonst den temporalen Angaben“ zukomme (ebd. 122) – was schwerlich zutrifft. L. Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 253–255.265 f, möchte 13,31–14,31 auf „die um Jesus versammelten Jünger“, 15,1–16,27 hingegen auf die „späteren Jünger einschließlich der Leser“ (254) bezogen sehen – was ebenso wenig zutrifft. Die gesamte Abschiedsrede 13,1–17,26 hat eine einheitliche Adresse. 22 J. Becker weist mit Recht darauf hin, dass der Abschnitt 14,27–31 als ganzer Abschlusscharakter hat, in: Ders., Abschiedsreden (s. Anm. 8), 217.227 f. Ablehnend zu „übertragenen“ Deutungen von 14,31ef äußern sich: Ders., ebd. 215.217 f; R. Schnackenburg, Aufbau und Sinn der Rede in Joh 15 (1975), in: Ders., Joh IV (s. Anm. 13) 153–164, 160; Ders., Joh III (s. Anm. 13,) 100.101–103; M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1) 243 ff. Die Positionen einiger Kirchenväter zu dem Bruch zwischen 14,31 und 15,1 referiert C. P.  Bammel, Farewell Discourse (s. Anm. 5), 205. 23  Vgl. die Vorstellung und Weiterführung dieses Ansatzes für die Johannesforschung in K. Scholtissek, Relecture  – zu einem neu entdeckten Programmwort der Schriftauslegung (mit Blick auf das Johannesevangelium), BiLi 70 (1997), 309–315; Ders., In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg, i. Br. 1999 (Kap. D.); „Relecture und réécriture“, in diesem Band, S. 173–202; vgl. auch J. Zumstein, La rédaction finale de l’évangile selon Jean (… l’éxample du chapitre 21), in: J.-D. Kaestli / ​J.-M. Poffet / ​J. Zumstein (Hgg.), La communauté johannique et son histoire. La trajectoire de l’évangile de Jean aux deux premiers siêcles, Genf 1990, 207–230 (mit einer guten Verhältnisbestimmung der Kap. 1–20 und 21); Ders., Le point de vue de l’école johannique sur les logia de Jésus dans le premier discourse d’adieu, RevSR 69 (1995), 59–70. 24 Vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 23) (Kap. E.IV.); Ders., Relecture und réécriture (s. Anm. 23).

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1. Der Text 15,18–16,4d könne nicht „oder allenfalls nur in dem abgeschwächten Sinne“ als relecture verstanden werden, da „er ein bereits in 13,31–14,31 vorliegendes Motiv – nämlich dasjenige des Welt-Gemeinde-Gegensatzes – aufgreift und profiliert ausbaut.“25 Was unterscheidet aber „aufgreifen“ und „profiliert ausbauen“ von „explizierender Rezeption“ und „thematischer Akzentverlagerung“? 2. Einen relecture-Bezug zwischen 13,31–14,31 und 15,1–17 lehnt A. Dettwiler mit der Begründung ab, die Immanenz-Sprache sei in 13,31–14,31 „für christologischtheologische und pneumatologische Aussagen reserviert“ und nur in Joh 15 seien Jünger Subjekt des μένειν.26 So sehr diese Differenz treffend beobachtet ist, belegt sie jedoch die gegenteilige Schlussfolgerung: Gerade die Entwicklung der Immanenz-Vorstellung zwischen Joh 14 und 15 zu einem Einbezug der Jünger ist auch ein relecture-Phänomen!27 3. Die methodologische Konzentration auf die relecture zwischen getrennten Textcorpora lässt synchrone réécriture-Prozesse innerhalb eines Redezusammenhangs nicht in den Blick kommen und steht in Gefahr, die Rekonstruktion der joh Gedankenbewegung innerhalb einer Rede dieses wertvollen heuristischen Schlüssels zu berauben. Unter dem Gesichtspunkt der réécriture muss der inhaltliche Spannungsbogen zwischen 14,2–3 und 14,23 gegen A. Dettwilers Auslegung nicht als „Modifikation“, sondern m. E. treffender als réécriture gedeutet werden, die die futurische Eschatologie in 14,2–3 nicht aushebelt, sondern auch dann gelten lassen kann,28 wenn diese tatsächlich um eine akzentuierte präsentischeschatologische Deutung erweitert und ergänzt wird. M. Winter verortet den Sitz im Leben der joh Abschiedsrede bewusst sehr allgemein in der Aufarbeitung des Bruches der joh Christen mit dem Synagogenverband.29 Dazu kann er mit Recht die gattungsgemäße Funktion von Abschiedsreden als literarische Krisenbewältigungsstrategie anführen.30 Gleichwohl ist es überzogen, die theologische Reflexion im JohEv insgesamt aus der Verarbeitung des Bruches mit dem Synagogenverband abzuleiten.31 Die joh Theologiegeschichte ist vielschichtiger: Gerade die komplexe Kompositionsgeschichte der joh Abschiedsrede, die sich einer fortschreibenden relecture des JohEv verdankt, und die theologischen Akzente sprechen für eine zeitlich und theologiegeschichtlich  A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1), 46.  Vgl. ebd. 60 f. 27  Unter Punkt „(2) Semantische Verschiebungen“ (ebd. 63) sieht A. Dettwiler dies auch selbst. Ein Beispiel fortschreibender relecture sind auch die fünf Parakletworte, die nur in der joh Abschiedsrede begegnen. 28  Vgl. die relecture-Regel 2 bei A. Dettwiler, ebd. 47 f. 29  Vgl. M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), bes. 290–297. S. E. ist das JohEv am Ende des 1. Jh. in Syrien entstanden (vgl. ebd. 292 Anm. 11). 30  Vgl. ebd. 212.291. 31  Vgl. aber K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München (1981) 41992; M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 291. Zur weiterführenden Frage antijüdischer Positionen im JohEv, vgl. „Antijudaismus im Johannesevangelium?“, in diesem Band, S. 483–508. 25 26

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2.  Abschied und neue Gegenwart

fortgeschrittenere Situation. So begegnet οἱ Ἰουδαῖοι in Joh 13–17 mit Ausnahme von 13,33 nicht! Die Konfrontationssituation hat sich offensichtlich verschoben. Der Sitz im Leben der joh Abschiedsrede und ihrer einzelnen Partien erschließt sich zwar auch aus ihrer Abgrenzungs‑ und Stabilisierungsfunktion nach innen und außen: In den verschiedenen Partien der joh Abschiedsrede schlägt sich der Reflexionsprozess innerhalb der joh Gemeinden und der joh Schule nieder über ihren soziologisch-ekklesiologischen und theologischen Standort „in der Welt,“32 aber nicht „aus der Welt.“33 Gleichwohl spricht die joh Abschiedsrede weitere theologische und hermeneutische Themenfelder an, die in die Mitte joh Theologie führen.

2.  Grenzen der narrativen Analyse von Joh 13–17 Innerhalb einer Analyse und Interpretation der joh Abschiedsrede lassen sich die Kommunikationsebenen (narration: real author  – implied author  – narrator  – narratee  – implied author  – real author), die Erzählinhalte (story: events, characters) und die narrative Organisation der Erzählinhalte (narrative: time, characterisation, focalisation) en detail untersuchen.34 Die Abschiedsrede selbst lässt sich im Rahmen einer narrativen Analyse als „speech act“ bzw. „verbal act“ von „non-verbal physical acts“ unterscheiden.35 Gleichwohl ist zu fragen, ob die narratologische Kriteriologie dem Redegenus, hier genauerhin der Abschiedsrede (bzw. in Joh 17: Gebet), umfassend gerecht wird. Der Berücksichtigung der Textsorte36 und der Frage nach Differenzen zwischen Erzähl‑ und Redetexten ist weiter nachzugehen. Die an Erzähltexten entwickelte Narratologie kann nicht unvermittelt auf längere Redetexte übertragen werden. Reden können zwar als Sprechhandlungen gedeutet werden,37 sie sind damit in ihrem rhetorischen Eigencharakter jedoch nicht umfassend erfasst. Hier zeigen sich Desiderate und die Grenzen der heuristischen Kapazität des erzähltheoretischen Ansatzes.38  Vgl. 1,10; 9,5; 13,1; 16,33; 17,11[bis].13.  Vgl. 15,19[tris]; 17,6.14[bis].15.16[bis]. 34  Vgl. zuletzt D. F.  Tolmie, Farewell (s. Anm. 1), und Ch. Koch, Abschied (s. Anm. 8). Narrative Analysen bieten auch: F. F. Segovia, Farewell (s. Anm. 1); G. R. O’day, „I have overcome the World“ (John 16,33). Narrative Time in John 13–17, Semeia 53 (1991), 153–166; R. A.  Culpepper, The Johannine HYPODEIGMA. A Reading of John 13, ebd. 133–152. 35  Vgl. hierzu D. F.  Tolmie, Farewell (s. Anm. 1), bes. 99. Joh 13–17, „dominated by directive speech acts“ (ebd. 185), sei „the largest single episode within the Fourth Gospel“ (164; vgl. 188); vgl. ebd. 99 f die verschiedenen Subkategorien der verbal acts. 36  Vgl. hierzu den einführenden Überblick bei W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg i. Br. (1987) 31993, 146–158 (Lit.). 37 Vgl. ebd. 126 f. 38 Vgl. ebd. 126: „Da in der narrativen Analyse nur Handlungen untersucht werden, sind die direkten Reden, die sich häufig in Erzählungen finden, nicht unmittelbar Gegenstand der 32 33

3.  Zur Unterscheidung und Verschmelzung der Zeitebenen in Joh 13–17

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Die Narratologie von G. Genette unterscheidet bei einer „Erzählung von Worten“39 zwischen (a) einer „narrativisierten oder erzählten Rede,“40 (b) einer „transponierten Rede“ (= indirekte Rede) und einer „berichtenden Rede.“41 Letzterer Gestalt der Rede schreibt G. Genette die „‚mimetischste‘ Form“ zu, da sie sich zunehmend von „jeder narrativen Vormundschaft befreit und sich sofort in den Vordergrund der ‚Szene‘ schiebt.“42 G. Genette betont: „Eine Erzählung kann, wie jeder sprachliche Akt, nur informieren, d. h. Bedeutungen übermitteln. Die Erzählung ‚repräsentiert‘ nicht eine (reale oder fiktive) Geschichte, sie erzählt sie, d. h. signifiziert sie durch die Sprache … Es gibt in der Erzählung keinen Platz für die Nachahmung, denn die Erzählung ist immer diesseits (als eigentliche Erzählung) oder jenseits von ihr (im Dialog).“43 Da das JohEv im Sinne der platonischen Unterscheidung der Darstellungsmodi nicht der Diegesis, der reinen dialogfreien Erzählung, sondern eher der Mimesis, der dramatischen dialoghaltigen Darstellung, zuzuordnen ist,44 stößt die narratologische Analyse und Interpretation an ihre Grenzen.

3.  Zur Unterscheidung und Verschmelzung der Zeitebenen in Joh 13–17 Bekanntermaßen spitzt sich in der Abschiedsrede die Frage nach den sich überschneidenden Zeitebenen im JohEv komplex zu.45 Dazu sind mehrere Interpretationsanläufe vorgetragen worden: narrativen Analyse.“ Die Reden Jesu im JohEv kommen bei R. A.  Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia (1983) 21987, nur unter dem Gesichtspunkt der Perspektive des Erzählers in den Blick. Zum Status der Rede in Unterscheidung von der narratio und zu einer weiterführenden Analyse der Reden Jesu nimmt er jedoch keine Stellung. 39  Vgl. G. Genette, Die Erzählung, utb 8083, hg. v. J. Vogt, München 1994 (32010), 120– 132.225–229. 40  Vgl. ebd. 121: eine Rede, „die vom Erzähler selbst vorgetragen und wie irgendein sonstiges Ereignis behandelt wird“. 41  Vgl. ebd. 123: eine Rede, „wo der Erzähler so tut, als rede nicht er, sondern die Person“. 42  Ebd. 123.124. 43  Ebd. 219 f. 44  Zu dieser Terminologie vgl. ebd. 201 f. In Aufbau und inhaltlicher Anlage von 13,1–17,26 sieht Ch. Koch den Handlungsablauf eines Dramas (die „endgerichtete“ Grundstruktur) mit den Elementen: Einleitung – erregendes Moment – steigende Handlung – Höhepunkt – Umschwung – fallende Handlung  – Lösung  – Schluss gegeben; vgl. Dies., Abschied (s. Anm. 8), 120 f. Auch wenn diese Interpretation in Anwendung auf 13,1–17,26 (!) nicht überzeugt, so gelingt es Ch. Koch dennoch, das „Anteil-Haben an der Lebenswirklichkeit Jesu“ (ebd. 285) als das Leitthema des Abschieds Jesu in Joh 13–17 in ihren Detailanalysen wie in der Rahmung (vgl. 13,1.8 und 17,26) aufzuweisen. In dem Kapitel mit der bezeichnenden Überschrift „Die Tendenz zur Monologisierung des Dialogs“ (ebd. 89–95) deutet die Verfasserin das Problem an: Es handelt sich um Reden Jesu, genauerhin um Abschiedsreden, die zwar narrativ verortet sind, aber auch einer eigenen gattungsspezifischen Analyse bedürfen. 45 R. A.  Culpepper betont: „The temporal perspectives of the farewell discourse are notoriously difficult to sort out“ (Ders., Anatomy [s. Anm. 38], 36); vgl. J. Neugebauer, Aussagen (s.

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2.  Abschied und neue Gegenwart

1. Innerhalb der übergreifenden Frage nach der Erzählperspektive im JohEv,46 genauerhin nach dem Verhältnis zwischen dem Erzähler und Jesus,47 stellt R. A.  Culpepper heraus, dass der point of view des Erzählers und derjenige Jesu neben den vorausgehenden Passagen im JohEv auch in der Abschiedsrede sehr weitgehend übereinstimmen: „Both Jesus and the narrator are omniscient, retrospective, and ideologically and phraseologically indistinguishable.“48 Mit den Erzählkommentaren in 6,71; 7,30.39; 8,20.27; 9,22; 11,51–53; 12,6.16.33.42; 13,11 und in 18,32 arbeitet der Erzähler der Erzählperspektive und den Inhalten der Abschiedsrede Jesu vor: „The correlation of the narrator’s explanatory comments with the themes of the farewell discourse is surprising. … the narrator and Jesus deal with the same themes and use the same key terms in the same ways.“49 Während sich in 17,4.6.11 retrospektive Aussagen Jesu finden, in denen Jesus als Erhöhter spricht, finden sich in Joh 13–16 vorwiegend proleptische Aussagen (13,7.36; 14,12.29; 15,21; 16,2–4.22–23).50 Zwischen 3,13 und 14 wechselt der „temporal point of view“: „The imposition of one time on another, one voice on another, requires the reader to hear Jesus speaking to the reader’s time through the narrator and hence the gospel.“51 2. In ihrer Analyse der „narrative time“ in Joh 13–1752 geht G. R. O’Day davon aus, dass die von G. Genette eingeführten Kategorien zur narrativen Organisation von Zeit (Analepsen, Prolepsen)53 für das Verständnis der joh Abschiedsrede nicht ausreichen bzw. aus theologischen Gründen gesprengt würden. Die joh Abschiedsrede sei „in a very real sense“ eine einzige Anachronie: „It is not simply that certain parts of the farewell dicourse disturb the temporal sequence of the narrative, but rather the discourse itself disturbs the sequence of the gospel narrative. … These chapters bring the future and the present together in one narrative moment in ways that challenge conventional notions of time.“54

Das „intrinsic temporal paradox“ erkläre sich dadurch, dass Jesus hier von einem nachösterlichen Standpunkt aus spreche. 13,31 und 17,1 bestimmten den Rahmen, innerhalb dessen alle zeitlichen Aussagen der joh Abschiedsrede gelesen werden Anm. 1), 38: „So stellt sich gerade das zentrale Kriterium der Zeitverhältnisse in den joh Abschiedsreden als Hauptproblem dar.“ Vgl. die ausführlichen Analysen: Ch. Koch, Abschied (s. Anm. 8), 45–110 (ebd. 67–95 die Hinweise auf „zeitraffendes, zeitdehnendes und zeitdeckendes Erzählen“ in Joh 13–17); J. Frey, Die johanneische Eschatologie II. Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 110, Tübingen 1998. 46  Vgl. R. A.  Culpepper, Anatomy (s. Anm. 38), 13–49. 47  Vgl. ebd. 34–43. 48  Ebd. 36. 49 Ebd. 39.40. 50 Ebd. 37: „Therefore, while the narrator views Jesus retrospectively in the rest of the gospel, in the farewell discourse Jesus speaks proleptically of the life situation of the fictional narrator, which probably correponds to that of the author himself.“ 51  Ebd. 42. 52 Vgl. G. R. O’Day, World (s. Anm. 34). 53  Vgl. G. Genette, Erzählung (s. Anm. 39), 32–59. 54  G. R. O’Day, World (s. Anm. 34), 156.

3.  Zur Unterscheidung und Verschmelzung der Zeitebenen in Joh 13–17

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mussten: „… the arrival of the hour is the governing narrative reality of the discourse. It is also the governing theological reality.“55 M. E. ist die Deutung von G. R. O’Day in Gefahr, durch die starke Hervorhebung von 13,31; 16,33e56 und 17,1 die Spannungen innerhalb des Textes, die sie selbst nennt, zu überspielen: Einerseits spricht Jesus in der gekommenen „Stunde“ aus der Abschiedsperspektive (vgl. 13,19.31.33; 14,2–3.25–26.29; 15,11; 16,1.4.28; 17,13), andererseits blickt er als Sprechender auf den „Sieg“ über die Welt zurück (vgl. 16,33; 17,11). Diese Spannung darf nicht einseitig aufgehoben werden; beide Perspektiven, die vor‑ wie die nachösterliche, sind bei aller Überblendung ernst zu nehmen. M.a.W.: Der joh Jesus als Sprecher der Abschiedsrede verlässt die Situation des Abschieds nicht einfach (vgl. „narrative out of place and out of time“57), sondern arbeitet sie im Licht des Osterglaubens auf. Diese temporale Dialektik entspricht der christologischen Dialektik von Abschied und Tod Jesu einerseits und nachösterlich neuer Gemeinschaft mit Jesus andererseits.58 3. D. F.  Tolmie59 schlägt innerhalb seiner Ausführungen zu „narrative time“ in Joh 13–17 eine Erklärung des Phänomens der Anachronien in Joh 13–17 vor, die die Kriteriologie von G. Genette60 nicht sprengt, sondern differenziert: Er unterscheidet zwischen „anachronies in the narrative“ und „anachronies embedded within the story level“: Nur eine „anachrony in the narrative“ sei im strengen Sinn eine Anachronie, in welcher „the implied author places an event in a position in the narrative text that does not correspondend to the place it occupies in the story level“. Eine „anachrony embedded in the story level“ liege vor, wenn zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb der Erzählung in einer wörtlichen Rede z. B. eine Voraussage begegne, die sich auf ein späteres Ereignis innerhalb der Gesamterzählung beziehe. Die Anwendung dieser Kategorien auf Joh 13–17 läuft faktisch darauf hinaus, alle Anachronien als „anachronies embedded in the story level“ zu verstehen, faktisch also Anachronien im strengen Sinne zu bestreiten:61 Dies zeigt sich insbesondere in seiner Deutung von 16,33; 17,11 und 17,24, drei Stellen, die am deutlichsten als „anachronies in the narrative“ bestimmt werden können (und müssen). In allen drei Fällen liegt s.E. „a technique“ „with a powerful effect“ vor: „Jesus is speaking ‚as if ‘ these events have already taken place  – a technique that puts across the

55 Ebd.

159. ebd. 163: „John 16:33 makes categories of prolepsis, anticipation, and retrospection essentially non-functional because it establishes its own temporal order.“ 57 Diese Formulierung ist übernommen von ebd. 157.164. 58 Vgl. auch A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1), 28: „Die joh Gemeinde sieht sich durch das Wort Jesu direkt angesprochen – und dennoch erlangt sie diese Direktheit der Beziehung mit Jesus durch sein Wort nur im jeweils neu zu vollziehenden Durchgang durch die im Text vermittelte Ursprungssituation ‚irdischer Jesus – Jünger erster Hand‘.“ 59  Vgl. D. F.  Tolmie, Farewell (s. Anm. 1), 145–180. 60  Vgl. G. Genette, Erzählung (s. Anm. 39), 23–59. 61  Vgl. D. F.  Tolmie, Farewell (s. Anm. 1), 155.157. 56 Vgl.

380

2.  Abschied und neue Gegenwart

notion that Jesus knew for a fact that these things would happen.“62 Ziel dieser Technik sei es, „to put across forcefully the notion of Jesus’ absolute certainty that the events will occur exactly the way he knows they will.“63 D. F. Tolmie schließt damit aus, dass hier – im Sinne des Evangelisten – der „österlich-erhöhte Jesus spricht.64 Die Deutung der Worte Jesu in 16,33 und 17,11.24 mit dem von D. F. Tolmie neu eingeführten Verstehensschlüssel „as if “ ist jedoch gewaltsam. Die folgende zirkuläre Argumentation schließt streng genommen sogar die von ihm eingeführte Kategorie „anachrony in the narrative“ prinzipiell aus: „Since this statement (16,33; Anm. d. Verf.) is placed within the chronological framework of the rest of the Farewell Discourses that clearly situates the narrated events on the evening before the cruxification, the only way in which this statement can be understood narratologically is by assuming that Jesus is speaking ‚as if ‘ … .“65 4. Chr. Hoegen-Rohls hat luzide herausgearbeitet, wie der Evangelist im gesamten JohEv und insbesondere in den Parakletworten die Momente der Diskontinuität (= Zäsur; vgl. bes. die Erzählerkommentare), der Kontinuität und der Verschmelzung der Zeiten profiliert.66 Die zeitverschmelzende Projektion der nachösterlichen Glaubenssicht in die vorösterliche Zeit67 ermöglicht (a) das Wiederfinden der eigenen Situation der nachösterlichen Adressaten im Evangelium, (b) die Benennung positiver Möglichkeiten ihres Glaubens und Wirkens in ihrer nachösterlichen Gegenwart und (c) einen Verfremdungseffekt, der eine kritische und produktive Reflexion eröffnet.68 16,16–24 („Zwischen Trauer und Freude“) hebt die bleibende Dialektik und Ambivalenz auch der nachösterlichen Zeiterfahrung hervor: Christen leben auf der Grenze zwischen einem ‚Nicht-mehr-Sehen‘ und einem neuen ‚Sehen‘ Jesu (vgl. nur 16,16 und die Geburtsmetaphorik in 16,2269). Ihr Glaube ist weiterhin  Ebd. 155; vgl. ebd. 221.  Ebd. 157; vgl. 194. 64  Vgl. auch seine, m. E. von Präjudizen bestimmte Kritik an G. R. O’Day, ebd. 152 f, Anm. 35. Die Annahme, hier spreche der Erhöhte, unterläuft – D. F.  Tolmie zufolge – die christologische Intention der Prolepsen, Jesus als denjenigen zu profilieren, der zukünftige Ereignisse zuverlässig vorhersagen könne. 65 Ebd. 155. 66  Vgl. Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 1), bes. 225–229. Vgl. schon F. Muẞner, Sehweise (s. Anm. 7), 28 („Verschmelzung der Zeitenhorizonte“); vgl. auch C. Hergenröder, Wir schauten seine Herrlichkeit. Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont der Selbsterschließung Jesu und Antwort des Menschen, FzB 80, Würzburg 1996, 577–597. 67  F. Hahn spricht in diesem Zusammenhang von „Horizontverschmelzung“ sowohl der zeitlichen als auch der räumlichen Dimensionen; vgl. Ders., Sehen und Glauben im Johannesevangelium, in: Neues Testament und Geschichte (FS O. Cullmann), Zürich / ​Tübingen 1972, 125–141, hier 140 f. Vgl. W. Thüsing, Die Erhöhung und Verherrlichung Jesu im Johannesevangelium, NTA 21, Münster (1959) 31979, bes. 201–204 (hier 204: „ineinanderprojizieren“). 68 Vgl. Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 1), 228. 69 Zum symbolischen Gehalt des Bildwortes in 16,22 vgl. M. W. G.  Stibbe, John (Readings: A New Biblical Commentary), Sheffield 1993, 174 f, der sowohl die nachösterliche Jüngersituation als auch die joh Passionschristologie angesprochen sieht. Der ekklesial-familienmetaphorische 62 63

3.  Zur Unterscheidung und Verschmelzung der Zeitebenen in Joh 13–17

381

bedroht und angefochten (vgl. 16,29–33).70 „In Jesus“ werden sie Frieden haben, „in der Welt“ werden sie bedrängt sein (vgl. 16,31). Auch die Analyse und Interpretation der joh Pneumatologie, der Ch. HoegenRohls zu Recht ein hohes Gewicht einräumt, begründet ihre These von der Abschiedsrede als hermeneutischem Schlüssel der joh Evangeliendarstellung. Die joh Theologie, die sich selbst versteht als „Sehen“ und „Erkennen“ aufgrund des prophetischen Geistwirkens, hält deshalb beides fest: die irdische Wirksamkeit Jesu als maßgeblichen (aber nicht alleinigen) Ort endzeitlicher Gottesoffenbarung und die nachösterliche Situation als Zeit neuer Begegnung mit Jesus und dem Vater. Im Glauben zugänglich wird diese Begegnung in der vom Geistwirken unterfangenen wechselseitigen Liebe und Immanenz zwischen Jesus bzw. dem Vater und den Christen. 5. Die Verse 16,33; 17,11.24 (und nicht nur sie) können m. E. innerhalb der Ebene der erzählten Welt nur als Anachronien im strengen Sinn gedeutet werden. Der Sprecher Jesus antizipiert hier gerade nicht eine zwar sicher, jedoch erst zukünftig eintretende Situation, sondern er setzt als Sprechender den bereits erfolgten Sieg über die Welt bzw. die bereits erfolgte Erhöhung voraus, er spricht post factum. In diesen Versen wendet sich – so die erzählerische Darstellung – der Erhöhte selbst im Munde des Abschiednehmenden direkt an seine Jünger bzw. an seinen Vater. Vor‑ und nachösterliche Situation werden hermeneutisch fruchtbar ineinander geblendet, so dass eine echte Anachronie vorliegt: In der Abschiedsrede spricht der Erhöhte vor der Erhöhung. Eben dieses Phänomen ist jedoch im JohEv keine Ausnahme, sondern ein durchgehend zu beobachtendes Charakteristikum der „joh Sehweise“: In den joh Offenbarungsreden, konzentriert in den absoluten und prädizierten „Ich-Bin“Worten, spricht der inkarnierte Sohn Gottes, der zugleich der erhöhte Menschensohn und Kyrios ist. Von dieser im Licht des Osterglaubens erkennbaren Identität des Irdischen mit dem Erhöhten sieht der Erzähler des JohEv von allem Anfang an nicht ab. Gleichwohl verunsichert der Erzähler seine Leser nicht: Der joh Prolog als hermeneutische Tür zum JohEv, die erzählerische Realisierung der joh Sendungschristologie, die nachösterliche Anamnese und Schrifterkenntnis der Jünger sowie die Theologumena von der „Stunde“ Jesu bzw. der Erhöhung und Verherrlichung des Menschensohnes, durch die der Leser an der auktorialen Erzählperspektive partizipiert, sichern und reflektieren das Fundament der joh Erhöhungschristologie: die Inkarnation des Logos in der Zeit, die Offenbarung des Vaters in der „Exegese“ des Sohnes (vgl. 1,18) und den Vollzug der in die Glaubensentscheidung führenden Sendung Jesu bis zur Vollendung am Kreuz als Ort der Erhöhung (vgl. 12,32–33; 13,1; 19,28–30).

Bezug kann aufgrund des Gesamtbefundes zur Familienmetaphorik im JohEv (s. Anm. 88) kaum bestritten werden. 70  16,32 ist im JohEv eine externe Prolepse.

382

2.  Abschied und neue Gegenwart

Es gehört geradezu zum Proprium der joh Evangeliendarstellung und ihrer mystagogischen Kompetenz, die Geschichte Jesu so zu erzählen, dass in allen Episoden ein Überstieg möglich wird: Solch ein joh Überstieg ist kein Ausstieg aus der erzählten Welt, sondern ein Überstieg von der Oberfläche des Geschehens zu ihrer soteriologischen Abgründigkeit (vgl. die joh Missverständnisse). Solches Offenbarungsgeschehen in der Begegnung mit Jesus ist bei aller geschichtlichen Einmaligkeit und Prärogative nach joh Verständnis keine definitiv beendete, sondern eine in der Sendung und Erhöhung Jesu eine für allemal initiierte und bleibend ermöglichte Wirklichkeit.

4.  Der gattungsgeschichtliche Beitrag zur Interpretation der johanneischen Abschiedsrede71 In der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition72 lässt sich die folgende Geschichte der Gattung Abschiedsrede erkennen:73 Der vorliterarische Ursprung der Abschiedsrede liegt im Sterbebettsegen. Der pater familias sammelt seine Familie um sich und segnet sie. Ein erstes literarisches Stadium zeigt sich in 1 Kön 2 und Gen 27; 47–50: Inhaltlich geht es um die Einheit von rechtlichem und geistig-geistlichem Vermächtnis. Als Gattungs­ 71  Vgl. aus der Forschung: T. Onuki, Abschiedsrede (s. Anm. 21); J. Becker, Abschiedsreden (s. Anm. 8); Ders., Joh II (s. Anm. 8), 523–529 (Lit.); F. F. Segovia, Farewell (s. Anm. 1), 5–20; M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1) (Lit.); vgl. ebd. 9–36 den forschungsgeschichtlichen Überblick zu den Positionen von E. Stauffer, J. Munck, K. Baltzer, H.-J. Michel, A. B.  Kolenkow, E. Cortès, E. von Nordheim, A. Hultgard, J. Becker, J. Blank, K. Berger und J. Beutler. Die von M. Winter favorisierte Gattungsbezeichnung „Vermächtnisrede“ (vgl. ebd. 36–38) wird hier nicht übernommen, da mit dem Namenswechsel allein keine Präzision gewonnen und die „Vermächtnisrede“ auch bei M. Winter sehr offen definiert wird. Zur Arbeit von M. Winter vgl. neben A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1), 14–21, auch die Rezension von K. Scholtissek, ThRv 93 (1997), 223–225. Einen eigenwilligen und nicht überzeugenden Vorschlag unterbreitet C. Laufer, The Farewell Discourse in John’s Gospel as a Commentary on the Seder Service, Colloquium 27 (1995), 147–160: 13,1–17,26 lasse sich als geschlossene Einheit als Kommentar Jesu zum Paschamahl mit den Jüngern deuten. Die angeführte Tabelle mit der Parallelisierung von Elementen der Sederfeier und der joh Abschiedsrede (ebd. 156 f ) zeigt jedoch überdeutlich die massiven Divergenzen, zumal breite joh Passagen in ihren Eigenaussagen nicht oder kaum zur Geltung kommen. 72  Vgl. M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 45–213. Für das AT untersucht er Gen 27,1– 40; 47,29–50,14; 50,22–26; Dtn (bes. 31–34); Jos 23–24; 1 Sam 12; 1 Kön 2,1–10; 1 Chr 28–29 (22,[5]6–16); Tob 4,1–21; 14,1–11; 1 Makk 2,49–70; aus dem Bereich der frühjüdischen Schriften: äthHen; slHen; Jub; LibAnt; AssMos; TestIs; TestHiob; syrBar; IV Esr; TestXII (bes. TestIss). Einflüsse aus dem Bereich der griechisch-römischen Antike mit den hier verbreiteten ultima verba stellen M. Winter (ebd. 33 f.36.39–41) und A. Dettwiler (vgl. Ders., Gegenwart [s. Anm. 1], 13–15) zurück (klassischer Bezugstext ist Plat Phaid); anders freilich K. Berger, der in Joh 13– 17 zwei „Testamentarische Reden“ (13,31–35; 15,1–16,4), in 13,36–14,31 einen „Lehrdialog“ mit testamentarischen Elementen und in 16,5–33 eine „Trostrede“ erkennt; vgl. Ders., Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW II 25,2 (1984), 1031–1432.1831–1885, hier 1257–1259; Ders., Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 75–80. 73  Zum folgenden vgl. M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 205–213.

4.  Der gattungsgeschichtliche Beitrag zur Interpretation der johanneischen Abschiedsrede 383

elemente liegen vor: privat-familiärer Anfangs‑ (Abschiedssituation,74 Einführung von Redner und Adressaten) und Schlussrahmen (Notiz über Tod, Begräbnis und Trauer) und Redekorpus (Rückblick auf die Vergangenheit, Paränese, Ansage der Zukunft), der aus dem Sterbebettsegen hervorwächst. Die ersten Verfasser einer Sterbebettszene haben sich „eines literarisch-fiktiven Rahmens bedient, um damit ihre historische Aussageabsicht, die Legitimierung politischer Machtansprüche, zu realisieren.“ 75 Ein zweites literarisches Stadium (deuteronomistische Schule)76 zeigt folgende Entwicklungen: Die Rede wird offiziell und öffentlich gehalten, sie legitimiert den religiös-politischen Nachfolger. Der Redekorpus ist dreigeteilt: Rückschau in die Vergangenheit, Tora-Paränese und Zukunftsansage. Diese Konzeption ist „mit dem Ziel entworfen, die durch das Exil in eine radikale Krisis geratenen Israeliten durch den Hinweis auf die Tora als Basis und Norm ihres Lebens zu ermahnen und zu ermutigen.“ 77 Schließlich wirken in frühjüdischer Zeit weisheitliche und apokalyptische Einflüsse auf die Abschiedsreden ein. Zur Gattung Abschiedsrede gehören im berichtenden Rahmen die Redeeinführungsformel78 bzw. die Redebeschlussformel79 sowie in der direkten Rede die Redeeinleitungsformel80 als direkte Anrede der Adressaten bzw. die Redeabschlussformel.81 Die alttestamentlichen und frühjüdischen Vergleichstexte belegen die Annahme, dass die Abschiedsrede „ein besonders bevorzugter literarischer Ort für redaktionelle Erweiterungen und Ergänzungen“82 ist. Die Frage, wie nahe sich die joh Abschiedsrede und die gnostische Gattung der Dialoge des Erlösers kommen, hat A. Dettwiler erneut aufgenommen83 und die Strukturparallelen (Personenkonfiguration, Dialogsequenzen, literarische Stilmittel, Jesuslogien) sowie eine vergleichbare pragmatische Funktion (innergemeindliche Unterweisung und Belehrung) und die erheblichen Differenzen benannt. Das gegenüber dem jüdischen und dem gnostischen Traditionsbereich eigene literarische und theologische Profil der joh Abschiedsrede bestimmt A. Dettwiler  In TestNaph 1,2 ist wie in Joh 13,1–30 auch von einem letzten gemeinsamen Mahl die Rede.  M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 205. 76  Vgl. Dtn 31–34; 1 Sam 12 (1 Kön 2: David und Salomo). 77  M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 206. 78  Vgl. TestSim 1,2: „… und sprach: …“. 79  Vgl. TestSim 8,1: „… und Simeon beendete seine Befehle an seine Söhne“. 80  Vgl. TestSim 2,1: „Hört, Kinder, Simeon, euren Vater“. 81 Vgl. TestSim 7,3: „… darum befehle ich euch dieses, damit auch ihr es euren Kindern befehlt“. 82  M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1) 229 (mit Hinweis auf Gen 47–50; Dtn; Jos 23–24; 1 Kön 2; äthHen; TestXII); vgl. 205. Vgl. J. Becker, Joh II (s. Anm. 8), 525. 83  Vgl. A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1) 21–29 (vgl. ebd. Lit.). Hinzuweisen ist hier insbes. auf H. Koester, Les discours d’adieu de l’évangile de Jean. Leur trajectoire au premier et deuxiême siêcle, in: La communauté johannique (s. Anm. 23), 269–280; Ders., Ancient Christian Gospels. Their History and Development, London 1990 (173–271: zum JohEv); vgl. auch die Monographie von U. Schoenborn, Diverbium Salutis. Literarische Struktur und theologische Intention des gnostischen Dialogs am Beispiel der koptischen ‚Apokalypse des Petrus‘, (StUNT 19, Göttingen 1995 (Lit.; hier 16–18 zu H. Koester). 74 75

384

2.  Abschied und neue Gegenwart

im Ausgang von der innerjoh Frage, wie die Vermittlung und Erfahrung von Heil noch möglich ist, „wenn der joh Christus als Vermittler und Inkarnation dieses Heils selbst nicht mehr unmittelbar zugänglich ist.“84 Ein bedeutender Unterschied zwischen der joh Abschiedsrede und den gnostischen Abschiedsreden ist die stärkere geschichtliche Rückbindung der testamentarischen Worte Jesu: Spricht Jesus im JohEv vor seinem Tod, so in den gnostischen Texten in der zeitlich gestreckten Zeit zwischen seiner Auferstehung und Himmelfahrt.85 Neben den Gemeinsamkeiten zwischen alttestamentlichen und frühjüdischen Abschiedsreden und der joh Abschiedsrede fallen die freie Handhabe der formalen Typik einer Abschiedsrede und insbes. die Unterschiede ins Gewicht:86 Die joh Abschiedsrede ist innerhalb der erzählten Kommunikation keine öffentliche, sondern eine an die Jünger Jesu gerichtete Rede Jesu. Im strengen Sinne der Blutsverwandtschaft ist sie auch nicht als privat-familiäre Abschiedsrede zu bezeichnen.87 Berücksichtigt man jedoch die joh Familienmetaphorik88 und insbesondere die joh Neudefinition der Verwandtschaft Jesu, die an die Stelle der Blutsverwandtschaft (vgl. 1,13; 3,4–6) die Gotteskindschaft (vgl. 1,12) bzw. Wiedergeburt „aus Wasser und Geist“ (3,5) setzt, ist die durch die Gattung Abschiedsrede eingespielte Analogie unübersehbar: Der abeundus Jesus wendet sich mit seinem rechtlichen und geistig-geistlichem Vermächtnis an seine τεκνία (13,33a),89 an die durch den Glauben an ihn konstituierte und weiterhin sich konstituierende Verwandtschaft, die neue familia dei.90 Das Element der Rückschau des Scheidenden begegnet in der joh Abschiedsrede nur sehr knapp, dann aber konzentriert (vgl. das erwählende Handeln Jesu [13,18; 15,16.19], die Liebe Jesu [13,1.6–10.34; 15.9–12]; vgl. aber den Charakter des Rechenschaftsberichts in Joh 17).91

 A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1), 33.  Als einzige Ausnahme weist A. Dettwiler auf 1ApcJac (NHC V,3) hin. Hier gibt es einen vor‑ und einen nachösterlichen Gesprächsgang zwischen Jakobus und dem Herrn. 86  Vgl. hierzu die Ausführungen von J. BECKER, Joh II (s. Anm. 8), 526–529; M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 304–320. 87  Darin ist M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 304, Recht zu geben. 88  Zur joh Familienmetaphorik vgl. neben M. W. G.  Stibbe, John as Storyteller. Narrative Criticism and the Fourth Gospel, MSSNTS 73, Cambridge 1992, 50–66.148–167; D. Rusam, Die Gemeinschaft der Kinder Gottes. Das Motiv der Gotteskindschaft und die Gemeinden der johanneischen Briefe, BWANT 133, Stuttgart 1993; „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, in diesem Band, S. 205–229. 89 Die Anrede mit „Kinder“ (τεκνίον/τέκνον; παιδίον) oder „Geliebte“ (vgl. äthHen 91,3; 94,1) ist ein topischer Zug der Redeeinleitungsformel der Gattung Abschiedsrede; vgl. M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), passim. M. Winter argumentiert: Gerade weil mit der Anrede „Kinder“ in 13,33a und der Bezeichnung „Waisen“ in 14,18 in einer für das JohEv untypischen Weise „das Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern … mit dem Vater-Kind-Verhältnis gleichgesetzt“ (ebd. 271) werde, sei hier ein deutliches Signal für die Gattung Abschiedsrede. Dabei verkennt er jedoch die joh Familienmetaphorik. 90  Vgl. auch die Auslegung von 19,25–27 in K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 23) (Kap. E.IV.3.). 91  Mit A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1), 19 f. 84 85

5.  Joh 13–17 als eine Abschiedsrede

385

Die Abschiedsrede gibt eine unvergleichliche, christologische Würde des Scheidenden zu erkennen und ordnet seinen Abschied in eine christologische Konzeption ein (die Sendung des Sohnes und seine Rückkehr zum Vater). Auch die christologischen Heilsaussagen (vgl. 14,6.23; 15,1.5), die Verheißung des kommenden Parakleten sowie die präsentisch-eschatologischen Aussagen überschreiten inhaltlich die klassischen Topoi einer Vermächtnisrede. Die joh Abschiedsrede sucht ja das Paradox zu bewältigen, dass der Abschiednehmende gerade durch seine Erhöhung zum Vater in neuer Weise gegenwärtig ist.

5.  Joh 13–17 als eine Abschiedsrede Die eingefügten Redepassagen im Anschluss an 13,31–14,31, der ursprünglichen Abschiedsrede Jesu im JohEv, sind bei einer synchronen Interpretation nicht je für sich als einzelne Abschiedsreden im strengen gattungsspezifischen Sinn zu verstehen, sondern bilden im neuen Gesamtzusammenhang von Joh 13–17 eine einzige vielschichtige Abschiedsrede, dessen Redekorpus mit dem Abschiedsgebet als Klimax in 17,1–26 gattungsgemäß92 schließt und in Joh 18–20 einen – freilich umfangreichen und theologisch gewichtigen – „berichtenden Abschluss“ findet.93 Diese These berücksichtigt (a) den eröffnenden Charakter der Verse 13,1–30 als narrative Situierung der gesamten Rede Jesu zwischen seinem öffentlichen Wirken nach 1–12 und seiner Passion und Auferstehung, (b) die Aussagen in 13,1–30, die die Ausführungen in 13,31–17,26 vorbereiten,94 (c) die durchaus gattungsgemäße thematische Geschiedenheit verschiedener Redepartien, (d) den deutlich erkennbaren und ebenfalls gattungstypischen literarischen Wachstumsprozess (vgl. Gen 47,29–50,1495), (e) die Tatsache, dass innerhalb einzelner Partien teils nur bestimmte Gattungsmerkmale zu verifizieren sind, (f ) die Offenheit und kom Zum Gattungselement Abschiedsgebet vgl. Plat Phaid 117BC.

92

93 Vgl. A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1), 19. M. Winter entscheidet sich nicht wirklich, ob

er die Kapitel 13–17 auf der Ebene der synchronen Interpretation des Endtextes insgesamt als eine Abschiedsrede versteht, oder ob es sich um mehrere addierte Abschiedsreden handelt. Er neigt freilich zu letzterer Position, wenngleich seine Analyse von 13,1–30 für erstere spricht. Die daraus resultierende Verlegenheit spiegelt sich auch in der erkennbar bemühten Klassifizierung der Passagen 15,1–17 und 15,18–16,4a als Abschiedsreden. R. A.  Culpepper spricht durchgehend – m. E. zu Recht – von „farewell discourse“ im Singular, in: Ders., Anatomy (s. Anm. 38), 32–43 u. ö.; so auch F. J.  Moloney, A Sacramental Reading of John 13,1–38, CBQ 53 (1991), 237–256, hier 240. 94 Vgl. hierzu die Ausführungen von F. F. Segovia, Farewell (s. Anm. 1), 316–319. Vgl. J. C.  Thomas, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, JSNT.S 61, Sheffield 1991, 187: 13,1–20 „is a strategic part of the farewell materials, for as an act of preparation it epitomizes the farewell discourses as a whole“. 95  Zur traditionsgeschichtlichen Wachstumsgeschichte von Gen 47,29–50,14 vgl. M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 50–65, hier 63: In Gen 47,29–50,14 kommt „ein Prozeß zu einem gewissen Abschluß, in dem die traditionsgeschichtlich alte Sterbebettszene mit den Segensworten des moriturus sich als ein Anziehungspunkt erweist, der im Laufe der Zeit unterschiedliches Material an sich bindet und durch die Klammer von Abschied und Tod/Begräbnis zusammenhält“; vgl. auch Dtn; Jos 23–24; äthHen.

386

2.  Abschied und neue Gegenwart

positorische Freiheit der Gattung Abschiedsrede,96 (g) das Gebet Jesu in Joh 17 als abschließende Klimax der Abschiedsrede97 und (h) die theologischen Intentionen der traditionsgebundenen Fortschreibung im JohEv. F. F.  Segovia hat in seiner synchronen Analyse die These ausführlich begründet, dass 13,31–16,33 (17,1–26) – unbeschadet einer traditionsgeschichtlichen Wachstumsgeschichte98  – als eine einzige Abschiedsrede zu bestimmen ist.99 Dazu weist er auf die thematischen und strategischen Verbindungslinien im Ausgang von 13,31–32 hin: „All that follows 13:31–32, therefore, directly or indirectly constitutes a commentary on, or explanation of, the beginning announcement of glorification.“100 Aus der Perspektive der Gattungskritik sind auch die Kapitel 18–20 Bestandteil der Abschiedsrede:101 Sie bilden den dem berichtenden Anfangsrahmen (vgl. 13,1–30) korrespondierenden berichtenden Schlussrahmen mit den topischen Elementen: Tod, Begräbnis, Trauer. Diese Motive liegen der Darstellung Joh 18–20 zugrunde, werden in der joh Darstellung freilich auch in charakteristischer Weise überwunden.

6.  Die Reden Jesu im Johannesevangelium und die Abschiedsrede Zur Analyse und Interpretation der Abschiedsrede Jesu 13,31–17,26 sind neben dem religionsgeschichtlichen Gattungsvergleich auch die anderen Reden Jesu im JohEv zu berücksichtigen. Letztere Aufgabenstellung ist in der Forschung oft nicht genügend beachtet. Das Proprium der joh Abschiedsrede erhellt nicht nur aus dem Vergleich zwischen alttestamentlich-jüdischen Abschiedsreden, sondern auch unter Berücksichtigung der Thematik, des Sprachstils, der Gedankenführung und der Eigenheiten der anderen Reden Jesu im JohEv. Die zwischen 14,31 und 18,1 eingeschobenen Redepartien lassen sich nicht nur als Fortschreibungen von Inhalten und Formulierungen in der ursprünglichen Abschiedsrede 13,30–14,31  96  Vgl. M. Winter, der das gesamte Dtn in seiner literarischen Endgestalt als Vermächtnisrede identifiziert; ebenso AssMos, TestIs, TestHiob (ebd. 83.170.175.186).  97 Vgl. 1 Chr 29,10–20; äthHen 84,5–6; Jub 10,3–6; 22,(7–9)28–30. M. Winter deutet Joh 17 als „eindrucksvoll gestalteten Abschluß der ganzen Redenkomposition von Joh 13–17“ (ebd. 287) bzw. als „gattungsgeschichtlich integrierenden Teil der gesamten Vermächtnisredenkomposition“ (ebd. 309).  98  So verteidigt er den ursprünglichen Zusammenhang von 14,31 und 18,1; vgl. F. F. Segovia, Farewell (s. Anm. 1), 319–328, hier 320 f. In seinem ebenfalls 1991 erschienenen Aufsatz: The Journey(s) of the Word of God. A Reading of the Plot of the Fourth Gospel, in: R. A. Culpepper / ​ Ders. (Hgg.), Fourth Gospel (s. Anm. 34), 23–54, plädiert F. F.  Segovia freilich für „a complete abandonment of all redactional-diachronic concerns“ (ebd. 49).  99  Vgl. ebd. 283–319, hier 316: „… from the point of view of both content and function, the speech emerges as a highly unified and coherent whole“. 100  Ders., Farewell (s. Anm. 1), 284. Auch das der Abschiedsrede inhärente Jüngerbild sei konsistent (ebd. 299–308). 101 In der Forschung wird diese Sicht vernachlässigt. Auch die verdiente Studie von M. Winter geht darauf nicht ein.

6.  Die Reden Jesu im Johannesevangelium und die Abschiedsrede

387

bestimmen, sondern auch von theologischen Aussagen und Inhalten des gesamten JohEv. Dies gilt in besonderer Weise für die Bildrede 15,1–17, die in der Gedankenführung, im Sprachstil und in der charakteristischen Weise, biblische Metaphorik neu zu rezipieren, an die Brotrede 6,22–59 und die Hirtenrede 10,1–18 anknüpft. Die Forschungsgeschichte zu den joh Offenbarungsreden102 ist eng verbunden mit der religionsgeschichtlichen These einer Abhängigkeit bzw. eines Einflusses gnostischer Reden auf die joh Offenbarungsreden. R. Bultmann hatte diese Annahme konkretisiert mit dem Postulat einer vorjoh Quelle mit Offenbarungsreden, die von seinem Schüler H. Becker dann auch zu rekonstruieren versucht wurde.103 Sowohl die literarkritische Problematik, eine solche Quelle von Offenbarungsreden zu rekonstruieren, als auch der direkte Textvergleich zwischen gnostischen und joh Reden geben Anlass, diese traditions‑ und religionsgeschichtliche Position zurückzustellen. Weiterführender ist die Hypothese, dass sich die joh Reden aus der theologischen Reflexion und Meditation von „Kernlogien“, z. B. „ICH-bin“-Worten Jesu, entwickelt haben.104 Kompatibel mit dieser Annahme ist die These, die Predigt („common homiletic pattern“) bzw. den Midrasch als formbildende Größen für die joh Reden zu veranschlagen.105 102  Vgl. G. Strecker, Literaturgeschichte des Neuen Testaments, utb 658, Göttingen 1992, 220–224; J. Beutler, Literarische Gattungen im Johannesevangelium. Ein Forschungsbericht 1919–1980, ANRW II 25.3 (1985), 2506–2568, hier 2550–2552. H. Koester verweist auf den „Dialog des Erlösers“, auf Papyrus Egerton 2 und auf das Thomasevangelium als Vergleichstexten zur Rekonstruktion der Traditionsgeschichte der Offenbarungsreden im JohEv; vgl. Ders., Einführung in das Neue Testament im Rahmen der Religionsgeschichte und Kulturgeschichte der hellenistischen und römischen Zeit, Berlin 1980, 616–621. Zunächst seien Jesusworte vorhanden gewesen, diese seien in Dialoge aufgenommen worden und durch kerygmatische Formeln und Bekenntnissätze angereichert worden; schließlich seien durch Erweiterungen die Reden Jesu entstanden. 103  Vgl. die Darbietung des rekonstruierten Textes bei H. Becker, Die Reden des Johannesevangeliums und der Stil der gnostischen Offenbarungsrede, FRLANT.NF 50, Göttingen 1956, 129–136. H. Becker urteilt: Das joh Jesusbild ist „entstanden unter direkter Zugrundelegung eines literarischen Produkts der Gnosis“ (ebd. 123), betont jedoch auch: „Auszugehen ist von einer grundlegenden Umdeutung des Gehalts der Quelle durch den Evangelisten, die für das weitere die Basis darstellt. Sie besteht in der Entmythologisierung und Vergeschichtlichung des Mythos, die eben dadurch geschieht, daß er gebunden wird an die geschichtliche Gestalt Jesu“ (ebd. 125). 104  Vgl. F. Hahn, Das Glaubensverständnis im Johannesevangelium; in: Glaube und Eschatologie (FS W. G. Kümmel), Tübingen 1985, 51–69, 51; Ders., Die Hirtenrede in Joh 10, in: C. Andresen / ​G. Klein (Hgg.), Theologia crucis – Signum crucis (FS E. Dinkler), Tübingen 1979, 185–200, 191; U. Schnelle, Die johanneische Schule, in: F. W. Horn (Hg.), Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments. Symposion zum 65. Geburtstag von Georg Strecker, BZNW 75, Berlin / ​New York 1995, 198–217, 210–216; M. Theobald, Gezogen von Gottes Liebe (6,44 f ). Beobachtungen zur Überlieferung eines johanneischen „Herrenworts“, in: K. Backhaus / ​F. G. Untergaßmair (Hgg.), Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Paderborn 1996, 315–341, 316 f (Lit). S. Schulz kommt in seinen Analysen zu dem Ergebnis: „Das Spruchgut, von dem der Joh-Evangelist wahrscheinlich bei der Komposition der Reden Gebrauch gemacht hat, stellte demnach eine Sammlung von Einzelüberlieferungen dar, die sowohl Sprüche des ErhöhtGegenwärtigen als auch Antwort und Lobpreis der Gemeinde in unauflöslicher Einheit enthielt“ (Ders., Komposition und Herkunft der johanneischen Reden, BWANT 5,1, Stuttgart 1960, 143). 105   Vgl. u. a.: R. E.  Brown, B. Lindars, P. S.  Chang, P. Borgen, R. Schnackenburg (für Joh 6); vgl. hierzu J. Beutler, Gattungen (s. Anm. 102), 2557 f; Ders., Psalm 42/43 im Johannesevangelium (1979), in: Ders., Studien zu den johanneischen Schriften, SBAB 25, Stuttgart 1998, 77–106.

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2.  Abschied und neue Gegenwart

7.  Präludierende Abschiedsworte Jesu: Joh 12,20–36.44–50 Eigene Beachtung in diesem Zusammenhang verdienen die Redestücke in 12,20– 36 und 12,44–50, die durch eine eingeschobene Reflexion des Erzählers über die Schriftgemäßheit des Unglaubens in 12,37–43 voneinander abgesetzt sind:106 1. 12,20–36 enthalten „Jesu letzte Rede während seines öffentlichen Auftretens.“107 Die Rede Jesu in 12,20–36 setzt ein mit dem für die übergreifende joh Komposition bedeutsamen, 13,1 vorgreifenden Signal im Munde Jesu: „Gekommen ist die Stunde, dass der Menschensohn verherrlicht wird“ (V. 23). Formal sind die V. 23cd–27 an Philippus und Andreas gerichtet, die sich für die „Hellenen“ verwenden (vgl. 12,20–22). Das Zwiegespräch zwischen Jesus und seinem Vater im Himmel (V. 28; vgl. 13,31–32) provoziert Missverständnisse (V. 29), auf die die Entgegnung Jesu in V. 30–32 folgt. V. 33 ist ein typisch joh Erzählkommentar. Der Einwand „der Volksmenge“ in V. 34 gibt Jesus Gelegenheit, letzte Worte an sie zu richten: V. 35b–36c. 2. 12,44–50 ist eine im direkten Kontext unvermittelte Redepartie Jesu, die literarkritisch wohl zu Unrecht oft als redaktioneller Nachtrag eingeschätzt wird,108 und die „die Grundgedanken der Offenbarung des joh. Jesus in gedrängter Kürze enthält.“109 Nach dem eigentlichen Schluss der öffentlichen Verkündigung Jesu (vgl. 12,36cd) und der abschließenden Reflexion über die Schriftgemäßheit des Unglaubens der meisten Juden in 12,37–43110 betonen die V. 44–50, dass die Offenbarung Jesu und sein Glaubensruf „weiterklingen.“111 12,44–50 stellt „die bleibende Heilsbedeutung der Jesus-Offenbarung und ihren endzeitlichen Entscheidungscharakter für alle Menschen“112 heraus.

 Vgl. das Urteil von R. Schnackenburg zu 11,55–12,36: „Der letzte Abschnitt des öffentlichen Wirkens Jesu steht im Bannkreis des herannahenden Todespascha“ (Ders., Joh II [s. Anm. 13], 454). „Der ganze Abschnitt 12,20–36 ist das Werk des Evangelisten … Mit großer Gestaltungskraft hat er einen passenden Abschluß der öffentlichen Wirksamkeit Jesu gefunden“ (ebd. 477). 107  Ebd. 477. Vgl. J. Blank, Joh II (s. Anm. 7), 325: „Der Abschnitt Joh 12,20–36 ist als Zusammenfassung der ganzen johanneischen Christus-Botschaft zu verstehen“. 108 So zuletzt R. Kühschelm, Verstockung (s. Anm. 11), 138 f; M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 232, Anm. 2. Vgl. auch die Lösung von R. Schnackenburg, der die V. 44–50 dem Evangelisten, den Einschub derselben jedoch einem Redaktor zuschreibt (vgl. Ders., Joh II [s. Anm. 13], 514 f ). 109  Ebd. 514. Vgl. O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995, 271–274, der zurecht auf die „geregelte Irregularität“ des Textstückes 12,44–50 abhebt, das er als „narrative Metapher“ kennzeichnet; vgl. ebd. 273: „Die Rede Jesu ist zeitlich und örtlich nicht fixiert, weil das, was er sagt, nicht nur dort und damals gilt, sondern auch für das jeweilige Hier und Jetzt dessen, der diesen Ruf vernimmt.“ Eben diese rhetorisch-narrative und inhaltliche Einschätzung der V. 44–50 stimmt mit der Absicht des Evangelisten überein. 110 In diesen Versen, die doch einen abschließenden Charakter haben, fällt bezeichnenderweise kein einziges Mal das Kollektivum „die Juden“. 111  Vgl. R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 13), 514. 112  J. Blank, Joh II (s. Anm. 7), 342. 106

8.  Weitere Abschieds‑ und Auftragsworte Jesu an seine Jünger

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Die Worte Jesu in 12,20–36 und 12,44–50 haben als letzte Worte Jesu in der Öffentlichkeit, die seine gesamte Botschaft vor dem drohenden Prozess noch einmal zusammenfassen, Abschiedscharakter. Sie nehmen, wie die Forschung zu wenig beachtet und ausgewertet hat,113 zentrale Themen und Formulierungen der joh Abschiedsrede 13–17 vorweg: (1) Wie die umfangreiche Abschiedsrede sind die Worte Jesu in 12,20–36 und 12,44–50 gesprochen in der beginnenden Stunde der Verherrlichung des Menschensohnes (12,23bc). (2) Sie reflektieren und deuten den bevorstehenden Tod Jesu soteriologisch (vgl. 12,23b–24.27–28.31–32). (3) Sie weisen die, die ihm dienen wollen, in die Nachfolge ein (vgl. 12,25.26.35–36c) und rufen zum Glauben und Leben „im Licht“ (vgl. bes. 12,35–36114.44–50). (4) 12,44c–e.45 greifen der Aussage in 14,8–10 vor: „Jesus ist die Epiphanie Gottes, so dass, wer Jesus sieht, in ihm den Vater sieht.“115 (5) Die Thematik der vor‑ wie nachösterlichen Ablehnung Jesu bzw. seiner Jünger116 und des Gerichts in der Abschiedsrede (vgl. bes. 15,18–25) hat ihr Präludium in 12,48. Der synthetische Parallelismus in 12,48ab (ὁ ἀθετῶν ἐμὲ καὶ μὴ λαμβάνων τὰ ῥήματά μου) rekapituliert bilanzierend die semantische Achse des JohEv (vgl. 1,11–13). (6) Dass Jesus nur die Worte spricht, die er vom Vater empfangen hat (vgl. 12,49–50), und dass die ἐντολή des Vaters ζωὴ αἰώνιος ist (12,50b), hat seine Entsprechungen in den Kapiteln 13–17. (7) 12,34 (vgl. auch 12,24.32) greift mit der vermeintlichen Alternative „Bleiben des Christus in Ewigkeit“ (vgl. 8,35) und „Erhöhung des Menschensohnes“ der christologischen Dialektik von Fortgang und (Wieder‑)Kommen Jesu in der Abschiedsrede 13,31–17,24 vor. (8) Das Auftauchen der „Griechen“ in 12,20 (vgl. das Präludium in 7,33–36) und die vermittelnde Aktivität des Philippus und Andreas (vgl. 12,21–22) öffnen den Blick für die nachösterliche Situation, auf die hin ja gerade auch die Abschiedsrede Jesu in 13,31–17,24 zielt. Als letzte Offenbarungsreden Jesu in der Öffentlichkeit sind 12,20–36 und 12,44–50 als präludierende Abschiedsworte zu charakterisieren.

8.  Weitere Abschieds‑ und Auftragsworte Jesu an seine Jünger: Joh 19,25–27; 20,17c–f; 20,21–23; 21,(1–14)15–23 Eine synchrone Analyse und Interpretation der Abschiedsworte Jesu in 13,31– 17,26 wird die verfügenden, beauftragenden und bevollmächtigenden Worte Jesu vor seinem Tod in 19,25–27 und nach seiner Auferstehung in 20,17c–f; 20,21–23

 Vgl. aber O. Schwankl, Licht (s. Anm. 109), 254. Auslegung von 12,35–36 im Horizont der joh Licht-Metaphorik vgl. ebd. 251–270. 115  J. Blank, Joh II (s. Anm. 7), 343. 116 Vgl. auch 12,38c (JesLXX 53,1): τίς ἐπίστευσεν τῇ ἀκοῇ ἡμῶν In der Kennzeichnung: „unsere Kunde“ artikuliert sich auf der Ebene des JohEv das ekklesiale „wir“ der joh Schule. 113

114 Zur

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2.  Abschied und neue Gegenwart

und 21,(1–14)15–23,117 die terminologisch und thematisch bes. auch an 13–17 anknüpfen, berücksichtigen. Die Verhaftung, die Prozesse, die Kreuzigung, der Tod und die Bestattung Jesu ereignen sich in der Öffentlichkeit. Zu dieser Öffentlichkeit gehören in typisch joh Charakteristik auch die offenen und verborgenen Jünger Jesu (vgl. nur: 18,1–11.15– 18.21.25–27; 19,25–27.38–42 [eine Jüngerszene]). Innerhalb der Kapitel 18–19 entwerfen 19,25–27 eine auffallende Szenerie: Jesus am Kreuz ist umgeben von seiner Mutter und dem geliebten Jünger und verfügt hier eine neue Verwandtschaftsbeziehung. 19,25–27 evoziert die Erinnerung an die Abschiedssituation Jesu im Kreis der „Seinen“ in 13–17. Die Entdeckung des leeren Grabes und die Begegnungen mit dem Auferstandenen in Joh 20–21 handeln wiederum im Kreis der Jünger Jesu: Ihnen erscheint der Auferstandene, er „kommt“ (20,19d.24c.26c; 21,13a) zu ihnen und spendet ihnen Heiligen Geist (20,22). Damit erfüllt er selbst im Kreis der Jünger zentrale Verheißungen seiner vorösterlichen Abschiedsworte. Wie die Worte Jesu in der Abschiedsrede 13,31–17,26 weisen auch die letzten Worte des Gekreuzigten (vgl. 19,25–27) und die des Auferstandenen (vgl. 20,17c–f; 20,21–23 und 21,1–14.15–23) die Adressaten ein in ihre nachösterliche Glaubens‑ und Lebenspraxis.

9.  Die hermeneutische und theologische Kompetenz der johanneischen Abschiedsrede Die literarische Gattung Abschiedsrede hat ein hermeneutisches Potential, das aufgrund des nachösterlichen Christusglaubens im JohEv ein charakteristisches Profil entfaltet: 1. Für die joh Abschiedsrede gilt in besonderer Weise, was für das JohEv als Ganzes feststeht: Die Sendung Jesu, seine Worte und seine Zeichen, werden aus der nachösterlichen Glaubensperspektive geschildert, sie setzen den Glauben an den erhöhten und verherrlichten Christus nicht nur formal, sondern auch inhaltlich voraus und stellen ihn dar. Der joh Jesus und sein Wirken erscheinen – stärker noch als in den synoptischen Evangelien – im Licht des österlichen Erhöhungsglaubens. Die Worte und Zeichen Jesu, deren Geschichtlichkeit der Evangelist dabei nicht relativieren will, sprechen nicht nur in die damalige kontingente Situation der erzählten Welt, sie überschreiten dieselbe und sind offenbarende Anrede an die Hörerinnen und Hörer des JohEv zu allen Zeiten. Die einmalige geschichtliche Offenbarung Gottes in seinem fleischgewordenen Sohn präsentiert sich je neu in der Verkündigung des Evangeliums und in der Begegnung mit dem 117 F. F.  Segovia deutet 21,1–14 als „Farewell Context“ und 21,15–23 als „Farewell Conversation“, in: Ders., The Final Farewell of Jesus: A Reading of John 20:30–21:25, Semeia 53 (1991), 167–190, hier 185–187.

9.  Die hermeneutische und theologische Kompetenz der johanneischen Abschiedsrede

391

sich im Evangelium offenbarenden Jesus Christus.118 Es gehört zum Proprium insbesondere der joh Offenbarungsreden, dass in den Worten des irdischen der erhöhte Jesus spricht: Diese Glaubensüberzeugung joh-theologischer Reflexion findet einen dichten Ausdruck in den „Ich-Bin“-Worten Jesu. 2. Die theologische Hermeneutik der Identität von irdischem und erhöhtem Jesus, die die Präsenz der Offenbarung Gottes in seinem Sohn über das geschichtliche Wirken Jesu hinaus begründet, setzt auch die joh Abschiedsrede voraus. Zugleich ermöglicht es die literarische Gattung der Abschiedsrede und der damit gegebene narrative Ort der letzten Worte Jesu noch entschiedener, die nachösterliche Zeit direkt anzusprechen und zu reflektieren: Die Worte Jesu in Joh 13–17 beanspruchen direkt in die nachösterliche Situation selbst hineinzusprechen und diese zu reflektieren. Deshalb überschreiten manche Worte Jesu den Zeitrahmen der erzählten Welt. Erzähltheoretisch ausgedrückt beinhalten sie nicht nur interne, sondern auch externe Prolepsen: Die Erfüllung der internen Prolepsen aus Joh 13–17 in 20,19–23 (Wiederkommen Jesu [vgl. 16,16]; Geschenk des Friedens [vgl. 14,27]; Wechsel von Trauer zur Freude [vgl. 16,22]; Gabe des Geistes [vgl. 16,7]) sichert die Zuverlässigkeit auch der externen Prolepsen: „When the gospel narrative shows that Jesus can be trusted about the future, a continuum is established between the future that the gospel narrative can verify and the future that only the reader’s experience can verify.“119

Die Abschiedsrede korreliert die Lebenszeit des abeundus mit der Zeit der Zurückbleibenden und Nachgeborenen. Dabei wahrt die joh Abschiedsrede die Prärogative der Jesuszeit, ohne die Gegenwart der joh Gemeinde abzuwerten. Das Licht des Glaubens erhellt die nachösterliche Zeit als diejenige Zeit, in der die Christen in und aus der Fülle des Heilswerkes Jesu leben können. 3. Die Gattung Abschiedsrede hat die Funktion der Krisenbewältigung.120 Dies gilt für die Kommunikation innerhalb der erzählten Welt wie für die Kommunikation zwischen Autor und Adressat in ihrer zeitgeschichtlichen Situation.121  Vgl. R. Schnackenburg, Die bleibende Präsenz Jesu Christi nach Johannes, in: Praesentia Christi (FS J. Betz), Düsseldorf 1984, 50–63; A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 1), bes. 27– 33.299–303. Vgl. exemplarisch für viele Präsensformen im JohEv die Auslegung der Präsensform φαίνει in 1,5 bei O. Schwankl, Licht (s. Anm. 109), 111: Gemeint ist „zugleich die bleibende Gegenwart Jesu bei den Seinen inmitten widriger Umstände“. Diese „tröstende“ (ebd.) Funktion kommt in entsprechend entfalteter Weise der joh Abschiedsrede und allen joh Abschiedsworten zu. 119 G. R. O’Day, World (s. Anm. 34), 161; vgl. ebd. 162: „The future is thus grounded and governed by the authority of Jesus, to which the reader is given unlimited access through the farewell discourse.“ 120 Vgl. hierzu die von M. Winter ausführlich für die alttestamentlich-frühjüdischen Abschiedsreden vorgenommene Analyse des jeweiligen Sitzes im Leben, in: Ders., Vermächtnis (s. Anm. 1), bes. 212. K. Haacker erkennt „den Weggang des Stifters als Grundproblem aller Stifterreligionen“ (Ders., Die Stiftung des Heils. Untersuchungen zur Struktur der johanneischen Theologie, AzTh I 47, Stuttgart 1972, 135) und entwickelt aus dieser Perspektive seine Deutung der Abschiedsrede; vgl. ebd. 135–162. 121  Vgl. F. F. Segovia, Farewell (s. Anm. 1), 55. 118

392

2.  Abschied und neue Gegenwart

Im JohEv schlägt sich dies besonders in der Reflexion über den Abschied Jesu einerseits und sein neues Kommen bzw. das Kommen des Parakleten andererseits nieder. Die Trauer des Abschieds kann überwunden werden durch die Freude über den Weg Jesu zum Vater (vgl. 14,28), durch den er sein Werk vollendet und den Glaubenden die Früchte dieses Heilswerkes zuwendet (größere Werke [vgl. 14,12]; Friede; Kommen und Wirken des Parakleten; Gebetserhörung; Wiederkommen Jesu [14,18–19]; reziproke Immanenz [vgl. 14,20]; reziproke Liebe [vgl. 14,21]). Die nachösterliche Zeit ist die Zeit, in der Jesus als Erhöhter wirkt. 4. Die Abschiedssituation bzw. ‑rede eines Scheidenden ist der literarische Haft‑ und Ansatzpunkt für die von ihm autorisierte Weitergabe seines rechtlichen und geistig-geistlichen Vermächtnisses. Die ultima verba haben verbindlichtestamentarischen Charakter. Sie füllen die durch den Tod des moriturus entstehende Lücke durch eine definierte Nachfolgebestimmung, die die dem Willen des Scheidenden entsprechende Tradition sichert.122 (a) In der erzählerischen Eröffnung der joh Abschiedsrede sind es die am letzten Mahl Jesu teilnehmenden Jünger Jesu und unter ihnen herausgehoben der geliebte Jünger, die Zeugen und Adressaten des Vermächtnisses Jesu werden. Die Fußwaschung durch Jesu ist das Realsymbol ihrer Teilhabe an Jesus (vgl. 13,8e: μέρος μετ’ ἐμοῦ). Ihre Zugehörigkeit zu Jesus begründet und bewirkt ihre Reinheit (vgl. 13,10–11123) und erfordert eine dem ὑπόδειγμα Jesu entsprechende Praxis (vgl. das Gespräch in 13,12–17124). Als δοῦλοι und ἀπόστολοι Jesu (13,16.20) sind 122  Vgl. AssMos 11,9–19: „(9) Herr, , und wer soll für dieses Volk sorgen? (10) Oder wer ist da, der sich ihrer erbarmt, und wer wird ihr Führer sein auf dem Wege? (11) Oder wer wird für sie beten …? … (17) Wenn die(se) Feinde nochmals gottlos gegen ihren Herrn gehandelt haben, dann haben sie keinen Verteidiger, der für die Gebete vor Gott brächte, so wie es Mose war, der große Engel, der zu jeder Stunde bei Tag und bei Nacht seine Knie auf die Erde gestemmt hatte“ (= JSHRZ V/2, 78 f ). 123  Die Diskussion über die Priorität des Kurz‑ bzw. Langtextes in 13,10c wird fortgeführt; vgl. J. C.  Thomas, Footwashing (s. Anm. 94), 97–107.186; Ch. Niemand, Die Fußwaschungserzählung des Johannesevangeliums. Untersuchungen zu ihrer Entstehung und Überlieferung im Urchristentum, StAns 114, Rom 1993, hier 252–256. Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 1), 55–56 mit Anm. 9, argumentiert für die Ursprünglichkeit des Kurztextes. 124  Ob die sogenannte zweite Deutung der Fußwaschung Jesu in 13,12–17(18–20) auf einen redaktionellen Eintrag nach dem Evangelisten zurückgeht, wird kontrovers diskutiert. Trennt man die soteriologische Deutung der Fußwaschung und des Todes Jesu von der ethischen Interpretation und behauptet gar eine gewisse Inkompatibilität beider Deutungen, wird man zu literarkritischen Optionen neigen (vgl. nur Ch. Niemand, Fußwaschungserzählung [s. Anm. 123]). So diagnostiziert J. Kügler zwei sich wohl dualistisch gegenüberstehende Soteriologiekonzepte: „Aufstieg der Seele in den Himmel“ [sic!] ohne feststellbare Sozialdimension einerseits und praktisches Lebenszeugnis nach Maßgabe der erwiesenen Liebe Jesu anderseits (Ders., Der Jünger, den Jesus liebte. Literarische, theologische und historische Untersuchungen zu einer Schlüsselgestalt johanneischer Theologie und Geschichte, SBB 16, Stuttgart 1988, 458–463.466 f; Zitat 461). Derartige literarkritische Optionen in 13,1–20, die die soteriologische und die ethische Deutung der Fußwaschung resp. des Todes Jesu theologisch und deshalb auch literarkritisch trennen, wirken sich dann auch auf weitere Texte in Joh 13–17 aus (vgl. nur 13,1de.34–35; 15,1–17). Gleichwohl trauen solche schematischen Zuordnungen (der Evangelist sei an der Christologie, Soteriologie [als präsentische Eschatologie], der Redaktor sei an der Ethik und Ekklesiologie interessiert) dem Evangelisten und dem potentiellen Redaktor zu wenig zu: dem Evangelisten, weil

9.  Die hermeneutische und theologische Kompetenz der johanneischen Abschiedsrede 393

sie verpflichtet, so zu handeln, wie er gehandelt hat (13,15). Zwischen 13,1–30 und 18,1–20,29, der narrativen Situierung und Rahmung der joh Abschiedsrede, entsteht eine zusätzliche Inklusio durch das Motiv der Sendung: Die Jünger Jesu sind als „Knechte“ und „Gesandte“ dem „Beispiel“125 ihres Kyrios verpflichtet. Eben dieser Kyrios, der selbst vom Vater gesandt ist, sendet als Auferstandener und Erhöhter seine Jünger (vgl. 20,21). Durch die mit dem österlichen Sendungsauftrag verbundene Geistbegabung (20,22) der Jünger Jesu erhält die Verheißung des Parakleten in der Abschiedsrede ein positives (nicht ein exklusives; vgl. 3,8) Subjekt in der geschichtlichen Wirklichkeit: die nachösterliche joh Gemeinde.126 (b) Gemäß der Abschiedsrede ist es in besonderer Weise der Paraklet, der die Kontinuität zwischen der Zeit Jesu und der nachösterlichen Zeit der christlichen Gemeinde ermöglicht und sichert. Er erinnert, präsentiert und vollendet die Offenbarung der Wahrheit durch Jesus. 5. Die Gattung Abschiedsrede leistet die Vergegenwärtigung von Tradition: Das in die Zeit nach dem Tod des Abschiednehmenden gesprochene Vermächtnis wird in der und für die Situation der neu Hörenden zur aktuellen Anrede und Herausforderung (vgl. bes. die häufige Verwendung von „heute“ in Dtn127). Die joh Abschiedsrede präsentiert den Christen der zweiten und dritten Generation die Offenbarung Jesu und ihren inhärenten Glaubensanspruch. Das joh-theologische Interesse, die geschichtliche Offenbarung Jesu nachösterlich zu vergegenwärtigen,128 findet in der komplex angewachsenen Abschiedsrede Jesu ein vorzügliches medium interpretationis. er Christologie und Ekklesiologie einerseits und Soteriologie und Ethik andererseits nicht konstitutiv miteinander verbinde, dem Redaktor, weil er seine theologischen Akzente schlicht neben die mit ihnen inkompatiblen des Evangelisten setze und so beides unvermittelt nebeneinanderstehen lasse. Eine Entscheidung kann nur in einer detaillierten, nicht von hermeneutischen Apriori gesteuerten Einzelexegese der Texte begründet werden und wird die innere Verbindung von Indikativ und Imperativ in der joh-theologischen Reflexion nicht unterschätzen dürfen. M. Theobald kritisiert bei J. Kügler m. E. zu Recht „eine unzulässige Trennung von Christologie und Soteriologie“ (Ders., BZ 34 [1990], 139). Für eine inhaltliche und narrative Konsistenz der beiden Deutungen der Fußwaschung in V. 6–11 und 12–17 plädieren mit überzeugenden Gründen: J. D. G.  Dunn, The Washing of the Disciples’ Feet in John 13:1–20, ZNW 61 (1970), 247–252; R. A.  Culpepper, Ηψποδειγμα (s. Anm. 34); X . Léon-Dufour, Jean III (s. Anm. 5), 21–64; J. C.  Thomas, Footwashing (s. Anm. 123), bes. 187 f; H. Kohler, Kreuz (s. Anm. 9), 192–229; Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 1), 56; U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 1998, 210 f. 125 R. A.  Culpepper bezieht ὑπόδειγμα in 13,15a auch auf die Lebenshingabe Jesu, die in der Fußwaschung symbolisiert ist. Dies relativiert die mitunter angenommene Spannung zwischen den V. 6–11 und 12–27 erheblich; vgl. Ders., HYPODEIGMA (s. Anm. 34), 142 f; vgl. ebd.: „The footwashing is a proleptic and metaphorical interpretation of Jesus’ death.“ 126  Zur Deutung der Jünger in 20,19–23 auf die ganze Gemeinde vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 13), 385. 127  Vgl. Dtn 6,6 u. ö.: „Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte …“. 128 Vgl. hierzu J. Blank, Krisis. Untersuchungen zur johanneischen Christologie und Eschatologie, Freiburg i. Br. 1964, 109–182; Ders., Joh II (s. Anm. 7), 21–28. Die Gattung Abschiedsrede hat die hermeneutische Funktion, Tradition zu vergegenwärtigen; vgl. M. Winter, Vermächtnis

394

2.  Abschied und neue Gegenwart

6. Die Auswahl und Komposition der Abschiedsrede ermöglicht mit der Weitergabe des Vermächtnisses auch dessen aktuelle Interpretation. Nach Auskunft der joh Abschiedsrede ist der Paraklet Subjekt der vollständigen Weitergabe und Vergegenwärtigung der Worte Jesu und ihres vertieften Verständnisses (vgl. 16,13b: ἐν τῇ ἀληθείᾳ πάσῃ). Die Personalunion für beide Aufgaben sichert im joh Verständnis die Authentizität von Tradition und Interpretation in der geistgeleiteten joh Gemeinde. 7. Die Gattung Abschiedsrede ist eine Spezialform von Pseudonymität: Ein Autor bedient sich (meist in weitaus späterer Zeit) der hohen Autorität des Scheidenden und legitimiert so den Inhalt und Anspruch seiner Schrift.129 Der Evangelist und die joh Schule autorisieren die Abschiedsrede Joh 13–17 mit dem erzählerisch vermittelten Anspruch, ipsissima verba Jesu aus seiner Abschiedsstunde vorzutragen. Dazu wissen sie sich selbst wiederum autorisiert durch die Kontinuität zum Ursprung, die insbesondere durch das Zeugnis des geliebten Jüngers und das Parakletwirken gesichert ist. 8. Die Abschiedsrede einschließlich ihrer erzählerischen Rahmung nimmt normative theologische Deutungen des „Kommens“ und „Gehens“ Jesu vor: Sie deutet den Tod Jesu (a) als Rückkehr zum Vater (vgl. schon 13,1a–c), (b) als Vollendung der Liebe zu den Seinen (vgl. 13,1de) wie seiner gesamten Sendung (vgl. 19,28–30), (c) als Verherrlichung von Vater und Sohn (vgl. 13,31–32; 17) und (d) als Sieg über die „Welt“ (vgl. 16,33). An diesem Heilsgeschehen, das durch die neue Gegenwart des Erhöhten im Geist universal wirksam wird, partizipieren die Jünger Jesu im Glauben und in der Liebe. Auch diese Teilhabe der Jünger an der Sendung, an dem Geschick (vgl. Bedrängnis, Hass) und an den Früchten des Heilswerkes Jesu (vgl. Trost, Freude, Geistsendung, Gemeinschaft mit Jesus [reziproke Immanenz und Liebe; Freundschaft]) wird theologisch gedeutet und ausgeleuchtet.

(s. Anm. 1), bes. 212 f.297–303. M. Winter erkennt auch in der Theologie des Dtn die Intention der Vergegenwärtigung (vgl. ebd. 85; im Anschluss an J. Blank, Joh II [s. Anm. 7], 23). 129  Vgl. M. Winter, Vermächtnis (s. Anm. 1), 212 f.

3.  Das hohepriesterliche Gebet Jesu Exegetisch-theologische Beobachtungen zu Joh 17,1–26 Jesu fürbittendes Gebet in Joh 17,1–26,1 das Abschiedsgebet des Scheidenden als Abschluss der joh Abschiedsrede,2 gehört zu den dichtesten und reifsten Texten joh Theologie. U. Wilckens z. B. deutet Joh 17 mit dem Prolog 1,1–18 als „Scharniere“ der Gesamtkomposition des JohEv.3 Gleichwohl stellen sich dem schnellen Zugriff und Verstehen dieses feierlich stilisierten Gebetes Jesu, dem längsten in den vier Evangelien, Widerstände entgegen. In der Johannesforschung finden sich teils erheblich divergierende literarkritische und inhaltliche Urteile zum Abschiedsgebet Jesu in Joh 17 – ein Kapitel des JohEv zudem, das oft nur in der Peripherie der exegetischen Scheinwerfer auftaucht.4 Die folgenden Ausführungen können keineswegs alle Fragestellungen aufnehmen und diskutieren; sie möchten jedoch das johanneische Profil des Abschiedsgebets Jesu im JohEv neu beleuchten. Dazu widmen sie sich (1) der Gliederung und der Gedankenführung in Joh 17, (2) dem relecture-Charakter dieses Abschnitts, (3) der typisch joh Verschmelzung der Zeiten in Joh 17 und (4) den hohepriesterlichen Motiven dieses Gebetes. Diese

1  Zur Auslegung von Joh 17,1–26 vgl.: R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/3, Freiburg i. Br. 61992, 189–245.478 f; W. Thüsing, Herrlichkeit und Einheit. Eine Auslegung des Hohepriesterlichen Gebetes Jesu (Johannes  17), Münster 21975; Ders., Die Bitten des johanneischen Jesus in dem Gebet Joh 17 und die Intentionen Jesu von Nazaret (1977), in: Ders., Studien zur neutestamentlichen Theologie, WUNT 82, Tübingen 1995, 265–294; Ders., Die Erhöhung und Verherrlichung Jesu im Johannesevangelium, NTA 21, Münster 31979, 174–192.205– 221; H. Ritt, Das Gebet zum Vater. Zur Interpretation von Joh 17, FzB 10, Würzburg 1979 (55–147: „Zur Forschungslage“); R. E.  Brown, The Gospel According to John. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 29.29a, New York 1966.1970, II 739–782; M.-Th. Sprecher, Einheitsdenken aus der Perspektive von Joh 17. Eine exegetische und bibeltheologische Untersuchung von Joh 17,20–26, EHS T 496, Bern 1993; Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996, 230–255; Ch. Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden, WUNT 95, Tübingen 1997, 254–358; G. L.  Borchert, The Prayer of John 17 in the Narrative Framework of the Johannine Gospel, in: E. Brandt (Hg.), Gemeinschaft am Evangelium (FS W. Popkes), Leipzig 1996, 11–18; U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK IV, Leipzig 1998, 254–260. 2  Zum Gebet als Gattungselement einer Abschiedsrede und zum Proprium von Joh 17 vgl.: R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 1), 226–228; Ch. Dietzfelbinger, Abschied (s. Anm. 1), 256–258 (mit Hinweis auf Jub 22,7–9.27–30; Vit Ad 50; Ps-Philo, AntBib 19,8–9). 3 Vgl. U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 1998, 7.203 f. 4 Zur neueren Johannesforschung vgl. die Überblicke von K. Scholtissek, Neue Wege in der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I–II, ThGl 89 (1999), 263–295; 91 (2001); Ders., Johannes auslegen I–II, SNTU 24 (1999), 35–84; 25 (2000).

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3.  Das hohepriesterliche Gebet Jesu

Beobachtungen führen zu dem Schluss, das Abschiedsgebet Jesu als Kompendium johanneischer Offenbarungstheologie zu verstehen (vgl. 5).

1.  Gliederung und Gedankenführung Das Abschiedsgebet Jesu lässt sich in sieben Abschnitte gliedern.5 V. 1–11c

Jesu Bitte um gegenseitige Verherrlichung von Vater und Sohn V. 1–5 Bitte Jesu um Verherrlichung mit dem Ziel der Verherrlichung des Vaters V. 6–11c Begründung der Verherrlichungsbitte im Blick auf das zurückliegende erfolgreiche Wirken Jesu (Rechenschaftsbericht) V. 11d–24 Jesu Bitten für die Seinen V. 11d–16 Bitte um Bewahrung der Jünger „in deinem Namen“ V. 17–19 Bitte um Heiligung der Jünger „in Wahrheit“ V. 20–23 Bitte um Einheit der Jünger nach dem Maß der Einheit zwischen Vater und Sohn V. 24 Bitte um Vollendung der Jünger V. 25–26 Zusammenführender Rückblick und Ausblick

Diese Gliederung lässt folgende Gedankenführung erkennen: (1) Nach der narrativen Situierung des Abschiedsgebets in V. 1a–c und der einleitenden Zeitdiagnose Jesu (V. 1d: ἐλήλυθεν ἡ ὥρα) benennen V. 1e–5 die Verherrlichungsbitte des Sohnes (gen. subj. et obj.). Die Ringkomposition in V. 1e.5a verstärkt die programmatische Themenangabe: Als Scheidender bittet Jesus um seine eigene Verherrlichung durch den Vater. Diese führt in reziproker Umkehrung zur Verherrlichung des Vaters durch den Sohn (V. 1 f ). Letztere ist in der Konsequenz der joh Theozentrik Sinnziel des gesamten Offenbarungsgeschehens (vgl. 15,8). Jesus begründet seine Bitte mit einem ersten Rechenschaftshinweis: „ICH habe dich verherrlicht auf der Erde“ (V. 4a). Als getreuer Gesandter hat Jesus seine auf das ewige Leben für die Glaubenden zielende Sendung bisher ausgeführt (V. 2.4) und will sie in der Verherrlichung durch den Vater vollenden. Die reziproke Verherrlichung von Vater und Sohn vollzieht sich als Heilsgabe6 des „ewigen Lebens“ für die Glaubenden.7 5 Diese Gliederung orientiert sich an den Ausführungen und Argumenten von R. Schnackenburg, Strukturanalyse von Joh 17, BZ 17 (1973), 67–78.196–202 (hier eine Auseinandersetzung mit J. Becker, Aufbau, Schichtung und theologiegeschichtliche Stellung des Gebets in Johannes 17 [1969], in: Ders., Annäherungen. Zur urchristlichen Theologiegeschichte und zum Umgang mit ihren Quellen, BZNW 76, Göttingen 1995, 99–126); vgl. auch R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 1), 610 f, und wird bestätigt von D. F.  Tolmie, A Discourse Analysis of John 17,1–26, Neotest. 27 (1993), 403–418; vgl. auch W. Thüsing, Herrlichkeit (s. Anm. 1). Freilich wird hier V. 24  – anders als bei R. Schnackenburg – für selbstständig erachtet. Auch die literarkritische Ausgrenzung der V. 3.20–21, die bei J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, ÖTBK IV/1–2, Gütersloh 31991, II 615–617, noch über diese Verse hinaus erweitert wird, wird hier nicht angenommen. 6  Vgl. die häufige Verwendung von δίδωμι in Joh 17, die den typisch joh Kettenschluss vom Vater über den Sohn zu den Glaubenden akzentuiert.  7  Vgl. R. Schnackenburg, Strukturanalyse (s. Anm. 5), 76: „Der Sohn wünscht nur deshalb

1.  Gliederung und Gedankenführung

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V. 1–5 benennen das Thema, welches in den folgenden Passagen in seinen einzelnen Aspekten inhaltlich entfaltet wird: die Rückschau des Sohnes auf seine den Vater verherrlichende Sendung (vgl. V. 4 und 6–11c.14.18b.22a.25–26a) und die Verherrlichung des Sohnes durch den Vater vermittels der vom Vater gewährten Erhörung der Bitten des Sohnes für die Glaubenden (vgl. V. 1e.5a und 10c.11d–24). Solche reziproke Verherrlichung von Vater und Sohn zielt auf die Integration der Glaubenden in die zur gegenseitigen Verherrlichung drängende Liebeseinheit von Vater und Sohn. (2) V. 6–11c führen die in V. 4 präludierte Rechenschaft des Sohnes gegenüber seinem ihn sendenden Vater aus. Die Offenbarung „des Namens des Vaters“ durch den Sohn (V. 6a; vgl. V. 11d)8 hat die angemessene Antwort derer, die dem Vater gehören und von ihm dem Sohn anvertraut wurden (V. 6b–d.7.9d.10ab), gefunden: Mit den Wendungen „dein Wort bewahren“ (V. 6e), „erkennen“ (V. 3.7a.8d),9 „aufnehmen“ (V. 8c) und „glauben“ (V. 8 f ) werden die das ganze JohEv durchziehenden, isotop positiven Antworten auf die Sendung des Sohnes aufgerufen.10 Aufgrund ihres Glaubens ist der Sohn in den Jüngern verherrlicht (V. 10c): Die Doxa des Sohnes vom Vater (V. 22ab) strahlt in den zum Glauben Gekommenen auf. Genau darin kommt das Verherrlichungsgeschehen zu seinem Ziel: Die Annahme der Sendung des Sohnes verherrlicht diesen in den Glaubenden; als Glaubende verherrlichen sie den Vater, der den Sohn gesandt hat (vgl. 15,8).11 (3) In vier unterschiedlich ausführlichen Durchgängen in V. 6–24 („body of Prayer“12) bittet der scheidende Offenbarer den Vater für die Seinen (vgl. V. 9a), die ihm anvertraut worden sind und die er zum Glauben geführt hat, die er jetzt aber als zum Vater Gehender „in der Welt“ zurücklässt (V. 11.13). In diesen Bitten gibt Jesus die ihm Anvertrauten gewissermaßen in die Obhut des Vaters zurück: (a) Die erste Bitte (V. 11d–16) zielt auf die Bewahrung der Jünger „in deinem Namen“ (V. 11d): So wie der Sohn in seinem irdischen Wirken die Jünger „in deinem Namen“ erfolgreich „bewahrt“ und „bewacht hat“ (V. 12), so soll jetzt der Vater selbst die Glaubenden „in seinem Namen bewahren“, da sie, die nicht „aus der Welt“, aber „in der Welt“ sind, von der Welt gehasst und in ihrer Einheit bedroht wurden und werden.

vom Vater verherrlicht zu werden, damit er den ihm Anvertrauten ewiges Leben geben kann.“ Vgl. W. Thüsing, Herrlichkeit (s. Anm. 1), 53: „Jesus bittet um die Herrlichkeit beim Vater, d. h., dass der Vater ihn durchstrahle und durchleuchte mit seiner Liebe, dass er ihm in dieser Herrlichkeit der Liebe die Macht schenke, den Geist und damit das ewige Leben zu spenden.“  8 „Der Name steht für das Wesen und die Art Gottes, seine Heiligkeit, ‚Gerechtigkeit‘ und Liebe“ (R. Schnackenburg, Joh III [s. Anm. 1], 199).  9 „Erkennen“ ist im biblischen Sinn als Gemeinschaft haben mit Gott zu verstehen; vgl. ebd. 195 f, und K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000, 166–169. 10  Vgl. die Ausführungen zur semantischen Achse im JohEv ebd. 179–184. 11  Vgl. Anm. 7. 12  D. F.  Tolmie, Discourse (s. Anm. 5), 416.

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3.  Das hohepriesterliche Gebet Jesu

(b) Zweitens bittet Jesus um die Heiligung der Jünger „in der Wahrheit“ (V. 17– 19): Diese Heiligung der Jünger „in Wahrheit“ wird grundgelegt durch die stellvertretende Lebenshingabe des Sohnes (V. 19). (c) Daran schließt sich die Bitte um Einheit der Jünger untereinander an (V. 20– 23): Jesus erweitert den Adressatenkreis seiner Bitten um die aufgrund des Jüngerzeugnisses zu den Jüngern hinzukommenden Glaubenden13 und bittet um ihre Einheit. Diese Einheit hat ihr Maß in der Einheit von Vater und Sohn und wird inhaltlich mit den im Corpus Evangelii ausgeführten reziproken Immanenz-Aussagen weiter ausgelotet. Ziel dieser erweiterten Jüngergruppe und ihrer Einheit ist der Glaube und die Erkenntnis „der Welt“ (V. 21ef.23c–g). Die Einheit der Jüngergemeinde dient „als Werkzeug für die universale Liebe Gottes.“14 Als in der Einheit (nach dem Maß der Einheit von Vater und Sohn) Lebende kann die nachösterliche Gemeinde sacramentum mundi sein.15 Denn die „Einheit in der Agape“ überbrückt die Distanz zur Welt: „Die absolute Agape überwindet grundlegend den Abgrund, der die Welt von ihr trennt, durch die Kraft, die die Einheit Jesu mit dem Vater in der Lebenshingabe Jesu hervorbringt.“16

(d) Die letzte Bitte (V. 24) richtet sich abschließend und aufgipfelnd auf die eschatologische Vollendung der Glaubenden „bei Jesus“ (μετ᾽ ἐμοῦ in V. 24d; vgl. 14,2–3), der Schau der Doxa des Sohnes. Den präsentisch-eschatologischen Aussagen über die zu erbittende nachösterliche Einheit der Glaubenden und ihre nachösterliche Immanenz in Vater und Sohn (V. 20–23) wird die futurischeschatologische Heilsvollendung in V. 24 als letztes Ziel zugeordnet. Wie in 14,1–31 stehen präsentische und futurische Eschatologie, auf die Gegenwart bezogene Immanenz-Aussagen und die Erwartung einer vollendeten vita communis in Gott, gerade nicht gegeneinander, sondern sind als komplementäre Aussagen aufeinander bezogen.17 (4) Die Schlussverse 25–26 fassen den Rechenschaftsbericht Jesu zusammen und bekräftigen das weitergehende (vgl. die Verheißung „und ich werde ihn [deinen Namen] kundtun [γνωρίσω]“ in V. 26b), auf die Immanenz der Liebe des Vaters und Jesu zielende Offenbarungswirken Jesu.18 13  Auch dieses Zum-Glauben-Kommen durch Vermittlung der Zeugen ist eine typisch joh Figur; vgl. K. Scholtissek, „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), in diesem Band, S. 151–172; ebd., 167–169: Vermittlung zur Unmittelbarkeit). 14  W. Thüsing, Bitten (s. Anm. 1), 287. 15  Es gehört zu den forschungsgeschichtlichen Hypotheken der Johannesexegese, dass dieses universale Interesse joh Offenbarungstheologie durch literarkritische Ausgrenzungen oftmals bagatellisiert oder verdeckt wurde; vgl. auch die Ausführungen in K. Scholtissek, Johannes auslegen I (s. Anm. 4), 42–51. 16  W. Thüsing, Bitten (s. Anm. 1), 287; vgl. Ders., Erhöhung (s. Anm. 1), 136–141 („Die Jüngerliebe in der johanneischen Struktur des Heilsvorgangs“). 17  Vgl. hierzu auch die Auslegung in „Relecture und réécriture“, in diesem Band, S. 173–202. 18 Vgl. die Sachparallele im letzten Parakletwort 16,12–15, das von der nachösterlichen Wegführung des Parakleten „in der (die) ganze(‑n) Wahrheit“, von der Verkündigung des Kom-

2.  Joh 17 als relecture

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2.  Joh 17 als relecture Die literarkritische Aussonderung des Abschiedsgebetes Jesu in Joh 17 – teilweise werden für die vier Abschnitte in der Abschiedsrede 13,31–14,31; 15,1–16,4d; 16,4e–33; 17,1–26 vier verschiedene Autoren mit jeweils unterschiedlichem Sitz im Leben und variierendem theologischen Interesse angenommen19  – hat die Wiederaufnahme und Fortschreibung joh Themen in Joh 17 oftmals nicht in der gebotenen Klarheit ins Blickfeld rücken lassen. Das von A. Dettwiler am Beispiel des Verhältnisses von 13,31–14,31 zu 16,4–33 aufgewiesene Modell der relecture20 lässt sich auch für die Deutung von Joh 17 fruchtbar anwenden. Charakteristisch für Joh 17 ist dabei, dass es sich hier nicht um die relecture eines einzelnen Bezugstextes handelt, sondern ein ganzer Strauß joh Themen neu gebündelt und ausgeführt wird – was ja auch für ein Abschieds‑ und Fürbittgebet eines Scheidenden topisch und sachlich naheliegt. Auch wenn ein vollständiger Aufweis des relecture-Charakters von Joh 17 hier nicht durchgeführt werden kann, seien wichtige Beobachtungen zusammengestellt. menden und der Verherrlichung des Sohnes durch das Parakletwirken spricht. Auch wenn Joh 17 das Wirken des Parakleten nicht explizit aufgreift, lässt es sich dennoch als relecture früherer Aussagen über das nachösterliche Weggeleit Gottes deuten. Vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 1), 225: „Schon in der joh. Schule gibt es verschiedene Kategorien (‚Codes‘), um die geistige Präsenz des himmlischen Christus in der Gemeinde auszudrücken. Hier sind es die weitergehende Offenbarung des ‚Namens‘ Gottes (vgl. V. 6.11 f ) und die Vermittlung der Liebe Gottes.“ Eine positive Zuordnung des Parakletwirkens nach Joh 14–16 und den Bitten Jesu in Joh 17 führt Ch. Hoegen-Rohls durch, vgl. Dies., Johannes (s. Anm. 1), 249–255, hier 254: Die „Geistverheißungen der Abschiedsreden“ bilden „die sachliche Voraussetzung für die Aussagen des Abschiedsgebetes“. Von daher ist es wenig sinnvoll und gewollt, aus der Abwesenheit der Vokabel literarkritische Schlussfolgerungen zu ziehen, nach der Joh 17 eine direkte Kritik an der Paraklettheologie in Joh 14–16 beinhalte (so aber Ch. Dietzfelbinger, Abschied [s. Anm. 1], 343.351 f ). 19  Vgl. Ch. Dietzfelbinger, Abschied (s. Anm. 1), 359–362 et passim (er gliedert in 13,31– 14,31; 15,1–16,15; 16,16–33; 17,1–26). Bei Ch. Dietzfelbinger begegnet eine in der Johannesforschung typische Aporie: Einerseits wird akribisch die literarkritische Trennung der Schichten und theologischen Positionen vorgenommen (so spricht er von vier verschiedenen Autoren, die für vier verschiedene literarische Abschnitte und theologische Positionen verantwortlich zeichnen sollen; ebd. 247–253.357 f ), andererseits rechnet er mit der theologischen Kohärenz des Endtextes (bes. 359–362). Beide Aussagen stehen jedoch in einer Spannung zueinander, die er nicht wirklich zum Ausgleich bringt: So habe der Autor von 17,1–26 einerseits „korrigierende Elemente ins Johannesevangelium eingetragen“ und „zugleich nichts Geringeres als die Vollendung johanneischer Christologie“ (357) durchgeführt. Wenn beispielsweise die futurischen Elemente in 17,24.26 „die vorgenommene Umformung der Eschatologie“ in Joh 14 wirklich nicht „widerrufen“, sondern „den in der ersten Rede gewonnenen eschatologischen Horizont“ „erweitern“ (360), mithin also beide Aussagen als kompatibel erscheinen (m. E. mit Recht), dann stellt sich rückblickend doch die Frage, ob die zuvor postulierte Dekonstruktion der futurischen Eschatologie für Joh 14 plausibel ist. 20  Zur genauen Bestimmung von relecture vgl. J. Zumstein, Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999; K. Scholtissek, Relecture – zu einem neu entdeckten Programmwort der Schriftauslegung (mit Blick auf das Johannesevangelium), BiLi 70 (1997), 309–315; Ders., Relecture und réécriture (s. Anm. 17); Ders., In ihm sein und bleiben (s. Anm. 9), 131–139.

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3.  Das hohepriesterliche Gebet Jesu

(1) Hingewiesen sei zunächst auf die folgenden Bezugs‑ und Rezeptionstexte: (a) die „Stunde der Verherrlichung“ in 12,23; 13,1–2.31–32 und in 17,1–5; (b) die joh Theologie der Herrlichkeit; (c) die Gerichts-Vollmacht Jesu nach 5,20–27 und 17,2; (d) die Parallelen zwischen 6,51–58 und 17,2bc.19a.21bc.23ab; (e) die Einheits-Aussagen in 10,16.30; 11,52 und 17,11.20–23; (f ) die Sprache der Immanenz in 6,56; 10,38; 14,10–11.17.20.23; 15,1–8 und in 17,21.23; (g) die „vollendete Freude“ in 3,29; 14,28; 15,11; 16,20–22.24 und 17,13; (h) das Thema der Agape bes. in 3,16–17; 13,1.34–35; 15,9–17 und 17,23–24.2621; (i) den „Hass der Welt“ in 15,18–25 und 17,14; (j) die „Worte“, die Jesus vom Vater weitergibt und die auf Glauben zielen nach 14,10; 15,7–8.15 und 17,8; (k) den Konnex von Bittgebet der Jünger oder Jesu und Verherrlichung in 12,27–29; 14,13; 15,7–8 und 17,8–10; (l) die in vielen Wiederaufnahmen erkennbare Inklusio zwischen Joh 13 und 1722; (m) die Fortschreibung der Gebete Jesu aus 11,41–42 und 12,27–29 in Joh 17 (terminologische und sachliche Wiederaufnahmen und Entfaltungen) (n) und schließlich die relecture von Joh 10 in Joh 1723. (2) Die weitreichende relecture von Joh 10 in Joh 17 wird im Folgenden ausführlicher aufgewiesen: So sehr die Gattungen, die Adressaten und der narrative Sitz im Leben von Joh 10 und 17 divergieren, so beachtlich sind die terminologischen und thematischen Konvergenzen und Fortschreibungen, von denen hier wichtige genannt seien: (a) In Beziehung stehen die Aussage der reziproken „Besitzgemeinschaft“ (R. Schnackenburg) von Vater und Sohn nach 17,10 (vgl. 16,15) und die Aussagen in 10,4a.12b (τὰ πρόβατα ἴδια) und 10,14bc.27 (τὰ πρόβατα τὰ ἐμά). (b) Gemeinsam ist beiden Kapiteln die Kennzeichnung der soteriologischen Finalität der Sendung Jesu als Gabe „des [ewigen] Lebens [in Fülle]“ (10,10.28; 17,2–3). (c) Joh 10 und Joh 17 verwenden wiederholt die joh Vorzugsvokabel γινώσκω (in Joh 10 acht, in Joh 17 sieben Vorkommen).24 Handeln die Vorkommen in Joh  Zum Inhalt und zum biblisch-theologischen Profil joh Agape-Theologie vgl. Th. Söding, „Gott ist Liebe“. 1 Joh 4,8.16 als Spitzensatz Biblischer Theologie, in: Th. Söding (Hg.), Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments (FS W. Thüsing), NTA. NF 31, Münster 1996, 306–357. 22 Vgl. die Beobachtungen bei M.-Th. Sprecher, Einheitsdenken (s. Anm. 1), 20 f; M. W. G. Stibbe, John, Readings: A New Biblical Commentary, Sheffield 1993, 175 f. 23  Vgl. den folgenden Abschnitt. In der Kommentierung von Joh 17 bei R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 1), klingt dieser Konnex immer wieder an. 24 Vgl. hierzu F. Mussner, Die johanneische Sehweise und die Frage nach dem historischen Jesus, QD 28, Freiburg i. Br. 1965, 26–32, hier 30: „Im ‚Erkennen‘ spricht sich nach Johannes das gläubige Sehen und das sehende Glauben aus“. Zur gnoseologischen Terminologie im JohEv 21

2.  Joh 17 als relecture

401

10 oftmals von reziproken Bezügen (vgl. bes. die reziproken Formeln in 10,14–15), so verwendet Joh 17 γινώσκω mit einer Ausnahme (17,25b) von dem „Erkennen“ bzw. „Nicht-Erkennen“ seitens der Menschen. (d) Spricht Joh 10 nur einmal von der Sendung des Sohnes (10,36), so begegnet in Joh 17 die Formel, „weil du mich gesandt hast“ (mit Varianten), in 17,3.8.18.21.23.25. 17,18ab verlängert zudem die Sendung des Sohnes durch die Sendung der Glaubenden. (e) Von der Heiligung (ἁγιάζω) des Sohnes handeln 10,36a (auf die Sendung des Sohnes bezogen mit dem Vater als Subjekt der Heiligung Jesu) und 17,19a (auf die Vollendung der Sendung des Sohnes bezogen, Jesu Selbstheiligung, die wiederum auf die Heiligung der Glaubenden zielt: 17,17a.19b). (f ) Spricht 10,17a „nur“ von der Liebe des Vaters zum Sohn, so verlängern 17,23[bis].24.26 diese Linie ausdrücklich hin zu den Glaubenden. (g) Betont 10,18 die ἐξουσία des Sohnes, „das eigene Leben zu geben und wieder zu nehmen“, so 17,2 die ἐξουσία des Sohnes „über alles Fleisch“. (h)  In Joh 10 ist im Plural von „den Werken“ Jesu die Rede (10,25.32[bis].33.37.38) – 17,4 fasst summarisch Jesu Rückblick zusammen: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde, das Werk vollendend, das du mir gegeben hast, damit ich es vollbringe.“ (i) 10,16 und 17,20 sprechen übereinstimmend von der in Aussicht stehenden und notwendigen Erweiterung der Gemeinde und ihrer Einheit. Die Verse 17,11.20–23 entfalten eindringlich die Aussage, dass der einen Herde der eine Hirte zugeordnet ist (10,16). (j) Kennzeichen des guten Hirten ist es, sein Leben „zu geben (für die Schafe)“ (τίθημι in 10,11.15.17.18[bis]). Dem entspricht es, wenn sich der Sohn  – seine Sendung im Sterben vollendend – für die Glaubenden „heiligt (υπὲρ αὐτῶν ἐγὼ ἁγιάζω ἐμαυτόν), damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind“ (17,19). (k) Die Glaubenden sind in der Hand des Sohnes und in der Hand des Vaters, sie werden nicht verloren gehen (10,28–2925). Auch im Rechenschaftsbericht 17,11d–16 geht es um die zurückliegende und die zukünftige Bewahrung der Jünger (vgl. bes. V. 12e: καὶ οὐδεὶς ἐξ αὐτῶν ἀπώλετο). Die Hirtenmetaphorik aus Joh 10 wird im Rückblick Jesu auf sein Wirken wachgerufen (vgl. bes. 17,12: „bewahren“, „bewachen“, „niemand geht verloren“). (l) Erzählt Joh 10 die gespaltene Reaktion der Hörer auf die Offenbarungsworte Jesu (vgl. 10,6.19–21.31.39–42), so blickt Joh 17 einerseits auf die Folgen dieser Spaltung, den „Hass der Welt“, zurück und enthält andererseits die Bitte Jesu an den Vater, die Glaubenden auch in Zukunft „vor dem Bösen zu bewahren“ (vgl. 17,14–16). (m) Joh 17 schreibt – unter Rückgriff auf die Sprache der Immanenz in Joh 14– 15 – die Einheits-Aussagen (10,16.30) und die Immanenz-Aussage (10,33) aus Joh rechnet er auch: ὁρᾶν, θεωρεῖν, θεᾶσθαι, βλέπειν, ἀκούειν, εἰδέναι, μαρτυρεῖν, μιμνῄσκεσθαι, μνημονεύειν, ὑπομιμνῄσκειν; vgl. ebd. 18–44. 25 Weil nach 10,29c niemand aus der Hand des Vaters geraubt werden kann, entkommt Jesus auch „den Händen“ der ihn zu ergreifen suchenden Gegner (10,39).

402

3.  Das hohepriesterliche Gebet Jesu

10 fort. Dieser Fortschreibung liegt die auch schon in Joh 14 und 15 erkennbare Tendenz zugrunde, die auf die Vater-Sohn-Relation bezogenen Aussagen auf die nachösterliche Beziehung zwischen dem Sohn und den Glaubenden zu übertragen: Sprechen 10,30.38 von der Einheit bzw. reziproken Immanenz von Vater und Sohn, so setzt das Gebet Jesu in 17,11.20–23 diese Einheit und Immanenz voraus und verwendet diese als Norm und Urbild für die Einheit der Ekklesia und die Integration der Glaubenden in die Vater-Sohn-Immanenz.26 R. Bultmann hat den semantischen Gehalt von „erkennen“ im JohEv im Bezug auf das Christusverhältnis bestimmt als „ein Innewerden, bei dem der Erkennende durch das Erkannte – nämlich durch Gott – in seiner ganzen Existenz bestimmt ist. Es ist ein Erkennen, in dem sich Gott den Menschen erschließt.“27

Die hirtenmetaphorisch ausgeleuchtete Beziehung zwischen dem guten Hirten und seinen Schafen („hören“, „folgen“, „kennen“, „sein Leben geben“, „führen“) wird aus dem Blickwinkel der besonderen Vater-Sohn-Beziehung zusätzlich vertieft und letztlich überstiegen: Maßstab für die Bestimmung und Beschreibung des Verhältnisses zwischen Jesus und den Seinen ist hier nicht mehr das metaphorische Bildfeld, sondern die im Evangelium insgesamt erkennbare Vater-Sohn-Relation.28

3.  Die Verschmelzung der Zeiten Wie die Passagen der Abschiedsrede in Joh 14–16 ist das Gebet Jesu in Joh 17 literarisch und sachlich an der Zeit-Grenze zwischen dem irdischen Wirken Jesu und seinem Fortgang verortet.29 Auch für Joh 17 treffen die von Ch. Hoegen-Rohls herausgestellten Kriterien der Zäsur, der Kontinuität und der Verschmelzung der Zeiten zu30: (a) Jesus betet unmittelbar vor seinem Tod, den er selbst in diesem Gebet auch deutet. Als der Scheidende rekapituliert er sein bisheriges Tun und blickt mit den Bitten an den Vater vorsorgend auf die Zeit nach seinem Tod voraus. 26 Zu

dieser Auslegung vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 9), 330–339.  R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK II, Göttingen 171962, 290. Auf dieser Linie liegt auch die Hauptthese der Arbeit von C. Hergenröder, Wir schauten seine Herrlichkeit. Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont der Selbsterschließung Jesu und Antwort des Menschen, FzB 80, Würzburg 1996, nach der die joh Verben der Wahrnehmung (hier bes. das „Sehen“) den „passiven“ Charakter des Sehens betonen. Vgl. auch die Verwendung von γνωρίζω in 15,15; 17,26[bis] und φανερόω in 2,11; 7,4; 17,6; 21,1[bis].14 (vgl. die passiva divina 1,31; 3,21; 9,3) mit Jesus als Subjekt. 28  Wenn hier wie in 15,1–8 das Bildfeld überstiegen wird, zeigt dies, von welchem Organisationszentrum her die joh Theologie entworfen ist: der Herrlichkeitsoffenbarung Gottes, joh gesprochen der wechselseitigen Verherrlichung von Vater und Sohn zugunsten der Glaubenden. 29  Vgl. auch die Ausführungen in „Abschied und neue Gegenwart“, in diesem Band, S. 369–394. 30 Vgl. Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 1), 230–255; U. Schnelle, Joh (s. Anm. 1), 255. 27

3.  Die Verschmelzung der Zeiten

403

(b) Das Gebet zielt auf die Kontinuität des Beistandes für die Glaubenden: Was Jesus vorösterlich durch seine Anwesenheit bewirkt hat (17,12), soll nachösterlich durch eine genau entsprechende Fortsetzung durch den Vater erhalten und vertieft werden. (c) Bei aller Betonung des vorösterlichen Sitzes im Leben des Gebetes Jesu setzt es de facto den Glauben und das Bekenntnis zu Jesus als dem durch Tod und Auferweckung Verherrlichten voraus. Diese Perspektive trägt nachösterliche Glaubensüberzeugungen in die Darstellung des vorösterlichen Handelns und Sprechens Jesu ein (freilich ohne letzteres zu überfremden). Damit ist Joh 17 nicht nur das einmalige, zurückliegende Gebet des Scheidenden,31 sondern wie in den vorausgehenden Partien der Abschiedsrede (und vielen weiteren joh Textzeugnissen) bringt sich der zu seinem Vater Erhöhte im erinnernden Parakletwirken neu zu Gehör. M.a.W.: Die Proexistenz und Theozentrik des Irdischen, des Scheidenden und des Erhöhten für die ihm vom Vater Anvertrauten entsprechen einander. An dieser Zeitgrenze, die joh als die „gekommene Stunde“ identifiziert wird (13,1; 17,1), fasst Jesus seine Intentionen nach den ausführlichen Redepartien in 13,31–16,33 zusammen: Waren in Joh 14–16 ausdrücklich die Jünger Adressaten der Worte Jesu, so ist es jetzt – der Gattung des Gebets entsprechend – der Vater. Der Scheidende bereitet die Seinen nicht nur durch die direkte Anrede in Zuspruch und Mahnung auf die Zeit nach seinem Tod vor (vgl. Joh 14–16), sondern er erweist sich auch als vermittelnder Fürsprecher der Seinen beim Vater. Dieses testamentarisch-programmatische Gebet Jesu ist nicht als literarischer Kunstgriff zu verstehen, sondern will ernstgenommen werden: Das Bestehen der Zukunft, die Bewahrung des Glaubens und die Gewinnung der Einheit der Glaubenden mit dem Ziel, den abgewandten Kosmos doch noch zu erreichen, hängt nicht nur von dem teilweise erfolgreichen irdischen Offenbarungswirken Jesu (17,4.6–11c.12.14.22.26–27a) ab, sondern auch von der reziproken Verherrlichung von Vater und Sohn in Tod, Auferstehung und Erhöhung Jesu. Diese reziproke Verherrlichung erhebt Jesu proexistentes Wirken für die Seinen (Offenbarung des Namens des Vaters, Bewahrung der ihm Anvertrauten in dem Namen des Vaters, Heiligung der Seinen, Weitergabe der empfangenen Doxa32) zur ewigbleibenden Gültigkeit. Jesus erbittet in der Abschiedsstunde vom Vater, was sein Bitten und das Bitten der Seinen von diesem Moment an für immer sein wird: Dass der Vater durch sein Wirken das erworbene Heil für, mit und in den Glaubenden aktiv „bewahre“ und vollende. Da es nach biblischem Grundwissen keinen auto Darauf legt R. Schnackenburg alles Gewicht, vgl. Ders., Joh III (s. Anm. 1), 197.229.  Die Gabe der Doxa an die Glaubenden von dem Sohn, der diese selbst empfangen hat (17,22), ist „die krönende Zusammenfassung“ (ebd. 218) dessen, was der Sohn den Jüngern „gegeben hat“. Vgl. W. Thüsing, Bitten (s. Anm. 1), 285 (zu Doxa in 17,22): „Gemeint ist damit der Glanz und die Kraft der Liebeseinheit Jesu mit dem Vater bzw. – sachlich gleichbedeutend – das Pneuma, das Jesus aufgrund seiner Erhöhung (also als der verherrlichte Gekreuzigte) spenden kann“; vgl. Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 1), 43 (zu 17,5). 31 32

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3.  Das hohepriesterliche Gebet Jesu

matisch verfügbaren Heilsbesitz geben kann, Glaube also einerseits bedroht und andererseits wachstumsbedürftig ist, hängt die „Bewahrung“ des Glaubens mit allen soteriologischen, ekklesiologischen und ethischen Implikationen letztlich von der Initiative und dem Wirken des Vaters ab (vgl. 6,44), der seine Wirksamkeit freilich im Sohn bzw. im Geist-Parakleten realisiert.33 Die nachösterliche Hermeneutik der Verschmelzung der Zeiten im JohEv ist auch der Ansatzpunkt, die joh Aussagen über die Offenbarung der Doxa Jesu und den Zeitpunkt der Verherrlichung Jesu aufzuschlüsseln: Die Verherrlichung Jesu (bzw. des Vaters) in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft bezieht sich auf die eine Sendung und Gottesoffenbarung Jesu, die aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeitpunkten besprochen werden kann. Im JohEv sind sowohl das irdische Wirken Jesu als auch seine neue österliche Gegenwart im Parakletwirken ernstzunehmen. Einerseits ist es der irdische Jesus, dessen Sendung und Zeugnis sich im Weg zum Kreuz vollendet, in dem Gott seine Herrlichkeit (Doxa) im Vorgriff auf die eschatologische Fülle offenbart. Andererseits bedarf es der „Übergabe“ des Geistes an die Seinen (vgl. 19,30) und der Begegnungen mit dem Auferstandenen, um das Ereignis der endzeitlichen Gottesoffenbarung in Jesus Christus im Licht des Osterglaubens zu erkennen. In kritischer Auseinandersetzung und Abkehr von einflussreichen Johannesinterpretationen (vgl. R. Bultmann, E. Käsemann, L. Schottroff) sucht Johanna Rahner die joh Darstellung des irdischen Jesus als Ort der Gottesoffenbarung zu rehabilitieren und wählt dazu als exegetische Basis die joh Tempelperikope 2,13–25.34 Der Verkündigung der Auferstehung und dem Osterglauben im Johannesevangelium kommt nach ihrer Ansicht keine zusätzliche Erkenntnisdimension zu; diese hätten vielmehr die Funktion, die (durchaus kreative) Erinnerung an die Gottesoffenbarung in Jesus Christus wachzuhalten. Eben darin sieht die Autorin auch die Bedeutung des Parakletwirkens im Zeugnis des Johannesevangeliums.35 M. E. misst das JohEv der Auferstehung Jesu jedoch mehr als eine katalysatorische Funktion im Blick auf die Erinnerung und Vergegenwärtigung der Gottesoffenbarung im irdischen Jesus zu. Die programmatische Tempelperikope spricht mit dem Vers 2,22 wohl doch nicht nur von einem zeitlichen, sondern auch von einem erkenntnisrelevanten Glaubensstandpunkt. Mit und durch den Osterglauben, also nicht ohne den Osterglauben, erschließen sich den Glaubenden Gestalt und Geheimnis Jesu Christi – Gestalt und Geheimnis freilich, die dem irdischen Jesus auch nach Überzeugung des JohEv nicht übergestülpt werden, sondern ihm von Anfang an zu eigen sind. Diese nachösterliche Hermeneutik, die den Irdischen und den Auferstandenen zusammensieht, löst den joh Inkarnationsbegriff in seiner 33  Wenn die Parakletworte eine sachidentische Fortsetzung des Werkes Jesu in der nachösterlichen Zeit dem „anderen Parakleten“ zusprechen, dann ist die an den Vater gerichtete Bitte Jesu, er möge sein irdisches Wirken für die Glaubenden fortsetzen, keine theologische Divergenz oder gar Kritik, sondern eine typisch joh Strukturparallele, die Vater, Sohn und Geistparaklet bei aller Unterscheidung und Zuordnung in das eine gleichgerichtete Offenbarungs‑ und Verherrlichungsgeschehen einordnet. 34 Vgl. J. R ahner, „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes.“ Jesus von Nazaret als Ort der Offenbarung Gottes im vierten Evangelium, BBB 117, Bodenheim 1998. 35  Vgl. ebd. 311–328.

4.  Ein hohepriesterliches Gebet

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offenbarungstheologischen Relevanz gerade nicht auf, wie die Autorin mutmaßt,36 sondern stellt ihn ins volle Licht. Wenn die theologia crucifixi die christologische Mitte des JohEv ist,37 dann gehört zur joh Kreuzestheologie eben auch die – gerade im JohEv so dicht wie in keinem anderen Evangelium – damit ineinsfallende Erhöhung und folgerichtig der Blick auf den durchbohrten Erhöhten (12,32; 19,37).

4.  Ein hohepriesterliches Gebet O. Michel und R. Schnackenburg bestimmen Joh 17 als „Gebet des scheidenden Erlösers“.38 Die „Fürbitter-Rolle“ Jesu für seine Jünger könne man nur „in einem weiteren Sinn ‚hohepriesterlich‘ nennen,“39 da Jesus nach dem JohEv vor seinem Tod auf Erden für die Seinen eintrete, während der Hebräerbrief Christi hohepriesterliches Wirken im Himmel verorte (vgl. Hebr 9,13–14; 10,10.14). Gleichwohl lässt sich mit W. Thüsing der literarische Sitz im Leben und die sachlich theologische Intention von Joh 17 unterscheiden: Im Rückblick auf den vorösterlichen Abschied Jesu benennt sein Gebet die der Gemeinde aufgegebenen Intentionen, die sie wiederum nur in der Kraft „des durch den Parakleten wirkenden erhöhten Jesus“ erfüllen kann. „Die Proexistenz des irdischen Jesus ist in der der Gemeinde ‚beistehenden‘ Proexistenz des Verherrlichten bleibend aufgehoben (vgl. 1 Joh 2,1).“40 Agape im joh Sinn (die des Vaters, die des Sohnes und die der Christen) ist grundlegend proexistent (vgl. nur: 3,16; 10,17–18; 15,12–13; 1 Joh 3,15–17). Wenn dem in den Tod gehenden Jesus in seinem Abschiedsgebet hier eine priesterliche Funktion zugesprochen wird (interzessorisches Wirken, Heiligung der Seinen durch die Selbstheiligung für die Seinen, d. h. sein stellvertretendes Sterben; vgl. 17,17–1941), ist diese Aussage freilich abzuheben von dem Versuch, für Joh 17 direkt  Vgl. ebd. 322. ebd. 116 f.311. 38  Vgl. O. Michel, Das Gebet des scheidenden Erlösers, ZSTh 18 (1941), 521–534; R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 1), 189.228–230. 39  Ebd. 229. Gänzlich ablehnend äußert sich Ch. Dietzfelbinger, Abschied (s. Anm. 1), 255. 40  W. Thüsing, Bitten (s. Anm. 1), 270. Vgl. hierzu auch das Futur γνωρίσω in 17,26b. Vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 1), 225 (vgl. Anm. 18). 41  Vgl. den sorgfältig abgestimmten Gebrauch von ὑπέρ in 6,51; 10,11.15; 11,50–52; 13,37–38; 15,13; 17,19; 18,14. Zur Auslegung von 17,17–19 in diesem Sinne vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 1), 212–214; W. Thüsing, Erhöhung (s. Anm. 1), 186–190; Ders., Herrlichkeit (s. Anm. 1), 91–97; R. E.  Brown, John II (s. Anm. 1), 765–767 (vgl. ebd. 920–922 seine Auslegung von 19,23– 24, hier 921: „the priestly symbolism of the tunic is plausible“); J. Blank, Das Evangelium nach Johannes, GSL. NT IV/1ab.2–3, Düsseldorf II 1977, 274; B. Schwank, Evangelium nach Johannes (erläutert für die Praxis), St. Ottilien 21999, 401 f.410. M. E. zu Unrecht wird diese Auslegung bestritten von Th. Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums. Das Verständnis des Todes Jesu im Rahmen der johanneischen Inkarnations‑ und Erhöhungschristologie, WMANT 69, Neukirchen-Vluyn 1994, 214, und Ch. Dietzfelbinger, Abschied (s. Anm. 1), 313. Ch. Dietzfelbinger kommt ebd. 315 zu der sehr problematischen Interpretation, in Joh 17 „beginnt die Rede vom Kreuz sich von ihrer geschichtlichen Wurzel zu entfernen und diese Wurzel vergessen zu lassen.“ Es ist fraglich, ob sich das „johanneische Denken“ wirklich „von der Heilsgeschichte abgewendet“ (ebd. 331 f ) hat. Hintergrund dieser Auslegungstendenz bei Ch. Dietzfelbinger ist 36

37 Vgl.

406

3.  Das hohepriesterliche Gebet Jesu

einen liturgischen Sitz im Leben zu identifizieren.42 Die Deutung der Sendung Jesu als priesterliches Wirken lässt sich im JohEv breiter verankern: 4.1  Jesus und die Hohenpriester In der ironischen Kontrastierung Jesu mit den jüdischen Hohenpriestern, bes. Kajaphas, entdeckt J. P. Heil eine joh Sinnlinie, die Jesus als den einzigartig-überlegenen Hohenpriester herausstellt (vgl. 11,45–53; 18,1–27; 19,23–24).43 Solch ironisch-hintergründiger Rollenwechsel ist ein beliebtes Stilmittel joh Theologie.44 Die Synhedrialversammlung nach 11,47–53 entfaltet den Zusammenhang von Christologie, Soteriologie und Ekklesiologie programmatisch:45 In der unfreiwilligen Fremdprophetie des Kajaphas V. 49b–50 und dem sich anschließenden Erzählerkommentar V. 51–52 korrespondiert dem εἵς ἄνθροπος (V. 50) die Sammlung der Gotteskinder εἰς ἕν (V. 52). Diese Entsprechung zwischen dem „einen Menschen“ und der Sammlung der versprengten Gotteskinder „in eins“ ist in ein fein gesponnenes Netz voll ironischer Verkehrungen eingewoben: Ausgangspunkt der Beratung im Synhedrium ist die Gefahr, dass durch „diesen Menschen“ (V. 47) „alle zum Glauben an ihn gelangen“ (V. 48). In V. 49 wird Kajaphas mit betont vorangestelltem „Einer aber von ihnen, Kajaphas, Hohepriester jenes Jahres“ (V. 49) eingeführt. Dieser Hohepriester prophezeit den stellvertretenden Sühnetod des „einen Menschen“ „für das [ganze] Volk“ (V. 50), der die Sammlung Israels „in eins“ begründet. In ironischem Rollenwechsel stehen sich Kajaphas, der Hohepriester jenes Jahres, und Jesus, der stellvertretende Sühne für das Volk wirken wird, gegenüber. Dem wechselnden Hohepriesteramt, das mit Kajaphas seine schon früher (vgl. Ders., Johanneischer Osterglaube, ThSt [B] 138, Zürich 1992) vertretene Deutung der joh Ostertheologie. Anders als M. Hengel, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund urchristlicher Exegese, JBTh 4 (1989), 249–288, 281 (der Sühnetod Jesu als „Integral des Evangeliums“), meint Ch. Dietzfelbinger auch, die Deutung des Todes Jesu als Sühne sei nur eine „Vorstufe“ für die Deutung des Todes Jesu durch den Evangelisten; vgl. Ders., Sühnetod im Johannesevangelium?, in: J. Ådna / ​S. J.  Hafeman / ​O.  Hofius (Hgg.), Evangelium – Schriftauslegung – Kirche (FS P. Stuhlmacher), Göttingen 1997, 65–76 (Zitat 76); vgl. auch W. Loader, The Christology of the Fourth Gospel. Structure and Issues, BET 23, Frankfurt a. M. 21992, 102 („subordinate place“). 42  Eine differenzierte Sicht auf die Zuordnung des „Gebetes für die Einheit“ zum „Sakrament der Einheit“ findet sich bei W. Thüsing, Herrlichkeit (s. Anm. 1), 123–128. Sowohl die Partizipation am Sakrament der Einheit (vgl. 6,51–58) als auch die Partizipation in der Einheit der Gemeinde Jesu bedingen den Eintritt in den geoffenbarten Raum der Liebe, der die Angleichung in der Liebe (Proexistenz) fordert. Vgl. auch M.-Th. Sprecher, Einheitsdenken (s. Anm. 1), 240– 242, hier 241: „Zutreffend ist, dass der joh Verfasser eucharistische Bezüge theologisiert, ohne die eucharistischen Elemente explizit zu nennen.“ Vgl. Ch. Dietzfelbinger, Abschied (s. Anm. 1), 356: „das Gebet Jesu hat seinen Ort im Gebet der Gemeinde“. 43  Vgl. J. P.  Heil, Jesus the Unique High Priest in the Gospel of John, CBQ 57 (1995), 729–745. 44  Vgl. „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, in diesem Band, S. 349–368. 45  Diese Linienführung erkennt auch M. L.  Appold, The Oneness Motif in the Fourth Gospel. Motif Analysis and Exegetical Probe into the Theology of John, WUNT II/1, Tübingen 1976, 285; vgl auch die treffende Auslegung von J. Beutler, Zwei Weisen der Sammlung. Der Todesbeschluss gegen Jesus in Joh 11,47–53, 1994, in: Ders., Studien zu den johanneischen Schriften, SBAB 25, Stuttgart 1998, 275–283.

4.  Ein hohepriesterliches Gebet

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zudem von jemandem besetzt ist, der in ironischer Umkehrung seines Wortes selbst „nichts versteht“ (V. 49), wird der „eine Mensch“ mit der einen stellvertretenden Lebenshingabe entgegengesetzt. Frucht dieses hohepriesterlichen Todes ist die Sammlung des Volkes und der zerstreuten Kinder Gottes „in eins“ (V. 52). Dem „Zusammenführen“ (συνάγω) Jesu nach V. 52 kontrastiert vielsagend das die Verurteilung Jesu auslösende vorausgegangene „Zusammenführen“ des Synhedriums:46 Ist das Tun der Gegner Jesu aus kalter Berechnung tödlich, so bewirkt der Tod Jesu (der Planung der Gegner zum Trotz bzw. diese ironisch in ihr Gegenteil verkehrend) die eschatologische Sammlung der Heilsgemeinde (vgl. 6,12–13; 10,16; 17,20). Der Satzteil „nicht nur für das Volk allein, sondern auch um die versprengten Kinder Gottes zu sammeln in eins“ in 11,52 greift die jüdische Erwartung einer eschatologischen Restitution des Zwölf-Stämme-Volkes Israel auf. Im Sinne des Evangelisten ist die Gotteskindschaft freilich nicht mehr an die natürliche Verwandtschaft, sondern an die „Aufnahme“ Jesu im Glauben (vgl. 1,11–13) gebunden.47 4.2  Jesu nahtloses Untergewand: Joh 19,23–24 Die auffällige Formulierung „Der Leibrock war ohne Naht, von oben her ganz durchgewebt“ (19,23) hat Anlass gegeben, hier Jesu (hohe‑)priesterliche Würde48 oder die durch ihn vermittelte Einheit der Kirche angesprochen zu sehen.49 In der dreigliedrigen Aussage rahmen zwei Ganzheits-Aussagen („ohne Naht“ und „von oben her ganz durchgewebt“) eine Aussage über den göttlichen Ursprung „von oben her“ (vgl. „von oben“ in 3,3.7.31; 19,11).50 Jede Auslegung dieser Aussage hängt mit davon ab, wie das Gewicht symbolischer und metaphorischer Sprache und literarischer Stilmittel (Missverständnisse, Ironie, Rollenwechsel) im JohEv einzuschätzen ist. Im Folgenden werden Argumente angeführt, die in ihrer Konvergenz für eine joh Anspielung auf die priesterliche Würde Jesu, welche wiederum die von Gott gegebene Einheit der Kinder Gottes bewirkt, sprechen:51  Richtig gesehen von M. W. G.  Stibbe, John (s. Anm. 22), 129; J. P.  Heil, Jesus (s. Anm. 43),

46

734.

 Diese Linie wird in 17,20 und 23c weitergeführt.  Vgl. die Beschreibung des hohepriesterlichen Gewandes in Ex 28; 36 und bei Jos Ant 3,161. 49 Vgl. zur Diskussion und Kritik dieser Auslegungen bei R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 1), 317–319 (er hält beide letztlich für nicht überzeugend). Auch J. Becker, Joh II (s. Anm. 5), 695 f, und C. R.  Koester, Symbolism in the Fourth Gospel. Meaning, Mystery, Community, Minneapolis 1995, 194 f, lehnen eine übertragene Deutung ab. Für eine christologische und eine ekklesiologische Deutung votiert B. Schwank, Joh (s. Anm. 41), 455–457. 50  Mit J. P.  Heil, Jesus (s. Anm. 43), 742. 51  Vgl. hierzu ebd. und den Beitrag von J. Eckert, Die johanneische Erzählung vom nahtlosen Gewand Jesu (Joh 19,23 f ), in: E. Aretz u. a. (Hgg.), Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 21996, 13–37, hier 35: „Das nahtlose Gewand des Gekreuzigten repräsentiert in erster Linie denjenigen, in dem alle an ihn Glaubenden ihre Einheit mit ihm und dem himmlischen Vater und damit das Leben gewinnen.“ 47 48

408

3.  Das hohepriesterliche Gebet Jesu

(1) Vielfach unterschätzt wird in der Forschung das joh Stilmittel des Rollenwechsels bzw. der ironischen Verkehrung.52 Gerade in den Gesprächen zwischen Jesus und seinen Gegnern werden (Verhör‑)Situationen des Öfteren offen oder in feinsinnigen Anspielungen umgekehrt: Unbemerkt von der Mehrzahl der Teilnehmer an der Hochzeit zu Kana tritt zu dem Bräutigam und dessen Hochzeitsfeier der Bräutigam einer neuen Heilszeit ans Licht der Öffentlichkeit (2,1–11; vgl. 3,27–39).53 Dem „Lehrer Israels“ (3,10) steht der „von Gott gekommene Lehrer“ (3,2) gegenüber.54 Aus dem Angeklagten wird der Richter und aus den Richtern die Angeklagten (5,19–47; 9,39; 18,28–19,16). Dem Statthalter des Kaisers steht der wahre König gegenüber (18,33–38; 19,3.12.14.19–22). Die Erzählregie des Evangelisten erlaubt es den Lesern und Hörern (Kommunikation durch Erzählung), diese ironischen Verkehrungen mitzuvollziehen, während innertextlich (erzählte Kommunikation) die Erzählfiguren in der Begegnung mit Jesus (a) entweder erst über Missverständnisse und die Selbstoffenbarung Jesu hinweg wirklich zu ihm finden, oder (b) die Begegnung zunächst unentschieden und offen bleibt oder (c) die Begegnung mit Jesus scheitert. Ein Charakteristikum solcher verborgenoffenbaren Rollenwechsel ist es, dass Jesus nur in Brechung bzw. Überbietung „der Lehrer Israels“, der „Bräutigam“, der „König Israels“, der „Herr und Meister“, der „Richter“, der „Messias Israels“, der „Hohepriester“ ist. Der, welcher dem Hohenpriester gegenübergestellt wird, erweist sich selbst in überbietender Weise55 als priesterlicher Mittler der eschatologischen Heilsgemeinde (11,47–53; 17,1–26; 18,1– 2756; 19,23–24). (2) Jesus „erfüllt“ die Heilserwartungen bzw. die mit den Messiaserwartungen verbundenen Konzepte immer wieder sub contrario. Gerade indem Jesus messianische Erwartungen immer wieder durchbricht und sich vereinnahmenden Zu-

52  C. Diebold-Scheuermann bestreitet diese Stilmittel für Joh 18,18–19,16a gänzlich, in der m. E. unzutreffenden Annahme, Ironie sei „für einen kerygmatischen Text sehr ungewöhnlich“ (Dies., Jesus vor Pilatus. Eine exegetische Untersuchung zum Verhör Jesu durch Pilatus [Joh 18,28–19,16a], SBB 32, Stuttgart 1996, 207–211, hier 211); vgl. hingegen K. Scholtissek, Ironie (s. Anm. 44). 53  Hierin bewahrheitet sich das prophetische Wort Johannes des Täufers aus 1,26d; zur Relevanz dieses Wortes im JohEv vgl. Ders., Messias-Regel (s. Anm. 13). 54 Auch sonst werden im JohEv den Gesprächspartnern oder Gegnern Jesu fremdprophetische Worte in den Mund gelegt, die sie in ihrer Tiefe und wahren Bedeutung nicht oder noch nicht verstehen. 55 J. P.  Heil weist zu Recht darauf hin, dass diese Aussage mit der joh Figur der Überbietung jüdischer Institutionen konvergiert (vgl. zum Gesetz 1,17; zum Tempel 2,14–22; zur Wüstenspeisung Joh 6), in Ders., Jesus (s. Anm. 43), 745. Zu ergänzen sind die jüdischen Feste (Sabbat [5,1–47], Passah [6,1–71], Laubhüttenfest [7,1–10,21], Tempelweihfest [10,22–42]), deren wahrer Inhalt und wahre Erfüllung Jesus zu sein beansprucht. 56  Vgl. hierzu die erhellende Auslegung von J. P.  Heil, Jesus (s. Anm. 43), 735–740, der das zweimalige γνῷστὸς τῷ ἀρχιερεῖ des nichtgenannten Jüngers in 18,15.16 neben dem offensichtlichen Bezug auf Kajaphas auch auf Jesus bezogen sieht (vgl. 10,14). Weitere relecture-Prozesse werden zwischen Joh 10 und 18 erkennbar, wenn αὐλή in 18,15 in Bezug zu 10,16 gesetzt wird (vgl. ebd.).

5. Auswertung

409

griffen entzieht,57 gewinnt der Erzähler Raum und Zeit, Jesu messianische Gottessohnschaft in der ihr angemessenen Weise zu profilieren. Ohne die Bereitschaft, sich selbst und seine eigenen Heilserwartungen im Gegenüber zu Jesus auf den Prüfstand stellen zu lassen, gelingt der christologische Fund im JohEv nie. Mutatis mutandis gilt dies auch für das priesterliche Wirken Jesu: Hier, im Gegenüber zu den Hohenpriestern (11,47–53; 18,1–17) offenbart der Tod Jesu, welches Tun und wessen Tun wider allen Erwartens tatsächlich zum Heil führt. (3) Insbesondere die joh Passionsdarstellung ist in toto ein Meisterwerk erzählerischer Stilistik und andeutungsüberreicher Auslegung: Direkte und indirekte Anspielungen, Ober‑ und Untertöne stehen in dicht gedrängter Folge. Wie kein anderer der Evangelisten lotet Johannes in seiner Erzählung die Passion Jesu in allen Details aus und deutet sie in einem viele Perspektiven erhellenden Kaleidoskop als die „gekommene Stunde“ der offenbaren wechselseitigen Verherrlichung von Vater und Sohn. (4) Der joh Christologie und Soteriologie liegt die einheitliche Figur der Identität von Geber und Gabe zugrunde: Jesus spendet das Leben, das er selbst ist; er gibt das wahre Brot vom Himmel, das er selbst ist. In Anwendung auf die priesterliche Funktion Jesu gilt: Jesus wirkt priesterlich als Lebensmittler und ‑spender zwischen Gott und seinen Geschöpfen (vgl. 1,1–18; 10,10; 14,6), er ist der „neue Tempel“, der neue Ort der Gottesanbetung „im Geist und in der Wahrheit“, „der Weg, die Wahrheit und das Leben“, er ist Priester und Opfer (vgl. die Paschalammtypologie in 1,29.36; 19,36) zugleich. Indem Jesus als Heilsgabe sich selbst schenkt und hingibt (vgl. 10,11.17–18) – im sprechenden Kontrast zu der Real­ politik eines Kajaphas nach 11,48–50 – und nur daraus die soteriologische Heilsfülle „fließt“ (vgl. 19,34), übersteigt er das jüdische Konzept hohepriesterlicher Mittlerschaft. In der Intention des JohEv ist Jesus kein direkter Konkurrent des Kajaphas in dem Sinne, dass er das Amt des Kajaphas als solches anstrebte, um es nach dem Personenwechsel in der Sache fortzusetzen; er ist es aber in dem Sinne, dass seine priesterliche Vermittlung die des jüdischen Hohenpriesters in einer endgültigen Weise aufhebt.58

5. Auswertung In einer neuen literarischen Gattung, dem Gebet des Scheidenden als Höhepunkt der joh Abschiedsrede,59 werden die großen joh Leitthemen aus den voraus57  Vgl. u. a. 2,23–25; 6,15; 10,39 und den Aufsatz von M. W. G.  Stibbe, The Elusive Christ. A New Reading of the Fourth Gospel, JSNT 44 (1991), 20–39, in: Ders. (Hgg.), The Gospel of John as Literature. An Anthology. Twentieth-Century Perspectives, NTTS 17, Leiden 1993, 231–247. 58  Vgl. J. P.  Heil, Jesus (s. Anm. 43), 730: „As high priest Jesus not only contrasts with the Jewish high priesthood but also transcends it in his ability to lead and provide for the welfare of the people he serves.“ 59 Zur Begründung, Joh 13–17 zusammengenommen als eine Abschiedsrede zu interpretieren, vgl. K. Scholtissek, Abschied (s. Anm. 29), 348–350.

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3.  Das hohepriesterliche Gebet Jesu

gegangenen Evangelienpassus einer relecture unterzogen, die die Kontinuität und Vertiefung joh Theologie eindrucksvoll unter Beweis stellt. In der „Stunde“ des Abschiedes, die zugleich die „Stunde“ der Verherrlichung des Sohnes ist (17,1), fasst Jesus  – sich interzessorisch an den Vater wendend  – seine Sendung zusammen: Mit der Gabe des ewigen Lebens an die Glaubenden „verherrlicht“ er den Vater. Schon die ersten Verse 17,1–5 sind ein genialer Ausdruck joh Theozentrik und Christozentrik, in deren Dynamik die Glaubenden an der Herrlichkeit bzw. wechselseitigen Verherrlichung von Vater und Sohn Anteil gewinnen (17,22.26). Mit J. Blank kann Joh 17 trefflich als „Kompendium der johanneischen Offenbarungstheologie“60 bestimmt werden. Darüber hinaus erkennt J. A. Bühner in den Einheits‑ und Immanenz-Aussagen in Joh 17 mit Recht den Höhepunkt der johanneischen Lehrbildung, auf dem die größte inhaltliche Dichte sich mit einem Höchstmaß an sprachlicher Gedrängtheit paart.61 Die joh Einheits‑ und Immanenz-Aussagen versprachlichen und reflektieren die nachösterlich neue, geistvermittelte Gemeinschaft zwischen dem Vater, dem auferweckten und erhöhten Sohn und den Glaubenden.62 Ein Charakteristikum der nachösterlichen Hermeneutik des JohEv mit der ihr eigenen Verschmelzung der Zeiten ist die dialektische Verschränkung der Selbstoffenbarung Gottes im irdischen Wirken Jesu mit dem diese aufnehmenden und vergegenwärtigenden Wirken des Auferstandenen im Parakleten (14,25–26; 16,13– 15). Die Doppelung von γνωρίζω mit verschiedenen Tempora in 17,26ab („und ich habe deinen Namen offenbart und ich werde ihn offenbaren“) trägt diesem

60  J. Blank, Joh II (s. Anm. 38), 251. Vgl. Ch. Dietzfelbinger, Abschied (s. Anm. 1), 357 (zu Joh 17): „die Vollendung johanneischer Christologie“; vgl. zu der Abschiedsrede insgesamt ebd. 361: „die umfassendste ekklesiologische Äußerung des Neuen Testaments“ (vgl. ebd. 5.241); vgl. ebd. 3: In der Abschiedsrede finden wir die „theologischen Reflexionen eines urchristlichen Autors, die mit dem Anspruch einhergehen, dass hier die Christusbotschaft bis zu ihren letztmöglichen Äußerungen vorangetrieben wurde“. Vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 1), 198 (zu 17,6–11): „Der Abschnitt enthält in gedrängter Form die joh. Theologie der Offenbarung und der Heilsgemeinde, die Gottes heiliger Bereich inmitten der Welt ist“; ebd. 230 sieht R. Schnackenburg die „theologischen Verbindungslinien“ zum Evangelium als stärker an als diejenigen zu den Briefen. Zum ekklesiologischen Horizont in Joh 15 und 17 vgl. auch J. Ernst, Das Johannesevangelium – ein frühes Beispiel christlicher Mystik?, ThGl 81 (1991), 323–338, hier 325–329. Vgl. W. Thüsing, Bitten (s. Anm. 1), 282: „Es kann m. E. aufgewiesen werden, dass die Theologie des Evangelisten einerseits und die des Verfassers von Joh 15–16 bzw. 17 sowie des 1. Johannesbriefs andererseits komplementäre Größen sind; konträre Gegensätze stellen sie auf keinen Fall dar.“ Damit wird der Auslegung von Joh 17 bei J. Becker widersprochen, der im Ausgang von 17,1–2 einen Geschichtsdeterminismus, einen verkirchlichten Dualismus von Kosmos und Kirche, ein prädestinatorisches Erwählungsbewusstsein der Gemeinde und ein Zurückdrängen des Glaubens als Antwort auf die Offenbarung als Leitaussagen des ganzen Gebetes erkennen möchte (vgl. Ders., Joh II [s. Anm. 5], 620 f.631). 61  J. A.  Bühner, Der Gesandte und sein Weg im 4. Evangelium. Die kultur‑ und religionsgeschichtlichen Grundlagen der johanneischen Sendungschristologie sowie ihre traditionsgeschichtliche Entwicklung, WUNT II/2, Tübingen 1977, 224. 62  Vgl. hierzu umfassend K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 9).

5. Auswertung

411

Anliegen Rechnung.63 Das Gebet Jesu in Joh 17 ist literarisch am Zeitpunkt seines Abschiedes von den Seinen verortet. Sachlich schließt Joh 17 jedoch auch das dauerhaft proexistente Eintreten des Auferstandenen für die Seinen ein (vgl. 17,1 f ). Dabei werden priesterliche Aufgaben erkennbar: Jesus tritt fürbittend beim Vater für die Seinen ein, die er durch die Selbstheiligung für die Seinen im stellvertretenden Tod geheiligt hat (vgl. 17,17–19). Sachlich übereinstimmend spricht 1 Joh 2,1–2 von Jesus Christus als Parakleten beim Vater (παράκλητον ἔχομεν πρὸς τὸν πατέρα).64 In synchroner Lektüre mit den christologischen Aussagen in 11,45–53 und 19,23–24 schreibt Joh 17 dem betenden Jesus (hohe‑)priesterliche Züge zu. Das gesamte JohEv reflektiert und entfaltet für die Lesenden und Hörenden, in welchem Sinne dieses priesterliche Sein und Wirken Jesu Christi zu verstehen bzw. gerade nicht zu verstehen ist (vgl. die ironischen Rollenwechsel im JohEv).

63  Vgl. R. Schnackenburg, Joh III (s. Anm. 1), 224: „Das himmlische Ziel (V. 24) schließt ein inneres Wachstum der Glaubenden auf Erden nicht aus; im Gegenteil, schon in ihrer irdischen Existenz sollen sie jenem entgegenwachsen.“ 64 Vgl. zu 1 Joh 2,1–2 die Auslegung von H.-J. Klauck, Der erste Johannesbrief, EKK XXIII/1, Neukirchen-Vluyn 1991, 100–110.

4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30) Zum theologischen Potential und zur hermeneutischen Kompetenz der johanneischen Christologie 1. Einführung Zu den charakteristischen Merkmalen der gegenwärtigen exegetischen Diskurse gehört eine auffällige Asymmetrie:1 Während nach einer Schätzung2 weltweit jeden Tag 2–3 neue Jesusbücher auf dem religiösen Buchmarkt erscheinen, gilt der Christologie im Neuen Testament keineswegs die gleiche Aufmerksamkeit. Die sogenannte historische Rückfrage nach Jesus lebt bis heute von der Neugier, den „ursprünglichen“ Jesus herauszufiltern und ihn gegenüber Übermalungen der verschiedensten Couleur ‚zu rehabilitieren‘. Die Klappentexte der mediengerecht angepriesenen Jesusbücher sprechen hier eine deutliche Sprache. Dabei ist die Rückfrage nach Jesus hermeneutisch und theologisch unverzichtbar.3 Auf je eigene Weise erzählen, erinnern und vergegenwärtigen alle vier kanonischen Evangelien die vita Jesu und schreiben – und darin liegt für sie keineswegs ein Widerspruch – in diese retrospektive Erzählung ihren österlichen Glauben an die heilende Kraft der Sendung, des Todes und der Auferstehung Jesu ein. Der historische Jesus und der auferweckte, erhöhte Christus gehören zusammen, sie sind ein und dieselbe Person. Es gehört zu den faszinierenden Aufgaben der exegetischen Forschung, die sich im Licht des Osterglaubens vollziehende Erinnerung und Deutung der Gestalt und des Geheimnisses Jesu Christi in den verschiedenen Etappen der urchristlich theologisch-christologischen Reflexion von der frühesten Osterverkündigung der Urgemeinde an über die paulinische Evangeliumsverkündigung bis hin zu den vier Evangelien nachzuvollziehen und mit allem zur Verfügung stehenden Scharfsinn zu rekonstruieren. Das JohEv, das trotz jüngster Versuche einer sogenannten Frühdatierung mit hoher Wahrscheinlichkeit chronologisch gesehen das letzte der vier neutestament1  Zu den Entstehungsbedingungen des folgenden Beitrags, siehe im Anhang dieses Bandes unter „Nachweise der Erstveröffentlichung“. 2  Vgl. K. Backhaus, „Nur ist das Tauchen in der Spur nicht schon das Ziel“. Ein Neutestamentler liest Patrick Roth, in: E. Garhammer / ​U. Zelinka (Hgg.), „Brennender Dornbusch und pfingstliche Feuerzungen“. Biblische Spuren in der modernen Literatur, Paderborn 2003, 121–142, hier 123 f. 3 Zum aktuellen Stand der Rückfrage nach Jesus vgl.: R. Riesner / ​J. Schröter (Hgg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, BZNW 114, Berlin 2002 (Lit.).

1. Einführung

413

lichen Evangelien ist,4 hat gemeinhin die größte Skepsis auf sich gezogen, wenn es um die historische Rückfrage nach Jesus ging. Aufgrund der gegenüber den Synoptikern eigenständigeren Sprache und der im vierten Evangelium bezeugten hohen Christologie5 wird dem Evangelisten zwar die Bezeichnung Theologe zuerkannt (vgl. den Ehrentitel in der Alten Kirche und der Orthodoxie: Johannes 4  Zum aktuellen Stand der Johannesforschung vgl. die eigenen Forschungsberichte: K. Scholtissek, Neue Wege der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I–II, ThGl 89 (1999), 263– 295; 91 (2001), 109–133; Ders., Johannes auslegen I–IV, SNTU 24 (1999), 35–84; 25 (2000), 98–140; 27 (2002) 117–153; 29 (2004) 76–118; Ders., Eine Renaissance des Evangeliums nach Johannes. Aktuelle Perspektiven der exegetischen Forschung, ThRv 97 (2001), 267–288; Ders., The Gospel of John in Recent Research, in: S. McKnight / ​G. Osborne (Hgg.), The Face of New Testament Studies, Grand Rapids 2004, 444–472; Vgl. jetzt auch die neue Einleitung in das JohEv von R. E.  Brown, An Introduction to the Gospel of John, ABRL, hrsg. v. F. J. Moloney, New York 2003 (Lit.). 5 Vgl. zur joh Christologie: H. Schlier, Zur Christologie des Johannesevangeliums, in: Ders., Das Ende der Zeit. Exegetische Aufsätze und Vorträge III, Freiburg i. Br. 1971, 85–101; Yu Ibuki, Die Doxa des Gesandten. Studie zur johanneischen Christologie, AJBI 14 (1988), 38–81; W. Loader, The Christology of the Fourth Gospel. Structure and Issues, BET 23, Frankfurt a. M. 1989; R. Schnackenburg, „Der Vater, der mich gesandt hat.“ Zur johanneischen Christologie, in: C. Breytenbach / ​H. Paulsen (Hgg.), Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), Göttingen 1991, 275–291; M. J. J.  Menken, The Christology of the Fourth Gospel. A Survey of Recent Research, in: From Jesus to John. Essays on Jesus and New Testament Christology (FS M. De Jonge), JSNT.S 84, M. De Boer (Hg.), Sheffield 1993, 292–320; R. Schnackenburg, Die Person Jesu Christi im Spiegel der vier Evangelien, HThK.S IV, Freiburg i. Br. 1993; J. Painter, The Quest for the Messiah. The History, Literature and Theology of the Johannine Community, Nashville 21993; J. Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, HThK.S V, Freiburg i. Br. 1994, 246–275; P. N.  Anderson, The Christology of the Fourth Gospel. Its Unity and Disunity in the Light of Joh 6, WUNT II/78, Tübingen 1996; M. M.  Thompson, The Historical Jesus and the Johannine Christ, in: R. A. Culpepper / ​C. C. Black (Hgg.), Exploring the Gospel of John (FS D. M. Smith), Louisville 1996, 21–42; H. Weder, Deus incarnatus. On the Hermeneutics of Christology in the Johannine Writings, ebd. 327–345; L. Schenke, Christologie als Theologie. Versuch über das Johannesevangelium, in: R. Hoppe / ​U. Busse (Hgg.), Von Jesus zum Christus. Christologische Studien (FS P. Hoffmann), BZNW 93, Berlin 1998, 445–465; J. Frühwald-König, Tempel und Kult. Ein Beitrag zur Christologie des Johannesevangeliums, BU 27, Regensburg 1998; J. R ahner, „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“. Jesus von Nazaret als Ort der Offenbarung Gottes im vierten Evangelium, BBB 117, Bodenheim 1998; F. Manns, Éléments de christologie johannique, BeO 40 (1998), 169–192; H.-Ch. Kammler, Christologie und Eschatologie. Joh 5,17–30 als Schlüsseltext johanneischer Theologie, WUNT 126, Tübingen 2000; J. Painter, The Point of John’s Christology. Christology, Conflict and Community in John, in: D. G. Horell / ​Chr. M. Tuckett (Hgg.), Christology, Controversy and Community (FS D. R. Catchpole), NT.S 99; D. G. Horell / ​Chr.Tuckett (Hgg.), Leiden 2000, 231–252; Sh. H.  Ringe, Wisdom’s Friends. Community and Christology in the Fourth Gospel, Sheffield 2000; J. F.  Mcgrath, John’s Apologetic Christology. Legitimation and Development in Johannine Christology, SNTS. MS 111, Cambridge 2001; R. T. Fortna / ​T. Thatcher (Hgg.), Jesus in Johannine Tradition, Louisville 2001; H. J.  Fabry / ​K . Scholtissek, Der Messias. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, NEB Themen 5, Würzburg 2002, 85–92; Th. Söding, „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Die johanneische Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4 f ), ZNW 93 (2002), 177–199; J. Freyne, Christologische Streitigkeiten unter den johanneischen Christen, Conc 38 (2002), 51–59; D. M.  Smith, John’s Quest for Jesus, in: D. E. Aune u. a. (Hgg.), Neotestamentica et Philonica (FS P. Borgen), NT.S 106, D. E. Aune u. a. (Hgg.), Leiden 2003, 233– 253; L. W.  Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids 2003, 349–42. Vgl. auch O. Schwankl, Aspekte der johanneischen Christologie, in: G. Van

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4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

Theologus),6 aber in diesem Kompliment steckt oft die implizite Botschaft: Johannes ist ein Theologe, dessen Evangelium zugleich am weitesten entfernt ist von der Botschaft des geschichtlichen Jesus von Nazaret. Zugleich gilt das JohEv aus anderen Gründen als ein belastetes, sperriges Evangelium:

2.  Die Christologie des JohEv – ein Störfaktor im jüdisch-christlichen und interreligiösen Diskurs? Das Erschrecken über das von Nazideutschland ausgehende Genozid an den europäischen Juden hat die Sensibilität für die christliche Mitschuld an dem jahrtausendelangen Antijudaismus, den sich der organisierte Antisemitismus zu Nutze machen konnte, geweckt und lässt auch verstärkt nach den neutestamentlichen Wurzeln antijüdischer Denkschablonen fragen.7 Aufgrund der pauschalen Redeweise „die Juden“ und der dualistischen Brandmarkung „der Juden“ als „Kinder des Teufels“ (vgl. Joh 8,44), deutet Micha Brumlik das JohEv als das „antijüdischste Evangelium.“8 Das internationale Leuvener Symposion zur Frage eines Antijudaismus im JohEv im Jahr 2000 kommt weithin zu dem Schluss, im JohEv fänden sich antijüdischen Passagen – seien sie nun de facto antijüdisch oder sehr ungeschützte Formulierungen, die sich zur antijüdischen Auslegung anbieten. Deshalb sei in einer Art von Sachkritik die Kernbotschaft der joh Evangeliumsverkündigung – nämlich die liebende Zuwendung Gottes zur Welt in seinem Sohn (vgl. Joh 3,16) – gegen antijüdische Polemiken im JohEv selbst zu verteidigen.9 Belle / ​J. G. van der Watt / ​P. Maritz (Hgg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel, BEThL 184, Leuven 2005,347–375. 6  Die „Theologie des Neuen Testaments“ von R. Bultmann kennt überhaupt nur zwei Theologen im NT: Paulus und Johannes. 7 Vgl. einführend „Nun steht aber diese Sache im Evangelium …“ Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, R. Kampling (Hg.), Paderborn (1999) 22003 (Lit.); vgl. auch die Sammelbände zu neueren kirchlichen Stellungnahmen: H. H.  Henrix / ​R .  Rendtorff, Die Kirchen und das Judentum. Dokumente 1945–85, Paderborn 21989; H. H.  Henrix / ​W.  Kraus, Die Kirchen und das Judentum. Dokumente 1985–2000, Paderborn 2001. 8  Vgl. M. Brumlik, Johannes: das judenfeindlichste Evangelium, KuI IV (1989), 102–113. 9  Vgl. R. Bieringer / ​D. Pollefeyt / ​F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel. Papers of the Leuven Colloquium, 2000 (Jewish and Christian Heritage Series 1), Assen 2001 (Lit.); R.  Bieringer / ​D.  Pollefeyt / ​F.  Vandecasteele-Vanneuville, AntiJudaism and the Fourth Gospel, Louisville 2001; R.  Bieringer / ​D. Pollefeyt, Open to Both Ways …? Johannine Perspectives on Judaism in the Light of Jewish-Christian Dialogue, in: M. Labahn / ​A . Strotmann / ​K . Scholtissek (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2003, 11–32. Zur Israel-Theologie des JohEv vgl. auch: T. Nicklas, Ablösung und Verstrickung. „Juden“ und Jüngergestalten als Charaktere der erzählten Welt des Johannesevangeliums und ihre Wirkung auf den impliziten Leser, RSTh 60, Frankfurt 2001; J.-M. Schröder, Das eschatologische Israel im Johannesevangelium. Eine Untersuchung der johanneischen Israel-Konzeption in Joh 2–4 und Joh 6, NET III, Tübingen 2003; M. Labahn / ​A . Strotmann / ​K . Scholtissek (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2003 (Lit.).

2.  Die Christologie des JohEv

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Zugespitzt formuliert: Ist der Antijudaismus der Zwillingsbruder der hohen, exklusiven Christologie des JohEv? Führt eine mit Recht geforderte Befreiung jeder christologischen Reflexion von antijüdischen Vorurteilen10 eo ipso zu einer kritischen Infragestellung der joh Christologie? Klaus Wengst deutet die ‚hohe‘ Christologie des JohEv in seinem neuen Kommentar als geschichtlich bedingt in dem Sinne, daß ihre Spitzenaussagen nur aus einer und für eine geschichtlich zugespitzte Situation erklärbar sind. Inhaltlich relativiert er die joh Christologie als funktionale Sendungschristologie.11 Unter anderen Vorzeichen und mit anderen Eigeninteressen (nämlich einer Frühdatierung des JohEv) interpretiert Klaus Berger die „Ich-bin“-Worte Jesu nicht als Zeugnisse einer hohen Christologie, sondern gerade umgekehrt als eine frühe, „archaische Christologie“12 – ein Unterfangen, das m. E. zum Scheitern verurteilt ist. Ein weiterer von Michael Theobald und Wolfgang Kraus erhobener Vorwurf gegenüber der joh Theologie und Christologie ist der einer enteignenden Aneignung der Heilsgeschichte Israels. In einer Art feindlicher Übernahme werde die Heilsgeschichte Israels durch die Indienstnahme für die alles überblendende Christologie usurpiert und damit ihrem eigentlichen Subjekt, dem Volk Israel, unrechtmäßig enteignet.13 Mir geht es hier um den grundlegenden Frageansatz: Was will das JohEv selbst? Innerhalb welcher theologischer, zeitgeschichtlicher und ekklesialer Spannungsfelder entwickelt der Evangelist Johannes seine spezifische Christologie? Welche Kennzeichen charakterisieren die joh Christologie insgesamt? Was leistet die joh Christologie und wo liegen ihre Grenzen? Im Folgenden sollen zunächst wesentliche theologische Herausforderungen, die die Ausarbeitung der joh Christologie vorangetrieben haben, benannt werden (3). Daran schließt sich ein Überblick an zu wichtigen Charakteristika der joh Christologie (4). Als exegetisches Fallbeispiel möchte ich die provozierende Selbstaussage Jesu „Ich und der Vater, wir sind eins“ aus Joh 10,30 in seinem erzählerischen Kontext besprechen (5). Meine Ausführungen enden mit einer Diskussion des theologischen und hermeneutischen Potentials der joh Christologie (6). 10  Im Blick auf die systematische Diskussion vgl. W.  Breuning / ​B.  Nitsche, Christus ohne Israel? Jüdische Erwählung und christliche Glaubensreflexion, HerKor 57 (2003), 306–311 (Lit.). 11 Vgl. K. Wengst, Das Johannesevangelium I–II, ThKNT IV/1–2, Stuttgart 2000.2001; vgl. hierzu die kritische Rezension von J. Frey, BZ 46 (2002), 137–140. 12 Vgl. K. Berger, Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums, Stuttgart (1997) 22003. 13 Vgl. W. Kraus, Johannes und das Alte Testament. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium im Horizont Biblischer Theologie, ZNW 88 (1997), 1–23; Ders., Die Vollendung der Schrift nach Joh 19,28. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium, in: C. M. Tuckett (Hg.),The Scriptures in the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997, 629–636; M. Theobald, Schriftzitate im „Lebensbrot“-Dialog Jesu (Joh 6). Ein Paradigma für den Schriftgebrauch des vierten Evangelisten, ebd. 327–366. Vgl. die kritischen Stellungnahmen in „Antijudaismus im Johannesevangelium?“, S. 483–508, sowie in „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35), in diesem Band, S. 527–553.

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4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

3.  Theologische Herausforderungen der johanneischen Christologie Wie alle anderen biblischen Schriften auch ist das JohEv nicht vom Himmel gefallen: Es ist in einer konkreten zeitgeschichtlichen Situation entstanden, die sich dem Evangelium selbst mitteilt.14 Auch wenn diese aus der heutigen Distanz nicht mit der gewünschten Eindeutigkeit rekonstruiert werden kann, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass der Evangelist zeitnah, gemeindenah, adressatennah denkt, formuliert und schreibt. Im Folgenden sollen wichtige, theologische Herausforderungen benannt werden, auf die die joh Christologie zu antworten sucht.15 3.1  Die hermeneutische Provokation Jesus von Nazaret Jesus von Nazaret ist eine Provokation. Die Frage nach der Identität Jesu bricht bei allen Menschen auf, die sich auf seine Evangeliumsverkündigung und die damit verbundene Glaubensforderung einlassen. Wenn es stimmt, daß Jesus „der Mann (ist), der alle Schemen sprengt“16 (Eduard Schweizer), dann stehen wir vor einer erheblichen hermeneutischen Aufgabe: der Versprachlichung bzw. „Vertextung des Jesusphänomens“17 (Otto Schwankl). Wie ist es möglich, diesen Jesus von Nazaret, der sich mitsamt seiner Botschaft vorhandenen Kategorisierungen entzieht (!), zu benennen, zu deuten und zu beschreiben? Faktisch lässt sich im NT beobachten, dass Jesus „nach kurzer Wirksamkeit die höchsten verfügbaren Kategorien des zeitgenössischen Denkens … auf sich gezogen hat.“18 Hans Weder sieht m. E. treffend, dass das Christusereignis „zu denken gibt.“19 Es provoziert insbesondere zu einer Verhältnisbestimmung von Jesus und Gott, in joh Sprache: von Sohn und Vater. An dieser „sprachlichen und hermeneutischen 14  Vgl. hierzu jetzt auch J. Frey, Das Bild ‚der Juden‘ im Johannesevangelium und die Geschichte der johanneischen Gemeinde, in: M. Labahn / ​A . Strotmann/K. Scholtissek (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im vierten Evangelium (s. Anm. 9), 33–53. 15  Wenn hier die theologischen Herausforderungen verstärkt in den Mittelpunkt gestellt werden, dann geschieht dies aus Gründen des begrenzten Platzes, nicht um die geschichtlichen zu relativieren. 16  Vgl. E. Schweizer, Jesus Christus im vielfältigen Zeugnis des Neuen Testaments, GTB 126, München 21970, 18. 17 O. Schwankl, Christologie (s. Anm. 5), 373. 18 Vgl. P. Hofrichter, Im Anfang war der „Johannesprolog“. Das urchristliche Logosbekenntnis – die Basis neutestamentlicher und gnostischer Theologie, BU 17, Regensburg 1986, 366; zitiert auch bei O. Schwankl, Christologie (s. Anm. 5), 373. 19 Für H. Weder legt die Geschichte des JohEv „Zeugnis ab von der fortschreitenden Reflexion, welche der Glaube in der christlichen Gemeinde ausgelöst hat“ (Ders., Die Asymmetrie des Rettenden. Überlegungen zu Joh 3,14–21 im Rahmen johanneischer Theologie [frz. 1990], in: Ders., Einblicke in das Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1980–1991, Göttingen 1992, 435–465, hier 437). Weders Intention ist es zu zeigen, „dass johanneische Theologie verstanden werden kann als ein Vorgang des Nachdenkens, in welchem entfaltet wird, was der christliche Glaube zu denken gibt. Auffallend ist dabei, dass nicht die Konfrontation mit dem Früheren gesucht wird …, sondern dass

3.  Theologische Herausforderungen der johanneischen Christologie

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Pionierarbeit“20 ist auch das JohEv intensiv beteiligt. Bei und in allen zeit‑ und gemeindegeschichtlichen Verortungen urchristlicher theologischer Reflexion gilt, dass Jesus selbst, seine Botschaft und seine Person, kaum je erschöpfend einzuholen ist. Der „Überschuß der Gestalt Jesu“21 (um noch einmal Otto Schwankl zu zitieren) treibt die christologische Reflexion je neu voran. Gerade die metaphorische Christologie des JohEv (vgl. nur die prädikativen Ich-bin-Worte; vgl. 4.2) signalisiert, dass dieser Prozess auch im JohEv nicht schlechthin abgeschlossen ist: So wie in der Mathematik eine gefundene Formel „das ausgefeilte Produkt eines langen Forschungsweges“ ist, die „dem Denkprozess kein Ende“, wohl „aber eine gültige Marke“ setzt, so lässt sich auch für die prädikativen Ich-bin-Worte sagen, dass sie das Heilsgeheimnis der Person Jesu metaphorisch ausleuchten, es damit aber nicht schlechthin und exklusiv auf eine bestimmte sprachliche Realisierung festlegen.22 Dem widerspricht schon allein die innerjoh Vielfalt metaphorischer und symbolischer Christusaussagen. Als These sei hier dahingestellt: Innerhalb des Vier-Evangelien-Kanons führt das JohEv die christologische Reflexion, die schon zu Lebzeiten Jesu virulent war und seit seinem Tod und seiner Auferstehung in sehr kurzer Zeit erheblich vorangetrieben wurde, zu ihrem reifen Höhepunkt.23 3.2  Die Sendung und Offenbarung des Messias Jesus Stärker als die drei synoptischen Evangelien konzentriert sich das JohEv auf die Christologie: Ihnen gegenüber fällt schon die massive Selbstverkündigung Jesu im JohEv ins Auge.24 Der ursprüngliche Schluss des JohEv in 20,30–31 nennt in unmissverständlicher Deutlichkeit die Wirkabsicht des Evangelisten: 20,30 a b 20,31 a b c

Noch viele andere Zeichen hat Jesus getan vor [seinen] Jüngern, welche nicht aufgeschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen.

das Frühere so ins Neue gewendet wird, dass sein Recht gerade nicht bestritten, sondern für die Deutung fruchtbar gemacht wird“ (ebd. 464). 20 O. Schwankl, Christologie (s. Anm. 5), 367. 21 Ebd. 373. 22 Ebd. 15 Anm. 66. 23 Zur Beziehung zwischen dem historischen Jesus und dem johanneischen Christus vgl. die instruktiven Ausführungen von M. M.  Thompson, Jesus (s. Anm. 5); vgl. weiterführend auch J. Frey, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: R. Riesner / ​J. Schröter (Hgg.), Der historische Jesus (s. Anm. 3), 273–336. Zur frühesten und frühen Christusverehrung und ‑anbetung im Urchristentum und der dieser korrespondierenden christologischen Bekenntnisse vgl. die instruktiven Studien von L. W.  Hurtado, One God, One Lord. Early Christian Devotion and Ancient Monotheism (Philadelphia 1988), Edinburgh 21998; Ders., Christ-Devotion in the First Two Centuries. Reflections and a Proposal, TJT 12 (1996), 17–33; Ders., Pre–70 C. E. Jewish Opposition to Christ-Devoation, JTS 50 (1999), 35–58; Ders., Lord Jesus Christ (s. Anm. 5); vgl. auch: R. Bauckham, Monotheism and Christology in the New Testament, Grand Rapids 1998. 24  Vgl. O. Schwankl, Christologie (s. Anm. 5), 351–353.

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4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

Sinnziel der joh Evangelienschreibung ist der lebensvermittelnde Glaube an den Christus Jesus, den Sohn Gottes. Wie Johannes die Messianität Jesu, wie er seine Gottessohnschaft versteht, das hat er im Prisma seiner Evangeliendarstellung in den vorausgehenden 20 Kapiteln ausführlich vorgestellt. Die erste maßgebliche religions‑ wie traditionsgeschichtliche Bezugsgröße des Bekenntnisses zu Jesus als dem Messias ist die jüdische Mutterreligion der frühen Christen und hier genauer hin die frühjüdischen Messiaserwartungen. Die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zeigen, wie vielschichtig, verzweigt und uneinheitlich frühjüdische Messiaserwartungen zur Zeit Jesu gewesen sind.25 Vor dem Hintergrund der komplexen frühjüdischen Messiaserwartungen ist auch die joh Christologie mit ihrem Ringen um die Identität Jesu als „Messias“ zu verorten: Ist Jesus der „Messias“ und wenn ja, in welchem Sinne? Der Christustitel für Jesus von Nazaret hat im JohEv in besonderer Weise israeltheologische Relevanz: Die Fleischwerdung des Logos, die Epiphanie der Herrlichkeit Gottes in seinem Sohn vollzieht sich in dem Juden Jesus von Nazaret, der solchermaßen sein eigenes Wort „Das Heil kommt von den Juden“ (4,22)26 erfüllt. Dieser ist der gesuchte, vielfach verkannte und nicht aufgenommene Messias Israels. Die Aufgabe Johannes des Täufers besteht darin, Jesus als Messias „Israel zu offenbaren“ (1,31). Dazu weist er ausdrücklich zurück, selbst „der Christus“ (1.20; 3,28) zu sein, und tritt als herausragender Zeuge für Jesus als den „nach ihm Kommenden“ und exklusiven Geistträger auf (1,6–8.15.19–34). In der Folge seines Zeugnisses (1,35–37) „finden“ die ersten Jünger den, den sie „suchen“: „den Messias“, „über den Mose in dem Gesetz und die Propheten geschrieben haben“ (1,41.45). Wenn Johannes in 1,41 und in 4,25 Messias zunächst in griechischer Transkription und dann in dem griechischem Übersetzungsäquivalent χριστός wiedergibt, betont er die Verwurzelung des Christustitels in der jüdischen Heilserwartung. In dieser Linie liegt auch die joh Inanspruchnahme der Heiligen Schriften Israels: Sie legen Zeugnis ab für Jesus Christus (vgl. Joh 5,38–47; 7,15.19–24.49–51 u. ö.). In dem Wort des Philippus an Nathanael: „Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben“ (1,45) ist die joh Schrifthermeneutik in nuce schon zusammengefasst. Das joh Bekenntnis zu Jesus als dem Christus beinhaltet die Überzeugung: Christen können Jesus von Nazaret nicht verstehen, wenn sie ihn nicht im Zusammenhang der Geschichte und der Heiligen Schriften Israels verstehen. Wie für das NT insgesamt ist auch für das JohEv die Sendung Jesu ein Teil der Geschichte 25  Vgl. hierzu die Ausführungen von H. J.  Fabry, in: Ders. / ​K .  Scholtissek, Messias (s. Anm. 5); vgl. weiterführend St. Schreiber, Gesalbter und König. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung in frühjüdischen und urchristlichen Schriften, BZNW 105, Berlin 2000. 26 Zur Bedeutung von 4,22 vgl. G. Van Belle, „Salvation is from the Jews“: The parenthesis in John 4:22b, in: R. Bieringer / ​D. Pollefeyt / ​F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel (s. Anm. 9), 370–400.

3.  Theologische Herausforderungen der johanneischen Christologie

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Gottes mit seinem Volk Israel.27 Durch Jesus, den Christus, hat der Gott Israels selbst eschatologisch gehandelt. Das gilt auch dann, wenn Jesus von Nazaret in einer überraschenden, ja Anstoß erregenden Weise als der messianische „König Israels“ (1,49) bzw. „König der Juden“ (19,19) bezeichnet wird.28 Wie die urchristliche Bekenntnisbildung insgesamt nimmt auch das JohEv selektiv bestimmte Aspekte der frühjüdischen Messiaserwartungen auf und entwickelt sie weiter. Damit liegt hier wie dort eine „sprachgeschichtliche Innovation um Christus“ vor, die sich durch „eine Transformation einer vorgegebenen Konzeption“ vollzieht.29 3.3  Die weitgehende Ablehnung Jesu Die Entwicklung der joh Theologie teilt mit anderen neutestamentlichen Schriften die Herausforderung, sowohl die weitgehende Ablehnung des geschichtlichen Jesus von Nazaret, die im Evangelium dramatisch dargestellt wird, als auch die weitgehende nachösterliche Ablehnung der Verkündigung Jesu Christi (gen. obj.), die sich ebenfalls der Evangeliendarstellung mitteilt (vgl. Joh 9,1–41), zu reflektieren: Wie kommt es dazu, dass – in joh Sprache – der, der in sein Eigentum kommt, von den Eigenen abgelehnt wird (1,11)? Johannes bewahrt die Erinnerung an die Zurückweisung und skeptische Distanz gegenüber Jesus seitens großer Teile seiner Zeitgenossen und trägt hier auch die in der nachösterlichen Zeit erfahrene Ablehnung und Bedrohung der sich zu Jesus als dem Christus Bekennenden ein. In diesem Zusammenhang spielte der Synagogenausschluss der joh Christen offensichtlich eine traumatisierende Rolle (vgl. 9,22; 12,42; 16,2). Auch wenn man nicht so weit geht wie Klaus Wengst, der diese zeitgeschichtliche Verortung des JohEv zum nahezu ausschließlichen hermeneutischen Schlüssel der joh Evangeliendarstellung erhebt,30 kann m. E. kein Zweifel daran bestehen, dass diese Ausgrenzung einer Minderheit aus der Minderheit im Machtbereich des Römischen Imperiums eine erhebliche katalysatorische Funktion für die joh Reflexion auf die eigene Glaubensüberzeugung gezeitigt hat. Die Dialoge in Joh 9 im Anschluss an die Heilung des Blindgeborenen reflektieren diese nachösterliche Konfrontation sehr detailliert. Mit diesen Bezügen entwickelt der Evangelist eine Gesamtdeutung der Sendung Jesu: Die Krisis, die Jesus, 27  Vgl. dazu insgesamt U. Busse, Das Johannesevangelium. Bildlichkeit, Diskurs und Ritual. Mit einer Bibliographie über den Zeitraum 1986–1998, BEThL 162, Leuven 2003 (passim). 28 Zum joh Verständnis des Titels „König der Juden“ vgl. St. Schreiber, Rätsel um den König. Zur religionsgeschichtlichen Herkunft des König-Titels im Johannesevangelium, in: St. Schreiber / ​A. Stimpfle (Hgg.), Johannes aenigmaticus. Studien zum Johannesevangelium für Herbert Leroy, BU 29, Regensburg 2000, 45–70. 29  Vgl. F. Hahn, Christologische Hoheitstitel, utb 1873, 5. erw. Auflage Paderborn 1995, 467; vgl. Ders., Jüdische und christliche Messias-Erwartung, in: Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils (FS H.-W. Kuhn), AGJU 44, Leiden 1999, 131–144, hier 141: ein „tiefgreifender Umschmelzungsprozeß“. 30 Vgl. K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 41992; vgl. Ders., Johannesevangelium I (s. Anm. 11), 21–26.

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4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

der Christus, mit seiner Sendung heraufbeschwört, führt zur Anklage und zum Gericht gegen Jesus, schließlich zur Passion und zum Kreuzestod (vgl. Joh 18–19). Gleichwohl erzählt der Evangelist diesen Prozess gegen Jesus, der im Grunde von Beginn seines Evangeliums statthat, in einer Weise, die den Lesern zu erkennen gibt, dass sich in und hinter diesen vordergründigen Ereignissen der Prozess vollzieht, den Jesus als Gottes Gesandter schlechthin der „Welt“ macht. Im ironischen Rollenwechsel steht Pilatus im Prozess gegen Jesus vor seinem Richter, der „Freund des Kaisers“ vor dem „König der Juden“ (vgl. 18,28–19,16). In Joh 12,37–43 und 44–50 finden sich  – das öffentliche Wirken Jesu abschließend und unmittelbar vor dem Beginn der des Abschiedsmahles von den „Eigenen“ (13,1)  – joh Reflexionen über den Unglauben bzw. die Glaubensverweigerung vieler Zeitgenossen Jesu bzw. der joh Gemeinde. Hier operiert Johannes ebenso wie schon die Synoptiker mit dem biblischen Motiv der Verstockung bzw. genauer der Herzensverhärtung (vgl. nur Jes 6,10; Mk 4,10–12parr). 3.4  Die Bewältigung des Abschieds Jesu Ausweislich des großen Abschiedsredenkomplexes 13,1–17,26 gehört die Auseinandersetzung mit dem Tod Jesu zu den besonderen Herausforderungen der joh theologischen Reflexion.31 Wie ist der Tod dessen zu bewältigen, der in seiner Person Gottes endzeitliche Offenbarung ist? Wie kann die heilbringende Gemeinschaft mit dem irdischen Jesus, die durch das Sterben Jesu am Kreuz jäh abgebrochen wird, ‚kompensiert‘ werden? In der griechischen und jüdischen Literatur ist die Gattung Abschiedsrede, die unmittelbar am Sterbebett bzw. Sterbesituation den nahen Verwandten und Vertrauten gilt, der vornehme literarische Ort, das Testament eines Scheidenden zu artikulieren (vgl. die berühmte Darstellung des Abschieds des Sokrates von seinen Freunden, als er dem Todesurteil nicht entflieht; Platon, Phaidon; vgl. das Deuteronomium). Eben diese literarische Gattung32 greift der Evangelist auf und entfaltet in ihr seine Antwort. Inhaltlich handelt er von dem Kommen des Parakleten und dem nachösterlich neuen Kommen des Auferstandenen zu den Glaubenden im Vorgriff auf die endzeitliche Wiederkunft (vgl. die Relation zwischen 14,2–3 und 14,2333). 31 Vgl.

weiterführend „Abschied und neue Gegenwart“, in diesem Band, S. 369–394. M. Winter, Das Vermächtnis Jesu und die Abschiedsworte der Väter. Gattungsgeschichtliche Untersuchung der Vermächtnisrede im Blick auf Joh. 13–17, FRLANT 161, Göttingen 1994. 33 Zu einer positiven Auslegung der Spannung zwischen 14,2–3 und 14,23 vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000, 210–274; J. Frey, Die johanneische Eschatologie III. Die eschatologsiche Verkündigung in den johanneischen Texten, WUNT 117, Tübingen 2000, 119–178. Dieser Interpretationsrichtung steht freilich diejenige entgegen, die in 14,23 eine präsentisch-eschatologische Korrektur der futurisch-eschatologischen Verheißung in 14,2–3 sehen möchten: J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, OTBK IV/1–2, Gütersloh 31991, hier II 544–563; Ders., Die Hoffnung auf ewiges Leben im Johannesevangelium, ZNW 91 (2000), 192–211. 32 Vgl.

3.  Theologische Herausforderungen der johanneischen Christologie

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3.5  Jesus – ein zweiter Gott? Die Frage nach der Identität Jesu von Nazaret und damit nach seiner Zugehörigkeit zu Gott ist vielleicht die größte Herausforderung der joh Christologie. Bricht die hohe, johanneische Christologie mit dem ersten Gebot des Dekalogs (Ex 20,2–6; Dtn 5,6–10), dem biblischen Monotheismus und damit der Herzmitte der Gottesoffenbarung in Israel?34 Im JohEv selbst wird dieser berechtigte und ernstzunehmende Einwand mehrfach thematisiert35 in der Absicht, die eigene christologische Überzeugung so auszuarbeiten und zu versprachlichen, dass sie vor diesem berechtigten Einwand bestehen kann.36 So sind es gerade jüdische Denk‑ und Sprachmöglichkeiten, die das JohEv aufgreift, um diesem Einwand zu begegnen (vgl. 4.3). (1) Im Anschluss an die Heilung des Gelähmten am Teich Bethesda wird der Sabbatkonflikt überstiegen hin zu einer Anklage der Blasphemie gegen Jesus – ein justiziables Vergehen, das mit dem Tod zu ahnden ist: 5,17 a Er [Jesus] aber antwortete ihnen: b Mein Vater wirkt bis jetzt, c und auch ich wirke. 5,18 a Deswegen nun suchten ihn die Juden um so mehr zu töten, b weil er nicht nur den Sabbat auflöste, c sondern auch Gott den eigenen Vater nannte, d sich selbst Gott gleich machend. (ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν τῷ θεῷ).

34  Th. Kriener, „Glauben an Jesus“ – ein Verstoß gegen das zweite Gebot? Die johanneische Christologie und der jüdische Vorwurf des Götzendienstes, NThDH 29, Neukirchen-Vluyn 2001, greift die von K. Wengst vertretene These auf, das Johannesevangelium sei mit seinen scharfen und polemischen Aussagen gegen „die Juden“ aus einer spezifischen, historisch rekonstruierbaren jüdisch-judenchristlichen Konfliktsituation entstanden und religionsgeschichtlich in Auseinandersetzung mit rabbinischen Positionen zu interpretieren (ebd. 3 f ). Seine Hauptthese besteht in der Annahme, das JohEv wende sich in der Ausarbeitung seiner Christologie gegen den jüdisch-rabbinischen Einwand, die Christus-Verehrung verstoße gegen das zweite Gebot des Dekaloges, das jedwede Form des Götzendienstes untersage. Zu kritischen Rückfragen an Th. Kriener vgl. die Rezension von K. Scholtissek, BiLi 76 (2003), 151. 35  Ulrich Wilckens hat überzeugend aufgezeigt, dass sich das JohEv mit dem ernstzunehmenden jüdischen Einwand auseinandersetzt und ihm mit der Ausarbeitung der Christologie zu begegnen sucht: Vgl. U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 22000; Ders., Monotheismus und Christologie (1997), in: Ders., Der Sohn Gottes und seine Gemeinde. Studien zur Theologie der Johanneischen Schriften, FRLANT 2000, Göttingen 2003, 126–135; vgl. auch Ders., Gott, der Drei-Eine. Zur Trinitätstheologie der johanneischen Schriften (2001), ebd. 9–28. Vgl. weiterführend: M. Theobald, Gott, Logos und Pneuma. „Trinitarische“ Rede von Gott im Johannesevangelium, in: H.-J. Klauck (Hg.), Monotheismus und Christologie. Zur Gottesfrage im hellenistischen Judentum und im Urchristentum, QD 138, Freiburg i. Br. 1992, 41–87. 36  So auch ausführlich Th. Söding, „Ich und der Vater sind eins“ (s. Anm. 5). Nach J. F.  McGrath steht in der joh Christologie nicht der Monotheismus im engeren Sinn, sondern die Überlegenheit der Sendung Jesu in Relation zu derjenigen des Mose zur Debatte; vgl. Ders., John’s Apologetic Christology (s. Anm. 5).

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4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

In der im parallelismus membrorum in 5,17bc von Jesus beanspruchten exklusiven Vaterschaft Gottes und der reklamierten Wirkgemeinschaft und ‑einheit von absolut verwendetem „Vater“ und „Sohn“ schließen die Gegner Jesu auf Blasphemie: Jesus mache sich selbst Gott gleich. Die in 5,19–47 folgende große Rede Jesu über seine Wirk‑ und Willensgemeinschaft mit dem Vater und die vom Vater ihm übertragene Gerichtsvollmacht (V. 19–30) sowie die vier Zeugnisse bzw. Zeugen, die für ihn sprechen (Johannes der Täufer; die Werke Jesu, der Vater, die Schriften; V. 31–47), entfalten detailliert die johanneische Antwort auf diesen Einwand.37 Schon der die Verteidigung Jesu eröffnende Vers 5,19 nimmt mit dem Verb ποιέω den zugespitzten Vorwurf aus 18d (τὸν θεὸν ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν τῷ θεῷ) auf und begegnet ihm: 5,19

a b c d e f g h

Jesus antwortete nun und er sagte zu ihnen: Amen, amen ich sage euch: Der Sohn kann nichts tun von sich aus (ποιεῖν ἀϕ᾿ ἑαυτοῦ οὐδὲν), wenn er nicht sieht den Vater tuend (ποιοῦντα). Denn was immer jener tut (ποιῇ), dieses tut (ποιεῖ) auch der Sohn gleicherweise.

Indem Jesus explizit festhält, dass er „nichts von sich aus tun kann“ (19d), weist er auch den brisanten Vorwurf zurück, er würde „sich selbst Gott gleich machen“ (18d). Die restlose Abhängigkeit des Sohnes von seinem Vater hinsichtlich seines gesamten Wirkens und Willens verweist darauf, dass er selbst sich nicht etwas aus eigenem Antrieb nimmt, sondern dass er ausschließlich wirkt, was er bei seinem Vater „sieht“. M.a.W.: Im Sohn handelt und offenbart sich der Vater als Vater. Die joh Christologie benennt hier eine doppelte Strukturbestimmung des Verhältnisses von „Vater“ und „Sohn“: (a) einerseits eine asymmetrische Relation: die vollständige, einseitige Abhängigkeit des Sohnes vom Vater, der nach der Aussage Jesu in 14,28 „größer ist als ich“. In 17,3 wird zudem unmissverständlich die monotheistische Auslegung des Vater-Sohn-Verhältnisses im Gebet Jesu festgehalten: 17,3

a b c b'

Denn dies ist das ewige Leben, dass sie dich erkennen, den einzigen wahren Gott, und den, den du gesandt hast, Jesus Christus.

(b) andererseits eine symmetrisch-asymmetrische Relation: die exklusive Zugehörigkeit des Sohnes zum Vater, der bei aller ungetrennten Nähe und Wesensverwandtschaft zu seinem Vater dennoch der Sohn bleibt. 37 Vgl. weiterführend H.-Ch. Kammler, Christologie (s. Anm. 5), dessen präsentisch-eschatologische Deutung des gesamten Passus jedoch anfechtbar ist.

4.  Kennzeichen der johanneischen Christologie

423

(2) In Joh 10,33 (vgl. V. 36) und in dem förmlichen Prozess vor Pilatus (18,28– 19,16) in 19,7 finden sich bedeutende Wiederaufnahmen der Kontroverse in Kapitel 5: 10,33 a Die Juden antworteten ihm: b Wegen eines guten Werkes steinigen wir dich nicht, sondern wegen Gotteslästerung, c und weil du, d obwohl du ein Mensch bist, c' dich selbst zu Gott machst (ποιεῖς σεαυτὸν θεόν).

Unmittelbar vorausgegangen war die provozierende Aussage Jesu in 10,30: „Ich und der Vater, wir sind eins“. Wie in Joh 5 ist die Antwort Jesu auf diesen erneuten Vorwurf sein Versuch, diesen Einwand inhaltlich zu entkräften (vgl. 10,34–38).38 Die Verhöre Jesu in Joh 5 und 10 (und weiteren Passagen im corpus evangelii), die durchaus schon juristischen Charakter haben, finden ihren erzählerischen Höhepunkt in dem förmlichen Prozess vor Pilatus (18,28–19,16), indem ebenfalls als entscheidendes Motiv der Anklage die Gotteslästerung angeführt wird: 19,7 a Die Juden antworteten ihm: b Wir haben ein Gesetz, c und nach dem Gesetz muss er sterben, d weil er sich zum Sohn Gottes machte (υἱὸν θεοῦ ἑαυτὸν ἐποίησεν).

4.  Kennzeichen der johanneischen Christologie Nachdem wesentliche theologische Herausforderungen, vor die sich die joh Christologie gestellt sieht, in den Blick gekommen sind, sollen im folgenden charakteristische Kennzeichen der joh Christologie vorgestellt werden, die in ihrer Gesamtheit die joh Antwort auf die genannten Herausforderungen darstellen. Die Begrenzung durch den Rahmen dieses Vortrages lässt es nicht zu, hier vollständige Ausführungen zu bieten. Die spezifisch joh Verbindung von Christologie und Pneumatologie,39 die narrative Christologie,40 die mystagogische41 und die präpositionale Christologie, die alle eine je eigene Würdigung verdienten, können hier nicht vorgestellt werden.

 Zur kontextuellen Auslegung von 10,30 bzw. 10,33 innerhalb von 10,1–42 vgl. 5. einführend U. Schnelle, Johannes als Geisttheologe, NT 40 (1998), 17–31. 40  Vgl. hierzu zuletzt: J.-M. Sevrin, L’intrigue du quatrième évangile, ou la christologie mise en récit (Vortrag der SNTS-Tagung Bonn 2003). 41  Vgl. die eigenen Versuche: K. Scholtissek, „Rabbi, wo wohnst du?“ (Joh 1,38). Die mystagogische Christologie des Johannesevangeliums (am Beispiel der Jüngerberufungen 1,35– 51), BiLi 68 (1995) 223–231; Ders., Mystagogische Christologie im Johannesevangelium? Eine Spurensuche, GuL 68 (1995) 412–426. 38

39 Vgl.

424

4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

4.1  Titulare Christologie Wie alle anderen Evangelien setzt auch das JohEv den Glauben an Jesus, den Christus, voraus und erzählt das Leben Jesu im Licht dieses christlichen Glaubens. Dabei verwendet das JohEv eine Vielfalt unterschiedlicher christologischer Hoheitstitel. „Christus“, „Menschensohn“, „Kyrios“, „Sohn Gottes“, „Davidsohn“, „König Israels (bzw. der Juden)“, und „Logos“ ragen heraus. Im gemeinsamen Zeugnis dieser Titel spiegelt sich die titular ins Wort gebrachte Hoheit Jesu. Diese Titel werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern sie interpretieren sich wechselseitig, so dass in ihrem Gesamtzeugnis die Identität dessen, auf den sie sich beziehen, aufleuchtet. Die christologischen Hoheitstitel im JohEv decken sich bei aller eigenständigen Verwendung und allen besonderen Akzentsetzungen (vgl. Logos, Lamm Gottes) weithin mit dem urchristlichen Spektrum, wie es uns besonders in den synoptischen Evangelien entgegentritt (Sohn Gottes, Christus, Menschensohn, Kyrios für Jesus, König Israels). Einerseits haben die genannten christologischen Titel eine je eigene, komplexe alttestamentlich-jüdische und teilweise auch griechisch-hellenistische Traditionsgeschichte,42 andererseits zeigen eben diese Traditionsgeschichten auch, dass diese Titel nicht dogmatisch festgezurrt sind, sondern einer lebendigen Fortschreibungsgeschichte unterliegen, in der sie teilweise mit anderen Titeln verschmelzen oder neue Bedeutungsmomente annehmen können. Schon in den Berufungsgeschichten in Joh 1,35–51 finden sich christologische Hoheitstitel zu Hauf: Lamm Gottes, Rabbi (= Lehrer), Messias, Sohn Gottes, König Israels, Menschensohn. Die titulare Polyphonie ist Programm: Nur in der Vielzahl der titular angesprochenen Perspektiven und Motivzusammenhänge wird die vom Evangelisten angestrebte Identifizierung der Person Jesu möglich und vor Missverständnissen geschützt.43 Die verschiedenen christologischen Hoheitstitel werden zudem mit hohem Bedacht verwendet: Die einzelnen Personen verwenden für ihr christologisches Credo ihrer Lebens‑ und Glaubenssituation entsprechende Titel, die als je persönliche Bekenntnisse zu ein und demselben Offenbarer des Lebens verstanden werden wollen: Nikodemus spricht Jesus bei ihrem nächtlichen Gespräch an: „Wir wissen, dass du von Gott gekommen bist als Lehrer“ (3,2); die Samariterin erkennt in Jesus einen „Propheten“ (4,19) und gibt den Bewohnern ihrer samartischen Heimatstadt Sychar zu bedenken, „ob dieser nicht der Messias ist?“ (4,29). Die Samariter selbst bekennen sich zu Jesus als dem „Retter der Welt“ (4,42). Der geheilte Blindgeborene in Joh 9 bekennt sich zu Jesu als dem „Menschensohn“ (9,35), den er nach der Selbstoffenbarung Jesu durch die Anrede „Ich glaube, Herr  Vgl. F. Hahn, Hoheitstitel (s. Anm. 29).  Vgl. O. Schwankl, Christologie (s. Anm. 5), 354: „Die verschiedenen Titel widersprechen sich nicht, sondern müssen sozusagen zusammen helfen, die Gestalt Jesu zu erfassen, aber auch nicht so, dass die Summe der Titel mit der Gestalt identisch wäre, sondern dass sie gemeinsam auf den hinzeigen, der gemeint ist, ohne ‚erschöpfend‘ benennbar zu sein.“ 42 43

4.  Kennzeichen der johanneischen Christologie

425

(κύριε)“ (9,38) und durch Niederfallen verehrt. Martha von Betanien bekennt auf die Selbstoffenbarung Jesu hin: „Ja, Herr (κύριε), ich bin zum Glauben gekommen, dass du der Christus, der Sohn Gottes, bist, der in die Welt kommt“ (11,27). Am leeren Grab bekennt sich Maria von Magdala zu Jesus mit einem einzigen Wort: „Rabbuni“ (20,16). Thomas findet zu dem Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott“ (20,28). Das JohEv kann die eine Wahrheit über Jesus Christus ohne Abstriche im Spiegel und Prisma der jeweiligen persönlichen Lebens‑ und Glaubenssituation versprachlichen. 4.2  Metaphorische Christologie Die prädikativen Ich-bin-Worte Jesu, die nur im JohEv begegnen, beinhalten eine metaphorische Christologie sui generis.44 In der Aufnahme und christologischen Adaption von Ursymbolen der menschlichen Religionsgeschichte (Licht, Leben, Brot, Wasser, Tür, Hirte, Weg; vgl. auch: Auferstehung, Wahrheit) werden kulturübergreifende „Grunderfahrungen und Elementarbedürfnisse des Menschen“45 aufgerufen und angesprochen. In der feierlichen, absoluten Anwendung dieser Metaphern auf sich selbst beansprucht der joh Jesus, diese Ursehnsüchte der Menschheit in seiner Person zu erfüllen. 6,35

a b c d e f

Jesus sagte zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mit kommt, wird nicht mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird niemals mehr dürsten.

In einer Metapher wirken zwei Größen derart zusammen, dass sie ein meta­pho­ risches Gespann bilden. Die Variabilität, Vitalität und Kreativität der Metapher begründeten ein metaphorisches Potential, das Neuland erschließt. Die Metapher „ist eins der wichtigsten Mittel zur Schöpfung von Benennungen für Vorstellungskomplexe, für die noch keine adäquaten Bezeichnungen existieren“46 (O. Schwankl).  Vgl. hierzu die weiterführenden Reflexionen in: Metaphorik und Christologie, TBT 120, J. Frey / ​J. Rohls / ​R . Zimmermann (Hgg.), Berlin 2003, hier bes. die Beiträge: R. Zimmermann, Paradigmen einer metaphorischen Christologie, Eine Leseanleitung, 1–34; Ders., „Du wirst noch Größeres sehen …“ (1,50). Zur Ästhetik und Hermeneutik der Christusbilder im Johannesevangelium, 93–110; J. Schröter, Metaphorische Christologie. Überlegungen zum Beitrag eines metapherntheoretischen Zugangs zur Christologie anhand einiger christologischer Metaphern bei Paulus, 53–73. 45  O. Schwankl, Christologie (s. Anm. 5), 360. Vgl. auch: Th. Söding, Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Anmerkungen zur Symbolsprache des Johannesevangeliums am Beispiel des Nikodemusgesprächs (Joh 3,1–21), in: K. Kertelge (Hg.), Metaphorik und Mythos im Neuen Testament, QD 126, Freiburg i. Br. 1990, 168–219; C. R.  Koester, Symbolism in the Fourth Gospel. Meaning, Mystery, Community, Minneapolis (1995) 22003. 46  O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg 1995, 31. O. Schwankl zitiert hier H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, Tübingen 101995, 94; vgl. insgesamt die metapherntheoretische Einführung bei O. Schwankl, Licht (s. Anm. 3), 8–37. 44

426

4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

Die metaphorische Christologie der prädikativen Ich-bin-Worte im JohEv hat teil an dem urchristlichen Erschließungs‑ und Versprachlichungsprozess, der durch das Christusereignis provoziert ist (vgl. 3.1). 4.3  Christologie aus jüdischen Sprach‑ und Denkvoraussetzungen Der Evangelist Johannes entfaltet seine christologischen Aussagen unter Voraussetzung der Matrix des jüdischen Monotheismus und der Verheißungsgeschichte Israels in biblischer Sprache. Anzuführen sind hier die sendungschristologischen Aussagen, die den Urheber der Sendung sowie die Sendungstreue und die Sendungsautorität Jesu betonen (vgl. u. a. 5,30–32; 6,36–40; 7,28–29; 8,13–18.54– 55; 12,44.49–50).47 Als der Gesandte des Vaters ist der Sohn durchsichtig für den ihn sendenden Vater (vgl. auch 1,18): 12,45 a b c 14,9 d e

Und wer mich gesehen hat, sieht den, der mich gesandt hat. Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.

Diesem endzeitlichen Gesandten Gottes werden von Gott selbst göttliche Vollmachten und Privilegien übertragen (vgl. 3,34–35; 5,20–23.26–27; 10,18.36–38): 3,34 a Denn der, b den Gott gesandt hat, a' spricht Worte Gottes, c denn nicht nach Maß gibt er den Geist. 3,35 a Der Vater liebt den Sohn b und alles (πάντα) hat er in seine Hand gegeben. 5,20 a Denn der Vater liebt den Sohn, b und alles (πάντα) zeigt er ihm, c was er selbst tut, d und größere Werke als diese wird er ihm zeigen, e damit ihr staunt. 5,21 a Denn so wie der Vater die Toten erweckt und lebendig macht, b so macht auch der Sohn lebendig, c die er will. 5,22 a Denn der Vater richtet niemanden, b sondern hat das ganze (πᾶσαν) Gericht dem Sohn gegeben. 5,27 a Und Vollmacht hat er ihm gegeben, b Gericht zu halten, c weil er der Menschensohn ist.

Weitere Indizien für die Verortung seiner Christologie innerhalb der biblischen Gottesgeschichte mit Israel sind die durchgehende Kennzeichnung Jesu als Jude,48  Vgl. J. Gnilka, Theologie (s. Anm. 5), 255–261. Th. Söding, „Was kann aus Nazaret schon Gutes kommen?“. Die Bedeutung des Judeseins Jesu im Johannesevangelium, NTS 46 (2000), 21–41. 47

48 Vgl.

4.  Kennzeichen der johanneischen Christologie

427

das Schriftzeugnis, das der Evangelist für seinen Messias Jesus in Anspruch nimmt (vgl. 1,45.48; 5,39–40.46; 6,31–33.45),49 die weisheitlichen Züge seiner Christologie50 und die frühjüdisch-hellenistische Logoschristologie des Prologs. Auch die metaphorischen Bildfelder. Der jüdische Festzyklus, der für maßgebliche Teile des JohEv grundlegend ist, und die Symbolsprache des Evangelisten sind bei aller eigenständigen Ausarbeitung grundlegend biblisch. 4.4  Hohe Christologie Charakteristisch für das JohEv sind seine hohen christologischen Aussagen, die entweder im Munde Jesu selbst begegnen, die Glaubende aussprechen oder die der Erzähler selbst formuliert: (a) Der Evangelist selbst gibt seinen point of view schon in den rahmenden Versen des Prologes unmissverständlich zu erkennen: 1,1 1,18

a b c a b c d

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott/auf Gott hin, und Gott/von Gottes Wesen war das Wort. Gott hat niemand jemals gesehen. Der einziggezeugte Gott51, der ist an der Brust/im Schoß des Vaters, jener hat (ihn) ausgelegt:

Die Klammer zwischen 1,1 („und Gott [= göttlichen Wesens] war das Wort“) und 1,18 (der „einziggeborene Gott“) zeigt deutlich, wie weit das JohEv Jesus Christus an Gott selbst heranrückt (vgl. 20,28) – freilich ohne ihn mit Gott zu identifizieren. Als Gesandter ist der Sohn bei Johannes sorgfältig von dem ihn sendenden Vater unterschieden. Wesensmäßige Zugehörigkeit und Einheit (vgl. 10,30) sind bei Johannes nicht Identität. (b) Eine weitere Rahmung, die das ganze JohEv zusammenschließt, ergibt sich durch das Glaubensbekenntnis des Thomas: 20,28 a Thomas antwortete b und sagte zu ihm: c Mein Herr und mein Gott (ὁ κὐριός μου καὶ ὁ θεός μου)!

(c) Das breiteste Zeugnis für die hohe Christologie des JohEv sind die hoheitlichen Selbstaussagen Jesu: Hierzu gehören die absoluten und prädikativen Ich-bin-

49  Zur joh Schriftauslegung und ‑theologie vgl. K. Scholtissek, Schrift (s. Anm. 13) (Lit.). Vgl. jetzt auch J. Clark-Soles, Scripture Cannot Be Broken. The Social Function of the Use of Scripture in the Fourth Gospel, Leiden 2003. 50  Vgl. J. Gnilka, Theologie (s. Anm. 5); A. Strotmann, Relative oder absolute Präexistenz? Zur Diskussion über die Präexistenz der frühjüdischen Weisheitsgestalt im Kontext von Joh 1,1–18, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​Ders. (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (s. Anm. 9), 91–106. 51  Vgl. aber auch die varia lectio: „der einziggezeugte Sohn“.

428

4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

Worte,52 die Einheits-Aussagen, die reziproken Immanenz-Aussagen, die Aussagen über die Handlungs‑ und Willenseinheit von Vater und Sohn, die Aussagen über die ‚Transparenz‘ Jesu für den Vater (vgl. 14,9: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“). Die solchermaßen zurecht als hohe Christologie bezeichneten Aussagen des JohEv sollten m. E. nicht bestritten, sondern in ihren Stärken und Schwächen interpretiert werden.

5.  Die Einheit von Vater und Sohnam Beispiel der Hirtenrede und des sich zuspitzenden Konfliktes beim Tempelweihfest Joh 10,1–42 Die folgenden Analysen fragen nach dem joh Verständnis der in Joh 10,30 festgehaltenen Spitzenaussage: „Ich und der Vater, wir sind eins“ (vgl. 5.3.). 5.1  Zur Gliederung und Komposition in Joh 10,1–42 Die folgende Gliederung und Strukturanalyse von 10,1–42 zeigt die beachtliche strukturelle und inhaltliche Kohärenz von Joh 10,1–42: 10,1–21:

Bildrede vom guten Hirten

10,1–6:

1. Redegang 10,1–5: Paroimia: Hirt versus Dieb/Räuber A 10,6: Reaktion: Unverständnis der Hörer (Erzählerkommentar) B

10,7–21: 2. Redegang 10,7–18: Offenbarungsrede Jesu 10,7b–10: „Ich-bin“-Reihe I: die Tür 10,11–18: „Ich-bin“-Reihe II: der gute Hirt 10,19–21: Reaktionen – Die spaltende Wirkung der Rede Jesu: 10,20: 1. Reaktion: Dämonisierung Jesu 10,21: 2. Reaktion: Widerspruch mit Hinweis auf Jesu Zeichentat (Joh 9)

A'

B'

10,22–42: Streitrede über die Identität Jesu beim Tempelweihfest 10,22–24b: Exposition (Zeit, Ort, Personen) 10,24d–31: 1. Gesprächsgang 10,24d–e: Frage „der Juden“ nach der Messianität Jesu

A''

52  Vgl. einführend J. Gnilka, Theologie (s. Anm. 5), 247–254; vgl. auch: D. M.  Ball, ‚I Am‘ in John’s Gospel. Literary Function, Background and Theological Implications, JSNT.S 124, Sheffield 1996; Ch. Cebulj, Ich bin es. Studien zur Identitätsbildung im Johannesevangelium, SBB 44, Stuttgart 2000; C. H.  Williams, I am He. The Interpretation of Anî Hû in Jewish and Early Christian Literature, WUNT II 113, Tübingen 2000; H. Hübner, ΕΝ ΑΡΧΗΙ ΕΓΩ ΕΙΜΙ, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (s. Anm. 9), 107–122.

5.  Die Einheit von Vater und Sohn



10,25–30: 1. Entgegnung Jesu: seine messianische Sendung 10,30: die Einheit von Vater und Sohn 10,31: Reaktion „der Juden“: Steinigungsvorhaben

429

B''

10,32–42: 2. Gesprächsgang A''' 10,32: Einwand Jesu 10,33: Rechtfertigung „der Juden“: die Blasphemie Jesu 10,34–38: 2. Entgegnung Jesu: Gottessohnschaft 10,38: die reziproke Immanenz von Vater und Sohn 10,39–42: Reaktionen – Die spaltende Wirkung der Rede Jesu B''' 10,39: 1. Reaktion: Versuch „der Juden“, Jesus zu ergreifen; Jesus entzieht sich 10,40–42: 2. Reaktion: Ortwechsel und Glaube der „vielen“

Joh 10,1–42 besteht aus zwei Abschnitten, die zwei verschiedenen Gattungen, einer joh Bildrede in V. 1–21 und einer joh Streitrede in V. 22–42,53 angehören.54 Zur meisterlichen narrativen Kompetenz des Evangelisten gehört es, den christologischen Konflikt (a) in unterschiedlichen metaphorischen und symbolischen Bildfeldern (vgl. Licht-Finsternis, Wasser, Brot, Hirt-Schafe, Weinstock, Leben-Tod, Weg), (b) in unterschiedlichen literarischen Gattungen (Bild‑ bzw. Offenbarungsreden; Streitreden; „Zeichen“ bzw. Zeichenhandlungen) und (c) in Anbindung an die Hauptfeste des jüdischen Festkalenders zu realisieren. Die beiden annähernd gleichlangen Abschnitte in Joh 10 kennzeichnet ein augenfällig paralleler Aufbau: Zwei Redegänge in V. 1–6 und 7–21 bestimmen die Bildrede, zwei Gesprächsgänge in V. 24d–31 und 32–42 die Streitrede. Jede dieser vier Passagen schließt mit einer Reaktion bei den Adressaten Jesu (V. 6.19– 21.31.39–42). Dabei entsprechen sich die jeweils ersten Reaktionsmeldungen in V. 655 und 31 (einfache negative Reaktion) und die jeweils zweite Reaktionsmeldung in V. 19–21.39–42 (doppelte Reaktionen). Ist die erste Reaktion knapp geschildert, so die zweite jeweils ausführlicher und im zweiten Teil positiv. Im Verhältnis zwischen V. 6.31 einerseits und V. 19–21.39–42 andererseits ist zudem eine Steigerung erkennbar: Handelt V. 6 vom Nichterkennen der Hörenden, so V. 31 von der Tötungsabsicht der Hörenden. Während V. 19–21 noch relativ ‚moderat‘ von der Ablehnung und Dämonisierung Jesu bzw. der Verteidigung Jesu gegenüber diesem Vorwurf sprechen, erzählen V. 39–42 von dem dezidierten Versuch, Jesus festzunehmen (mit Tötungsabsicht; vgl. 10,36), bzw. vom Glauben der „Vielen“.56 53  2,18–21 ist ein Nukleus und ein erster Probelauf solcher joh Streitreden, der in der Sache freilich den vollständigen christologischen Konflikt enthält. 54  Joh 6 ist ein Beispiel, wie joh Bild‑ und Streitreden ineinandergeschoben sein können. Der Evangelist liebt den literarische Gattungen sprengenden und sie zugleich ineinander blendenden Stil: So werden die „Zeichen“ Jesu sukzessiv zunächst durch Redepartien Jesu weitergeführt – beim letzten „Zeichen“ Jesu, der Auferweckung des Lazarus in Joh 11, sind Wundergeschichte und Offenbarungsrede Jesu vollständig ineinander verschachtelt. 55 10,6 informiert die Leser im Gewand eines Erzählerkommentars über die Reaktion auf die Worte Jesu in V. 1–5. 56  Die Kontrastszene 10,39–42 lässt sich zudem als Brückenszene zwischen dem Jerusalem-

430

4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

Während die vier „ICH-bin-Worte“ in 10,7c.9a („die Tür [der Schafe]“) und 10,11a.14a („der gute Hirt“) den zweiten Redepassus Jesus in 10,7b–18 in einer typisch joh Weise gliedernd und rahmend strukturieren (vgl. 6,29–51; 15,1–8), so schließen die Einheits-Aussage in 10,30 und die reziproke Immanenz-Aussage in 10,38 jeweils die Entgegnungen Jesu in V. 25–30 bzw. 34–38 ab. Beide literarischen Kompositionsweisen, der wiederaufnehmende Stil der „ICH-bin“-Reden Jesu im JohEv und die Zuspitzung im letzten Wort eines Redeganges Jesu, stellen das Gewicht des jeweiligen Jesus-Wortes heraus. Wie die „Ich-bin“-Worte Jesu, so fassen auch die Aussagen über die Einheit bzw. über die reziproke Immanenz von Vater und Sohn den Offenbarungsanspruch und ‑inhalt Jesu zugespitzt zusammen und provozieren deshalb die vergleichbare, gespaltene Reaktion unter den Hörenden. Als Spitzenaussagen innerhalb der joh Christologie stehen die „Ich-bin“-Worte Jesu57 neben den auf Vater und Sohn bezogenen Einheits‑ und Immanenz-Aussagen. Mit ihrem spezifisch joh Profil erläutern und erklären sich alle drei christologischen Leitaussagen gegenseitig! 5.2  Das christologische Argumentationsgefälle in Joh 10,22–42 Die  hoheitliche Selbstoffenbarung Jesu in den prädikativen Ich-bin-Worten: „Ich bin die Tür der Schafe“ (10,7; vgl. 10,9) und „Ich bin der gute Hirt“ (10,11.14) wird in der Streitrede in 10,22–42 inhaltlich wiederaufgenommen. Was die Bildrede vom guten Hirten in metaphorischer Christologie beinhaltet, wird in der Streitrede durch das strittige Bekenntnis zur Messianität Jesu ausgeführt. Ihre genauere inhaltliche Bestimmung erfährt die Messianität Jesu durch die Aussagen von der Einheit von Vater und Sohn sowie durch ihre reziproke Immanenz: Die Streitrede Jesu in 10,22–42 wird eröffnet mit der herausfordernden Frage „der Juden“ in der Halle Salomos nach der Messianität Jesu: 10,24 c Wie lange hälst du uns noch hin? d Wenn du der Christus bist, e sag es uns in Offenheit.

In seiner Antwort bekennt sich Jesus zu seiner Messianität, indem er auf die Werke verweist, die er im Namen seines Vaters vollbringt (10,25). Sodann erklärt er die Glaubensverweigerung „der Juden“ dadurch, dass sie nicht zu seinen Schafen gehören (10,26–29). Die Entgegnung Jesu schließt mit der Spitzenaussage: 10,30 „Ich und der Vater, wir sind eins (ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσμεν).“

aufenthalt Jesu und der Lazarus-Maria-Marta-Geschichte in Joh 11 lesen (mit J. Gnilka, Johannesevangelium, NEB.NT IV, Würzburg 41993, 87). M. W. G.  Stibbe, John, Readings: A New Biblical Commentary, Sheffield 1993, 119 f ) weist zudem auf die Analogie zwischen 4,40–41 und 10,41–42 hin. 57 Eine analoge strukturierende Funktion haben die „Ich-bin“-Worte auch in Joh 6; vgl. „Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71“, in diesem Band, S. 257–278.

5.  Die Einheit von Vater und Sohn

431

Dieses hoheitliche Offenbarungswort Jesu führt zum Steinigungsvorhaben „der Juden“ (10,31; vgl. 8,59), die ihn nicht wegen eines guten Werkes (diese können sie offensichtlich nicht bestreiten), sondern wegen Gotteslästerung töten wollen: 10,33 a b c d e f

Die Juden antworteten ihm: Wegen eines guten Werkes steinigen wir dich nicht, sondern wegen einer Gotteslästerung, weil du dich selbst, obwohl du ein Mensch bist, zu Gott machst.

Zusammen mit seiner schriftgelehrten Entgegnung (10,34–36) verweist Jesus erneut auf „die Werke meines Vaters“, die er vollbringt (10,37–38). Diese Werke können im Glauben wahrgenommen und angenommen werden und führen zu der Erkenntnis, dass der Vater und Sohn reziprok immanent sind: 10,38 d damit ihr erkennt und versteht, e dass in mir der Vater (ist) f und ich im Vater (bin).

Beide christologischen Spitzenaussagen, die die Messianität Jesu in ihrer Tiefe ausloten, die Einheits‑ wie die reziproke Immanenz-Aussage, werden im Folgenden genauer vorgestellt: 5.3  Die Einheit von Vater und Sohn in Joh 10 Die Antwort Jesu auf die Frage „der Juden“ nach seiner messianischen Identität (10,24) in V. 25–30 kulminiert in dem Zielsatz: „Ich und der Vater sind eins (ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσμεν)“. Jesus verweist in V. 25–29 auf seine Wirk‑ und Handlungsgemeinschaft mit dem Vater, die auf die Gabe des „ewigen Lebens“ an die Glaubenden zuläuft. Der joh Jesus beantwortet damit die Anfrage „der Juden“ mit der geforderten παρρησία (V. 24e):58 Er offenbart sich selbst als der Messias Israels, insofern er – erkennbar in seinen „Werken“ – aus einer Handlungs‑ und Willensgemeinschaft mit dem Vater lebt, die so intensiv ist, dass beide „eins sind“.59 Bei bleibender Unterschiedenheit von Vater und Sohn gilt: Von der Einheit Jesu mit dem Vater zeugen seine Werke, die er „im Namen seines Vaters“ vollbringt (10,25), und die Schafe, die ihn hören, erkennen und ihm folgen, denen er ewiges Leben gibt und die er und der Vater sicher schützen60 (V. 26–29). Der ob seiner messianischen Sendung angefragte Jesus weist auf die ihm vom Vater übergebene umfassende Vollmacht hin, die ihn im Namen des Vaters zum eschatologischen Lebensspender und Schutzherrn macht. Zur Unterscheidung der Personen (ad  Zur παρρησία Jesu im JohEv vgl. jetzt: M. Labahn, Die παρρησία des Gottessohnes im Johannesevangelium. Theologische Hermeneutik und philosophisches Selbstverständnis, in: Kontexte des Johannesevangeliums, WUNT 175, J. Frey / ​U. Schnelle (Hgg.), Tübingen 2004, 321–363. 59 R. Schnackenburg spricht treffend davon, dass die „Einigkeit zur Einheit“ wird (Ders., Das Johannesevangelium, HThK IV/2, Freiburg 41985, 387). 60  Vgl. die parallele Formulierung in 10,28c.29c. 58

432

4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

intra) tritt die Ununterschiedenheit ihres heilbringenden Wirkens (ad extra). Genauer: Weil Jesus aus einer singulären Einheit mit dem Vater lebt, offenbart sich im Leben und Wirken Jesu der Vater selbst. In Joh 10 geht es nicht nur um eine Einigkeit zwischen Jesus und dem Vater, sondern um die hinter und in dieser Einigkeit sich offenbarende Einheit von Vater und Sohn. Damit ist in der Tat ein hoher Offenbarungsanspruch erhoben, der im Glauben angenommen werden kann oder eben als blasphemisch abgelehnt zu werden verdient. Das JohEv hält an der letztlichen Unauslotbarkeit dieser Einheit von Vater und Sohn fest.61 Annäherungsweise kann diese Einheit, die sicher keine Identität ist, aus dem Gesamt der oben schon angesprochenen christologischen Aussagen im JohEv genauer profiliert werden. Eine auch für Joh 10 signifikante heuristische Hilfe ist die reziproke Immanenz-Aussage in 10,38: 5.4  Die Relation von Einheits‑ und Immanenzaussage in 10,30 und 10,38 Innerhalb des zweiten Gesprächsganges schließt V. 38 die zweite Entgegnung Jesu in 10,22–42 ab: 10,38 a b c d e f g

Wenn aber ich (die Werke) vollbringe, und wenn ihr mir nicht glaubt, glaubt den Werken, damit ihr erkennt und wißt, daß der Vater in mir (ist) (ἐν ἐμοὶ ὁ πατὴρ) und ich im Vater (bin) (κἀγὼ ἐν τῷ πατρί).

Die reziproke Immanenz von Vater und Sohn ist der Glaubens‑ bzw. Erkenntnisinhalt, auf den hin „die Schrift“ (vgl. V. 34–36) und die „Werke des Vaters“ verweisen. Damit führt Jesus die Argumentation aus der ersten Entgegnung in V. 25–30 weiter: In der Sache laufen beide Entgegnungen Jesu auf den Aufweis seiner christologischen Identität hinaus: Die Einheits‑ (V. 30) und die ImmanenzAussage (V. 38) variieren und profilieren die in den „Ich-bin“-Worten Jesu (vgl. V. 7b–18) reklamierte eschatologisch-universale Offenbareridentität Jesu. Genauer hin gilt: Die reziproke Immanenz-Aussage in 10,38 erklärt die Einheits-Aussage in 10,30: Die Einheit von Vater und Sohn, die die vielfach betonte Willens‑ und Handlungskonformität begründet und inhaltlich über diese hinausgeht, besteht in ihrer wechselseitigen Einwohnung: Der Sohn lebt ganz und gar aus der Beheimatung im Vater, er konstituiert seine Identität und Sendung aus dieser „Wohnung“ im Vater (vgl. 1,38: ποῦ μένεις;). Und umgekehrt: Der Vater kann sich in dem ihm restlos zugewandten Sohn vergegenwärtigen und erweist sich gerade so als der Vater. 61 Vgl. L. Schenke, Christologie (s. Anm. 5), 455. Schenke versteht 10,30 und die ImmanenzAussagen als „mythische Einheit“ und als „Paradoxon“. M. E. lässt sich dazu doch erheblich Genaueres sagen; vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 33).

6.  Das theologische und hermeneutische Potential der joh Christologie

433

Diese Einheit von Vater und Sohn ist eine personale Beziehungswirklichkeit, die bei aller Konformität und wesensmäßigen Zugehörigkeit auch eine bleibende Unterschiedenheit kennt. Die offenbarend-rettende Gegenwart des Vaters in seinem schon uranfänglich im zugehörigen, inkarnierten Sohn relativiert oder zerstört nicht die Einheit und Einzigkeit Gottes, sondern ist die Herrlichkeitsoffenbarung seiner selbst: Der Gott des JohEv offenbart sich als ein Vater, der in seinem Sohn Mit-liebende sucht.

6.  Das theologische und hermeneutische Potential der joh Christologie 6.1  Christologie in der Mitte des neutestamentlichen Kanons Die in den zurückliegenden Ausführungen vorgestellten Herausforderungen, denen sich die joh Christologie stellt (3), die angesprochenen Kennzeichen der joh Christologie (4) und der exegetische Blick auf die Einheits-Aussage zwischen Vater und Sohn in 10,30 (5) verweisen auf die starke synthetische Kraft des joh Denkens und Argumentierens. In ihrer Summe erweisen die genannten Merkmale die ganze Spannweite der joh Christologie, die ihren Focus in der endzeitlichen Selbstoffenbarung des Vaters in seinem Sohn hat. Ad intra, von den Glaubenden, kann dies als Stärke wahrgenommen werden, ad extra, für die Nichtchristen, liegt darin sicher eine fragwürdige Konzentration und Monopolisierung aller biblischen und nichtbiblischen Heilserwartungen. Deutlich erkennbar ist der responsorische Charakter der joh Christologie. Johannes versteht die messianische Sendung Jesu als Antwort auf die jüdische Messiaserwartung in einer überraschend neuen Weise und zugleich als Antwort auf die in dieser Messiaserwartung verortete Sinn‑ und Lebenssuche der Menschen: Das vierte Evangelium kennt die zeitgenössischen Gesalbtenerwartungen und bezieht diese anverwandelnd auf Jesus von Nazaret, für den die heiligen Schriften Israels Zeugnis ablegen. Dabei betont der Evangelist sowohl die Hoheit des Gesalbten wie auch zugleich seine Niedrigkeit (12,12–19; 19,5). Das responsorische Moment der joh Christologie zeigt sich sodann in der Annahme der Herausforderung, die darin besteht, die von ihm vertretene hohe Christologie im Angesicht des als normativ angesehenen monotheistischen Credos Israels zu verantworten. Inhaltlich gelingt diese Absicht dem Evangelisten m. E. dadurch, dass er den Christusglauben in die Matrix des Monotheismus einschreibt: Jesus selbst ist in persona die Offenbarung Gottes, in dem Gott sich eschatologisch verbindlich zu Wort meldet.62 Die joh Christologie ist daher nicht die Ideologie einer bedrängten Randgruppe des Urchristentums, nicht der aus Verletzung erwachsene Reflex einer unter Vgl. O. Schwankl, Christologie (s. Anm. 5), 361.

62

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4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

drückten Minderheit  – so sehr solche Aspekte auch zur keineswegs abwechslungsarmen joh Gemeinde‑ und Theologiegeschichte gehören mögen. Die joh Christologie fügt sich bei all ihrer besonderen Ausprägung in den vielstimmigen Chor der sonstigen neutestamentlichen christologischen Zeugnisse. Sie hat intensiven Anteil und überschneidet sich weithin mit der hermeneutischen Pionierarbeit des christologischen Denk‑ und Sprachprozesses in der urchristlichen Verkündigung. 6.2  Die Grenzen der joh Christologie Wer sich eine kritische Reserve vorbehält, wird die Fragen stellen, ob der durchaus beeindruckende christologische Entwurf des JohEv überzeugt, ob er kompatibel ist mit den frühen und frühesten urchristlichen Glaubensbekenntnissen, ob er in sich selbst kohärent ist und gegebenenfalls welcher Preis für diese hohe Christologie zu zahlen ist. Führt die stark vorangetriebene Fokussierung auf die Christologie nicht zu einem dualistischen Denken und Sprechen und zur Unterbelichtung anderer theologisch relevanter Fragestellungen (vgl. Ethik, Ekklesiologie, Schöpfungstheologie, Eschatologie)63 und zu einer notorisch-antijüdischen Ausblendung der bleibend-gültigen Heilsgeschichte Israels? Liegt in der christologischen Interpretation des jüdischen Tempels und der jüdischen Feste nicht doch eine feindliche Übernahme aller jüdischen Feste und Heilsinstitutionen? Ist die pauschale Redeweise von „den Juden“ im JohEv nicht ein sprechender Beleg für die ausgrenzende Wirkung der christologisch eingeforderten Glaubensentscheidung? Überwinden die oben diskutierten Antworten des joh Jesus auf die jüdischen Blasphemievorwürfe wirklich den harten Kern dieses Einwandes? Das JohEv ist bei allem gehobenen, ja kanonischen Selbstverständnis (vgl. 20,30–31; 21,24–25)64 kein systematischer christologischer Traktat. Es formuliert und wendet sich primär ad intra, an bereits zum Christus-Glauben gekommene Christen, deren Glauben in vielerlei Anfechtungen der Stärkung bedarf. Jean Zumstein nennt diese joh strategie de croire „den Glauben der Glaubenden stärken.“65 Dabei bedient sich der Evangelist weithin jüdischer Sprach‑ und Denkmöglichkeiten und nimmt potenzielle Einwände, besonders den des Bruches mit dem monotheistischen Erbe ernst. Auch wenn die joh Christologie in manchen Aspekten über die synoptischen Zeugnisse hinausgeht, lassen sich die joh Aus63  Andere Felder theologischer Reflexion (Theo-logie, Ekklesiologie, Ethik) geraten nach Otto Schwankl gegenüber diesem christologischen Anliegen ins Hintertreffen; vgl. O. Schwankl, Christologie (s. Anm. 5), 347 f. Freilich wäre eigens zu fragen, ob diese und andere Themen nicht doch in neuem Gewande bei Johannes ebenfalls im Blick sind. 64  Zum kanonischen Anspruch des JohEv, vgl. „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30), in diesem Band, S. 554–572. 65 Vgl. J. Zumstein, Das Johannesevangelium: Eine Strategie des Glaubens (frz. 1989), in: Ders., Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999, 31–45.

6.  Das theologische und hermeneutische Potential der joh Christologie

435

sagen doch als Extrapolation der synoptischen Christologie lesen, wenn gesehen wird, wie sehr auch die synoptischen Evangelien die absolute Sohneswürde Jesu, seine ihm von Gott gegebene Vollmacht und göttlichen Prärogativen, seine Herkunft aus Gott, seine Gottunmittelbarkeit und seine messianische Sendung betonen. Die polemischen Qualitäten der joh Christologie gegenüber denjenigen, die diesen joh Christusglauben nicht teilen, gehören zu ihr und brauchen nicht verschwiegen zu werden. Isoliert, ohne eine Einbindung in die Gesamtbotschaft des JohEv, die Liebesoffenbarung des Vaters in seinem Sohn für das Leben der Welt, stehen sie in großer Gefahr, Unheil anzurichten und haben das wohl auch getan. Die zugespitzte Konfrontation und die spaltende Wirkung, die die Sendung Jesu und mit ihr auch die nachösterliche Verkündigung des Evangeliums heraufführt, kann mitunter so weit vorangetrieben sein, dass das bei Johannes immer wieder festgehaltene Sinnziel der Sendung Jesu aus dem Auge verloren zu gehen droht. Dann wäre Johannes mit Johannes zu korrigieren – ein Wagnis, auf das man sich vielleicht dann einlassen darf, wenn man aus der Mitte der joh Theologie und Christologie heraus argumentiert (vgl. 3,16). 6.3  Der biblische Grundzug der joh Christologie und ihr bleibender Israelbezug Die joh Christologie ist grundlegend biblische Christologie: Sie rezipiert die alttestamentliche Bildsprache der Gotteszuwendung und Gottesnähe und legt ihre Christologie im Horizont der Schrift und Schriftverheißungen aus. Die joh Christologie kennt die jüdischen Einwände besonders hinsichtlich der Verletzung des 1. Gebotes und nimmt sie diskursiv auf. Sie bindet die Christologie radikal an die biblisch-monotheistische Theo-logie. Das JohEv beabsichtigt, den biblischen Monotheismus ohne Relativierung zu bewahren und zugleich die christologischen Hoheitsaussagen so in die Theo-logie einzuschreiben, dass die Identität Jesu Christi „von der Gottheit Gottes her gedacht“ werden kann (Martin Karrer66). Wie den anderen Evangelisten geht es auch Johannes darum, das Heilsgeschehen in Jesus von Nazaret (seine Sendung, seinen Tod und seine Auferstehung) mit Hilfe der Kategorie des Messias bzw. des Messianischen zu interpretieren. So sehr frühjüdische Messiaserwartungen, an die die christliche Verkündigung anknüpfte, christlichen Transformationsprozessen unterworfen werden, so klar und unverzichtbar stellt auch das JohEv die messianisch gedeutete Sendung Jesu in die Bundes‑, Hoffnungs‑ und Verheißungsgeschichte Israels, die durch Jesus Christus endzeitlich neu begründet und aufgerichtet wird. In diesem Sinne ist der Israelbezug der christlichen Verkündigung auch für das JohEv in seiner heilsgeschichtlichen Verankerung bestimmend. Der als Christus verkündete Jude Jesus von Nazaret kommt aus Israel, wirkt in Israel und ist zu Israel gesandt (vgl. 1,31; 4,22).67 An der Kontinuität und Verwurzelung des christlichen Glaubens in Israel hängt  M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT XI, Göttingen 1998, 157.  Vgl. weiterführend Anm. 9 u. 13.

66 67

436

4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

die christliche Identität, die Einheit Gottes sowie die Einheit des Heilshandelns Gottes, seine unwiderrufliche Treue. 6.4  Soteriologische Christologie: Die Aufnahme der Glaubenden in die Gemeinschaft von Vater und Sohn Die joh Christologie ist grundsätzlich soteriologisch ausgerichtet; sie ist eingebunden in die Liebeszuwendung Gottes zu seiner „Welt“: 3,16

a b c d e f

Denn so sehr hat Gott die Welt (τὸν κόσμον) geliebt, daß er den einziggezeugten Sohn (dahin‑)gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.

Die im JohEv vielfältig ausgeleuchtete Gemeinschaft von Vater und Sohn öffnet sich für die Glaubenden; sie will diejenigen, die den Sohn „aufnehmen“, in ihre Gemeinschaft einschließen (vgl. 1,11–13; 13,20; 14,2–3.23). Die Glaubenden sollen „dort sein, wo Jesus ist“ (vgl. 14,3); sie sollen an dem Lebensreichtum teilhaben, an dem Jesus selbst teilhat und den er schenkt (vgl. 5,26.40; 10,10; 20,31). Um diese Intention zu versprachlichen, überträgt der Evangelist Johannes und mit ihm der joh Jesus Strukturmomente, die für die Vater-Sohn-Beziehung gelten (vgl. Theozentrik, Liebe, Sendung, Willens‑ und Handlungskonformität), auf die Beziehung zwischen dem Sohn und den Christen (vgl. hier bes. die reziproke Immanenz-Aussagen) bzw. auf die Beziehung zwischen den Christen untereinander (vgl. hier bes. die Einheits-Aussagen): (1) Die besonders in Joh 10 herausgestellte „Einheit“ von Vater und Sohn wird im Gebet des Abschied Nehmenden Jesus in Joh 1768 zum Urbild und Kanon der Einheit unter den Glaubenden erhoben: 17,11 d e f g 17,22 a b a' c d

Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen (ἐν τῷ ὀνόματί σου), den du mir gegeben hast, damit sie eins sind (ἵνα ὦσιν ἕν) so wie wir (eins sind) (καϑὼς ἡμεῖς). Und ich habe die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, ihnen gegeben, damit sie eins sind (ἵνα ὦσιν ἕν), so wie wir eins (sind) (καϑὼς ἡμεῖς ἕν).

In Analogie (καϑώς) zur Einheit von Vater und Sohn sollen auch die Christen untereinander „eins sein“ (17,11 f.22d). Solche Einheit der Gemeinde ist weder aus eigener Kraft erworben, noch durch eigenes Tun zu erreichen: Sie verdankt sich allein und ausschließlich der aus der Initiative des Vaters entspringenden  Vgl. hierzu weiterführend „Das hohepriesterliche Gebet Jesu“, in diesem Band, S. 395–411.

68

6.  Das theologische und hermeneutische Potential der joh Christologie

437

Dynamik, die auf die wechselseitige Verherrlichung von Vater und Sohn in und durch die mit Doxa und ewigem Leben beschenkten Gemeinde zielt. Die erbetene Einheit der Gemeinde kann letztlich keine andere Gestalt haben als diejenige Ausdrucksgestalt von Liebeseinheit, der sie sich grundlegend und bleibend verdankt. (2) Nach dem Zeugnis von Joh 17, 21–23.26 werden die Glaubenden in die VaterSohn-Immanenz aufgenommen: 17,21 a b c d e f 17,23 a b c d e f g 17,26 a b c d c' e

damit alle eins sind (ἵνα πάντες ἕν ὦσιν), so wie du, Vater, in mir (bist) (ἐν ἐμοὶ) und ich in dir (bin) (κἀγὼ ἐν σοί), damit auch sie in uns sind (ἵνα καὶ αὐτοὶ ἐν ἡμῖν ὦσιν), damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Ich in ihnen (ἐγὼ ἐν αὐτοῖς) und du in mir (καὶ σὺ ἐν ἐμοί), damit sie vollendet sind in eins (τετελειωμένοι εἰς ἕν), damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und sie geliebt hast so wie du mich geliebt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und ich werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist (ἐν αὐτοῖς ᾖ) und ich in ihnen (κἀγὼ ἐν αὐτοῖς).

Der Inhalt der um die Glaubenden erweiterten Immanenz-Aussage ist eine soteriologische Spitzenaussage: Die Gemeinschaft der Glaubenden – und in ihr jeder einzelne – wird in die Vater-Sohn-Beziehung aufgenommen, so dass für ihre neu geschenkte Gottesbeziehung per analogiam jene Intensität und Charakteristik zutrifft, die auch die Vater-Sohn-Relation kennzeichnet. Im Vorgriff auf die futurisch-eschatologische Vollendung sind sie solchermaßen in die neue Gegenwart des Erhöhten bei den Glaubenden hineingenommen, dass sie – in Analogie zu Jesu Einwohnung im Vater – ihre Identität und Bestimmung ganz aus dieser österlichen Wirklichkeit empfangen (17,21d; vgl. die joh Metapher der Wiedergeburt als Beginn eines neuen Lebens) und so selbst disponiert sind für die Selbstvergegenwärtigung des Auferstandenen in ihnen (V. 23ab.26c–e).69

 W. Thüsing macht gute Gründe namhaft, mit der „Liebe“ in 17,26 den „Keim“ für die spätere trinitätstheologische Aussage vom Heiligen Geist als vinculum caritatis angelegt zu sehen; in: Ders., Herrlichkeit und Einheit. Eine Auslegung des hohepriesterlichen Gebetes Jesu (Johannes 17), Die Welt der Bibel 14, Düsseldorf 1962, 117–122; so auch R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/3, Freiburg 51986, 225; R. E.  Brown, The Gospel According to John, AncB 29/29A, New York 1966.1970, II 781. 69

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4.  „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30)

6.5  Eine ökumenisch sprachfähige Christologie Mit Otto Schwankl lässt sich der Prolog des JohEv als „ökumenisches Foyer“ 70 bestimmen, der mit seiner kulturübergreifenden Licht‑ und Finsternismetaphorik und seinen religionsphilosophisch prominenten Begriffen ἀρχή und λόγος jüdische und hellenistische geprägte Adressaten anzusprechen weiß. Schon dieses Eingangsportal des Evangelisten weist darauf hin, dass er beansprucht, mit seiner Botschaft auf die gesamte bewohnte Welt (= οἰκουμένη) auszugreifen. So nimmt die joh Christologie die Lebens‑ und Sinnsuche der Menschheitsgeschichte, die sich in vielen archetypischen Bildern und Symbolen niedergeschlagen hat, umfassend auf und deutet ihre Christusbotschaft ökumenisch sprachfähig als Antwort auf eben diese kulturübergreifende, anthropologische Dynamik. In diesem Zusammenhang lassen sich die komplexen metaphorischen Netzwerke des JohEv (vgl. nur die Familienmetaphorik71) und die archetypische Symbolik des JohEv72 auswerten. 6.6  Eine relationale Christologie der Beziehungen Die gedankliche Grundfigur, die diese Zusammenschau ermöglicht, ist die partizipatorische Christologie:73 Jesus, der Christus, ist nicht einfach mit Gott identisch, aber er hat Anteil am Leben und am Wesen Gottes und öffnet diese Vater-Sohn-Beziehung für die Glaubenden (vgl. Joh 14,23). Gerade indem er die Glaubenden „an sich zieht“ (Joh 12,32), führt Jesus Christus sie in die Gottesbegegnung. Für das JohEv lassen sich die Aussagen über Jesus, den Christus, als soteriologische Christologie der Beziehungen zusammenfassen: Da er selbst in einer sein Wesen und seine Sendung bestimmenden Gottesbeziehung lebt, können Glaubende „durch Jesus Christus“, „in ihm“ und „mit ihm“ in geheilte und heilende Beziehungen treten: zu ihm selbst, durch ihn zu Gott, dem Vater, zu den Mitglaubenden und zu allen Menschen.

70 Vgl.

O. Schwankl. Licht (s. Anm. 46).  Vgl. zuletzt umfassend J. G. Van Der Watt, Familiy of the King. Dynamics of Metaphor in the Gospel According to John, BIS 47, Leiden 2000. 72 Vgl. Anm. 45. 73  Zur Partizipation als Denkmodell und Grundfigur urchristlicher Theologie vgl. U. Schnelle, Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie, NTS 47 (2001), 58–75. 71

V.  Immanenz und Mystik

1.  „Rabbi, wo wohnst du?“ Zur Theologie der Immanenz-Aussagen im Johannesevangelium 1.  Einführung: „Wo wohnt Gott?“ „Geh mir aus der Sonne!“ – so habe einer bekannten Anekdote folgend Diogenes von Sinope (ca. 413/412–324/321 v. Chr.) Alexander den Großen aufgefordert, als dieser sich zu ihm an seine sprichwörtliche Tonne stellte.1 Wer die hier parodierte, kynische Selbstgenügsamkeit und die mit ihr verbundene, demonstrative Weltaskese nicht teilt, wird in anderer Weise ein suchender, ein fragender Mensch sein. Wenn es stimmt, dass alle Liebe zur Weisheit (= Philo-sophie) mit dem Staunen2 beginnt, dann ist das Staunen über das Leben als solches, über alle Phänomene unserer Lebenswirklichkeit der Ausgangspunkt für eine schier unendliche Zahl von Fragen – Fragen nach dem Woher, dem Warum, dem Wozu, dem Wohin. Schon die ältesten materiellen und schriftlichen Zeugnisse der Kulturgeschichte der Menschheit bezeugen religiöse Deutungen ihres Lebens und ihrer Lebenserfahrungen. Das Leben und der Umgang mit Göttern und Gottheiten, die das menschliche Leben schützend oder bedrohend begleiten, ist tief hineingeschrieben in die Religions‑ und Geistesgeschichte des Abendlandes (vgl. nur Homer, Odyssee). Der in Israel erwachte und errungene Glaube an den einen und einzigen Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt unterscheidet radikal zwischen Gott und Welt, wehrt jeder Verehrung von geschöpflicher Wirklichkeit, die als Götzendienst gebrandmarkt wird. Eben diese Unterscheidung von Gott und Welt, von Transzendenz und Immanenz, von Sakralität und Profanität wirft die Frage auf, wo Gott, der Heilige schlechthin, gefunden werden kann, wo er den Menschen begegnet, wo er sich offenbart und als wirkmächtig erweist. Gerade dort, wo monotheistischer Glaube den Olymp ungezählter Götter entmythologisiert, wird die Frage nach dem Ort Gottes um so dringlicher. „Wo wohnt Gott?“ – der Gott, der einerseits weltjenseitig, von seiner gesamten Schöpfung unterschieden angesehen wird, der andererseits zugleich aber auch nicht schlechthin außerhalb jeglicher menschlicher Erkenntnis gedacht werden kann, da er dann irrelevant wäre. Die biblischen Schriften möchten Antworten geben auf diese Urfrage der Menschheit. Im Prisma von Glaubenserfahrungen und ‑bekenntnissen aus den Jahrhunderten der Entstehung des biblischen Glaubens und der biblischen Schrif1 2

 Vgl. Plut. Alex. 14; Cic. Tusc. 5,92; Diog. Laert. 6,20–81.  Vgl. Plat. Theait. 155d.

442

1.  „Rabbi, wo wohnst du?“

ten wird Jahwe, der Gott Israels, als der geschichtsmächtige, sein Volk erwählende und befreiende Schöpfergott verkündet. Er „thront über dem Lobpreis Israels“ (vgl. Ps 22,4); er „wohnt inmitten seines Volkes“ (vgl. Ex 29,45 u. ö.). Frühjüdische und rabbinische Schriften sprechen von der Schekhina, der dynamischen Gegenwart Gottes bei seinem Volk. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments offenbart sich der Gott Israels endzeitlich in Jesus Christus. Das Johannesevangelium spricht von Jesus Christus als dem Ort unmittelbarer Gottesgegenwart (vgl. Joh 1,51; 2,13–22; die „Ich-bin“Worte) bzw. von der reziproken Einwohnung Gottes in Jesus Christus und darüber hinaus auch von der wechselseitigen Einwohnung Gottes bzw. Jesu Christi in den Glaubenden (vgl. die sogenannten reziproken Immanenz-Formeln: Joh 10,38; 14,20 u. ö.). Schon vor Johannes und unabhängig voneinander findet sich in den Paulusbriefen (und in seiner Wirkungsgeschichte) eine Sachparallele: Paulus spricht von dem „in Christus (sein)“ der Glaubenden (2 Kor 5,17 u. ö.; vgl. die reziproke Aussage „Christus lebt in mir“ in Gal 2,20). Die folgenden Ausführungen wollen die oftmals und mit Recht als schwierig empfundenen joh Immanenz-Aussagen aus ihrer enigmatischen Fremdheit lösen und sie in ihrem biblischen und christlichen, genauerhin joh Zusammenhang erschließen.3 Zunächst werden alttestamentlich-frühjüdische und rabbinische Antworten auf die Ausgangsfrage „Wo wohnt Gott?“ kurz angesprochen (2). Das Hauptgewicht liegt dann auf der Erschließung der joh Immanenz-Aussagen (3). 1.1  Das alttestamentlich-jüdische Zeugnis: Gott wohnt inmitten seines erwählten Volkes Die Heiligen Schriften Israels, das christliche Alte Testament, sprechen von Gottes weltzugewandter Liebe, von seiner die Schöpfung im Leben erhaltenden, sie nährenden und tragenden Liebe zu seinen Geschöpfen. Als biblische Basisaussage kann gelten: Gott ist nicht fern von seiner Schöpfung, sondern ihr unendlich nahe. Aus den Werken seiner Schöpfung kann auf ihren Schöpfer geschlossen werden (vgl. Weish 13,1–9, hier Vers 5: „denn von der Größe und Schönheit der Geschöpfe lässt sich auf ihren Schöpfer schließen“). Einer pantheistischen Deutung der Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung scheint sich Sir 43,27 am meisten zu nähern: „Er (Gott) ist alles.“ Die basale Unterscheidung von Schöpfer und Schöpfung wird jedoch auch hier nicht pantheistisch infragegestellt. Inhaltlich zielt die Aussage von Sir 43,27 darauf, Gottes bleibende Zuwendung und Erhaltung seiner Schöpfung zum Ausdruck zu bringen (vgl. in Sir 43 das Lob auf den Schöpfer; bes. 43,28).4 Gottes Weisheit, seine  Zur detaillierten Begründung und Absicherung der hier vorgetragenen Thesen verweise ich auf meine Habilitationsschrift: K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000. Hier finden sich auch detaillierte Ausführungen zu nichtjüdischen, religionsgeschichtlichen Vergleichstexten antiker Immanenz-Aussagen (bes. griechisch-römische Philosophie; Gnosis; vgl. ebd. 33–75). 4  Vgl. ebd. 100 f. 3

1.  Einführung: „Wo wohnt Gott?“

443

Sophia, die die ganze Schöpfung „durchschreitet und durchzieht“ (Weish 7,24), „sucht“ eine Wohnung bei den Menschen Israels; sie „wohnt“, „zeltet“ und „ruht“ mitten unter ihnen (vgl. LXX Sir 1,15) bzw. auch in ihnen (vgl. Weish 1,4; 7,27– 28; 10,16). Sir 24 handelt umfassend von der Gegenwart der Weisheit Gottes in Schöpfung und Geschichte, in Heiligtum, Kult und Tora. Die weltzugewandte Liebe Gottes konkretisiert sich nach alttestamentlichem Befund in seiner Geschichtsmächtigkeit und insbesondere in seiner Erwählung des Bundesvolkes Israel. Der Gott Israels, der Gott der Bibel ist eben nicht apathisch, ihn kennzeichnet vielmehr eine dynamische Präsenz und Nähe zu seinem Volk. In der konditionierten oder auch unkonditionierten Bindung JHWHs an Israel bezeugt er seine Weltzuwendung, die sich an und im Gottesvolk Israel konkreten, sichtbaren Ausdruck verschafft.5 Israel wird zum Ort der Gottesgegenwart, die für alle Völker ausstrahlungs‑ und anziehungskräftig wirken soll. JHWH erwählt sich einen „Ort“ (makom) seiner Präsenz, die freilich gebunden wird an das bundestreue Verhalten seines Volkes (vgl. Jer 7,12). Der Ort der Gottesgegenwart wird als Wohnen Gottes „in der Höhe“ (vgl. Jes 33,5; Ps 2,4; Ps 113,6), „im Zelt der Begegnung“ der Wüstengeneration (vgl. Ex 17,7; 29,42–46; Lev 26,11– 12), auf dem Zionsberg (vgl. Ps 9,12; 68,17; 76,3; 132,13–14), im Jerusalemer Tempel (vgl. 1 Kön 8,12–13; Jes 8,18; Ez 43,7)6 oder inmitten seines Volkes (Ex 29,45; vgl. Num 11,20; Dtn 7,21; 23,15; Ez 43,1–11; Zef 3,17; Jer 14,9) bestimmt.7 Frühjüdische Schriften kennen vereinzelt auch die Immanenz Gottes im einzelnen Menschen (vgl. TestDan 5,1; TestJos 10,2; TestBen 6,4). Philo von Alexandrien entfaltet detaillierte Konzeptionen von der Gegenwart des göttlichen Geistes, des Logos bzw. Gottes selbst im Menschen.8 In den Targumim und in rabbinischen Schriften findet sich der Begriff Schekhina für die besondere, dynamische Präsenz Gottes bei seinem Volk und seine heilvolle Begleitung Israels durch die Geschichte hindurch zur endzeitlichen Vollendung.9 Nach bMeg 29a zog die Schekhina aus Liebe zu Israel mit ins Exil.10 Die Schekhina-Aussagen rechnen mit dem verborgenen und zugleich anwesenden Gott, der Beziehungen zwischen sich und den Menschen stiftet. „Die Schekhina qualifiziert die Wirk 5  Vgl. weiterführend G. Lohfink, Braucht Gott die Kirche? Zur Theologie des Volkes Gottes, Freiburg i. Br. 1–31998, 13–152.  6  Die deuteronomistische Tempeltheologie spricht von der Wohnung des Namens Gottes im Tempel; Dtn 12,5.11.21; 14,24.  7  In Est 4,14 kann im Wort des Mordechai an Ester eine Fremdprophetie eingeschlossen sein, in der „Ort“ für Gott selbst steht: „Denn wenn du zu diesem Zeitpunkt wirklich schweigst, so wird Befreiung und Errettung für die Juden von einem andern Ort her erstehen.“  8  Vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 3), 106–118.  9  Vgl. A. M.  Goldberg, Untersuchungen über die Vorstellung von der Schekhinah in der frühen rabbinischen Literatur, Talmud und Midrasch, 1969; C. Thoma, Art. „Schekhina“, Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung, Freiburg i. Br.1989, 352–356. 10 Vgl. hierzu und zu weiteren rabbinischen Zeugnissen K. Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1–10, ThKNT IV/1, Stuttgart 2000 61–65 (dessen Auslegung von 1,14 freilich nicht überzeugt).

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1.  „Rabbi, wo wohnst du?“

lichkeit, indem sie eine Differenz zum Bestehenden schafft und somit den Raum eröffnet, in dem der Mensch atmen kann.“11 Aharon R. E.  Agus hat jüngst herausgearbeitet, das in der rabbinischen Theologie mit der Reinterpretation des im jüdisch-römischen Krieg zerstörten 2. Tempels auch eine neue Anthropologie einhergeht. Mit der rabbinischen Loslösung von einem ortsgebundenen Verständnis der Gegenwart Gottes (bes. im Tempel) geht eine neue ‚Verortung‘ Gottes bei den torastudierenden (oder auch nur eines einzigen torastudierenden) Gläubigen einher.12 „Die religiös denkende und handelnde Person gilt danach als der Inbegriff des heiligen Ortes. … Das Individuum wird zum Inbegriff und Ort des Tempels, so dass in diesem Verständnis Gott in dem religiös lebenden Individuum anwesend ist.“ Deshalb kann es in GenR 82 zu 35,12 heißen: „Die Vorväter, sie selbst sind der Thronwagen (Gottes).“13

Zusammenfassend kann festgehalten werden: Während die alttestamentlichen Schriften mit der dynamischen Präsenz Jahwes im Zelt der Begegnung, auf dem Zionsberg, im Tempel bzw. „inmitten“ seines erwählten Volk rechnen, öffnen sich frühjüdische und rabbinische Zeugnisse auch für Vorstellungen, die mit einer Gegenwart bzw. Einwohnung Gottes in den Glaubenden selbst rechnen.

2.  Johanneische Aussagen über die Gegenwart und Einwohnung Gottes, des Vaters, und seines Sohnes Jesus Christus Das JohEv steht und sieht sich selbst in einer grundlegenden Kontinuität zum Glauben und zu den Heiligen Schriften Israels. Der biblisch-jüdische Monotheismus ist sein selbstverständlicher Mutterboden. Den von ihm verkündeten jüdischen Messias Jesus (1,31.41.45; 4,22; 20,30–31) sieht der Evangelist in der „unauflösbaren Schrift“ Israels bezeugt (vgl. nur 5,39; 10,35). Sprachlich und inhaltlich setzt der Evangelist deshalb die jüdische Glaubensüberlieferung als verbindliche Bezugsgröße voraus, wenn er die Sendung Jesu Christi als endzeitliche Herrlichkeitsoffenbarung Gottes erzählt und theologisch reflektiert (1,14; 2,11 u. ö.). Da die joh Immanenz-Aussagen auch eine Antwort des Evangelisten auf eine bestimmte menschliche Grundsituation darstellen, setzen die Ausführungen zunächst bei dem joh Menschenbild an (3.1.) und wenden sich dann den verschiedenen Aspekten der joh Immanenz-Aussagen selbst zu (3.2.–4.). 11 H. Ernst, Die Schekhîna in rabbinischen Gleichnissen, JudChr 14, Bern 1994, 371; vgl. weiterführend auch A. R. E.  Agus, Das Judentum in seiner Entstehung. Grundzüge rabbinischbiblischer Religiosität, Judentum und Christentum 4, Stuttgart 2001, 137–142.224–229.233–246. 12  Vgl. mAv 3,7: „R. Chalafta ben Dosa sagt von Kfar Chanania: Zehn (Personen), die (zusammen) sitzen und sich mit der torah beschäftigen, bei ihnen weilt die shechina, wie geschrieben (steht): ‚Gott steht in der Gemeinde Gottes (Ps 82,1) … Und woher (weiß man, dass) selbst (bei) einer (Person, die sich mit der torah beschäftigt, die shechina anwesend ist)?“ 13 Das Motiv des Thronwagens (vgl. Ez 1,4–8; 10,8–17; Jes 6,1–4; äthHen 14–16) bildet den biblischen Haftpunkt der rabbinischen Hekhalot‑ und Merkabah-Literatur sowie der frühen jüdischen Aufstiegs‑ und Visions-Mystik.

2.  Johanneische Aussagen über die Gegenwart und Einwohnung Gottes

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2.1  Menschen auf der Suche – ein anthropologischer Ausgangspunkt Die Erzählweise und den Denkstil des Evangelisten Johannes14 kennzeichnet ein feines Gespür für die anthropologischen Ursituationen des Menschen, die er einfühlsam vor Augen stellt: Er erzählt von suchenden Menschen, genauerhin von in der Schrift suchenden Menschen, Menschen also, die nach dem Sinnziel ihres Lebens, nach Heimat, nach einer „Bleibe“, letztlich nach dem lebendigen Gott Ausschau halten; er erzählt von den vielfältigen, oft verdrängten Notsituationen des Menschen (Geburt, Durst, Hunger, Krankheiten, Tod) und von ihren Festen (Hochzeit, religiöse Feste). Diese alltäglichen, ‚normalen‘ Lebenssituationen sind im JohEv Ausgangs‑ und Anknüpfungspunkte für die Darstellung und Entfaltung der „Fülle des Lebens“, die zu vermitteln Jesus sich gesandt weiß (10,10). Alle Wundertaten Jesu im JohEv  – der Evangelist nennt sie charakteristischerweise „Zeichen“ – werden als Reaktionen Jesu auf die sich ihm manifestierende tiefe Notlage der hungernden und dürstenden, der leidenden und trauernden Menschen dargestellt. Gegen zu kurz greifende Deutungen des Wirkens und der Sendung Jesu, die das Heilswirken Jesu auf irdische Proportionen beschränken (vgl. 6,1– 27), setzt der Evangelist vielerlei erhellende Missverständnisse, die zum Überstieg von einer vordergründigen zu einer tieferen Sicht anleiten (vgl. „Wasser“ und „lebendiges Wasser“ in Joh 4; „Brot“ und „lebendiges Brot“ in Joh 6). Auch die ausführlichen Glaubenswege der einzelnen Gesprächspartner und Jünger bzw. Jüngerinnen Jesu, die Betonung der Verborgenheit bzw. Entzogenheit Jesu und die ironischen Rollenwechsel dienen im 4. Evangelium dazu, den mystagogischen Weg in das Glaubensgeheimnis, das der Evangelist verkündigen will, anzuzeigen und zu durchschreiten. Sodann zielen auch die joh Metaphern und Symbole, die oft netzwerkartig das ganze Evangelium durchziehen, auf die menschlichen Erfahrungen und menschlicher Kommunikation gemäße Versprachlichung und Veranschaulichung des Heiles und der Liebe, die auf die bedürftigen Menschen in der Sendung Jesu von Gott her zukommt. Ausweislich der Klammer zwischen den ersten Berufungsgeschichten in 1,35–51 und der österlichen Begegnung zwischen dem Auferstandenen und Maria von Magdala in 20,11–18 ist die Kennzeichnung der Jünger und Jüngerinnen Jesu als Suchende charakteristisch: „Was sucht ihr?“ (1,38) lautet nicht zufällig das erste Wort Jesu überhaupt im JohEv. Dieser Frage an die zu ihm geschickten Jünger Johannes des Täufers korrespondiert das erste Wort des Auferstandenen: „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ (20,15).15 Die Lebens‑ und Sinnsuche, die mit der Suche nach dem erwarteten Messias (vgl. 1,41.45.48; 12,20–26) bzw. nach 14  Der Verfasser hat mehrere Forschungsberichte zum JohEv veröffentlicht, die das aktuelle Terrain der Johannesforschung kritisch sichten (ThGl 89 [1999], 263–295; 91 [2001], 109–133; SNTU 24 [1999], 35–84; 25 [2000], 98–140); vgl. zuletzt K. Scholtissek, Eine Renaissance des 4. Evangeliums nach Johannes. Aktuelle Perspektiven der exegetischen Forschung, ThRv 97 (2001), 267–288. 15 Vgl. hierzu weiterführend „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), in diesem Band, S. 151–172.

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1.  „Rabbi, wo wohnst du?“

dem „Leben“ im qualifizierten Sinn (vgl. 5,39) koinzidiert, ist die leitende anthropologische Grundaussage des JohEv. Suchenden Menschen, die sich in den Gesprächspartnern Jesu im JohEv wiedererkennen sollen, stellt der Evangelist den möglichen „Fund“ (1,41.45) entgegen: Jesus Christus selbst ist in seiner Person die Antwort auf den Hunger und Durst, auf die Lebens-Suche und das Sinnverlangen der Menschen. In der Gegenfrage der Jünger: „Rabbi, wo wohnst du?“ auf das erste Wort Jesu: „Was sucht ihr?“ (1,38) verwendet der Evangelist (nach 1,33) erstmals das Verb μένειν, das die Grundbedeutungen „bleiben“, „wohnen“ hat. Mit Hilfe dieses Leitwortes entwickelt der Evangelist die für sein Evangelium charakteristische Sprache der Einwohnung, der Immanenz (von lat. manere in = „bleiben in“). Indem die Jünger nach der ‚Wohnung‘ Jesu fragen, ist die grundsätzlich für das ganze JohEv geltende Priorität Jesu bzw. der ‚Wohnung‘ Jesu schon angedeutet: Von der ‚Wohnung‘ bzw. ‚Bleibe‘ Jesu her wird sich auch zeigen, wo die gesuchte ‚Wohnung‘ und ‚Bleibe‘ der Glaubenden ist. 2.2  Jesus Christus als Ort der eschatologischen Gottesoffenbarung und die wechselseitige Einwohnung von Vater und Sohn Die joh Evangeliendarstellung und die ihr eingeschriebene Leserlenkung zielt darauf, die Hörenden zum Glauben zu führen, „dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist“, „damit“ sie „als Glaubende das Leben haben in seinem Namen“ (20,31). Schon der Prolog Joh 1,1–18, der als Leseeinweisung dem JohEv kommentierend vorangestellt ist, läuft in seiner wachsenden Konkretisierung auf Jesus Christus zu, der in seiner Person der vorzeitliche, jetzt aber inkarnierte Logos ist. Dieser menschgewordene Logos hat „unter uns gewohnt“ (wörtlich: „gezeltet“; 1,14; vgl. Sir 24,3–1216). In ihm offenbart Gott seine göttliche Herrlichkeit, die auch dem einziggeborenen Sohn zukommt (1,14), da er an Gottes Seinsweise teilhat (1,1.18). Joh 1,14 bezieht die alttestamentlich-jüdische Schekhina-Theologie auf den Logos, der als Inkarnierter die praesentia dei vermittelt und inmitten der Menschen „gezeltet bzw. gewohnt hat“. Der solchermaßen ausgewiesene Sohn kann aus seiner intimen Vaterbeziehung heraus, Gott „auslegen“ (vgl. die „ikonische Konstellation“: der Sohn an der Brust des Vaters in 1,18; vgl. 13,23). Er ist der endzeitliche Exeget Gottes, in dem Gott selbst letztverbindlich spricht, in dem und durch den hindurch Gott sich selbst auslegt. Der Vater, der „im Geist und in der Wahrheit Anbetende sucht“ (4,23), wählt seinen geliebten Sohn Jesus Christus als ‚Ort‘ seiner enthüllend-verhüllten Gegenwart. Über dem Menschensohn Jesus Christus steigen die Engel auf und nieder (1,51) – er ist das wahre „Bet-El“ (vgl. Gen 28,10–22), das „Haus Gottes und das Tor des Himmels“ (Gen 28,17), der Ort seiner besonderen Gegenwart. Ausweislich der joh Interpretation der Tempel16 Sir 24,3–12 handelt von der Weisheit, die „für ihr Zelt einen Ruheplatz findet“ (V. 8) bzw. die „in Jakob ihr Zelt aufschlägt“ (V. 10) und überträgt so eine Gottes-Aussage auf die Sophia (vgl. Bar 3,38; äthHen 42,1–2).

2.  Johanneische Aussagen über die Gegenwart und Einwohnung Gottes

447

reinigung (2,13–22) erweist Jesus sich im „Heiligtum“ selbst als der „Tempel“ des lebendigen Gottes (vgl. den Erzählerkommentar 2,21: „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“).17 Die joh „Ich-bin“-Worte, die absolut („Denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich bin [egó eimi]…“; 8,24; vgl. 6,20; 8,28.58) oder mit prädikativen Erweiterungen (vgl. 15,1: „Ich bin der wahre Weinstock“) formuliert sein können, greifen die programmatische Selbstvorstellung Jahwes in Ex 3,14 und in Jes 43,10–11; 48,12 u. ö. auf. In diesen „Ich-bin“-Worten artikuliert sich eine Hoheit Jesu, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Jesus selbstbewusst die biblisch formulierte Selbstvorstellung Gottes neu für sich selbst gebraucht. Der im Johannesevangelium stark thematisierte Blasphemievorwurf gegen Jesus (vgl. 5,18; 10,33) trägt dem provozierenden Anspruch Jesu Rechnung. Auch in der Reaktion des Festnahmekommandos, das zurückweicht und zu Boden fällt, auf die Selbstidentifizierung Jesu „Ich bin (es)“ im Garten Getsemani spiegelt sich die Hoheit Jesu (vgl. 18,1–8). Der Evangelist Johannes kennt die aus jüdischer Perspektive vorgetragenen Einwände gegen die von ihm vertretene hohe Christologie; er thematisiert sie und setzt sich mit ihnen konstruktiv auseinander. Er sucht in seinem Evangelium eine Antwort zu geben, wie beides, der angestammte biblische Monotheismus und die hohen christologischen Aussagen, miteinander vereinbar sind.18 Zu dieser Antwort gehören die spezifisch joh Sendungschristologie, die joh Einheits-Aussagen (vgl. 10,30; 17,11.22) sowie die reziproken Einwohnungsaussagen. Die Einheits-Aussagen betonen die ununterscheidbare Übereinstimmung von Vater und Sohn hinsichtlich ihres Willens, ihrer Motivation und ihres Wirkens. Beide sind eins in der Liebe. Dennoch werden Vater und Sohn im JohEv nirgends miteinander identifiziert. Im Gegenteil: Vater und Sohn bleiben bei aller Zuordnung durchgehend unterschieden (unio distinctionis). Wie sich Johannes die enge, ihre Einheit begründende Relation zwischen Vater und Sohn vorstellt, wird in den reziproken Immanenz-Aussagen erhellt. Die Worte von der gegenseitigen Einwohnung werden mit „bleiben/wohnen“ (ménein) oder mit „sein“ formuliert. Mitunter wird durch die Formelhaftigkeit das Verb auch ganz ausgelassen. Folgende Beispiele seien genannt: 10,38 „damit ihr erkennt und wisst, dass der Vater in mir (ist) und ich im Vater (bin)“ 14,10 „Glaubst du nicht, dass ich im Vater und der Vater in mir ist? … Der Vater aber, der in mir bleibt, vollbringt seine Werke.“ 14,11 „Glaubt mir, dass ich im Vater (bin) und der Vater in mir (ist).“ 17,21 „damit alle eins sind, so wie du, Vater, in mir (bist) und ich in dir (bin)“

17  Vgl. weiterführend J. R ahner, „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“. Jesus von Nazaret als Ort der Offenbarung Gottes im vierten Evangelium, BBB 117 (1998) (vgl. die Rezension des Verfassers in dieser Zeitschrift: BiLi 73 [2000], 78 f ). 18 Vgl. U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 22000; Ders., Monotheismus und Christologie, JBTh 12 (1997), 87–97.

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1.  „Rabbi, wo wohnst du?“

Der Evangelist sieht das Vater-Sohn-Verhältnis als voranfängliche, bleibende Hinordnung des Sohnes auf den Vater und als Partizipation des Sohnes am Wesen Gottes (1,1.18; 8,58; 20,28). Der Sohn, dessen Speise es ist, den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat, und sein Werk zu vollenden (4,34), öffnet sich in rückhaltloser Ausrichtung auf Gott (Theozentrik). Er lässt sich ganz und gar von ihm bestimmen. Er gewinnt und konstituiert seine Existenz und Identität geradezu aus der Eingeborgenheit im Vater. Diese grenzenlose Offenheit des Sohnes für seinen Vater ist umgekehrt der geeignete Wirkraum für die Vergegenwärtigung des Vaters in seinem Sohn. Weil Jesus dem Wirken seines Vaters nichts entgegensetzt, kann sein Vater ebenfalls rückhaltlos in ihm und durch ihn wirken und sich so als liebender Vater offenbaren. Die joh Immanenz-Aussagen ermöglichen zugleich eine symmetrische und eine asymmetrische Aussage: Die Symmetrie besteht darin, dass der Sohn ganz im Vater gegenwärtig ist (= „bleibt“, „wohnt“, „ist“), wie auch der Vater ganz im Sohn gegenwärtig ist. Zugleich gilt aber auch eine asymmetrische, unumkehrbare Relation: Der im Vater immanente Sohn wird nicht selbst zum Vater, er bleibt durchgehend der vom Vater Gesandte, der ganz und gar von ihm Bestimmte. Und umgekehrt: Der ganz im Sohn immanente Vater bleibt durchgehend der Vater, der sich in seinem Sohn und durch seinen Sohn vergegenwärtigt. Der Evangelist konzipiert das Vater-Sohn-Verhältnis als eine wechselseitige Communio, die weder dem Vater noch dem Sohn etwas nimmt, sondern beide bereichert: Der Vater kann ganz im Sohn „wohnen“ bzw. „sein“ und sich durch ihn ungeteilt seiner Schöpfung zuwenden und der Sohn kann ganz im Vater „wohnen“ bzw. „sein“, ohne den Vater in seiner göttlichen Souveränität zu beschränken. Die joh Immanenz-Aussagen zwischen Vater und Sohn beantworten die erste Frage, die die Johannesjünger an Jesus stellen: „Rabbi, wo wohnst/bleibst du?“ (1,38). Es wäre ein arges Missverständnis, hier die relativ belanglose Frage nach der Adresse eines irdischen Wohnhauses angesprochen zu sehen. Die Jünger fragen vielmehr  – und darin korrespondiert ihre Frage der vorausgehenden Frage Jesu nach ihrer Lebenssuche: „Was sucht ihr?“ – nach der Identität Jesu, nach seinem Wohnort in einem übertragenen Sinn, der das Geheimnis seiner Person ausmacht. Sie fragen nach dem Lebensgeheimnis Jesu, aus dem heraus er lebt und wirkt. Die auf den Vater und den Sohn bezogenen Immanenz-Aussagen des JohEv weisen darauf hin, dass Jesus „im Vater wohnt“, dass er aus einer unergründlichen Verwurzelung im Vater lebt, dass er vom Willen und der Liebe seines Vaters ganz und gar bestimmt ist und sich von diesem senden lässt. Diese existenzbegründende Eingeborgenheit im Vater gibt dem Vater zugleich die Möglichkeit sich ganz im Sohn mitzuteilen, ganz in ihm gegenwärtig zu sein. In der Sendung des Sohnes, in seiner Inkarnation öffnet sich die im Wirken Jesu sich offenbarende Communio und Immanenz von Vater und Sohn für die glaubenden Menschen. Sie können an dieser Communio teilgewinnen, indem sie „bei Jesus bleiben/wohnen“ (1,39).

2.  Johanneische Aussagen über die Gegenwart und Einwohnung Gottes

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2.3  Der gewaltsame Tod Jesu – eine Katastrophe oder ein Segen? Das auf das Gottesvolk (und durch das Gottesvolk auf alle Menschen) gerichtete Sinnziel der Sendung und Herrlichkeitsoffenbarung Jesu wird durch die Ablehnung, ja die gewaltsame Tötung Jesu massiv infrage gestellt. Der „Weg“, den Jesus vorausgeht, scheint zur irreversiblen Trennung zu führen (vgl. 7,33–36; 8,21; 13,33.36–37; 14,5) Der frühe Tod Jesu zerstört die von ihm gewährte Lebens‑ und Wohngemeinschaft. Die Suche Maria von Magdalas nach dem toten Jesus am leeren Grab in 20,11–18 illustriert diese Katastrophe und spitzt sie zugleich weiter zu. Der Abschied und die Trennung Jesu von seinen Jüngern, den zu ihm Gehörenden (vgl. „den Eigenen“; 13,1; vgl. 1,10–12), „bei“ denen und „mit“ denen er zu seinen Lebzeiten war (1,39; 4,40; 7,33; 12,8; 14,25 u. ö.), ist gerade im JohEv die große Herausforderung. Die Antwort des vierten Evangeliums gibt besonders die Abschiedsrede Jesu in den Kapiteln 13–1719 in der sich die reziproken Einwohnungsaussagen nicht nur häufen, sondern diese bisher für die Vater-SohnBeziehung reservierte Sprache nun auch in einem kühnen theologischen Schritt auf die nachösterlich-neue Beziehung zwischen dem Sohn und den Glaubenden übertragen wird. Für die nachösterliche Zeit verheißt der Abschiednehmende die Präsenz und Wirksamkeit des „anderen Parakleten“ „bei und in“ den Glaubenden (14,16–17) sowie sein Kommen „zu“ den Glaubenden (14,18) und seine neue Gegenwart „in“ ihnen (14,20). Das JohEv deutet den Abschied Jesu gerade nicht als Katastrophe, sondern als Beginn einer neuen qualifizierten Heilszeit, die der vorösterlichen Zeit sogar überlegen ist. Durch die Vollendung seiner Sendung am Kreuz, die Jesus zur Auferstehung, Erhöhung und Verherrlichung führt, und die die grenzenüberwindende Sendung des Parakleten mit sich bringt, beginnt eine Zeit der neuen Gegenwart Jesu  – dessen, der jetzt zu Gott erhöht ist und so aus dem Geheimnis Gottes heraus den Glaubenden nahe sein kann. Diese neue Nähe des Auferstandenen bei seinen Jüngern und Jüngerinnen versprachlicht der Evangelist vorzugsweise mit den Einwohnungsaussagen, die er zuvor schon für die Beziehung zwischen dem Sohn und dem Vater verwendet hatte. Die nachösterlich gnadenhaft mögliche Beziehung zwischen Jesus und den Glaubenden hat Analogien mit der uranfänglich geltenden Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn. Dieser nachösterlichen neuen Wohngemeinschaft zwischen Jesus und den Glaubenden, in die auch der Geistparaklet und der Vater einbezogen werden, soll im Folgenden nachgegangen werden.

19 Vgl. hierzu weiterführend den Beitrag „Abschied und neue Gegenwart“, in diesem Band, S. 369–394.

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1.  „Rabbi, wo wohnst du?“

2.4  Freundschaft mit Jesus Christus als wechselseitige Einwohnung Das JohEv ist gänzlich aus nachösterlicher Perspektive geschrieben; es setzt den Osterglauben voraus und richtet sich an Christen, die selbst schon einen anfänglichen Glaubensweg zurückgelegt haben, deren Glauben aber der ständigen Vertiefung und Verlebendigung bedarf. Solchen Christen der zweiten und dritten Generation stellt der Evangelist im Prisma seines Evangeliums Begegnungsgeschichten und in diesen Glaubenswege vor Augen, in denen sie ihre eigenen Glaubenswege und ‑umwege wiedererkennen können. In diesem Sinne kennt das JohEv bei aller Unterscheidung der Zeiten (vorösterlich – nachösterlich) auch eine spezifische Verschmelzung der Zeiten. In den Worten des irdischen Jesus spricht immer auch schon der nachösterlich Erhöhte zu den Glaubenden, an die sich das JohEv wendet. Im Evangelium, in den Worten des Irdischen und Auferstandenen, besonders in seinen Abschiedsworten, spricht Jesus von der neuen Gemeinschaft mit ihm, die ihr Maß hat an der Gemeinschaft zwischen ihm und dem Vater (vgl. 14,10–11). Folgende Einwohnungsaussagen, die die Beziehung zwischen dem auferweckten Jesus und den Glaubenden beschreiben, seien genannt: 14,20 „An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich im Vater (bin) und ihr in mir (seid) und ich in euch (bin).“ 15,4 „Bleibt in mir und ich (bleibe) in euch. So wie die Rebe aus sich selbst keine Frucht bringen kann, wenn sie nicht im Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt.“ 15,5 „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt reiche Frucht …“ 17,21 „damit alle eins sind, so wie du, Vater, in mir (bist) und ich in dir (bin), damit auch sie in uns sind, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“

Um die auf die Glaubenden bezogenen joh Einwohnungsaussagen zu verstehen, ist es wichtig, auf die Verstehenswege und Erschließungssignale zu achten, die das JohEv selbst gibt: (1) Die reziproken Immanenz-Aussagen zwischen Jesus und den Glaubenden setzen die Sendung des Geistes, in joh Sprache des Parakleten, voraus. Nicht zufällig wird auch die Gegenwart des Geistparakleten mit den immanenztheologisch relevanten Präpositionen „mit“ (14,16), „bei“ und „in“ sowie den Verben „bleiben/ wohnen“ und „sein“ verwendet: 14,17 „… den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht aufnehmen kann, denn sie sieht ihn nicht und erkennt ihn nicht. Ihr aber erkennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird.“

Die nachösterliche Sendung und das Wirken des Geistes, der vorösterlich besonders auf Jesus selbst bezogen war (1,32–34; 8,39), bei und in den Glaubenden (vgl. 14,16–17.26; 15,26–27; 16,7–11.12–15) ist die Voraussetzung für das neue Kommen Jesu und des Vaters (14,18–19.23). Der Paraklet, der im JohEv durchgehend von dem auferweckten Kyrios unterschieden wird, ist als die Ostergabe

2.  Johanneische Aussagen über die Gegenwart und Einwohnung Gottes

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des Auferstandenen (7,38–39; 19,30; 20,22) die Möglichkeitsbedingung und das Medium für seine neue Gegenwart, die besonders als Einwohnung des Auferstandenen in den Glaubenden ausgelegt wird. Es „geht aus dem Vater hervor“ (15,26) und ist vom Vater (14,16.26) und vom Sohn (15,26; 16,7) „gesandt“. Sein Wirken ermöglicht die Integration der Glaubenden in die lebendige Communio von Vater und Sohn. Durch die „Neugeburt“ „aus Wasser und heiligem Geist“ in der Taufe (3,1–8) kann der österlich ausgegossene Geist seine innerlich und äußerlich lebensweckende und ‑bestimmende Kraft entfalten und seine Wegführungsfunktion für und in den Glaubenden übernehmen (vgl. 3,34; 7,38–39; 16,13; 20,22–23). Der „Wegführung“ des Geistes in die und in der ganzen Wahrheit (vgl. 16,13) verdankt sich auch das JohEv selbst. So wie es die Glaubenden auf das in die Gottunmittelbarkeit führende Wirken des Geistes verweist (vgl. Joh 6,44– 45; 7,38–39; 16,26–27; 1 Joh 2,20–21.26–27; 4,1–6), so verdankt es sich das JohEv selbst einem geistgeführten Prozess der nachösterlichen Anamnese und Vergegenwärtigung der Christusoffenbarung.20 (2) Im JohEv findet sich durchgehend die Denkfigur der Identität von Geber und Gabe. In den Gaben, die Jesus den Glaubenden gibt („Wahrheit“; „Wort(e)“; „Licht“; „Leben“; „lebendiges Wasser“; „lebendiges Brot“), gibt er nicht irgendetwas, sondern sich selbst (vgl. die „Ich-bin“-Worte: „Ich bin das Brot des Lebens“; „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ u. a. m.). Das Heil, von dem das JohEv spricht, ist letztlich personal, genauerhin christologisch bestimmt. In diesem Zusammenhang sind oftmals übersehene Immanenz-Aussagen im JohEv zu beachten, die die personalen Immanenz-Aussagen präfigurieren und in den joh Schriften sehr häufig begegnen. So können nichtpersonale Größen im Menschen „sein“ bzw. „bleiben“: 1,4 5,38 8,44 11,10

„das Leben in sich haben“ (vgl. 5,26) „sein Wort nicht bleibend in sich haben“ (vgl. 15,7; 1 Joh 2,14) „die Wahrheit nicht in sich haben“ (vgl. 1 Joh 1,8; 2,4) „das Licht nicht in sich haben“ (vgl. 12,35).

Umgekehrt können Menschen auch in abstrakten Größen „bleiben“: 12,46 8,31 15,9.10 2 Joh 4

„im Licht bzw. in der Finsternis wandeln/bleiben“ (vgl. 1 Joh 2,10) „im Wort bleiben“ „in der Liebe bleiben“ (vgl. 1 Joh 4,16) „in der Wahrheit wandeln“ (vgl. 3 Joh 3.4)

In der joh Anthropologie werden die Menschen vorgestellt als innerlich und äußerlich bestimmt von Heils‑ oder Unheilsmächten (Licht/Wahrheit – Finsternis/ Sünde). Beispielsweise versteht die joh Lichtmetaphorik21 den Menschen so, dass er sowohl „im Licht wandeln“ kann (= in dem Heilsraum, den das Licht erleuchtet und durchleuchtet; vgl. 8,12) wie auch das „Licht in ihm sein kann“ (= das Licht  Vgl. U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK IV (22000), 21. hierzu weiterführend O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995. 20

21 Vgl.

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1.  „Rabbi, wo wohnst du?“

als die ihn von innen bestimmende Heilskraft; vgl. 11,10). Mit dieser doppelten Bestimmung des Menschen durch den Heils‑ oder Unheilsraum, in dem er sich bewegt, und durch die Heils‑ oder Unheilskraft, die in ihm wirkt, ist eine wichtige Grundlage auch für die reziproke Personen-Immanenz gegeben, die ja für sich selbst genommen logisch widersprüchlich erscheint. Indem im joh Denken Gabe und Geber identifiziert werden, wird der Überstieg möglich von einer nichtpersonalen zu einer personalen Immanenz-Aussage. Beispielsweise: Wie in einem übertragenen Sinn Licht einen Menschen von innen erleuchten kann, so kann Jesus, „das Licht der Welt“ (8,12), Menschen von innen erleuchten. Und umgekehrt: So wie das Licht den Lebensraum, in dem ein Mensch sich bewegt, durchleuchtet und erhellt, so kann Jesus als „Licht der Welt“ in einem übertragenen Sinn der Lebensraum sein, in dem ein Mensch „im Licht“ leben kann. (3) Schon allein in der übereinstimmenden sprachlichen Formelhaftigkeit der reziproken Einwohnungsaussagen zwischen dem Sohn und den Glaubenden wird das ‚Vorbild‘ für diese Aussagen ablesbar: die Aussagen von der wechselseitigen Einwohnung von Vater und Sohn (vgl. 3.2.). Diese vorgängige und ursprüngliche reziproke Immanenz bildet den Kanon für die nachösterlich geschenkte reziproke Immanenz zwischen den Glaubenden und dem Auferstandenen. Dabei geht es nicht um eine Verschmelzung von Personen oder um einen Identitätstausch (etwa zwischen dem Sohn und den Glaubenden), sondern wie bei der Vater-SohnImmanenz um die Beschreibung und Bestimmung einer intensiven Beziehung, die eine Person innerlich und äußerlich prägt, die diese Person geradezu aufgrund und durch ihre Beziehung zu einer anderen Person konstituiert. In Analogie zu der Weise, wie der joh Jesus sich in uneingeschränkter Theozentrik für den Willen und die Sendung des Vaters öffnet und ihn uneingeschränkt erfüllt, so dass der Vater sich selbst ganz in seinem Sohn vergegenwärtigen kann, gilt: Der auferstandene Jesus kann durch diejenigen Glaubenden hindurch wirken und sich in ihnen vergegenwärtigen, die sich ihm in restlosem Vertrauen uneingeschränkt zuwenden. In analoger Weise zu der Eingeborgenheit Jesu in seinem Vater und der Gegenwart des Vaters in seinem gesandten Sohn gilt nach joh Zeugnis auch für die österlich Glaubenden: Ihnen wird sowohl eine Eingeborgenheit in dem vom Auferstandenen eröffneten personalen Heilsraum geschenkt als auch eine sie in ihrem Inneren bestimmende Gegenwart des Auferstandenen. Diese solchermaßen gedeutete Nähe zwischen dem Auferstandenen und den an ihn Glaubenden hebt eine grundlegende Asymmetrie nicht auf: Die Glaubenden werden nicht zum Sohn, sie bestimmen auch nicht den Sohn, sondern umgekehrt: In der sie umgebenen und sie innerlich prägenden Gegenwart des Auferstandenen werden sie, die Glaubenden, von ihm ausgerichtet, geführt und gestärkt. (4) Die oft als unanschaulich empfundenen joh Immanenz-Aussagen wachsen sprachlich und inhaltlich aus metaphorischen Bildfeldern hervor. Sie bilden keine erratischen Blöcke im Gesamt des Evangeliums. Das für die Immanenz-Aussagen bedeutendste Bildfeld ist die joh Haus‑ und Familienmetaphorik (vgl. bes.

2.  Johanneische Aussagen über die Gegenwart und Einwohnung Gottes

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1,11–13; 13,20; 14,2–3.23; 19,25–27).22 Mit dem auf den ersten Blick unscheinbaren Verb „aufnehmen“ (paralambánein) formuliert der Evangelist in Joh 1,11–13 die semantische Achse seiner Evangeliumsdarstellung:23 Das Kommen Jesu zielt auf „Aufnahme“ durch die Seinen; faktisch erfährt er jedoch weithin Aufnahmeverweigerung. Die verschiedenen Großszenen des JohEv drehen sich immer neu um diese durchgehende Grundkonstellation: Jesus kommt zu den „Eigenen“, im joh Sprachgebrauch ein Wort für die Herkunftsfamilie, die Verwandtschaft, wird aber von denen, denen er gerade nicht fremd sein sollte, nicht in die Hausgemeinschaft „aufgenommen“. Positiv hält 1,12–13 fest: Diejenigen, die ihn „aufnehmen“, bilden als Kinder Gottes die neue Familie Gottes, die um Jesus herum entsteht. Wenn es in der vielgedeuteten joh Szene unter dem Kreuz 19,25–27 heißt, der geliebte Jünger „nahm sie (die Mutter Jesu) in sein Eigen auf “ (19,27), dann wird hier ein klarer Bogen zu 1,11–13 gespannt. Unter dem Kreuz, im Moment, in dem Jesus seine Sendung „vollendet“, stiftet er die neue Familie Gottes, in dem er den geliebten Jünger als Sohn seiner Mutter zuordnet und ihn so zum Bruder adoptiert. Dieser vollzieht darauf hin genau das, worum es dem Evangelisten insgesamt geht: die „Aufnahme“ Jesu bzw. die „Aufnahme“ einer Person, die Jesus sendet, durch dessen „Aufnahme“ zugleich auch Jesus und mit ihm auch der Vater „aufgenommen“ werden (vgl. den Regelsatz 13,20). Im biblischen Sprachgebrauch meint „Aufnahme“ einen gemeinschaftsstiftenden Akt (vgl. nur Mt 1,20.24, wo es um die Aufnahme in die häusliche und eheliche Gemeinschaft geht). Ekklesiale Initiation wird im JohEv durch den terminus technicus „aufnehmen“ ausgehend von 1,11–13 familienmetaphorisch beschrieben. Das Drama, das das JohEv erzählt, liegt eben darin, dass diese „Aufnahme“ Jesu weithin verweigert wird, dass die angezielte familiäre Communio mit Jesus und durch ihn mit dem ihn sendenden Vater zurückgewiesen wird. Von dieser das gesamte JohEv durchziehenden Haus‑ und Familienmetaphorik (vgl. noch 8,30–36; 16,32) ist nun auch die joh Sprache der Einwohnung mitbestimmt. Ausweislich der ersten Frage Jesu an die Johannesjünger „Was sucht ihr?“ und ihrer Rückfrage „Rabbi, wo wohnst/bleibst du?“ (1,38) wird das Thema der menschlichen Suche nach Lebensinn, nach dem Ort Gottes, nach einem durch ihn möglichen ‚Wohnen‘ und ‚Bleiben‘ explizit ausgesprochen (vgl. 3.1.). In der Jüngerfrage nach dem ‚Wohnort‘ Jesu, nach seiner identitätsstiftenden Lebenswurzel, geht es auch schon um die Frage, ob die ‚Bleibe‘ Jesu auch für die Jünger bewohnbar ist, ob sie selbst mit ihrer Lebenssuche bei der ‚Wohnung‘ Jesu fündig 22  Vgl. J. G. Van Der Watt, Family of the King. Dynamics of Metaphor in the Gospel according to John, BIS 47, Leiden 2000; vgl. auch „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, in diesem Band, S. 205– 229; K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 3), 162–165.179–184.222–253. 23  Vgl. hierzu F. Muẞner, Die „semantische Achse“ des Johannesevangeliums. Ein Versuch, 1989, in: Ders., Jesus von Nazareth im Umfeld Israels und der Urkirche. Gesammelte Aufsätze, WUNT 111, Tübingen 1999, 260–269; aufgenommen und weitergeführt von K. Scholtissek, „Er kam in sein Eigentum – und die Eigenen nahmen ihn nicht auf “ (Joh 1,11). Jesus – Mittler und Ort rettender vita communis in Gott nach dem Johannesevangelium, GuL 72 (1999), 436–451; Ders., In ihm sein und bleiben (s. Anm. 3), 179–184.228–230.

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1.  „Rabbi, wo wohnst du?“

werden können. In dem ersten, vorläufigen „Kommen“ der Jünger, ihrem „Sehen, wo er wohnt/bleibt“ und ihrem „Bei-ihm-Bleiben/Wohnen“ (1,39) „finden“ sie tatsächlich, was sie gesucht haben (1,41.45). Dort, wo Jesus „wohnt“, finden auch sie Wohnung. Das gesamte JohEv erzählt, wie dieses Wohnung-Finden bei Jesus gelingen kann, welche Folgen es hat, welchen Widerständen und Missverständnissen es ausgesetzt ist, welche Hindernisse sich ihm entgegenstellen. Während des irdischen Lebens Jesu ist diese Communio mit ihm und durch ihn mit dem Vater noch sehr vorläufig, begrenzt und vom Tod Jesu totaliter infragegestellt. Nachösterlich jedoch wird die angestrebte Wohngemeinschaft mit Jesus im Vorgriff auf die endzeitliche Vollendung „im Haus des Vaters“ (14,2) in neuer, dichter Weise möglich.24 Davon spricht der erste Teil der joh Abschiedsrede in 14,1–31. Zwischen 14,2–3 und 14,23 wird ein Spannungsbogen aufgerichtet. 14,2 „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen (monai). Wäre es nicht so, hätte ich euch sonst gesagt: Ich gehe fort um euch einen Platz zu bereiten? 14,3 Und wenn ich gegangen bin und euch einen Platz bereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir aufnehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seid.“ 14,23 „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort bewahren, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung (monē) bei ihm nehmen.“

In Joh 14,2–3 verheißt Jesus in typisch joh Familienmetaphorik die endzeitliche Vollendung des menschlichen Lebens „in vielen Wohnungen im Haus des Vaters“. Dort werden die Glaubenden in Gemeinschaft mit Jesus „wohnen“, in Gemeinschaft mit dem, der sie dorthin „aufnimmt“. „Im Hause des Vaters“ ist eine Einwohnungsaussage, die veranschaulicht, wo die Glaubenden „wohnen“ werden: im Vater. Diese Zukunftsansage bleibt jedoch nicht rein zukünftig, ausschließlich reserviert für die ‚Zeit‘ nach dem Ende des menschlichen Lebens. Der Argumentationsverlauf der Abschiedsrede in Joh 14 zielt auf den Vers 23, indem diese vita communis der Glaubenden mit dem Sohn und dem Vater auch schon als vorgreifendes Geschenk für die nachösterliche Gegenwart verheißen wird: Dem Jesus Liebenden und sein Wort Bewahrenden wird schon im gegenwärtigen Leben die Liebe des Vaters als Wohngemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn („wir“) geschenkweise zuteil. In dieser Verheißung für die nachösterliche Zeit kommt die Lebens‑ und Wohnungssuche (vgl. 1,38) der Glaubenden zum Ziel. (5) Ein zweites herausragendes Bildfeld, das die joh Immanenz-Aussagen veranschaulicht, ist die Weinstockmetaphorik in 15,1–8. In der Zuordnung von Winzer (Vater), Weinstock (Jesus Christus) und Reben (die Glaubenden) wird ein dynamisches Gemeinschaftsbild evoziert: Als Reben sind die Glaubenden ganz und gar an den Weinstock verwiesen; ohne ihn können sie keine einzige Frucht bringen: 24 Zu dieser Auslegung vgl. J. Frey, Die johanneische Eschatologie III. Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten, WUNT 117, Tübingen 2000, 119–178; K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 3), 210–274.

2.  Johanneische Aussagen über die Gegenwart und Einwohnung Gottes

15,4 15,5

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„Bleibt in mir und ich (bleibe) in euch. So wie die Rebe aus sich heraus keine Frucht bringen kann, wenn sie nicht im Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts vollbringen.“

Die in Joh 14 familienmetaphorisch grundierten Einwohnungsaussagen werden in 15,1–8 vertieft ausgelotet. Dazu wird das den Lesern des JohEv längst vertraute und inhaltlich aufgeladene Verb „bleiben/wohnen“ (menein) erneut aufgegriffen und in einem neuen metaphorischen Kontext verwendet: Das Bild von der engen Anbindung der Reben an den Weinstock ist in sich anschaulich und bedarf keiner langatmigen Erklärungen. Ohne den Weinstock kann die Rebe keine Früchte bringen, sie verdorrt sehr schnell und stirbt. Wenn die Lebensader der Reben nicht in den Weinstock führt und aus ihm ihre Nahrung bezieht, sind die Reben dahin. In analoger Weise gilt dies für die Notwendigkeit und Intensität der Christusbeziehung der Glaubenden. Ohne eine tiefe Verwurzelung in dem ihnen alle Lebenskraft spendenden Christus gehen sie verloren. Es fällt auf, dass mit den reziproken Immanenz-Aussagen das metaphorische Bildfeld gesprengt wird. Das Bildfeld vom Weinstock kann zwar die Einbindung der Reben in den Weinstock veranschaulichen, die umgekehrte Aussage jedoch in 15,4a „Bleibt in mir und ich (bleibe) in euch“ widerspricht dem Bild: Der Weinstock selbst kann nicht in den Reben bleiben, wohl aber die von ihm ausgehende Lebenskraft, die in der intendierten Sachaussage Jesus Christus selbst ist (insofern er als Geber mit der Gabe identisch ist). Dieser Überstieg über die gewählte Metaphorik zeigt, dass der Evangelist das Weinstockbild in den Dienst seiner Aussageabsicht stellt. Nicht das Bild bestimmt seine Aussage, sondern von seiner Aussageintention her wählt und verwendet er das Bild, das gut in der Lage ist, wesentliche Aspekte der gegenseitigen Einwohnung zwischen Jesus Christus und den Glaubenden zu veranschaulichen. Neu gegenüber den Einwohnungsaussagen in Joh 14, die als indikativische Zusagen formuliert sind, ist in Joh 15,1–17 die Verwendung von Imperativen: „Bleibt in mir …!“ (15,4 u. ö.). Die sich in 15,1–17 häufenden Imperative verweisen nicht auf eine in Joh 14 noch nicht vorhandene ethische Konditionierung der den Glaubenden zugesagten ‚Wohngemeinschaft‘ mit dem Auferstandenen und durch ihn mit dem Vater. Diese Imperative erklären sich aus einem anderen Grund: Die nachösterlich zugesagte wechselseitige Einwohnung ist keine Magie, kein verfügbarer Besitz, keine statisch-leblose Wahrheit. Im Gegenteil: Die vita communis mit dem Sohn und dem Vater ist eine lebendige Gemeinschaft, in der das Maßnehmen an der in Jesus Christus erwiesenen Liebe und Freundschaft gilt. Die im Glauben gewonnenen ‚Aufnahme‘ in das Kraftfeld der in Jesus Christus wirksamen Gottesliebe entspricht im JohEv ein „Bleiben in Christus“, das nur im je neuen Vollzug bewahrt werden kann. Mit anderen Worten: Die Gabe des Lebens für die Glaubenden, also die Selbst-Gabe des Lebens, das Jesus in seiner Person ist

456

1.  „Rabbi, wo wohnst du?“

(14,6), schließt zugleich die Auf-Gabe ein, diese Lebens-Gabe durch das „Bleiben in Jesus Christus“ zu bewahren und zu bezeugen. Die Aufforderung, „in Christus zu bleiben“, ruft die Glaubenden zur rückhaltlosen Willens‑ und Handlungskonformität mit dem Erhöhten, an dessen Lebensfülle sie teilhaben können. In diesem Sinne haben „Glauben“ und „Bleiben“ im JohEv Prozesscharakter, sie verweisen auf die in die je neue Zukunft hin offenen Wege, die im Vertrauen auf die Wegführung Gottes angenommen und bewältigt sein wollen. Inhaltlich wird diese Auf-Gabe in 15,9–17 in den Themen Liebe und Freundschaft entfaltet. (6) Auf den ersten Blick abrupt, bei genauerem Hinsehen jedoch konsequent schließen sich an die von der Weinstockmetaphorik geprägten Verse 15,1–8 die Worte Jesu über Liebe und Freundschaft an (15,9–17). Diese Worte sind als Äquivalente und Deutungen der Einwohnungsaussagen in Joh 14,1–27 und 15,1–8 zu verstehen. Zusammen mit den ihnen vorausgehenden metaphorischen Aussagen klären sie wichtige Inhalte und Vollzugsgestalten der wechselseitigen Einwohnung: 15,9 „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!“

Dieser Vers, der das Verb „bleiben“ aus 15,1–8 aufnimmt, parallelisiert das „Bleiben in Jesus“ mit dem „Bleiben in seiner Liebe“. Auch wenn im JohEv nirgends gesagt wird, dass Jesus die Liebe ist (vgl. aber in 1 Joh 4,8.16: „Gott ist die Liebe“), beansprucht Jesus in 15,9–17 die Liebe seines Vaters, aus der er lebt, selbst an die Glaubenden liebend weiterzugeben (15,9) und in seiner Lebenshingabe die höchste Form der Liebe zu verwirklichen: 15,13 „Eine größere Liebe hat niemand als diese, dass er sein Leben hingibt für seine Freunde.“

Die Freundesliebe, von der Jesus hier spricht, hat ihr Maß nicht an Grundsätzen einer allgemeinen ethischen Rationalität (so wenig das Tun und die Forderung Jesu dieser widersprechen muss), sondern an der tatsächlichen Lebenshingabe Jesu aus Liebe zu den Jüngern (vgl. 13,1). Die Liebe des Vaters, die in der freiliebenden Lebenshingabe des Sohnes die Glaubenden erreichen will, sucht antwortende, mitliebende Menschen,25 sucht Freunde Jesu, die an der ihnen erwiesenen Freundschaft Maß nehmen: 15,12 „Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe.“

Nicht die Unmündigkeit eines Knechtes, sondern die mündige, gereifte und reifende Freundschaft ist das Sinnziel der Liebe Jesu (15,15), die darauf drängt, bleibende Früchte zu bringen (15,16).

25 Vgl. hierzu den Versuch: K. Scholtissek, Ein Vater, der Mit-Liebende sucht. Beobachtungen zum johanneischen Gottesbild, das prisma. Beiträge zu Pastoral, Katechese & Theologie 11 (1999), 25–31.

2.  Johanneische Aussagen über die Gegenwart und Einwohnung Gottes

457

(7) Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71 nennt eine weitere für das JohEv bedeutsame Verortung der wechselseitigen Einwohnungsaussagen – die in der Abendmahlsfeier ermöglichte sakramentale Kommunion mit dem Auferstandenen:26 6,56 „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich (bleibe) in ihm.“

Die dem eucharistischen Teil der Brotrede vorausgehenden Dialoge handeln von der Kontroverse, wo und wer das „lebendige Brot“ gibt bzw. selbst ist (vgl. 6,22– 51), und darin von der Antwort und dem Anspruch Jesu, in persona das Brot des Lebens zu sein („Ich bin das Brot des Lebens“; 6,35). Die Partizipation an diesem „Brot des Lebens“, an dem durch die Sendung Jesu (seine Fleischwerdung und Todeshingabe) erwirkten Heil, die Partizipation an dem ewigen Bleiben Gottes (6,27), setzt einen von Kurzschlüssen und Missverständnissen befreiten ChristusGlauben voraus und wird durch einen im Glauben ergriffenen sakramentalen Vollzug (6,51–58) und durch ein bekennendes Bleiben bei Jesus (vgl. 6,60–71) möglich. Die Eucharstiefeier ist ein herausragender Ort, wo Jesus sich selbst („mein Fleisch“ und „mein Blut“ stehen metonym für Jesus selbst) den Glaubenden schenkt. Eine im Glauben vollzogene eucharistische Communio mit dem Sohn bewirkt und erneuert die wechselseitige Einwohnung zwischen Christus und den Christen und stellt eine in der Gemeinschaft der Glaubenden und Bekennenden vollzogene Gestalt ihrer lebendigen, auf Wachstum angewiesenen Christusbeziehung dar. 2.5  Jesus Christus und die Christen: eine tiefgründige Begegnung und Beziehung Das vierte Evangelium ist das Evangelium der Begegnungen und Beziehungen. Über die Erzählfertigkeit und theologische Erschließung der Jesusüberlieferung in den drei synoptischen Evangelien hinaus gelingt es dem Evangelisten Johannes, die Begegnungen zwischen Jesus und sehr verschiedenen einzelnen Menschen in neuer Tiefe auszuloten und für die Lesenden als paradigmatische Identifikationsangebote für ihre eigenen Glaubens‑ und Lebenswege vorzustellen. Die joh Begegnungsgeschichten werben dafür, die je eigene, unverwechselbare Christusbegegnung im Licht der im JohEv erzählten Christusbegegnungen zu sehen und zu verstehen. Die im JohEv erzählten Christusbegegnungen gehen von anthropologischen Ursituationen aus (Geburt, Hunger, Durst, Krankheit, Tod, Hochzeiten, Feste) und greifen darin die menschliche Sehnsucht und Suche nach Heil, gelingendem Leben, nach Licht, nach Sinn und Beheimatung in Gott, dem Geheimnis des Lebens, auf. Diejenigen, die sich in eine Christusbegegnung führen lassen bzw. denen eine Christusbegegnung geschenkt wird, werden auf einen Glaubensweg gestellt, der sie über kurzschlüssige Vereinnahmungen, Missverständnisse und 26 Vgl. „Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71“, in diesem Band, S. 257–278; Ders., In ihm sein und bleiben (s. Anm. 3), 194–210.

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1.  „Rabbi, wo wohnst du?“

ironische Rollenwechsel hinweg zu einem reifen, mündigen und zeugnisfähigen Christusglauben (vgl. der Blindgeborene in Joh 9) führt. Das durch den Abschied und Tod Jesu bedingte Ende der Begegnung mit dem irdischen Jesus bewältigt der Evangelist, indem er die durch die Auferstehung Jesu, seine Erhöhung und die Geistsendung qualifizierte nachösterliche Zeit als Zeit einer neuen, intensiveren Christusbeziehung deutet. Diese Christusbegegnung und ‑beziehung wird vorzugsweise in den reziproken Einwohnungsaussagen artikuliert, die tief in der theologischen Linienführung des Evangelisten verankert sind (vgl. 3.4.). So spricht der Evangelist von einer nachösterlich möglichen ‚Wohngemeinschaft‘ zwischen dem Vater, dem Sohn und den Christen (14,23), die er auch als Freundschaft und antwortende Liebe buchstabiert. Glauben im Sinn des JohEv ist der Eintritt in denjenigen Lebensreichtum, der in der lebendigen ChristusFreundschaft gründet und in ihr besteht. Die joh Begegnungsgeschichten zeigen, wie Menschen in der Begegnung mit Jesus fündig werden können, wie sie von ihm selbst zur tieferen Gottes‑, Christus‑ und Selbsterkenntnis geführt werden, wie sie in der Begegnung mit Jesus menschlich und geistlich reifen und wachsen. Indem der Evangelist Jesus als denjenigen zeichnet, der mystagogisch ihm begegnende Menschen in das Geheimnis Gottes und seiner selbst führt, erweist er sich selbst als auch Mystagoge, der nicht sich selbst, sondern Jesus Christus, dem „Exegeten Gottes“ (1,18), den Weg bereitet. Im Vorgriff auf die vollendete Heilswirklichkeit, dem Wohnen mit dem Sohn in den Wohnungen des Vaters (14,2–3), gilt für glaubende und liebende Christen die Zusage einer doppelstrukturierten Gottes‑ bzw. Christuserfahrung: das Eingeborgen‑ und Getragensein in Jesus Christus, der selbst ganz im Vater lebt und in dem der Vater gegenwärtig ist, und zugleich die wirkmächtige Gegenwart des Auferstandenen im Innern, im tiefsten Grund der Glaubenden. Diese an der VaterSohn-Beziehung geschulte Beziehung der Glaubenden zu Jesus Christus und durch ihn zum Vater im Heiligen Geist ist weder quietistisch noch narzisstisch, sie begründet auch keine magische Verfügbarkeit, sondern sie stellt die christlich Glaubenden in eine von ‚innen‘ und von ‚außen‘ getragene Christus‑ und Gottesbeziehung, die sie aus ihrer je eigenen Gottunmittelbarkeit heraus sendet und ihnen so in der Gemeinschaft der Kinder Gottes und Freunde Jesu teilgibt an der Sendung Jesu zur Rettung der Welt (3,16–17).

2.  Mystik im Johannesevangelium? Reflexionen zu einer umstrittenen Fragestellung 1.  Einführung und Fragestellung Es hat viele Versuche gegeben, das Proprium des vierten Evangeliums zu beschreiben: Klemens von Alexandrien sprach von einem „pneumatischen Evangelium.“1 Augustinus verglich den Evangelisten mit einem Adler, der in die Sonne zu sehen vermag (comtemplator lucis internae atque aeternae; Aug. in Joh 36,5). Im 20. Jahrhundert beanspruchten religionsgeschichtliche (bes. Gnosis), sozialgeschichtliche (das JohEv als Zeugnis einer Randgruppe im Urchristentum) und unzählige literarkritische Versuche, die formale, inhaltliche und sprachliche Architektur und Komposition des JohEv zu entziffern bzw. zu entschlüsseln. Die jüngste Johannesforschung ruht auf diesen Vorarbeiten  – auch wenn sie diese im erheblichen Maße in Frage stellt.2 Nach Ansicht des Verfassers lässt sich das JohEv als reife Frucht eines urchristlichen Fortschreibungsprozesses3 verstehen, in dem der Rückblick auf das Wirken und Geschick Jesu sowie die Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi zu einer Synthese finden, die die Sendung Jesu vor‑

1  Vgl. Eus. h.e. 6,14,7: „Zuletzt Johannes, als er sah, dass die leiblichen Dinge (τὰ σωματικὰ) in den Evangelien bekanntgemacht worden waren, verfasste er, ermahnt von den Freunden (προτραπέντα ὑπὸ τῶν γνωρίμων) und vom Geist inspiriert (πνεύματι θεοϕορηθέντα), ein geistliches Evangelium (πνευματικὸν εὐαγγέλιον)“ (Übersetzung von M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch [mit einem Beitrag zur Apokalypse v. J. Frey], WUNT 67, Tübingen 1993, 116). 2  Vgl. den umfassenden Forschungsüberblick von J. Frey, Die johanneische Eschatologie I. Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1997; vgl. auch die Forschungsberichte: K. Scholtissek, Johannes auslegen I. Forschungsgeschichtliche und methodische Reflexionen; II. Methodische, hermeneutische und einleitungswissenschaftliche Reflexionen; SNTU 24 (1999), 35–84; 25 (2000), 98–140; Ders., Neue Wege in der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I–II, ThGl 89 (1999), 263–295; 91 (2001), 109–133; Ders., Eine Renaissance des Evangeliums nach Johannes. Aktuelle Perspektiven der exegetischen Forschung, ThRv 97 (2001), 267–288. 3  Vgl. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/1–4 I (71992), II (41985), III 6 ( 1992), IV (31994), hier I, 2; C. M.  Martini, Christliche Initiation und Fundamentaltheologie. Erwägungen zu den Stufen des christlichen Reifeprozesses in der Urkirche, in: R. Latourelle / ​ G. O’Collins (Hgg.), Probleme und Aspekte der Fundamentaltheologie, Leipzig 1985, 83–89; Ders., Damit ihr Frieden habt. Leben und glauben nach dem Johannesevangelium, HerBü 1766, Freiburg i. Br. 1992.

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2.  Mystik im Johannesevangelium?

wie nachösterlich ausleuchtet (Kontinuität, Zäsur und Verschmelzung der Zeiten im JohEv4).5 Die folgenden Ausführungen nehmen eine Fragestellung auf, die in der Johannesforschung eher am Rande begegnet und vielfach mit Skepsis und Distanz betrachtet wird: Ist es textgemäß und macht es Sinn, den Begriff Mystik für das Johannesevangelium bzw. genauer: für bestimmte Aussagen des JohEv zur Anwendung zu bringen? Gebieten nicht schon der verschwommene Begriff und seine vielfältige Instrumentalisierung äußerste Zurückhaltung? Ist Mystik nicht ein Phänomen, das sich dem reflektierend-rationalen Zugriff per definitionem entzieht? Diese Einwände werden hier sehr ernst genommen und nicht überspielt. Die hier geführte Auseinandersetzung, die forschungsgeschichtliche Rückfrage und die hermeneutische wie exegetische Diskussion weiß sich dem Ziel verpflichtet, bestimmte Aussagen im JohEv in dem Sinne zu verstehen, wie sie von ihrem Autor intendiert sind – vorbehaltlich der zeitlichen Distanz und der allem Erkenntnisinteresse eigenen Begrenzungen. Der Terminus Mystik ist notorisch umstritten.6 Vorgeschlagene Definitionen differieren derart erheblich, dass manche Autoren deshalb ganz auf eine MystikDefinition verzichten. Auch der gegenwärtige ‚Mystik‘-Boom trägt zusätzlich zu einem Verschwimmen einer sinnvollen Bestimmung bei. Zudem verstärkt das popularisierte Verständnis, das Mystik mit außerordentlichen bzw. elitär-verschrobenen Ausnahmegeschehnissen wie Visionen, Auditionen oder Elevationen verbindet, mit gutem Recht die Reserve gegenüber einer leichtfertigen Verwendung des Begriffs Mystik. Gleichwohl kann eine abgesicherte Definition und Verwendung des Begriffs Mystik für die Interpretation bestimmter Aussagen des JohEv (vgl. besonders die Immanenz-Aussagen) heuristisch hilfreich und weiterführend sein – so die hier versuchsweise vertretene These. Walter Beierwaltes gibt zur Verteidigung des Begriffs Mystik zu bedenken: „Man muss sich Begriffe, die durch ihren Gebrauch 4  Vgl. Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996; „Abschied und neue Gegenwart“, in diesem Band, S. 369–394; J. Frey, Die johanneische Eschatologie II. Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 110, Tübingen 1998. 5 Vgl. hierzu weiterführend K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000, 131–139. 6 Vgl. neben O. Steggink, Art. „Mystik“, PLSp (1988/1992), 904–910; zuletzt den nach Disziplinen gegliederten Artikel „Mystik I.–VII.“, LThK3 7 (1998), 583–597 (Lit.). Vgl. einführend W. Beierwaltes / ​H . U. V.  Balthasar / ​A . M.  Haas, Grundfragen der Mystik, Kriterien 33, Einsiedeln 1974; J. Sudbrack, Mystik. Selbsterfahrung – Kosmische Erfahrung – Gotteserfahrung, Mainz 1–21988, bes. 17–29 (ebd. 29 betont der Verf. den „personalen Charakter des Herzens aller Mystik“), und den Überblick zum Stand der Mystikforschung bei A. M.  Haas, Mystik als Aussage. Erfahrungs‑, Denk‑ und Redeformen christlicher Mystik, stw 1196, Frankfurt a. M. 1996 (Lit.). Vgl. auch M. Plattig, Spiritualität und Mystik. Zwischen modischer Zauberformel und theologischem Begriff – Spurensuche, ThRv 96 (2000), 265–290.

1.  Einführung und Fragestellung

461

verbogen, beschädigt oder in ihrem ursprünglichen Sinne verdeckt sind, nicht einfach nehmen lassen.“ 7 Forschungsgeschichtlich bedeutsam hatte sich die Frage nach einer neutestamentlichen Mystik an der paulinischen Wendung „in Christus“ entzündet.8 Diese Diskussion wurde zuletzt von Hans-Christoph Meier neu aufgenommen9 und ließe sich darüber hinaus fortführen. Einige neuere Beiträge stellen die partizipatorische Christologie des Paulus10 ans Licht und gewinnen so einen vielversprechenden Schlüssel zum Verständnis der Christusgemeinschaft bei Paulus. Exegetische Grundlagen des paulinischen Verständnisses von κοινωνία verdankt die neutestamentliche Forschung Josef Hainz, der das Moment der Partizipation in die Definition von κοινωνία aufnimmt: „Gemeinschaft (mit jemandem) durch (gemeinsame) Teilhabe (an etwas).“11 Terminologisch verweist μυέω („einweihen“) auf die antiken Mysterien:12 „Der mystikos bedarf der Einweihung in den esoterisch geheimnisvollen Bereich.“13 Neutestamentlich begegnet μυέω nicht im JohEv, wohl aber in Phil 4,12 (vgl. auch 3 Makk 2,30; Weish 8,414) – einer markanten Stelle: Paulus spricht in Phil 4,11–13 von seinen Lebenserfahrungen: Armut und Reichtum, Sattsein und Hunger, Überfluss und Not: „in jedes und in alles bin ich eingeweiht (μεμύημαι)“. Wenn er hier bewusst einen terminus technicus der Mysteriensprache (vgl. auch Philo, sacr. Abel. 62; Jos Ap 2,267) aufnimmt, stellt er doch zugleich klar, von wem her und durch wen er auf genau diesem Erfahrungsweg „eingeweiht ist“: „alles vermag ich in dem mich Ermächtigenden (ἐν τῷ ἐνδυναμοῦντί με)“ (Phil 4,13; vgl. 4,10:  7  W. Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3. Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen, Frankfurt a. M. 1991, 103.  8  Vgl. hierzu die Arbeiten von A. Deissmann, Die neutestamentliche Formel „in Christo Jesu“, Marburg 1892; A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 21954; A. Wikenhauser, Die Christusmystik des Apostels Paulus, Freiburg i. Br. 21956.  9  Vgl. H.-Ch. Meier, Mystik bei Paulus. Zur Phänomenologie religiöser Erfahrung im Neuen Testament, TANZ 26, Tübingen 1998. 10  Vgl. J. D. G.  Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids 1998, 317–441; K. Backhaus, „Mitteilhaber des Evangeliums“ (1 Kor 9,23). Zur christologischen Grundlegung einer „Paulus-Schule“ bei Paulus, in: K. Scholtissek (Hg.), Christologie in der Paulus-Schule. Zur Rezeptionsgeschichte des paulinischen Evangeliums, SBS 181, Stuttgart 2000, 46–71. 11  J. Hainz, Art. „κοινωνία κτλ.“, EWNT 2 (21992), 749–755, hier 751; vgl. Ders., Koinonia. „Kirche“ als Gemeinschaft bei Paulus, BU 16, Regensburg 1982; Ders., Κοινωνία bei Paulus, in: L. Bormann u. a. (Hgg.), Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World (FS D. Georgi), NT.S 74, Leiden 1994, 375–391. 12  Vgl. zur Einführung in die antiken Mysterienkulte H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums I. Stadt‑ und Hausreligion, Mysterienkulte, Volksglaube, KStTh 9,1, Stuttgart 1995, 77–128. 13  M. Burger, Weltwirksamkeit aus Mystik, in: A. Hölscher / ​R . Kampling (Hgg.), Glauben in Welt, Berlin 1999, 55–80, hier 55; vgl. P. Heidrich, Art. „Mystik/mystisch“, HWP 4 (1984), 268–273. 14 Nach C. Larcher, Le livre de la Sagesse ou La Sagesse de Salomon I–III, EtB.NS 1, Paris 1982–1985, hier II 523, begegnet μύστις in Weish 8,4 – als Ableitung von μύστης – wohl erstmalig in der Gräzität; vgl. auch H. Hübner, Die Weisheit Salomons, ATD 4, Göttingen 1999, 115.

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2.  Mystik im Johannesevangelium?

„im Herrn“ [ἐν κυρίω]).15 Das tertium comparationis zwischen der Mysterien­ weihe und dem christlichen Glaubensweg sieht Paulus weder in der Gottheit bzw. einem göttlichen Geheimwissen, noch in den konkreten Umständen des Weges  – in diesen beiden Hinsichten gibt es keine Schnittmengen  –, sondern formal (nicht inhaltlich) im Blick auf die Erfahrung: Paulus erfuhr in all den gegensätzlichen Lebensumständen (vgl. Phil 4,11–12) Gottes Kraft bzw. die Kraft des auferstandenen und erhöhten Kyrios – eine Erfahrung, die Paulus in 2 Kor 12,5–10 und darüber hinaus durchgehend in der Verteidigung seines Apostolates in 2 Kor entfaltet und reflektiert.16 Die folgenden Ausführungen können vieles nur andeuten und formulieren daher oft thetisch. Sie gehen den bei Paulus erkennbaren Spuren (vgl. Phil 4,11– 13) im Blick auf das JohEv nach: Die Forschungsgeschichte lässt Hypotheken erkennen, die die Sicht verstellen können (vgl. 2). Der folgende Abschnitt fragt spiritualitätsgeschichtlich und systematisch nach einer angemessenen Definition von christlicher Mystik (vgl. 3). Dann versuche ich eine Annäherung zwischen den joh Immanenz-Aussagen und mystischer Glaubenserfahrung (vgl. 4). Eine kurze Auswertung schließt diesen Versuch zur Mystik im JohEv ab (vgl. 5).

2.  Forschungsgeschichtliche Aspekte In der Forschungsgeschichte17 sind eine Reihe von Vorurteilen und Hypotheken erkennbar, die sich durchaus abtragen lassen: (1) Das Wort Mystik oder mystisch wird in verschiedenen Zusammenhängen pejorativ verwendet: (a) Immanuel Kant versteht Mystik als Schwärmerei und setzt beides der Vernunft entgegen.18 Gegen dieses Fehlurteil und seine Wirkungsgeschichte wenden sich ausführlich die Forschungsbeiträge von Alois M. Haas.19 (b) Die Enzyklika Divino afflante Spiritu Papst Pius XII. (1943) wendet sich gegen eine „mystische“ Schriftauslegung, die den behaupteten ‚geistlichen Sinn‘ der Schrift gegen ihren Literalsinn auszuspielen gewillt war (vgl. DH 3827 f; vgl. 3792– 3796). (c) Vertreter der Dialektischen Theologie wie Karl Barth deuteten „Mystik“

 Vgl. die Auslegung von J. Gnilka, Der Philipperbrief, HThK X /3, Freiburg i. Br. 1968, 175 f.  Ein wertvoller Mosaikstein der paulinischen Sicht auf das „mit dem Geist des lebendigen Gottes … in fleischerne Herzen geschriebene“ Evangelium Christi Jesu findet sich in 2 Kor 3,1–3; vgl. hierzu die eigene Auslegung: K. Scholtissek, „Ihr seid ein Brief Christi“ (2 Kor 3,3). Zu einer ekklesiologischen Metapher bei Paulus, BZ 44 (2000), 183–205. 17  Vgl. hierzu H.-Ch. Meier, Mystik (s. Anm. 9), 3–18 (Lit.). 18  Vgl. I. Kant, Das Ende aller Dinge, in: Ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. 1. Teil (Bd. 9), Darmstadt 51983, 184 f: „Darüber gerät nun der grübelnde Mensch in die Mystik …, wo seine Vernunft sich selbst und was sie will, nicht versteht, sondern lieber schwärmt, als sich, wie es einem intellektuellen Bewohner einer Sinnenwelt geziemt, innerhalb der Grenzen dieser eingeschränkt zu halten.“ 19  Vgl. A. M.  Haas, Mystik als Aussage (s. Anm. 6) passim. 15 16

2.  Forschungsgeschichtliche Aspekte

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als subtilen Versuch, die unüberbrückbare Differenz von Gott und Mensch aufzuheben bzw. aus eigenem Antrieb zu überwinden.20 Diese exemplarisch angeführten Stimmen richten sich jeweils gegen bestimmte Positionen, die sie zu Recht kritisieren. Freilich bleibt zu fragen, ob sie nicht Fehlformen und subjektive Vereinseitigungen von Mystik treffen – nicht aber die mystischen Glaubenserfahrungen, die den christlichen Glaubensweg von Beginn an und durch die Jahrhunderte hindurch charakterisieren (vgl. 3). (2) Die Religionsgeschichtliche Schule hatte eine ganze Reihe neutestamentlicher Texte in die Nähe der Mysterienreligionen21 und ihrer ekstatischen Verschmelzungs‑ und Einheitsvorstellungen gerückt (vgl. Richard Reitzenstein;22 Wilhelm Bousset23).24 Das Neue Testament und hier das JohEv seien von diesem hellenistischen Mystikkonzept beeinflusst. Charles H. Dodd spricht z. B. von einer Sublimierung der Eschatologie durch Mystik im JohEv.25 Die berechtigte Kritik an diesem religionsgeschichtlichen Urteil (vgl. R. Bultmann) blieb freilich dem antieschatologischen, hellenistisch gefärbten Mystik-Begriff selbst verhaftet und führte deshalb zu der grundsätzlichen Ablehnung, mit Blick auf das Neue Testament von Mystik zu sprechen.26 Tatsächlich ist die in der religionsgeschichtlichen Schule vorausgesetzte Entgegensetzung von Mystik und Naherwartung bzw. Eschatologie eine ganz erhebliche Engführung, zumal wenn Mystik nicht hellenistisch, sondern biblisch-christlich gedeutet wird. Mit Recht weist Klaus Berger darauf hin, dass Mystik und Naherwartung eben nicht in Konkurrenz zueinander stehen:

20 Vgl. die Belege bei B. Neuenschwander, Mystik im Johannesevangelium. Eine hermeneutische Untersuchung aufgrund der Auseinandersetzung mit Zen-Meister Hisamatsu Shin’chi, BIS 31, Leiden 1998, 19 f; vgl. weiterführend N. Klimek, Der Begriff „Mystik“ in der Theologie Karl Barths, KKTS 56, Paderborn 1990. 21  Vgl. hierzu Anm. 12. 22  Vgl. R. Reitzenstein, Das iranische Erlösungsmysterium. Religionsgeschichtliche Untersuchungen, Bonn 1921; Ders., Die hellenistischen Mysterienreligionen  – nach ihren Grundgedanken und Wirkungen, Leipzig 31927. 23  Vgl. W. Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus, Göttingen 21921. 24 Vgl. hierzu die forschungsgeschichtlichen Durchblicke bei J. Frey, Die johanneische Eschatologie I (s. Anm. 2), bes. 45 f.73 f.246–254.260. 25 Vgl. die Vorstellung und Kritik der Position von Ch. H.  Dodd bei J. Frey, ebd. 247–251 („Die Verwandlung der Eschatologie in die Sprache der hellenistischen Mystik“). Forschungsgeschichtlich schlossen sich an diese Betonung einer gegenwartsorientierten hellenistischen Mystik Versuche an, die eine geschichtsorientierte jüdische Eschatologie als Hintergrund ‚mystischer‘ Passagen erkennen wollten. 26  Vgl. die Bilanz der Wirkungsgeschichte der Bultmannschen Johannesinterpretation bei J. Frey, ebd. 260: „Bultmanns Einfluss zeigt sich weiter in der Durchsetzung der Terminologie des ‚Eschatologischen‘ auch für das im Wirken Jesu gegenwärtige Heilsgeschehen sowie in dem (jedenfalls für die protestantische Forschung in Deutschland) fast allgemeinen Verzicht auf die Rede von ‚Enteschatologisierung‘ und ‚Mystik‘.“

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2.  Mystik im Johannesevangelium?

„Mystik ist das Korrelat zur Naherwartung; im Unterschied zur Naherwartung geht es bei Mystik nicht um die zeitliche, sondern um die räumliche und personale Nähe Gottes … Mystik schließt eine futurische Eschatologie nicht aus, sie verstärkt die Hoffnung.“27

(3) Schließlich tragen auch die jüngsten Versuche von Bernhard Neuenschwander und Jay J. Kanagaraj nicht dazu bei, dem Begriff Mystik in der Anwendung auf das JohEv größeres Vertrauen entgegenzubringen. (a) Nichttheistische Mystik? Bernhard Neuenschwander definiert Mystik als „Realisation von Nicht-Dualität“.28 „Als solche ist sie in keiner Weise durch den Gegensatz oder auch nur die Relation ‚zu etwas‘ bestimmt …“.29 Zugleich wendet der Autor sich gegen Mystik als „substanzhafte Einheit.“30 M. E. schließt diese Definition von Mystik einen dem Zeugnis des JohEv angemessenen Zugang zu der gewählten Fragestellung aus: Das JohEv reflektiert mit den reziproken Immanenz‑ und den diesen zugeordneten Einheits-Aussagen, die in dieser Studie völlig übergangen werden, sehr genau Relationen: die von Vater und Sohn wie in ihrer Folge die zwischen dem Sohn und den Christen. In seinem problembewussten Vergleich zwischen der Mystik Hisamatsu Shin’ichis (Zen-Meister: 1889–1980) und dem Lebens‑ und Leidensweg Jesu, wie ihn das JohEv darstellt, glaubt er, auch das JohEv als Beispiel für eine solche Nicht-Dualitäts-Mystik auslegen zu können. Freilich scheitert dieser Versuch sowohl in der exegetischen Durchführung als auch an dem definitiv gegensätzlichen Gottesbild, das B. Neuenschwander auf Kosten der Gottesbotschaft des JohEv harmonisiert: Wie H. Shin’ichi ein definitiv nichttheistisches Gottesbild vertritt,31 so sei auch das joh Gottesbild nichttheistisch: Für das JohEv sei Gott „nicht ein transzendentes Wesen …, auf welches der Mensch bezogen ist, sondern die Realisation immanenter Transzendenz.“32 Diesem Urteil ist entschieden zu widersprechen.

27  K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, utb Große Reihe, Tübingen 1994, 48. Interessanterweise kommt K. Berger für die joh Immanenz-Aussagen zu einer ablehnenden Auskunft: vgl. Ders., Die Bestimmung von Mystik im frühen Christentum als Beispiel interkultureller Übersetzungsprobleme, in: C. Elsas (Hg.), Text and Translation. Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene (FS C. Colpe), Berlin 1994, 19–25, hier 21 f. 28  B. Neuenschwander, Mystik (s. Anm. 20), 20. Vgl. zu dieser Monographie die Rezension von K. Scholtissek, ThRv 96 (2000), 28 f. 29  B. Neuenschwander, Mystik (s. Anm. 20), 351. 30  Ebd. 30. 31  Vgl. ebd. 138: „Das, was Hisamatsu auch als Gott bezeichnen kann, gibt es für ihn nur als Formloses Selbst. Gott, aber, als der den Menschen gegenüber Ganz-Andere, ist für ihn eine Illusion, die er radikal ablehnt“ (vgl. 45); ebd. 143: „Hisamatsu akzeptiert als Gott nur das Wahre Selbst des Menschen … Für Hisamatsu ist ein positiv verstandener Gott nichts anderes als das unmittelbare Selbsterwachen des Menschen“. 32  Ebd. 146.

2.  Forschungsgeschichtliche Aspekte

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(b) Merkabah-Mystik? Eine junge Forschungsrichtung wertet die Zeugnisse (früh‑)jüdischer bzw. rabbinischer Merkabah-Mystik für die Interpretation des JohEv33 (bzw. des Paulus34) aus, da die hellenistische Mystik zu einer Absorption der Personen neige.35 Trotz einzelner guter Beobachtungen in der Monographie von Jay J. Kanagaraj geht die These einer direkten Beeinflussung und Auseinandersetzung des JohEv mit jüdischen Merkabah-Mystikern, deren schriftliche Zeugnisse ins 2.–7. Jhd. n. Chr. fallen, doch wohl über den Textbefund hinaus.36 (4) Positiv zur Frage nach einer joh Mystik äußern sich I. de la Potterie, J. Ernst und O. Schwankl: Ignace de la Potterie37deutet das joh μένειν in manchen Zusammenhängen mystisch (vgl. Joh 15,7–8; 8,31; 1 Joh 2,24.27; 3,6.9; 2  Joh  9).38 Josef Ernst rekurriert besonders auf die Spiritualität des Verfassers des JohEv, die sich in seinem Evangelium selbst niederschlägt: „Das gesamte vierte Evangelium ist ein Widerschein der Spiritualität des Verfassers und des geistigen Umfeldes, in dem er lebte.“39 In seinen Ausführungen begründet er, „dass der Verfasser aus einer persönlichen mystischen Erfahrung heraus sein Evangelium geschrieben und dass er Leitbilder für mystische Christusbegegnungen entworfen hat.“40 Joh Mystik ist dabei kein Rückzug in eine imaginäre Innerlichkeit, sondern sie ist verortet im „christologischen und kirchlich-kommunikativen Horizont der

33   Vgl. u. a. J. J. Kanagaraj, ‚Mysticism‘ in the Gospel of John. An Inquiry into its Background, JSNT.S 158, Sheffield 1998; Ders., Jesus the King. Merkabah mysticism and the Gospel of John, Tyndale Bulletin 47 (1996), 349–366; E. J.  Fossum, The Image of the Invisible God. Essays on the Influence of Jewish Mysticism on Early Christology, NTOA 30, Freiburg i. Br. 1995; Ch. Rowland, Apocalyptic, Mysticism, and the New Testament, in: Geschichte – Tradition – Reflexion I. Judentum (FS M. Hengel), Tübingen 1996, 405–430; A. D.  De Conick, „Blessed are those who have not seen“ (John 20,29). Johannine Dramatization of an Early Christian Discourse, in: J. D.  Turner / ​A . Mcguire, Nag Hammadi Library after Fifty Years, NHS 44, Leiden 1997, 381–398; J. A.  Draper, Temple, tabernacle and mystical experience in John, Neotest. 31 (1997), 263–288. 34  Vgl. den Überblick bei H.-Ch. Meier, Mystik (s. Anm. 9), 15–18.141–156 (er selbst meint, Paulus sei kein früher Vertreter einer rabbinischen Mystik gewesen). 35  Vgl. J. J. Kanagaraj, Mysticism (s. Anm. 33), 316. 36 Eine Einzelauseinandersetzung kann hier nicht geführt werden. 37  I. De La Potterie, L’emploi du verbe „demeurer“ dans la mystique johannique, NRT 117 (1995), 843–859; vgl. auch X . Leon-Dufour, Quelques textes de portée mystique, in: Origine et postérité de L’Évangile de Jean, LD 143, Paris 1990, 255–263. 38 Vgl. die Darstellung bei K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 5), 13. 39  J. Ernst, Ein theologisches Porträt, Düsseldorf 1991, passim, hier 106; U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK IV, Leipzig 22000, 5, zitiert diese Aussage zustimmend. 40  J. Ernst, Das Johannesevangelium  – ein frühes Beispiel christlicher Mystik?, ThGl 81 (1991), 323–338, hier 338; Ders., Was ist nur mit der Exegese los?, in: Ders. (Hg.), Theologie im Wandel. Erfahrungen einer Seniorenakademie, Paderborn 1997, 161–174, hier 173 f. Vgl. J. Eckert, „Zieht den Herrn Jesus Christus an …!“ (Röm 13,14). Zu einer enthusiastischen Metapher der neutestamentlichen Verkündigung, TThZ 105 (1996), 39–60, hier 42: „Die Annahme Jesu als des göttlichen Logos und die Bewahrung seiner Worte sind umgriffen von einer tiefen personalen Beziehung zu Christus und Gott, die der Christusmystik nicht nachsteht.“

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2.  Mystik im Johannesevangelium?

Gottesgemeinschaft.“41 Otto Schwankl wertet insbesondere die Metaphorik der joh Sprache als charakteristisches Indiz für den „Mystiker Johannes.“42 Die hier angeführten Beobachtungen zur forschungsgeschichtlichen Situation fordern eine systematische Reflexion und Abgrenzung des Mystikbegriffs, wenn er denn heuristisch sinnvoll und hermeneutisch verantwortet mit Textaussagen des JohEv in Verbindung gebracht werden soll. Das folgende Kapitel will dazu zwei grundlegende Einsichten beitragen.

3.  Christliche Mystik: cognitio dei experimentalis – unio distinctionis 3.1  cognitio dei experimentalis Als in der christlichen Tradition verankerte und weiterführende Definition von Mystik beziehe ich mich auf Bonaventura, Albertus Magnus,43 Thomas von Aquin und Johannes Gerson (1363–1426),44 die von der cognitio dei experimentalis sprechen: der Erkenntnis bzw. Wahrnehmung Gottes in der Weise der Erfahrung.45 (a) Bonaventura: „Optimus enim modus cognoscendi Deum est per experimentum dulcedinis“ (Sent III d.35 q.1 conc.5, Opera omnia III, Quaracchi 1887, 775a).46 41  J. Ernst, Das Johannesevangelium (s. Anm. 40), 331. Vgl. A. M.  Haas, Mystik als Theologie in: Ders., Mystik als Aussage (s. Anm. 6), 28–61, hier 37: „Mystische Erfahrung gravitiert im Christentum … auf ihren Austrag im Wort hin.“ 42  O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS  5, Freiburg i. Br. 1995, 220. Schon F. Mußner hatte von der Lebens-Mystik im vierten Evangelium gesprochen; vgl. Ders., Ζωη. Die Anschauung vom „Leben“ im vierten Evangelium unter Berücksichtigung der Johannesbriefe, MThS.H 5, München 1952, bes. 144–148: „§ 23. Die johanneische Anschauung von der Gegenwärtigkeit der ζωὴ (αἰώνιον) im Gläubigen (Lebens-‚Mystik‘)“; vgl. ebd. 151: „Wie also die Bildanschauung ergibt, heißt μένειν ἐν ἐμοί nichts anderes als: in Lebensverbindung mit Christus bleiben.“ Ebd. 157: „Die ζωή, die der Gläubige besitzt, ist nichts anderes als die dauernde Lebensgemeinschaft mit dem verherrlichten Christus und durch ihn mit Gott.“ Vgl. in 6,53–54.57 („Leben haben“) und 6,56 (Immanenz), die bis in die Wortwahl hinein analogen Regeln. 43  Vgl. Albertus Magnus, Super Dionysium De divinis nominibus, Cap.  II (n. 76), Ed. Colon. XXXVII/I, 91b. 44 Vgl. J. [Ch. De] Gerson, Oeuvres Complètes III, Paris 1962, 250–292 (De theologia mystica), hier 252 f. Vgl. W. Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3. Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen, Frankfurt a. M. 1991, 10 Anm. 5; A. M.  Haas, Mystik als Theologie (s. Anm. 41), bes. 33 f. Vgl. auch die Ausführungen von P. Dinzelbacher, Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Paderborn 1994, 9 f.177–180.190–194.381–384. 45  Vgl. neben dem Werk von A. Stolz, Theologie der Mystik, Regensburg 1936, auch die Hinweise bei A. M.  Haas, Mystik als Theologie (s. Anm. 41), 33 f mit Anm. 21 (Lit.); M. Burger, Weltwirksamkeit (s. Anm. 13), 59 f; P. Dinzelbacher, Mystik (s. Anm. 44), 9 f. Vgl. auch Th. Heither, Origenes ‚Mystikverständnis‘ in seinem Hoheliedkommentar, EuA 74 (1998), 478–494, die mit Origenes betont, dass jeder Christ ein Mystiker werden kann und soll. 46  Vgl. Bonaventura, III Sent. D.35 q.2 corp.

3.  Christliche Mystik: cognitio dei experimentalis – unio distinctionis

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(b) Thomas von Aquin: „… duplex est cognitio divinae bonitatis vel voluntatis. Una quidem speculativa … Alia autem est cognitio divinae bonitatis seu voluntatis affectiva seu experimentalis, dum quis experitur in seipso gustum divinae dulcedinis et complacentiam divinae voluntatis … Et hoc modo monemur ut probemus Dei voluntatem, et gustemus eius suavitatem“ (Summa Theologiae II/II q.97 art.2 ad 2).47

Die genannten Autoren verstehen Mystik als Erfahrung, Gespür, Geschmack für die Nähe bzw. Schönheit Gottes (vgl. dulcitudo, suavitas, gustus). Sie beziehen sich auf eine Glaubenserfahrung im Sinne der biblischen Tradition, die grundsätzlich allen glaubenden Menschen möglich ist – so sehr sie unverdientes und unverfügbares Geschenk Gottes ist und bleibt. „Mystik ist dann nicht ein elitäres, singuläres Ausnahmephänomen, sondern die existentielle Verfasstheit des Menschen ist auf diese Erfahrung hin angelegt.“48 J. Maréchal hat übereinstimmend mit diesen Aussagen christliche Mystik definiert als „‚l’intuition de Dieu présent‘ dans l’âme“ bzw. als „certitude de la présence de (Dieu).“49 (2) unio distinctionis Im Durchgang durch die Geschichte der christlichen Mystik unterscheidet Bernhard McGinn50 zwei Metakonzeptionen, die den Versuch machen, die unio mystica zu erhellen und zu versprachlichen: (a) den neuplatonisch inspirierten Ansatz, der auf eine unio indistinctionis zielt (vgl. Plotin51; Meister Eckhart; Jo-

47  Vgl. Ders., ebd. II/II 2,9 ad  3; I 12,13 ad  3; I 43,5 ad 2; Summa contra Gentiles III cap. 154 (init.). Vgl. H. U.  Von Balthasar, Thomas und die Charismatik. Kommentar zu Thomas von Aquin, Summa Theologica Quaestiones II–II, 171–182. Besondere Gnadengaben und die zwei Wege menschlichen Lebens, Freiburg i. Br. 1996, bes. 305–316 („Charismatik und Mystik bei Thomas“); R. Moretti, Art. „Inhabitation I–II“, DSp 7/2 (1971), 1735–1757, hier 1752–1755 zu Thomas von Aquin. Zur Mystik bei Thomas von Aquin vgl. M. Beck, Wege der Mystik bei Thomas von Aquin, St. Ottilien 1990; L. Maidl, Desiderii interpres. Genese und Grundstruktur der Gebetstheologie des Thomas von Aquin, Paderborn 1994; J. Bunnenberg, Leben in Freundschaft mit Gott – Spuren von Mystik bei Thomas von Aquin, GuL 71 (1998), 39–51. Vgl. auch weiterführend G.-M. Bertrand, Art. „Inhabitation III. Expérience mystique de l’inhabitation“, DSp 7/2 (1971), 1757–1767. 48  M. Burger, Weltwirksamkeit (s. Anm. 13), 74. 49 Vgl. I. De La Potterie, demeurer (s. Anm. 37), 857. Vgl. auch H.-J. Klauck, Der Bruch zwischen Theologie und Mystik, FS 52 (1970), 53–69, hier 55: Mystik ist „die lebendige Beziehung der Seele zu Gott, die Verinnerlichung und Verpersönlichung des religiösen Lebens, die grundsätzlich jedem Menschen möglich ist“. 50  Vgl. B. Mcginn, Die Mystik im Abendland. Bd. I: Ursprünge; Bd. II: Entfaltung; Bd. III: Blüte; Bd. IV: Fülle, Freiburg i. Br. I 1994; II 1996; III 1999; IV 2008; vgl. seine Definition von Mystik: „eine besonders tiefe und unmittelbare Weise des Bewusstseins von Gott“ (ebd. III 9 f ). Vgl. zudem das umfassende Werk von K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik I–IV, München 1990.1993.1996.1999. 51 Vgl. hierzu die Darstellungen von W. Beierwaltes, Reflexion und Einung. Zur Mystik Plotins, in: Ders. / ​H . U. V.  Balthasar / ​A . M.  Haas, Grundfragen der Mystik, Einsiedeln 1974, 9–36, und K. Kremer, Mystische Erfahrung und Denken bei Plotin, TThZ 100 (1991), 163–186.

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2.  Mystik im Johannesevangelium?

hannes Scotus Eriugena52), und (b) die unitas-spiritus-Konzeption (vgl. Gregor von Nyssa,53 Bonaventura54), die die Einheit mit Gott personal und brautschaftlich55 artikuliert.56 Alois M. Haas argumentiert, beide Modelle unterschieden sich „einzig in der Art des Zugangs zu dieser unvordenklichen Einheit Gottes mit allem Geschaffenen.“57 Gleichwohl ist der excessus mentalis et mysticus58 in die beseligende 52 Zur Frage der neuplatonischen Einflüsse bei Johannes Scot[t]us Eriugena vgl. W. Beierwaltes, Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt a. M. 1994; B. McGinn, Die Mystik im Abendland II (s. Anm. 50), 131–188; A. M.  Haas, Homo-medietas. Sinn und Tragweite von Eriugenas Metapher vom Menschen als einer ‚dritten Welt‘ (1990), in: Ders., Mystik als Aussage (s. Anm. 6), 221–247 (Lit.). Eriugenas Auslegung von Joh 3,16 (vgl. ebd. 234) sowie seine Anthropologie, Kosmologie und Soteriologie (vgl. ebd. passim) offenbaren seine neuplatonische Axiomatik überdeutlich. 53  Vgl. Th. Böhm, Die Konzeption der Mystik bei Gregor von Nyssa, FZThPh 41 (1994), 45–64, hier 63: Gregor von Nyssa vollzieht eine „reductio in mysterium … Er spricht hier von einem Aufstieg der Seele zu Gott, die fortwährend sich Gott nähert, mit ihm jedoch nie eins werden kann.“ In diesem Sinne urteilt auch Th. Nikolaou, „Teilhabe Gottes“. Vergleichende Bemerkungen zur Mystik Gregors von Nyssa und Plotins, in: Ders., Askese, Mönchtum und Mystik in der orthodoxen Kirche, Veröffentlichungen des Instituts für Orthodoxe Theologie 3 (1996), 145–160. Vgl. F. Dünzl, Braut und Bräutigam. Die Auslegung des Canticum durch Gregor von Nyssa, BGBE 32, Tübingen 1993; Ders., Gregor von Nyssa, In Canticum Canticorum Homiliae. Homilien zum Hohenlied. Griechisch – Deutsch, FC 16/1–3, Freiburg i. Br. 1994, I 60–78. 54 Zu Bonaventura vgl. einleitend den Personenartikel in LThK3 2 (1994), 570–572 (B. de Armellada); H. Waldenfels, Einführung in die Theologie der Offenbarung, Darmstadt 1996, 71–74 (Lit.). Die Verbindung mit Gott als unus spiritus verstanden „ist nicht als Einheit der Substanz zu verstehen, wie Bonaventura betont, sondern als Einheit des Wollens, das heißt der Liebe. ‚Mit Gott ein Geist‘ ist, wer dasselbe liebt und will wie er, also teilnimmt an Gottes (innertrinitarischer) Liebe“ (M. Schlosser, in Bonaventura, De triplici via. Über den dreifachen Weg, FC 14, Freiburg i. Br. 1993, 62). 55  Vgl. für das JohEv 2,1–11; 3,26–29; 4,1–42. 56  Vgl. B. McGinn, Love, Knowledge, and Unio Mystica in the Western Christian Tradition, in: M. Idel / ​Ders. (Hgg.), Mystical Union and Monotheistic Faith. An Ecumenical Dialogue, New York / ​London 1989, 59–96.203–219; A. M.  Haas, Mystik als Suche und Findung von Sinn, in: Ders., Mystik als Aussage (s. Anm. 6); Ders., Intellektualität und mystische Spiritualität Europas, 1992, ebd. 84–109, hier 94–97. Vgl. auch die theologiegeschichtlichen Reflexionen von H.-J. Klauck, Der Bruch zwischen Theologie und Mystik, FS 52 (1970), 53–69. 57 A. M.  Haas, Suche (s. Anm. 56), 27 (vgl. ebd. 23 f die Betonung der Unterschiede zwischen Bonaventura und Meister Eckhart). J. Sudbrack sucht das Phänomen unterschiedlicher SprachSpiele in der Mystik zu erklären: „Die Gottesbegegnung löscht die jeweils persönlichen Einzelzüge der Erfahrenden nicht aus, sondern verstärkt sie … Die Formulierung ‚vermittelte Unmittelbarkeit‘ anerkennt, dass die Mystik  – wie jede personale Erfahrung  – logische Eindeutigkeit übersteigt; daher die paradoxale Phänomenologie“; Ders., Christliche Mystik und kirchlicher Glaube, IKaZ 25 (1996), 253–262, hier 257; vgl. Ders., Mystik (s. Anm. 6), 145–150 („Vermittelte Unmittelbarkeit“). 58 Vgl. hierzu A. M.  Haas, Suche (s. Anm. 56), 18–23, sowie die Erläuterungen und den Kommentar v. M. Schlosser, in: Bonaventura, De triplici via (s. Anm. 54), 21–34.35–89, hier 33 f: „Die ‚Wohltaten Gottes‘ werden nur dann richtig erfasst und Anlass zur ‚Erleuchtung‘, wenn auch die eigene Situation richtig und mit Realitätssinn eingeschätzt wird. Beides gehört zusammen … Im Erfassen dessen, was jedes Erdenken sprengt – der persönlichen Zuneigung Gottes ‚zu mir‘, die Bonaventura in der Weise der Brautmystik ausdrückt –, geschieht ecstasis, hingerissene Gegenliebe und unio amoris … Denn was der Christ glaubt, ist selbst das ‚Unglaubliche‘ (excedens); wie sie in der Heilsgeschichte sich erweist und in der persönlichen Betrachtung ‚er-innert‘, verinnerlicht und ‚für mich‘ vergegenwärtigt wird, ist das Fundament einer ‚Liebe, in der man sich

3.  Christliche Mystik: cognitio dei experimentalis – unio distinctionis

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Gegenwart Gottes bei Bonaventura (vgl. die Liebesmystik [unio amoris] in seinen Schriften: Itinerarium mentis in Deum; De triplici via) doch etwas anderes  – nämlich dezidiert eine unio distictionis – als die unio indistinctionis der Vernunftmystik Meister Eckharts.59 M. E. trägt die personal-brautschaftlich sprechende Mystik Gregor von Nyssas60 stärker der niemals abgeschlossenen Dynamik der Gottsuche und Gottbegegnung des Menschen Rechnung: „Die Unendlichkeit Gottes verbürgt ontologisch die Gewissheit, dass der Mensch bei seinem Wandel zum Besseren, beim Aufstieg der Seele, niemals an ein Ende gelangt, dass vielmehr seine Partizipation am Guten immer tiefer und vollkommener wird, ohne die Fülle Gottes doch je auszuschöpfen. Ausgeschlossen ist es daher auch, Gottes jemals überdrüssig zu werden – und zwar in alle Ewigkeit.“61 „… der wahre Genuss des Ersehnten ist das ständige Fortschreiten im Suchen und der unablässige Aufstieg; denn das Verlangen, das ständig erfüllt wird, bringt neues Verlangen nach dem Höherliegenden hervor.“62 selbst überschreitet‘ (excessus mentis).“ Vgl. ebd. 61: Der menschliche Geist „‚erfasst‘ weniger etwas, so dass er es umgriffe, als dass er selbst erfasst und ergriffen wird“; vgl. Phil 3,12. 59 Vgl. die Charakterisierung der mystischen Einheit im Sinne Meister Eckharts von A. M.  Haas, Suche (s. Anm. 56), 25: „Ablegen alles eigen, aller Individualität und aller Personalität, um der göttlichen Person Jesu Christi Raum zu lassen. In der Gottesgeburt wird – in der Preisgabe aller Personhaftigkeit (in Gott gibt es keine Einzelpersonen, da Christus in der Menschwerdung eine allgemeine Menschennatur annahm) – dem Menschen die wahre und alle Personen in sich enthaltende Person, Jesus Christus, verliehen.“ Im Gegenüber zur unio amoris bei Bonaventura und auch zur joh Immanenz-Vorstellung (s. u.) ergeben sich zu dieser Aussage doch erkennbare Differenzen. Freilich wahren Johannes Scotus Eriugena und Meister Eckhart die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf: „Eckharts Satz: Got und ich wir sint ein – ein im Grunde höchst paradoxer Schlüsselsatz aller Mystik – ist und soll sein eine Provokation, die nur innerhalb der eben geschilderten Grundparadoxie allen christlichen Redens – der bei aller Ähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf waltenden je größeren Unähnlichkeit – einen Sinn hat“ (A. M.  Haas, Das mystische Paradox [1992], in: Ders., Mystik als Aussage [s. Anm. 6], 110–133, hier 119). Über die Gegenwart Gottes in der Seele (= vünkelin) sagt Meister Eckhart: „Es ist und hat doch kein eigenes Sein, denn es ist weder dies noch das, weder hier noch dort; denn es ist, was es ist, in einem anderen und jenes in diesem; denn, was es ist, das ist es in jenem und jenes in diesem“ (zitiert nach A. M.  Haas, Überlegungen zum mystischen Paradox [1991], in: Ders., Mystik als Aussage [s. Anm. 6], 134–153, hier 138; vgl. Meister Eckharts Predigten I [Die deutschen Werke I], hg. v. J. Quint, Stuttgart 1958, 417 f.525). Vgl. auch W. Beierwaltes, Selbsterkenntnis (s. Anm. 7), der ebd. 123 f zeigt, dass Meister Eckhart dennoch über die unio distinctionis zwischen Gott und Mensch hinausgeht. 60 Vgl. die beiden neueren Arbeiten von F. Dünzl, Braut (s. Anm. 53), und Th. Böhm, Theoria – Unendlichkeit – Aufstieg. Philosophische Implikationen zu De Vita Moysis von Gregor von Nyssa, SVigChr 35, Leiden 1996. 61  F. Dünzl, Gregor von Nyssa, Canticum Canticorum (s. Anm. 53), I 65. 62  Ebd. I 68; vgl. Greg Nyss Hom in Cant 6,177–178: „Aber dennoch wird das Ende des bisher Erreichten zum Anfang der Hinführung zum Höherliegenden“ (= FC 16/2, 363); vgl. auch Hom in Cant 6,179–183, FC 16/2, 365–373. Vgl. F. Dünzl, Gregor von Nyssa, Canticum Canticorum (s. Anm. 53), I 69: „Aus Gregors Sicht erfüllt Theologie keinen Selbstzweck, sie dient nur als Mittel, um den Menschen zum Glauben zu führen, mit dessen Hilfe er den Unfassbaren fassen und dank dessen der Grenzenlose im Menschen Wohnung nehmen kann.“

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2.  Mystik im Johannesevangelium?

Die christliche Glaubenserfahrung lässt sich so fundamental als „Begegnungs-Einheit“, nicht aber als „Verschmelzungs-Einheit“ verstehen.63

4.  Johanneische Immanenz-Aussagen und Mystik – Beobachtungen zu einer Annäherung 4.1  Die johanneischen Immanenz-Aussagen Im JohEv begegnen einfache und reziproke Immanenz-Aussagen, die entweder zwei Personen oder eine Person und eine Heils‑ bzw. Unheilsgröße (Licht, Finsternis etc.) in Beziehung setzen.64 Die Sprache der Immanenz im JohEv wird gebildet mit μένειν ἐν, εἶναι ἐν oder nur durch die Präposition ἐν. Ihren dichtesten Ausdruck finden sie in der reziproken Formel, die zwei Personen zusammenbindet (vgl. 10,38: „erkennt, dass der Vater in mir [ist] und ich im Vater [bin]“). Charakteristisch für die joh Theologie ist die Übertragung der an der Vater-SohnBeziehung vorgebildeten Aussage (reziproke Immanenz) auf die nachösterliche Sohn-Christen-Beziehung (reziproke Personen-Immanenz) (vgl. 14,10–11.20). Vorbereitet und flankiert werden die reziproken Immanenz-Aussagen, die sich auf zwei Personen beziehen, durch einen breiten Textbefund analoger Wendungen: (a) So finden sich im JohEv reziproke Wendungen, die mit „erkennen“, „lieben“ oder „sehen“ formulieren. Der Erkannte und Geliebte, der Gesehene und Geglaubte (Jesus Christus) tritt bestimmend in das Leben des Erkennenden, Liebenden, Sehenden und Glaubenden ein. In der Sache wird in diesen reziproken Aussagen die Immanenz-Theologie des corpus evangelii vorbereitet, vorgebildet und inhaltlich ausgeleuchtet. Die Immanenz-Aussagen, die besonders in Kap. 14 und in 15,1–17 semantische Netzwerke ausbilden, sind mit diesen reziproken Sprachfeldern so vernetzt, dass sie sich wechselseitig interpretieren. (b) Zudem begegnen im JohEv Aussagen der Immanenz einer nichtpersonalen Größe in Personen (vgl. „das Leben in sich haben“ [1,4; 5,26]; „das Wort [nicht] in sich haben“ [5,38; vgl. 15,7; 1 Joh 2,14]; „die Wahrheit [nicht] in sich haben“ [8,44; vgl. 1 Joh 9; 2,4]) und umkehrt der Immanenz einer Person in einer abstrakten Größe (vgl. „im Licht bzw. in der Finsternis wandeln/bleiben“ [12,46; 1 Joh 2,10], „im Wort bleiben“ [8,31], „in der Liebe bleiben“ [15,9.10; 1 Joh 4,16] oder „in der Wahrheit wandeln“ [2 Joh 4; 3 Joh 3.4]). Diese nichtpersonalen Größen werden entweder übertragen-lokal als Heils‑ bzw. Unheilsbereich (Licht/ Wahrheit oder Finsternis/Sünde) oder übertragen-lokal als inwendige Heilskraft  Mit M. Burger, Weltwirksamkeit (s. Anm. 13), 72. Vgl. in diesem Sinne auch M. Plattig, Mystik, mystisch – Ein Modewort oder die Charakterisierung des „Frommen von morgen“ (Karl Rahner)?, WuW 60 (1997), 105–116. 64 Im Folgenden setzte ich die Ergebnisse meiner Habilitationsschrift voraus, die dort weiter ausgeführt und detailliert begründet sind; vgl. K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 5). 63

4.  Johanneische Immanenz-Aussagen und Mystik

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(Leben, Licht, Wort, Wahrheit), von der die Menschen von innen her bestimmt sind, vorgestellt. 4.2 Glaubenserfahrung Die Gottesbotschaft der Bibel hat einen ihr eigenen Erfahrungsbezug. Gottes Offenbarung, seine Zuwendung zu den Menschen in seinem Sohn und im Wirken des Geistes weist sich wahrnehmbar und spürbar aus. Deshalb sind die (paulinischen wie) joh Immanenz-Aussagen nicht denkbar ohne Bezugnahme und Verweis auf Glaubenserfahrungen des urchristlichen Verfassers bzw. der Christen, für die er schreibt. In den reziproken Immanenz-Aussagen findet der Versprachlichungsprozess der urchristlichen Glaubenserfahrung durch die betrachtende Meditation und Reflexion der vorjoh Jesusüberlieferung hindurch zu einem prägnanten Ausdruck. Das JohEv fordert keinen Glaubensgehorsam, der allein und ausschließlich auf die Autorität von Zeugen hin glaubt und den geforderten Glauben ohne Einbindung in eine gläubig gedeutete Erfahrung als blinden Akt der Anerkennung vollzieht. So unverzichtbar die Zeugen im JohEv sind (vgl. Johannes den Täufer, die ersten Jünger, die Samariterin, der geheilte Blindgeborene, der geliebte Jünger, Maria von Magdala, die Osterzeugen, vgl. 1 Joh 1,1–4), sie alle vermitteln durch ihr Zeugnis in die communio der Zeugen Jesu und darin auch in eine eigene geistgewirkte Unmittelbarkeit zu Gott bzw. zu Christus (1 Joh 1,1–4). Wie Johannes der Täufer „führen“ sie als „Freunde Jesu“ zu diesem „Bräutigam“ der messianischen Heilszeit (Joh 3,29); wie Andreas und Philippus geben sie die Einladung Jesu „Kommt und seht!“ (1,39) weiter (vgl. 1,46), damit auch sie selbst „kommen“, „sehen“ und „finden“. 4.3  Das Wirken des Parakleten Die Offenbarung und Verherrlichung Gottes in der paradoxen Erhöhung Jesu am Kreuz eröffnet das universale Wirken des Geist-Parakleten, der die Glaubenden in ihrer Gottunmittelbarkeit „lehrt“ und „führt“. Der den Abschied Jesu (vgl. den Komplex der joh Abschiedsrede in Kap. 13–1765) bewältigende Osterglaube verheißt eine neue Gegenwart Jesu bei den Glaubenden, die durch das Wirken des Parakleten ermöglicht wird. Die Möglichkeitsbedingung und das Medium dieser nachösterlichen Christusgegenwart in den Glaubenden ist die Sendung und das Wirken des Parakleten, der Ostergabe des Sterbenden und Auferweckten schlechthin (7,38–39; 19,30; 20,22). Dieser „andere Beistand“ (14,16), der „bei“ und „in“ den Glaubenden wirkt (14,16–17), vergegenwärtigt den österlichen Jesus Christus in den Glaubenden für „die Welt“. In der Abschiedsrede ist die Verheißung der Präsenz und der Immanenz des Parakleten die erste, grundlegende Immanenz-Aussage, die die nachösterliche Situation der Christen deutet (14,16– 17). Erst das Wirken des Geist-Parakleten, der Jesus selbst „bleibend“ (1,32) be Vgl. hierzu den in Anm. 4 genannten Beitrag des Verfassers.

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stimmt und den er in der Todesstunde an die Seinen „übergibt“ (19,30), bei und in den Glaubenden ermöglicht die nachösterliche reziproke Immanenz zwischen Christus und den Glaubenden (14,20) bzw. die vita communis von Vater und Sohn bei den Glaubenden (14,23). Der Paraklet – und nur er – bewirkt die nachösterlich im Vorgriff auf die vollendete vita communis bei Gott sich öffnende Integration der Glaubenden in die communio von Vater und Sohn. Die Sendung und Offenbarung des Sohnes wie die Sendung der Jünger durch den Sohn ist von der „maßlosen“ Dynamik des Geist-Parakleten bleibend unterfangen, begleitet und bestimmt (3,34; vgl. 1,32; 7,38–39; 20,22–23). Der Geist Gottes, der Jesus selbst führt und den er österlich „gibt“, wirkt „bei“ und „in“ den Glaubenden und vermittelt die reziproke Immanenz zwischen Christus und den Glaubenden.66 Diese von Johannes tiefgehend ausgeleuchtete Bestimmung und Beschreibung der (nach‑)österlichen Glaubenssituation der Christen findet in der Sprache der Immanenz ihren charakteristischen Ausdruck und gewinnt für den Evangelisten das Profil einer theologisch anspruchsvollen, konzentrierenden Leitaussage. Dabei verdankt sich die joh Immanenz-Theologie selbst dem Prozess der geistgeführten Anamnese der Offenbarung Gottes in seinem Sohn, der besonders in der joh Abschiedsrede verheißen und reflektiert wird (vgl. 2,17.22; 7,39; 14,16– 17.26; 15,7; 16,12–15). Der erste Johannesbrief verbindet mit der Geistbegabung der Christen das Theologumenon der Gottunmittelbarkeit: 1 Joh 2,20–21.26–27; 4,1–6 (vgl. Joh 6,44–45; 8,38; 16,26–27). Aufgrund der Geistbegabung kommt jedem Glaubenden eine eigene, unvertretbare Gottesbeziehung, ‑erkenntnis und ‑erfahrung zu. Diese geistgewirkte Gottunmittelbarkeit „belehrt“ die Glaubenden, lässt sie „die Wahrheit“ und „die Lüge erkennen“ und gibt ihnen die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden. 4.4  Das Evangelium der Begegnung Das vierte Evangelium ist das Evangelium der Begegnungen. Die inkarnatorische Liebe Gottes zu seinem Kosmos (1,3.14; 3,16) ist mitteilbar durch die Zeugen; sie lädt ein in die Begegnung und Wohngemeinschaft mit Jesus (vgl. 1,35–51), sie führt über missverstandene und kurzschlüssige Heilserwartungen hinaus zu der „Speise, die bleibt für das ewige Leben“ (6,27) und sie führt in die Familie der Kinder Gottes, die als Freunde Jesu an seiner Liebe maßnehmen. Die joh Wahrnehmungslehre, die „Sehweise“, für die der Evangelist wirbt, betont in und mit der fides ex auditu auch die fides ex visione: Das empirische Sehen wird überstiegen zu einem ganzheitlichen Erfassen und Erfasstwerden von der 66  Wenn H.-Ch. Meier die joh Immanenz-Aussagen „insgesamt nicht als Ausdruck mystischer Erfahrung … werten“ zu können meint, weil sie fast ohne Bezug auf das Pneuma formuliert seien (sic!; vgl. Ders., Mystik [s. Anm. 9], 241 f.274), liegt hier ein Fehlurteil vor. Aufgrund seiner eigenen Mystikdefinition (Mystik als „Erfahrung gegenwärtiger Heilsteilhabe“; ebd. 299) hätte er zur entgegengesetzten Einschätzung joh Immanenz-Aussagen gelangen können.

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sich offenbarenden Wirklichkeit Gottes.67 „Sehen“ meint hier gerade nicht die außerordentliche, elitäre Sonderoffenbarung – das Streben danach wird in 20,29 ausdrücklich kritisiert  –, sondern die allen Menschen im Sehakt des Glaubens grundsätzlich mögliche Wahrnehmung der ansprechenden Schönheitsgestalt der Epiphanie Gottes. Clemens Hergenröder spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem „pneumatischen Sehen.“68 Das nachösterliche Glaubenszeugnis führt im Sinne des JohEv in der Gemeinschaft der Freunde Jesu in die unmittelbare Begegnung mit dem auferstandenen Kyrios, in der die „Suchenden“ und „Fragenden“ (vgl. 1,38; 12,20–21) „fündig“ werden können, in der auch für sie – wie exemplarisch bei den im Evangelium erzählten Begegnungsgeschichten – eine das ganze Leben ergreifende und bestimmende Freundschaft beginnt, die in diesem irdischen Leben prinzipiell unabgeschlossen ist (vgl. 1,51; 21,18–19). 4.5  Einheit – nicht Identität (unio distinctionis) Die Mitte der joh Theologie ist die Herrlichkeitsoffenbarung des Gottes Israels in seinem „Logos“, der in 1,17 mit der Person Jesus Christus identifiziert wird: In der Sendung seines Sohnes (Fleischwerdung, Hingabe, Auferweckung, Erhöhung und Verherrlichung) erweist Gott seine Liebe zu seinem durch den Logos geschaffenen Kosmos (1,3; 3,16). Dabei bestimmt der Evangelist das Vater-Sohn-Verhältnis als voranfängliche und bleibende Hinordnung des Sohnes auf den Vater und als Partizipation des Sohnes am Wesen Gottes (vgl. 1,1.18; 8,58; 20,28). Als Inkarnierter handelt der Sohn in uneingeschränkter Willens‑ und Wirkeinheit mit dem Vater (vgl. 4,34), in absolutem Sendungsgehorsam. Immanenz‑ und Einheits-Aussagen loten diese Vater-Sohn-Relation aus. Die Theozentrik Jesu ermöglicht es dem Vater, sich selbst ganz und gar im Sohn zu vergegenwärtigen. Jesus repräsentiert nicht den Vater, er präsentiert ihn. Dabei kommt den Immanenz-Aussagen eine höhere heuristische Kompetenz zu als den Einheits-Aussagen:69 Die reziproken Immanenz‑ wie die Einheits-Aussagen sind keine Identitätsaussagen. Die Einheits-Aussagen in 10,30 und Kap. 17 sind den joh Immanenz-Aussagen zugeordnet: Sie erhellen sie und werden zugleich durch diese inhaltlich qualifiziert. Die auf den Vater und den Sohn bezogenen Einheits-Aussagen betonen die ununterscheidbare Übereinstimmung von Vater und Sohn hinsichtlich ihres Willens, ihrer Motivation und ihres Wirkens (Einheit in der Agape). Diese Wirkeinheit von Vater und Sohn hat ihr Fundament in der Zuordnung und Teilhabe 67  „Da Offenbarung ursprünglich ein ästhetischer Begriff ist, berührt sie sich … mit der Welt der Mystik“ (H. Waldenfels, Offenbarung [s. Anm. 54], 162; vgl. ebd. 88–91). 68  C. Hergenröder, Wir schauten seine Herrlichkeit. Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont der Selbsterschließung Jesu und Antwort des Menschen, FzB 80, Würzburg 1996, 584–607. 69 Zu den joh Einheits-Aussagen vgl. die eigenen Ausführungen in: K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 5), 316–339.

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des Sohnes am göttlichen Wesen (vgl. 1,1.18; 8,58; 20,28). Sie beinhaltet jedoch keine Identifizierung: Beide bleiben bei aller Zuordnung in einer spezifischen Relation unterschieden (unio distinctionis; vgl. 1,1.18; 17,3). Es ist die reziproke Immanenz-Aussage, die – anders als die Einheits-Aussage – die intendierte komplexe Zuordnung festzuhalten imstande ist: die denkbar innigste Verbundenheit und zugleich den Eigenstand von Vater und Sohn. Die joh Immanenz-Aussagen artikulieren bei aller formal-symmetrischen Reziprozität auch eine inhaltliche Asymmetrie: Der im Vater immanente Sohn, in dem der Vater selbst gegenwärtig ist, bleibt der Sohn, d. h. der vom Vater ganz und gar Bestimmte. Für die SohnChristen-Relation heißt dies: Die in dem Sohn immanenten Christen, in denen der Sohn gegenwärtig ist, bleiben die vom Sohn ganz und gar Bestimmten. Diese asymmetrischen Beziehungen sind unumkehrbar. Die reziproke Immanenz zwischen Vater und Sohn wie ihre untrennbare Einheit bestimmen ihre personale Identität aus der denkbar intensiven Relation zu der jeweils anderen Person. Deshalb relativieren die reziproken Immanenz-Aussagen nicht ihre personale Identität, sondern konstituieren sie geradezu: Der Sohn ist und offenbart sich als der in seiner Existenz und seiner Sendung vom Vater ganz und gar Bestimmte („Der Sohn ist im Vater“), er ist der Wirkort und ‑raum der Doxa Gottes, in dem sich der Vater selbst gegenwärtig und wirkmächtig seinen Geschöpfen zuwendet („Der Vater ist im Sohn“). Das ἐν der joh ImmanenzSprache ist übertragen-lokal und modal zu verstehen: Der Sohn wird ganz und gar bestimmt durch seine reziproke Immanenz im Vater und ist gerade als solcher der Sohn. Der Vater offenbart und definiert sich selbst ganz und gar als der Vater durch seinen und in seinem Sohn. Diese Deutung gilt analog auch für die nachösterliche Sohn-ChristenBeziehung: Die reziproken Immanenz-Aussagen charakterisieren die personale Identität und Stabilität der Glaubenden, die aus ihrer reziprok-immanenten Relationalität erwächst, die dieser bleibend zugeordnet ist und die diese bezeugt. Die auf die Glauben bezogenen Immanenz-Aussagen reflektieren eine in Jesus Christus (und durch ihn auch in Gott; vgl. 13,20; 14,23) gründende und diese mitteilende Personalität, die ihre Identität durch eine communio gewinnt, deren dichtester Ausdruck die wechselseitige inhabitatio ist. Mit diesen Aussagen erweist sich das JohEv als ein kaum zu überschätzender Ausgangs‑ und Bezugspunkt der theologischen und philosophischen Reflexion auf einen Personenbegriff, der Individualität und personale Gemeinschaft als gleichursprüngliche Momente zu verbinden versteht, und so auch der trinitarischen Reflexion vorarbeitet.70

70 Vgl. hierzu die erhellenden Ausführungen von B. J.  Hilberath, Im Ursprung ist Beziehung. Die Relevanz des christlichen Gottesbildes für das Leben der Menschen heute, GuL 69 (1996), 408–418.

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4.6  Die Doppelstruktur der christlichen Glaubenserfahrung Das räumliche Denken und Sprechen von Heils‑ bzw. Unheilssphären, in denen sich ein Mensch befinden kann, und von der Immanenz einer den Menschen innerlich bestimmenden Kraft, die das JohEv mit seiner frühjüdisch-hellenistischen Umwelt verbindet, teilt die für metaphorisches Sprechen typische Unschärferelation: Gerade die für die Immanenz-Aussagen relevante Raummetaphorik verlangt ein übertragen-lokales bzw. analoges Verständnis der Immanenz Gottes bzw. des Geistes Gottes im Menschen: Der Raum und Zeit Transzendierende kann nicht in einem dinglichen Verständnis von Raum und Zeit eingeschlossen werden. Der Alles-Umfassende kann einfach nicht von einem seiner Geschöpfe im strengen Sinne umfasst werden (vgl. Philo Sobr 62–64). Und dennoch sprechen die frühjüdischen und urchristlichen Immanenz-Aussagen von einer wirklichen und wirksamen Gegenwart Gottes bzw. einer Mittlergröße im Menschen. Diese besondere Gegenwart Gottes im Menschen ist schon aufgrund ihres Subjektes, der unverfügbaren, sich menschlichem Zugriff und Verstehen entziehenden Transzendenz, eine spezielle Gegenwartsweise. Die praesentia dei specialis in der Welt bzw. im Menschen  – als Gegenwart seines Wortes, seiner Geistes, seiner selbst  – ist zu ihrer Versprachlichung auf metaphorisches bzw. analoges Sprechen angewiesen. Jede Theo-logie, die die im Glauben erfahrene Wirklichkeit Gottes sprachlich zu erschließen sucht, bedarf lebensweltlicher Kategorien (vgl. die Grundachsen: Zeit und Raum), die sie zu Hilfe nimmt und nicht selten übersteigt. Die augustinische Auslegung der Immanenz der Christen in Gott (vgl. 1 Joh 4,16) lautet: „Wechselseitig wohnen ineinander, der umfängt und der umfangen wird. Du wohnst in Gott, doch so, dass du umfangen wirst. Gott wohnt in dir, doch so, dass er dich umfängt, damit du nicht fällst. Meine doch nicht, du würdest Gottes Haus derart, wie dein Haus deinen Leib in sich trägt.“ 71 Augustinus hält hier zwei Aspekte fest: Das Umfangenwerden des Menschen durch Gott: Gott ist und bleibt der Umfangende und der glaubende Mensch ist und bleibt der Umfangenwerdende. Zugleich gilt aber auch: Das Umfangenwerden von Gott, die Unmittelbarkeit zum Sohn und zum Vater ist so intensiv, dass die Kategorie eines polaren Gegenübers allein nicht mehr ausreicht: Der Vater als „Gegenüber“ des Sohnes bestimmt den Sohn ganz und gar, so dass er selbst in seinem Sohn und durch ihn zu Wort kommt. Umgekehrt gilt: Der Sohn selbst ist ganz in Gott eingeborgen. Übertragen auf die Sohn-Christen-Beziehung ergibt sich: Der glaubende Christ ist in der Begegnung mit Jesus so von diesem umfangen, in ihm geborgen und von ihm bestimmt, dass Jesus selbst sich geistgewirkt im Glaubenden vergegenwärtigt. 71  Zitiert nach der deutschen Übersetzung von H. M.  Biedermann, in [Augustinus], Unteilbar ist die Liebe. Predigten des heiligen Augustinus über den ersten Johannesbrief, Würzburg 1986, 139 (zu 4,16). Vgl. PL 35,2044 : „Vicissim in se habitant, qui continet et qui continetur. Habitas in Deo, sed ut continearis: habitat in te Deus, sed ut ne contineat, ne cadas. Ne forte sic te putes donum Dei fieri, quomodo domus tua portat carnem tuam“ (In Ep Joh ad 1 Joh 4,16).

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Zum christlichen Glauben gehört mithin eine doppelstrukturierte Gottes‑ bzw. Christuserfahrung: das Eingeborgensein und Getragensein in Gott und Gottes Gegenwart im tiefsten Grund des Menschen. 4.7  Ethische und ekklesiale Dimensionen der Immanenz Die Gemeinschaftsaufnahme mit Jesus Christus als dem Sinnziel der Sendung Jesu (vgl. 1,11–13; 13,20; 14,23; 19,25–27; 1 Joh 1,1–4) führt zugleich in die communio von Vater und Sohn und in die Familie der Freunde Jesu und Kinder Gottes.72 Für die Christen als Kinder Gottes (1,12) gelten in der communio mit dem Sohn und den Vater die reziproken wie die asymmetrischen Regeln dieser communio: reziproke Agape, reziproke Immanenz, Sendungsgehorsam. Das familienmetaphorisch beschriebene nachösterliche Heil der Christen ist eine vita communis mit dem Vater und dem Sohn (14,23) im Vorgriff auf die Vollendung (14,2–3). Solche vita communis ist jedoch kein verfügbarer, statischer Besitz; sie bedarf der sich im Glauben und in der Freundesliebe stets neu bewährenden „Aufnahme“ des Sohnes durch die Seinen (1,11–13). Alles Tun der Glaubenden steht unter einem strengen theologischen Vorbehalt (vgl. 6,37.44.65). Der Evangelist deutet die „Aufnahme“ Jesu Christi durch die Glaubenden und ihr „Bleiben“ in der so gewonnenen Christusbeziehung als einen dynamischen Prozess: Die Gabe des „Lebens“, joh die Selbst-Gabe dessen, der das „Leben“ in Person ist, schließt die Auf-Gabe ein, willens‑ und handlungskonform mit Jesus und seinem Liebesgebot zu leben. 15,9–17 deuten die reziproke Immanenz zwischen Christus und den Christen (15,1–8) als eine als Christus-Freundschaft personalisierte Gottesbeziehung,73 die nur in der Praxis der Liebe nach der Maßgabe der Liebe von Vater und Sohn sie selbst bleibt. Ein individualistisches Heilsverständnis ist im JohEv dezidiert ausgeschlossen. Im Gegenteil: Das JohEv deutet die Einheit von Vater und Sohn als Urbild und Kanon der ekklesialen Einheit der Glaubenden. Die im Gebet Jesu 17,1–26 erbetene Einheit der Gemeinde soll die Einheit in der Agape zwischen Vater und Sohn widerspiegeln, die Liebeseinheit, der sie sich selbst absolut verdankt. Sinnziel dieser so bestimmten ekklesialen Einheit ist „Welt“: „Alle sollen eins sein, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir, damit auch sie in uns sind, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (17,21). Die ekklesiale Einheit, auf die das hohepriesterliche Gebet Joh 17 zielt, hat ihr Maß in der unio distinctionis von Vater und Sohn.74 72  Vgl. hierzu die Auslegungen in „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, in diesem Band, S. 205– 229; Ders., „Er kam in sein Eigentum – und die Eigenen nahmen ihn nicht auf “ (Joh 1,11). Jesus – Mittler und Ort rettender vita communis in Gott nach dem Johannesevangelium, GuL 72 (1999), 436–451; Ders., In ihm sein und bleiben (s. Anm. 5), 162–165.179–184.222–253. 73  Zur Gottes‑ bzw. Christusfreundschaft vgl. J. Bunnenberg, Leben (s. Anm. 47), 50: „Die Freundschaft verschlingt den anderen nicht, sondern lässt ihn wachsen.“ 74 Zur Auslegung von Joh 17, vgl. „Das hohepriesterliche Gebet Jesu“, in diesem Band, S. 395– 411.

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4.8  Mystagogie: Begegnung mit Jesus als Weggeleit in das Geheimnis Ausweislich der joh Berufungsgeschichten in 1,35–51 und den ausführlichen Begegnungsgeschichten zwischen einzelnen Personen und Jesus, die eine über die synoptische Jesustradition weit hinausgehende Feinwahrnehmung der verschiedenen Glaubenssituationen, ‑wege und ‑umwege der einzelnen Gesprächspartner Jesu erkennen lässt, erzählt und reflektiert das JohEv mystagogische Glaubenswege. Genauerhin findet sich im JohEv eine mystagogische Christologie, die in verschiedenen Prismen das Weggeleit Jesu in das Geheimnis erzählt, das er selbst ist.75 Innerhalb der ausführlichen Begegnungen, Reden und Dialoge im JohEv übernimmt Jesus die Gesprächsregie und führt seine Gesprächspartner, die transparent sind auf die nachösterlichen Glaubenden, über Missverständnisse und Kurzschlüsse hinweg zu der abgründigen Wahrheit, die er selbst bringt und selbst ist – er ist Geber und Gabe zugleich. Für die nachösterliche Zeit betont das vierte Evangelium die Hodegie des GeistParakleten „in die“ bzw. „in der Wahrheit“ (16,13). Dieses Weggeleit führt zur kritisch-klärenden Selbsterkenntnis,76 sie führt die Glaubenden in die und in der Begegnung mit Jesus Christus, dessen Geheimnis es ist, in reziproker Immanenz mit seinem Vater zu leben und sich aus dieser communio heraus senden zu lassen. 4.9  Christusbegegnung im Entzug Charakteristisch für das JohEv wie für seine einzelnen Begegnungsgeschichten ist die Darstellung des sich entziehenden Jesus:77 Jesus „verbirgt sich“ vor schneller, unaufgeklärter bzw. kurzschlüssiger Vereinnahmung (vgl. 2,23–25; 6,15; 8,59; 10,39; 12,36).78 Der joh Jesus ist dem willkürlichen menschlichem Zugriff grundsätzlich entzogen: Der theologische Vorbehalt gilt seinen Gegnern (vgl. das joh Theologumenon der „Stunde“; 19,11) wie seinen Jüngern (vgl. 6,44; 12,32). Auch die 75  Vgl. hierzu die eigenen Versuche: K. Scholtissek, „Rabbi, wo wohnst du?“ (Joh  1,38). Die mystagogische Christologie des Johannesevangeliums (am Beispiel der Jüngerberufungen 1,35–51). Mit Johannes das Evangelium entdecken (3+4), BiLi 68 (1995), 223–231; Ders., Mystagogische Christologie im Johannesevangelium? Eine Spurensuche, GuL 68 (1995), 412–426; „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), in diesem Band, S. 151–172. 76  Vgl. die glückliche Formulierung des Vatikanum II, Gaudium et Spes 22: „Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf (vere clarescit) … Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung.“ Vgl. auch J. Disse, „Christus in mir“. Die Selbstmitteilung Gottes als apologetisches Problem, TThZ 105 (1996), 101–113, hier 113: Jesus tritt „auch im Johannesevangelium von vorneherein so an den Menschen heran, dass er sich als Erfüllung ihres tiefsten Bedürfens darstellt“. 77  Schon das Markusevangelium kennt und reflektiert dieses Moment, vgl. H.-J. Klauck, Gottesentzug. Jesus als fremder und gottverlassener Zeitgenosse, in: St. Pauly (Hg.), Der ferne Gott in unserer Zeit, Stuttgart 1998, 99–110. 78 Vgl. M. W. G.  Stibbe, The Elusive Christ. A New Reading of the Fourth Gospel, 1991, in: Ders. (Hg.), The Gospel of John as Literature. An Anthology of Twentieth-Century Perspectives, NTTS 17, Leiden 1993, 231–247.

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joh Ironie dient nicht einer Diffamierung des Unverständnisses gegenüber Jesus, sondern der für die Leser und Hörer erkennbaren und von ihnen selbst auch zu überwindenden Diskrepanz zwischen menschlichem Vor-Urteil gegenüber Jesus und der übergroßen Fülle des Lebens, das Jesus bringt und selbst ist (vgl. 10,10; 14,6).79 Wie Nathanael wird allen Lesern und Hörern, so sehr sie bereits zu Jesus „gefunden“ haben, gesagt: „Größeres als dieses wirst du sehen … Amen, amen, ich sage euch: Ihr (!) werdet den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes aufsteigend und herabsteigend auf den Menschensohn“ (1,50–51). Der Such-Weg der ersten Jünger (vgl. die Frage Jesu: „Was sucht ihr?“; 1,38) ist mit dem glücklichen Fund (vgl. 1,41.45) gerade nicht an sein Ende gekommen: Die Begegnung mit Jesus weist immer über sich selbst hinaus. Das Abenteuer der Nachfolge Jesu ist im irdischen Leben der Glaubenden unabschließbar (vgl. 21,18–19.22). Maria von Magdala kann den Auferstandenen, dessen Leichnam sie zunächst unter Tränen „gesucht“ hatte (20,11.13.15) und den sie dann glücklich durch seine Anrede erkennt (20,16; vgl. 10,3.14–16), nicht mit Händen greifen und festhalten (20,17) – auch Thomas, dessen Wünschen der Auferstandene überraschend weit entgegenkommt (20,24–29), gelangt nicht durch die manifeste, physische Berührung zum Glauben, sondern durch die einladende Anrede des Auferstandenen. Auch die Seligpreisung des Auferstandenen in 20,29 zielt eben darauf: Der Glaubensweg, zu dem im JohEv der Auferstandene ruft, ist nicht durch handgreifliche Beweise abzukürzen, auszuhebeln oder zu paralysieren. Allein so bleibt Raum und Zeit für die nach vorne und in die Tiefe offene Dynamik der Gottesbegegnung und Gottesoffenbarung in Jesus Christus, dem alle Erwartungen und Qualifizierungen übertreffenden Lebens-Geschenk schlechthin. In den Apophthegmata Patrum findet sich der grundsätzliche Rat des Wüstenvaters Sisoes: „Suche Gott, aber frage nicht, wo er wohnt“ (Apophthegmata Patrum 843 = Sisoes 40).80 Dieses Wort betont die Gott-Suche im Gebet, in der Abgeschiedenheit bzw. im Schweigen und es weist zugleich ein Gott-Besitzen zurück: „Was die Wüstenväter im Schweigen erfahren, ist nicht eigentlich Gott, sondern Gott im Entzug; aber im Hauch seines Sich-Entziehens spüren sie, dass sie auf der richtigen Fährte sind. Gerade im Abstand, der sich im Schweigen zwischen dem Menschen und Gott auftut, wird die Beziehung beider zueinander erfahrbar und bleibt sie dynamisch, lebendig, hält sie den Menschen in Bewegung auf sein Ziel hin.“81 Die Frage der ersten Jünger Jesu im JohEv: „Rabbi, wo wohnst/bleibst du?“ (1,38) und die Einladung Jesu „Kommt und seht!“ (1,39) sowie die gesamte daran anknüpfende Verwendung von μένειν im vierten Evangelium scheint dem Apophthegma des Sisoes auf den ersten Blick zu widersprechen. Tatsächlich integriert der  Vgl. „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, in diesem Band, S. 349–368.  Vgl. Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt, Sophia 6, Trier 21980, (Zitat, 277). 81 C. E.  Kunz, „Suche Gott, aber suche nicht, wo er wohnt“. Gottsuche auf dem Weg des Schweigens nach den Apophthegmata Patrum, EuA 76 (2000), 218–235, hier 234. 79 80

5. Auswertung

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Evangelist Johannes das Moment der dynamischen, unabgeschlossenen Gottsuche in seine Immanenz-Theologie: die doppeltstrukturierte Gottes‑ und Christuserfahrung ist im Verständnis des JohEv alles andere als eine sedative Ruhigstellung. Die christliche Glaubenserfahrung, die der Evangelist mit seiner vorjoh Tradition in die Sprache der Immanenz kleidet, wahrt bei aller betonten Nähe, die selbst über ein polares Gegenüber hinausgeht, auch den Eigenstand, die unverwechselbare Identität der Personen, und darin auch die Unterschiedenheit, die Distanz, die Asymmetrie, die Unverfügbarkeit seitens der Glaubenden.

5. Auswertung Die vorgelegten Ausführungen legen die folgenden Schlussfolgerungen und Thesen nahe: Die forschungsgeschichtliche Hypothek, die auf der Anwendung des Begriffs Mystik für neutestamentliche Zeugnisse, hier das JohEv, lastet, kann abgetragen werden (vgl. 2). Christliche Mystik lässt sich durch zwei konstitutive Momente bestimmen: cognitio dei experimentalis und unio distinctionis (vgl. 3). Dieses Verständnis von Mystik betont das Moment einer intensiven Glaubenserfahrung, die Einheit und Unterschiedenheit, Symmetrie und Asymmetrie, Relation und Selbststand, Gott bzw. Christus und die Glaubenden in einer Weise aufeinander zu beziehen weiß, die außerhalb der christlichen Glaubenserfahrung keinen unmittelbaren Vergleichspunkt hat. Eben deshalb verwendet der Evangelist die Sprache der Immanenz, die er selbst füllt durch seine eigene metaphorische Grundlegung (vgl. die Haus‑, Wohn‑ und Familienmetaphorik; die Weinstockmetaphorik)82 sowie durch den erschließenden Ansatz bei der Vater-SohnImmanenz: Das unverwechselbare, neue Maß (der Kanon) für die reziproken Immanenz-Aussagen, die die Glaubens‑ und Geisterfahrungen der joh Gemeinde versprachlichen, ist die im JohEv ausführlich entfaltete Vater-Sohn-Beziehung. Wesentliche Grundregeln der Vater-Sohn-Relation werden in Analogie auf die nachösterliche, im Glauben zugängliche Sohn-Christen-Beziehung übertragen. Im vierten Evangelium kommen dem hier zugrundegelegten Mystik-Verständnis die auf die nachösterliche Beziehung zwischen Christus und den Glaubenden bezogenen reziproken Immanenz-Aussagen sehr nahe. In ihnen versprachlicht der Evangelist seine nachösterliche Glaubens‑ und Geisterfahrung (und die seiner Gemeinde). Wesentliche Elemente dieser joh Glaubens‑ und Geisterfahrung sind: die durch Zeugen vermittelte Begegnung mit dem Auferstandenen, in der die Suchenden fündig werden; der mystagogische Glaubensweg, auf dem der Auferstandene selbst 82  Vgl. hierzu K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 5) passim. Hermeneutisch liegt genau hier das innovative Potential der Metaphorik: Durch das neue, kreative Zusammenspannen zweier Größen („metaphorisches Gespann“) wird es möglich, neue Erfahrungen zu versprachlichen, „‚für die noch keine adäquaten Bezeichnungen existieren‘“ (O. Schwankl, Licht [s. Anm. 42], 8–37, hier 31 f (Zitat im Zitat von H. Paul).

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2.  Mystik im Johannesevangelium?

das Weggeleit über zu kurz greifende Urteile hinaus übernimmt; die Unabgeschlossenheit dieser Glaubensbegegnung und ‑Glaubensbeziehung, die durch den sich entziehenden Christus ihre Nachfolgedynamik bewahrt; die doppeltstrukturierte Glaubenserfahrung der gnadenhaft geschenkten Eingeborgenheit in Gott bzw. Jesus Christus sowie die der Gottes‑ und Christusgegenwart im Glaubenden; die „Aufnahme“ und „Geburt“ derer, die den vom Vater gesandten Sohn „aufnehmen“ (vgl. 1,11–13; 13,20; 19,25–27), in die ekklesiale Gemeinschaft der Kinder Gottes, der Schwestern und Brüder Jesu (19,25–27; 20,17), die selbst maßnehmend an der Einheit und Liebe zwischen Vater und Sohn zur Einheit und Liebe gerufen sind, damit die Welt glaubt (17,21). Das dem JohEv zugrundeliegende Verständnis der personalen Gottesbegegnung des Menschen steht der systematischen Reflexion von Jörg Splett nahe: „Personale Liebe (wahrt) bleibend das Personen-Gegenüber. Dabei ist es ihr gerade nicht um Selbstbewahrung zu tun … doch auch nicht um Preisgabe in Verschmelzung, sondern um hingegebenen Dienst. Personale Mystik sagt zuletzt nicht: ‚Ich bin Du‘ (schon gar nicht: ‚Du bist Ich‘) noch ‚Du und Ich sind Es‘, sondern ‚Ich bin Dein‘ – Christlich meint ‚Himmel‘ nicht ein Gottwerden des Menschen, sondern das Geschehen endgültiger Unterscheidung von Gott – und die Seligkeit dieser Selbstunterscheidung. Himmel ist die Freude der liebenden Anbetung Gottes; Gott aber wird nicht von Gott angebetet … Gott als Liebe … schafft nicht (die Welt als Versicherung seiner Liebe) … sondern weil sie – ‚freigebigst‘ – Mit-Liebende will.“83

83  J. Splett, Leben als Mit-Sein. Vom trinitarisch Menschlichen, Frankfurt a. M. 1990, 62 f; zitiert auch bei H. Schürmann, Das drei-einige Selbst im Lichte paulinischer Anthropologie, in: Th. Söding (Hg.), Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments (FS W. Thüsing), NTA.NF 31, Münster 1996, 389–429, hier 428. Die Schlusswendung dieses Zitates nimmt ein Wort von Johannes Duns Scotus auf: „(Deus) vult habere alios condiligentes“. Vgl. zu letzterem H. Schneider, Liebe und Gerechtigkeit bei Johannes Duns Scotus, PBl (Köln) 49 (1997), 154 f. Vgl. die folgenden genauen Belege dieses Scotus-Zitates (brieflich erhalten von Dr. Maria Burger, Albertus-Magnus-Institut Köln): Ordinatio III distinctio 32 q.un. n. 5, Ed.Viv. XV, 433a: „(Deus) vult habere alios diligentes“; vgl. die Version der Assisi-Handschrift (Assisi com. 137, fol. 174ra-va): „(Deus) vult alios condiligentes“; vgl. hierzu auch N. Hartmann, Die Freundschaftsliebe nach Johannes Duns Scotus, WuW 52 (1989), 194–218. Vgl. auch Juliana von Norwich: In Gott wird ein neuer Anfang sein: „… dann werden wir alle zu unserem Herrn kommen, uns selbst klar erkennen und Gott ganz besitzen. Und wir sind alle ewig in Gott beschlossen, sehen ihn wahrhaftig, fühlen ihn mit aller Kraft, hören ihn mit den Ohren unseres Geistes, verschlingen ihn köstlich und schmecken ihn süß. Da werden wir vertraut und vollkommen Gott sehen von Angesicht zu Angesicht“; vgl. hierzu C. Kolletzki, „Christus ist unsere Mutter“. Metaphorische Gottesrede bei Juliana von Norwich, GuL 70 (1997), 48–62, hier 53 f.

VI.  Israel und Schrifttheologie

1.  Antijudaismus im Johannesevangelium? Ein Gesprächsbeitrag Nach jahrelanger Vorbereitungszeit veröffentlichte der Vatikan am 16. 3. ​1998 ein Schreiben mit dem Titel: „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah,“1 das Stellung bezieht zum Verhalten der Katholischen Kirche in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und dem von dieser faschistischen Diktatur systematisch betriebenen Genozid an den europäischen Juden. Dieses Schreiben, dem ein internationales Symposion vorangegangen war,2 ist die vorerst letzte offizielle Stellungnahme seitens der Katholischen Kirche zur jüngsten Vergangenheit und den hiermit angesprochenen Fragen nach Schuld auf Seiten der Christen, nach dem jüdisch-christlichen Verhältnis überhaupt (vgl. Nostra aetate 4) und insbesondere auch nach der Bedeutung judenfeindlicher Aussagen im Neuen Testament. Die Erschütterung durch die nationalsozialistisch herbeigeführten Katastrophen bewirkte und bewirkt eine Besinnung und Umkehr der Christen, die sich in kirchenoffiziellen Verlautbarungen,3 in praktischen Initiativen auf den verschiedensten Ebenen und nicht zuletzt in wissenschaftlicher Auseinandersetzung4 dokumentiert. Dieser Prozess kirchlicher und theologischer Umkehr im Blick auf die zeitlich und sachlich erste ökumenische Herausforderung ist keineswegs abgeschlossen, im Gegenteil: Er steckt gewissermaßen noch und wieder neu in den Anfängen.5 Maßgeblichen Anteil an dem Unverständnis, den Ausgrenzungen und den Verwerfungen seitens der Christen während der nahezu zweitausendjährigen Ge1  Vgl. die Dokumentation „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoa“, HerKorr 52 (1998), 189–193. 2  Vom 30.10.–1. 11. ​1997 diskutierten die Teilnehmer zum Thema: „Radici dell’antgiudaismo in ambiente cristiano“; vgl. den Bericht von K. Schubert, Drei Tage im Vatikan – Ein Anlaß zum Nachdenken, BiLi 71 (1998), 30–32; Heft 1/1998 von „Bibel und Liturgie“ ist ein Themenheft: Die christlichen Wurzeln des Antijudaismus (mit Beiträgen von K. Schubert und G. Bodendorfer; Lit.). 3 Vgl. Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945–85, R. Rendtorff/H. H. Henrix (Hgg.), Paderborn 21989; vgl. auch G. Bodendorfer, Die Schuld der Christen am Holocaust. Zu den Dokumenten der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanum, BiLi 71 (1998), 10–24. 4  Vgl. u. a. die Trilogie von F. Muẞner, Traktat über die Juden, München (1979) 21988; Ders., Die Kraft der Wurzel. Judentum – Jesus – Kirche, Freiburg i. Br. 1987; Ders., Dieses Geschlecht wird nicht vergehen. Judentum und Kirche, Freiburg i. Br. 1991; und das von J. J. Petuchowski / ​ C. Thoma hg. Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung, Freiburg i. Br. 1989 (überarb. und erw. Neuausgabe 1997 [Herder Spektrum 4581]) (vgl. ebd. [11989], 16–21: C. Thoma, Art. „Antijudaismus“). 5 Vgl. die Aussage in dem neuen Dokument: „Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah“ (s. Anm. 1), 190: „In der Tat ist die Bilanz dieser Beziehungen (zwischen Christen und Juden) während der 2000 Jahre eher negativ gewesen.“

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1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

schichte von Juden und Christen haben neutestamentliche Aussagen, die entweder antijüdisch sind – was durchaus kontrovers diskutiert wird – oder – und daran besteht kein Zweifel – antijüdisch gelesen wurden und deshalb einem christlichen Antijudaismus Vorschub leisteten.6 Das JohEv, das M. Brumlik als das „antijüdischste Evangelium“ bezeichnet hat,7 trägt mit der pauschalisierenden Rede von „den Juden“ und der Deutung „der Juden“ als herkünftig „aus dem Vater, dem Teufel“ (8,44) zu dieser unseligen Geschichte des bewussten und/oder unbewussten Nichtverstehens bei. Die antijüdische Wirkungsgeschichte des JohEv darf gleichwohl nicht das Urteil über die intentio auctoris und operis des JohEv selbst präjudizieren. Terminologisch spricht viel dafür, den Begriff „Antisemitismus“ (geprägt ca. 1879 von W. Marr) dem 19. und 20. Jahrhundert vorzubehalten, für die Antike dann von „Antijudaismus“ zu sprechen.8  Vgl. die Reflexionen von R. Kampling, Antijudaismus von Anfang an? Zur Diskussion über den neutestamentlichen Ursprung des christlichen Antijudaismus, rhs 40 (1997), 110–120 (Lit.). Der Titel des Beitrages von E. Stegemann, Die Befreiung der Theologie vom Antijudaismus als wissenschaftliche Aufgabe, Jud. 48 (1992), 214–22, nennt programmatisch die Herausforderung nicht nur der bibelwissenschaftlichen Disziplinen. Vgl. auch D. Sänger, Neues Testament und Antijudaismus. Versuch einer exegetischen und hermeneutischen Vergewisserung im innerchristlichen Gespräch, KuD 34 (1988), 210–231 (Lit.); vgl. ebd. 222: „Wir haben es historisch betrachtet im Neuen Testament durchweg mit einem innerjüdischen Konflikt zu tun, zu dessen Charakterisierung die Invektiven Antijudaismus und antijüdisch untauglich und zudem falsch sind“; ebd. 228 spricht D. Sänger mit der Terminologie von G. Klein vom Antijudaismus nicht als einem Ursprungs‑, sondern als einem Degenerationsphänomen der nachneutestamentlichen Auslegungsgeschichte (vgl. aber die Kritik von R. Kampling, Antijudaismus [s. o. in dieser Anm.], 115–117). Vgl. die Diskussionsbeiträge von: G. Theiẞen, Aporien im Umgang mit den Antijudaismen des Neuen Testaments, in: E. Blum u. a. (Hgg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff ), Neukirchen-Vluyn 1990, 535–553; I. Broer, Die Juden im Urteil der Autoren des Neuen Testaments, ThGl 82 (1992), 2–33 (Lit.). Vgl. die weitergehenden Diskussionen in: P. Richardson (Hg.), Anti-Judaism in Early Christianity I. Paul and the Gospels, Ontario 1986; II. Separation and Polemic, St. G. Wilson (Hg.), Ontario 1986; Jews and Christians. The Parting of the Ways A. D. 70 to 135, WUNT 66, J. D. G. Dunn (Hg.), Tübingen 1992; Vgl. auch C. Thoma, Das Messiasprojekt. Theologie Jüdisch-christlicher Begegnung, Augsburg 1994, passim, bes. 175–217 („Judenhaß: Schicksal für Völker und Religionen“, hier: 176– 186: Klärung von Begriffen und Vorstellungen; 186–193: Antijudaismus in der vor‑ und nebenchristlichen Antike; 193–217: Der spätantike christliche Antijudaismus [ohne JohEv]). 7  M. Brumlik, Johannes: das judenfeindlichste Evangelium, KuI IV (1989), 102–113; vgl. ebd. 104: „Im achten Kapitel des Evangeliums schließen religiöse Urmotive und nur politisch und sozialpsychologisch erklärbare Wahnvorstellungen zu einer konsequenten Satanologie zusammen, die den Juden in einer nicht anders als protorassistisch zu bezeichnenden Doktrin nicht mehr die mindeste Chance läßt.“ Vgl. G. Baum, Die Juden und das Evangelium. Eine Überprüfung des Neuen Testaments, Zürich 1963, 14.145 f, der im Evangelisten Johannes den „Vater des Antisemitismus der Christen“ erkennt. 8  Mit C. Colpe, Art. „Antisemitismus“, DNP 1 (1996), 790–792 (Lit.); G. Dautzenberg, Art. „Antisemitismus I. Vorchristlich u. im NT“, LThK3 1 (1994), 748–750 (Lit.), verwendet „antisemitisch“ für Zeugnisse in der Antike und „antijüdisch“ für Stellen im NT (vgl. ebd. 749); R. Kampling, Art. „Antisemitismus II. Patristik bis 19. Jh.“, ebd. 750–752, spricht von „Antisemitismus“ in den von ihm behandelten Jahrhunderten. Auch N. M. R. De Lange / ​C. Thoma, Art. „Antisemitismus I. Begriff / ​Vorchristlicher Antisemitismus“, TRE 1 (1978/1993), 113–119, ver6

1.  Antijudaismus in der Antike

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Der vorliegende Beitrag sucht die Sicht des JohEv auf „die Juden“ zu erhellen: Dazu werden (1) der antike zeit‑ und geistesgeschichtliche Kontext der joh Aussagen über „die Juden“ kurz angesprochen, (2) Interpretationsansätze in der Johannesforschung namhaft gemacht, (3) die joh Israeltheologie reflektiert und (4) mit der joh Schriftauslegung ein konkreter und weitreichender Problemzusammenhang beleuchtet.

1.  Antijudaismus in der Antike Religiöse bzw. kulturelle Intoleranz in der Antike ist ein vielschichtiges Problem,9 das oft durch eine erheblich selektive Fremdwahrnehmung bedingt ist und sozialpsychologisch wie kulturell von Identitätsbildungen durch wechselseitige Abgrenzung mitbestimmt ist.10 So begegnen uns (in sich wiederum komplexe) ägyptische,11 griechische12 und römische13 Antijudaismen,14 die zunächst auch auf wenden die verschiedenen Begriffe „weiterhin nebeneinander“ (114). Vgl. auch die weiteren Abschnitte des Artikels „Antisemitismus“ ebd. 119–168 (Lit.).  9  Zum vor‑ bzw. nebenchristlichen Antijudaismus in der Antike vgl.: Z. Yavetz, Judenfeindschaft in der Antike. Mit einer Einleitung von Ch. Meier, München 1997; P. Schäfer, „Judaeophobia“. Attitudes toward the Jews in the Ancient World, Cambridge 1997 (beide Autoren verorten die Anfänge der antiken Judenfeindschaft in Ägypten). 10 Zum Problem von Toleranz und Intoleranz mit Blick auf die christliche Tradition vgl. einführend den Sammelband: I. Broer / ​R . Schlüter (Hgg.), Christentum und Toleranz, Darmstadt 1996. 11 Gegen die ägyptischen und griechischen Vorurteile wendet sich Flavius Josephus in „Contra Apionem“, vgl. hierzu ausführlich den Sammelband: L. H. Feldman / ​J. R. Levison (Hgg.), Josephus’ Contra Apionem. Studies in its Character and Context with a Latin Concordance to the Portion Missing in Greek, AGJU 34, Leiden 1996 (Lit.). 12  Vgl. E. Gabba, The Growth of Anti-Judaism or the Greek Attitude towards the Jews, in: W. D. Davies / ​L. Finkelstein (Hgg.),The Cambridge History of Judaism, Vol. 2: The Hellenistic Age, Cambridge 1989, 614–656; J. G.  Gager, Judaism as Seen by Outsiders, in: R. A. Kraft / ​ G. W. E. Nickelsburg (Hgg.), Early Judaism and its Modern Interpreters, Atlanta 1986, 99–116 (Forschungsbericht; Lit.). 13  Vgl. die Zusammenstellung der römischen Sichtweise bei Tacitus Hist V 2–10 (hierzu: H. Heinen, Ägyptische Grundlagen des antiken Antijudaismus. Zum Judenexkurs des Tacitus, Historien V 2–13, TThZ 101 [1992], 124–149). Vgl. G. Stemberger, Die Juden im Römischen Reich. Unterdrückung und Privilegierung einer Minderheit, in: H. Frohnhofen (Hg.), Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus. Ihre Motive und Hintergründe in den ersten drei Jahrhunderten, Hamburger Theologische Studien 3, Hamburg 1999, 6–22. Ein guter Überblick über die römische Wahrnehmung des Judentums findet sich bei K. L.  Noethlichs, Das Judentum und der römische Staat. Minderheitenpolitik im antiken Rom, Darmstadt 1996 (Stellenhinweise zu antiken Autoren; Lit.). Vgl. auch Philo Flacc und Gai. Zuletzt: D. Flach, Plinius und Tacitus über die Christen, in: P. Kneissl / ​V. Losemann (Hgg.), Imperium Romanum. Studien zur Geschichte und Rezeption (FS K. Christ), Wiesbaden 1998, 218–232. 14  Vgl. die Quellensammlungen: M. Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism. Vols. I–III (Publications of the Israel Academy of Sciences and Humanities), Jerusalem I (1974) 4 1992; II: (1980) 21992; III: 1984; L. H. Feldman / ​R. Meyer (Hgg.), Jewish Life and Thought among Greeks and Romans. Primary Readings, Edinburgh 1996, bes. 305–395 (Lit.). Vgl. auch: L. H.  Feldman, Jew and Gentile in the Ancient World. Attitudes and Interactions from Alexander

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1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

die als jüdische Teilgruppe wahrgenommenen Christen einwirkten,15 jüdische Antipaganismen sowie Antijudaismen16 und Antipaganismen im aufstrebenden Christentum bzw. der Alten Kirche.17 Zur Vervollständigung polemischer Kapazitäten und Ausgrenzungen ist gerade auch für den jüdisch-christlichen Streit im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung auf innerjüdische Gruppenbildungen und Verwerfungen hinzuweisen. In diesem Zusammenhang wird besonders auf Positionen in QumranSchriften im Gegenüber zu der Jerusalemer Priesteraristokratie aufmerksam gemacht, wo die Gegner als Söhne Belials bezeichnet werden (vgl. 1 QS II; 4Q174 III).18 I. Broer kommt aufgrund dieses und anderer frühjüdischer Zeugnisse (vgl. TestDan 5,5–6;19 JosAs 12,7–10;20 Jub 15,3321) zu dem Schluss, daß die to Justinian, Princeton 1993; Ders., Studies in Hellenistic Judaism, AGJU 30, Leiden 1996, 177– 236.277–288.289–316. 15  Vgl. Tacitus Ann XV 44; Sueton Claud 25,4. Vgl. H. R.  Seeliger, Gemeinsamkeiten in der antijüdischen und antichristlichen Polemik in der Antike, in: H. Frohnhofen (Hg.), Christlicher Antijudaismus (s. Anm. 13), 88–94 (mit vielen Textverweisen; Lit.), hier 93: „Wir sehen also in einer ganzen Reihe von Punkten – kollektive Misanthropie, Atheismus, Eselsverehrung, Ritualmorde, mangelndes Alter  – hinsichtlich der Juden wie Christen gleiche Vorurteilsstrukturen wirksam werden.“ 16  Vgl. hierzu: H. Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jhd.), EHS 23.172, Frankfurt a. M. (1982), 3. erw. Aufl. 1995; R. Kampling, Neutestamentliche Texte als Bausteine der späteren Adversus-Judaeos-Literatur, in: H. Frohnhofen (Hg.), Christlicher Antjudaismus (s. Anm. 13), 121–138; O. Limor / ​G. G. Stroumsa (Hgg.), Contra Judaeos. Ancient and medieval polemics between Christians and Jews, TSMJ 10, Tübingen 1996 (Lit.), vgl. bes. ebd. 1–26: G. G.  Stroumsa, From Anti-Judaism to Antisemitism in Early Christianity?; St. E.  Wilson, Related Strangers. Jews and Christians 70–170 C. E., Minneapolis 1995 (hier 71–80: zum JohEv); M. Simon, Verus Israel. A Study of Relations between Christians and Jews in the Roman Empire (135–425), Oxford 1986 (pro: conflict-theory). Kritisch zu ihm nimmt Stellung: M. S.  Taylor, Anti-Judaism and Early Christian Identity. A Critic of the Scholarly Consensus, StPB 46, Leiden 1995 (hier: eine Forschungstypologie für die Ursachen des christlichen Anti-Judaismus in der Alten Kirche: competitive anti-Judaism; conflictual anti-Judaism; inherited anti-Judaism; symbolic anti-Judaism; kritisch zu ihr wiederum: J. C.  Paget, Anti-Judaism and Early Christian Identity, ZAC 1 [1997], 195–225); W. Horbury, Jews and Christians. In Contact and Controversy, Edinburgh 1997. Dass sich der aufkommende christliche Antijudaismus schon im NT durchaus des paganen Antijudaismus bedient, zeigt K. Haacker, Elemente des heidnischen Antijudaismus im Neuen Testament, EvTh 48 (1988), 404–418. 17 Vgl. hierzu die Beiträge des Sammelbandes: H. Frohnhofen (Hg.), Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus (s. Anm. 13). 18 Vgl. u. a. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/2, Freiburg i. Br. (1971) 41985, 288–290 (mit weiteren Stellenhinweisen); R. Leistner, Antijudaismus im Johannesevangelium? Darstellung des Problems in der neueren Auslegungsgeschichte und Untersuchung der Leidensgeschichte, Theologie und Wirklichkeit 3, Bern 1974, bes. 145. Die Qumran-Schriften werden hier mit den von J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer. Bd. I: Die Texte der Höhlen 1–3 und 5–11, utb 1862, Bd. II: Die Texte der Höhle 4, utb 1863; Bd. III: Einführung, Zeitrechnung, Register und Bibliographie, utb 1916, Göttingen I–II 1995. III 1996, vorgelegten Sigeln und Zählungen zitiert. 19 Vgl. den Wortlaut: „Wenn ihr vom Herrn abfallt, werdet ihr in aller Bosheit wandeln und die Gräuel der Heiden vollbringen und Unzucht treiben mit den Frauen der Gesetzlosen. Und in jeder Bosheit wirken in euch die Geister des Irrtums. Ich las in der Schrift Henochs des Gerechten,

2.  Interpretationsansätze in der Johannesforschung

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polemischen Aussagen des JohEv durchaus im Rahmen des damals im Judentum Möglichen bleiben.22

2.  Interpretationsansätze in der Johannesforschung Die joh Sicht auf Israel und „die Juden“ ist in der Johannesforschung der letzten Jahrzehnte vielfältig angesprochen und diskutiert worden. Aus der Fülle der Stellungnahmen23 werden die folgenden Interpretationsansätze zusammengestellt, die sich in der Sache bzw. bei den Autoren vielfach überschneiden.24 daß euer Herrscher der Satan ist und daß alle Geister der Bosheit und des Übermuts Levi zu Diensten sein werden, um sich mit den Söhnen Levis eifrig zu befassen, um zu erreichen, daß sie vor dem Herrn sündigen“ (= JSHRZ III/1 95). 20  Vgl. den Wortlaut: „(7) Erlöse mich, bevor ich ergriffen werde von den(en, die da) verfolgen mich. (8) Wie nämlich ein unmündiges Kindchen, dich fürchtend, flieht zu seinem Vater, und der Vater, ausstreckend seine Hände, reißt es (weg) von der Erde und umarmt es an seiner Brust, und das Kindchen schlingt seine Hände um den Nacken seines Vaters … so auch du (selbst), Herr, strecke aus deine Hände auf mich wie ein kinderlieber Vater und reiß mich (weg) von der Erde. (9) Sieh nämlich, der Löwe der wilde der alte verfolgt mich, denn er (selbst) ist Vater der Götter der Ägypter, und seine Kinder sind die Götter der (Götzen)bildwahnsinnigen. Und ich (selbst) habe Haß gefaßt (auf ) sie, da sie Kinder des Löwen sind, und warf alle von mir und verdarb sie. (19) Und der Löwe, ihr Vater, ergrimmt, verfolgt mich“ (= JSHRZ II/4 665 f ). 21  Im Wortlaut: „Und jetzt will ich dir mitteilen, daß die Kinder Israels in dieser Ordnung das Vertrauen enttäuschen werden und ihre Kinder nicht beschneiden werden gemäß diesem ganzen Gesetz. Denn in Bezug auf das Fleisch ihrer Beschneidung werden sie Auslasser sein in der Beschneidung ihrer Söhne. Und alle Söhne Beliars werden ihre Söhne ohne Beschneidung lassen, wie sie geboren wurden“ (= JSHRZ II/3 409). 22 Vgl. I. Broer, Juden (s. Anm. 6), 17; vgl. Ders., Antijudaismus im Neuen Testament? Versuch einer Annäherung anhand von zwei Texten (1 Thess 2,14–16 und Mt 27,24 f ), in: L. Oberlinner / ​P. Fiedler (Hgg.), Salz der Erde – Licht der Welt (FS A. Vögtle), Stuttgart 1990, 321–355, hier: 347–349 (mit Hinweis auf PsSal 4,1–12; Sir 50,25 f; Arist 152). 23   Vgl. u. a.: E. Grässer, Die antijüdische Polemik im Johannesevangelium (1964/65), in: Ders., Der Alte Bund im Neuen, WUNT 35, Tübingen 1985, 135–153 (Lit.); Ders., Die Juden als Teufelssöhne in Joh 8,37–47 (1967), ebd. 154–167; R. E.  Brown, The Gospel according to John. A new Translation with Introduction and Commentary, AncB 29.29a, New York 1966.1970, I: LXX– LXXIX; R. Leistner, Antijudaismus (s. Anm. 18; vgl. ebd. 17–67 den auslegungsgeschichtlichen Durchblick von F. Ch. Baur bis H. Conzelmann für die christlichen und von S. Hirsch bis F. Rosenzweig für die jüdischen Autoren; Lit.); F. Hahn, „Das Heil kommt von den Juden“. Erwägungen zu Joh 4,22b (1976), in: Ders., Die Verwurzelung des Christentums im Judentum. Exegetische Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch, hg. v. C. Breytenbach, Neukirchen-Vluyn 1996, 99– 118; Ders., „Die Juden“ im Johannesevangelium (1981), ebd. 119–129; J. Beutler, Die „Juden“ und der Tod Jesu im Johannesevangelium (1978), in: Ders., Studien zu den johanneischen Schriften, SBAB 25, Stuttgart 1998, 59–76 (Lit.); F. Muẞner, Traktat (s. Anm. 4), 49–51.281–293; H. Thyen, „Das Heil kommt von den Juden“, in: D. Lührmann (Hg.), Kirche (FS G. Bornkamm), Tübingen 1980, 163–184; W. Trilling, Gegner Jesu – Widersacher der Gemeinde – Repräsentanten der „Welt“. Das Johannesevangelium und die Juden (1980), in: Ders., Studien zur Jesusüberlieferung, SBAB 1, Stuttgart 1988, 209–231; K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München (1981) 41992; J. Ashton, The Identity and Function of the Οι Ιουδαιοι in the Fourth Gospel, NT 27 (1985), 40–75; Ders., Understanding the Fourth Gospel, Oxford 1991/1993, 124–159; W. Pratscher, Die Juden im Johannesevangelium, BiLi 59 (1986), 177–185; F. Porsch, Johannesevangelium, SKK IV, Stuttgart (1988) 21989,

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1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

Mit der Frage, ob das JohEv antijüdisch25 sei oder nicht,26 ist prima facie noch keine hilfreiche Kriteriologie gewonnen, da der Begriff „Antijudaismus“ selbst definitionsbedürftig ist27 und die Autoren diesen Begriff de facto unterschiedlich gebrauchen.28 98–102; Ders., „Ihr habt den Teufel zum Vater“ (Joh 8,44). Antijudaismus im Johannesevangelium?, BiKi 44 (1989), 50–57; L. Schenke, Der Dialog Jesu mit den Juden im Johannesevangelium. Ein Rekonstruktionsversuch, NTS 34 (1988), 573–603; E. Stegemann, Die Tragödie der Nähe. Zu den judenfeindlichen Aussagen des Johannesevangeliums, KuI IV (1989), 114–122; I. Broer, Die Juden (s. Anm. 6), 12–18; D. M.  Smith, Judaism and the Gospel of John, in: J. H. Charlesworth (Hg.), Jews and Christians. Exploring the Past, Present and Future, New York 1990, 76–99; Ders., John, in: J. Barclay / ​J. Sweet (Hgg.), Early Christian Thought in its Jewish Context (FS M. D. Hooker), Cambridge 1996, 96–111; M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (mit einem Beitrag zur Apokalypse von J. Frey), WUNT 67, Tübingen 1993, 288– 298 („Die Auseinandersetzung mit den Juden“); M. De Jonge, The conflict between Jesus and the Jews and the radical christology of the Fourth Gospel, PRSt 20 (1993), 341–355; N. A.  Beck, Anti-Jewish Polemic in John and in the Johannine Epistles, in: Ders., Mature Christianity in the 21st Century, New York 1994, 285–312; P. Grelot, Les Juifs dans l’évangile selon Jean. Enquête historique et réflexion théologique, CRB 34, Paris 1995; G. Strecker, Theologie des Neuen Testaments, bearb., erg. und hg. v. F. W. Horn, Göttingen 1996, 514–520. M. Rissi, Die „Juden“ im Johannesevangelium, ANRW II 26,3 (1996), 2099–2141 (Lit.); J. C. O’Neill, The Jews in the Fourth Gospel, IBSt 18 (1996), 58–74. 24  Einzelne Positionen werden in der Forschung mit dem Verdacht behaftet, apologetisch „Entlastungsstrategien“ zu betreiben. Letztlich ist es der Text des JohEv selbst, von dem her soweit als möglich unvoreingenommen die Plausibilität einer Hypothese zu prüfen ist. 25 So u. a. M. Brumlik, Johannes (s. Anm. 7); G. Baum, Juden (s. Anm. 7). 26   So u. a.: I. Broer, Juden (s. Anm. 6), 17 f; F. Vouga, Antijudaismus im Johannesevangelium?, ThGl 83 (1993), 81–89; G. Strecker, Theologie (s. Anm. 23), 520; M. De Jonge, Conflict (s. Anm. 23); M. Hengel, Frage (s. Anm. 23), 297; J. Machugh, „In Him was Life“, in: J. H. Charlesworth (Hg.), Jews and Christians. (s. Anm. 6), 123–158, hier 158: „… I do not think the Fourth Gospel can be called polemically anti-Jewish“; J. D. G.  Dunn, The Question of Antisemitism in the New Testament Writings of the Period, ebd. 177–211 (hier 195–203: „Is John ‚antisemitic‘?“, ebd. 203: „The Fourth Gospel is still operating within the context of inter-Jewish factional dispute. It is clear beyond doubt that once the Fourth Gospel is removed from that context, and the constraints of that context, it was all to easily read as an anti-Jewish polemic and became a tool of anti-semitism. But is is highly questionable whether the Fourth Evangelist himself can fairly be indicted for either anti-Juadaism or anti-semitism.“ Vgl. J. H.  Charlesworth, Exploring opportunities for rethinking relations among Jews and Christians, in: Ders. (Hg.), Jews and Christians. Exploring the past, present and future, New York 1990, 37–53, der ebd. 49 das JohEv als das am meisten jüdische Evangelium bezeichnet. 27  Eine m. E. zu weite Definition von „Antijudaismus“ gibt G. I.  Langmuir: „Antijudaismus (ist) eine gänzliche oder teilweise Opposition gegen das Judentum – und gegen Juden als dessen Anhänger – von Menschen, die ein konkurrierendes System von Glaubensinhalten und Praktiken haben und (daher) bestimmte genuine jüdische Glaubensinhalte und Praktiken als minderwertig erachten“ (G. I.  Langmuir, Toward a Definition of Antisemitism, Berkeley 1990, 57 [Übersetzung übernommen von R. Kampling, Antijudaismus [s. Anm. 6], 113]). 28  Aus dem spannungsvollen Textbefund zieht C. K.  Barrett die Konsequenz, das JohEv zugleich als jüdisch und als antijüdisch zu qualifizieren, vgl. Ders., Das Johannesevangelium und das Judentum (Franz Delitzsch-Vorlesungen 1967), Stuttgart 1970, 71; vgl. ähnlich W. A.  Meeks, „Am I a Jew?“ Johannine Christianity and Judaism, in: J. Neusner (Hg.), Christianity, Judaism and other Graeco-Roman Cults. Vol. I: New Testament, Leiden 1975, 163–185, hier 172: „To put the matter sharply, with some risk of misunderstanding, the Fourth Gospel is most anti-Jewish just at the points it is most Jewish.“

2.  Interpretationsansätze in der Johannesforschung

489

Für diejenigen Exegeten, die mit einer literarkritisch en detail rekonstruierbaren, mehrschichtigen Wachstumsgeschichte des JohEv rechnen, verteilen sich die Positionen zu „den Juden“ auf die jeweiligen Schichten und verändern sich zwischen diesen.29 Diesen hypothetischen Differenzierungen wird hier nicht im Einzelnen nachgegangen. Gegenstand des Untersuchungsinteresses ist zunächst und primär der kanonische Endtext des JohEv.30 2.1  „Die Juden“ als Repräsentanten für die ungläubige Welt Eine klassische Position sieht in der pauschalen Verwendung „die Juden“ die Absicht des Evangelisten, diese als repräsentative Vertreter des Unglaubens, auf den das Evangelium getroffen ist und weiterhin trifft, zu charakterisieren.31 Dann bezieht sich die Wendung „die Juden“ nicht direkt und exklusiv auf das jüdische Volk, auf das Gottesvolk Israel, sondern auf alle diejenigen, die sich dem Glauben an das Evangelium verschließen.32 E. Grässer deutet „die Juden“ im JohEv als stilisierte Vertreter einer Religion, die für den Christusglauben keinen Raum hat.33 2.2  Der Synagogenausschluss als Ursache für die Polemik des Johannesevangeliums Der im JohEv so deutlich betonte Synagogenausschluss der joh Christen (vgl. 9,22; 12,42; 16,2) wird sozialgeschichtlich und ekklesiologisch als Kristallisationspunkt wechselseitiger Ausgrenzungen und Verwerfungen angesehen. Unter dem Eindruck und zur Bewältigung dieser Erfahrungen sei das JohEv geschrieben.34 29 So macht U. C.  Von Wahlde, The Terms for Religious Authorities in the Fourth Gospel: A Key to Literary Strata?, JBL 98 (1979), 231–253, unterschiedliche Gruppenbezeichnungen zum Ausgangspunkt seiner Literarkritik. 30 Diese Position trägt der neueren Johannesforschung Rechnung, die  – bei allen unbestrittenen Wachstumsprozessen  – den kanonischen Endtext als maßgebliche Bezugsgröße für die Intention des Evangelisten herausstellt; vgl. den Forschungsbericht von K. Scholtissek, Johannine Studies. Surveying recent research with special regard to German contributions, CR.BS 6 (1998), 189–222. Die Position von J. C. O’Neill, Jews (s. Anm. 23), 74, wonach die Vorkommen von „die Juden“ auf „late scribal corruptions“ zurückzuführen sei, ist abwegig. 31  So: E. Grässer, Polemik (s. Anm. 23), bes. 150 f; Ders., Juden (s. Anm. 23), 165 f; T. Onuki, Zur literatursoziologischen Analyse des Johannesevangeliums, AJBI 8 (1982), 162–216, hier 179.190 f; R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK II, Göttingen (101941–211986) 171962, 59 f, hier 59: „Die Ἰουδαιοι sind eben das jüdische Volk nicht in seinem empirischen Bestande, sondern in seinem Wesen“; F. Muẞner, Ζωη. Die Anschauung vom „Leben“ im vierten Evangelium unter Berücksichtigung der Johannesbriefe, MThS.H 5, München 1952, 59 f; M. Hengel, Frage (s. Anm. 23), 297. 32  Auf der Seite der Auslegenden kann damit ein gewisses Entlastungsinteresse verbunden sein. Davor warnt W. Trilling, Gegner Jesu (s. Anm. 23). Freilich lässt sich auch umgekehrt argumentieren: Wie kommt es, daß der Evangelist „die Juden“ so glatt in diese repräsentative Rolle einrücken lassen kann? 33  E. Grässer, Polemik (s. Anm. 23), 145. 34 Vgl. hierzu vor allem die Position von K. Wengst, Gemeinde (s. Anm. 23), bes. 183 f. Skeptisch zu einem zeitgeschichtlichen Sitz im Leben der joh Judenpolemik äußert sich G. Strecker, Theologie (s. Anm. 23), 519 f.

490

1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

Enthielten die birkat haminim zur Zeit der Abfassung des JohEv schon die 12. Bitte mit dem Ausschluss der minim und der nozrim und wenn ja, waren damit wirklich die Christen gemeint,35 oder in einem allgemeineren Sinn alle Abtrünnigen?36 C. Thoma wertet den Beitrag von D. Flusser37 zu den Ursprüngen und dem Werdegang des sogenannten „Ketzersegens“ aus: Danach haben die „Verwünschungen von Abweichlern eine beachtliche vorchristliche Geschichte“38 (vgl. 1 QS V 10–20). „Die Qumraner waren Ausgestoßene oder freiwillig Ausgewanderte. Im Zusammenhang mit ihnen muß es Verwünschungen, Exkommunikationen, ‚Ketzersegen‘ gegeben haben. … In den ältesten Versionen des Ketzersegens ging es immer um die Verwünschung von zwei Sorten von Feinden. Einerseits waren dies die das Judentum ins innere Chaos, in die Zerrissenheit und gegenseitige Aggressivität hineintreibende Feinde. Dies konnten bald Pharisäer, bald Sadduzäer, bald Epikuräer, bald Judenchristen, bald Apokalyptiker, bald Qumraner, bald Samaritaner, bald Apostaten, bald Gnostiker etc. sein. Der rabbinische Allgemeinbegriff dafür war min/minim (Häretiker).“39

K. Wengst geht davon aus, daß das ἀποσυνάγωγος in 9,22; 12,42 und 16,2 auf die Einfügung des sogenannten „Ketzersegens“40 in das Achtzehn(bitten)gebet Bezug nehme. Dabei unterscheidet er sorgfältig zwischen der Einfügung des „Ketzer­ segens“, den er mit G. Stemberger41 als nicht unmittelbar gegen die Judenchristen gerichtet sieht, und der Deutung der sich darin artikulierenden Abgrenzung des Mehrheitsjudentums seitens der joh Christen als „Synagogenausschluss“.42 Für K. Wengst ist es „wahrscheinlich …, daß die johanneische Gemeinde, soweit sie  So: H. Thyen, Heil (s. Anm. 23), 181. G. Stemberger, Die sogenannte „Synode von Jabne“ und das frühe Christentum, Kairos 19 (1977), 14–21. 37  Vgl. D. Flusser, Miqzat ma ase hat-tora ubirkat ham-minim, in: Tarbiz 11, Jerusalem 1992, 333–374. 38  C. Thoma, Messiasprojekt (s. Anm. 6), 348. 39  Ebd. 349. 40  Zur terminologischen Ungenauigkeit vgl. K. Wengst, Gemeinde (s. Anm. 23), 89 f Anm. 49. 41  Vgl. G. Stemberger, Jabne (s. Anm. 36). G. Stemberger deutet die zeitlich nicht mehr genau zu datierende Einfügung des „Ketzersegens“ in das Achtzehn(bitten)gebet als innerjüdischen und primär nicht gegen Judenchristen gerichteten Akt. Vgl. J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, Herder spektrum 4116, 2. vollst. neu bearb. Aufl., Freiburg i. Br. (11972) 1992, 75 f.115–117 (Lit.); U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, utb 1830, Göttingen (1994) 21996, 544 f; C. Thoma, Messiasprojekt (s. Anm. 6), 339–352. Die Schlussfolgerung von U. Schnelle („Nicht zeitgeschichtliche Auseinandersetzungen, sondern christologisches Interesse und dramaturgische Strategie prägen die joh. Darstellung der Juden“; in: Ders., Einleitung [s. o. in dieser Anm.], 545 f ) schießt m. E. über das Ziel hinaus. Weitaus stärker als die Kontroversen mit Täufergemeinden oder mit postulierten doketischen Irrlehrern ist das Ringen und die Ablösung vom Synagogenverband und hier insbes. die christologische Reformulierung des monotheistischen Credos für die Frühzeit joh Theologiegeschichte prägend. 42  Vgl. K. Wengst, Gemeinde (s. Anm. 23), 89–104. Vgl. ebd. 93 f: „Die birkat ha-minim gehört also in den Zusammenhang der Bemühungen des rabbinischen Judentums nach 70, sich als normatives Judentum durchzusetzen und so das Überleben des Judentums überhaupt zu sichern.“ Anders: M. Hengel, Frage (s. Anm. 23), 290 f; U. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 41), 540. 35

36 So:

2.  Interpretationsansätze in der Johannesforschung

491

aus Juden bestand, von der entstehenden jüdischen Orthodoxie als Ketzer betrachtet wurde, … erkennt man die schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen, die solche Einschätzung mit sich brachte, wird verständlich, daß der Evangelist diese Erfahrung mit ἀποσυνάγωγος γενέσθαι den Begriff bringen konnte.“43 Auch für M. Hengel ist sowohl die sogenannte ‚Synode‘ von Jabne als auch die dort angeblich vorgenommene Einfügung der Verfluchung der „Häretiker“ (‫ )בדכת המנמ‬in das Achtzehngebet historisch unsicher.44 Die auf die Judenchristen (= nozrim) bezogene Erweiterung dieses Fluches ist wahrscheinlich später anzusetzen, so daß dieser Text selbst nicht eindeutig für die joh Polemik gegen „die Juden“ herangezogen werden kann. Freilich ist nach der Einschätzung von M. Hengel die Erweiterung des Achtzehngebetes um die Verfluchung der „Häretiker“ und der nozrim „nur die letzte Konsequenz auf einem an Auseinandersetzungen und Leiden reichen Weg.“45 M. Hengel verweist auf das Stephanusmartyrium, die mit weiteren Verfolgungen verbundene Hinrichtung des Zebedaiden Jakobus unter Herodes Agrippa I. (43/44 n. Chr.; Apg 12,1–3), die Verfolgung der Judenchristen durch den vorchristlichen Paulus von Tarsus, die Ausstoßung von christusgläubigen Juden aus der Synagogengemeinschaft bei den paulinischen Gemeindegründungen, die Paulus am eigenen Leib gewaltsam erfahren hat (vgl. 2 Kor 11,24–25; vgl. 1 Thess 2,14) und die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus mit einer Anzahl weiterer Judenchristen durch den Hohenpriester Hannas II., den Sohn des Hannas aus Joh 18,13 (vgl. Jos Ant XX 200; Eus Hist III 5,2–3).46 43  K. Wengst, Gemeinde (s. Anm. 23), 103 f. Vgl. ähnlich Ch. Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden, WUNT 95, Tübingen 1997, 167–177. 44  Vgl. M. Hengel, Frage (s. Anm. 23), 288–290. Vgl. die Studien von: P. Schäfer, Die sogenannte Synode von Jabne. Zur Trennung von Juden und Christen im ersten/zweiten Jahrhundert n. Chr. (1975), in: Ders., Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums, Leiden 1978, 45–64; G. Stemberger, Jabne (s. Anm. 36); W. Horbury, The Benediction of the Minim and Early Jewish-Christian Controversy, JThS 33 (1982), 19–61; K. Wengst, Gemeinde (s. Anm. 23), 89–104. Vgl. auch: J. Maier, Geschichte (s. Anm. 41), 75 f.115–117 (Lit.); B. Wander, Trennungsprozesse zwischen Frühem Christentum und Judentum im 1. Jahrhundert n. Chr. Datierbare Abfolgen zwischen der Hinrichtung Jesu und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, TANZ 16, Tübingen 1994, 272–275; C. Thoma, Messiasprojekt (s. Anm. 6), 339–352; U. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 41), 544 f; G. Strecker, Theologie (s. Anm. 23), 518 f; S. C. Mimouni, La „Birkat ha-minim“: une prière juive contre le judéo-chrétiens, RSR 71 (1997), 275–298. 45  M. Hengel, Frage (s. Anm. 23), 290. Dann wäre die spätere Ergänzung des Achtzehngebetes ein indirektes Zeugnis für erfahrene Gegnerschaft der joh Christen. 46  Zu jüdischen Reaktionen auf die christliche Bekenntnis‑ und Gemeindebildung zwischen 30–150 n. Chr. vgl. die Studie von C. J.  Setzer, Jewish responses to Early Christians. History and Polemics, 30–150 C. E., Minneapolis 1994. Vgl. auch die Darstellungen von: J. Maier, Jüdische Auseinandersetzungen mit dem Christentum in der Antike, EdF 177, Darmstadt 1982; J. Blank, Antijudaismus im Neuen Testament? „Die Anfänge der Nazoräersekte bis zum Ende des zweiten Tempels“, in: H. Frohnhofen (Hg.), Christlicher Antijudaismus (s. Anm. 13), 50–63; B. Wander, Trennungsprozesse (s. Anm. 44).

492

1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

Auch unabhängig von der Frage nach der Datierung der Erweiterungen im Achtzehngebet ist der  – als solcher gedeutete  – Synagogenausschluss der joh Christen theologisch wie sozialgeschichtlich ein Problem, das die joh Christen zur Auseinandersetzung zwang (vgl. die sogenannten Kryptochristen im JohEv).47 In Joh 16,2 kündigt Jesus nicht nur den Synagogenausschluss, sondern auch die gegnerische Meinung an, durch die Tötung der Christen Gott einen heiligen Dienst zu erweisen. Letztlich wird beides zusammenzuhalten sein: die zeitgeschichtlich doppelte Minoritätensituation der joh Christen gegenüber der Synagogengemeinschaft und der römischen Weltmacht (und ihrem kulturellen Hegemonialanspruch) und damit verbunden die theologische Bewältigung dieser Situation in „welt“-geschichtlicher Ausführung.48 2.3  Die johanneische Polemik als innerjüdisch zu verstehender Konflikt Aus dem vorstehend genannten geschichtlichen Entfremdungsprozess kann die joh Polemik als „Tragödie der Nähe“ bestimmt werden.49 Demnach ist es gerade der jüdische Charakter der joh Theologie und die jüdische Herkunft der joh Christen, die zum verletzten und verletzenden Streit führt. Die joh Polemik gegen führende Parteien der Juden bzw. „die Juden“ wächst gerade aus dem Erbe, auf das sich die joh Christen berufen, auf das sie nicht verzichten wollen und können, dem sie sich um ihrer eigenen Identität willen verpflichtet wissen (vgl. 4,22).50 H. Thyen sieht in den joh Christen „eine judenchristliche Minderheit, die betroffen und bedroht vom Synagogenausschluss ringt um das ihr bestrittene Erbe.“51 2.4  „Die Juden“ als die führende Schicht der Juden Mehrfach vertreten wird die Auslegung, mit „die Juden“ seien nicht Israel als das jüdische Volk insgesamt, sondern die „führende Schicht“ der Juden auch als aktuelle Gegner der joh Christen angesprochen.52 J. Beutler unterscheidet zwischen 47 Auch

wenn man nicht die gesamte Johannes-Auslegung von K. Wengst, Gemeinde (s. Anm. 23), teilt, hat er zurecht auf die traumatische Bedeutung des Synagogenauschlusses für die joh Christen aufmerksam gemacht (vgl. ebd. 89–104). 48  Was leistet der Hinweis auf die zeitgeschichtliche Bedingtheit der joh Judenpolemik – eine Entschuldigung, ein sachgerechtes Verstehen? Vgl. die Problemanzeige von D. Vetter, Relativierung des frühchristlichen Antijudaismus als Historie? Plädoyer für eine Umkehr von den bösen Wegen der Geschichte und Kirchengeschichte (1989), in: Ders., Das Judentum und seine Bibel. Gesammelte Aufsätze, Religionswissenschaftliche Studien 40, Würzburg 1996, 246–255. 49  Vgl. den Titel des Beitrages von E. Stegemann, Die Tragödie der Nähe (s. Anm. 23). 50  Vgl. J. Beutler, Juden (s. Anm. 23), bes. 75 f. Vgl. auch R. Leistner, Antijudaismus (s. Anm. 18), 145. 51  H. Thyen, Heil (s. Anm. 23), 183. 52  In diesem Sinne urteilen: R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/1, Freiburg i. Br. (1972) 71992, 146–148.275 f; F. Muẞner, Traktat (s. Anm. 4), 288; R. Leistner, Antijudaismus (s. Anm. 18), bes. 144 f; U. C. von Wahlde, The Johannine „Jews“. A Critical Survey, NTS 28 (1982), 33–60. Kritisch hierzu: H. Thyen, Heil (s. Anm. 23), 169; I. Broer, Die

2.  Interpretationsansätze in der Johannesforschung

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einem pejorativen Sprachgebrauch „der Juden“, der auf die Pharisäer und Hohenpriester bezogen ist, und einem positiven, der das jüdische Volk meint:53 „Theologisch gesehen sind die ‚Juden‘ für den Vierten Evangelisten in ihren politischen Führern Repräsentanten der ungläubigen ‚Welt‘, als Volk aber das zum Glauben berufene Israel, dessen Religion sich im Glauben an den Messias und Gottessohn Jesus vollendet.“54

Eine Variante dieser Position vertritt W. Lütgert, der meint, mit „die Juden“ sei der nach dem Gesetz lebende Teil des jüdischen Volkes gemeint.55 2.5  „Die Juden“ als Judenchristen M. Rissi wertet gerade die Vielschichtigkeit und die Differenzierungen im gesamten joh Sprachgebrauch so aus, daß der Evangelist mit der Wendung „die Juden“ eine spezifische Gruppe meine. Er deutet 8,30–31 auf Judenchristen innerhalb der joh Gemeinde, die sich neben ihrem Christus-Glauben auch auf ihre ethnische Abrahamskindschaft berufen, was der Evangelist ausschließen wolle.56 Seines Erachtens gibt es im JohEv deshalb keinen Antijudaismus, weil mit „die Juden“ keine Gruppe außerhalb der joh Gemeinden, sondern zur Häresie neigende Judenchristen angesprochen seien.57 Diese Beobachtung erhebt M. Rissi zum Schlüssel seiner gesamten Auslegung. Dabei muss er freilich einige Vorkommen von „den Juden“ als redaktionell ausklammern (u. a. die Stellen, die über den Synagogenausschluss handeln58) und verliert damit an Überzeugungskraft. (6) Johanneischer Antijudaismus: „die Juden“ als von Gott verworfenes Volk M. Brumlik interpretiert das JohEv als Dokument einer geschlossenen antijüdischen Frontbildung: „Im achten Kapitel des Evangeliums schließen religiöse Urmotive und nur politisch und sozialpsychologisch erklärbare Wahnvorstellungen zu einer konsequenten Satanologie zusammen, die den Juden in einer nicht anders als protorassistisch zu bezeichnenden Doktrin nicht mehr die mindeste Chance läßt.“59

Für den jüdisch-christlichen Dialog müsse das JohEv deshalb ausscheiden.60

Juden (s. Anm. 6), 12–14; C. Diebold-Scheuermann, Jesus vor Pilatus. Eine exegetische Untersuchung zum Verhör durch Pilatus (Joh 18,28–19,16a), SBB 32, Stuttgart 1996, 190–192.246 f.285 f. 53  Vgl. J. Beutler, „Juden“ (s. Anm. 23), 70 f. 54  Ebd. 73. 55  Vgl. W. Lütgert, Die Juden im Johannesevangelium, in: A. Deissmann / ​A. Windisch (Hgg.), Neutestamentliche Studien für G. Heinrici, UNT 6, Leipzig 1914, 147–154. 56  Vgl. M. Rissi, Juden (s. Anm. 23), 2112 f et passim. 57  Vgl. ebd. 2136. 58  Vgl. ebd. 2133–2135. 59  M. Brumlik, Johannes (s. Anm. 7), 104; vgl. ebd. 108: „paranoides Feindbild“. 60  Ebd. 111 f.

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1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

3.  Israeltheologie im Johannesevangelium Die komplexe Israeltheologie des JohEv, zu der neben den jüdischen Gruppen („die Juden“, „die Pharisäer“, „die Ratsherrn“ „die Hohenpriester“, „die Diener“, „die Menge“) und vielen Einzelpersonen insbesondere die jüdischen Institutionen (Tempel, Schrift, Gesetz,61 Feste, Synhedrium) zu berücksichtigen sind, ist gekennzeichnet durch folgende teilweise in Spannung zueinander stehende Aussagereihen:62 (1) Es finden sich Passagen, die Gottesgeschichte Israels betonen und in diesem Sinne heilsgeschichtlich argumentieren (vgl. 1,17;63 4,22:64 „das Heil [kommt] aus den Juden“; vgl. 10,35: die „unauflösbare Schrift“). Der Evangelist stellt an herausgehobenen Stellen „Israel“ als Würdeprädikat heraus (vgl. 1,31.47.49; 3,10; 12,13). Hierzu passen auch die positiven Aussagen über den Glauben „vieler aus den Juden“ (vgl. 8,30–31; 11,45; 12,11), „vieler aus dem (jüdischen) Volk“ (vgl. 2,23; 7,31;  Zur joh Deutung des Gesetzes vgl.: S. PANCARO, The Law in the Fourth Gospel. The Torah in the Gospel, Moses and Jesus, Judaism and Christianity according to John, NT.S 42, Leiden 1975; M. Kotila, Umstrittener Zeuge. Studien zur Stellung des Gesetzes in der johanneischen Theologiegeschichte, AASF.DHL 48, Helsinki 1988; A. Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate, WUNT II/83, Tübingen 1996, 50–59. 62  Im JohEv finden sich auch in anderen thematischen Zusammenhängen (vgl. nur die präsentisch‑ und die futurisch-eschatologischen Aussagen; vgl. jüngst die umfassende Forschungsgeschichte von J. Frey, Die johanneische Eschatologie I. Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 199), in Spannung zueinanderstehende bzw. prima facie gegensätzliche Positionen, die einen hohen Aufwand an hermeneutischer Entzifferungsarbeit verlangen. Literarkritische Lösungsvorschläge sollten erst dann versucht werden, wenn der vorliegende Text tatsächlich keine andere Option zulässt. Dieses Urteil widerspricht nicht einem traditionsgeschichtlichen Wachstumsprozess des corpus evangelii, sondern rechnet damit, dass der joh Fortschreibungsprozess primär nicht von miteinander konkurrierenden und sich gegenseitig widersprechenden theologischen Positionen vorangetrieben wurde, wie es die klassische Literarkritik am JohEv oft unkritisch vorausgesetzt hat. 63  Die Ausleger streiten darüber, ob der Parallelismus in 1,17 antithetisch oder synthetisch auszulegen ist. E. Grässer, Polemik (s. Anm. 23), bes. 140–143.146 f, plädiert für eine antithetische Auslegung und urteilt zusammenfassend: „… es steht überall die Tora als die Summe der synagogalen Gesetzlichkeit  – oder genauer: als Chiffre des verkehrten jüdischen Wesens gegen Christus, den Messias des christlichen Bekenntnisses“ (ebd. 143). Freilich kann er auch zugestehen, daß es nicht die Tora, sondern der Unglaube ist, der blind macht für das in der Tora liegende Zeugnis; vgl. ebd. 144 f; Ders., Juden (s. Anm. 23), 160. Für einen synthetischen Parallelismus plädieren mit guten Argumenten H. Thyen, Heil (s. Anm. 23), 173–177 (zur Verstärkung seiner heilsgeschichtlichen Deutung von 1,17 weist er zurecht auf 12,24 hin: Erst nach dem Tod des Weizenkornes wird der Wunsch der „Griechen“ sich erfüllen); A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 61), 53–56. In 1,17 kann ἐδόθη durchaus als passivum divinum gelesen werden. 64 Gegen R. Bultmann, Joh (s. Anm. 31), 139, der 4,22 einem kirchlichen Redaktor zuordnet, u. a. ist mit F. Hahn, Heil (s. Anm. 23), die Ursprünglichkeit von 4,22 festzuhalten (vgl. ebd. seine Durchsicht der Forschungsgeschichte). Vgl. auch: K. Haacker, Gottesdienst ohne Gotteserkenntnis. Joh 4,22 vor dem Hintergrund der jüdisch-samaritanischen Auseinandersetzung, in: B. Benzing u. a. (Hgg.), Wort und Wirklichkeit (FS E. Rapp), Meisenheim 1976, 110–126. Auch H. Thyen, Heil (s. Anm. 23), 170, deutet 4,22 heilsgeschichtlich: Aus judenchristlicher Sicht werde mit Blick auf die noch ungläubigen Samariter gesprochen. Für eine synchrone Auslegung des JohEv hält 4,22 auf jeden Fall fest, daß das „Heil“, nämlich Jesus Christus, ἐκ των Ἰουδαίων ist. 61

3.  Israeltheologie im Johannesevangelium

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19,38–39), „vieler aus den Ratsherren“ (12,42;65 vgl. 7,26.48), über die Parteinahme von einigen Pharisäern (vgl. 9,16) und von „Dienern“ der Pharisäer und Hohenpriester (vgl. 7,45–46) für Jesus. Darüber hinaus werden die Zeugnisse des Mose,66 des Jesaja,67 der Abrahamskindschaft,68 Johannes des Täufers und nicht zuletzt der Schrift insgesamt69 positiv in Anspruch genommenen. Auch das joh Motiv der Sammlung des Gottesvolkes (vgl. λάος, ἔθνος und τέκνα του θεου in 11,47–53; vgl. 10,16; 17,20) ist heilsgeschichtlich entfaltete Israeltheologie. Die kritische Rückfrage der Hohenpriester und Pharisäer an ihre „Diener“, die Jesus entgegen ihrem Auftrag nicht festgenommen haben, in 7,48 („Ist denn einer von den Ratsherren zum Glauben an ihn gekommen oder von den Pharisäern?“) steckt – wie die Ratssitzung nach 11,47–5370 – voller Ironie:71 Die vermeintliche geschlossene Ablehnung Jesu ist ein Irrtum. Die Leser wissen aus dem unmittelbaren Kontext, daß ein Ratsherr, nämlich Nikodemus, der betont mit „einer von ihnen“ vorgestellt wird, Partei ergreift für Jesus (7,51–52; vgl. 3,1; 19,38–42). In 9,16 ist sodann auch davon die Rede, daß einige von den Pharisäern für Jesus Partei ergreifen; nach 12,42 kommen viele von den Ratsherren zum Glauben. Auch der Vorwurf der Gesetzesunkundigkeit an „dieses Volk“, das von den eigenen Repräsentanten verflucht wird (!), wendet sich im unmittelbaren Kontext gegen diejenigen, die diesen Vorwurf erheben: Nikodemus zeigt ihnen, daß sie selbst in ihrem Vorgehen das Gesetz missachten, auf das sie sich berufen, und deshalb gerade „nicht (aner‑)kennen“ (vgl. 7,51; 7,19: „und niemand von euch tut das Gesetz“). „Spaltungen“ (σχίσματα) entstehen wegen Jesus im Volk (7,43), bei den Pharisäern (9,16), bei den Juden (10,16), im Hohen Rat (vgl. 7,45–52; 11,47–53) und bei den Jüngern (vgl. 6,60–71). In ihnen wirkt sich das scheidende Offenbarungswirken Jesu aus, das freilich keine vorgängige Scheidung aufdeckt, wie es prädestinatianische Deutungen des JohEv wollen,72 sondern Glauben von allen Adressaten fordert.73  12,42 spricht bezeichnenderweise von der Furcht der Ratsherrn vor den Pharisäern.  Vgl. 1,17.45; 3,14; 5,45.46; 6,32; 7,19.22.23; 8,5*; 9,28.29. 67  Vgl. 1,23; 12,38.39.41. 68  Vgl. 8,30–58. 69  Zur joh Schrifttheologie vgl. die Ausführungen unter 4. 70  Vgl. hierzu die Auslegung von J. Beutler, Zwei Weisen der Sammlung. Der Todesbeschluss gegen Jesus in Joh 11,47–53 (1994), in: Ders., Studien (s. Anm. 23), 275–283. 71 Zur joh Ironie, die in der Forschung noch nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat, vgl. „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, in diesem Band, S. 349– 368. 72  Vgl. O.  Hofius / ​H .-Ch. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums, WUNT 88, Tübingen 1996. 73  Vgl. M. Hasitschka, Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium. Eine bibeltheologische Untersuchung, ITS 27, Innsbruck 1989, 183: „Jesu Kommen zu den Juden und die Stellungnahme der ‚Seinen‘ ihm gegenüber ist Typus und Sinnbild für ein Geschehen von universeller Bedeutung: das Kommen des Logos in den durch ihn geschaffenen Kosmos und dessen rätselhaftes Verhalten ihm gegenüber.“ 65 66

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1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

(2) Im JohEv wird Ἰουδαῖος als Bezeichnung für die Volkszugehörigkeit 70mal verwendet (davon nur dreimal im Singular: 3,25; 4,9; 18,35). Eigene Beachtung verdient die Identifizierung Jesu als Jude durch die Samariterin (4,9), eine Aussage, die nirgends zurückgenommen oder eingeschränkt wird und für die Interpretation von 4,22 – mithin für das gesamte JohEv74 – bedeutsam ist. Auch die Titulatur Jesu als „König der Juden“ (vgl. schon 1,49), die besonders im Prozess vor Pilatus eine prominente Rolle spielt, verweist mit aller Klarheit auf die Zugehörigkeit Jesu zum jüdischen Volk.75 Eine einheitliche Verwendung des Plurals „die Juden“ lässt sich im JohEv nicht ausmachen: „die Juden“ fungieren als Gegenspieler Jesu, als Volk bzw. Volksmenge z. B. in Jerusalem, als jüdisches Volk im Gegenüber zum heidnischen Volk, als die Zeitgenossen Jesu, als Repräsentanten der jesusfeindlichen Welt.76 Für das Bild „der Juden“ wie der einzelnen genannten jüdischen Teilgruppen im JohEv ist insbesondere auf die Verschmelzung der Zeiten im JohEv, die die Situation des irdischen Lebens Jesu mit derjenigen der joh Christen ‚zusammensieht‘, hinzuweisen.77 Im JohEv liegt mithin ein differenzierter, wenngleich nicht systematisch durchgezogener Sprachgebrauch von Ἰουδαῖος vor, der einem einlinigen, a priori dualistischen Grundschema widerspricht. Ein dualistisches Grundbild liegt im JohEv auch deswegen nicht vor, weil es auch auf der Seite der Christusgläubigen keine Einheitsfront gibt: Die Jünger Jesu im JohEv sind alles andere als eine geschlossene, unangefochtene Formation.78 Auch jedweder vorschnellen Heilssicherheit schiebt das JohEv einen Riegel vor (vgl. den theologischen Vorbehalt nach 6,44; 12,32; 15,5). (3) Im JohEv begegnen pauschale, polemisch-distanzierende Wendungen über „die Juden“: Jesus spricht von „eurem Gesetz“ (8,17; 10,34; 15,25; vgl. 18,31; 19,7),79 der Evangelist von „dem Fest der Juden“ (5,1; 6,4; 7,2). In der schärfsten Konfrontation werden die Christen als Kinder Gottes „den Juden“ als Kindern des  Vgl. hierzu P. Grelot, Juifs (s. Anm. 23), 121–167: „L’objet de la controverse: Jésus le juif.“  In der Darstellung des JohEv wird aus der Sicht des Pilatus genau diese jüdische Identität Jesu (zunächst) zum Argument, den innerjüdisch umstrittenen Jesus als schuldlos freizulassen. Als der Titel „König der Juden“ politisch gewendet wird, gibt Pilatus dem Drängen der Gegner Jesu nach. 76  E. Grässer, Polemik (s. Anm. 23), 137 f, wertet dies so aus, dass hier kein erkennbar historischer Dialog fingiert wird, sondern: „… mit dem Begriff Ἰουδαῖοι, der wie der Begriff des κόσμος in gleicher Weise Chiffre ist für den Unglauben schlechthin, wird ein Paradigma gegeben für das, was die Offenbarung als Krisis bewirkt: sie scheidet zwischen der Welt und den Glaubenden“; vgl. ders., Juden (s. Anm. 23), 166. 77 Vgl. J. Beutler, Juden (s. Anm. 23), 63–65; vgl. Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996, bes. 225–229. 78  Zur joh Ekklesiologie, vgl. die eigenen Beobachtungen in „Kinder Gottes und Freunde Jesu“, in diesem Band, S. 205–229. 79  In der Forschung wird der polemische Charakter dieser Wendung auch infrage gestellt; vgl. A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 61), 57–59; J. Augenstein, „Euer Gesetz“ – Ein Phänomen und die johanneische Haltung zum Gesetz, ZNW 88 (1997), 311–313 (Das Possessivpronomen drückt nicht Distanz aus, sondern fordert das Gesetz als verbindliche Grundlage ein, die freilich von den Gegnern Jesu nicht eingehalten wird). 74 75

3.  Israeltheologie im Johannesevangelium

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Teufels entgegengesetzt. Der joh Jesus bestreitet seinen Gegnern die wahre Abrahamskindschaft (8,30–59).80 Zudem schließt das JohEv von der Nichterkenntnis Jesu als Sohn Gottes auf die Nichterkenntnis Gottes selbst (vgl. 1,18; 5,37; 6,46; 8,19.42.55; 16,3; 15,21). (4) Im Prozess akzentuiert der Evangelist die Schuld „der Juden“, die hier mit den Hohenpriestern und ihren Dienern identifiziert werden, an der Verurteilung Jesu durch Pilatus (vgl. 18,28–19,16).81 Im Unterschied zum MkEv spricht das JohEv freilich nicht von einem eigenen Urteil des Synhedriums. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Es ist der Jude Jesus, der zu Israel gesandt ist, der „in sein Eigentum kommt“ und in seinem Eigentum teils auf Ablehnung, teils auf Aufnahme stößt. Dieser Jesus aus Nazaret wird nicht „erkannt“, wenn er nur auf seine natürliche Herkunftsfamilie festgelegt wird (vgl. 1,46; 7,41.52). Das JohEv weist durchgehend eine Abstammung „aus dem Willen des Fleisches“ zurück (anhebend mit 1,11–13, der semantischen Achse des JohEv;82 vgl. 3,6 u. ö.) und betont im Gegensatz dazu die Neugeburt „aus Gott“ (1,13) bzw. „aus dem Geist“ (3,6). Diese Neugeburt führt in die Familie der Kinder Gottes, die nicht aufgrund ihrer ethnischen Abstammung als solcher, sondern durch die gläubige „Aufnahme“ Jesu entsteht (vgl. bes. 1,12; 13,1.20; 19,25–27).83 Jesu Sendung und sein Offenbarungsanspruch führen in die Krisis und fordern alle Personen und Gruppen, die im JohEv genannt werden (einschließlich der „zum Glauben 80 Zur Auslegung von Joh 8,30–59 vgl.: E. Grässer, Juden (s. Anm. 23); M. Hasitschka, Befreiung (s. Anm. 73), 174–282 (vgl. ebd. 178–183: Exkurs: „Die Juden“). M. Hengel weist auf den Gegenangriff in 8,49.52 hin, der Jesus als „Samariter und dämonisch Besessenen“ disqualifiziert (in: Ders., Frage [s. Anm. 23], 297 Anm. 107). Vgl. F. Hahn, Heil (s. Anm. 23), 128: „Die Schärfe der Anklage von Joh 8,30–59 liegt darin, daß gerade diejenigen, die sich auf Abraham berufen, die somit die Geschichte Gottes mit Israel und seine Verheißungen kennen, den Offenbarungsanspruch Jesu nicht annehmen.“ Gegen den Deutungsversuch, 8,44 sei nur zu den zum Glauben gekommenen Juden (vgl. 8,30–31) gesagt, d. h. zu Judenchristen, wendet sich I. Broer, Juden (s. Anm. 6), 15. Zur joh Kontroverse um die wahre Abrahamskindschaft vgl. auch das Täuferwort in Mt 3,9 par Lk 3,8. 81  In der joh Prozessdarstellung wird  – so die mehrheitlich vertretene Auffassung  – die Schuld „der Juden“ an der Verurteilung Jesu verstärkt (vgl. aber die Kritik an dieser Position von J. Beutler, Juden [s. Anm. 23], 66–69). Vgl. die folgenden Beiträge: R. Leistner, Antijudaismus (s. Anm. 18), 71–150; D. Granskou, Anti-Judaism in the Passion Accounts of the Fourth Gospel, in: P. Richardson (Hg.), Anti-Judaism in Early Christianity I. Paul and the Gospels, Ontario 1986, 201–216 (er sieht eine unausgeglichene Ambivalenz in der joh Darstellung); J. T.  Caroll / ​ J. B.  Green, Who was Responsible for the Death of Jesus? The Cross and ‚Anti-Judaism‘ in Early Christianity, in: Dies., The Death of Jesus in Early Christianity, Peabody 1995, 182–204; Dies., „When I am lifted up from the Earth …“ The Death of Jesus in the Gospel according to John, ebd. 82–109; C. Diebold-Scheuermann, Jesus (s. Anm. 52; sie betont die joh Verstärkung der Schuld „der Juden“ am Tode Jesu und die Darstellung des Pilatus als Werkzeug in der Hand der schon vorher [vgl. 5,16.18; 7,1.19; 8,22–24.37–59; 10,31–39; 11,47–53; 18,31; 19,7] fest entschlossenen jüdischen Gegner Jesu); Th. Söding, Die Macht der Wahrheit und das Reich der Freiheit. Zur johanneischen Deutung des Pilatus-Prozesses (Joh 18,18–19,16), ZThK 93 (1996), 35–58. 82 Vgl. F. Muẞner, Die „semantische Achse“ des Johannesevangeliums. Ein Versuch, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), Freiburg i. Br. 1989, 246–255. 83  Zur joh Familienmetaphorik vgl. K. Scholtissek, Kinder Gottes (s. Anm. 78; Lit.).

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1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

gekommenen Juden“ [8,31] und der „Jünger Jesu“ [6,60–71]), zur Stellungnahme und zur Bewährung heraus. In den Worten der Einwohner Jerusalems: „Aber diesen kennen wir, woher er ist. Wenn aber der Messias kommt, weiß niemand, woher er ist“ (7,27) liegt eine ironische Fremdprophetie vor, die sich im JohEv fast durchgehend erfüllt. Die Gegner Jesu wähnen nur, die Herkunft Jesu zu kennen (vgl. 1,46; 6,42; 7,25– 27.41–44.52; 8,14; 9,29–34; 19,9). Weil sie versuchen, Jesus auf seine natürliche Familie festzulegen, erfüllt sich ironischerweise ihre eigene Ankündigung: Mit Jesus ist der Messias gekommen und sie erkennen nicht, „woher“ Jesus wirklich ist (vgl. 8,14 und die konvergierende Messias-Regel in 1,26).84 Jesus hört im JohEv nicht auf, von seiner Sendung „von oben“, vom Vater, zu sprechen. Aber exakt diese Sendung Jesu von Gott wird abgelehnt und als Blasphemie mit dem Tod bedroht. Der gläubige Überstieg vom „Irdischen“ zum „Himmlischen“ (vgl. 3,1–13; bes. 3,12), von Nazareth als Heimatstadt Jesu zum Kommen Jesu vom Vater, bleibt vielfach aus. Die Ablehnung des Offenbarungsanspruches Jesu führt zur scharfen, ja tödlichen Opposition gegen Jesus und zum Hass gegen die an ihn Glaubenden (vgl. 15,18–25; 16,2). Im Namen Gottes wird der Gottgesandte (bzw. seine Jünger) gerade von denen verworfen, „zu denen das Wort Gottes ergangen ist“ (10,35). Aus joh Sicht rückt dieses anstößige und nach menschlichen Maßstäben unerfindliche Geschehen (vgl. den Erklärungsversuch in 12,37–43) die Gegner Jesu auf die Seite derer, die sich gegen Gott selbst stellen, weil sie seine eschatologische Zuwendung zur Welt (vgl. 3,16) zurückweisen. Weil der Vater „eins ist“ mit dem Sohn (10,30), kann man nicht gleichzeitig den Sohn ablehnen und dem Vater die Ehre geben.

4.  Die johanneische Schrifthermeneutik Der im jüdisch-christlichen Dialog gewachsenen Aufmerksamkeit und den Fragehorizonten einer Biblischen Theologie entspricht es, wenn die Schriftauslegung der neutestamentlichen Autoren, ihr Umgang mit den „Schriften“ Israels, in den Mittelpunkt der Forschung rückt.85 Daran nimmt auch die Johannesforschung teil.86 Um einen zeit‑ und religionsgeschichtlich relevanten Vergleichspunkt zu 84 Vgl.

die Ausführungen bei K. Scholtissek, Ironie (s. Anm. 71). die neuesten Sammelbände: C. A. Evans / ​W. R. Stegner (Hgg.), The Gospels and the Scriptures of Israel, JSNT.SS 104, Sheffield 1994 (Lit.; hier 358–474 fünf Beiträge zum JohEv von A. T.  Hanson, M. Hengel, St. E.  Porter, J. Painter, J. R.  Michaels); C. A.  Evans / ​J. A.  Sanders (Hgg.), Early Christian Interpretation of the Scripture of Israel. Investigations and proposals, JSNT.SS 148, Sheffield 1997; C. M. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997 (Lit.; hier 327–428.629–636 vier Beiträge zum JohEv von M. Theobald, M. J. J.  Menken, U. Busse, W. Kraus). Vgl. auch die Problemanzeige von N. Walter, Zur theologischen Hermeneutik des christologischen ‚Schriftbeweises‘ im Neuen Testament, NTS 41 (1995), 338–357. 86 Zur joh Schrifttheologie vgl. die divergierenden Positionen von: M. Hengel, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund urchristlicher Exegese, JBTh 4 (1989), 249– 85 Vgl.

4.  Die johanneische Schrifthermeneutik

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gewinnen, wird im folgenden zunächst kurz die Schrifthermeneutik in den Qumran-Schriften vorgestellt. 4.1  Schriftauslegung in Qumran Die vielgestaltige Schriftkommentierung und ‑interpretation in den Qumranschriften (vgl. Pesharim, Midraschim, Interpretation durch Komposition) lässt einen in der Diskussion um die Schriftauslegung87 im JohEv insgesamt nicht be288 (M. Hengel stellt ebd. 283 ein kanonisches Interesse des Evangelisten fest, der „eine Art neuer ‚heiliger Schrift‘ verfassen will, die die bisherige Schrift ergänzt und abschließt“; vgl. A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 61), 418–422 (vgl. die Rez. von K. Scholtissek, ThRv 94 [1998], 196–198); É. Cothenet, L’arrière-plan vétéro-testamentaire du IVe Évangile, in: A. Marchadour (Hg.), Origine et postérité de l’évangile de Jean, LD 143, Paris 1990, 43–69; H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments III. Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung, Epilegomena, Göttingen 1995, 152–205; M. J. J.  Menken, Old Testament Quotations in the Fourth Gospel. Studies in Textual Form, CBET 15, Kampen 1996 (M. J. J.  Menken nimmt an, die Schrift Israels habe im Sinne des JohEv eine geheime Bedeutung, die durch ihre Anwendung auf Jesus als Gottes eschatologischem Boten zu Tage trete; vgl. ebd. 207 f ); Ch. Dietzfelbinger, Aspekte des Alten Testaments im Johannesevangelium, in: H. Cancik u. a. (Hgg.), Geschichte – Tradition – Reflexion I–III (FS M. Hengel), Tübingen 1996, III 203–218; A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 61); J. Beutler, Der Gebrauch der Schrift im Johannesevangelium (1996), in: Ders., Studien (s. Anm. 23), 295–315 (Lit.); W. Kraus, Johannes und das Alte Testament. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium im Horizont Biblischer Theologie, ZNW 88 (1997), 1–23; Ders., Die Vollendung der Schrift nach Joh 19,28. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium, in: Scriptures (s. Anm. 85) 629–636; U. Busse, Die Tempelmetaphorik als ein Beispiel von implizitem Rekurs auf die biblische Tradition im Johannesevangelium, ebd. 395–428; M. Theobald, Schriftzitate im „Lebensbrot“-Dialog Jesu (Joh 6). Ein Paradigma für den Schriftgebrauch des vierten Evangelisten, ebd. 327–366 (Lit.). M. Theobald sieht Gründe, von einem „destruktiven Schriftumgang“ (ebd. 365) des vierten Evangeliums zu sprechen. 87  Vgl.: H.-J. Fabry, Methoden der Schriftauslegung in den Qumranschriften, in: G. Schnöllgen / ​Cl. Scholten (Hgg.) Stimuli. Exegese und Hermeneutik in Antike und Christentum (FS E. Dassmann), JAC.E 23, Münster 1996, 18–33 (die folgenden Ausführungen beziehen sich weitgehend auf diesen Artikel); Ders., Schriftverständnis und Schriftauslegung der Qumran-Essener, in: J. Maier / ​H. Merklein / ​K . Müller / ​G. Stemberger (Hgg.), Bibel in jüdischer und christlicher Tradition (FS J. Maier), BBB 88, Frankfurt a. M. 1993, 87–96; M. Fishbane, Use, Authority and Interpretation of Mikra at Qumran, in: M. J. Mulder (Hg.), Mikra. Text, Translation, Reading and Interpretation of the Hebrew Bible in Ancient Judaism and Early Christianity, CRINT II/1, Assen 1988, 339–377 (sein Urteil stimmt mit demjenigen von H.-J. Fabry überein); G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel, in: Ch. Dohmen / ​Ders. (Hgg.), Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments. StTh 1,2, Stuttgart 1996, 23–74, hier: 38–47; J. Maier, Early Jewish Biblical Interpretation in the Qumran Literature, in: M. Saebo (Hg.), Hebrew Bibel – Old Testament. The History of its Interpretation, Vol. I: From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300), Part 1: Antiquity, Göttingen 1996, 108–129 (Lit.). Zur frühjüdischen Schriftauslegung vgl. den Überblick von M. Hengel, ‚Schriftauslegung‘ und ‚Schriftwerdung‘ in der Zeit des Zweiten Tempels, in: Ders. / ​H. Löhr (Hgg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum, WUNT 73, Tübingen 1994, 1–71. M. Hengel unterscheidet grundlegend zwischen der gesetzeskonformen und der inspirierten Schriftauslegung im Frühjudentum. Zur inspirierten Schriftauslegung zählt er neben Sir 24,33; 38,24–39,12 (ebd. 35–44 zum prophetisch inspirierten Selbstverständnis des Weisen als Schriftgelehrten) und Philo auch die Qumranschriften (vgl. ebd. 51–56).

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1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

achtete gemeinsame hermeneutische Struktur erkennen:88 Die Pesharim89 (es gibt ca. 30 Texte dieser Gattung90) beziehen mit Vorliebe prophetische Bücher „auf die aktuelle – apokalyptisch verstandene – Gegenwart.“91 „Die in Qumran konsequente Auslegung des Bibeltextes auf die unmittelbare Gegenwart geht so weit, daß die Qumranessener der Meinung waren, die alttestamentlichen Propheten hätten keine Botschaft für ihre eigene Zeit gehabt, vielmehr seien alle ihre Aussagen ausschließlich für die qumranessenische Gegenwart bestimmt.“92 Zudem versteht sich der Pesher nicht nur als Kommentar zur Offenbarungsschrift, er will selbst auch als Offenbarung gelesen werden und setzt daher ein selbständiges Offenbarungsbewusstsein voraus.93 Damit gleicht dieses Verfahren der inneralttestamentlichen Fortschreibung94 der Prophetenbücher (einer „Prophetie durch Deutung“95)  – freilich mit dem unterscheidenden Anspruch, „die letztmalige und entscheidende 88 A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 61) verzichtet vollständig darauf, die joh Schriftauslegung in einen biblisch-frühjüdischen Zusammenhang zu stellen. Vgl. aber J. Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des Zweiten Tempels, NEB.AT Erg. 3, Würzburg 1990, 135: „Man hat mit Recht darauf verwiesen, daß bis zu einem gewissen Grad auch das frühe Christentum Merkmale solch akut-eschatologisch motivierter Bibelausdeutung und ‑anwendung aufzuweisen hat, wobei ebenfalls der Anspruch einer durch den Geist Gottes vermittelten Einsicht in die ‚eigentliche‘ (hier auf Christus hindeutende) Aussage der Heiligen Schriften zu vermerken ist.“ Vgl. Ders., Interpretation (s. Anm. 87), 127: „The same procedure, however, focussed on christological issues, has been applied by the Christians.“ Vgl. auch die Andeutung von M. J. J.  Menken, Old Testament Quotations (s. Anm. 86), 208. 89  Vgl. hierzu die Monographie von M. P.  Horgan, Pesharim. Qumran Interpretations of Biblical Books, CBQ.MS 8, Washington 1979. 90  Vgl. die Liste bei H.-J. Fabry, Schriftverständnis (s. Anm. 87) 89 f. 91  H.-J. Fabry, Methoden (s. Anm. 87) 20. Vgl. J. Maier, Qumran-Essener III (s. Anm. 18) 11–21; Ders., Interpretation (s. Anm. 87), bes. 126–129. 92  H.-J. Fabry, Methoden (s. Anm. 87) 21. Vgl. G. Stemberger, Hermeneutik (s. Anm. 87) 50: „Grundlage des gesammten Umgangs mit der Bibel in Qumran ist somit das Wissen, am Ende der Zeiten zu stehen und zur Bewältigung dieser Lage mit einem inspirierten Verständnis der gerade nun ihren vollen Sinn bekommenden heiligen Schriften begnadet zu sein, die klar als Einheit betrachtet werden.“ Vgl. 1QpHab VII. 93 vgl. hierzu insbes. J. Maier, Interpretation (s. Anm. 87). 94 Fortschreibung bzw. relecture benennen methodisch und inhaltlich ein neues Paradigma der Johannesforschung, vgl.: A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169, Göttingen 1995; J. Zumstein, L’évangile johannique, une stratégie du croire, RSR 77 (1989), 217–232; Ders., Mémoire et relecture pascale dans l’évangile selon Jean, in: D. Marguerat / ​Ders. (Hgg.), La mémoire et le temps. Mélanges offerts à Pierre Bonnard, MoBi 23, Genf 1991, 153–170 [= in: Ders., Miettes exégétiques, MoBi 25, Genf 1991, 299–316]; Ders., Der Prozeß der Relecture in der johanneischen Literatur, NTS 42 (1996), 394–411; Ders., Zur Geschichte des johanneischen Christentums, ThLZ 122 (1997), 417–428; K. Scholtissek, Mystagogische Christologie im Johannesevangelium? Eine Spurensuche, GuL 68 (1995), 412–426; Ders., „Rabbi, wo wohnst du?“ (Joh 1,38). Zur mystagogischen Christologie im Johannesevangelium (am Beispiel der Jüngerberufungen Joh 1,35–51), BiLi 68 (1995), 223–231; „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), in diesem Band, S. 151–172; Ders., Relecture – zu einem neu entdeckten Programmwort der Schriftauslegung (mit Blick auf das Johannesevangelium), BiLi 70 (1997), 309–315; Ders., Johannine Studies (s. Anm. 30). 95 Vgl. hierzu: J. J.  Collins, Jewish Apocalyptic against its Hellenistic Near Eastern Environment, BASOR 220 (1975), 27–36.

4.  Die johanneische Schrifthermeneutik

501

Fortschreibung des Textes“96 zu geben. In den Qumran-Pesharim begegnet uns eine „grundsätzliche, exklusive Deutung von Aussagen der Propheten und Davids auf die aktuelle Gemeinde hin.“97 Auch die besonders von J. Maier98 herausgestellte Neubewertung der Midraschim, der zweiten bedeutenden Gattung in den Qumranschriften,99 bestätigt den Autoritätsanspruch der Toraauslegung des dores hattorah, der die Tora „ex auctoritate und ex officio auslegt“100 und für diese Auslegung selbst kanonischen Anspruch erhebt (vgl. Dtn 18,15–18). J. Maier urteilt, daß (mindestens) in Qumran „Midrasch“ nicht einfach als „Auslegung“ vorhandener Pentateuchgesetze (so aber eine verbreitete Sichtweise) verstanden werden kann: „Der Pentateuch enthält nur einen Teil der ‚Torah‘, diese ist programmatisch identisch mit Gottes verbindlichem Willen überhaupt. Die jeweils zu praktizierende ‚Torah‘ wurde durch die priesterliche Kompetenz (wie ein Orakel) eruiert, autoritativ verkündet und im Konsens schriftlich in einem Säräk (sachbezogene Regelsammlung, Ordnung) bzw. in einem Midrasch (Niederschrift) fixiert.“101

4.2  Johanneische Schriftauslegung Im Folgenden kann weder das gesamte Zeugnis der Schriftrezeption im JohEv aufgeführt und diskutiert noch die Forschungsbeiträge102 im Einzelnen besprochen werden. Gefragt wird hier nach der joh Schrifthermeneutik, die sich im Umgang mit dem komplexen Textbefund zu erkennen gibt. Ein Kennzeichen der das JohEv insgesamt bestimmenden nachösterlichen Hermeneutik ist die neue Schriftinterpretation: Das „Schriftverständnis gehört daher zu ihrem (scil. der Jünger) nachösterlichen Verstehen, Schriftauslegung ist Bestandteil ihres nachösterlichen Zeugnisses.“103 Von dieser nachösterlich-joh Sehweise ausgehend wird die Schrift Israels als auf das Christusgeschehen zulaufend interpretiert: Die Schrift wird zum vorgängigen104 Zeugnis für das in joh Sehweise bereits eingetretene Heilsgeschehen der Sendung, Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi.  H.-J. Fabry, Methoden (s. Anm. 87), 21.  Ebd. 22.  98 Vgl. J. Maier, The Judaic System of the Dead Sea Scrolls, in: J. Neusner (Hg.), Judaism in Late Antiquity, Handbuch der Orientalistik I/17, Leiden 1995, 84–108; Ders., Interpretation (s. Anm. 87).  99  Vgl. H.-J. Fabry, Methoden (s. Anm. 87), 23–25; J. Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des Zweiten Tempels (NEB.AT Erg. 3), Würzburg 1990, 132–134 (Lit.). 100 H.-J. Fabry, Methoden (s. Anm. 87), 24. 101 J. Maier, Qumran I (s. Anm. 18) XIV; vgl. Ders., Interpretation (s. Anm. 87), bes. 113–123. 102  Vgl. die in Anm. 86 genannten Autoren. 103  Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996, 210. 104 Vgl. 10,35: „Wenn er jene Götter genannt hat, an die das Wort Gottes erging, und wenn die Schrift nicht aufgehoben werden kann, … .“  96  97

502

1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

Im Sinne des vierten Evangelisten legt die Schrift Zeugnis ab für Christus, in dem allein das wahre Leben zu finden ist – und eben nicht schon in den Schriften selbst (vgl. 5,39bc105). „Bezüglich der johanneischen Hermeneutik ist festzuhalten, daß die Schriften auf Christus hin zu lesen und zu befragen sind. Erst durch diese Perspektive kommen die Schriften zu ihrer wahren Entfaltung, da die ihnen zugedachte und die in ihnen liegende Fülle im Zeugnis von Christus ansichtig wird.“106

5,37–40 ist ein kleines, aber höchst bedeutsames Kompendium joh Schrifthermeneutik:107 „Die Schriften erforschen (ἐραυνάω108)“ (vgl. auch 7,52) in der Annahme (vgl. δοκέω), „in ihnen ewiges Leben zu haben (ἐν αὐταις ζωὴν αἰώνιον ἔχειν)“ ist aus joh Perspektive ambivalent: Das Schriftstudium ist sehr wertvoll, insofern es „die Schriften“ sind, „die Zeugnis über mich ablegen“ (5,38de). Wird diese christologische Verweisfunktion der Schrift aber nicht wahrgenommen, weil der Glaube an den Gesandten Gottes fehlt (vgl. 5,38bc.40), kann das Schriftstudium nicht fruchtbar sein, d. h. es führt nicht zur Immanenz des Wortes Gottes in den „Suchenden“ (5,38a; 8,31.37) bzw. zum „Haben des ewigen Lebens“ (5,39bc.40). Die Zuordnung der Schrift Israels zum Christusgeschehen in der joh Sehweise zeigt M. Theobald am Beispiel der Verse Joh 6,44–45: „Im Hören auf Gott in der Tora erfährt der Mensch, wie dieser ihn zieht; er zieht ihn aber zu Jesus, auf den nach Überzeugung unseres Logions die Tora insgesamt zuläuft.“109

105  Δοκεῖτε in 5,39b wird dann als irrtümliche Annahme ausgelegt (A. Obermann, Erfüllung [s. Anm. 61], 374 Anm. 31), wie auch sonst im JohEv: 5,45; 11,13.31.56; 13,29; 16,2; 20,15. 106  A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 61), 374. 107  Vgl. die Auslegung von A. Obermann ebd. 371–378 (Lit.). 108  Ἐραυνάω (bzw. klass. ἐρευνάω = „nachspüren“, „untersuchen“, „ergründen“; hebräisch ‫ָד ַרּשׁ‬ = „suchen“, „forschen“, „sich kümmern um“), kann sich im AT (vgl. Jes 34,16; Esr 7,10), in Qumran (vgl. 1 QS 5,11; 6,6; 4 QFl 1,11; 1 QS 8,15; CD 20,6), bei Philo (Cher 14) und in den rabbinischen Zeugnissen (vgl. Ab I,17; Ket IV,6; pJoma III,5.40c) zu einem „technischen Ausdruck für das Studium der Schrift“ (R. Schnackenburg, Joh II [s. Anm. 18], 175) verfestigen. Gleichwohl ist bis zum Ende des 1. Jh. n. Chr. mit der ursprünglicheren Bedeutung: „Suchen“ in der Schrift (vgl. Joh 5,39; 7,52) zu rechnen (vgl. A. Obermann, Erfüllung [s. Anm. 61], 374 f ). „Suchen“ in der Schrift bedeutet dann aber Suche nach dem Willen Gottes bzw. nach Gott selbst; vgl. in Joh 1,35–51 das „suchen“ und „finden“ der ersten Jünger (vgl. hierzu ebd. 367–371). Vom ToraStudium erwartet der biblisch Glaubende die Begegnung mit dem Willen und dem Leben Gottes (vgl. Dtn 32,45–47 [V 47LXX: αὕτη ἡ ζωὴ ὑμῶν]; Sir 17,11; Bar 4,1 [!]; PsSal 14,1–2; syrBar 38,2). Zum „Forschen“ in der Tora in der Sicht der Qumran-Schriften (vgl. schon 1 QS 1,1–2); vgl. O. Betz, Offenbarung und Schriftforschung in der Qumransekte, WUNT 6, Tübingen 1960, 15–36; M. Hengel, Schriftwerdung (s. Anm. 87), 53 f. J. Maier übersetzt ‫ דרש‬in 1 QS 1,1 und CD 1,10 mit „fragen“ (Ders., Qumran I [s. Anm. 18], 8.168), O. Betz mit „suchen“ (Ders., Offenbarung [in dies. Anm.], 16). 109  M. Theobald, Gezogen von Gottes Liebe (6,44 f ). Beobachtungen zur Überlieferung eines johanneischen „Herrenworts“, in: K. Backhaus / ​F. G. Untergaßmair (Hgg.),Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Paderborn 1996, 315–341, hier 335; vgl. ebd. 336: „Wer wirklich auf die Tora hört und sich in ihr von Gott selbst unterweisen läßt, der findet den Weg zum Messias und Gottessohn Jesus.“

4.  Die johanneische Schrifthermeneutik

503

Strukturanalog zur Schrifthermeneutik in Qumran wird die heilsgeschichtlich gedeutete Gegenwart zum Kriterium der richtigen Schriftauslegung erhoben.110 Trifft diese Grundfigur auf die joh Schrifthermeneutik zu, dann handelt es sich bei der joh Schriftauslegung um eine im Spektrum der frühjüdischen Schriftauslegungen strukturell bekannte und mögliche Verfahrensweise, die freilich  – und darin besteht ihr christliches Proprium  – in Jesus Christus den Ort der eschatologischen Gottesoffenbarung verkündet. In dieser Perspektive ergeben sich Anfragen an die Interpretationen von M. Theobald,111 Chr. Dietzfelbinger112 und W. Kraus,113 die mit verschiedenen Nuancen die joh Schrifttheologie von einer gegen die Heilsgeschichte gerichteten „Enteignung“ der Heiligen Schrift Israels, von einer „Entgeschichtlichung“114 bzw. „Entleerung der Heilsgeschichte“115 bestimmt sehen. Da „der Gedanke der Heilsgeschichte weitgehend preisgegeben werde,“116 sieht W. Kraus 1,11.14.17; 4,22 und 10,34–35 als nicht bestimmend für das joh Denken an (4,22 „hängt … in der Luft und verblaßt zu einer historischen Reminiszenz“117). Wenn es mit W. Kraus zutrifft, daß das JohEv die eigene „Darstellung des Christusereignisses in den Rang der γραφή rückt,“118 dann entspricht diesem Vorgehen strukturell das Selbstverständnis der verbindlichen Schriftauslegung in Qumran (s. o.).119 So bleibt zu fragen, ob die christologische Schriftauslegung des JohEv tatsächlich das eigene Gewicht der vorgängigen Gottesoffenbarung an Israel (vgl. 10,35: πρὸς οὕς ὀ λόγος τοῦ θεοῦ ἐγένετο) extrem minimiert bzw. auslöscht. M. E. ist das kontroverse Problem, von dem die joh Schriftauslegung bestimmt ist, primär nicht die Geltung der Gottesgeschichte Israels, nicht die Bestreitung des erwählenden Geschichtshandelns Gottes an und in Israel, nicht die Entleerung des Bundes mit Israel, sondern der joh Anspruch, das als eschatologische Tat Gottes gedeutete 110 Vgl.

die Auslegung von 6,31–35 bei M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 86) 347: „Das Schrift-Wort versteht aber nur, wer über es hinausgeht und sich auf den Standort des Jesus-Worts begibt, um sich von diesem als dem authentischen Offenbarungswort sagen zu lassen, was der wahre Sinn des Schrift-Worts ist“; ebd. 356: Das Schriftwort erhält „als neuen Referenten eben die Christusgeschichte“. 111  Vgl. M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 86). 112  Ch. Dietzfelbinger, Aspekte (s. Anm. 86). 113  Vgl. W. Kraus, Vollendung (s. Anm. 86), 629: „Die Schrift wird hierbei von der Geschichte Israels abgekoppelt …“; vgl. ebd. 635: „Die Schrift wird losgelöst von der Geschichte Gottes mit Israel …“ 114  Vgl. W. Kraus, Vollendung (s. Anm. 86), 633: „Der fortschreitenden Entfremdung Jesu von den Juden entspricht die Entfremdung der Glaubenden von der Welt.“ 115 Vgl. M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 86), 362: Die Geschichte Israels „wird abgestoßen und in einen Raum theologischer Irrelevanz entlassen“; vgl. ebd. 365: „eine heilsgeschichtliche Entleerung der in den Schriften bezeugten Geschichte Israels“. 116 W. Kraus, Johannes (s. Anm. 86), 20. 117  Ebd. 22 Anm. 115. 118  Ebd. 2; vgl. ebd. 16–19. 119 Ob deshalb auch das von W. Kraus (ebd. 17) akzeptierte Urteil von W. A.  Meeks („Ihre Loslösung von der Welt fällt im Evangelium mit der Loslösung vom Judentum zusammen“) zutrifft, mag hier immerhin angefragt werden.

504

1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

Christusgeschehen als konform mit der biblischen Verheißungsgeschichte und als das Handeln des einen und selben Gottes Israels auszuweisen.120 Die umfangreiche Schriftrezeption im JohEv verdankt sich dem Bemühen, das Christusereignis gerade nicht im Sinne eines deus ex machina zu isolieren und abzukoppeln, sondern es einzuschreiben und zu deuten im Horizont der biblischen Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem erwählten Volk. In diesem Sinne kennt und thematisiert das JohEv die Sendung Jesu zum Gottesvolk Israel (vgl. 1,11–13.31) und reflektiert die dramatische Ablehnung dessen, der, obwohl er „in sein Eigentum kommt“, „von den Eigenen nicht aufgenommen wird“. Es gehört zur Ironie der Verhöre, denen Jesus immer wieder ausgesetzt ist, daß er seinen Opponenten alle Argumente und Rekursinstanzen entwindet: Der Berufung auf die Schrift bzw. das Gesetz, auf Abraham und Mose, der Berufung auf den „einen Gott“ (8,41) und den Anklagen der Gotteslästerung widerspricht Jesus und zeigt auf, warum diese Instanzen nicht gegen, sondern gerade für ihn sprechen. Am Ende der Streitgespräche mit Prozesscharakter steht in einem ironischen Rollenwechsel nicht Jesus, sondern seine Gegner als Angeklagte da.121

5.  Rückblick und Ausblick (1) Der oben in Grundzügen angesprochene Textbefund zur Israeltheologie des vierten Evangeliums (vgl. 3) und die joh Schrifthermeneutik (vgl. 4) erklären sich meines Erachtens aus folgender Grundfigur: Das JohEv bejaht und betont die heilsgeschichtliche Prärogative Israels, wie sie urchristlich auch sonst (bei aller Unterschiedlichkeit) festgehalten wird (vgl. Röm 1,16: Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕ   λληνι [= 2,9.10]122; Mk 7,27: πρῶτον123; Apg 3,26: πρῶτον; 13,46: πρῶτον): ­Israel ist das Wort Gottes zugesprochen worden, aus Israel stammt die unauflösbare Schrift (10,35); aus Israel kommt das Heil (4,22); der Sohn Gottes, der Messias und König Israels ist Jude (4,9); Johannes der Täufer ist von Gott gesandt, „Israel (den Messias) zu offenbaren“ (vgl. 1,31); die „Griechen“ können erst nachösterlich vermittelt durch Philippus und Andreas „zu Jesus kommen“ (12,20–24124); Jesus stirbt 120  Nach F. Vouga, Antijudaismus (s. Anm. 26), 88 f, setzt das JohEv die doppelte Autorität der jüdischen Tradition und der Christologie voraus, so sehr es die Schrift Israels auf die Christologie hin auslegt. 121 In diesen Fällen sind die Gegner Jesu in den Streitgesprächen die Opfer der joh Ironie. Vgl. weiterführend K. Scholtissek, Ironie (s. Anm. 71). 122  Vgl. hierzu E. Lohse, „Die Juden zuerst und ebenso die Griechen“, in: M. Evang u. a. (Hgg.), Eschatologie und Schöpfung (FS E. Grässer), BZNW 89, Berlin 1997, 201–212. 123  Vgl. die Auslegung zu Mk 7,24–30 von R. Kampling, Israel unter dem Anspruch des Messias. Studien zur Israelthematik im Markusevangelium, SBB 25, Stuttgart 1992, 135–152 („Der heilsgeschichtliche Vorrang Israels im Spannungsfeld von Gemeinde und Judentum“). 124 Zur Auslegung von 12,20–21 vgl. J. Beutler, Griechen kommen, um Jesus zu sehen (Joh 12,20 f ) (1990), in: Ders., Studien (s. Anm. 23) 175–189 (Er rechnet mit JesLXX 52,15 als Bezugstext).

5.  Rückblick und Ausblick

505

als „König Israels“ „für sein Volk“ (vgl. 10,15–16; 11,49–52125)126; als der Erhöhte wird er „alle an sich ziehen“ (12,32).127 Die Verheißungen an Israel werden in der Sendung Jesu aufgerufen und eingelöst, die Schrift „erfüllt sich“128 – auch wenn Jesus gemäß der Messias-Regel des Täufers in 1,26d weitgehend unerkannt bleibt. Die joh Schrifthermeneutik bleibt auch mit ihrer strengen christologischen Ausrichtung strukturell im Rahmen zeitgenössischer jüdischer Schriftauslegungen. Diese Beobachtungen widersprechen dem Urteil, das JohEv sei antijüdisch. (2) Ausweislich der semantischen Achse in 1,11–13 organisiert das JohEv seine gesamte Theologie an der eschatologischen Gottesoffenbarung in seinem Sohn Jesus Christus, die auf Glaube oder Unglaube, auf Ablehnung oder Aufnahme stößt (vgl. 13,20; 20,30–31). An dem Verhalten gegenüber dem „Kommen“ des vom Vater gesandten Sohnes entscheiden sich Heil und Unheil, Gericht und Leben für „die Seinen“ (1,11–13). Dieser joh Entscheidungsdualismus129 stellt die nichtchristusgläubigen Juden auf die Seite derer, die Gottes Offenbarung in seinem Sohn und damit Gott selbst ablehnen, ja baut „die Juden“ in einzelnen Szenen sogar als Repräsentanten einer gottfeindlichen Welt auf.130 Dabei lässt das JohEv keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es der Gott Israels ist, der in der Geschichte Israels gehandelt hat und der jetzt in Jesus Christus seine Herrlichkeit eschatologisch offenbart: Von diesem Christus-Geschehen als Gottesoffenbarung her liest und deutet der Evangelist die Heiligen Schriften Israels, die in seiner Interpretation eben auf dieses Christusereignis vorausweisen. Strukturell stimmt der Evangelist mit den anderen urchristlichen Theologen und ihren Schriften131 darin überein, die Schrift Israels auf das Christusereignis hin zu deuten. Eine solche Schriftinterpretation, die die Schrift auf die als heils125 Zur Auslegung dieser ironischen Fremdprophetie vgl. K. Scholtissek, Ironie (s. Anm. 71).

 Vgl. F. Muẞner, Traktat (s. Anm. 4) 292 f. G. Strecker, Theologie (s. Anm. 23) 516: „Es besteht also eine heilsgeschichtliche Linie, die von der Geschichte Israels zu Jesus führt: Schon Abraham hat den Tag des präexistenten Gottessohnes gesehen“. Vgl. auch F. Hahn, Heil (s. Anm. 23) 113: „‚Juden‘ sind daher diejenigen, die aus dem σπέρμα Ἀβραάμ stammen und zugleich das Zeugnis des Mose sowie der anderen alttestamentlichen Schriften haben, also ständig auf den Messias, das eschatologische Heil Gottes verwiesen werden“; vgl. ebd. 115: „Die ‚Juden‘ sind Träger des göttlichen Verheißungszeugnisses und eines über die alttestamentliche Geschichte hinausweisenden zeichenhaften Handelns Gottes.“ 128 Zu den joh „Erfüllungs-Zitaten“ vgl. A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 61) 81–89.218–330. Zur joh Schrifthermeneutik vgl. die Ausführungen in 4. 129 Im JohEv gibt es weder einen metaphysisch-kosmologischen Dualismus noch eine Prädestinationslehre im strengen Sinne. 130  Die Polemik des 1 Joh gegen die „Antichristen“ (vgl. 1 Joh 2,18–19.22; 4,3; 2 Joh 7), die die aus der Sicht des 1 Joh orthodoxe und orthopraktische Lehre nicht teilen, zeigt vielleicht, daß massive Polemik im Corpus Johanneum sich primär nicht aus vorgegebenen antijüdischen Grundeinstellungen speisen muss, sondern prinzipiell Gegner treffen kann. 131  Für die paulinische Schrifthermeneutik vgl. Th. Söding, Heilige Schriften für Israel und die Kirche. Die Sicht des „Alten Testamentes“ bei Paulus (1995), in: Ders., Das Wort vom Kreuz. Studien zur paulinischen Theologie, WUNT 93, Tübingen 1997, 222–247 (Lit.); K. Kertelge, Das Alte und das Neue Testament – die eine Heilige Schrift, in: Schrift und Tradition (s. Anm. 109) 159–171, hier 165–167 (Lit.). 126

127 Vgl.

506

1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

geschichtlich bedeutsam verstandene Gegenwart bezieht, teilen die urchristlichen Autoren mit frühjüdischen Schriftauslegungen (vgl. Qumran). Unterscheidend ist dabei nicht die angewandte Schrifthermeneutik, sondern der Bezug auf die Sendung Jesu als Ort der endzeitlichen Gottesoffenbarung. Es gehört zu dieser Schrifthermeneutik hinzu, daß sie jeweils nur diejenigen Personen zu überzeugen vermag, die die Einschätzung der jeweiligen Gegenwart, auf die die Schrift bezogen wird, im Sinne der Schriftausleger teilen (hermeneutischer Zirkel132). (3) Die christozentrische Theozentrik (vgl. 14,6; die „ICH-bin“-Worte Jesu133) des JohEv führt zu der Folgerung, daß jeder, der Jesus als Sohn Gottes ablehnt, auch Gott selbst ablehnt und nicht erkannt hat (vgl. 1,18; 5,37; 6,46; 8,19.42.55; 16,3; 15,21). Spiegelbildlich entspricht dieser Auslegung auf der Seite der Gegner Jesu der Vorwurf der Blasphemie gegenüber dem von Jesus erhobenen Anspruch – ein Vorwurf, der tödliche Konsequenzen hat (vgl. 5,18; 7,1.19.25.30; 8,37.40.53.59; 10,31–39; 11,50–53; 19,7). Genau hier trifft die Kontroverse zwischen Jesus und seinen Gegnern in der erzählten Welt bzw. zwischen den joh Christen und ihren zeitgenössischen Opponenten in der Zeit der Abfassung des Evangeliums auf das Zentrum: Beide Seiten beanspruchen für den Glauben an Jesus bzw. für die Ablehnung Jesu den einen Gott Israels: „Man wird sagen müssen, daß es gerade diese Voraussetzung desselben Gottes ist, die die Auseinandersetzung so unerbittlich scharf werden lässt. … Umstritten ist nicht die Selbigkeit Gottes, des Gottes Israels, sondern der Ort seiner Präsenz.“134

U. Wilckens sieht richtig: Die große theologische Herausforderung, auf die der Evangelist reagiert, ist der Vorwurf der Blasphemie von jüdischer Seite. Dieser Vorwurf wird vom Evangelisten aus dem Prozess Jesu (vgl. Mk 14,64) in das gesamte Wirken Jesu vorverlegt (vgl. 5,18; 8,53; 10,33.36; 19,7). Dem Evangelisten liegt alles daran, die Einheit Gottes (vgl. Dtn 6,4; Ex 20,2) und die Einheit von Vater und Sohn (vgl. 10,30) als nichtwidersprüchlich auszusagen.135 Deshalb schreibt er seine Christozentrik in die monotheistische Theozentrik des biblischen Gottesglaubens ein (vgl. nur die „ICH-bin“-Worte).136 132 Vgl. auch J. Beutler, Gebrauch (s. Anm. 86) 315: „Die einzelnen ‚Beweistexte‘ führen zu Jesus, doch können sie in ihrer Gesamtheit nur verstanden werden, wenn der Glaube, zu dem sie führen sollen, schon vorausgesetzt wird.“ 133  Vgl. zu den joh „ICH-bin“-Worten zuletzt: H. Thyen, Art. „Ich-Bin-Worte“, RAC Lfg. 129/130 (1994), 147–213; O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995, 194–200; D. M.  Ball, ‚I Am‘ in John’s Gospel. Literary Function, Background and Theological Implications, JSNT.SS 124, Sheffield 1996. 134  K. Wengst, Gemeinde (s. Anm. 21) 133 (u. ö.). 135  Vgl. U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 11998, 13 f.27.​170 f.​ 221 f.​285 f.332–336.347 f. 136 Zwischen der joh Christologie und dem rabbinischen Tora-Verständnis besteht eine tiefe Strukturanalogie: „Weg zum Leben“ ist rabbinisch die Tora, christlich Jesus Christus. Vgl. die Ausführungen von F. Avemarie, Tora und Leben. Untersuchung zur Heilsbedeutung der Tora

5.  Rückblick und Ausblick

507

(4) Die joh Theologie votiert wohl nicht für eine „Entgeschichtlichung“ oder eine „Entleerung“ der Heilsgeschichte  – bei aller resoluten Interpretation der Heiligen Schriften Israels auf das Christusereignis hin.137 Gerade die vehement christologische Interpretation der Schrift im JohEv zeugt auch von der bleibenden Geltung und Autorität der „unauflösbaren Schrift“, die „das an Israel ergangene Wort Gottes“ beinhaltet (vgl. 10,35). Umstritten ist für das JohEv nicht die Schrift selbst, nicht die in der Schrift bezeugte Heilsoffenbarung Gottes, nicht das unverrückbare „zuerst“ der Berufung und Erwählung Israels (vgl. 4,22), nicht die Autorität des Schriftzeugnisses, auf das sich das JohEv – auch zur eigenen Deutung des Christusereignisses – angewiesen weiß, sondern die Frage, ob der Gott Israels in der Sendung Jesu Christi eschatologisch verbindlich gehandelt hat oder nicht. Das JohEv bleibt deshalb – freilich mit einem eigenen Beitrag – grundsätzlich anschlussfähig an die in der neueren gesamtbibeltheologischen Diskussion (bei allen Kontroversen) angezielte „kanonische Dialogizität“ der beiden Testamente, die die eigene vorgängige Autorität der Schrift Israels neu gewichtet.138 Die christlich festgehaltene und festzuhaltende Einheit des Offenbarungswortes Gottes stellt das „Alte Testament“ und das „Neue Testament“ in eine „spannungsvolle Einheit aus gegenseitiger Verwiesenheit.“139 (5) Für die heute anstehende christliche Selbstbesinnung und den zu wünschenden jüdisch-christlichen Dialog hält U. Wilckens fest: „Beide aber, Juden wie Christen, sind an diesen einzig-einen Gott absolut gebunden und von daher in ihrem Streit aneinander gebunden in einer Tiefe, wie es sonst keine streitenden Parteien in der Welt sein könnten.“140 in der frühen rabbinischen Literatur, TSAJ 55, Tübingen 1996; vgl. ebd. 594–596 zum JohEv, hier 596: „Was die Rabbinen an positiver Heilsbedeutung der Tora zuschreiben, sagen die christlichen Theologen von Jesus, dem Messias und Sohn Gottes, aus. … An den Entsprechungen zwischen rabbinischen Aussagen über die Tora und neutestamentlichen Aussagen über Christus zeigt sich ebenso, daß das Christentum in seinem ganzen Wesen von seiner jüdischen Herkunft bestimmt ist, …“ 137  Vgl. M. Hengel, Schriftauslegung (s. Anm. 86), 268: „Es ist erstaunlich, mit welch rigorosem Selbstvertrauen Johannes das ganze Alte Testament einschließlich der Tora Moses für die christologische Selbstverkündigung Jesu in Anspruch nimmt.“ 138  Vgl. hierzu: B. Childs, Die Theologie der einen Bibel I. Grundstrukturen, II. Hauptthemen, Freiburg i. Br. 1994.1996; W. Breuning, Art. „Altes Testament I.-III.“, LThK3 1 (1993), 457–461 (Lit.); Ch. Dohmen / ​Th. Söding (Hgg.), Eine Bibel  – zwei Testamente, utb 1893, Paderborn 1995 (Lit.); Ch. Dohmen / ​G.  Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, StTh 1,2, Stuttgart 1996 (Lit.); G. Steins, Die zweieine Bibel in der Liturgie: Pastoralblatt [Köln] 50 (1998), 105–111. Vgl. auch die grundlegenden „Perspektiven für eine Biblische Theologie des Alten und Neuen Testamentes“ von W. Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments I. Kriterien aufgrund der Rückfrage nach Jesus und des Glaubens an seine Auferweckung; II. Programm einer Theologie des Neuen Testaments mit Perspektiven für eine Biblische Theologie, Münster I (1981) 2 1996; II 1998, hier: II 187–244; B. Janowski, Der eine Gott der beiden Testamente. Grundfragen einer Biblischen Theologie, ZThK 95 (1998), 1–36 (Lit.). 139  Vgl. den Beitrag von K. Kertelge, Das Alte und das Neue Testament (s. Anm. 131; Zitat: 169). 140  U. Wilckens, Johannes (s. Anm. 135), 126.

508

1.  Antijudaismus im Johannesevangelium?

„Das Ur-Wissen, daß es hier und dort der selbe eine-einzige Gott ist, zu dem sich Christen wie Juden mit ihrem ganzen eigenen Leben zu bekennen haben, muss sich in einer UrAchtung voreinander verwirklichen, die dem (unvermeidlichen) Streit um die Wahrheit des einen Gottes seine Würde gibt.“141

Diesen „Streit“ wird – um mit Paulus zu sprechen – niemand anders als Gott selbst lösen (vgl. Röm 11,25–36). Bis dahin sind Christen und Juden an die Praxis der größeren Liebe verwiesen, die angesichts des Erbarmens Gottes jegliche Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit ausschließt (vgl. Röm 9,14–29; 11,13–24) und Gottes unwiderruflichen Treue traut (Röm 11,29; Nostra aetate 4).

 Ebd. 200; vgl. ebd. 152 f.199 f.224.293 f.

141

2.  Zwischen Buchstaben und Geist Impulse der Johannesinterpretation Erik Petersons „Zwischen Buchstaben und Geist“ – dieser Titel spielt an auf uralte Grundfragen der jüdischen und christlichen Schriftauslegung. Eine Schriftauslegung, die ihren Namen verdient, kann nicht umhin, sich auf die Buchstaben des Geschriebenen zu beziehen, sie kann nicht umhin, sich auf die in Buchstaben geschriebene normative Urkunde des Glaubens zu beziehen. Als Auslegung der von Menschen geschriebenen Worte in den kanonischen Schriften („Gotteswort in Menschenwort“) kommt es ihr nach katholischem Verständnis zu, „die Seele der Theologie“ (Dei Verbum 24) und des kirchlichen Lebens zu bilden.1 Zugleich ist der Buchstabe als solcher  – nur für sich allein genommen  – tot. „Papier ist geduldig“  – oder biblischer: „Der Geist ist es, der lebendig macht. Das Fleisch nützt zu nichts. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und Leben“ (Joh 6,63; vgl. Vers 68). Paulus spitzt diese Einsicht im Blick auf das Gegenüber von „Buchstabe“ und „Geist“ weiter zu: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2 Kor 3,6). Hiermit ist das Spannungsfeld jeder schriftbezogenen und ‑gemäßen Auslegung  – „zwischen Buchstaben und Geist“  – angedeutet.2 Peterson selbst formuliert so: „Nur der Geist weiß doch, was des Geistes ist, aber nicht der Mensch, der religiöse Erfahrung hat. Nur Christus kann doch Lehrer sein, aber nicht der Professor, der seinem natürlichen Wissen um den Sinn der Worte eine irgendwie doch relative moralische oder religiöse Erfahrung hinzufügt und sich dann triumphierend umschaut, weil er meint, damit nicht bloß dem Intellektualismus einer rein natürlichen Exegese entgangen zu sein, sondern auch kraft seiner Erfahrung das Recht zum Lehren und Auslegen empfangen zu haben. In Wirklichkeit sind alle diese Ansprüche eitel, eitel, wie alles Tun, das unter der Sonne geschieht …“3

Bei der Auslegung von Joh 5,39 f spitzt Peterson zu (und überzieht dabei polemisch): 1 Vgl. Ch. Dohmen / ​G. Sternberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, StTh 1,2, Stuttgart 1996, 175–180. 2  Vgl. P. Walter, Art. „Geist u. Buchstabe“, LThK3 IV (1995), 377–379, hier 378 f: „Die Hl. Schrift darf weder z. Gegenstand einer rein hist. Betrachtung werden, noch können chr. Theologie u. Kirche, die in Kontinuität z. NT u. zur Kanon-Entscheidung der alten Kirche stehen wollen, auf eine ‚geistliche‘ Interpretation des AT verzichten.“ 3  Vorlesungsmanuskript Altchristliche Mystik (1924), 14. Vorlesung (Abschrift Dückers). [Das Vorlesungsmanuskript ist nachträglich veröffentlicht: E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien. Aus dem Nachlass herausgegeben von B. Nichtweiß unter Mitarbeit von K. Anglet und Klaus Scholtissek (= Ausgewählte Schriften 3), Würzburg 2003.]

510

2.  Zwischen Buchstaben und Geist

„Nicht in der Schrift, sondern in Christus finden wir das Leben (V. 40). Die Schrift ist nur μαρτυρία (Zeugnis), aber nicht ζωή (Leben) für die Christen. … Licht und Leben finden wir weder in Johannes noch in der Schrift, sondern allein im Logos, der Fleisch geworden ist. … Wir empfangen nicht wie die Juden das Leben aus dem Schriftstudium, sondern von dem Lebensspender Jesus Christus, der das Leben ist.“4

Weiterführende Reflexionen dieser biblischen Grundspannung zwischen „Geist“ bzw. dem Wort Gottes und „Buchstabe“ finden sich bei dem 1999 gestorbenen Erfurter Theologen und Neutestamentler Heinz Schürmann5, der in fundamentalbibeltheologischer Absicht differenziert zwischen (a) „Gottes Wort vor und neben der Schrift (viva vox Evangelii und Hl. Schrift)“, (b) „Gottes Wort in der Schrift (Aufgabe und Ziel der Bibelwissenschaft)“, (c) „Gottes Wort hinter der Schrift (Von der Textinterpretation zum Sachverständnis)“, (d) „Gottes Wort unter der Schrift (Auslotung des Tiefensinns und der Ganzheitsgestalt der Christusoffenbarung)“ und (e) „Gottes Wort über der Schrift (Vom Tiefenverständnis zu geistlicher Schriftlesung)“.6 Die folgenden Ausführungen möchten im Blick auf die Johannesinterpretation Erik Petersons, sofern sie in seinem Vorlesungsmanuskript greifbar wird, einen kleinen Beitrag zu diesem großen, die Zeiten übergreifenden Thema leisten.

1.  Das Manuskript der Johannes-Vorlesung (Bonn 1927; 1929) Die umfangreiche Werkedition Erik Petersons kann u. a. auch auf handschriftliche Vorlesungsmanuskripte zurückgreifen.7 Hierzu gehört auch eine Johannesvorlesung, die er – offensichtlich im Manuskript weitgehend übereinstimmend – in den Sommersemestern 1927 (4-stündig) und 1929 (3-stündig) an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Bonn gehalten hat. Das als typographische Abschrift vorliegende Vorlesungsmanuskript bietet naturgemäß weder einen vollständigen Kommentar noch einen Text, der unmittelbar für eine Publikation vorbereitet wäre. Das Manuskript besteht aus zwei Teilen: zunächst ein ausführlicher Part zu den sogenannten Einleitungsfragen zum vierten Evangelium, dann eine Kommentierung, die mit dem Prolog Joh 1,1–18 beginnt und mit Kapitel 7,30 schließt. Es handelt sich um 413 nummerierte Seiten, die jeweils halbseitig beschrieben sind.8 4 Vorlesungsmanuskript Johannesevangelium, 288 f. (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 211). Vgl. B. Nichtweiss, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg i. Br. 21994, 568 f. 5 Vgl. H. Schürmann, Wort Gottes und Schriftauslegung. Gesammelte Beiträge zur theologischen Mitte der Exegese, hg. v. K. Backhaus, Paderborn 1998. 6 Vgl. Ders., Bibelwissenschaft unter dem Wort Gottes. Eine selbstkritische Besinnung (1989), ebd. 3–43. 7  Vgl. hierzu B. Nichtweiss, Erik Peterson (s. Anm. 4), 20–25. 8  Vgl. ebd. 906.

2.  Inhalte der Johannesvorlesung

511

Inhaltlich lässt das Manuskript die exegetischen und theologischen Optionen Erik Petersons zum JohEv sowie in nuce zur christlichen Schriftauslegung insgesamt erkennbar werden.

2.  Inhalte der Johannesvorlesung Die Johannesinterpretation Erik Petersons ist in die von Barbara Nichtweiß gründlich aufgearbeiteten zeit‑ und geistesgeschichtlichen Hintergründe einzuordnen.9 Zu den maßgeblichen Strömungen innerhalb der Exegese und der Theologie der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit denen Peterson sich kritisch auseinandersetzt, gehören die Religionsgeschichtliche Schule (u. a. Wilhelm Bousset, Hermann Gunkel, Richard Reitzenstein),10 die liberale Theologie bzw. der Kulturprotestantismus (vgl. Adolf von Harnack). Hier soll nicht diesen forschungsgeschichtlichen Hintergründen als solchen, sondern unmittelbarer den Aussagen der Johannesvorlesung selbst nachgegangen werden. 2.1  Einleitungsfragen zum vierten Evangelium (1) Die Vorlesung Petersons zum JohEv setzt ein mit Ausführungen zum VierEvangelien-Kanon.11 Dazu bezieht er sich auf Irenäus, der die Evangelien als die vier „Geist und Leben ausströmenden Säulen der Kirche“ bezeichnet:12 „Warum sollte die Zahl der Evangelien größer oder kleiner sein? Da die Welt, in der wir leben, sich in vier Gegenden teilt und weil es vier Hauptwindrichtungen gibt, die Kirche aber auf der ganzen Erde verbreitet ist, Säule und Stütze (vgl. 1 Tim 3,15) der Kirche das Evangelium und der Geist des Lebens sind, so hat sie plausiblerweise vier Säulen, die von allen Seiten Unvergänglichkeit atmen und die Menschen immer neu beleben. Da leuchtet es ein, dass der Erbauer des Alls, der Logos, ‚der auf den Kerubim thront‘ (Ps 80,2: LXX Ps 79,2) und ‚das All zusammenhält‘ (Weish 1,7), uns bei seinem Erscheinen vor den Menschen das Evangelium in vierfacher Gestalt gab, aber zusammengehalten vom einen Geist“ (Irenäus, Adv. Haer. III 11,8).13

Damit findet sich bei ihm unter Berufung auf Irenäus eine positive Sicht auf die Vierzahl der Evangelien, die eine Vielfalt in Einheit markiert und die gemeinsame  9  Vgl. ebd. passim; vgl. auch St. Dückers, Pathos der Distanz. Zur theologischen Physiognomie und geistesgeschichtlichen Stellung Erik Petersons, Münster 1999. 10 Vgl. B. Nichtweiss, Erik Peterson, 261–318. Zu Petersons eigener religionsgeschichtlichen Arbeit, bes. der 1926 veröffentlichten Dissertation: Εἷς Θεός. Epigraphische, formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen 1926, vgl. Ch. Markschies, Heis Theos? Religionsgeschichet und Christentum bei Erik Peterson, in: B. Nichtweiß (Hg.), Vom Ende der Zeit  – Geschichtstheologie und Eschatologie bei Erik Peterson. Symposion Mainz 2000, Religion, Kirche, Gesellschaft. Fundamentaltheologische Studien 16, Münster 2001, 38–74. 11 Vgl. jetzt die umfassende Arbeit von Th. K.  Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium, WUNT 120, Tübingen 1999. 12  Vgl. hierzu die Diskussion ebd. 350–352. 13  Zitiert nach: Fontes Christiani 8/3, Freiburg 1995, 109 f.

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2.  Zwischen Buchstaben und Geist

Inspiration der Evangelien einschließt. Das eine Evangelium ist also viergestaltig, tetramorph (quadriforme evangelium; τετράμορϕον τὸ εὐαγγέλιον; Irenäus, Adv Haer III 11,8). Die neue kanonische Schriftauslegung14 greift dieses von Peterson in den zwanziger Jahren eingebrachte Anliegen verstärkt auf, wenn sie das viergestaltige Evangelium als von den altkirchlichen Synoden bewusst gewollten und geschätzten Reichtum neu zu verstehen sucht. Neben dem je eigenen Profil der vier Evangelien, das die redaktionsgeschichtliche Methode herauszustellen bemüht war und ist, stellt sich auch die Aufgabe, das eine Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes, welches zusammen in den vier Evangelien bezeugt und festgehalten ist, in genau diesem Prisma der vier Evangelien zu buchstabieren und zu reflektieren.15 Der neue Forschungsbeitrag zur Entstehungsgeschichte des VierEvangelien-Kanons von Theo K. Heckel kommt zu dem Schluss: „Die Vierevangeliensammlung übergibt die Evangelien einer gegenseitigen Interpretation.“16 (2) Auch aus dieser altkirchlichen Einschätzung17 des Vier-Evangelien-Kanons leitet Peterson die These ab, dass dem Evangelisten Johannes die synoptischen Evangelien bereits vorgelegen haben: „Das Johannesevangelium ist meiner Meinung nach nur so zu verstehen, dass es das Vorhandensein von drei in der Kirche schon gebräuchlichen Evangelien voraussetzt.“18 Deshalb stelle das JohEv „eine viel bewusstere Schöpfung als die drei anderen Evangelien“19 dar. Diese These konvergiert mit einem wachsenden Trend in der Johannesforschung, das Johannesevangelium nicht mehr in strenger Absehung von den synoptischen Evangelien auszulegen. Positiv formuliert: Die neuesten deutschsprachigen Johanneskommentare von Ulrich Wilckens, Ludger Schenke und Udo Schnelle rechnen mit der Kenntnis eines oder mehrerer synoptischer Evangelien durch den Evangelisten Johannes. Zugleich rechnet Peterson mit einer hohen Bedeutung der Täuferüberlieferung im Hintergrund des JohEv, die auch für zuverlässige historische Verbindungslinien in Frage kommt. „Ich glaube vielmehr, dass der vierte Evangelist eine eigene – und 14 Vgl.

hierzu die Ausführungen unter 3.2.2. ist hier das gesamte Feld der neutestamentlichen Theologie; vgl. hierzu den weiterführenden Entwurf von W. Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments I–III, Münster I 21996; II 1998; III 1999. 16  Th. K.  Heckel, Evangelium (vgl. Anm. 11), 354. 17 Insgesamt fällt die methodische Orientierung an den Zeugnissen der Kirchenväter für die Verhandlung der Einleitungsfragen zum Johannesevangelium auf. Diesen Weg geht auch M. Hengel in seiner umfangreichen Monographie: M. Hengel, Die Johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (mit einem Beitrag zur Apokalypse v. J. Frey), WUNT 67, Tübingen 1993. 18  Vorlesungsmanuskript Johannesevangelium, 12 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 17); vgl. auch im Manuskript, 378, die Aussage in gewisser Spannung hierzu: „Diese beständig wiederholte Behauptung einer Abhängigkeit des Johannes von der synoptischen Tradition ist mir noch sehr fraglich. … Man stellt sich das Verhältnis des Johannes zu den Synoptikern immer so papieren vor.“ 19  Ebd. 12 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 17). 15 Angesprochen

2.  Inhalte der Johannesvorlesung

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durchaus nicht unverächtliche – Tradition hat, die ich in vielen Fällen sogar der synoptischen Tradition vorziehen werde.“20 (3) Den Prozess der Entstehung des JohEv und der Ausbildung des Vier-Evangelien-Kanons deutet Peterson als „antignostische Schöpfungen der Kirche“: „Der Vierevangelienkanon und das Johannesevangelium hängen innerlich miteinander zusammen. Vierevangelienkanon und Johannesevangelium – beide sind, von gnostischen Voraussetzungen bedingt, antignostische Schöpfungen der Kirche.“21

Für das Johannesevangelium zeigt sich der Autor hier noch befangen von einer zeitgenössischen Johannesauslegung, der er im Blick auf die mandäischen Ableitungsversuche sonst sehr kritisch begegnet. Denn Peterson wendet sich entschieden gegen eine Beeinflussung des JohEv durch die mandäische Literatur,22 eine These, die u. a. durch Richard Reitzenstein und Rudolf Bultmann in den zwanziger Jahren massiv forciert wurde,23 heute jedoch definitiv überholt ist. Auch darüber hinaus darf die Bultmannsche Johannesinterpretation, der die neuesten nationalen und internationalen Johanneskommentare nicht mehr folgen,24 unausgesprochen als Kontrapart der Petersonschen Exegese des vierten Evangeliums gelten. (4) Peterson deutet die literarische Gestalt des JohEv in Nähe zu antiken Aretalogien (vgl. Aelius Aristides, ἱεροὶ λόγοι), da sich folgende vier Gemeinsamkeiten zeigten: Epiphanie der Gottheit, persönliche Erfahrung, Verherrlichung der Gottheit, genaue Zeit‑ und Ortsangaben. Insofern lasse sich im Unterschied zu den synoptischen Evangelien von einer literarischen Leistung des Evangelisten Johannes sprechen. Die Diskussion über die literarische Leistung der Evangelisten bzw. der literarischen Gattung Evangelium und möglicher antiker Parallelen ist erheblich weitergeführt worden:25 Heute trauen die Exegeten allen vier Evangelisten eine

20 Ebd.

379. 20. 22  Vgl. E. Peterson, Bemerkungen zur mandäischen Literatur, ZNW 25 (1926), 236–248; Ders., Urchristentum und Mandäismus, ebd. 27 (1928), 55–98; DERS., Der gegenwärtige Stand der Mandäerfrage, Theologische Blätter 7 (1928), 317–323; vgl. Vorlesungsmanuskript Johannesevangelium, 41–54. Vgl. hierzu ausführlich: B. Nichtweiss, Erik Peterson (s. Anm. 4), 319–339, sowie Ch. Markschies, Heis Theos? (s. Anm. 10), 51 ff. 23  Vgl. R. Bultmann, Die Bedeutung der neuerschlossenen mandäischen und manichäischen Quellen für das Verständnis des Johannesevangeliums (1925), in: Ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 55–104. 24  Vgl. hierzu ausführlich und sachkundig die forschungsgeschichtliche Studie von J. Frey, Die johanneische Eschatologie I. Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1997; vgl. K. Scholtissek, Neue Wege der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I–II, ThGl 89 (1999), 263–295; 91 (2001), 109–139, hier: I 265–267. 25 Vgl. nur M. Reiser, Die Stellung der Evangelien in der antiken Literaturgeschichte, ZNW 90 (1999), 1–27 (Lit.). 21 Ebd.

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2.  Zwischen Buchstaben und Geist

eigenständige literarische und theologische Leistung zu – so sehr ihre Urteile hier doch erheblich divergieren.26 (5) Das JohEv wurde – so die These von Peterson – nicht aufgrund von Tradition, sondern von Rezeption in den Kanon aufgenommen: „Eine Tradition wird nicht eigentlich rezipiert. Sie wird bestenfalls gegenüber erdichteten Traditionen abgegrenzt. Inspirierte Schriften dagegen müssen rezipiert werden.“27 Da eine innerkirchliche Rezeption eine freie Entscheidung voraussetzt, muss – so schlussfolgert Peterson – das JohEv sowohl als inspiriert als auch als von einem Mann des apostolischen Zeitalters geschrieben anerkannt gewesen sein. Auch die literarische Gestalt der Aretalogie setzt nach Ansicht Petersons die Augenzeugenschaft des Verfassers voraus. „Wir werden also zu der Annahme geführt, dass der Verfasser des Johannesevangeliums ein apostolischer Augenzeuge gewesen ist. Soviel glaube ich mit Bestimmtheit sagen zu können. Alles weitere ist für mich unsicher und problematisch.“28

Peterson votiert in der Folge29 für die Autorschaft des Zebedaiden Johannes und lehnt eine Zuschreibung des JohEv zum Presbyter Johannes (vgl. die Papiasnotiz, die oft in diesem Sinne ausgewertet wird)30 ab: „Diese Theorie halte ich für direkt absurd.“31 2.2  Israel in der Johannesvorlesung Erik Petersons Im Folgenden greife ich eine bedeutende Stellungnahme Petersons zu „den Juden“ im JohEv aus dem Vorlesungsmanuskript heraus und bespreche sie kritisch. Die Vermittlung und Einordnung dieser Stellungnahme zu den programmatischeren Aussagen Petersons über Israel und die Kirche32 ist hier nicht beabsichtigt. Bei der Auslegung von Joh 5,45–47 kommt unser Autor ausführlich auf die johanneische Sicht und darüber hinausgehend auf die zeitgenössische Herausforderung (die „völkische Bewegung im politischen und geistigen Leben“33 der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts) zu sprechen.34 In beides fließt seine eigene Position ein: 26  Für das Markusevangelium vgl. den Sammelband: Th. Söding (Hg.), Der Evangelist als Theologe. Studien zum Markusevangelium, SBS 163, Stuttgart 1995. 27 Vorlesungsmanuskript Johannesevangelium, 27 f. 28  Ebd. 31. 29  Vgl. ebd. 28–68. 30  Vgl. die neuerliche Diskussion bei Th. K.  Heckel, Evangelium (vgl. Anm. 11), 219–265. 31  Vorlesungsmanuskript Johannesevangelium, 38. 32  Vgl. E. Peterson, Die Kirche aus Juden und Heiden, in: Ders., Theologische Traktate (= Ausgewählte Werke 1), Würzburg 1994, 141–174; Ders., Die Kirche aus Juden und Heiden (II), in: Ders., Marginalien zur Theologie und andere Schriften (= Ausgewählte Werke 2), Würzburg 1995, 125–136; Ders., Giudaismo e cristianesimo, in: Rivista di Storia e Letteratura Religiosa 1 (1965), 367–391; vgl. auch B. Nichtweiss, Erik Peterson (s. Anm. 4), 545–549 (vgl. weitere Auskünfte über das Stellenregister zu: „Judentum/Juden/Israel“ ebd. 959). 33  Vorlesungsmanuskript Johannesevangelium, 301. 34  Vgl. ebd. 296–302.

2.  Inhalte der Johannesvorlesung

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2.2.1  Das johanneische Zeugnis in Joh 5,45–47 in der Sicht Erik Petersons Joh 5,45–47: „Meinet nicht, dass ich euch beim Vater anklagen werde. Mose ist es, der euch anklagt, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. Wenn ihr nämlich Mose glaubtet, würdet ihr mir glauben; denn über mich hat er geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie könnt ihr meinen Worten glauben?“35

Peterson urteilt, in diesen Versen zeige Jesus sich als Richter, nicht aber als Ankläger. Diese Rolle komme vielmehr Mose zu: Er klage „die Juden“ an, weil sie sich paradoxerweise auf ihn beriefen, um Jesus und seine Worte abzulehnen. Dies setze voraus, dass Mose als Autor der messianischen Verheißungen im Pentateuch verstanden werde (vgl. V. 46). Der joh Jesus überführe „die Juden“ also eines Selbstwiderspruches: Sie glaubten zwar an Mose als Gesetzgeber, nicht aber an Mose als Propheten. Peterson bezeichnet es folglich als „sinnvolle Konzeption, wenn die christliche Verkündigung forderte, die Juden hätten die Erfüllung der Prophetie zu glauben.“36 Da die Christen nicht mit dem Anspruch einer „neuen Prophetie“ (Manuskript, 297) aufgetreten seien, sondern mit dem Anspruch der Erfüllung der biblischen Prophetie, hätte es eine Verpflichtung gegeben für „die Juden“ zu glauben – so Erik Peterson. Er deutet den Zusammenhang von Weissagung und Erfüllung als konstitutives Moment der jüdischen Prophetie selbst: „Die Prophetie kann nicht einfach versiegen, wie die jüdischen Theologen meinen. Sie kann nur durch ein Siegel, das auf die Prophetie gedrückt wird, beendigt werden.“37 Daran anschließend urteilt er: „Man kann sagen, dass sich die Juden dieser Konsequenz erst mit dem Auftreten Jesu voll bewusst geworden sind und in diesem Augenblick dann vor der sich ihnen auftuenden Konsequenz zurückgewichen sind.“38 Hier ist nicht mehr klar, ob Peterson auf die historische Ebene springt (was wahrscheinlich ist), oder ob er die joh Darstellungslogik rekonstruieren will. Die folgenden Ausführungen sprechen für einen (methodisch so nicht zulässigen) Sprung aus der joh Erzählung in die historische Situation des Lebens Jesu: „Die Juden mussten ein Stück ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen religiösen Vergangenheit verleugnen, als sie Jesu Worten nicht glaubten. Es ist nicht christlich-theologische Voreingenommenheit, sondern einfach die Konstatierung eines Faktums, dass nämlich das Auftreten Jesu die Entscheidungsstunde für das jüdische Volk gewesen ist. Die Juden haben wohl Christus kreuzigen können, sie haben aber das durch das Auftreten Jesu offenbar gewordene Dilemma ihrer eigenen religionsgeschichtlichen Entwicklung nicht aus der Welt schaffen können. Insofern gilt, dass Mose auch heute der Ankläger der Juden ist.“39  Wortlaut im Manuskript, 296 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 215). 36  Ebd. 297 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 216). 37  Ebd. (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 216). 38  Ebd. 298 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 216). 39  Ebd. 298 f (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 217). 35

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2.  Zwischen Buchstaben und Geist

Anzumerken ist bei dieser Auslegung, dass Peterson nicht genügend trennt zwischen: (1) der joh Darstellungslogik, dem joh Darstellungsinteresse: Die joh Streit‑ bzw. genauer Prozessgespräche zwischen Anklägern und Verteidigern zielen durchgehend darauf, dass der Angeklagte (meist Jesus, vgl. aber auch der geheilte Blinde in Joh 9) in einem ironischen Rollenwechsel zum Ankläger wird und den Anklägern ihre eigenen Argumente bzw. Rekursinstanzen entwindet und gegen sie ins Feld führt;40 (2) der Rückfrage nach dem irdischen Leben Jesu und den Konflikten zwischen Jesus und bestimmten Gruppen des zeitgenössischen Judentums (Peterson übernimmt hier und auch sonst in der Johannesvorlesung die pauschalisierende Redeweise des JohEv „die Juden“), und (3) der Begegnung zwischen Juden und Christen in der Gegenwart, in der nicht einfach eine (vermutete) joh Aussage ohne jede hermeneutische Vermittlung wiederholt werden kann. 2.2.2  Juden und Christen in der Johannesinterpretation Erik Petersons Seine zeitgenössische christliche Theologie sieht Peterson von zwei Bewegungen herausgefordert: (1) der religionsgeschichtlichen „Auflösung“ der „Betrachtung des Alten Testaments in Orientalische Philologie und in eine Religionsgeschichte des Vorderorients“, die nicht zum „eigentlichen theologischen Problem der jüdischen Religion“ (S. 120) vordringe, und (2) „die völkische Bewegung im politischen und geistigen Leben“ (S. 121).41 So sehr Peterson die religionsgeschichtliche Arbeit am Alten Testament auch wertschätzen kann, diese greife zu kurz: „Das eigentliche theologische Problem steckt natürlich in solchen Fragen wie allegorische Auslegung des Alten Testaments oder das Verhältnis von Weissagung und Erfüllung usw., kurz, in dem Verhältnis der jüdischen Religion und des jüdischen Volkes zu Christus.“42

Peterson meint, „dass gerade wenn man auf das Schicksal der jüdischen Religion und des jüdischen Volkes sieht, wie es sich vor den Augen der Welt mit erschütternder Eindrücklichkeit täglich kundgibt, dass eine bloß religionsgeschichtliche Betrachtungsweise nicht ausreicht, sondern durch eine theologische ergänzt werden muss, die die Tatsache nicht übersieht, dass Jesus das Schicksal des jüdischen Volkes geworden ist.“43

Wie ist diese Aussage zu verstehen? Zunächst ist es sicher richtig, dass eine rein religionsgeschichtliche Auslegung des Alten Testaments (so sehr im Einzelnen 40  Vgl. hierzu weiterführend „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, in diesem Band, S. 349–368. 41 Zu Petersons Position gegenüber dem Nationalsozialismus vgl. die beiden Beiträge von H. Maier, Erik Peterson und der Nationalsozialismus, in: B. Nichtweiß (Hg.), Vom Ende der Zeit (s. Anm. 10), 240–253; W. Löser, Inkulturation nicht um jeden Preis! Erik Petersons Auseinandersetzung mit der Deutschen Evangelischen Kirche 1933, ebd. 254–264. 42  Vorlesungsmanuskript Johannesevangelium, 299 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 217). 43  Ebd. 300 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 218).

2.  Inhalte der Johannesvorlesung

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zu fragen wäre, was Peterson bzw. was in der modernen Diskussion44 unter Religionsgeschichte verstanden wird) dessen theologischen Anspruch übergeht bzw. relativiert. Aber: In welchem Sinne ist „Jesus das Schicksal des jüdischen Volkes geworden“? Welche Botschaft beinhaltet „das Schicksal der jüdischen Religion und des jüdischen Volkes …, wie es sich vor den Augen der Welt mit erschütternder Eindrücklichkeit täglich kundgibt“? Rechnet Peterson mit einem ursächlichen Zusammenhang von einer (von ihm angenommenen) theologischen Irrelevanz des jüdischen Glaubens post Christum und der (dann auch aus der Perspektive Gottes legitimen?) jahrtausendelangen Diaspora‑ und Verfolgungsexistenz jüdisch Glaubender? Peterson kritisiert in diesem Zusammenhang die Umwandlung des „alten Institutum Judaicum der Berliner Universität, das sich die christlich-theologische Behandlung des jüdischen Problems zur Aufgabe gestellt hatte, unter Mitwirkung eines Alttestamentlers aus einer christlichen theologischen Anstalt in eine Rabbinenschule“. „Deutlicher konnte wohl kaum das Eingeständnis gemacht werden, dass wir heute nicht mehr wissen, was Theologie ist.“45 Peterson spricht in diesem Zusammenhang von „einer Schande der christlichen Theologie.“46 Diese Entwicklung bedauert Peterson umso mehr, als sie parallel zur wachsenden „völkischen Bewegung im politischen und geistigen Leben“ verlaufe: „Man kann die Kritik der Völkischen am jüdischen Volk und an der jüdischen Religion – speziell seit dem Tode Jesu – nicht durch religionsgeschichtliche Aufklärung oder durch eine abweichende politische Überzeugung zum Schweigen bringen. Was nötig ist, ist vielmehr dieses, dass das Schicksal der jüdischen Religion und des jüdischen Volkes, das sich an Jesus erfüllt hat, theologisch-zentral gesehen wird. Es gibt keine Geschichtsphilosophie, keine Soziologie, keine Politik, keine Nationalökonomie, die ohne eine solche christlichtheologische Betrachtungsweise des Schicksals des jüdischen Volkes auskommen könnte. Zu deutlich ist jedem, der sich mit den Tatsachen beschäftigt, die Sonderstellung des jüdischen Volkes.“47

Wie verläuft die etwas verschraubte Argumentation? Wenn ich richtig verstehe, versucht Peterson, die völkische Ideologie des wachsenden deutschen Nationalismus im Kern zurückzuweisen, indem er auf das jahrtausendelange Schicksal des jüdischen Volkes als abschreckendes Beispiel hinweist. Nach dieser Logik könnte die christlich-universale Botschaft, die den nationalen Rahmen des Judentums gesprengt und grundsätzlich überwunden habe, das Heilmittel und ein Warnsignal sein für die deutsch-völkische Versuchung zu einem nationalen Sonderweg. Freilich setzt diese Argumentation voraus, dass das jüdische Volk post Christum nicht mehr Volk Gottes ist, sondern im Gegenteil in einer bestimmten selbst44 Vgl.

den Themenband: Religionsgeschichte Israels oder Theologie des Alten Testaments?, JBTh 10 (1995) (Lit.). 45 Vorlesungsmanuskript Johannesevangelium, 300 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 218). 46  Ebd. 302 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 219). 47  Ebd. 301 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 218 f ).

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2.  Zwischen Buchstaben und Geist

verursachten Diasporaexistenz lebt. Zudem parallelisiert diese Argumentation – wenn ich sie recht verstehe – in fataler Weise das jüdische Selbstverständnis, das von Gott erwählte Volk zu sein, mit der deutsch-nationalen Hybris des zur Herrschaft erwählten und bestimmten arischen Volkes.

3.  Die Schriftauslegung Erik Petersonsim Gespräch mit der modernen exegetischen Hermeneutik Kann die Johannesauslegung Erik Petersons fruchtbare oder gar wegweisende Anstöße für die Johannesinterpretation des beginnenden 21. Jahrhunderts geben? Und umfassender gefragt: Gibt es Impulse in der Schriftauslegung Petersons, die für die heutige Schriftauslegung relevant sind? Welche Aspekte rücken bei Peterson ins Licht, welche werden eher verstellt? Lässt sich ein Gespräch führen zwischen der Johannesinterpretation bzw. der Schriftauslegung Petersons insgesamt48 und dem Stand der gegenwärtigen exegetischen Hermeneutik und Johannesexegese49? Im Horizont dieser Fragen sollen zwei Bereiche thematisiert werden, die die Position von Erik Peterson mit der gegenwärtigen Johannesforschung bzw. der gegenwärtigen hermeneutischen Reflexion ins Gespräch bringen: erstens die Beziehung zwischen der „phänomenologischen Sehweise“ Erik Petersons und der aus dem vierten Evangelium selbst erhebbaren „johanneischen Sehweise“ und zweitens die Konvergenzen zwischen der patristisch inspirierten Schriftauslegung Petersons und der kanonischen Schriftauslegung im Blick auf ihre theologischen Implikationen. 3.1  „Phänomenologische Sehweise“ und „johanneische Sehweise“ Die Theologie Petersons, besonders aber seine exegetische Methodik, verdankt sich einer spezifischen Phänomenologie:50 Dabei weist er die theoretische Phänomenologie Edmund Husserls und Martin Heideggers zurück, deren philosophische Voraussetzungen er nicht teilt.51 Wissenschaftliche bzw. theologische Erkenntnis erfordern nach Peterson „ein Sehen, das sich den Sachverhalt nicht unterwirft, sondern sich von ihm prägen lässt.“52 Diese Einstellung und Haltung 48  Vgl. zur Römerbriefauslegung Erik Petersons die Beiträge von F. Hahn, Exegetische Methodik in Erik Petersons Auslegung des Römerbriefes, in: B. Nichtweiß (Hg.), Vom Ende der Zeit (s. Anm. 10), 75–84; E. Lohse, „Heilsgeschichte“ im Römerbrief. Zur Interpretation des Römerbriefes durch Erik Peterson, ebd. 85–100. 49 Vgl. hierzu die Forschungsberichte von K. Scholtissek, Neue Wege I–II (vgl. Anm. 24); Ders., Johannes auslegen I–II, SNTU 24 (1999), 35–84; 25 (2000), 98–140. 50 Vgl. hierzu ausführlich B. Nichtweiss, Erik Peterson (s. Anm. 4), 340–382. 51  Vgl. seinen noch nicht edierten Brief an P. Anselm Stolz OSB vom 30. 8. ​1933; vgl. auch B. Nichtweiss, Erik Peterson (s. Anm. 4), 340–356. 52  Ebd. 357.

3.  Die Schriftauslegung Erik Petersons

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gegenüber den Texten der Heiligen Schrift „war für Peterson ein wissenschaftsethisches und religiöses Erfordernis, das in der Ehrfurcht vor dem Wirklichen gründet und von Schamgefühl und Takt begleitet wird.“53 Peterson verbindet seine Verteidigung der Anschaulichkeit der Offenbarung mit der personalen Identität des Menschen und seiner personalen Gottesbeziehung: „Ich halte es für umso nötiger, darauf hinzuweisen, weil die neuerdings bis zur Ermüdung wiederholte Behauptung von der Unanschaulichkeit der Offenbarung uns in eine abstrakte Dialektik hineinzureißen droht, in der das Wort Wirklichkeit ausgelöscht wird und selbst der Damm des Du und Ich, den Gogarten im Gottesverhältnis aufzurichten trachtet, uns am Ende nicht davor bewahren wird, dass wir von einer Geistesdialektik fortgeschwemmt werden, in der Gott niemals zum Du und der Mensch niemals zum Ich werden kann. Die Hauptsache ist, dass sie sehen lernen, was hier vorliegt und was hier gemeint ist.“54

Diesem „Sehen“ entspricht nach Peterson auch ein ureigener sprachlicher Ausdruck, in dem die Botschaft ausgesagt wird, eine Sprachgestalt, die nicht von ihrem Inhalt ablösbar ist.55 Dieser phänomenologische Ansatz Petersons kommt der „johanneischen Sehweise“, wie sie Franz Mußner in seiner gleichnamigen Monographie von 1965 aufgewiesen hat,56 entgegen.57 Auch die neuere Johannesforschung analysiert und interpretiert das joh „Sehen“ (vgl. die vier griechischen Verben für „sehen“ im JohEv) als ein empfangendes, gegebenes „Sehen“ (vgl. Clemens Hergenröder).58 Das JohEv basiert und wirbt für ein rezeptives, aufnehmendes Wahrnehmen der in Jesus Christus epiphanen Offenbarung Gottes (fides ex visione). Die joh Wahrnehmungslehre, die joh Ästhetik, ist nicht herrschend, sondern entgegennehmend, aufnehmend.59 Zur Auslegung des JohEvs gehört es, sich der im Evangelium mitteilenden hermeneutischen Position des Evangelisten, seiner „Sehweise“, anzuschließen. Die Leserlenkung des Evangelisten, sein pragmatisches Interesse, zielt darauf, dass sich die Leserinnen und Leser seinen point of view und seine Überzeugungen zu eigen machen. Die Angesprochenen sollen – vermittelt durch die Zeugniskontinuität, in der sich der Evangelist selbst verortet – die joh Sehweise teilen, damit sie, wie der Evangelist  Ebd.  Zitiert nach dem Vorlesungsmanuskript Altchristliche Mystik, 14.  Vorlesung. Vgl. weiterführend B. Nichtweiss, Erik Peterson (s. Anm. 4), 585–590 („Wider eine Theologie der Unanschaulichkeit: Die Dialektik von Offenbarung und Verhüllung“). Ebd. finden sich Hinweise zur Auseinandersetzung Erik Petersons mit Karl Barth. 55  Vgl. B. Nichtweiss, Erik Peterson (s. Anm. 4), 363–373. 56  Vgl. F. Muẞner, Die johanneische Sehweise und die Frage nach dem historischen Jesus, QD 28, Freiburg i. Br. 1965. 57  Vgl. K. Scholtissek, Neue Wege I (vgl. Anm. 24), 285–292 (zu O. Schwankl, Ch. HoegenRohls, C. Hergenröder). 58  Vgl. C. Hergenröder, Wir schauten seine Herrlichkeit. Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont der Selbsterschließung Jesu und Antwort des Menschen, FzB 80, Würzburg 1996; O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg i. Br. 1995; K. Scholtissek, Johannes auslegen II (vgl. Anm. 49). 59  Vgl. O. Schwankl, Licht (vgl. Anm. 58), 330–340. 53 54

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2.  Zwischen Buchstaben und Geist

selbst, als „Sehende“, „Hörende“, „Schauende“, „Erkennende“ und „Glaubende“ „finden“, was sie „suchen“: das „Leben in Fülle“ (Joh 10,10). Der Evangelist Johannes zeichnet und setzt viele ikonische Bilder in Szene, ein Sachverhalt, den sehr viele bildliche Darstellungen joh Bilder in der christlichen Kunstgeschichte wiederspiegeln. Gerade die sieben „Zeichen“ im JohEv und die sich mit ihnen verbindenden Reflexionen in den nachgehenden bzw. begleitenden Gesprächsgängen haben einen solchen ikonischen Charakter. Die joh Begegnungsgeschichten laden ein und rufen zu einer Betrachtung, zu einer kontemplativen Vertiefung und Identifikation der Lesenden und Hörenden mit den Glaubenswegen der Jesus Begegnenden. Im JohEv schlägt sich insgesamt ein geistgeführter Fort‑ und Um-Schreibungsprozess nieder, der die eine Christus-Offenbarung im Prisma verschiedener Begegnungsgeschichten vertiefend auslotet und buchstabiert.60 3.2  Patristische und kanonische Schriftauslegung 3.2.1  Erik Peterson und die allegorische Schriftauslegung (1) In der Johannesvorlesung Erik Petersons begegnet uns keine allegorische Schriftauslegung im pejorativen Sinn des Wortes. In seinen Einzelauslegungen sucht er nicht nach Bedeutungen hinter den Worten, Bedeutungen, die sich in Anknüpfung und Verbindung mit bestimmten biblischen Schriftaussagen (Verheißungen etc.) ergeben und den Literalsinn hinter sich lassen. Vielmehr geht er sehr genau den Worten, dem Wortlaut und den Kontexten des joh Sprachgebrauchs selbst nach. Als Beispiel sei hingewiesen auf seine Interpretation des Wortes λόγος im Johannesprolog: Hier begründet Peterson ausführlich, warum der Evangelist λόγος und eben nicht ϕωνή (Stimme) oder μῦθος (Mythos) oder ῥῆμα (Rede) verwendet hat.61 In dieser Hinsicht liegt der exegetische Kommentar Petersons grundsätzlich in der Linie der wissenschaftlichen Schriftauslegung, die die historisch-kritische Methode für sich selbst als unhintergehbar in Anspruch nimmt. (2) Greifen wir über die Johannesauslegung hinaus auf grundsätzliche Stellungnahmen Petersons zur Schriftauslegung, begegnen wir einem weitgefassten Verständnis von allegorischer Schriftauslegung, die nicht vorschnell mit den gängigen pejorativen Konnotationen belastet werden darf.62 Sitz im Leben der allegorischen Schriftauslegung ist s.E. die exegetische Aneignung eines religiösen 60  Vgl. hierzu die Beiträge des Verfassers: K. Scholtissek, Relecture  – zu einem neu entdeckten Programmwort der Schriftauslegung (mit Blick auf das Johannesevangelium), BiLi 70 (1997), 309–315; „Relecture und réécriture“, in diesem Band, S. 173–202; Ders., In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000, 131–139. 61  Vgl. Vorlesungsmanuskript Johannesevangelium, 74–84 (= E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien [s. Anm. 3], 57–71). 62 Vgl. hierzu die weiterführenden Reflexionen von B. Nichtweiss, Erik Peterson (s. Anm. 4), 567–590 (Lit.).

3.  Die Schriftauslegung Erik Petersons

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Textes.63 Einer singulär heiligen Schrift entspricht nur eine „singuläre, eine charismatische Auslegung“. „Eben weil die Bibel als Heilige Schrift galt, deshalb war es auch gar nicht möglich sich zu ihr in ein direktes Verhältnis zu setzen, d. h. sie wörtlich auszulegen. Dem Heiligen kann man sich doch immer nur verhüllt nahen. Verhülltheiten zu finden, sind nötig, wenn die Bibel Heilige Schrift sein soll. … Dass die allegorische Auslegung nach Hüllen, Symbolen und Typen sucht, beweist, dass sie die Bibel als heilige Schrift nicht bloß ansieht, nein, sich auch existentiell zu ihr so verhält. … Die Heilige Schrift aber kann niemals in diesem Sinne angeeignet, durch Verstand und Verständnis in uns überführt werden. Deshalb ist es nötig, dass in der Exegese selber Distanz gewahrt bleibt, nicht bloß so, dass der Auslegende von sich aus in Ehrfurcht den Abstand wahrt, sondern so, dass in einer zugleich objektiven Weise die Distanz selber sich ausspricht, sich einen Ausdruck schafft, der sie vor der Willkür des Auslegers schützt, … und dieser objektive Ausdruck dafür ist eben die allegorische Schriftauslegung.“64 „In der allegorischen Auslegung streicht sich die Auslegung sozusagen selbst durch, damit sie fähig wird, das zu sehen, was sie wesensmäßig nie in sich selber und in den Menschen selber überführen kann. Die wörtliche Auslegung der Heiligen Schrift muss notwendig zu einer begrifflichen Deutung gelangen, denn der Akt, der die wörtliche Auslegung fundiert, kann niemals ein anderer als ein vorwiegend intellektueller Akt sein. Es ist der Akt, der erkennen und verstehen will. Die allegorische Auslegung dagegen, die den Aktcharakter der Auslegung zu eliminieren trachtet, ist gar nicht in dieser Weise der Gefahr eines begrifflichen Intellektualisierens ausgesetzt, weil sie ja auf Bilder, Typen, Symbole und Wesenheiten stößt, die weniger begriffen, als gesehen sein wollen und die, wenn man sie gesehen hat, dann einen Durchblick und Ausblick auf Christus gestatten. Man glaube nicht, dass die Bilder, Typen und Symbole, auf die die allegorische Auslegung stößt, eine abstrakte Mittlerfunktion neben Christus, als dem einzigen Mittler, zu erfüllen haben – sondern es ist doch nur so, dass sie alle Bilder, Typen, Symbole und Hüllen von Christus sind, dass sie ihm in irgend einer – noch genauer bestimmbaren Weise – zugeordnet sind, dass sie alle nur darum in der Exegese eine vermittelnde Tätigkeit ausüben können, weil Christus der einzige Mittler ist, der einzige Mittler auch in der Auslegung der Heiligen Schrift, der einzige wahre Interpret seiner selbst.“65 „… was uns rechtfertigt, das ist Christus und wenn jene allegorische Auslegung nicht Christus zum Ziel, zum Inhalt, zum Anfang und zum Ende hätte, so wäre sie nichts“.66

In diesen Auskünften Petersons treten uns folgende Momente einer von ihm so bezeichneten allegorischen Schriftauslegung entgegen: (1) Der Bibel als Heiliger Schrift entspricht auf Seiten des Hörenden, Lesenden, Auslegenden nicht schlechthin eine intellektuelle Aneignung, sondern eine Wahrnehmung, ein Sehakt des Rezipienten, der letztlich immer auf die Christusbegegnung bzw. ‑offenbarung zu63 Vgl. seine Ausführungen zur „allegorischen Schriftauslegung“ in der 14. Vorlesung über Altchristliche Mystik. Zu dieser Vorlesung Petersons vgl. St. Dückers, Pathos (vgl. Anm. 9); Ders., Einigung im Modus der Distanz. Erik Petersons Theorie der Mystik, in: B. Nichtweiß (Hg.), Vom Ende der Zeit (s. Anm. 10), 149–163. 64  Ebd. 14. Vorlesung. 65  Ebd. 66  Ebd.

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2.  Zwischen Buchstaben und Geist

läuft, in dem sich ein „Durchblick“ auf Christus öffnet. (2) Verbunden mit dieser Art der Schriftaneignung ist eine intellektuelle Demut, die sich selbst zurücknimmt, die den Text und seine Botschaft nicht begrifflich zu erobern trachtet, sondern bereit ist, sich von der Botschaft selbst anzusprechen und erreichen zu lassen. (3) Kriterium, Prämisse und alles umgreifende und durchdringende Matrix der Schriftauslegung ist Christus bzw. das Christuszeugnis. Das letzte Kriterium der Petersonschen Hermeneutik verweist auf eine erkenntnistheoretische Voraussetzung der allegorischen Schriftauslegung insgesamt: Der Christusglaube wird dezidiert und uneingeschränkt als hermeneutische Voraussetzung der Schriftauslegung angenommen.67 Die allegorische Schriftauslegung ist deshalb intrinsisch; sie bewegt sich innerhalb des christlichen Glaubens, den sie zugleich voraussetzt und tiefer zu erhellen und zu erfassen sucht. Solche intrinsische Schriftauslegung zielt unter der Voraussetzung des christlichen Glaubens auf ein vertiefendes Eindringen in das mysterium fidei, in die Epiphanie der Doxa Gottes. Die historisch-kritische Methode hingegen steht der Glaubensprämisse gerade von ihren emanzipatorischen Ursprüngen in der Aufklärungsphilosophie her grundlegend kritisch gegenüber; sie versteht sich extrinsisch. Gleichwohl müssen beide Ansätze nicht in eine antithetische, sich wechselseitig ausschließende Opposition gestellt werden. Es ergeben sich durchaus Konvergenzen. Nach Erik Peterson hat Henri de Lubac, mit dem Peterson persönlich bekannt war,68 in seinen Schriften die allegorische Schriftauslegung der Patristik – und damit das Ringen um den „geistigen Sinn“ der Schrift – aufgegriffen und aus ihrem eigenen Selbstverständnis und Anspruch zu rehabilitieren versucht.69 Dabei argumentiert er insbesondere mit der Einheit der Schrift, die ihren Grund in der Einheit des Heilshandelns Gottes, in der Einheit der Offenbarung, letztlich in der Einheit Gottes habe. Henri de Lubac weist Einwände gegen die allegorische Schriftauslegung zurück: den Vorwurf der Geschichtslosigkeit der allegorischen Auslegung und den Vorwurf, die allegorische Auslegung weise den Literalsinn und mit ihm die wissenschaftliche Exegese in toto zurück. 67  Vgl. hierzu auch die erhellenden Ausführungen von Ch. Reemts OSB, in: Th. Heither  / ​ Dies., Schriftauslegung  – Die Pariarchenerzählungen bei den Kirchenvätern, NSK.AT 33/2, Stuttgart 1999, 11–61. 68  Erik Peterson war mit Henri de Lubac persönlich bekannt. Zwischen 1947 und 1956 gab es einen Briefwechsel; vgl. die Hinweise bei B. Nichtweiss, Erik Peterson (s. Anm. 4), 873 (samt Anm. 332); Dies., „Imaginäres Vaterland“. Erste Skizze der Beziehungen Erik Petersons nach Frankreich, in: B. Nichtweiß (Hg.), Vom Ende der Zeit (s. Anm. 10), 265–274, hier 272. 69 Vgl. H. De Lubac, Typologie  – Allegorie  – Geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung. Aus dem Französischen übertragen und eingeleitet von R. Vorderholzer, Theologia Romanica 23, Einsiedeln / ​Freiburg i. Br. 1999; vgl. hierzu weiterführend R. Vorderholzer, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn. Der Beitrag Henri de Lubacs zur Erforschung von Geschichte und Systematik christlicher Bibelhermeneutik, Sammlung HORIZONTE. Neue Folge 31, Einsiedeln / ​Freiburg i. Br. 1998; vgl. auch H. Kardinal De Lubac, Meine Schriften im Rückblick. Mit einem Vorwort von Erzbischof Chr. Schönborn, Theologia Romanica 21, Einsiedeln / ​Freiburg i. Br. 1996.

3.  Die Schriftauslegung Erik Petersons

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3.2.2 Annäherungsprozesse In den jüngsten wissenschaftlichen Reflexionen zur Methodik und Hermeneutik der Schriftauslegung70 zeigen sich Annäherungsprozesse an das Schriftverständnis, das der patristischen und klassischen Schriftauslegung71 der kirchlichen Überlieferung zugrunde liegt.72 Diese Annäherungsprozesse lassen das Problembewusstsein und den wissenschaftstheoretischen Anspruch der historisch-kritischen Exegese nicht zurück und überspringen es nicht kurzschlüssig. Sie nähren sich auch nicht aus dem tatsächlich oft empfundenen Unbehagen an den unüberschaubaren, widersprüchlichen und ständig sich selbst revidierenden Auskünften der trotzdem mit hohem Gewissheitsanspruch auftretenden historisch-kritischen Publikationen. Entscheidend sind vielmehr methodische und hermeneutische Einsichten, die sich aus dem Textbefund selbst und seinem kanonischen Charakter ergeben. Für diese Entwicklung leitend erweisen sich hier die neue Wahrnehmung des kanonischen Prozesses bzw. der kanonischen Gestalt der biblischen Schriften (kanonische Schriftauslegung) und die sogenannte Rezeptionsästhetik, die die receptio lectoris (Thomas Söding) ernst nimmt. Interessanterweise werden beide Aspekte auch im Dokument der Päpstlichen Bibelkommission „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ (= IBK) vom 23. April 1993 aufgegriffen und gewürdigt.73 Dieses Dokument ist weithin positiv aufgegriffen worden und birgt noch weitere Schätze in sich.74 3.2.2.1  Kanonische Schriftauslegung Die Kanonfrage ist lange recht ausschließlich unter dem einseitigen Blickwinkel der autoritativen Auswahl und Sanktionierung eines bestimmten Schriftenkorpus durch eine bestimmte kirchliche Größe verhandelt worden. Die neuere Kanonforschung entdeckt und reflektiert den kanonischen Prozess, der zu einem Kanonabschluss hinführt, als theologische relevante Größe für die Schriftauslegung  Zum methodischen und hermeneutischen Reflexionsstand vgl. Th. Söding, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament. Unter Mitarbeit von Christian Münch, Freiburg 1998 (Lit.); Ch. Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, C. H. Beck Wissen 2099, München 1998. 71  Vgl. P. Walter, Art. „Schriftauslegung II. Historisch-theologisch“, LThK3 9 (2000), 256–259 (Lit.). 72 Vgl. Ch. Dohmen / ​G.  Steins, Schriftauslegung I. Biblisch-theologisch, LThK3 9 (2000), 253–256 (Lit.). 73  Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche 23. April 1993, VapS 115, Bonn 1993. Die Zitate im Text folgen hier der Dokumentation in: SBS 161, Stuttgart 1995; vgl. hier 62–90: H.-J. Klauck, Das neue Dokument der Päpstlichen Bibelkommission. Darstellung und Würdigung; vgl. auch K. Kertelge, Die Interpretation der Bibel in der Kirche. Zum gleichnamigen Dokument der päpstlichen Bibelkommission vom 23. April 1993, TThZ 104 (1995), 1–11. 74 Vgl. hierzu die verschiedenen Stellungnahmen in: BiLi 69–71 (1996–1998), hier auch K. Scholtissek, Relecture (vgl. Anm. 60). 70

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2.  Zwischen Buchstaben und Geist

und kann so auch die innerkanonische Dialogizität neu ernst nehmen. Christoph Dohmen und Georg Steins sprechen in diesem Zusammenhang von der bewusst intendierten und sinnkonstituierenden innerbiblischen Vielfalt der Bücher, Gattungen, Themen und Theologien. Diese Vielfalt stellt einen „geronnenen Dialog“ dar, der als solcher Inhalt des umfassenden „Sinngefüges“ der Heiligen Schrift ist.75 Das Proprium der „kanonischen Schriftauslegung“ ist es, „den Kanon der Bibel als theologische Größe wahrzunehmen und von ihm her die einzelnen Texte (Bücher) der Bibel auszulegen und zu verstehen.“ 76 Martin Buber, der jüdische Theologe und Übersetzer der Hebräischen Bibel, hat diesen Zugang avant la lettre prägnant formuliert: „Die hebräische Bibel will als Ein Buch gelesen werden, so dass keiner ihrer Teile in sich geschlossen bleibt, vielmehr jeder auf jeden zu offen gehalten wird; sie will ihrem Leser als Ein Buch in solcher Intensität gegenwärtig werden, dass er beim Lesen oder Rezitieren einer gewichtigen Stelle die auf sie beziehbaren, insbesondere die ihr sprachidentischen, sprachnahen oder sprachverwandten erinnert und sie alle einander erleuchten und erläutern, sich miteinander zu einer Sinneinheit, zu einem nicht ausdrücklich gelehrten, sondern dem Wort immanenten, aus seinen Bezügen und Entsprechungen hervortauchenden Theologumenon zusammenschließen. Das ist nicht eine von der Auslegung nachträglich geübte Verknüpfung, sondern unter dem Wirken dieses Prinzips ist eben der Kanon entstanden, und man darf mit Fug vermuten, dass es für die Auswahl des Aufgenommenen, für die Wahl zwischen verschiedenen Fassungen mitbestimmend gewesen ist.“ 77

In der Diskussion um die Schriftsinne (sensus literalis, sensus spiritualis, sensus plenior)78 hat Christoph Dohmen mit dem Wortlaut des Bibeldokumentes für eine Koinzidenz von sensus plenior und kanonischem Textsinn plädiert:79 Die Wahrnehmung des Einzeltextes als Teil der Heiligen Schrift einer Glaubensgemeinschaft lässt „Sinnmöglichkeiten erscheinen …, die der ursprüngliche Kontext im Dunkeln gelassen hatte.“80 Der Kanon Heiliger Schriften ist zu verstehen „als Ausdruck des Glaubensbewusstseins der Glaubensgemeinschaft (synchron u. diachron), die auch durch die Hl. Schrift im Dialog mit Gott steht (vgl. Dei Verbum 8.21).“81 Deshalb gehört die Schriftauslegung konstitutiv zur Heiligen Schrift hinzu; sie ist nicht ein75  Vgl. Ch. Dohmen / ​G.  Steins, Art. „Schriftauslegung“ (vgl. Anm. 72), 254. Vgl. auch G. Steins, Der Bibelkanon als Zugang zur Bibelauslegung. Ein neuer Ansatz der Exegese, Pastoralblatt 47 (1995), 237–240 (Lit.); Ch. Dohmen, Was Gott sagen wollte … Der sensus plenior im Dokument der Päpstlichen Bibelkommision, BiLi 69 (1996), 251–254. 76  Ch. Dohmen, Was Gott sagen wollte … (vgl. Anm. 75), 253. Vgl. hierzu das weiterführende Methodenprogramm von G. Steins, Die Bindung Isaaks im Kanon. Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre. Mit einer Spezialbibliographie zu Gen 22, HBS 21, Freiburg i. Br. 1999, 9–102 (Lit.). 77  M. Buber, Zur Verdeutschung des letzten Bandes der Schrift, Heidelberg 1962, 3. Dieses Zitat ist übernommen aus Ch. Dohmen, Bibel (vgl. Anm. 70), 90. 78  Vgl. Die Interpretation der Bibel in der Kirche (vgl. Anm. 73), 131–134. 79 Vgl. Ch. Dohmen, Was Gott sagen wollte … (vgl. Anm. 75). 80  Die Interpretation der Bibel in der Kirche (vgl. Anm. 73), 134. 81  Ch. Dohmen / ​G.  Steins, Art. „Schriftauslegung“ (vgl. Anm. 72), 254.

3.  Die Schriftauslegung Erik Petersons

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fach ein sekundärer Prozess: Denn „der literar. Prozess der produktiven Fortschreibung bzw. Rezeption, der z. Bibel als Hl. Schrift geführt hat, [ist] auf weite Strecken immer auch ein Prozess der Schriftauslegung (…), indem die Glaubensgemeinschaft ihre Glaubenserfahrungen u. ihren Gebrauch der Glaubenszeugnisse in Gottesdienst u. Unterweisung festgehalten hat.“82 Der kanonische Prozess wie der Kanonabschluss verweisen auf den konsti­tu­ tiven Zusammenhang und die wechselseitige Dialogizität von Glaubensgemeinschaft, Glaubensinhalt (regula fidei), Schriftauslegung und kanonischen Schriften. Diese vier Größen stehen nicht in einem äußerlichen, additiven oder chronologisch glatt unterscheidbaren Verhältnis, sondern sie interpretieren sich wechselseitig. So sehr der Kanonabschluss eine normative Zäsur setzt, insbesondere im Ausschluss bestimmter als nichtkanonisch eingeschätzter Schriften, so sehr stiften der kanonische Prozess und der Kanonabschluss ihrerseits neu die Dialogizität von Glaubensgemeinschaft, Glaubensinhalt, Schriftauslegung und kanonischen Schriften. Dieses untrennbare, fruchtbare Zueinander gehört somit in die Konstitution und Grundvollzüge der Ekklesia. Aus dieser Einschätzung ergibt sich auch die Prävalenz der synchronen Auslegung des Endtextes für die kanonische Schriftauslegung, weil genau dieser Text als geronnene Frucht des kanonischen Prozesses ernstgenommen sein soll. In diese Perspektive fügt sich auch das patristische Auslegungskriterium: „Eine Schrift ist in dem Geist auszulegen, in dem sie geschrieben worden ist“ (vgl. Hieronymus, In Gal. 5,19 ff; PL 26,417 A; vgl. Dei Verbum 12). 3.2.2.2  Texte und ihre „Sinnkarriere“ (Paul Ricoeur) So sehr mit der Kanonisierung einer Schrift bzw. eines Schriftkorpus als Heiliger Schrift einer Glaubensgemeinschaft der Verschriftlichungsprozess einen normativen Abschluss gefunden hat, die je neue Rezeption dieser normativen Schrift unter veränderten sozialen, kulturellen, politischen, geistesgeschichtlichen oder individuellen Bedingungen lässt sich in Analogie zu schriftlichen relectureProzessen deuten. Das Bibeldokument der Päpstlichen Bibelkommission von 1993 spricht hier in Anlehnung an die Hermeneutik Paul Ricoeurs von der „Sinnkarriere“83 eines Textes: „Der Sinn eines Textes kann jedoch nur dann voll erfasst werden, wenn er im Erleben der Leser aktualisiert wird, die ihn sich aneignen“ (IBK 126). „Die biblische Erzählung dieser Ereignisse (scil. der Heilsereignisse und ihre Erfüllung in der Person Jesu Christi) kann durch den Verstand allein nicht voll erfasst werden. Ihre Interpretation bedarf besonderer Voraussetzungen, z. B. des in der kirchlichen Gemeinschaft gelebten Glaubens und der Führung durch den Heiligen Geist“ (IBK 128).

 Ebd. 254.  Die Interpretation der Bibel in der Kirche (vgl. Anm. 73), 126.

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2.  Zwischen Buchstaben und Geist

Das Bibeldokument fährt dann unmittelbar fort: „Mit dem Wachsen des Lebens im Geiste weitet sich bei der Leserschaft das Verständnis der Wirklichkeiten, von denen der biblische Text spricht“ (IBK 128). Dieses Wort erinnert an die Aussage Gregor des Großen: „… quia diuina eloquia cum legente crescunt, nam tanto illa quisque altius intellegit, quanto in eis altius intendit (Greg. M. in Ezech. 1, 19; SC 327, 244).“ Frei übersetzen lassen sich diese Worte mit: „Die geistlichen Aussprüche erfahren im Lesen einen Sinnzuwachs.“84 Die biblischen Schriften entfalten ihr Sinnpotential erst in und durch eine das eigene Leben ergreifende, es deutende und von ihm her angestoßene Aufnahme. Deshalb ist das Ziel der Arbeit der Exegeten „erst erreicht, wenn sie den Sinn des biblischen Textes als gegenwartsbezogenes Wort Gottes erfasst haben“ (IBK 147). Von dieser auf die Leser oder Hörer zielenden Dynamik biblischer Texte spricht Paul Ricoeur: „Diese Welt des Textes regt den Leser, den Hörer an, sich selbst angesichts des Textes zu verstehen und, in Imagination und Sympathie, das Selbst, das fähig ist, diese Welt zu bewohnen, indem es darin seine eigenen Möglichkeiten entfaltet, zu entwickeln.“85

Zu dem sich hier öffnenden hermeneutischen Zirkel merkt P. Ricoeur programmatisch an: „Ich werde mich kühn im Zirkel halten, in der Hoffnung, dass mir durch die Übertragung des Textes auf das Leben das, was ich riskiere, unter den Formen eines Zuwachses an Verständnis, Wachsamkeit und Freude hundertfach zurückgegeben wird.“86

 Die Aufmerksamkeit für diese recht verstandene Sinnkarriere biblischer Gottesworte im Vollzug ihrer vom Glauben getragenen Rezeption kann den Zugang zur patristischen Schriftauslegung mit ihrem dezidiert geistlichen Übersetzungsinteresse neu öffnen; vgl. hierzu St. Ch. Kessler, Gregor der Große als Exeget. Eine theologische Interpretation der Ezechielhomilien, ITS  43, Innsbruck 1995, bes. 252 f. Die Übersetzung von St. Ch. Kessler: „Das Verständnis der Schrift wächst, indem sie gelesen wird“ (ebd. 19) entschärft die Aussage ein wenig, da nach dem lateinischen Wortlaut die divina eloquia selbst das Subjekt des Wachsens sind. Dies berücksichtigt auch seine Auslegung dieses Satzes (ebd. 252 f ); vgl. 252: Gregor der Große „erkennt nicht nur einen Fortschritt bei dem, der die Worte der Bibel aufmerksam hört oder deren Weisungen eifrig in seinem Leben befolgt, sondern er sieht ein geistig-geistliches Wachstum des Wortes selber zusammen mit dem, der die Schrift liest.“ Vgl. auch Dei Verbum 8: crescit. Vgl. auch Johannes Cassian, Conlationes 14,11,1: pulchritudo quodammodo cum proficiente proficiet (vgl. hierzu K. S. Frank, Johannes Cassian und seine Schriften. Das ägyptische Mönchtum als spiritueller Mutterboden des abendländischen Mönchtums, EuA 73 [1997], 288–304, hier 301–303). 85  P. Ricoeur, Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg i. Br. 1981, 73. 86  Ebd. 46. 84

3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35) Zur Auslegung und Theologie der Schrift Israels im Johannesevangelium 1.  Einleitung und Fragestellung Die Beobachtung und Auswertung der Unterschiede zwischen den Synoptikern und dem JohEv führt häufig dazu, dem vierten Evangelium sprachlich, soziologisch und theologisch eine Randexistenz – mindestens aber eine Sonderexistenz – im Urchristentum respektive im neutestamentlichen Kanon zu attestieren.1 Freilich werden die dazu angeführten sozialgeschichtlichen, religionsgeschichtlichen und literarkritischen Argumentationsraster zunehmend in Frage gestellt.2 Auch die weithin angenommene literarische Unabhängigkeit des JohEv von den Synoptikern verliert mehr und mehr ihre Plausibilität. Die hiermit angezeigte Verschiebung joh Forschungsparadigmen3 wirft die Frage nach dem Ort des vierten Evangeliums im Vier-Evangelien-Kanon, aber auch im Gesamt des Neuen Testaments auf: Gehört das JohEv in die Mitte oder an den Rand des neutestamentlichen Kanons? Innerhalb dieser übergreifenden Fragestellung soll hier der Frage nachgegangen werden, ob die Schriftauslegung bzw. ‑theologie des JohEv dieses an den Rand oder in die Mitte des neutestamentlichen Kanons führt. Hebt sich die joh Schriftauslegung deutlich, teilweise oder gar nicht von der Schriftauslegung der anderen neutestamentlichen Schriften ab? Insgesamt partizipiert die Johannesforschung an der im jüdisch-christlichen Dialog4 gewachsenen Aufmerksamkeit für die Schriftauslegung der neutesta1  Zu den Entstehungsbedingungen des folgenden Beitrags, siehe im Anhang dieses Bandes unter „Nachweise der Erstveröffentlichung“. 2  Vgl. hierzu einführend: U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, utb 1830, Paderborn 4 2002, 479–555. 3  Zu diesen forschungsgeschichtlichen Entwicklungen vgl. die eigenen Forschungsberichte: K. Scholtissek, Neue Wege der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I–II, ThGl 89 (1999), 263–295; 91 (2001) 109–133; Ders., Johannes auslegen I–III, SNTU 24 (1999), 35–83; 25 (2000), 98–140; 27 (2002), 117–153; Ders., Eine Renaissance des Evangeliums nach Johannes. Aktuelle Perspektiven der exegetischen Forschung, ThRv 97 (2001), 267–288; Ders., The Gospel of John in Recent Research, in: S. McKnight / ​G. R. Osborne (Hgg.), The Face of New Testament Studies, Grand Rapids 2004, 444–472. 4  Zum jüdisch-christlichen Gespräch im Blick auf die neutestamentliche Wissenschaft vgl.: „Nun steht aber diese Sache im Evangelium …“ Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, R. Kampling (Hg.), Paderborn 1999; Ders., Im Angesicht Israels. Studien zum historischen und theologischen Verhältnis von Kirche und Israel, SBB 47, Stuttgart 2002; Ders.  / ​ M. Blum, Antijudaismus im Neuen Testament und der neutestamentlichen Exegese, Darmstadt 2002. Vgl. auch die Erklärung der Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und

528

3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

mentlichen Autoren.5 Die Schriftrezeption und ‑theologie der neutestamentlichen Autoren ist ein locus classicus für die jeweilige Bestimmung und Deutung des Nahverhältnisses zwischen christlichen Glaubensüberzeugungen einerseits und ihrem jüdischen Mutterboden andererseits. Die Schriftauslegung der neutestamentlichen Autoren bzw. Schriften ist in diesem Sinne von überragender bibeltheologischer Bedeutung.6 Grundsätzlich ist sie im Kontext der innerbiblischen, jüdisch-frühjüdischen Schriftauslegung wahrzunehmen und zu verorten. Eine nicht unerhebliche Schwierigkeit bei der Analyse und Interpretation der joh Schriftauslegung ergibt sich aus der Aufgabe Schriftzitate bzw. Anspielungen zu identifizieren und zu typologisieren. Eine praktikable Kriteriologie schlägt jüngst Hans-Josef Klauck vor.7 Er unterscheidet: (1) markierte Zitate,8 (2) unmarkierte Zitate; (3) Anspielungen; (4) Echos; (5) biblische Sprache, (6) Erzählfiguren und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ vom 24. 5. ​2001 (= VApS 152) (zum JohEv vgl. ebd. 145–149); vgl. hierzu: J. Beutler, Das jüdische Volk und die christliche Bibel. Zu dem neuen Dokument der Päpstlichen Bibelkommission, StdZ 220 (2002), 519–529. 5 Vgl. die neuesten Sammelbände: C. A. Evans / ​ W. R. Stegner (Hgg.), The Gospels and the Scriptures of Israel, JSNT.S 104, Sheffield 1994 (Lit.; hier 358–474 fünf Beiträge zum JohEv von A. T.  Hanson, M. Hengel, St. E.  Porter, J. Painter, J. R.  Michaels); C. A.  Evans / ​J. A.  Sanders (Hgg.), Early Christian Interpretation of the Scriptures of Israel. Investigations and Proposals, JSNT.S 148, Sheffield 1997; C. A. Evans / ​J. A. Sanders (Hgg.), The Function of Scripture in Early Jewish and Christian Tradition, JSNT.S 154, Sheffield 1998; C. A. Evans (Hg.), The Interpretation of Scripture in Early Judaism and Christianity. Studies in Language and Tradition, SSEJC 7 (JSP.S 33), Sheffield 2000; C. M. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997 (Lit.; hier 327– 428.629–636 vier Beiträge zum JohEv von M. Theobald, M. J. J.  Menken, U. Busse, W. Kraus). Vgl. auch die Problemanzeige von N. Walter, Zur theologischen Hermeneutik des christologischen ‚Schriftbeweises‘ im Neuen Testament, NTS 41 (1995), 338–357; vgl. auch den Überblicksartikel von D.-A. Koch, Art. „Schriftauslegung II. Neues Testament“, TRE 30 (1999), 457–471 (Lit.) (vgl. ebd. 468 die Replik auf N. Walter). Vgl. zudem: R. Liebers, „Wie geschrieben steht“. Studien zu einer besonderen Art frühchristlichen Schriftbezuges, Berlin 1993; M. C.  Albl, „And Scripture cannot be broken“. The Form and Function of Early Christian Testimonia Collections, NT.S 96, Leiden 1999 (Nach Albl gab es schon sehr früh im Urchristentum (vorpaulinisch) bis in die Zeit der Patristik Testimoniensammlungen, in denen bestimmte Schriftverse von Schriftgelehrten gesammelt wurden und auf das Christusgeschehen angewendet wurden: Diese Schriftgelehrten wollen sowohl Gottes Willen, wie er sich in den heiligen Schriften niederschlug, als auch Gottes Willen, wie er sich in Jesus Christus zeigte, gerecht werden und gehorchen; vgl. 290). 6  Zur neueren Diskussion im Bereich Biblische Theologie vgl.: Chr. Dohmen / ​Th. Söding Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen Biblischer Theologie, utb 1893, (Hgg.), Paderborn 1995; H. Hübner / ​B. Jaspert (Hgg.), Biblische Theologie. Entwürfe der Gegenwart, BThSt 38, Neukirchen-Vluyn 1999; F.-L. Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie, QD 185, Freiburg i. Br. 2001. 7 Vgl. H.-J. Klauck, Geschrieben, erfüllt, vollendet: die Schriftzitate in der Johannespassion, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im vierten Evangelium, Paderborn 2003, 140–157, hier 143 f; vgl. auch G. Häfner, Nützlich zur Belehrung (2 Tim 3,16). Die Rolle der Schrift in den Pastoralbriefen im Rahmen der Paulusrezeption, HBS 25, Freiburg i. Br. 2000, 45–63. Eine systematische Klassifikation jüdischer Schriftauslegung in den Evangelien schlägt A. de Agua vor, in: Ders., Jewish Procedures of Bible Interpretation in the Gospels. A Proposal for a Systematic Classification, EstB 60 (2002), 77–106. 8 Zu den alttestamentlichen Zitationsformeln vgl. jetzt K. L.  Spawn, „As it is Written“ and other Citation Formulae in the Old Testament. Their Use, Development, Syntax and Significance, BZAW 311, Berlin 2001.

1.  Einleitung und Fragestellung

529

Erzählmuster (pattern); (7) allgemeine Aussagen über die Schrift; (8) jüdische Auslegungstraditionen und ‑techniken, (9) christliche Rezeption. Heuristisch weiterführend scheint sodann die Unterscheidung zu sein zwischen der joh Schriftauslegung im engeren Sinn, also der konkreten Schriftverwendung im fortlaufenden Text des Evangeliums (vgl. die Kriterien 1–6.8–9 in der Liste von Klauck), und der joh Schrifttheologie als solcher (vgl. besonders das Kriterium 7 in der Liste von Klauck). Die joh Schrifttheologie ergibt sich einerseits implizit aus der spezifischen Schriftauslegung, andererseits explizit aus grundsätzlichen Aussagen über die Schrift im JohEv (vgl. bes. Joh 5,36–47; 10,34–35). Die joh Schriftauslegung und ‑theologie ist insgesamt im Rahmen der Israeltheologie des vierten Evangeliums9 zu verorten, zu der u. a. das bei Johannes betonte Judesein Jesu10 gehört. Innerhalb der jüngeren Forschungsgeschichte wird die Schriftauslegung des JohEv besonders im Kontext der Frage nach einem Antijudaismus im JohEv11 thematisiert und reflektiert: Führt diese joh Schriftauslegung zu einer gegen Israel gerichteten „Enteignung“ der Heiligen Schrift, zu einer „Entgeschichtlichung“12 oder einer „Entleerung der Heilsgeschichte“13? Dokumentiert die joh Schriftauslegung implizite oder explizite antijüdische Prämissen? Anders gefragt: Bleibt bei der exklusiven christologischen Soteriologie des JohEv noch Platz für eine ernstzunehmende vorgängige Gottesoffenbarung einerseits und für Gottes unwiderrufliche Heilszusage für Israel andererseits?14 Die folgenden Ausführungen wenden sich zunächst den neueren Forschungspositionen zu, um ihre Leistung und Grenzen zu würdigen (in 2.1.–2.3.). Daran schließen sich joh Beobachtungen zu Nähe und Differenz von frühjüdischer und  9 Vgl. hierzu F. Manns, L’Évangile de Jean à lumière du Judaisme, ASBF 33, Jerusalem (1991) 2000; G. Reim, Jochanan. Erweiterte Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, Erlangen 1995; vgl. weiterführend den Sammelband: Israel und seine Heilstraditionen im vierten Evangelium (s. Anm. 7); zum jüdischen Mutterboden des JohEv vgl. auch K. Scholtissek, Renaissance (s. Anm. 3) 271–275. 10  Vgl. hierzu Th. Söding, „Was kann aus Nazaret schon Gutes kommen?“. Die Bedeutung des Judeseins Jesu im Johannesevangelium, NTS 46 (2000), 21–41. 11 Zur Diskussion um einen joh Antijudaismus, vgl. den eigenen Diskussionsbeitrag in „Antijudaismus im Johannesevangelium?“, in diesem Band, S. 483–508; vgl. zuletzt den Sammelband; R. Bieringer / ​D. Pollefeyt / ​F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel. Papers of the Leuven Colloquium, Jewish and Christian Heritage Series 1, Assen 2001 (Lit.). 12 Vgl. W. Kraus, Die Vollendung der Schrift nach Joh 19,28. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium, The Scriptures in the Gospels (s. Anm. 5) 629–636, hier 633: „Der fortschreitenden Entfremdung Jesu von den Juden entspricht die Entfremdung der Glaubenden von der Welt.“ 13  Vgl. M. Theobald, Schriftzitate im „Lebensbrot“-Dialog Jesu (Joh 6). Ein Paradigma für den Schriftgebrauch des vierten Evangelisten, in: C. M. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels (s. Anm. 5) 327–366, hier 362: Die Geschichte Israels „wird abgestoßen und in einen Raum theologischer Irrelevanz entlassen“; vgl. ebd. 365: „eine heilsgeschichtliche Entleerung der in den Schriften bezeugten Geschichte Israels“. 14 Vgl. die Formulierung von M. J. J.  Menken, Observations (s. Anm. 1) 126: „If God reveals himself exclusively in Jesus, what value does the Old Testament retain as revelation?“ 2

530

3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

joh Schriftauslegung an (in 3.). Es folgen Analysen und Interpretationen zur joh Schrifttheologie (in 4.1.–4.4.) und abschließende Reflexionen zur Bedeutung der unauflösbaren Schrift im JohEv an (in 5.).

2.  Neuere Forschungspositionen Im Blick auf die joh Schrifttheologie und Schriftauslegung unterscheiden sich die Forschungspositionen zum Teil erheblich.15 Die hier ausgewählten Forschungsbeiträge zur Interpretation der johanneischen Schriftauslegung implizieren verschiedene Argumentationsfiguren, die bewusst überspitzend typisiert wurden: die christologische Erfüllung der Schrift, die zur „Aufhebung“ derselben führt (vgl. 2.1), die Annullierung der Schrift durch das Christusereignis (vgl. 2.2) und die typologische Deutung der Schrift (vgl. 2.3).

15  Zur joh Schriftauslegung vgl.: A. H.  Franke, Das Alte Testament bei Johannes. Ein Beitrag zur Erklärung und Beurteilung des johanneischen Schriften, Göttingen 1895; M. Hengel, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund urchristlicher Exegese, JBTh 4 (1989) 249–288 (M. Hengel stellt ebd. 283 ein kanonisches Interesse des Evangelisten fest, der „eine Art neuer ‚heiliger Schrift‘ verfassen will, die die bisherige Schrift ergänzt und abschließt“); A. T.  Hanson, The Prophetic Gospel. A Study of John and the Old Testament, Edinburgh 1991; A. Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate, WUNT II/83, Tübingen 1996; É. Cothenet, L’arrière-plan vétéro-testamentaire du IVe évangile, in: A. Marchadour (Hg.), Origine et postérité de l’évangile de Jean, LD 143, Paris 1990, 43–69; B. C.  Schuchard, Scripture within Scripture. The Interrelationship of Form and Function in the Explicit OT Citations in The Gospel of John, SBL.DS 133, Atlanta 1992; H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments III. Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung, Epilegomena, Göttingen 1995, 152–205; M. J. J.  Menken, Old Testament Quotations in the Fourth Gospel. Studies in Textual Form, CBET 15, Kampen 1996; Chr. Dietzfelbinger, Aspekte des Alten Testaments im Johannesevangelium, in: H. Cancik u. a. (Hgg.), Geschichte – Tradition – Reflexion I–III (FS M. Hengel), Tübingen 1996, III 203–218; J. Beutler, Der Gebrauch der Schrift im Johannesevangelium (1996), in: Ders., Studien zu den johanneischen Schriften, SBAB 25, Stuttgart 1998, 295–315; W. Kraus, Johannes und das Alte Testament. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium im Horizont Biblischer Theologie, ZNW 88 (1997), 1–23; Ders., Vollendung (s. Anm. 12), 629–636; U. Busse, Die Tempelmetaphorik als ein Beispiel von implizitem Rekurs auf die biblische Tradition im Johannesevangelium, in: C. M. Tuckett (Hg.), The Scripture in the Gospels (s. Anm. 5) 395–428; M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 13) 327–366 (Lit.). M. Theobald sieht Gründe, von einem „destruktiven Schriftumgang“ (ebd. 365) des vierten Evangeliums zu sprechen. Vgl. weiterhin: J. Frey, „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat …“ Zur jüdischen Deutung der Schlange und ihrer christologischen Rezeption in Joh 3,14 f., in: M. Hengel / ​H. Löhr (Hgg.), Schriftauslegung im antiken Judentum und im Urchristentum, WUNT 73, Tübingen 1994, 153–205; J. Lieu, Biblical Theology and the Johannine Literature, in: S. Pedersen (Hg.), New Directions in Biblical Theology, NT.S 76, Leiden 1994, 93–107; Dies., Narrative Analysis and Scripture in John, in: The Old Testament in the New Testament (FS J. L. North), JSNT.S 189, Sheffield 2000, 144–163 (vgl. ebd. 144: „it is Scripture that makes the Gospel ‚work‘“); M. Daly-Denton, David in the Fourth Gospel. The Johannine Reception of the Psalms, AGAJU 47, Leiden 2000.

2.  Neuere Forschungspositionen

531

2.1  Die christologische Erfüllung als „ Aufhebung“ der Schrift Andreas Obermann verficht die These, das JohEv schildere die christologische Erfüllung der Schrift.16 Der Autor untersucht vierzehn von ihm als solche identifizierte joh Schriftzitate17 eingehend, fragt nach ihren alttestamentlichen Quellen (MT oder wie in den meisten Fällen LXX), dem jeweiligen Verständnis eines Wortes in seinem ursprünglichen Zusammenhang, deutet die Zitate in ihrem neuen joh Kontext und schließt jeweils mit einer inhaltlichen Auswertung. Grundsätzlich betont er den nachösterlichen Standpunkt, von dem her der Evangelist die Schriftzitate einflicht.18 Überzeugend wertet er die Beobachtung aus, daß bis 12,14– 15 einschließlich die Zitate meistens mit einer Einleitungsformel (γεγραμμένον ἐστίν; vgl. 2,17; 6,31.45; 10,34; 12,14), ab 12,38 hingegen oft mit einer Erfüllungsformel (ἵνα πληρωθῇ; vgl. 12,38; 13,18; 15,25; 19,24.36) beginnen: Die Schriftzitate im 1. Hauptteil des JohEv deuten den Weg Jesu als „Interpretamente“ seines Wirkens, sie bilden den „Deutehintergrund der johanneischen Erzählung.“19 Im 2. Hauptteil sind die Zitate durchgehend christologisch ausgerichtet und betonen die Erfüllung der Schrift. Die joh Schrifthermeneutik wird insgesamt mit ihren christologischen20 und pneumatologischen Prämissen vorgestellt. Seine exegetischen Ausführungen führen A. Obermann zu dem Urteil: Die Schrift erfährt in Jesus Christus „ihre Erfüllung und Vollendung. Christus selbst, der Inhalt der Schrift seit jeher (1,45; 5,39.46 [8,58]), erfüllt die Schrift, indem sich diese realisiert.“21 In der Fleischwerdung des präexistenten Sohnes erfüllt sich, „was die Schrift seit jeher angesagt hat und worauf sie seit jeher zielte.“22 Freilich ergibt sich in den Ausführungen von Obermann eine gewisse inhaltliche Spannung: Einerseits spricht er davon, daß Jesus Christus der Inhalt der Schrift seit jeher sei (siehe Zitat oben), andererseits schreibt er unmittelbar anschließend: „Mit dem fleischgewordenen Wort erhält die Schrift ihre Substanz (ihren Inhalt) und wird so zum Lebenswort, d. h. zum lebenschaffenden Wort.“23 Eben hier liegt aber eine entscheidende Differenz: Wenn die Schrift mit dem fleischgewordenen Wort erst ihre Substanz „erhielte“, wäre sie ante Christum natum substanzlos. Dies aber widerspricht den Ausführungen des Autors über die Bedeutung der Schriften Israels, deren Geltung bei Johannes ja gerade vorausgesetzt wird.24  Vgl. A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15).  Vgl.: 1,23; 2,17; 6,31; 6,45; 10,34; 12,13; 12,14–15; 12,38; 12,40; 13,18; 15,25; 19,24; 19,36; 19,37. 18 Vgl. ebd. 120–122.127.395–408 19 Vgl. ebd. 215 f. 20 Vgl. ebd. 373 f: „Die Schriften sind vielmehr Zeugnis von Christus und vermitteln Leben nur, indem sie zu Jesus führen“; vgl. ebd. 417.426. 21 Ebd. 83. 22  Ebd. 23  Vgl. ebd. 83. 24 Vgl. ebd. 426: „Die Schrift wird formal als autoritative Größe vorausgesetzt und theologisch als Christuszeugnis seit jeher verstanden (1,45; 5,39.47).“ Vgl. grundlegend D.-A. Koch, Schriftauslegung (s. Anm. 5) 457: „Die Schrift als selbstverständliche Gegebenheit“; vgl. ebd. 457. 16 17

532

3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

In manchen Aussagen überhöht Obermann die joh Einschätzung der Schrift von einem das Christusgeschehen voraussehenden, es deutenden und beglaubigenden Zeugnis Gottes hin zu einer heilsmittlerischen Größe.25 Dies zeigt sich auch im letzten Satz der Monographie: „Für den Evangelisten als Schrifttheologen ist die Schrift die entscheidende Kategorie für das Verständnis und die Darlegung des Rettungshandelns Gottes in Jesus – denn aus der Schrift heraus sind die Gnade und die Wahrheit in Christus zur Rettung des Kosmos geworden.“26

Während der Nominalsatz m. E. zutreffend das Verhältnis zwischen der Schrift und der Sendung Jesu Christi bestimmt, überzieht der anschließende Kausalsatz den (synthetischen) parallelismus membrorum aus 1,17: Nicht die Schrift, sondern Jesus Christus ist im joh Verständnis das Subjekt, aus dem „Gnade und Wahrheit“ zur Rettung des Kosmos „geworden“ sind. Diese Ambivalenz teilt sich auch der Hauptthese Obermanns mit: Seine Auslegung von 1,1.14 und 10,34–35 deutet die „Worte der Schrift“ als „aufgehoben“ „im absoluten λόγος Jesus“, „da sie sich in der Fleischwerdung des λόγος verwirklicht haben.“27 In welchem Sinne ist hier „Aufhebung“ gemeint? Der dialektische Dreischritt von These – Antithese – Synthese kommt nicht in Frage, da die Antithese fehlt. Das Stichwort „Erfüllung der Schrift“, das Obermann mit einem gewissen Recht als Leitfigur thematisiert, lenkt m. E. treffender auf eine zweigliedrige Verhältnisbestimmung hin. Demnach „erfüllt“ sich in der Sendung Jesu, seiner Fleischwerdung, Passion, Erhöhung und Verherrlichung, das an Israel ergangene, unauflösbare „Wort Gottes“ (vgl. 10,34–35). Das an Israel ergangene Wort Gottes ist keineswegs ‚leer‘ oder ‚substanzlos‘, sondern es hat eine ihm eigene Geltung und ist ausgerichtet und bezeugt authentisch Gottes Herrlichkeitsoffenbarung in seinem Sohn Jesus Christus. Voraussetzung für diese Lektüre der Schriften Israels ist allerdings der Glaube an Gottes eschatologische Offenbarung in Jesus Christus. 2.2  Die Annullierung der Heilsgeschichte Die Interpretationen zur joh Schriftauslegung von Michael Theobald28, Christian Dietzfelbinger29 und Wolfgang Kraus30 sehen mit verschiedenen Akzenten die joh Schrifttheologie von einer gegen die Heilsgeschichte gerichteten „Enteignung“ der Heiligen Schrift Israels, von einer „Entgeschichtlichung“31 bzw. „Entleerung der  Vgl. die Rezension von K. Scholtissek, ThRv 94 (1998), 196–198. A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15), 430. 27 Ebd. 426. 28 Vgl. M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 13). 29  Ch. Dietzfelbinger, Aspekte (s. Anm. 15). 30  Vgl. W. Kraus, Vollendung (s. Anm. 12), 629: „Die Schrift wird hierbei von der Geschichte Israels abgekoppelt“; vgl. ebd. 635: „Die Schrift wird losgelöst von der Geschichte Gottes mit Israel …“ 31 Vgl. ebd. 633: „Der fortschreitenden Entfremdung Jesu von den Juden entspricht die Entfremdung der Glaubenden von der Welt.“ Dennoch trifft das von W. Kraus (Johannes [s. 25

26 Vgl.

2.  Neuere Forschungspositionen

533

Heilsgeschichte“32 bestimmt.33 Da „der Gedanke der Heilsgeschichte weitgehend preisgegeben werde,“34 sieht W. Kraus 1,11.14.17; 4,22 und 10,34–35 als nicht bestimmend für das joh Denken an: 4,22 „hängt … in der Luft und verblaßt zu einer historischen Reminiszenz.“35 In letzter Konsequenz geht diese Position noch über die Substitutionstheorie hinaus, in dem sie im Grunde behauptet, nach Ansicht des JohEv gäbe es nichts zu substituieren, weil angesichts der Christuswirklichkeit alle vorgängige Heilsgeschichte unwirklich werde. Aber minimiert bzw. annulliert die christologische Schriftauslegung im JohEv tatsächlich das eigene Gewicht der vorgängigen Gottesoffenbarung an Israel (vgl. 10,35: πρὸς οὕς ὁ λόγος τοῦ θεοῦ ἐγένετο)? Das kontroverse Problem, von dem die joh Schriftauslegung bestimmt ist, ist m. E. nicht die Geltung der Gottesgeschichte Israels, nicht die Bestreitung des erwählenden Geschichtshandelns Gottes an und in Israel, nicht die Entleerung des Bundes mit Israel, sondern der joh Anspruch, das als eschatologische Tat Gottes gedeutete Christusgeschehen als konform mit der biblischen Verheißungsgeschichte und als das Handeln des einen und selben Gottes Israels auszuweisen.36 Wenn es mit W. Kraus zutrifft, daß das JohEv die eigene „Darstellung des Christusereignisses in den Rang der γραϕή rückt,“37 dann setzt gerade diese Vorgehensweise ein besonderes Verständnis von der Autorität der Heiligen Schriften Israels voraus. Es gehört zur Ironie der Verhöre, denen Jesus immer wieder ausgesetzt ist, daß er seinen Opponenten alle Argumente und Rekursinstanzen entwindet: Der Berufung auf die Schrift bzw. das Gesetz, auf Abraham und Mose, der Berufung auf den „einen Gott“ (8,41) und den Anklagen der Gotteslästerung widerspricht Jesus und zeigt auf, warum diese Instanzen nicht gegen, sondern gerade für ihn sprechen. Am Ende der Streitgespräche mit Prozesscharakter steht in einem ironischen Rollenwechsel nicht Jesus, sondern seine Gegner als Angeklagte da.38 Innerhalb dieser ironischen Rollenwechsel bleibt die Schrift konAnm. 15], 17) akzeptierte Urteil von W. A.  Meeks („Ihre Loslösung von der Welt fällt im Evangelium mit der Loslösung vom Judentum zusammen“) nicht zu. Zu diesem missverständlichen Theorem von R. Bultmann („Entweltlichung“) vgl. K. Scholtissek, Johannes auslegen I (s. Anm. 3), 42–51. 32  Vgl. M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 13), 362: Die Geschichte Israels „wird abgestoßen und in einen Raum theologischer Irrelevanz entlassen“; vgl. ebd. 365: „eine heilsgeschichtliche Entleerung der in den Schriften bezeugten Geschichte Israels“. 33  Vgl. auch die Diskussion bei K. Scholtissek, Antijudaismus (s. Anm. 11). 34  W. Kraus, Johannes (s. Anm. 15), 20. 35 Ebd. 22 Anm. 115. Dass 4,22 auch anders ausgelegt werden kann (und muss), zeigt G. Van Belle, „Salvation is from the Jews“. The Parenthesis in Jn 4,22, in: R. Bieringer / ​D. Pollefeyt / ​ F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel (s. Anm. 11), 370–400. 36 Nach F. Vouga, Antijudaismus im Johannesevangelium?, ThGl 83 (1993), 81–89, 88 f, setzt das JohEv die doppelte Autorität der jüdischen Tradition und der Christologie voraus, so sehr es die Schrift Israels auf die Christologie hin auslegt. 37 W. Kraus, Johannes (s. Anm. 15), 2; vgl. ebd. 16–19. 38 In diesen Fällen sind die Gegner Jesu in den Streitgesprächen die Opfer der joh Ironie. Vgl. hierzu insgesamt „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, in diesem Band, S. 349– 368.

534

3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

stant die gültige Rekursinstanz. So führt die hohe, gegenüber den Synoptikern vorangetriebene christologische Konzentration des JohEv nicht zu einer „Entgeschichtlichung“ oder „Entwirklichung“ der Heilsgeschichte ante Christum natum, sondern zu einer Berufung auch die Schrift und einer Inanspruchnahme derselben, die ihre Gültigkeit, Autorität und Authentizität voraussetzt. 2.3  Typologische Interpretation der Schrift In seinem Beitrag „Observations on the Significance of the Old Testament in the Fourth Gospel“ begründet Maarten J. J.  Menken die These einer typologischen Deutung der Schrift bzw. der Heilsgeschichte Israels in der Sicht des JohEv.39 Dazu unterscheidet er zwischen dem „text of Scripture“, der eine positive Zeugnisfunktion zukomme (vgl. 1,45; 2,22; 5,39.46; 12,16; 20,9), und der in der Schrift erzählten (Heils‑)Geschichte (vgl. die Sinai-Theophanie, die Mannaspende). Dabei ist die Bedeutung des Heilshandelns Gottes in Israel ante Christum natum für das JohEv umstritten, da Jesus „the only revealer of God“40 im JohEv ist (vgl. 1,18; 3,13.34; 5,37–38; 6,46; 7,16; 8,18; 12,45.49; 14,6.9.24).41 2.3.1  Das Zeugnis des Schrifttextes In seinen Ausführungen referiert Menken den Textbefund zur joh Schriftauslegung, den er andernorts ausführlich analysiert und interpretiert hat:42 Als direkte Zitate verweist er auf explizite und implizite Psalmbezüge in Joh 2,17 (= Ps 69,10), 12,27 (= Ps 6,4–5); 13,18 (= Ps 41,10); 15,25 (= Ps 69,5); 19,24 (= Ps 22,19) und 19,36 (= Ps 34,21), die den joh Jesus als leidenden Gerechten und (aufgrund der Zitation von Davidpsalmen) als davidischen Messias, identifizieren. Sodann wird Jesus in 12,34 (= Ps 89,37) und 7,42 (= 2 Sam 7,12) als „Christus“ bezeichnet, in 12,13 (= Ps 118,26) als der, der im Namen des Herrn kommt, in 12,15 (= Sach 9,9) als verheißener König, in 19,37 (= Sach 12,10) als der Durchbohrte. Der joh Jesus ist der Ort der Gottesoffenbarung (vgl. nur 1,51 mit Gen 28,12). Schon Jesaja habe von Jesus gesprochen und den Unglauben gegenüber den Zeichen Jesu erklärt (vgl. 12,38 mit Jes 53,1 und 12,40 mit Jes 6,10). Die Verheißung von Gottes eschatologischer Belehrung realisiert sich im Glauben an Jesus (vgl. 6,45 mit Jes 54,13). Johannes der Täufer werden die Worte aus Jes 40,3 in den Mund gelegt (in 1,23). Typologische Interpretationen finden sich in 6,31–33 (Jesus ist das wahre Manna; vgl. Ps 78,24), in 7,38 (Jesus ist der wahre wasserspendende 39  Vgl. M. J. J.  Menken, Observations (s. Anm. 1); vgl. auch den die Detailuntersuchungen des Autors zusammenführenden Sammelband: Ders., Old Testament Quotations (s. Anm. 15). 40 Vgl. Ders., Observations (s. Anm. 1), 127–128. 41  M. J. J.  Menken schließt daraus, dass es im JohEv keine wahre Offenbarung Gottes im AT geben könne; ebd. 132. 42  Vgl. die Detailstudien in Ders., Old Testament Quotations (s. Anm. 15); vgl. ebd. 205–212 die zusammenfassende Auswertung; hier 207 f: „The basic conviction behind these textual operations is … the conviction that Scripture has a hidden meaning that is revealed in the application of the text to Jesus as God’s eschatological envoy“.

2.  Neuere Forschungspositionen

535

Fels; vgl. Ps 78,16.20), in 19,36 (das wahre Paschalamm; vgl. Ex 12,46; Num 9,12; LXX Ex 12,10). In 8,17 (= Dtn 19,15) und 10,34 (= Ps 82,6) verteidigt Jesus sich mit Schlüssen a minori ad maius. Diesen direkten Zitaten fügt Menken Hinweise auf alttestamentliche Anspielungen an (vgl. bes. die „Ich-bin“-Worte Jesu mit Jes 41,4; 43,10; 46,4; 48,12; 52,6). „In John’s view, the divine presence proclaimed in Second Isaiah is realised in Jesus.“43 Auch das „Gesetz (ὁ νόμος)“ legt Zeugnis ab für Jesus (vgl. 1,1744.45; 8,17; 10,34; 12,34; 15,25; vgl. 7,19–24.45–52; 18,31; 19,7; 5,18; 8,58–59; 10,33). Sodann belegt auch die Erfüllungsformel: „damit die Schrift erfüllt wird“ (12,38; vgl. 13,18; 15,25; 17,12; 19,24.36; vgl. τελειοῦν in 19,28.30), die Art der joh Schriftrezeption. Im Blick auf die Aussagen zur Erfüllung und Vollendung der Schrift im JohEv urteilt Menken zusammenfassend: „The idea at the basis of this metaphor is that before the coming of Jesus, Scripture remains, so to speak, ‚empty‘; Jesus is the reality that fills the empty words of Scripture.“45 Gegen dieses Urteil lassen sich Einwände erheben: Gerade die beiden Hinweise des Autors auf Num 23,19 und Jes 55,11 können diese These nicht wirklich stützen: Dass Gott das von ihm Angesagte tatsächlich wirksam ausführt (vgl. auch Philo Sacr 93; Mos 1,283), bedingt nicht die Leere der Ankündigung, im Gegenteil. Auch der Hinweis auf die inspirierten Worte des Kajaphas in 11,51–52 belegt nicht die „Leere“ der Schrift, sondern ist als ironische Fremdprophetie zu verstehen,46 die das Unverständnis des amtierenden Hohenpriesters für den wahren Sinn der Schrift, nicht aber ihre Irrelevanz, belegt. Zur Deutung des AT-Zeugnisses wendet Menken einen erhellenden Vergleich an zwischen der Rolle Johannes des Täufers und derjenigen der Schrift. Beide, Johannes der Täufer und die Schrift Israels, gehen im JohEv ganz in der Rolle des Zeugen (μαρτυρέω κτλ.) für Jesus Christus auf. Johannes der Täufer ist nach 1,6 von Gott gesandt und Gott hat zu ihm gesprochen (1,32–33; vgl. 1,33; 3,28). Seine Aufgabe ähnelt der eines Propheten. Auch zu Israel hat Gott gesprochen (vgl. 10,34–35) und dieses Sprechen Gottes ist in der Schrift aufbewahrt: Beide, die Schrift und der Täufer, erhalten ihre Autorität von Gott. Diese gut beobachtete Analogie wird bei Menken allerdings einschränkend interpretiert: „Both John the Baptist and Scripture derive their authority from God, but it is an authority, that is conferred by God speaking to ordinary human beings on earth. It is distinct from and inferior to the authority of the Son.“47

Diese einschränkende Interpretation bricht der joh Pointe m. E. die Spitze ab: Freilich haben weder die Schrift noch Johannes der Täufer die gleiche Autorität wie Jesus Christus, der mit dem Vater einzigartig verbundene Sohn, aber sie haben eine positive, genauerhin eine gottgegebene Autorität. Die Schrift und der Täufer  Vgl. Ders., Observations (s. Anm. 1), 130.  M. J. J.  Menken deutet 1,17 nicht antithetisch; vgl. ebd. 130.137. 45  Ebd. 131. 46  Vgl. K. Scholtissek, Ironie (s. Anm. 38), 245–247. 47  M. J. J.  Menken, Observations (s. Anm. 1), 134. 43 44

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3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

haben eine Zeugnisautorität, die ihnen von Gott selbst zukommt. Von der umfassenden joh Theologie der Martyria her kommt dem „Zeugnis“ der Schrift wie des Täufers eine eminent positive Bedeutung zu.48 Dies sieht U. Schnelle, wenn er zu Joh 5,34–47 abschließend urteilt: „Die joh. Christushermeneutik relativiert keineswegs die Stellung der Schrift, sondern weist ihr einen außerordentlichen Rang zu: Als Christuszeuge ermöglicht die Schrift die wahre Erkenntnis des Gottessohnes.“49

Auch in seiner Zusammenfassung versteht Menken die joh Schriftzitate als „witnesses to Jesus in the sense that he is the reality that fulfils words. Until his coming, these words are empty.“50 Die Schriftworte kommen nicht direkt von Gott, sondern sind vermittelte Zeugnisse wie die vermittelnde Sendung Johannes des Täufers, wie das vermittelte Sehen der Doxa Gottes in der Doxa Jesu. M. E. gerät diese Deutung in eine Schieflage: Das Problem ist nicht die angebliche „Leere“ der Schriftworte, sondern ihre Deutung, genauerhin ihre im Licht des Christusglaubens gewonnene Neuinterpretation. Zudem sind die vermittelten und vermittelnden Zeugnisse und Zeugen im JohEv grundsätzlich nicht pejorativ zu werten und gegen die Gottunmittelbarkeit des Sohnes auszuspielen. Im Gegenteil: Alle Zeugnisse und Zeugen vermitteln in die Unmittelbarkeit der Christusbegegnung, die zugleich eine Begegnung mit dem Vater ist (vgl. 14,9).51 2.3.2  Das Zeugnis der Geschichte Israels Im 4. Kapitel seines Aufsatzes „Revelation in Israel’s history?“52 fragt Menken danach, wie der Evangelist mit der Heilsgeschichte Israels ‚hinter‘ den Texten umgeht. In 12,41 ersetzt dieser Gottes Herrlichkeit als Objekt der Vision Jesajas (vgl. Jes 6,10) durch die Doxa des präexistenten Sohnes. Auch nach 8,56–57 hat Abraham Jesu himmlische Doxa gesehen. Genauerhin haben Abraham und Jesaja im Sinne des JohEv „God in Jesus“ gesehen. Demnach gebe es für Johannes auch schon vor der Inkarnation keinen wahren Zugang zu Gott, es sei denn für Abraham, Mose und Jesaja durch den präexistenten Jesus.53 Die Bedeutung der weiteren Geschichte Israels besteht nach Menken grundlegend darin, τύποι für Jesus bereitzustellen.

48  Vgl. grundlegend die Studie von J. Beutler, Martyria. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Zeugnisthema bei Johannes, FTS 10, Frankfurt a. M. 1972; vgl. Ders., Glaube und Zeugnis im Johannesevangelium (1973), in: Ders., Studien (s. Anm. 15), 9–19. J. Beutler weist auf, dass der joh Glaubens‑ und Zeugnisbegriff intrinsezistisch angelegt ist. 49  U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK IV, Leipzig 22000, 113. 50  M. J. J.  Menken, Observations (s. Anm. 1), 139. 51 Zur joh Figur der Vermittlung zur Unmittelbarkeit, vgl. „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), in diesem Band, S. 151–172. 52  Vgl. M. J. J.  Menken, Observations (s. Anm. 1), 134–139. 53  Vgl. ebd. 137.

3.  Die Deutung der Schrift auf die eschatologisch interpretierte Gegenwart

537

„By ‚types‘ I understand: persons, acts, events, institutions from the OT that prefigure – in the eyes of the evangelist – Jesus as God’s eschatological envoy, in such a way, that Jesus correspondends to them and at the same time (as ‚antitype‘) surpasses them.“54

Dabei gilt: Die „Prototypen“ sind eine anfanghafte, der „Antityp“ Jesus eine vollkommene Erfüllung der alttestamentlichen Texte.55 Menken weist dazu auf den folgenden Textbefund hin: die Erhöhung der Schlange durch Mose in 3,14–15 (vgl. Num 21,8–9) als Typos für die Erhöhung Jesu in 12,32–33; die Mannaspende 6,22– 59; das Gesetz, das „durch Mose gegeben wurde“, und die Gnade und Wahrheit, die „durch Jesus Christus geworden sind“ (1,17); der wasserspendende Fels (7,38; vgl. 4,10–14; 19,34); der wahre Tempel (1,14.51; 2,19–21; 4,21–24); das Paschalamm (13,1; 18,28; 19,14.36); die Mosetypologie Jesu im JohEv. Die typologische Interpretation von alttestamentlichen Personen, Taten, Ereignissen und Institutionen weist ihnen de facto eine eigene unverzichtbare Bedeutung zu, wenn auch eine geringere als diejenige Jesu, der seine Präfigurationen überbiete. Die Auswertung der joh Typologie bei Menken enthält eine innere Spannung, die er im Zeugnis des JohEv selbst begründet sieht: Einerseits ist Jesus für den Evangelisten „essentially, and not just accidentally, the climax of God’s involvement with Israel,“56 andererseits sei die wahre Offenbarung Gottes auf Jesus allein konzentriert. Dennoch hält Menken für die Schrift und die Heilsgeschichte Israels fest: „True, it does not contain revelation of God in the strict sense of the term, but the same God who has revealed himself in Jesus, spoke mediately in the OT text and was active in the history recorded in it.“57

Gerade der von Menken aufgewiesene Textbefund und seine typologische Interpretation sprechen m. E. für eine positive Geltung und Bedeutung der Schrift wie der Heilsgeschichte Israels, die nicht in einer von Menken diagnostizierten Ambivalenz stecken bleibt.

3.  Die Deutung der Schrift auf die eschatologisch interpretierte Gegenwartin frühjüdischer und in johanneischer Schriftauslegung Im JohEv werden Worte bzw. Aussagen der heiligen Schriften Israels in Zitaten auf die Sendung Jesu bezogen:

 Ebd. 137.  Vgl. ebd. 139 f. 56  Vgl. ebd. 140. 57  Ebd. 141. 54 55

538

3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

(a) sieben Zitate des Evangelisten Ps 69,10 in Joh 2,17 Jes 41,10.13; Sach 9,9 in Joh 12,15 Jes 53,1 in Joh 12,38 Jes 6,9–10 in Joh 12,40 Ps 22,19 in Joh 19,24 Ps 34,21 in Joh 19,36 Sach 12,10 in Joh 19,37

innerjoh Chronologie (2) (8) (9) (10) (13) (14) (15)

(b) fünf Zitate in wörtlicher Rede Jesu Jes 54,13; Jer 31,34 in Joh 6,45 (4) PsLXX 77,16.20 in Joh 7,3858 (5) Ps 82,6 in Joh 10,34 (6) Ps 41,10 in Joh 13,18 (11) Ps 35,19; 69,5 in Joh 15,25 (12) (c) drei weitere Zitate Jes 40,3 in Joh 1,23 (Johannes der Täufer) Ps 78,24 in Joh 6,31 (das jüdische Volk) Ps 118,25–26 in Joh 12,13 (das zum Fest versammelte Volk)

(1) (3) (7)

Die mit diesen Zitaten in Anspruch genommenen Bezüge sind von der Überzeugung geleitet, dass die herangezogenen Schriftstellen die theologisch-qualifizierte Einschätzung der Gegenwart seitens des Evangelisten erhellen, bestärken und bezeugen. Genauerhin rechnet dieser Gegenwartsbezug damit, dass die herangezogenen Schriftaussagen nicht erst sekundär, auf dem Wege einer (wie auch immer) interessegeleiteten Auslegung, sondern schon ursprünglich (wenn auch nur aus der Perspektive des Christusglaubens erkennbar) mit der theologisch-qualifizierten Gegenwartsdeutung des Evangelisten konvergieren. Diese Einschätzung gewinnt an zusätzlichem Gewicht, wenn neben den markierten bzw. unmarkierten Zitaten auch die weiteren biblischen Bezüge (vgl. Anspielungen, Echos, biblische Sprache, Erzählfiguren und Erzählmuster (pattern), allgemeine Aussagen über die Schrift, jüdische Auslegungstraditionen und ‑techniken, christliche Rezeption)59 ausgewertet werden. Charakteristisch für die joh Schriftauslegung ist ihre Anschlussfähigkeit an frühjüdische Schriftauslegungen:60 Strukturanalogien zu dem genannten Charakteristikum joh Schriftauslegung finden sich z. B. in den Schriften von Qumran: Die vielgestaltige Schriftkommentierung und ‑interpretation in den Qumranschriften (vgl. Pesharim, Midraschim, Interpretation durch Komposition)61 lässt  Vgl. die These von Ders., Old Testament Quotations (s. Anm. 15), 187–203. dieser Typologie vgl. den unter 1 genannten Vorschlag von H.-J. Klauck. 60  Anders als die hier angenommene formale und theologische Bedeutung der Schrift im JohEv, meint Ch. Cebulj, der „joh Umgang mit der Tradition (sei) nicht … besonders schriftgelehrt“, in: Ders., Johannesevangelium und Johannesbriefe, in: Th. Schmeller, Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit, HBS 30, Freiburg i. Br. 2001, 254–342, hier 324. 61  Vgl.: H.-J. Fabry, Methoden der Schriftauslegung in den Qumranschriften, in: G. Schnöll58

59 Zu

3.  Die Deutung der Schrift auf die eschatologisch interpretierte Gegenwart

539

eine dem JohEv vergleichbare hermeneutische Figur erkennen.62 Die Pesharim63 beziehen mit Vorliebe prophetische Bücher auf ihre Zeit, die als „letzte Generation“ (1 QpHab VII,2; vgl. I,1–264) verstanden wird, „auf die aktuelle – apokalyptisch verstandene – Gegenwart.“65 Die in Qumran vertretene Auslegung des Bibeltextes auf die unmittelbare Gegenwart geht bis zu der Annahme, „die alttestamentlichen Propheten hätten keine Botschaft für ihre eigene Zeit gehabt, vielmehr seien alle ihre Aussagen ausschließlich für die qumranessenische Gegenwart bestimmt.“66 Besonders in 1 QpHab VII,1–5 (zu Hab 2,1–4; vgl. auch 4 QpNah = 4Q169)67 findet gen / ​Cl. Scholten (Hgg.)Stimuli. Exegese und Hermeneutik in Antike und Christentum (FS E. Dassmann), JAC.E 23, Münster 1996, 18–33; Ders., Schriftverständnis und Schriftauslegung der Qumran-Essener, in: J. Maier / ​H. Merklein / ​K. Müller / ​G. Stemberger (Hgg.), Bibel in jüdischer und christlicher Tradition. (FS J. Maier), BBB 88, Frankfurt a. M. 1993, 87–96; M. Fishbane, Use, Authority and Interpretation of Mikra at Qumran, in: M. J. Mulder (Hg.), Mikra. Text, Translation, Reading and Interpretation of the Hebrew Bible in Ancient Judaism and Early Christianity, CRINT II/1, Assen / ​Philadelphia 1988, 339–377; G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel, in: Chr. Dohmen /Ders. (Hgg.),Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, StTh 1,2, Stuttgart 1996, 23–74, hier: 38–47; J. Maier, Early Jewish Biblical Interpretation in the Qumran Literature, in: M. Saebo (Hg.), Hebrew Bibel – Old Testament. The History of its Interpretation, Vol. I: From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300), Part 1: Antiquity, Göttingen 1996, 108–129 (Lit.). Zur frühjüdischen Schriftauslegung vgl. den Überblick von M. Hengel, ‚Schriftauslegung‘ und ‚Schriftwerdung‘ in der Zeit des Zweiten Tempels (1994), in: Ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II, WUNT 109, Tübingen 1999, 1–71. M. Hengel unterscheidet grundlegend zwischen der gesetzeskonformen und der inspirierten Schriftauslegung im Frühjudentum. Zur inspirierten Schriftauslegung zählt er neben Sir 24,33; 38,24–39,12 (ebd. 35–44 zum prophetisch inspirierten Selbstverständnis des Weisen als Schriftgelehrten) und Philo auch die Qumranschriften (vgl. ebd. 51–56). 62  Vgl. J. Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des Zweiten Tempels, NEB.AT Erg. 3, Würzburg 1990, 135: „Man hat mit Recht darauf verwiesen, daß bis zu einem gewissen Grad auch das frühe Christentum Merkmale solch akut-eschatologisch motivierter Bibelausdeutung und ‑anwendung aufzuweisen hat, wobei ebenfalls der Anspruch einer durch den Geist Gottes vermittelten Einsicht in die ‚eigentliche‘ (hier auf Christus hindeutende) Aussage der Heiligen Schriften zu vermerken ist.“ Vgl. Ders., Interpretation (s. Anm. 61), 127: „The same procedure, however, focussed on christological issues, has been applied by the Christians.“ In diesem Sinne urteilt auch M. J. J.  Menken, Old Testament Quotations (s. Anm. 15), 208. 63  Vgl. hierzu die Monographie von M. P.  Horgan, Pesharim. Qumran Interpretations of Biblical Books, CBQ.MS 8, Washington 1979. 64  Zur philologischen Diskussion zu 1 QpHab I,1–2 vgl. K. Koch, Neutestamentliche Prophetenauslegung in vorchristlicher Zeit? Der Habakuk-Peschär aus Qumran, in: R. G. Kratz / ​Th. Krüger / ​K . Schmid (Hgg.), Schriftauslegung in der Schrift (FS O. H. Steck), BZAW 300, Berlin 2000, 321–334, 322 f. 65 H.-J. Fabry, Methoden (s. Anm. 61), 20. Vgl. J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer. Bd. I: Die Texte der Höhlen 1–3 und 5–11, utb 1862; Bd. II: Die Texte der Höhle 4, utb 1863; Bd. III: Einführung, Zeitrechnung, Register und Bibliographie, utb 1916, Göttingen I–II 1995. III 1996, hier: III 11–21; Ders., Interpretation (s. Anm. 61), bes. 126–129. 66  H.-J. Fabry, Methoden (s. Anm. 61), 21. Vgl. G. Stemberger, Hermeneutik (s. Anm. 61), 50: „Grundlage des gesamten Umgangs mit der Bibel in Qumran ist somit das Wissen, am Ende der Zeiten zu stehen und zur Bewältigung dieser Lage mit einem inspirierten Verständnis der gerade nun ihren vollen Sinn bekommenden heiligen Schriften begnadet zu sein, die klar als Einheit betrachtet werden.“ 67 Zur Nähe zwischen der neutestamentlichen Prophetenauslegung und 1 QpHab vgl.: K. Koch, Prophetenauslegung (s. Anm. 64); Koch spricht mit Blick auf 1QpHab von einem

540

3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

sich die zugespitzte Aussage, dass der Autor einer Schrift bzw. der prophetische Sprecher eines verschriftlichten Wortes selbst nicht wusste, was er gesagt hat. Erst im Licht einer zeitlich späteren, neuen Gottesoffenbarung an den Lehrer der Gerechtigkeit werde der Sinn dieser Worte für die Nachgeborenen erkennbar: 1QpHab VII,1–5: (1) Und Gott sprach zu Habakuk, niederzuschreiben, was (da) kommt über (2) {über} die letzte Generation, doch die Vollendung der Zeit hat Er ihm nicht kundgetan. (3) {(leer)} Und wenn es heißt: damit eilen kann, wer darauf liest, (4) so geht seine Deutung auf den Anweiser der Gerechtigkeit, dem Gott kundgetan hat die Gesamtheit (5) der Mysterien der Worte Seiner Diener, der Propheten. …68

Das hier zur Anwendung kommende Verfahren gleicht der inneralttestamentlichen Fortschreibung69 der Prophetenbücher70 (einer „Prophetie durch Deutung“ 71) – freilich mit dem unterscheidenden Anspruch, „die letztmalige und entscheidende Fortschreibung des Textes“ 72 zu geben. In den Qumran-Pesharim begegnet uns eine „grundsätzliche, exklusive Deutung von Aussagen der Propheten und Davids auf die aktuelle Gemeinde hin.“ 73 Der Pescher versteht sich nicht nur als Kommentar zur Offenbarungsschrift, er will selbst auch als Offenbarung gelesen werden und setzt daher ein selbständiges „doppelten Schriftsinn“ (326–328); vgl. ebd. 334: „Das urchristliche Schriftverständnis war, historisch geurteilt, dem Selbstverständnis der prophetischen Verfasser und Redaktoren keineswegs konform, wohl aber hinsichtlich zentraler Weichenstellungen beim Prophetenverständnis weiter Kreise der zeitgenössischen Umwelt.“ 68 Zitiert nach J. Maier, Texte I (s. Anm. 65), 161. 69  Fortschreibung bzw. relecture benennen methodisch und inhaltlich ein neues Paradigma der Johannesforschung, vgl.: A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters, FRLANT 169) Göttingen 1995; J. Zumstein, Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999; K. Scholtissek, Mystagogische Christologie im Johannesevangelium? Eine Spurensuche, GuL 68 (1995), 412–426; Ders., „Rabbi, wo wohnst du?“ (Joh 1,38). Zur mystagogischen Christologie im Johannesevangelium (am Beispiel der Jüngerberufungen Joh 1,35–51), BiLi 68 (1995), 223–231; Ders., „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (s. Anm. 51); Ders., Relecture – zu einem neu entdeckten Programmwort der Schriftauslegung (mit Blick auf das Johannesevangelium), BiLi 70 (1997), 309–315; „Relecture und réécriture“, in diesem Band, S. 173–202; Ders., In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000, 131–139. 70  Vgl. ausführlich: O. H.  Steck, „Prophetische Prophetenauslegung“, in: H. F. Geißer u. a. (Hgg.), Wahrheit der Schrift – Wahrheit der Auslegung. Eine Züricher Vorlesungsreihe zu Gerhard Ebelings 80. Geburtstag am 6. Juli 1992, Zürich 1993, 198–244; vgl. den überarbeiteten und erweiterten Nachdruck in: Ders., Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996, 127–204. Die von O. H.  Steck für die Prophetenbücher rekonstruierte Fortschreibung hat Analogien in den joh Fort‑ und Um-Schreibungsprozessen; vgl. hierzu weiterführend K. Scholtissek, Relecture und réécriture (s. Anm. 69). 71 Vgl. hierzu auch J. J.  Collins, Jewish Apocalyptic against its Hellenistic Near Eastern Environment, BASOR 220 (1975), 27–36. 72  H.-J. Fabry, Methoden (s. Anm. 61), 21. 73  Ebd. 22.

3.  Die Deutung der Schrift auf die eschatologisch interpretierte Gegenwart

541

Offenbarungsbewusstsein voraus.74 Die von J. Maier75 herausgestellte Neubewertung der Midraschim, einer weiteren bedeutenden Gattung der in Qumran gefundenen Schriften,76 belegt den Autoritätsanspruch der Toraauslegung des dores hattorah, der die Tora „ex auctoritate und ex officio auslegt“ 77 und für diese Auslegung selbst kanonischen Anspruch erhebt (vgl. Dtn 18,15–18). Nach Maier können Midraschim in Qumran nicht einfach als „Auslegung“ vorhandener Pentateuchgesetze (so aber eine verbreitete Sichtweise) verstanden werden: „Der Pentateuch enthält nur einen Teil der ‚Torah‘, diese ist programmatisch identisch mit Gottes verbindlichem Willen überhaupt. Die jeweils zu praktizierende ‚Torah‘ wurde durch die priesterliche Kompetenz (wie ein Orakel) eruiert, autoritativ verkündet und im Konsens schriftlich in einem Säräk (sachbezogene Regelsammlung, Ordnung) bzw. in einem Midrasch (Niederschrift) fixiert.“ 78

Auch wenn diese qumranische Schriftauslegung modernem, historisch-kritisch geschulten Verstehen fragwürdig scheint, diese Position will ausdrücklich festhalten, dass die neue, eschatologische Auslegung der Schrift selbst nicht einen fremden Sinn aufoktroyiert, sondern den ihr eigenen, ursprünglich-verborgenen Sinnwillen ins Licht hebt. Die Autorität der vorgängigen und bindenden Gottesoffenbarung wird so gewahrt und betont. Mit der qumranischen verbindet die joh Schriftauslegung die Einschätzung ihrer Gegenwart als Zeit eschatologischer Scheidung bzw. Entscheidung sowie als Zeit einer antizipatorischen Heilserfahrung. Strukturanalog zur Schrifthermeneutik in Qumran wird im JohEv die heilsgeschichtlich gedeutete Gegenwart zum Kriterium der richtigen Schriftauslegung erhoben.79 Dieser Grundzug kennzeichnet auch über das JohEv hinaus 74 Vgl.

hierzu insbes. J. Maier, Interpretation (s. Anm. 61).  Vgl. Ders., The Judaic System of the Dead Sea Scrolls, in: J. Neusner (Hg.), Judaism in Late Antiquity, Handbuch der Orientalistik I/17, Leiden 1995, 84–108; Ders., Interpretation (s. Anm. 61). 76  Vgl. H.-J. Fabry, Methoden (s. Anm. 61), 23–25; J. Maier, Zwischen den Testamenten (s. Anm. 62), 132–134 (Lit.). 77 H.-J. Fabry, Methoden (s. Anm. 62), 24. 78 J. Maier, Texte I (s. Anm. 65), XIV; vgl. Ders., Interpretation (s. Anm. 61), bes. 113–123. 79  Vgl. die Auslegung von 6,31–35 bei M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 13), 347: „Das Schrift-Wort versteht aber nur, wer über es hinausgeht und sich auf den Standort des JesusWorts begibt, um sich von diesem als dem authentischen Offenbarungswort sagen zu lassen, was der wahre Sinn des Schrift-Worts ist“; ebd. 356: Das Schriftwort erhält „als neuen Referenten eben die Christusgeschichte“. Die Zuordnung der Schrift Israels zum Christusgeschehen in der joh Sehweise zeigt Theobald auch am Beispiel der Verse 6,44–45: „Im Hören auf Gott in der Tora erfährt der Mensch, wie dieser ihn zieht; er zieht ihn aber zu Jesus, auf den nach Überzeugung unseres Logions die Tora insgesamt zuläuft“ (Ders., Gezogen von Gottes Liebe [6,44 f ]. Beobachtungen zur Überlieferung eines johanneischen „Herrenworts“, in: K. Backhaus / ​ F. G. Untergaßmair (Hgg.), Schrift und Tradition [FS J. Ernst], Paderborn 1996, 315–341, hier 335); vgl. ebd. 336: „Wer wirklich auf die Tora hört und sich in ihr von Gott selbst unterweisen läßt, der findet den Weg zum Messias und Gottessohn Jesus.“ Ob die von Barbara Fuß vertretene These, die Schriftauslegung in Qumran konvergiere nur in formaler, nicht aber auch in inhaltlichen Aspekten mit der neutestamentlichen Schriftauslegung (vgl. Dies., „Dies ist die Zeit, von der geschrieben ist …“ Die expliziten Zitate aus dem Buch Hosea in den Handschriften von Qumran und im Neuen Testament, NTA.NF 37, Münster 2000, bes. 272–275), überzeugend auf75

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3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

die neutestamentliche Schriftauslegung (vgl. nur Paulus,80 die Pastoralbriefe81, 1 Petr 1,10–12).82 Die auf die eschatologisch gedeutete Gegenwart bezogene joh Schriftauslegung ist als solche eine im Spektrum der frühjüdischen Schriftauslegungen bekannte und praktizierte Verfahrensweise (vgl. auch den Habakuk-Targum83); sie ist deshalb mindestens in dieser Hinsicht als strukturanalog zur jüdischen einzuschätzen.84 Zu dieser Schrifthermeneutik gehört es, daß sie nur diejenigen Personen zu überzeugen vermag, die die Einschätzung der jeweiligen Gegenwart, auf die die Schrift bezogen wird, im Sinne der Schriftausleger teilen (hermeneutischer Zirkel85). gewiesen ist, kann immerhin angefragt werden (auch wenn die zu Recht inhaltlich-theologischen Differenzen zwischen beiden Gruppen nicht zu übersehen sind); vgl. die Rezension von F. Wilk, ThLZ 127 (2002), 284–286, hier 286. 80 Für die paulinische Schriftauslegung und ‑hermeneutik vgl. D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus, BHTh 69, Tübingen 1986; Ders., Schriftauslegung (s. Anm. 5), 461 f; Ch. D.  Stanley, Paul and the Language of Scripture, SNTS.MS 74, Cambridge 1992; Th. Söding, Heilige Schriften für Israel und die Kirche. Die Sicht des „Alten Testamentes“ bei Paulus (1995), in: Ders., Das Wort vom Kreuz. Studien zur paulinischen Theologie, WUNT 93, Tübingen 1997, 222–247 (Lit.); K. Kertelge, Das Alte und das Neue Testament – die eine Heilige Schrift, in: K. Backhaus / ​F. G. Untergaßmair (Hgg.), Schrift und Tradition (s. Anm. 79), 159–171, hier 165–167 (Lit.); T. Lim, Holy Scripture in the Qumran Commentaries and Pauline Letters, Oxford 1997; Ders., Midrash Pesher in the Pauline Letters, in: St. E. Porter / ​C. E. Evans (Hgg.), The Scrolls and the Scriptures. Qumran Fifty Years After, JSPS 26, Sheffield 1997, 280–292; F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus, FRLANT 179, Göttingen 1998 (Paulus deutet „das Jesajabuch, soweit er es rezipiert, in weitgehender Analogie zur Propheten-Exegese, wie sie zumal im Bereich des palästinensischen Judentums geübt wurde: als das – von Anfang an auf die eigene Gegenwart als die eschatologische Heilszeit zielende – Wort Gottes“; ebd. 408); Ders., Paulus als Interpret der prophetischen Schriften, KuD 54 (1999), 284–306; Ch.-B. Julius, Die ausgeführten Schrifttypologien bei Paulus, EHS 23.668, Frankfurt a. M. 1999 (Die Autorin deutet die paulinischen Typologien nicht im Rahmen eines heilsgeschichtlichen Denkens, sondern als exegetische Methode, die es erlaubt, biblische Texte im Blick auf ihren „Gebrauchswert“ für die paulinische Gegenwartsdeutung abzurufen; vgl. ebd. 324–329. In Spannung dazu verweist sie darauf, dass Paulus in seiner Schriftargumentation „auf die Entsprechung zwischen dem damaligen und dem gegenwärtigen Gotteshandeln“ [345 f ] verweise); G. Häfner, Belehrung (s. Anm. 7), 281–316. 81 Vgl. G. Häfner, Belehrung (s. Anm. 7). 82  Vgl. insgesamt M. Hengel, Schriftauslegung (s. Anm. 15); H. Frankemölle, Das Neue Testament als Kommentar? Möglichkeiten und Grenzen einer hermeneutischen These aus der Sicht eines Neutestamentlers, in: F.-L. Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? (s. Anm. 6) 200–278, hier 233–253. 83 Vgl. hierzu K. Koch, Prophentenauslegung (s. Anm. 64), 331–333. 84  Von dieser Strukturanalogie kann nicht auf eine literarische oder soziologische Beziehung zwischen Qumran und dem JohEv geschlossen werden; zu diesem Thema vgl. R. Bauckham, Qumran and the Fourth Gospel: Is there a Connection?, in: (s. Anm. 80), 267–279; J. Frey, Die Bedeutung der Qumranfunde für das Verständnis des Neuen Testaments, in: M. Fieger / ​ K. Schmid / ​P. Schwagmeier (Hgg.), Qumran – Die Schriftrollen vom Toten Meer. Vorträge des St. Galler Qumran-Symposiums vom 2./3.Juli 1999, NTOA 47, Fribourg 2001, 129–208. 85  Vgl. auch J. Beutler, Gebrauch (s. Anm. 15), 315: „Die einzelnen ‚Beweistexte‘ führen zu Jesus, doch können sie in ihrer Gesamtheit nur verstanden werden, wenn der Glaube, zu dem sie führen sollen, schon vorausgesetzt wird.“

4.  Die johanneische Schrifttheologie

543

Dabei setzt die postulierte Konvergenz zwischen der Aussage des jeweiligen Schriftwortes und der Gegenwart als Bezugsgröße die Einheit der Heilsgeschichte Israels, d. h. die Einheit des Heilshandelns Gottes in der Geschichte der Menschheit und seines erwählten Volkes, voraus. Diese Einheit der Offenbarungsgeschichte weist wiederum auf die Einheit Gottes selbst zurück.86 Als proprium christianum gegenüber frühjüdischen Schriftauslegungen ist im JohEv die Deutung der eschatologisch verstandenen Gegenwart im Licht des Glaubens an die Gottesoffenbarung in Jesus Christus (seiner Sendung, Passion, Erhöhung und Verherrlichung) anzuführen. Das Christusereignis als organisierendes hermeneutisches Zentrum der joh Theologie tritt sehr stark in den Mittelpunkt der Heilsgeschichte, die von diesem Zentrum her ausgelegt wird.

4.  Die johanneische Schrifttheologie Zu der konkreten Schriftauslegung durch Zitate treten im JohEv grundsätzliche Aussagen über die Schrift als solche (vgl. γραϕή in: 2,22; 5,39; 7,38.42; 10,35; 13,18; 17,12; 19,24.28.36.37; 20,9; γράμμα in 5,47; 7,15; νόμος87 in 1,17.45; 7,19[bis].23.49.51; 8,[5].17; 10,34; 12,34; 15,25; 18,31; 19,7[bis]; γραϕεῖν in 1,45; 5,46; λαλεῖν in 12,41),88 die hier an ausgewählten Beispielen vorgestellt werden sollen. 4.1  Die nachösterliche Hermeneutik des JohEv Die Theologie des JohEv ist grundlegend von einer nachösterlichen Hermeneutik bestimmt; sie verdankt sich nach ihrer eigenen Aussage einer nachösterlichpneumatischen Anamnese der Worte und Taten Jesu und ist deshalb auch als Frucht und Zeugnis nachösterlicher „Erinnerung“ auszulegen (vgl. 2,17.18–22; 6,45; 7,38; 12,16; 14,26; 15,26; 16,13; 20,8–9.22).89 Der Evangelist legt sein Selbst86  Vgl. die Reflexionen bei U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD IV, Göttingen 2000, 125 f. Vgl. R. Schnackenburg, Neutestamentliche Theologie im Rahmen einer gesamtbiblischen Theologie, JBTh 1 (1986), 31–47, hier 46: „Wenn man einen letzten Einheitsgrund sucht, ohne den beiden Testamenten das je eigene zu nehmen, wird man auf den biblischen Gottesgedanken hingelenkt.“ Vgl. K. Lehmann, Das Alte Testament in seiner Bedeutung für Leben und Lehre der Kirche heute, TThZ 98 (1989), 161–170, 168: Für die Relation beider Testamente „wird eine letzte Erhellung nur möglich durch den Blick auf das Gottesverständnis des Alten Testaments. Die Einheit von Kontinuität und Ereignishaftigkeit kann letztlich nur gewahrt werden in der Zuverlässigkeit und Treue, mit der sich eine absolute Person dem Menschen zuwendet.“ 87  Zum „Gesetz“ im JohEv vgl. J. Augenstein, Jesus und das Gesetz im Johannesevangelium, KuI XIV (1999), 161–179; vgl. ebd. 172: „Das Joh zeigt … die Einheit von Christusgeschehen und dem in der Schrift niedergelegten Willen Gottes auf.“ 88  Vgl. einführend zu diesen Vorkommen A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15), 38–62. 89  Vgl. einführend: M. Hengel, Schriftauslegung (s. Anm. 15), 271–275, und grundlegend: Chr. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT/II 84, Tübingen 1996. Vgl. auch: U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (s. Anm. 49), 21; J. Frey, Die johanneische Eschatologie II. 2

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3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

verständnis offen und gibt selbst die entscheidenden Hinweise: Charakteristisch sind (a) die eingefügten Erzählerkommentare, die ausdrücklich zwischen der vor‑ und der nachösterlichen Zeit unterscheiden (Zäsur der Zeiten; vgl. 2,17.22; 7,39; 12,16; 20,9), (b) die Verheißungen Jesu außerhalb der Abschiedsrede, die auf die nachösterliche Zeit hin transparent sind (externe Prolepsen; vgl. 150–51; 7,38; 8,28.31–32; 13,7), (c) die Parakletworte Jesu in der Abschiedsrede in 13,31–16,33, (d) die Hinweise in der Rückschau und in den Fürbitten des Abschiedsgebetes Jesu Joh 17, (e) die bekenntnishaften „Wir“‑ und „Ich“-Aussagen (vgl. nur 1,14.16; 3,11; 6,68–69; 9,4; 11,22.27) und (f ) die weiteren joh Aussagen über das Wirken des Geistes (vgl. nur 3,3–11; 6,63). Die „joh Sehweise“ (F. Mußner) erwächst aus einem nachösterlichen pneumatischen „Sehen“ und „Erkennen“.90 Diese nachösterliche Hermeneutik kennzeichnet auch die neue Schriftauslegung im JohEv, die zum konstitutiven „Bestandteil ihres (scil. der Jünger) Zeugnisses“ wird.91 In dieser nachösterlichen Sehweise wird die Schrift Israels als auf das Christusgeschehen zulaufend interpretiert; sie wird zum vorgängigen Zeugnis für das Heilsgeschehen der Sendung, Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi. 4.2  Das Christuszeugnis der Schrift: Joh 5,37–40 5,37 5,38 5,39 5,40

a b a' c d a b c b' a b c d a b

Und der Vater, der mich gesandt hat, jener hat Zeugnis abgelegt für mich (περὶ ἐμοῦ). Weder seine Stimme habt ihr jemals gehört, noch habt ihr seine Gestalt gesehen, und sein Wort habt ihr nicht bleibend in euch, weil ihr an diesen, den jener gesandt hat, nicht glaubt. Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben, aber jene sind die Zeugnisablegenden für mich (περὶ ἐμοῦ). Aber ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr (das) Leben habt.

Joh 5,37–40, ein kleines Kompendium joh Schrifthermeneutik,92 rekurriert auf „die Schriften“ als eine von vier Zeugen für Jesus (vgl. den Kontext 5,31–47): (a) Johannes der Täufer in 5,31–35, (b) die „Werke“ Jesu in 5,36, (c) „der ihn Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 110, Tübingen 1998, 223. Th. Popp spricht zu Recht programmatisch von einer „Grammatik des Geistes“ im JohEv; vgl. Ders., Grammatik des Geistes. Literarische Kunst und theologische Konzeption in Johannes 3 und 6, ABG 3, Leipzig 2001, passim. 90  Vgl. weiterführend: K. Scholtissek, Wege I (s. Anm. 3), 285–292. 91  Vgl. Chr. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 89), 210. 92  Vgl. einführend die Hinweise bei A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15), 371–378 (Lit.).

4.  Die johanneische Schrifttheologie

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sendende Vater“ in 5,36–38 und (d) „die Schriften“ in 5,39–40.46–47. Alle vier Größen „legen Zeugnis ab für mich (περὶ ἐμοῦ)“ (5,32.36.37.39.46). „Die Schriften erforschen (ἐραυνάω93)“ (vgl. auch 7,52) in der Annahme, „in ihnen ewiges Leben zu haben“ (5,39) ist in joh Sicht dann sehr wertvoll, wenn die christologische Verweisfunktion der Schrift wahrgenommen wird, da es „die Schriften“ sind, „die Zeugnis über mich ablegen“ (5,38de). Geschieht dies jedoch nicht, weil der Glaube an den Gesandten Gottes fehlt (vgl. 5,38bc.40), kann das Schriftstudium nicht fruchtbar sein, d. h. es führt nicht zur Immanenz des Wortes Gottes in den „Suchenden“ (5,38a; 8,31.37) bzw. zum „ewigen Leben“ (5,39bc.40).94 Nach 5,38a führt die Glaubensverweigerung gegenüber Jesus dazu, dass „ihr sein Wort nicht in euch habt“  – ein Wort, das vom christologischen Bekenntnis her formuliert ist (vgl. 8,31.37; 15,7). „Das Wort des Vaters“, das sich in den „Schriften“ ausspricht (vgl. das „unauflösbare Wort Gottes“, das zu „den Juden“ gesprochen wurde; 10,35), haben die Gegner Jesu nicht „bleibend in sich“, weil sie dem Gesandten Gottes nicht glauben. Erst der Glaube an Jesus, seine „Aufnahme“ (5,43–44), das „Zu-ihm-Kommen“ (5,40; vgl. 1,39; 6,35), führt zur Immanenz des Wortes Gottes, jetzt im johanneischen Kontext des Logos Gottes schlechthin (vgl. 1,1–18), in den Menschen. 5,39 spricht von der „Meinung“, „ewiges Leben in den Schriften zu haben“. Jesus überführt diese Auffassung durch den Hinweis auf das Zeugnis eben dieser Schriften „für mich (περὶ ἐμοῦ)“ und auf den Unwillen seiner Hörer, zu ihm zu kommen (5,39–40): „(Ewiges) Leben zu haben“, ist nur christologisch möglich. Die Lebens-Suche der Menschen (vgl. 1,35–51; 5,39.44; 6,24–26), die sich zu Recht auf die Schriften richtet, findet ihre Erfüllung erst im Glauben an Jesus, von dem die unauflösbare Schrift (10,35) Zeugnis ablegt.95 Damit vollzieht sich ein für die joh Schrifttheologie entscheidender Überstieg: Das Ziel des Studiums der Schriften, „in ihnen ewiges Leben zu finden“ (5,39; vgl. 1,45.48), erfüllt sich dann, wenn erkannt wird, dass diese für den Sohn Zeugnis ablegen, denn allein der Vater und durch ihn der Sohn „hat (ewiges) Leben in sich“ (5,26; vgl. 1,4; 5,24.42). Ort und Mittler des „Lebens in Fülle“ (10,10) ist allein Jesus, auf den das Zeugnis der Schrift weist (vgl. 5,45–47). 93  Zu ἐραυνάω (bzw. klass. ἐρευνάω = „nachspüren“, „untersuchen“, „ergründen“; hebräisch ‫„ = ָד ַרּשׁ‬suchen“, „forschen“, „sich kümmern um“) vgl. K. Scholtissek, Antijudaismus (s. Anm. 11), Anm. 108. 94 Zur religionsgeschichtlichen und exegetischen Interpretation der joh Immanenz-Aussagen vgl. die Habilitationsschrift des Verfassers: In ihm sein und bleiben (s. Anm. 69). 95 Der Evangelist stellt in 5,37–40 und 6,22–26 ironisch und zugleich tragisch die Suche der Menschen vor: Obwohl sie mit der „Suche“ in der Schrift wie mit der „Suche“ Jesu aufgrund seines unverstandenen „Zeichens“ ganz nahe an der gesuchten Wahrheit sind, verfehlen sie sie doch. Das joh Basis-Thema: „Suchen“ und „Finden“ (vgl. 1,35–51; 4,23; 7,34–36; 8,21–22; 11,56; 12,21; 13,33.36; 18,4.7–8; 20,11–18; vgl. hierzu K. Scholtissek, Mystagogische Christologie [s. Anm. 65], bes. 419–421; Ders., „Mitten unter euch …“ [s. Anm. 51]), verbindet Joh 5 und 6: Bezieht sich 5,39 auf das „suchende Forschen“ in der Schrift (vgl. 1,48[?]; 7,52), so 6,24–26 auf die noch aufklärungsbedürftige „Suche“ nach Jesus aufgrund seiner „Zeichen“; vgl. auch „Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71“, in diesem Band, S. 257–278.

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3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

Die joh Schrift-Theologie betont und erkennt Gottes ergangenes Wort an Israel ausdrücklich an (vgl. 2,22; 4,22; 10,35)96 – mit der Gewissheit, dass dieses ergangene Wort Gottes97 auf das fleischgewordene Wort Gottes vorausweist, da Gott sich selbst nicht widerspricht. Von daher ist es keineswegs zwingend, den Vorwurf Jesu in 5,37cd, seine Gegner hätten die Stimme Gottes niemals gehört, noch seine Gestalt gesehen (auch Dtn 4,11–12 wendet sich gegen eine unmittelbare Gottesbegegnung; vgl. Joh 1,18), als antijüdisches Programm auszulegen. Auch dem biblisch-jüdischen Theologumenon der lebensvermittelnden Schrift (vgl. PsLXX 118,25.40.149; Dtn 30,16–20; 32,47; Spr 4,4; 19,16)98 wird durch 5,39 nicht widersprochen; die Schrift wird freilich als Christuszeugnis, das solchermaßen zum Leben führt, neu interpretiert. Nur so kann Mose auch zum Zeugen bzw. „Ankläger“ gegen „die Juden“ werden (vgl. 5,45–47). Unglaube gegenüber Mose (vgl. 5,46) und „Murren“ gegen Gott (vgl. die in Joh 6 angespielten Exodustraditionen) setzen sich fort im Unglauben und Murren „der Juden“ und der Jünger gegenüber Jesus (vgl. 5,46; 6,41.43.61). Im Sinne des vierten Evangelisten legt die Schrift Zeugnis ab für Christus, in dem allein das wahre Leben zu finden ist – und eben nicht schon in den Schriften selbst (vgl. 5,39bc99). „Bezüglich der johanneischen Hermeneutik ist festzuhalten, dass die Schriften auf Christus hin zu lesen und zu befragen sind. Erst durch diese Perspektive kommen die Schriften zu ihrer wahren Entfaltung, da die ihnen zugedachte und die in ihnen liegende Fülle im Zeugnis von Christus ansichtig wird.“100

4.3  „Denn von mir hat Mose geschrieben“ (vgl. Joh 5,46) 5,45

a b c d

Meint nicht, daß ich euch anklagen werde beim Vater. Der euch Anklagende ist Mose, auf den ihr gehofft habt.

 96  Diese Verse setzen die Autorität des Wortes Gottes, welches in den Heiligen Schriften Israels seinen Ausdruck gefunden hat, voraus und betonen sie. Nicht die Existenz und Autorität der Schrift steht zur Disposition, sondern ihre Interpretation.  97  Vgl. in 5,37 das Perfekt: „Und der Vater, der mich gesandt hat, jener hat Zeugnis für mich abgelegt“; hier ist schon die Schrift als Ort des Gotteszeugnisses für Jesus angespielt; vgl. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, HThK IV/2, Freiburg i. Br. (1971) 41985, 175; U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (s. Anm. 49), 112.  98 Vgl. darüber hinaus Sir 17,11; 45,5; Bar 4,1; PsSal 14,1–2; syrBarApk 38,2; zu den rabbinischen Zeugnissen vgl. F. Avemarie, Tor und Leben. Untersuchung zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur, TSAJ 55, Tübingen 1996, hier 596: „Was die Rabbinen an positiver Heilsbedeutung der Tora zuschreiben, sagen die christlichen Theologen von Jesus, dem Messias und Sohn Gottes, aus. … An den Entsprechungen zwischen rabbinischen Aussagen über die Tora und neutestamentliche Aussagen über Christus zeigt sich ebenso, dass das Christentum in seinem ganzen Wesen von seiner jüdischen Herkunft bestimmt ist“.  99  „Ihr meint (δοκεῖτε)“ in 5,39b wird dann als irrtümliche Annahme ausgelegt (A. Obermann, Erfüllung [s. Anm. 15], 374 Anm. 31), wie auch sonst im JohEv: 5,45; 11,13.31.56; 13,29; 16,2; 20,15. 100  A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15), 374.

4.  Die johanneische Schrifttheologie

547

5,46 a Denn wenn ihr Mose glauben würdet, b würdet ihr (auch) mir glauben, c denn jener hat von mir (περὶ γὰρ ἐμοῦ) geschrieben. 5,47 a Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, b wie werdet ihr dann meinen Worten glauben?

Während Paulus die Schrift vor allem als Zeuge des Evangeliums „um unseretwillen (δι᾿ ἡμᾶς)“ (1 Kor 9,10; Röm 4,23–24) bzw. „zu unserer Belehrung“ (Röm 15,4; vgl. 1 Kor 10,11) interpretiert,101 betont Johannes die christologische Pointe der Schrift: Nach 5,46 hat Mose in seinem gesamten Werk (gemeint ist der Pentateuch; vgl. „Mose und die Propheten“ in 1,45102), von Jesus Christus „geschrieben“. Das bis zur Fleischwerdung des Logos verborgene Thema der mosaischen Verkündigung ist nach dem Zeugnis des joh Jesus in 5,46 er selbst. Wie die christologische Selbstverkündigung Jesu im JohEv insgesamt, so zielt auch die gesamte Schrift auf die soteriologische Christologie, in der und durch die allein der Zugang zum Vater und damit alles Heil begründet ist (vgl. 14,6). Mit dieser christologischen Schriftinterpretation entwindet Jesus seinen Gegnern in der Kontroverse eines ihrer Hauptargumente: Die Schrift (bzw. „das Gesetz“), die fachgerecht und autoritativ auszulegen sie selbst für sich beanspruchen (vgl. 7,15.48–49.52; 9,34), spricht tatsächlich nicht für, sondern gegen sie. Positiv formuliert Johannes das pragmatische Ziel seines Evangeliums: „der Schrift zu glauben und dem Wort bzw. den Worten Jesu“ (vgl. 2,22; 5,47). Beides, die in der Schrift bezeugte Heilsgeschichte Gottes mit Israel und die Sendung und Verkündigung des Gottessohnes, sieht er mithin in einer grundsätzlichen Kontinuität (vgl. „Gnade um Gnade“ in 1,16 und den Parallelismus in 1,17, der nicht antithetisch, sondern synthetisch-klimaktisch auszulegen ist103). Wie Mose in 5,45–47 (vgl. noch 7,22–24; 9,28–29) werden auch Abraham nach 8,56–58 und Jesaja nach 12,41 zu Zeugen der christologischen Fokussierung der Heilsgeschichte im JohEv und damit der christologischen Schriftauslegung:104 Abraham „jubelte, daß er meinen Tag sehen sollte; und er sah (ihn) und freute  Vgl. D.-A. Koch, Schriftauslegung (s. Anm. 5), 461 f; Ders., Schrift (s. Anm. 80).  Gemeint sind hier die „zur Zeit der Abfassung des Joh als inspiriert anerkannten Teile des Schriftenkreises“ (A. Obermann, Erfüllung [s. Anm. 15], 52). 103  Vgl. in diesem Sinne: M. Hengel, Schriftauslegung (s. Anm. 15), 266 („keine schroff abwertende Antithese“, „wohl aber eine grundsätzliche Überbietung“); F. J.  Moloney, Belief in the World. Reading John 1–4, Minneapolis 1993, 46–48; Ders., Signs and Shadows. Reading John 5–12, Minneapolis 1996, 26 f; A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15), 53–56.178; gegenteiliger Auffassung ist u. a.: D. Sänger, „Von mir hat er geschrieben“ (Joh 5,46). Zur Funktion und Bedeutung des Mose im Neuen Testament, KuD 41 (1995), 112–135, 124 f. H. Weder interpretiert 1,17 dialektisch: „… der νόμος kommt, im Lichte der jetzigen Gabe des Lebens, als einstige Einweisung ins Leben neu zur Erkenntnis“ (Ders., Gesetz und Gnade. Zur Lebensgrundlage des ethischen Handelns nach dem Neuen Testament, in: Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels [FS W. Schrage], Neukirchen-Vluyn 1998, 171–182, 174). 104 Vgl. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium II (s. Anm. 97), 176: Im JohEv „hat die christologische Schriftauslegung des Urchristentums einen Höhepunkt erreicht“. 101 102

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3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

sich“ (8,56). Auch Jesaja „sah seine Herrlichkeit (d. h. Jesu Christi)“ und hat „von ihm (περὶ αὐτοῦ) gesprochen“ (12,41; vgl. 12,38–40 und Jes 53,1; 6,10). 4.4  Die Geltung der unauflösbaren Schrift: Joh 10,34–36 10,34 a b c d 10,35 a b c 10,36 a b c d e

Jesus antwortete ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter? (vgl. PsLXX 81,6) Wenn er jene Götter nannte, zu denen das Wort Gottes erging – und die Schrift kann nicht aufgelöst werden –, (dürft) ihr (dann) sagen zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat: ‚Du lästerst Gott‘, weil ich gesagt habe: ‚Sohn Gottes (bin) ich‘?

Jesu Wort von der „unauflösbaren Schrift“ (10,35c) steht der joh Chronologie folgend inmitten seines letzten Aufenthaltes im Jerusalemer Tempel anlässlich des Tempelweihfestes (vgl. den Textzusammenhang in 10,22–39). Die auch in den vorausgehenden Streitszenen thematisierte Frage nach der messianischen Identität Jesu wird hier erneut aufgenommen (vgl. 10,24) und durch zwei Spitzensätze der christologischen Selbstoffenbarung Jesu strukturiert und zugespitzt: „Ich und der Vater, wir sind eins“ (10,30) und „… damit ihr erkennt und wisst: Der Vater (ist) in mir und ich (bin) im Vater“ (10,38). Beide Selbstaussagen Jesu erfüllen in den Augen „der Juden“ den Tatbestand der Blasphemie, die mit dem Tod zu bestrafen ist (10,31.33.39; vgl. schon 5,17–18; 7,1.25; 8,20.59). Gegen diesen massiven Vorwurf (in 10,33) wendet sich Jesus mit einem wörtlichen Schriftzitat aus PsLXX 81,6.105 Der joh Jesus schließt in seiner Entgegnung von der Anrede derer, „an die das Wort Gottes erging“, durch ein von Gott gesprochenes Wort: „Ihr seid Götter!“ auf die Rechtmäßigkeit seiner Selbstbezeichnung: „Sohn Gottes bin ich“. Damit ist für den joh Jesus die Schriftgemäßheit des Gottessohnprädikats erwiesen, mithin der Vorwurf der Blasphemie gegenstandslos. In der Schlussfolgerung Jesu (a minori ad maius; vgl. 7,22–23)106 ist die Wendung „und die Schrift kann nicht aufgelöst werden“ (10,35c) eingeschaltet (vgl. auch die ähnliche Formulierung in 7,23: „damit nicht das Gesetz des Mose aufgelöst wird“). Insgesamt beruft Jesus sich in 10,32–38 einerseits auf „die Werke seines Vaters“ (vgl. 10,32.37–38), andererseits auf das „Gesetz“, die „unauflösbare Schrift“ (10,34– 36). Dabei wird die Schriftkontroverse von dem Hinweis Jesu auf seine „Werke“ gerahmt. In dieser Rahmung insistiert Jesus darauf, die „Werke“, die er vollbringt, zum Maßstab für die angemessene Beurteilung seines Hoheitsanspruches zu  Vgl. hierzu weiterführend A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15), 168–185.

105

106 Vgl. hierzu weiterführend: F. Manns, Exégese rabbinique et exégese johannique, in: Ders.,

L’Évangile de Jean (s. Anm. 9) 307–319. 313 f.

5.  Die unauflösbare Schrift in der Theologie des vierten Evangeliums

549

machen. Dennoch ist die Schriftargumentation Jesu in 10,34–36 nicht taktisch gemeint; sie ist auch etwas anderes als ein vordergründiges, ironisches Wortspiel, mit dem Jesus sich nur als seine Gegner noch übertreffender Winkeladvokat erweist. So ist auch der Hinweis Jesu auf die „unauflösbare Schrift“ keine taktische Finesse, mit der Jesus seine Gegner mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen versucht, ohne diese Rekursinstanz selbst anerkennen zu wollen. Vielmehr geht es Jesus hier um die von ihm als selbstverständlich angesprochene und eingeforderte Gemeinsamkeit beider Gesprächsteilnehmer: Das Zeugnis der Schrift darf als verbindliches „Wort Gottes“ nicht angetastet bzw. entwertet werden. Denen, die das Wort Gottes empfangen haben (10,35b; vgl. das passivum divinum in 1,17a107), gilt die (hier als Erwählung interpretierte) Zusage aus PsLXX 81,6. In 10,35bc bekennt sich Jesus zu dem an Israel ergangenen Wort Gottes, dessen Verbindlichkeit allen Auslegern vorgegeben ist und bleibt.108 Dieses von Israel empfangene „Wort Gottes (ὀ λόγος τοῦ θεοῦ)“ kann nach joh Verständnis nur dann in seiner inneren Dynamik bewahrt und ausgelegt werden, wenn Gottes endzeitliche Offenbarung in den „Werken“ und der Sendung Jesu, dem inkarnierten λόγος (vgl. 1,1–18), wahr‑ und angenommen wird. Die Einheit des Sprechens, Erwählens und Handelns Gottes wird durch die Verwendung von λόγος als christologischem Hoheitstitel in 1,1–18 und von absolut verwendetem ὀ λόγος τοῦ θεοῦ, das in „der Schrift“ aufbewahrt ist (10,35) unübersehbar festgehalten.109

5.  Die unauflösbare Schrift in der Theologie des vierten Evangeliums Die oben besprochenen Forschungsbeiträge zur Analyse und Interpretation der johanneischen Schriftauslegung (vgl. 2.1.–2.3.) postulieren verschiedene Argumentationsfiguren (die christologische Erfüllung der Schrift; die Annullierung der Schrift durch das Christusereignis; die typologische Deutung der Schrift). Alle drei Deutungsmuster relativieren die Geltung und den Rang der Schriften Israels  – zumindest in ihren konkreten Ausführungen. Die These einer Annullierung der Heilsgeschichte postuliert eine radikale Antithese zwischen den Schriften Israels und der Gottesoffenbarung in Jesus Christus. Die Positionen, die mit einer christologischen Erfüllung der Schrift im Sinne einer „Aufhebung“ oder mit einer typologischen Interpretation der in der Schrift bewahrten Heilsereignisse rechnen, haben offene Flanken: Die Geltung und Authentizität der Schrift 107  In 1,17 und 10,35 entsprechen sich zudem „die Gnade und die Wahrheit sind durch Jesus Christus ergangen (ἐγένετο)“ und „„zu denen das Wort Gottes erging (ἐγένετο)“! 108  So auch: R. Schnackenburg, Joh II (s. Anm. 97), 389 f; M. Hengel, Schriftauslegung (s. Anm. 15), 262 f: „Die Schrift als das Wort Gottes, das an Israel gerichtet ist, bleibt unverbrüchlich in Geltung“; A. Obermann, Erfüllung (s. Anm. 15), 184 f. 109 Freilich wäre es eine Überinterpretation, für das JohEv Jesus Christus mit dem an Israel ergangenen Wort Gottes“ nach 10,35 zu identifizieren.

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3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

Israels wird als tendenziell weitgehend eingeschränkt interpretiert. M. E. erlauben und fordern die Deutungsmuster der christologischen Schrifterfüllung und der typologischen Schriftauslegung, wie sie von A. Obermann und M. J. J. Menken ausführlich vorgetragen werden, eine positivere Gewichtung des Schriftzeugnisses und damit der Heilsgeschichte Israels. Das JohEv setzt die Geltung und Authentizität der Schriften Israels durchgehend voraus. Die joh Schriftauslegung nimmt die Gültigkeit und Authentizität der Gottesbotschaft im schriftlichen Zeugnis (die „Schrift“) und im personalen Zeugnis (Abraham, Mose, David,110 Jesaja, Johannes der Täufer) in und aus Israel ernst. Die ergangenen (10,35b) und in der „Schrift“ festgehaltenen Gottesoffenbarungen bewahren das ihnen eigene Gewicht. Die „Schrift“ ist „nicht auflösbar“ (10,35c). Sie enthält und vermittelt zwar nicht aus sich selbst heraus das ewige Leben (vgl. 5,39a–c), aber sie führt zu ihm und legt Zeugnis für es ab (vgl. 5,37ab.39de.46–47) Ein herausragendes Kennzeichen der das JohEv insgesamt bestimmenden nachösterlichen Hermeneutik ist die neue Schriftinterpretation als integraler Bestandteil der Theologie des Evangelisten.111 Dabei erweist sich der Evangelist als ausgesprochener Schrifttheologe, der die Schrift Israels (vornehmlich in der Septuagintafassung) nicht nur schriftgelehrt zu zitieren weiß, sondern das ganze Evangelium im Lichte des Gottesglaubens Israels durchformt (vgl. besonders die biblische Metaphorik und Symbolik im JohEv). Die dem JohEv eigene nachösterliche Sehweise interpretiert die Schrift Israels als auf das Christusgeschehen zulaufend. So werden die Schriften Israels zum vorgängigen Zeugnis für das Heilsgeschehen der Sendung, Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi. Die Grundfigur der christologischen Fokussierung der Schriften Israels im JohEv behauptet den einen Logos Gottes als Zielpunkt und Offenbarungsmitte der gesamten Heilsgeschichte. Dazu wird die Geschichte Israels in ihrem Offenbarungsanspruch grundsätzlich als authentisch und gültig vorausgesetzt. Die hohe, gegenüber den Synoptikern vorangetriebene christologische Konzentration des JohEv führt jedoch nicht zu einer programmatischen „Entgeschichtlichung“ oder „Entweltlichung“ bzw. „Entwirklichung“ der Heilsgeschichte ante Christum natum (vgl. die Diskussion unter 2.2.). Das JohEv rechnet mit einer Zielführung des offenbarenden und sammelnden Wirkens Gottes: Die Offenbarung Gottes in der Geschichte Israels findet in Jesus Christus ihren erfüllenden Zielpunkt (vgl. 10,10). Diese christologische Fokussierung des JohEv ist zugleich Stärke und Schwäche: Sie dient der Durchdringung und Erschließung des in Jesus Christus geschenkten Heils. Zugleich wird sie aber in ihrer christlichen Binnenperspektive und der  Vgl. hierzu die Studie von M. Daly-Denton, David (s. Anm. 15). Chr. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 89), 210: Das „Schriftverständnis gehört daher zu ihrem (scil. der Jünger) nachösterlichen Verstehen, Schriftauslegung ist Bestandteil ihres nachösterlichen Zeugnisses.“ 110

111 Vgl.

5.  Die unauflösbare Schrift in der Theologie des vierten Evangeliums

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polemischen Verteidigung des christlichen Glaubens den jüdischen Gesprächspartnern, die diesen Glauben zurückweisen, in ihrem eigenen Selbstverständnis nur unzureichend gerecht. Intentional richtet sich das JohEv wohl auch nicht werbend an die hier vorgeführten jüdischen Opponenten.112 Vielmehr zielt das JohEv primär darauf, „den Glauben der Glaubenden zu wecken“ (Jean Zumstein), also innerchristlich die Überzeugungskraft des Evangeliums neu und leuchtend vor Augen zu stellen. Aus heutiger Sicht lässt sich mit weniger Parteilichkeit formulieren: Juden und Christen sind gemeinsam und doch unterscheidend an die Schriften Israels gebunden. „An der Schrift als gemeinsame Grundlage entfalten sich Argumentation, Selbstdefinition und allerdings auch Separation.“113 Das JohEv betreibt seine neue Interpretation der Schrift aus der ihm (und mutatis mutandis den anderen neutestamentlichen Autoren) eigenen nachösterlichen Sehweise (vgl. 4.1). Als neuer „Referent“ einzelner Schriftworte wird das Christusereignis eingeführt.114 Formale und inhaltliche Strukturanalogien zu zeitgenössischen frühjüdischen Auslegungsmethoden (vgl. die Ausführungen in 3. zur Pescher-Exegese in Qumran-Schriften) zeigen, dass das JohEv mit diesem Verfahren hermeneutisch auf der Höhe seiner Zeit ist. Die „Referenz“ von Schriftworten bzw. in der Schrift bezeugten Heilsereignissen auf Jesus Christus geschieht zudem nicht eindimensional, unvermittelt oder willkürlich. In der Analyse und Interpretation der joh Schriftzitate und ‑anspielungen lässt sich eine differenzierte Matrix von typologischen Auslegungen erkennen, die auf drei Voraussetzungen ruht: (a) der Geltung der Heilsgeschichte Israels, (b) der eschatologischen Offenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus und (c) der Einheit des Heilshandeln Gottes. Auch die vorangetriebene christologische Interpretation der Schrift im JohEv zeugt von der bleibenden Geltung und Autorität der „unauflösbaren Schrift“, die „das an Israel ergangene Wort Gottes“ beinhaltet (vgl. die Auslegung von 10,34–36 in 4.4.). Im JohEv ist nicht die Autorität des Schriftzeugnisses, auf das sich das JohEv – auch zur eigenen Deutung des Christusereignisses – notwendig angewiesen weiß, umstritten, nicht die in der Schrift bezeugte Heilsoffenbarung Gottes, nicht das unverrückbare „zuerst“ der Berufung und Erwählung Israels 112 So aber D. A.  Carson, der den ‚Sitz im Leben‘ des JohEv besonders in der Evangelisierung von Diasporajuden, Proselyten und Gottesfürchtigen sieht und sich dazu auf die joh Schriftauslegung beruft; vgl. Ders., John and the Johannine Epistles, in: It is Written. Scripture Citing Scripture (FS B. Lindars), Cambridge 1988, 245–264. 113  R. Kampling, Die offene Frage – Theologische und historische Implikationen der Antijudaismusforschung, ThRv 98 (2002), 179–196, 192 (hier im Zusammenhang eines Referats der Position von W. Horbury, Jews and Christinas in contact and controversy, Edinburgh 1998). 114  Vgl. die Formulierung von M. Theobald, Schriftzitate (s. Anm. 13), 356: Das Schriftwort erhält „als neuen Referenten eben die Christusgeschichte“. In diesem Bezug der Schriften Israels auf das Christusereignis als ein neues, „nicht durch die Schrift vermitteltes Gotteshandeln“, liegt das Proprium und zugleich die Problematik der neutestamentlichen Schriftauslegung insgesamt; vgl. D.-A. Koch, Schriftauslegung (s. Anm. 5), 457.

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3.  „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)

(vgl. 1,31; 4,22; 10,35), sondern die Frage, ob der Gott Israels in der Sendung Jesu Christi eschatologisch verbindlich gehandelt hat oder nicht, und ob im Glauben an diese endzeitliche Herrlichkeitsoffenbarung Gottes die Schrift neu gelesen und verstanden werden darf (und muss).115 Die umfangreiche Schriftrezeption im JohEv verdankt sich dem Bemühen, das Christusereignis gerade nicht im Sinne eines deus ex machina zu isolieren und abzukoppeln, sondern es einzuschreiben und zu deuten im Horizont der biblischen Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem erwählten Volk. In diesem Sinne kennt und thematisiert das JohEv die Sendung Jesu zum Gottesvolk Israel (vgl. 1,11–13.31) und reflektiert die dramatische Ablehnung dessen, der, obwohl er „in sein Eigentum kommt“, „von den Eigenen nicht aufgenommen wird“ (1,11–13).116 Gegenüber der Sendung Jesu betont das JohEv eine Kontinuität in der Ablehnung, eine Glaubensverweigerung auf der ganzen Linie: Die Zeugnisse des Täufers, der „Werke“ Jesu, des Vaters und der Schrift werden unisono abgewiesen (vgl. 5,31–47). Die Schriftgelehrten als Opponenten Jesu erweisen sich in der joh Darstellung als schlechte Vertreter ihres Faches: Als wahrer „Lehrer Israels“ (vgl. 3,10) erweist sich der joh Jesus, der immer wieder neu zeigt, daß seine Verkündigung schriftgemäß, schriftverheißen und schriftvollendend ist. Abschließend sei als These formuliert: Die Schriftauslegung und ‑theologie des JohEv bleibt mit einem eigenen, profilierten Beitrag anschlussfähig an die in der neueren gesamtbibeltheologischen Diskussion angezielte „kanonische Dialogizität“ (E. Zenger) der beiden Testamente, die die eigene vorgängige Autorität der Schrift Israels neu gewichtet.117 Die im JohEv reklamierte und festgehaltene 115  Vgl. ebd. 464 f: Die Schrift verweist „in ihrer Gesamtheit auf eine Größe außerhalb ihrer selbst – faktisch wie der Täufer von sich weg auf den Gesandten des Vaters … Genauso wie das Zeugnis des Offenbarers selbst auf Ablehnung stößt (…), so gilt dies auch von der Schrift … Für die Schrift und das Wort des Offenbarers gelten letztlich die gleichen Verstehensbedingungen, weil beide ihre innere Einheit im Vater … haben“. 116  Zur Auslegung der semantischen Achse 1,11–13 im JohEv vgl. F. Muẞner, Die „semantische Achse“ des Johannesevangeliums. Ein Versuch (1989), in: Ders., Jesus von Nazareth im Umfeld Israels und der Urkirche. Gesammelte Aufsätze, WUNT 111, Tübingen 1999, 260–269; K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben (s. Anm. 69); Ders., „Er kam in sein Eigentum – und die Eigenen nahmen ihn nicht auf “ (Joh 1,11). Jesus – Mittler und Ort rettender vita communis in Gott nach dem Johannesevangelium, GuL 72 (1999), 436–451. 117  Vgl. hierzu: B. Childs, Die Theologie der einen Bibel I. Grundstrukturen, II. Hauptthemen, Freiburg i. Br. 1994.1996; W. Breuning, Art. „Altes Testament I.-III.“, LThK3 1 (1993), 457–461 (Lit.); Eine Bibel – zwei Testamente (s. Anm. 6); Chr. Dohmen / ​G.  Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, StTh 1,2, Stuttgart 1996 (Lit.); G. Steins, Die zweieine Bibel in der Liturgie: Pastoralblatt [Köln] 50 (1998), 105–111. Vgl. auch die grundlegenden „Perspektiven für eine Biblische Theologie des Alten und Neuen Testamentes“ von W. Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments I. Kriterien aufgrund der Rückfrage nach Jesus und des Glaubens an seine Auferweckung; II. Programm einer Theologie des Neuen Testaments mit Perspektiven für eine Biblische Theologie, Münster I (1981) 21996; II 1998, hier: II 187–244; B. Janowski, Der eine Gott der beiden Testamente. Grundfragen einer Biblischen Theologie, ZThK 95 (1998), 1–36 (Lit.).

5.  Die unauflösbare Schrift in der Theologie des vierten Evangeliums

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Einheit des Offenbarungswortes Gottes118 stellt die Heilige Schrift Israels und das JohEv in eine „spannungsvolle Einheit aus gegenseitiger Verwiesenheit“119 und befindet sich damit durchaus in der Mitte des neutestamentlichen Kanons.

118  Zum Thema Einheit der Schrift vgl. die instruktiven Reflexionen von L. SchwienhorstSchönberger, Einheit und Vielheit. Gibt es eine sinnvolle Suche nach der Mitte des Alten Testaments?, in: F.-L. Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? (s. Anm. 6), 48–87. 119 Vgl. den Beitrag von K. Kertelge, Testament (s. Anm. 80), (Zitat: 169). Vgl. weiterführend M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, NTD.E XI, Göttingen 1998, 335–340.

4.  „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30) Beobachtungen zum kanonischen Anspruch des Johannesevangeliums 1.  Einleitung: Das Johannesevangelium und der Kanon Dem Mainstream der Johannesforschung des 20. Jahrhunderts entspricht es, dem vierten Evangelium eine Sonderrolle in der Geschichte und Theologie des Urchristentums und in deren Folge auch im Kanon des NT zuzusprechen.1 Diese Sonderrolle des JohEv wird mit unterschiedlichen Akzenten durch Hilfshypothesen (religionsgeschichtliche Verortungen, literarkritische Schichtenmodelle, sozial‑ bzw. gemeindegeschichtliche Hypothesen) veranschaulicht. Ernst Käsemann hat die Sonderrolle des JohEv am radikalsten zugespitzt, indem er es als gnostisch-doketistisch interpretiert2 und die spätere Kanonisierung des JohEv als „eine tiefe Ironie“ versteht. Die „Aufnahme in den Kanon der Großkirche“ sei „errore hominum et providentia Dei erfolgt“3. Verbreiteter als diese Einschätzung Käsemanns, der hier im Blick auf den Textbefund des JohEv selbst ausdrücklich widersprochen wird, ist die Annahme, eine späte Redaktion habe das ursprünglich eigenständigere JohEv an die theologischen Standards einer sogenannten „Großkirche“ angepasst und auf diesem Wege kanonfähig bzw. ‑kompatibel gemacht.4 Nachdem viele überkommene Paradigmen der Johannesforschung gegenwärtig entweder in Frage oder sogar in Abrede gestellt werden, wird heute zunehmend und m. E. mit Recht bezweifelt, dass das JohEv an den Rand des neutestamentlichen Kanons gehört.5 Die folgenden Ausführungen wollen einen kleinen Baustein bereitstellen zu dieser neuen Justierung des JohEvs im Blick auf seinen kanonischen Charakter. 1 Zur Forschungsgeschichte des JohEv und ihrer kritischen Besprechung vor und im 20. Jhd. vgl. J. Frey, Die johanneische Eschatologie I. Ihre Probleme im Spiegel der Forschung seit Reimarus, WUNT 96, Tübingen 1997. 2  Vgl. die programmatische Schrift E. Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 4 1980. Zur kritischen Würdigung der Johannesauslegung Käsemanns vgl. J. Frey, Eschatologie I (s. Anm. 1), 160–170. 3  J. Frey, Eschatologie I (s. Anm. 1), 154. Vgl. die unmittelbare Weiterführung ebd.: „Gegen alle ihre Intentionen hat die Kirche hier, verführt durch das Bild des über die Erde schreitenden Gottes Jesus, die sonst totgeschwiegene Stimme derer den Aposteln zugeschrieben, die schon ein Menschenalter nach unserem Evangelium als häretisch verurteilt wurden.“ Ebd. 156 f: „Historisch irrte die Kirche, als sie es (scil. das JohEv) für orthodox erklärte.“ 4  So auch J. Beutler, Krise und Untergang der johanneischen Gemeinde (1989), in: Ders., Studien zum Johannesevangelium, SBAB 25, Stuttgart 1998, 141–162. 5 Vgl. zur Diskussion dieses Themas: Th. Söding (Hg.), Das Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons?, QD 203, Freiburg i. Br. 2003.

1.  Einleitung: Das Johannesevangelium und der Kanon

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Gegenstand der Untersuchung ist das JohEv in seiner kanonischen Endgestalt, die sich auch rein sprachlich als eine anspruchsvolle Schöpfung zu erkennen gibt.6 Das Erkenntnisinteresse dieses Beitrags richtet sich auf die Frage, ob das JohEv selbst so etwas wie einen kanonischen Anspruch zu erkennen gibt, der dann Ausgangs‑ und Anknüpfungspunkt gewesen sein kann für den kanonischen Prozess als frühem Teil seiner Wirkungsgeschichte.7 Wichtige Schritte zur Beantwortung dieser Themenstellung sind die Fragen, wie sich das JohEv in Relation zu den Synoptikern selbst situiert (vgl. 2), welche Bedeutung im JohEv der „Schrift“ zukommt (vgl. 3), welche Autorität den Worten Jesu im JohEv insbesondere in Relation zur Autorität der Schrift zugesprochen wird (vgl. 4) und in welchem Sinn sich das JohEv selbst als „Schrift“ versteht (5). Auf dem Hintergrund dieser Analysen und Interpretationen kann begründet von einem „kanonischen Bewusstsein“ im JohEv gesprochen werden (6). Das hier angesprochene Thema steht im engen Zusammenhang mit der Frage nach dem kanonischen Prozess in der frühen Kirche,8 der schlussendlich zur Aufnahme des JohEvs in den kirchlichen Kanon des NT geführt hat (Kanonabschluss). Im Sinne eines kanonischen Prozesses, der zur Kanonisierung der vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes geführt hat, gewinnt die ausführliche Reflexion über die Entstehung des Vierevangelienkanons in der frühen Kirche in der neuesten Forschung zunehmend an Boden.9 Schon das Papiaszeug6 Vgl. M. Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments, utb 2197, Paderborn 2001, 65–68. 7 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von A. Wucherpfennig, Markus 1,1–3, Johannes 1,1–18 und Herakleons Johannes-Kommentar im Licht christlicher Kanonentwicklung, in: M. Labahn / ​ K. Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 227–244. 8 Vgl. hierzu: T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert. Studien zur vorirenäischen Aneignung und Auslegung des vierten Evangeliums in christlicher und christlich-gnostischer Literatur, ABG 2, Leipzig 2000; A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus. Gnostische Johannesexegese im zweiten Jahrhundert, WUNT 142, Tübingen 2002; Ders., Markus 1,1–3 (s. Anm. 7). Zum Stichwort „kanonischer Prozess“ vgl. Ch. Dohmen / ​M . Oeming, Biblischer Kanon warum und wozu? Eine Kanontheologie, QD 137, Freiburg i. Br. 1992; Ch. Dohmen, Die Bibel und ihre Auslegung, München 1998; Ders., Art. „Kanon, biblischer K.“, LThK3 5 (1996), 1177–1184; Ders./G. Steins, Art. „Schriftauslegung“, LThK3 9 (2000), 253–256; vgl. auch: Ch. Dohmen, Der Biblische Kanon in der Diskussion, ThRv 91 (1995), 451–460; Ders. / ​F.  Muẞner, Nur die halbe Wahrheit? Für die Einheit der ganzen Bibel, Freiburg i. Br. 1993. 9  Vgl. T. K.  Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium, WUNT 120, Tübingen 1999; M. Hengel, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ. An Investigation of the Collection and the Origin of the Canonical Gospels, London 2000; Ders., Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus, ThBeitr 34 (2003), 18–33; vgl. auch P.-M. Bogaert, Les quatre vivants, l’Évangile et les évangiles, RTL 32 (2001), 457–478; T. Nagel, Rezeption (s. Anm. 8). Im weiteren Rahmen dieser Fragestellung ist die These von D. Trobisch zu berücksichtigen, nach der der gesamte Kanon der 27 neutestamentlichen Schriften im 2. Jahrhundert von einem Herausgeberkreis in einer bestimmten kirchenpolitischen Situation (Gegenposition zu Markion) komplett publiziert wurde; vgl. Ders., Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel, NTOA 31, Fribourg / ​ Göttingen 1996; kritisch zu Trobisch zuletzt: F. W.  Horn, Einleitung in das Neue Testament.

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4.  „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30)

nis (ca. 120–130 n. Chr.) kennt eine Vierevangeliensammlung, die die Gültigkeit der vier Evangelien betont und herausstellt.10 Unter Berufung auf Irenäus, der ca. 180 n. Chr. die Existenz des Vierevangelienkanons definitiv voraussetzt und reflektiert (Adv. Haer. III 11,8), erkannte Erik Peterson in seiner Johannesvorlesung aus den Jahren 1927 und 1929 in dem Vierevangelienkanon eine bewusste, hermeneutisch anspruchsvolle Entscheidung der Alten Kirche für die Vierzahl der Evangelien, die in ihrer Gesamtheit das eine Evangelium Jesu Christi beinhalten.11 Unterschieden, aber doch eng verwandt mit dem hier gestellten Frageinteresse ist zudem eine kanonische Auslegung des JohEvs. Eine kanonische Auslegung des JohEv wird die wechselseitigen Beziehungen und Interpretationsmöglichkeiten aufsuchen und reflektieren, die sich aus dem kanonischen Miteinander und Nebeneinander zunächst der vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes ergeben. Im Licht der kanonisch-hermeneutischen Option, dass das eine Evangelium von Jesus dem Christus in vierfacher Gestalt vorgelegt wird, ergeben sich neue intertextuelle Interpretationszusammenhänge, die Spannungen nicht harmonisieren, sondern inhaltlich als Interpretationsaufgabe annehmen.12 Weitergefasst sind in eine kanonisch-intertextuelle Auslegung13 des JohEv auch alle anderen alt‑ und neutestamentlichen Schriften einzubeziehen.

2.  Das Selbstverständnis des Johannesevangeliums im Licht seiner Beziehung zu den Synoptikern In der neueren Johannesforschung ist eine deutliche Abkehr zu erkennen von dem Mainstream der Johannesforschung des 20. Jahrhunderts, der weithin voraussetzte, dass es keine literarischen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den SynTendenzen und Entwicklungen (II), ThR 68 (2003), 129–150, hier 130–132. Trobisch nimmt an, Joh 21 stelle das Editorial sowohl des JohEv als auch der Vier-Evangelien-Sammlung dar und damit letztlich des gesamten NT dar; vgl. Ders., Endredaktion (s. o. in dieser Anm.), 125. 10  Vgl. Heckel, Evangelium (s. Anm. 9), 219–265. 11  Vgl. E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien, Ausgewählte Schriften 3, hg. v. B. Nichtweiß u. Mitarb. v. K. Anglet u. K. Scholtissek, Würzburg 2003, 9–26; vgl. ebd. XXXVII– LIV auch die einführende Stellungnahme K. Scholtissek, Einführung in die Johannesvorlesung Erik Petersons. 12  Vgl. als einen exemplarischen Versuch im Blick auf die pauschale Rede von „den Juden“ im JohEv J. Beutler, The Identity of the ‚Jews‘ for the Readers of John, in: R. Bieringer / ​D. Pollefeyt / ​ F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel, Jewish and Christian Heritage Series 1, Assen 2001, 229–238. 13 Zum Methodenprogramm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre vgl. die programmatischen Ausführungen von G. Steins, Die „Bindung Isaaks“ im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre, HBS 20, Freiburg i. Br. 1999; Ders., Der Bibelkanon als Denkmal und Text. Zu einigen Aspekten kanonischer Schriftauslegung, in: H. J. de Jonge / ​J.-M. Auwers (Hgg.), The Biblical Canons, BEThL 163, Leuven 2003, 177–198; L. Schwienhorst-Schönberger, Kanonische Schriftauslegung, HerKorr 57 (2003), 412–417. Vgl. auch die Diskussionen in: F. L. Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik verträgt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie, QD 185, Freiburg i. Br. 2001.

2.  Das Selbstverständnis des Johannesevangeliums

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optikern und dem JohEv gegeben hat.14 Mit der literarischen Unabhängigkeit ging oftmals auch die These einer soziologischen bzw. ekklesiologischen Sonderrolle des johanneischen Gemeindeverbandes15 einher. Auch religionsgeschichtliche Auslegungen des JohEv ordneten sich gerne in die These einer Sonderstellung des JohEv im Chor der vier kanonischen Evangelien ein. In dem Maße, wie diese Annahmen in ihrer Gültigkeit bezweifelt werden, wird die Frage neu aufgeworfen, wie sich das Verhältnis zwischen den Synoptikern und dem JohEv neu verstehen lässt. Aus der Forschungsgeschichte ist die These von Hans Windisch bekannt, dass JohEv sei bewusst verfasst worden, um die Synoptiker zu ersetzen: Gab es zur Zeit der Entstehung der vier Evangelien eine Art Verdrängungswettbewerb?16 Unter redaktionsgeschichtlichen Vorzeichen findet sich diese These wieder bei Theo K. Heckel, der zeigen möchte, dass es einen erheblichen Hiatus zwischen den theologischen Einzelprofilen der vier Evangelien und dem Vierevangelienkanon gibt.17 Freilich erkennt Heckel in dem Nachtragskapitel Joh 21 eine Zusammenführung johanneischer und synoptischer Jesusüberlieferungen, in der er den Vierevangelienkanon angebahnt sieht.18 M. E. wäre zu fragen, ob sich diese für Joh 21 ausgemachte, vermittelnde Intention nicht auch schon im Corpus Evangelii des JohEv wieder findet. Die Annahme einer bewussten Intention des JohEv, frühere Evangelien formal und inhaltlich zu verdrängen, hat wenig für sich. So setzt das JohEv in vielerlei Hinsicht die Kenntnis synoptischer Überlieferungen bei den Adressaten voraus, ohne dass hier eine polemische, abgrenzende Stellungnahme erkennbar wird. Interessanter und weiterführender scheint der Ansatz von Richard Bauckham zu sein, der die Annahme vertritt, Johannes habe sein Evangelium als Ergänzung des 14 Vgl. zu dieser Fragestellung den aktuellen Forschungsüberblick von M.  Labahn / ​M .  Lang, Johannes und die Synoptiker. Positionen und Impulse seit 1990, in: J. Frey / ​U. Schnelle (Hgg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions‑ und traditionsgeschichtlicher Perspektive, WUNT 175, Tübingen 2003, 443–515 (Lit.); vgl. sodann auch: F. Neirynck, John and the Synoptics, in: M. de Jonge (Hg.), L’Évanglie de Jean. Sources, rédaction, théologie, BEThL 44, Leuven 1977, 73–95; Ders., John and the Synoptics: 1975–1990, in: A. Denaux (Hg.), John and the Synoptics, BEThL 101, Leuven 1992, 3–62; D. M. Smith, John Among the Gospels. The Relationship in Twentieth Century Research, Columbia 22001. Zuletzt votiert auch U. Busse für eine Kenntnis synoptischer Jesusüberlieferung durch das Johannesevangelium, in: DERS., Das Johannesevangelium. Bildlichkeit, Diskurs und Ritual. Mit einer Bibliographie über den Zeitraum 1986–1998, BEThL 162, Leuven 2002. 15  Vgl. hierzu J. Beutler, Kirche als Sekte? Zum Kirchenbild der johanneischen Abschiedsreden, in: Ders., Studien (s. Anm. 4), 21–32. Zu einem Neuansatz in dieser Fragestellung vgl. J. Frey, Das Bild ‚der Juden‘ im Johannesevangelium und die Geschichte der johanneischen Gemeinde, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen (s. Anm. 7), 33–53. 16  So emphatisch H. Windisch, Johannes und die Synoptiker. Wollte der vierte Evangelist die älteren Evangelien ergänzen oder ersetzen?, WUNT 12, Leipzig 1926 (H. Windisch beruft sich auf P. Corssen, F. Overbeck, E. Schwartz, W. Bousset, W. Heitmüller, A. von Harnack). 17   Vgl. Th. K.  Heckel, Evangelium (s. Anm. 9), 104: Die Sammlung mehrerer Evangelien verdanke sich nicht der Theologie der Synoptiker. 18  Vgl. Heckel, Evangelium (s. Anm. 9), 205–207.

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4.  „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30)

MkEv geschrieben.19 Dazu verweist Bauckham auf die Übereinstimmungen der beiden Evangelieneröffnungen: Zu Beginn steht jeweils betont das Wort ἀρχή. Bei aller Unterschiedenheit stellen beide Prologe, Mk 1,1–3(4–15) und Joh 1,1–18, ihre Jesuserzählung in den interpretativen Kontext und in Kontinuität zum Heilshandeln Gottes an und in Israel, wie es sich in der Schrift Israels dokumentiert. Sowohl bei Markus als auch bei Johannes beginnt die Erzählung der Sendung Jesu mit dem Täufer (dabei setzt die erste Erwähnung des Täufers mit asyndetischem ἐγένετο ein; Mk 1,4; Joh 1,6). Sind diese Beobachtungen signifikant und lassen sie sich im Blick auf die Prologe und die Evangeliencorpora weiter bestätigen, dann wird hier eine bewusste Anknüpfung und vertiefende Weiterführung der markinischen Darstellung durch das JohEv erkennbar, die ein neues Paradigma der Verhältnisbestimmung zwischen dem MkEv und dem JohEv erfordert: Aus der sich hier andeutenden Relation zwischen Johannes und den Synoptikern lässt sich – auch unabhängig von der Frage, ob und wenn ja, wie das JohEv in einem unmittelbaren Sinn literarisch abhängig ist von einem oder mehreren Synoptikern  – ableiten: Es geht nicht um Ersetzen oder Ablösung der vier Evangelien untereinander, nicht um völlige Unabhängigkeit voneinander, sondern um ein Zuordnungsverhältnis, beim JohEv konkret um eine vertiefende Auslotung und Deutung des Evangeliums, der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus (kreative Fortschreibung;20 geistgewirkte Memoria der Worte und Taten Jesu21). Diese Sicht auf das Selbstverständnis des JohEv ist auch für die Johannesauslegung Erik Petersons leitend: Auch aus der altkirchlichen Einschätzung22 des VierEvangelien-Kanons leitet Peterson die These ab, dass dem Evangelisten Johannes die synoptischen Evangelien bereits vorgelegen haben: „Das Johannesevangelium ist meiner Meinung nach nur so zu verstehen, dass es das Vorhandensein von drei in der Kirche schon gebräuchlichen Evangelien voraussetzt.“23 Deshalb stelle das JohEv „eine viel bewusstere Schöpfung als die drei anderen Evangelien“24 dar. Dieser „bewussteren Schöpfung“ des Evangeliums, in der sich keine Abwertung der synoptischen Evangelien spiegelt, gehen die folgenden Textbeobachtungen nach. 19  Vgl. R. Bauckham, John for Readers of Mark, in: R. Bauckham (Hg.), The Gospels for All Christians, Edinburgh 1998, 147–171, hier 169–171; vgl. hierzu auch die positive Stellungnahme von A. Wucherpfenning, Markus 1,1–3 (s. Anm. 7). 20 Vgl. hierzu J. Zumstein, Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, Zürich 1999; K. Scholtissek, Relecture – zu einem neu entdeckten Programmwort der Schriftauslegung (mit Blick auf das Johannesevangelium), BiLi 70 (1997), 309–315; „Relecture und réécriture“, in diesem Band, S. 173–202; den Begriff „kreative Fortschreibung“ verwendet jetzt auch M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, HBS 34, Freiburg i. Br. 2002, 41.600–618. 21  Vgl. Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996. 22  Insgesamt fällt die methodische Orientierung Erik Petersons an den Zeugnissen der Kirchenväter für die Verhandlung der Einleitungsfragen zum JohEv auf. Diesen Weg geht auch M. Hengel in seiner umfangreichen Monographie: Die Johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (mit einem Beitrag zur Apokalypse v. J. Frey), WUNT 67, Tübingen 1993. 23  Vgl. E. Peterson, Johannesevangelium und Kanonstudien (s. Anm. 11), 17. 24  Ebd.

3.  Die Autorität der „unauflöslichen Schrift“

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3.  Die Autorität der „unauflöslichen Schrift“und die nachösterliche Hermeneutik im Johannesevangelium Die Theologie des JohEv ist grundlegend von einer nachösterlichen Hermeneutik bestimmt. Sie verdankt sich nach ihrer eigenen Aussage einer nachösterlichpneumatischen Anamnese der Worte und Taten Jesu und ist deshalb als Frucht und Zeugnis nachösterlicher „Erinnerung“ auszulegen (vgl. 2,17.18–22; 6,45; 7,38; 12,16; 14,26; 15,26; 16,13; 20,8–9.22).25 Die „joh Sehweise“ (F. Mußner) erwächst aus einem nachösterlichen pneumatischen „Sehen“ und „Erkennen“.26 Diese nachösterliche Hermeneutik kennzeichnet auch die neue Schriftauslegung im JohEv, die zum konstitutiven „Bestandteil ihres (scil. der Jünger) Zeugnisses“ wird.27 Dabei führt das JohEv als neuen Referenten einzelner Schriftworte das Christusereignis ein.28 Formale und inhaltliche Strukturanalogien zu zeitgenössischen frühjüdischen Auslegungsmethoden (vgl. die Pescher-Exegese in den QumranSchriften) zeigen, dass das JohEv mit diesem Verfahren hermeneutisch auf der Höhe seiner Zeit ist. Die „Referenz“ von Schriftworten bzw. in der Schrift bezeugten Heilsereignissen auf Jesus Christus geschieht nicht eindimensional, unver25 Vgl. hierzu: M. Hengel, Die Schriftauslegung des 4. Evangeliums auf dem Hintergrund der

urchristlichen Exegese, JBTh 4 (1989), 249–288, hier 271–275; Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 21); U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes, ThHK IV, Leipzig 22000, 21; J. Frey, Die johanneische Eschatologie II. Das johanneische Zeitverständnis, WUNT 110, Tübingen 1998, 223. Th. Popp spricht zu Recht programmatisch von einer „Grammatik des Geistes“ im JohEv; vgl. Ders., Grammatik des Geistes. Literarische Kunst und theologische Konzeption in Johannes 3 und 6, ABG 3, Leipzig 2001, passim; M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 20), 600–618. 26  Vgl. weiterführend: K. Scholtissek, Neue Wege der Johannesauslegung. Ein Forschungsbericht I, ThGl 89 (1999), 263–295, hier 285–292. 27 Vgl. Ch. Hoegen-Rohls, Johannes (s. Anm. 21), 210: Das „Schriftverständnis gehört daher zu ihrem (scil. der Jünger) nachösterlichen Verstehen, Schriftauslegung ist Bestandteil ihres nachösterlichen Zeugnisses.“ Vgl. ausführlich zur joh Schriftauslegung und ‑theologie, „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35)“, in diesem Band, S. 527–553; vgl. auch M. Labahn, Jesus und die Autorität der Schrift im Johannesevangelium. Überlegungen zu einem spannungsreichen Verhältnis, in: Ders. / ​K. Scholtissek / ​A. Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen (s. Anm. 7), 185–206. Der Textbefund wird jetzt detailliert vorgestellt in: H. Hübner u. Mitarb. v. A. Labahn / ​M .  Labahn, Vetus Testamentum in Novo I/2. Johannesevangelium, Göttingen 2003. Zur neutestamentlichen Schrifthermeneutik vgl. auch Th. Söding, „Mitte der Schrift“ – „Einheit der Schrift“. Grundsätzliche Erwägungen zur Schrifthermeneutik, in: Th. Schneider / ​W. Pannenberg (Hgg.), Verbindliches Zeugnis III. Schriftverständnis und Schriftgebrauch, DiKi X, Freiburg i. Br./ Göttingen 1998, 43–82 (Lit.). 28  Vgl. die Formulierung von M. Theobald, Schriftzitate im „Lebensbrot“-Dialog Jesu (Joh 6). Ein Paradigma für den Schriftgebrauch des vierten Evangelisten, in: C. M. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997, 327–366, hier 356: Das Schriftwort erhält „als neuen Referenten eben die Christusgeschichte“. In diesem Bezug der Schriften Israels auf das Christusereignis als ein neues, „nicht durch die Schrift vermitteltes Gotteshandeln“, liegt das Proprium und zugleich die Problematik der neutestamentlichen Schriftauslegung insgesamt; vgl. D.-A. Koch, Art. „Schriftauslegung II. Neues Testament“, TRE 30 (1999), 457–471 (Lit.), hier 457. Vgl. weiterführend den Beitrag von J. Maier, Schriftrezeption im jüdischen Umfeld des Johannesevangeliums, in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen (s. Anm. 7), 54–88.

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4.  „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30)

mittelt oder willkürlich. In der Analyse und Interpretation der joh Schriftzitate und ‑anspielungen lässt sich eine differenzierte Matrix von typologischen Auslegungen erkennen, die auf drei Voraussetzungen ruht: (a) der Geltung der Heilsgeschichte Israels, (b) der eschatologischen Offenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus und (c) der Einheit des Heilshandeln Gottes. Das JohEv setzt die kanonische Geltung und Authentizität der Schriften Israels durchgehend voraus.29 Die joh Schriftauslegung nimmt die Gültigkeit und Authentizität der Gottesbotschaft im schriftlichen (die „Schrift“) und im personalen Zeugnis (Abraham, Mose,30 David,31 Jesaja, Johannes der Täufer) in und aus Israel ernst.32 Die ergangenen (10,35b) und in der „Schrift“ festgehaltenen Gottesoffenbarungen bewahren das ihnen eigene Gewicht. Die „Schrift“ ist „nicht auflösbar“ (10,35c). Sie enthält und vermittelt zwar nicht aus sich selbst heraus das ewige Leben (5,39a–c), aber sie führt zu ihm und legt Zeugnis für es ab (5,37ab.39de.46–47). Heuristisch weiterführend ist die Unterscheidung zwischen der joh Schriftauslegung im engeren Sinn, also der konkreten Schriftverwendung im fortlaufenden Text des Evangeliums, und der joh Schrifttheologie als solcher. Die joh Schrifttheologie ergibt sich einerseits implizit aus der spezifischen Schriftauslegung, andererseits explizit aus grundsätzlichen Aussagen über die Schrift im JohEv (vgl. bes. 5,36–47; 10,34–35). Die joh Schriftauslegung und ‑theologie ist insgesamt im Rahmen der Israeltheologie des vierten Evangeliums33 zu verorten, zu der u. a. das bei Johannes betonte Judesein Jesu34 gehört. Insgesamt erweist sich der Evangelist als ausgesprochener Schrifttheologe, der die Schrift Israels 29 Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass es einen festen, abgeschlossenen Kanonumfang der „Schrift“ Israels und einen einheitlich anerkannten Wortlaut der biblischen Schriften zur Zeit des JohEv noch nicht gab. 30 Vgl. zuletzt die Studie von S. Harstine, Moses as a Character in the Fourth Gospel. A Study of Ancient Reading Techniques, JSNT.S 229, Sheffield 2002. 31  Vgl. hierzu die Studie von M. Daly-Denton, David in the Fourth Gospel. The Johannine Reception of the Psalms, AGAJU 47, Leiden 2000. 32  Vgl. hierzu auch die instruktiven Ausführungen zur joh Schriftauslegung in Joh 6 von J. Zumstein, Die Schriftrezeption in der Brotrede (Joh 6), in: M. Labahn / ​K . Scholtissek / ​A . Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen (s. Anm. 7), 123–139. 33  Vgl. hierzu F. Manns, L’Évangile de Jean à lumière du Judaisme, ASBF 33, Jerusalem (1991) 2 2000; G. Reim, Jochanan. Erweiterte Studien zum alttestamentlichen Hintergrund des Johannesevangeliums, Erlangen 1995; Vgl. auch „Antijudaismus im Johannesevangelium?“, in diesem Band, S. 483–508; Ders., Eine Renaissance des Evangeliums nach Johannes. Aktuelle Perspektiven der exegetischen Forschung, ThRv 97 (2001), 267–288, hier 271–275; U. Busse, Johannesevangelium (s. Anm. 14), passim; J.-M. Schröder, Das eschatologische Israel im Johannesevangelium. Eine Untersuchung der johanneischen Israel-Konzeption in Joh 2–4 und Joh 6, Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 3, Tübingen 2003; Anti-Judaism and the Fourth Gospel (s. Anm. 12): Die Beiträge dieses Sammelbandes werfen Licht auf die joh Positionierung der Heilstraditionen Israels im JohEv und zeigen den differenzierten und keineswegs platt dualistischen Umgang des JohEv mit ihnen auf. 34 Vgl. hierzu Th. Söding, „Was kann aus Nazaret schon Gutes kommen?“. Die Bedeutung des Judeseins Jesu im Johannesevangelium, NTS 46 (2000), 21–41.

4.  Die Autorität der „Worte“ Jesu im Johannesevangelium

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(vornehmlich in der Septuagintafassung35) nicht nur schriftgelehrt zu zitieren weiß, sondern das ganze Evangelium im Lichte des Gottesglaubens Israels durchformt (vgl. besonders die biblische Metaphorik und Symbolik im JohEv). Die dem JohEv eigene nachösterliche Sehweise interpretiert die Schrift Israels als auf das Christusgeschehen zulaufend. So werden die Schriften Israels zum vorgängigen Zeugnis für das Heilsgeschehen der Sendung, Erhöhung und Verherrlichung Jesu Christi. Die Grundfigur der christologischen Fokussierung der Schriften Israels im JohEv behauptet den einen Logos Gottes als Zielpunkt und Offenbarungs­mitte der gesamten Heilsgeschichte. Dazu wird die Geschichte Israels in ihrem Offenbarungsanspruch grundsätzlich als authentisch und gültig vorausgesetzt. Das JohEv rechnet mit einer Zielführung des offenbarenden und sammelnden Wirken Gottes: Die Offenbarung Gottes in der Geschichte Israels findet in Jesus Christus ihren erfüllenden Zielpunkt (vgl. 10,10).

4.  Die Autorität der „Worte“ Jesu im Johannesevangelium 4.1  Die Autorität Jesu und die Autorität seiner „Worte“ Charakteristisch für das JohEv ist die Beobachtung, dass zu der Autorität der Schrift auch die Autorität Jesu bzw. die seiner Worte hinzutritt. Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass dem joh Jesus eine gottunmittelbare Autorität zugesprochen wird. Schon der Prolog legt dafür die grundlegenden Koordinaten, die dann im corpus evangelii weiter entfaltet werden: Aus seiner voranfänglichen Gottesgemeinschaft36 und Gottgleichheit (Joh 1,1–2), aus seiner alleinigen Schöpfungsmittlerschaft (1,3) und seiner einzigartigen Gottunmittelbarkeit heraus legt er als Exeget Gottes in seiner Sendung Gott selbst eschatologisch verbindlich und erschöpfend aus (1,18). An der ihm von seinem Vater übergebenen, göttlichen Autorität Jesu (vgl. nur 5,17–47) partizipieren auch die Worte Jesu: „Weil Jesus in Person Gottes Selbstäußerung ist, sind auch die von ihm gesprochenen Worte Äußerungen Gottes, oder anders formuliert: Die Offenbarungsqualität seiner Worte gründet in Jesu personhaftem Sein als dem inkarnierten Logos.“37

Der eine λόγος Jesus Christus (1,1–18) und das Wort (λόγος) bzw. die Worte Jesu (vgl. 2,22; 5,24; 7,36; 8,31.37.43.51; 14,23–24; 15,3) lassen sich nicht voneinander trennen (vgl. 6,68: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte [ῥήματα] 35  Vgl. dazu en detail M. J. J.  Menken, Old Testament Quotations in the Fourth Gospel. Studies in Textual Form, Contributions to Biblical Exegesis and Theology 15, Kampen 1996; Ders., Observations on the Significance of the Old Testament in the Fourth Gospel, Neotest. 33 (1999), 125–143. 36  Michael Labahn entwickelt in seinem Beitrag, Jesus und die Autorität der Schrift (s. Anm. 27), die These, dass die Autorität der Schrift Israels in joh Sicht durch die vorgängige Autorität des präexistenten Logos bzw. Gottessohnes begründet ist. 37  M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 20), 22.

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4.  „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30)

ewigen Lebens!“). 8,55 („aber ich kenne ihn und ich bewahre sein Wort“) bindet – wie es für die Sendungschristologie des JohEv charakteristisch ist (Handlungs‑ und Willenseinheit von Vater und Sohn; vgl. 4,34) – die Worte Jesu an das „Wort“ seines Vaters zurück (vgl. auch 17,14). 4.2  Sprachliche Beobachtungen zum herausgehobenen Stellenwert der Worte Jesu Durch eine von M. Theobald beschriebene, zuvor kaum beachtete Fülle sprachlicher Signale werden einzelne Worte Jesu im JohEv herausgehoben.38 Sie geben sich als hermeneutischer Ausgangs‑ bzw. Bezugspunkt der Reflexion in den Dialogen und Reden der joh Großsequenzen zu erkennen: (1) Die Einführungsformel: „ Amen, Amen, ich sage euch (dir) …“: In 25 Fällen verwendet der joh Jesus die Bekräftigungsformel: „Amen, Amen, ich sage euch/ dir …“, die ohne die Doppelung des „Amen“ auch aus den synoptischen Evangelien bekannt ist. Durch die betonte Verwendung des doppelten „Amen“ und die Häufigkeit ihres Vorkommens wird die Offenbarungsautorität des Sprechers auffällig hervorgehoben. Zudem kommt manchen Amen-Worten Jesu eine „makrokontextuelle Gliederungsfunktion“39 zu (vgl. 5,19; 6,26; 10,1.7). (2) Selbstzitate Jesu: Im JohEv begegnen auffällig häufig ausdrückliche Selbstzitate Jesu: 3,7 (vgl. 3,3); 6,65 (vgl. 6,44); 8,24 (vgl. 8,21); 13,33 (vgl. 7,33 f; 8,21); 15,20 (vgl. 13,16); 16,15b (vgl. 16,14b); 16,19 fg (vgl. 16,16) und 18,8 (vgl. 18,5). Charakteristisch für diese Selbstzitate Jesu sind Zitationsformeln, die mit λέγειν gebildet werden (vgl. 6,65: διὰ τοῦτο εἴρηκα ὑμῖν ὅτι). Daneben finden sich auch paraphrasierende bzw. summierende Wiederaufnahmen von Worten Jesu: 6,36 (vgl. 6,26); 10,36 [10,25] (vgl. 5,17–18); 11,40 (vgl. 11,4.25–26); 14,2–3 (vgl. 13,33.36) und 14,28[29] (vgl. 14,1–3), die mit Einführungsformeln gekennzeichnet sind (vgl. 10,36: ὅτι εἶπον). (3) Wiederaufnahmen durch andere Personen: Ebenfalls mit einer Zitationsformel eingeleitet werden Worte Jesu in der direkten Rede: 6,42 (6,38a); 7,36 (vgl. 7,33–34); 8,22 (vgl. 8,21); 8,33 (8,31–32); 8,52 (vgl. 8,51); 12,34 (vgl. 3,14; 12,23.32); 16,17 (vgl. 16,16) und 19,21 (vgl. 18,37). (4) Wiederaufnahmen durch den Erzähler: Auch die Wiederaufnahmen von Worten Jesu durch den Erzähler (im Rahmen seiner Erzählkommentare) werden durch eine Zitationsformel eingeleitet: 4,44 (vgl. Mk 6,4 par Mt 13,57; Lk 4,24!); 6,41 (vgl. 6,38a); 13,11e (vgl. 13,10c); 18,6 (vgl. 18,4); 18,9 (vgl. 6,39 [10,28–29; 17,12]); 18,32 (vgl. 12,32–33) und 21,23 (vgl. 21,22). (5) Die exponierte Stellung von Herrenworte in den Reden Jesu: Innerhalb der komplexen Reden und Dialogpartien des JohEv stehen Herrenworte oft an herausgehobenen Orten: Sie formulieren prägnant die Leitthemen der Begegnungssequenzen bzw. Reden, in die sie eingebettet sind (vgl. 1,51; 3,3.5; 6,35; 8,12; 38  Die folgenden Ausführungen greifen zu guten Teilen die instruktiven Ausführungen von M. Theobald auf; vgl. ebd. 21–53. 39  Ebd. 52 f.

4.  Die Autorität der „Worte“ Jesu im Johannesevangelium

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8,31–32; 14,2–3). Die joh „Ich-bin“-Worte spielen in diesem Zusammenhang eine prominente Rolle (vgl. auch die Bildworte bzw. ‑reden, Weisheitsworte sowie Verheißungs‑ und Trostworte Jesu im JohEv).40 Zusammenfassend lassen sich die vielfältigen Zitate und Wiederaufnahmen von Worten Jesu als „kreative Fortschreibungen“ verstehen – ein Prozess, der mit offener Leserführung zum Nachdenken, zum vertieften Verstehen führen will. In diesem Sinne dokumentiert das JohEv selbst den ihm eigenen Verstehensprozess, macht ihn anschaulich, nachvollziehbar und wiederholbar. Die geistgeleitete nachösterliche Hermeneutik des Evangelisten (vgl. 3) lässt sich an den hier genannten Merkmalen schon rein sprachlich aufweisen. Nach Ansicht des Verfassers weisen diese und viele andere formale und inhaltliche Indizien darauf hin, das JohEv durchgehend als Fortschreibung (relecture) der urchristlichen Jesusüberlieferung (wohl auch in der Gestalt eines oder mehrerer synoptischer Evangelien) und als Um-Schreibung (réécriture) ein und derselben Grundkonstellation (vgl. das Täuferwort in 1,26: Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt) zu verstehen.41 4.3  Die Relation zwischen der Schrift und den Worten Jesu Schriftzitate und Herrenworte sind zwei herausragende Autoritätsinstanzen im Johannesevangelium, bei denen sich die Frage stellt, in welchem Verhältnis beide Größen zueinander stehen:42 Gibt es neben der Autorität der Worte Jesu eine eigenständige Autorität der Schrift oder wird letztere durch die Autorität Jesu absorbiert? Die folgende, knappe Durchsicht einschlägiger Stellen dient der Beantwortung dieser Grundsatzfrage: Bei den beiden Wiederaufnahmen von Worten Jesu durch den Erzähler in 18,9 (vgl. 6,39 [10,28–29; 17,12]) und 18,32 (vgl. 12,32–33) fällt die Zitationsformel auf: 18,9 ἵνα πληρωθῇ ὁ λόγος ὅν εἶπεν ὅτι 18,32 ἵνα ὁ λόγος τοῦ Ἰησοῦ πληρωθῇ ὃν εἶπεν

Die zweifache Verwendung von ἵνα πληρωθῇ verweist eindeutig auf die Zitationsformel der alttestamentlichen Schriftzitate im JohEv – beginnend mit 12,38 und sich fortsetzend in 13,18; 15,25; 17,12; 19,24; 19,36.43 Die Intention dieser Parallelisierung ist eindeutig: In der Passion Jesu „erfüllt“ sich das Wort der Schrift ebenso wie das Wort Jesu. Beiden kommt mithin ein analoger ‚kanonischer‘ Rang zu. In dieser Linie liegen auch die drei Fälle, in denen ein Schriftwort und ein Wort Jesu bewusst nebeneinandergestellt werden: 40 Vgl.

ebd. ausführlich 245–523.  Vgl. „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26), in diesem Band, S. 151–172; Ders., Relecture und réécriture (s. Anm. 20); Ders., In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000, 131–139. 42  Vgl. zu den folgenden Textbeobachtungen ausführlicher M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 20), 42–47. 43  Vgl. auch die Nähe von 7,38 (wie die Schrift gesagt hat) und 13,33 (wie ich gesagt habe). 41

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4.  „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30)

(a) In 2,17 und 2,22 werden ein Schriftzitat und ein Herrenwort in analoger Weise mit dem Hinweis auf die Erinnerung der Jünger eingeleitet. Während 2,17 in der Erzählung vorösterlich situiert wird, benennt der Erzählerkommentar in 2,22 ausdrücklich die nachösterliche Perspektive. 2,22 schließt auffälligerweise mit einer koordinierenden Wendung von „der Schrift“ und „dem Wort, das Jesus gesprochen hatte“ – zwei Größen, auf die sich der Glaube der Jünger richtet: 2,22 a Als er von den Toten auferweckt war, b erinnerten sich seine Jünger daran, c dass er dies gesagt hatte, d und sie glaubten der Schrift und dem Wort, e das Jesus gesprochen hatte.

Mit M. Theobald kann festgehalten werden: Das Wort Jesu in 2,19 bietet den sachgemäßen Schlüssel für das Verständnis des Verses Ps 69,10 („Der Eifer für dein Haus wird mich aufzehren“) in Joh 2,17.44 Das Wort Jesu ist dem Wort der Schrift hier insofern übergeordnet, als es eine bestimmte, auf den Leidensweg Jesu bezogene Auslegung der Schrift festschreibt. Dieses Auslegungsverfahren lässt jedoch nicht auf eine Enteignung der Schrift, wie sie mitunter für das JohEv angenommen wird, schließen. (b) In Joh 12,34 wird „ein aus der Schrift abgeleiteter Traditionssatz frühjüdischer Messianologie“45 („Der Messias bleibt in Ewigkeit“) mit einem Jesuswort („Der Menschensohn muss erhöht werden“) in kritischer Absicht konfrontiert. Entscheidend ist, dass nach johanneischem Verständnis beide Aussagen gerade nicht in Widerspruch zueinander stehen: Die in „dem Gesetz“, d. h. der Tora, begründete Erwartung des „Bleibens des Messias“ erfüllt sich für Johannes gerade in der Erhöhung des Menschensohnes als der Voraussetzung seines Bleibens, d. h. auch seiner neuen Gegenwart bei den Glaubenden (vgl. die joh Abschiedsrede).46 Schrift und Herrenwort koinzidieren auch hier. In der Erzählperspektive des JohEv versteht die „Menschenmenge“ ironischerweise nicht wirklich, was sie selbst über den erwarteten Messias sagt.47 (c) Auch in 15,20 und 25 werden ein Wort Jesu („Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr“) und ein Schriftwort („Grundlos hassten sie mich“) mit aufeinander abgestimmten Einleitungsformulierungen koordiniert, um den tröstendmahnenden Zuspruch Jesu abzusichern. Eine grundsätzliche Stellungnahme zum joh Schriftverständnis unter Einschluss der Autorität der Worte Jesu findet sich in 5,45–47:

 Vgl. M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 20), 43 f. 45. 46  Vgl. weiterführend „Abschied und neue Gegenwart“, in diesem Band, S. 369–394. 47  Der Evangelist verwendet hier sein Stilmittel der ironischen Fremdprophetie; vgl. weiterführend „Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium“, S. 349–368 in diesem Band. 44

45 Ebd.

5.  Das Johannesevangelium als „Schrift“

5,45 5,46 5,47

a b c d a b c a b

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Meint nicht, dass ich euch beim Vater anklagen werde; Der euch anklagt ist Mose, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. Denn wenn ihr Mose glauben würdet, so würdet ihr auch mir glauben; denn über mich hat jener geschrieben (ἔγραψεν). Wenn ihr aber seinen Schriften (γράμμασιν) nicht glaubt, wie werdet ihr dann meinen Worten (ῥήμασιν) glauben?

5,47 schlussfolgert von dem Unglauben gegenüber den Schriften des Mose auf den Unglauben gegenüber den Worten Jesu. Diese Schlussfolgerung basiert auf der vorausgesetzten These Jesu in 5,46: Die Schriften des Mose verweisen auf Jesus bzw. handeln von ihm, so dass der Glaube gegenüber der Schrift unmittelbar zum Glauben an Jesus führt. Implizit wird hier erkennbar, welches normative Verständnis der „Schrift“ bzw. „den Schriften des Mose“ im Sinne des JohEv zukommt: Sowohl für die Gegner Jesu wie für Jesus selbst (und damit für das JohEv) gibt es „Schriften des Mose“, deren kanonische Geltung vorausgesetzt wird. Umstritten ist nicht deren normative Geltung, sondern ihre angemessene Auslegung. Der Dissens entsteht genau da, wo Jesus nach 5,46c in Anspruch nimmt, dass die Schriften des Mose auf ihn verweisen. M. Theobald ist zuzustimmen, wenn er in dem Umgang mit den Herrenworten und ihrem Stellenwert im JohEv den „sich in Umrissen abzeichnenden Prozess“ erkennt, „in dessen Verlauf neben das sog. ‚Alte Testament‘ gleichrangig christliche Schriften als ‚Wort Gottes‘ treten“, was „letztendlich zum christlichen Kanon der zwei-einen Heiligen Schrift hinführt“.48

5.  Das Johannesevangelium als „Schrift“ Mit Blick auf die Überschrift des JohEv und den joh Sprachgebrauch von γραφή, γραφεῖν und βίβλιος werden im folgenden weitere Beobachtungen angeführt, die im Blick auf die Frage nach dem kanonischen Selbstverständnis des JohEv von erheblicher Bedeutung sind. 5.1  Die Überschrift des Johannesevangeliums Martin Hengel hat die These ausführlich begründet, dass die Überschriften der Evangelien nicht erst – wie es eine verbreitete Annahme ist – „lange nach deren Entstehung sekundär beigelegt“ wurden.49 Hengel nimmt vielmehr an, dass das MkEv schon unmittelbar nach seiner Abfassung von Rom aus unter dem Titel  M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 20), 46. Die vier Evangelien (s. Anm. 9), 23; vgl. Ders., Die Evangelienüberschriften, SHAW.PH 3, Heidelberg 1984. 48

49 M. Hengel,

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4.  „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30)

„Evangelium nach Markus“ verbreitet wurde und durch die Eröffnungswendung in Mk 1,1 die Namensgebung für die Evangelien geprägt hat.50 Trifft diese Annahme zu, dann können die vier analog formulierten (!) Evangelienüberschriften als erstaunlich frühe Dokumentation eines neuen kanonischen Bewusstseins verstanden werden, nach dem die vier Evangelien mit ihren jeweiligen Profilen gemeinsam das eine Evangelium sachgemäß zur Sprache bringen. Der kanonische Prozess über die Vierevangeliensammlung zum Vierevangelienkanon hat in den vier Evangelienüberschriften einen frühen Anhaltspunkt. Nach Hengel wurde die Überschrift: Κατα Ιωαννην, die in ihrer formalen Gestalt (ΚΑΤΑ …) schon durch die Verbreitung der Evangelien „nach Markus“, „nach Lukas“ und „nach Matthäus“ bereits eingeführt und anerkannt war, nicht erst sekundär über das JohEv gesetzt, sondern sie diente bereits von Beginn an zur Verbreitung dieses Evangeliums, eventuell seit der Schlussredaktion des Evangeliums durch die Herausgeber (vgl. Joh 21,24–25).51 5.2 Der johanneische Sprachgebrauch von γραφή, γραφεῖν und βιβλίον Das JohEv übernimmt den biblisch-jüdischen Sprachgebrauch und damit auch die kanonisch-theologische Einschätzung der „Schrift“. Zudem qualifiziert sich das JohEv selbst direkt und indirekt als „Schrift“. Dieses Urteil ergibt sich auch aus den folgenden Beobachtungen zum Sprachgebrauch von γραφή, γραφεῖν und βιβλίον im JohEv: 5.2.1  γραφή und γραφεῖν bezogen auf die Schrift Israels Im JohEv begegnen 12 Vorkommen von γραφή davon 10 mit dem bestimmten Artikel: ἡ γραφή (bes. in Zitateinleitungen), sowie zwei Vorkommen von γράμμα im Plural. Ohne eine genauere Bestimmung ihres Charakters oder ihres Umfangs werden „die Schrift“ bzw. „die Schriften“ (5,39) als selbstverständlich bekannte, anerkannte und normative Instanz vorausgesetzt. Dies ist nur möglich und sinnvoll, wenn bei den Adressaten eine Kenntnis „der Schrift“ bzw. mindestens eine Anerkenntnis der Autorität „der Schrift“ vorausgesetzt werden kann. In 2,22 geht es um den nachösterlichen „Glauben an die Schrift“ (vgl. die Wiederaufnahme von 2,17–22 in 20,9), in 5,39 um das „suchende Forschen in den Schriften“, in 5,47 um den Glauben an „die Schriften jenes (= des Mose)“, in 7,15 um Jesu Kenntnis und Lehre „der Schriften“ (γράμματα),52 in 7,38.42 um das, was „die Schrift sagt“ und in 13,18; 17,12 und 19,24.28.36–37 um die „Erfüllung der Schrift“. 10,35 betont die schrifttheologische Basisaussage von der „nicht auflösbaren“, mit Gottes Autorität ausgestatteten „Schrift“. 50  Vgl. M. Hengel, Die Evangelienüberschriften (s. Anm. 49), passim; Ders., Die vier Evangelien (s. Anm. 9), 29. 51 So auch U. Schnelle, Evangelium nach Johannes (s. Anm. 25), 321. 52 Von „Schriftgelehrten“ spricht das JohEv im deutlichen Unterschied zu den Synoptikern interessanterweise expressis verbis gar nicht; vgl. aber 8,3 (in dem eingefügten Passus 7,53–8,11).

5.  Das Johannesevangelium als „Schrift“

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Das Verbum γραφεῖν findet sich mit signifikantem Gebrauch als Zitateinleitung in 2,17 (ὅτι γεγραμμένον ἐστίν) und 6,35, sowie als spezifizierte Zitateinleitung in 6,45 (ἔστιν γεγραμμένον ἐν τοῖς προφήταις). Besonderes Gewicht kommt den Vorkommen von γραφεῖν in 19,19–22 und in 21,24–25 zu (s. im Folgenden). 5.2.2  Joh 19,19–22 Gegenüber dem Einwand „der Hohenpriester der Juden“ hält Pilatus an dem Kreuzestitulus „Der König der Juden“ fest: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben (bzw. bleibt geschrieben) (ὃ γέγραφα γέγραφα)“ (19,22). Ausweislich der drei Sprachen Hebräisch, Lateinisch und Griechisch soll diese von Pilatus selbst geschriebene Kreuzesaufschrift (19,19) weltweit gelesen werden: Der gekreuzigte Jesus von Nazareth ist der König der Juden. Im Sinne des Evangelisten wirkt Pilatus durch seinen Kreuzestitel unfreiwillig mit an der Verkündigung des Evangeliums von dem Gekreuzigten.53 Der Evangelist verwendet in 19,19 und 19,21 zweimal betont ἦν δὲ γεγραμμένον. In 2,17; 6,31.45; 10,34 und 12,14 ist das Wort γεγραμμένον (allerdings in Verbindung mit ἔστιν) terminus technicus der Schriftzitateinleitung. Im Gesamt des JohEv gewinnt das geschriebene Wort des Pilatus (vgl. 19,19–22) unaufhebbare, nicht zurücknehmbare und damit endgültige Bedeutung. 5.2.3  Joh 20,30–31 Im ersten Epilog des JohEv in 20,30–3154 gibt der Verfasser ausdrücklich Rechenschaft über sein Selbstverständnis, seine Absicht und den Charakter seines Werkes: 20,30 a Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor [seinen] Jüngern getan, b die nicht geschrieben sind in diesem Buch (ἃ οὐκ ἔστιν γεγραμμένα ἐν τῷ βιβλίῳ τούτῳ). 20,31 a Diese aber sind geschrieben (ταῦτα δὲ γέγραπται), b damit ihr glaubt, c dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist, d und damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen.

Der Evangelist Johannes hat ein βίβλος geschrieben, in dem er  – rhetorischen Konventionen folgend55 – betont, zwar nicht alle, wohl aber die aus seiner Sicht wichtigsten „Zeichen“ Jesu aufgeschrieben zu haben mit dem Ziel, die Leser/ ‑innen und Hörer/‑innen zum rettenden Glauben an Jesu messianische Identität und Gottessohnschaft zu führen. Mit den Wendungen ἔστιν γεγραμμένα und 53  Zur joh Kreuzestheologie vgl. die instruktiven Ausführungen von J. Frey, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, in: J. Zumstein / ​A. Dettwiler (Hgg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151, Tübingen 2002, 169–238. 54  Vgl. hierzu grundlegend Th. Söding, Die Schrift als Medium des Glaubens. Zur hermeneutischen Bedeutung von Joh 20,30 f, in: K. Backhaus / ​F. G. Untergaßmair (Hgg.), Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Paderborn 1996, 343–371. 55  Vgl. hierzu weiterführend ebd. 349–351.

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4.  „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30)

ταῦτα δὲ γέγραπται in V. 30–31 greift der Evangelist den im Corpus Evangelii durchgehend verwendeten terminus technicus des Schriftrekurses auf (vgl. 2,17; 6,31.45; 10,34 und 12,14). In die gleiche Richtung weist die Selbstbezeichnung des JohEv mit dem Stichwort: βίβλος. Der neutestamentliche Befund ist deutlich: Einerseits wird die Schrift Israels oder Teile der Schrift Israels als „Buch“ bezeichnet (vgl. Mk 12,26: Buch des Mose; Lk 3,4: Buch der Worte des Propheten Jesaja; Lk 20,42: Buch der Psalmen; Gal 3,10: Buch des Gesetzes),56 andererseits kennt das NT auch die biblisch-jüdische Vorstellung vom „Buch des Lebens“ (Phil 4,3; bes. Offb 3,5; 13,8; 21,27 u. ö.; vgl. auch das mit sieben Siegeln versiegelte „Buch“ in Offb 5,1–10 u. ö.). Schon das MtEv versteht sich ausdrücklich als „Buch des Ursprungs/ der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ (Mt 1,1) und beansprucht damit ebenfalls schon vor dem JohEv Schriftrang für sein Opus (vgl. LXX Gen 2,4; 5,1; Tob 1,1; Nah 1,1; Baruch 1,1; Prolog Jesus Sirach). Dem johanneischen Sprachgebrauch in 20,30–31 am nächsten kommt Offb 1,3.11; 22,7.9.10.18.19: In seiner Berufungsvision (Offb 1,9–20) erhält der Seher Johannes in 1,11 den Schreibbefehl: „Was du siehst, schreibe in ein Buch (γράψον εἰς βιβλίον) und schicke es den sieben Gemeinden …“ In Offb 1,3 und 22,7, den Rahmenteilen der Johannesoffenbarung, in denen die Adressaten unmittelbar angesprochen werden, finden sich die Seligpreisungen: „Selig, der Lesende und die Hörenden die Worte der Prophetie und die das in ihr Geschriebene bewahren, denn die Zeit ist nahe!“ (1,3) und „Selig, der die Worte der Prophetie dieses Buches bewahrt/hält!“ (22,7). Zum biblischen Hintergrund dieser Seligpreisungen sind DtnLXX 28,58–61 und 30,10 heranzuziehen – Verse, die nicht zufällig am Ende der Tora stehen: Dtn 28,58 Dtn 30,10

Wenn du nicht darauf hörst, all die Worte dieses Gesetzes zu tun, die in diesem Buch geschrieben stehen (τὰ γεγραμμένα ἐν τῷ βιβλίῳ τούτῳ): … … wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst, um seine Gebote, seine Ordnungen und seine Rechte, die im Buch dieses Gesetzes geschrieben stehen (τὰς γεγραμμένας ἐν τῷ βιβλίῳ τοῦ νόμου τούτου)…

Die Wendung γεγραμμένα ἐν τῷ βιβλίῳ τούτῳ in Joh 20,30 hat wichtige Vorgaben in der Theologie des Deuteronomiums: Gottes Stimme, seine Willensoffenbarung findet sich „aufgeschrieben in diesem Buch“. Dieses Schriftverständnis nimmt der Evangelist Johannes kongenial auf. Über den Textbefund des JohEv hinausgehend bietet Offb 22,18–19 dann eine ausdrückliche Textsicherungs‑ bzw. Kanonisierungsformel, die jedes Hinzufügen oder Entfernen von dem Geschriebenen in diesem Buch sanktioniert (vgl. Dtn 4,2; 12,32 [bzw. 13,1]; Koh 3,14; Jer 26,2; Spr 30,6; äthHen 104,10–12; Arist 310 f ).57  Vgl. auch: Lk 4,17.20; Apg 1,20; 7,42; Hebr 10,7.  Vgl. hierzu weiterführend: Ch. Dohmen / ​M .  Oeming, Biblischer Kanon (s. Anm. 8), 68– 89; A. Vonach, Die sogenannte „Kanon und Ptahotepformel“. Anmerkungen zu Tradition und Kontext einer markanten Wendung, Protokolle zur Bibel 6 (1997), 73–80. Zu instruktiven Beobachtungen einer kanonischen Lektüre von Offb 22,6–21 vgl. Th. Hieke / ​T.  Nicklas, „Die Worte der Prophetie dieses Buches“. Offenbarung 22,6–21 als Schlussstein der christlichen Bibel 56 57

5.  Das Johannesevangelium als „Schrift“

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Durch das Verbot jeder Kürzung oder Erweiterung wird der Umfang und Wortlaut eines Textkorpus definitiv festgelegt. Hans Windisch hat 1906 mit Blick auf die Johannesoffenbarung und auf das ganze NT geschrieben: „Die Schriften selbst tragen also Keime zu ihrer künftigen Kanonisierung in sich.“58 Auch wenn das JohEv keine ausdrückliche Textsicherungsformel verwendet, die gezielten Textsignale in 20,30–31 vermitteln unübersehbar einen kanonischen Anspruch – in dem Sinne, dass das JohEv sich selbst in die Kontinuität und Autorität der Schrift bzw. Schriften Israels stellt und eine ihnen gleichwertige Verlässlichkeit und Verbindlichkeit in Anspruch nimmt.59 Die Schlussfolgerung drängt sich auf: So wie der Evangelist selbst und mit ihm seine das jüdische Schriftverständnis teilenden Adressaten sich auf die Schrift Israels als unauflösliche, autoritative Instanz berufen (vgl. das auf die Schrift Israels bezogene γέγραπται im JohEv), so beansprucht er hier mit seinem JohEv eine neue, autoritative Instanz vorzulegen, die er selbst als „Schrift“ im emphatischen Sinn versteht (vgl das auf das JohEv selbst bezogene γέγραπται).60 5.2.4  Joh 21,24–25 Im zweiten Epilog des Johannesevangeliums Joh 21,24–25 geben der oder die Herausgeber des Johannesevangeliums 20,30–31 ergänzend und weiterführend ihre Intention zu erkennen. Joh 21 kann insgesamt als Nachtrag zum JohEv, das ursprünglich mit 20,30–31 schloss, angesehen werden.61 Freilich darf diese literarische Einschätzung nicht zu der beliebten Argumentationsfigur verführen, hier werde die hohe joh Theologie auf ein niedriges, kanonfähiges Niveau zurückAlten und Neuen Testaments gelesen, BThSt 62, Neukirchen-Vluyn 2003. Für eine zukünftige kanonische Schriftauslegung finden sich hier weiterführende Ansätze. 58  H. Windisch, Der Apokalyptiker Johannes als Begründer des neutestamentlichen Kanons, ZNW 10 (1909), 148–174, hier 166; übernommen aus: Th. Hieke / ​T.  Nicklas, Worte der Prophetie (s. Anm. 57). 59 Vgl. in diesem Sinne auch B. S.  Childs, Die Theologie der einen Bibel I. Grundstrukturen, Freiburg 1994, 334; Th. Söding, Schrift (s. Anm. 54), 344 und 371: „Joh 20,30 f gibt einen theologischen Anspruch des Evangelisten zu erkennen, der die spätere Kanonisierung des ‚Buches‘ nicht als aufgesetztes Fehlurteil der Alten Kirche, sondern als authentische Wirkungsgeschichte erweist.“ Vgl. auch A. Obermann, Die christologische Erfüllung der Schrift im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur johanneischen Hermeneutik anhand der Schriftzitate, WUNT II/83, Tübingen 1996, 422: Das JohEv „stellt … sich durch seinen Anspruch als geschriebenes Wort (20,31) selbst in die Nähe des Kreises der als heilig anerkannten Schriften“; M. Hengel, Schriftauslegung (s. Anm. 25), 283: Der Evangelist will „eine Art neuer ‚heiliger Schrift‘ verfassen …, die die bisherige Schrift ergänzt und abschließt“. 60  Vgl. hierzu schon A. Schlatter, Der Evangelist Johannes. Wie er spricht, denkt und glaubt. Ein Kommentar zum vierten Evangelium, Stuttgart 41975, 363: „γέγραπται überträgt denselben Gedanken, der dann an der Formel haftet, wenn sie vom alttestamentlichen Wort gebraucht wird, auch auf das Evangelium“ (übernommen aus A. Obermann, Erfüllung [s. Anm. 59]), 420 Anm. 78). 61 Vgl. insgesamt die ausführliche Diskussion bei J. Frey, Eschatologie I (s. Anm. 1), 445–451 (Lit.). Der neueste Versuch von Ulrich Busse, Joh 21 als ursprünglichen Bestandteil des JohEv zu bestimmen, überzeugt eher nicht; vgl. Ders., Johannesevangelium (s. Anm. 14), 260–271 (Lit.).

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4.  „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30)

gebogen und auch inhaltlich zurückgenommen.62 Inhaltlich lässt sich Joh 21 als narrative Fortschreibung der joh Theologie, besonders des Osterglaubens, verstehen.63 21,24 a b c d e 21,25 a b c d e d' f

Dies ist der Jünger, der Zeugnis ablegt über diese (Dinge) und der dies geschrieben hat (ὁ γράψας), und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist. Es gibt aber auch (noch) vieles anderes, was Jesus getan hat. Wollte man dies eins nach dem anderen aufschreiben (γράφηται), dann würde, meine ich, die Welt die Bücher (βιβλία) nicht fassen, die zu schreiben wären (γραφόμενα).

21,24 erklärt den geliebten Jünger zum Zeugen, Bürgen und Autor des gesamten JohEv und bestärkt wiederum dieses neue Zeugnis durch das explizite Bekenntnis der Herausgeber („wir wissen“) zur Wahrhaftigkeit dieses Zeugnisses des geliebten Jüngers (vgl. 19,35). Die Herausgeber verorten sich selbst in der Zeugniskontinuität des geliebten Jüngers (vgl. das joh „wir“ in 1,14.16; 3,11; 1 Joh 1,1–4 u. ö.),64 der wiederum in denkbar innigster Gemeinschaft mit Jesus vorgestellt wird (13,23; vgl. 1,18). Das joh Leitthema der martyria wird in 21,24 nachdrücklich hervorgehoben (vgl. u. a. 5,31–47; 19,35).65 Die Hyperbel in 21,25 nimmt die Aussage aus 20,30 auf und spitzt sie weiter zu.66 Damit aber wird das Selbstverständnis des JohEv als „Buch“ bzw. Schrift mit kanonischem Rang aus 20,30–31 in 20,24–25 vorausgesetzt und fortgeschrieben: Das in 20,30–31 implizit enthaltene Moment des Zeugnisses wird in 21,24 expliziert und an die joh Theologie des Zeugnisses zurückgebunden: Das in der liebenden Selbstoffenbarung des Vaters verwurzelte, in der Sendung des Sohnes vermittelte, in der Schrift Israels verheißene und durch berufene Zeugen wie den Täufer und besonders den geliebten Jünger zuverlässig tradierte Zeugnis liegt jetzt in dem geschriebenen „Buch“, dem JohEv, vor. Das JohEv ist das in Schrift geronnene Zeugnis der rettenden Lebens-Offenbarung Gottes. 62  Treffend J. Frey, Eschatologie I (s. Anm. 1), 451: Dieses Kapitel lässt sich „nicht als Umdeutung oder Verfälschung der ‚ursprünglichen‘ Lehren des Evangelisten disqualifizieren oder beiseiteschieben“. 63 Vgl. hierzu überzeugend Th. Söding, Erscheinung, Vergebung und Sendung. Joh 21 als Zeugnis entwickelten Osterglaubens, in: R. Bieringer / ​V. Koperski / ​B. Lataire (Hgg.), Resurrection in the New Testament (FS J. Lambrecht), BEThL 165, Leuven 2002, 207–232 (Lit.). 64  Vgl. hierzu weiterführend H.-J. Klauck, Der erste Johannesbrief, EKK XXIII/1, Zürich 1991, 73–77. 65  Vgl. hierzu grundlegend die Monographie von J. Beutler, Martyria. Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Zeugnisthema bei Johannes, FThS 10, Frankfurt a. M. 1972. 66 Analogien aus dem religionsgeschichtlichen Umfeld verzeichnet U. Schnelle u. Mitarb. v. M. Labahn, M. Lang, Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Band I/2. Texte zum Johannesevangelium, Berlin 2001, 855 f. 859.

6.  Auswertung: Kanonisches Bewusstsein im Johannesevangelium

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6.  Auswertung: Kanonisches Bewusstsein im Johannesevangelium Im Rückblick auf die hier vorgestellten Beobachtungen zum Selbstverständnis des JohEv ergibt sich eine erstaunlich selbstbewusste Position. Die Einschätzung E. Käsemanns, nach der die Kanonisierung des JohEv „errore hominum et providentia Dei erfolgt“ ist, kann sich nicht wirklich auf das Selbstzeugnis des JohEv berufen. Auch die verbreitete Annahme einer sekundären Redaktion des JohEv, die darauf zielte, das JohEv durch inhaltliche Korrekturen und neue Positionierungen allererst kanonfähig zu machen, hat keinen ausreichenden Anhalt am Text. Nach der hier vorgetragenen Interpretation lässt sich im JohEv selbst ein kanonischer Anspruch ausmachen, der innertextlich als Ausgangspunkt für den früh einsetzenden kanonischen Prozess gewertet werden kann. Dieses Urteil geht aus den folgenden Beobachtungen hervor: 1. In dem Maße wie die Hypothesen der vollständigen literarischen Unabhängigkeit des JohEv von den synoptischen Evangelien und der soziologischen und/ oder innerkanonischen Sonderrolle des Johannesevangeliums an Überzeugungskraft verlieren, wird der Blick frei für ein Zuordnungsverhältnis zwischen den synoptischen Evangelien und dem JohEv, dass sich bei allen joh Eigenheiten und Spannungen als Ergänzung und Vertiefung der urchristlichen Jesusüberlieferung deuten lässt. Ein Verdrängungswettbewerb zwischen den jeweils älteren und den jeweils jüngeren Evangelien lässt sich textlich jedenfalls nicht belegen. 2. Die konkrete joh Schriftauslegung sowie die joh Schrifttheologie verweisen auf die Anerkennung und Gültigkeit der Schrift Israels, die als autoritative Instanz für das Gesamtzeugnis des JohEv schlechthin fundamental ist. Diese Vorgabe joh Theologie wird auch durch die weit vorangetriebene nachösterlich-christologische Fokussierung der Schrift auf ihr Zeugnis für Gottes eschatologische Selbstoffenbarung in Jesus Christus hin nicht aufgegeben. Freilich ist eine Zustimmung zu dieser Schriftauslegung an den Osterglauben, wie ihn das JohEv versteht, gebunden. Ein solcher hermeneutischer Zirkel ist biblischem Glauben jedoch nicht fremd. Das JohEv sieht sich selbst grundlegend in Kontinuität und Übereinstimmung mit dem in der Schrift Israels bezeugten Gotteswillen und ‑handeln. 3. Die Autorität Jesu im JohEv, die in seiner einzigartigen, seine Identität bestimmenden, schon voranfänglichen Gottunmittelbarkeit und Gottesgemeinschaft begründet ist, teilt sich auch seinen Worten mit. Den Herrenworten kommt deshalb im JohEv eine erheblich herausgehobene Stellung zu, die sprachlich durch Einführungsformeln, Selbst‑ und Fremdzitate von Jesusworten sowie durch ihre herausgehobene, strukturierende Stellung im Kontext markiert wird. Die auffällige und mehrfache Parallelisierung von Schriftworten und Herrenworten im JohEv erweist den Rang, den der Evangelist den Herrenworten zukommen lässt: Wie die unauflösbare Schrift kommt den Herrenworten aus eigener Autorität wie aufgrund des Zeugnisses der Schrift eine ‚kanonische‘ Autorität zu. Eine gewisse Asymmetrie zwischen der Schrift und den Herrenworten liegt nicht in der Frage ihrer jeweiligen Geltung, sondern in dem angenommenen Zeugnis-

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4.  „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30)

charakter der Schrift für die legitime Auslegung des Willens Gottes durch den gesandten Sohn. Jedenfalls wird im Umgang mit den Herrenworten im JohEv wird „ein entscheidender Ansatzpunkt für die neutestamentliche ‚Schrift‘-Werdung“67 erkennbar. 4. Ein starker Impuls für die Selbsteinschätzung des JohEv ergibt sich aus dem Textbefund, der nicht nur die Herrenworte selbst, sondern das JohEv insgesamt selbst als „Schrift“ in Analogie zur Schrift Israels bestimmt: Die frühen Evangelienüberschriften, die durch ihre gleichförmige Gestalt das Mit‑ und Zueinander der vier neutestamentlichen Evangelien bezeugen, haben einen gut erkennbaren Anhalt in den Evangelien selbst. So versteht sich das JohEv ausweislich der Verwendung von γραφή und γραφεῖν sowohl für die Schrift Israels als für das eigene Werk (vgl. bes. 20,30–31; 21,24–25) als in Schrift geronnenes, verbindliches Zeugnis der eschatologischen Selbstoffenbarung Gottes.68 5. Insgesamt erweist sich der Evangelist Johannes als Schrifttheologe in einem doppelten Sinn: als Ausleger der Schrift Israels und als Verfasser eines neuen „Buches“, das in Analogie zur Schrift Israels Gottes Offenbarung, hier seine eschatologische Selbstoffenbarung in seinem Sohn Jesus Christus, verbindlich bezeugt und vergegenwärtigt. Johannes beansprucht für sein Evangelium kanonische Autorität.

 M. Theobald, Herrenworte (s. Anm. 20), 47.  Vgl. J. Frey, Zur johanneischen Deutung des Todes Jesu, ThBeitr 32 (2001), 346–362, hier 352: „Komponiert in Anlehnung an die Schrift rückt es (scil. das JohEv) selbst in die Funktion einer ‚heiligen‘ Schrift, die zu einer vertieften, z. T. auch radikal veränderten Sicht des Heilswerks Jesu anleitet. Diese historische Einsicht zieht die interpretatorische Aufgabe nach sich, das Johannesevangelium auf dem Hintergrund der von ihm rezipierten Traditionen als eine die ältere Evangelientradition und ihre Kenntnis voraussetzende, bewusst eklektische, im ‚anamnetischen‘ Wirken des Geistes gründende ‚Relecture‘ zu lesen.“ 67 68

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Nachweise der Erstveröffentlichung Im nachfolgenden Verzeichnis finden sich die Angaben zur Erstveröffentlichung der Beiträge des vorliegenden Bandes sowie deren Entstehungsbedinungen. Bei den Kapiteln I.1 und III.4 handelt es sich um bisher unveröffentlichte Beiträge des Autors.

II. Relecture und réécriture 1. „Mitten unter euch steht er, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26). Die Messias-Regel des Täufers als johanneische Sinnlinie – aufgezeigt am Beispiel der relecture der Jüngerberufungen in der Begegnung zwischen Maria von Magdala und Jesus, in: MThZ 48 (1997), 103–121. 2. Relecture und réécriture: Neue Paradigmen zu Methode und Inhalt der Johannesauslegung aufgewiesen am Prolog 1,1–18 und der ersten Abschiedrede 13,31–14,31, in: ThPh 75 (2000), 1–29. Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Autor beim Rhein-Main-Exegetentreffen am 16. 1. ​1999 in St. Georgen / ​Frankfurt a. M. gehalten hat. Die intensiven Rückmeldungen zum Begriff „relecture“ haben die im Folgenden neu aufgenommene Unterscheidung von „relecture“ und „réécriture“ angeregt. In dieser neuen Fassung kam der Beitrag auch auf der Jahrestagung des Collegium Biblicum München am 17.-18. 9. ​1999 zum Vortrag. Inhaltlich stellt dieser Beitrag einige Ergebnisse der Habilitationsschrift des Verfassers zur Diskussion: K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000.

III. Ekklesiologie, Metaphorik und Ethik 1. Kinder Gottes und Freunde Jesu. Beobachtungen zur johanneischen Ekklesio­ logie, in: R. Kampling / ​Th. Söding (Hgg.), Ekklesiologie des Neuen Testaments (FS K. Kertelge), Freiburg i. Br. 1996, 184–211. 2. Mündiger Glaube. Zur Architektur und Pragmatik johanneischer Begegnungsgeschichten: Joh 5 und Joh 9, in: U. Mell / ​D. Sänger (Hgg.), Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur (FS J. Becker), WUNT 198, Tübingen 2006, 75–105.

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Nachweise der Erstveröffentlichung

3. Die Brotrede Jesu in Joh 6,1–71. Exegetische Beobachtungen zu ihrem johanneischen Profil, in: ZKTh 123 (2001), 35–55. Diesem Aufsatz liegt ein Referat des Verfassers zugrunde, das während eines Seminars zum Johannesevangelium am 10.‑12. 3. ​2000 in Straßburg zum Vortrag kam.

5. „Ein Beispiel habe ich Euch gegeben …“ (Joh 13,15). Die Diakonie Jesu und die Diakonie der Christen in der johanneischen Fußwaschungserzählung als Konterkarierung römischer Alltagskultur, in: M. Labahn / ​O. Lehtipuu (Eds.), People under Power. Early Jewish and Christian Responses to the Roman Empire, Early Christianity in the Roman World 1, Amsterdam 2015, 159–184. Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung meiner Antrittsvorlesung als Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller Universität Jena am 19. 6. ​2012. Für die Unterstützung und freundschaftliche Wegbegleitung bei meiner Umhabilitation bin ich besonders Prof. Dr. Karl-Wilhelm Niebuhr zu großem Dank verpflichtet. Mein Dank gilt zudem dem gesamten Kollegium der Theologischen Fakultät in Jena und dem Oberseminar NT in Jena.

6. „Eine größere Liebe hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevangelium, in: J. Frey / ​U. Schnelle (Hgg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions‑ und traditionsgeschichtlicher Perspektive, WUNT 175, Tübingen 2004, 413–439.

IV. Christologie 1. Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium, in: ZNW 89 (1998), 235–255. 2. Abschied und neue Gegenwart. Exegetische und theologische Reflexionen zur johanneischen Abschiedsrede Joh 13,31–17,26, in: EThL 75 (1999), 332–358. 3. Das hohepriesterliche Gebet Jesu. Exegetisch-theologische Beobachtungen zu Joh 17,1–26, in: TThZ 109 (2000), 199–218. 4. „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30). Zum theologischen Potential und zur hermeneutischen Kompetenz der johanneischen Christologie, in: G. Van Belle / ​J. G. van der Watt / ​P. Maritz (Hgg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel, BEThL 184, Leuven 2005, 315–345. Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeite und erweiterte Fassung eines Vortrags im Johannes-Seminar der SNTS-Conference am 1. 8. ​2003 in Bonn. Ich danke den beiden Vorsitzenden, Prof. Dr. G. van Belle (Leuven) und Prof. Dr. J. G. van der Watt (Pretoria), für die vertrauensvolle Einladung und die gute Zusammenarbeit. Prof. Dr. J. G. van der Watt hat in der genannten Seminarsitzung freundlicherweise eine response vorbereitet und damit die ergiebige Diskussion eingeleitet.

Nachweise der Erstveröffentlichung

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V. Immanenz und Mystik 1. „Rabbi, wo wohnst du?“ Zur Theologie der Immanenz-Aussagen im Johannesevangelium, in: BiLi 74 (2001), 240–253. 2. Mystik im Johannesevangelium? Beobachtungen zu einer umstrittenen Fragestellung, in: J. Eckert / ​M. Schmidl / ​H. Steichele (Hgg.), Pneuma und Gemeinde. Christsein in der Tradition des Paulus und Johannes (FS J. Hainz), Düsseldorf 2001, 295–324.

VI. Israel und Schrifttheologie 1. Antijudaismus im Johannesevangelium? Ein Gesprächsbeitrag, in: R. Kamp­ling (Hg.), „Nun steht aber diese Sache im Evangelium …“ Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, Paderborn (1999) 22003, 151–181. Dieser Aufsatz ist Prof. Dr. H.  Schürmann (Erfurt) gewidmet, der 1998 seinen 85. Geburtstag und den 60. Jahrestag seiner Priesterweihe feiern durfte.

2. Zwischen Buchstabe und Geist. Impulse der Johannesinterpretation Erik Petersons, in: B. Nichtweiß (Hg.), Vom Ende der Zeit – Geschichtstheologie und Eschatologie bei Erik Peterson. Symposion Mainz 2000, Religion, Kirche, Gesellschaft. Fundamentaltheologische Studien 16, Münster 2001, 101–121. 3. „Die unauflösbare Schrift“ (Joh 10,35). Zur Auslegung und Theologie der Schrift Israels im Johannesevangelium, in: Th. Söding (Hg.), Das Johannesevangelium – Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen, QD 203, Freiburg i. Br. 2003, 146–177. Diesem Beitrag liegt ein erheblich kürzerer Erstentwurf zugrunde, der beim SNTS-Meeting in Pretoria 1999 in dem von Thomas Söding und Matthias Müller geleiteten Seminar „Inhalte und Probleme einer neutestamentlichen Theologie“ als Response zu Marten J. J.  Menkens Vortrag: „Observations on the Significance of the Old Testament in the Fourth Gospel“ (publiziert in: Neotest. 33 [1999], 125–143), zum Vortrag kam.

4. „Geschrieben in diesem Buch“ (Joh 20,30). Beobachtungen zum kanonischen Anspruch des Johannesevangeliums, in: M.  Labahn / ​A .  Strotmann / ​K .  Scholtissek (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium (FS J. Beutler), Paderborn 2004, 207–226. Die Ausführungen dieses Beitrags widmet der Verfasser mit Freude und Dank Johannes Beutler SJ zu seinem 70. Geburtstag, einem international renommierten Bibliker und Johannesforscher, den das Corpus Johanneum seit seiner Dissertation nicht mehr losgelassen hat.

Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl) 1. Bibel 1.1 Schriften des hebräischen Kanons Genesis allg. 89 1,1 61 2,7f 27.81 3,24 27.81 27 382 28,10–22 24 28,12 534 47–50 382 Exodus allg. 82.89.274 12 284 12,10 535 12,46 535 16,4 266.268 16,14–15 268 20,2 76 20,5 77 33,11 331 40 82 Leviticus 19,18 331 26,13 338 Numeri 9,12 535 21 90.537 Deuteronomium 6,4 76 13,7 331 18,15–18 541 19,5 535 28,58–61 568 30,10 568 1. Samuel 20,8 331

2. Samuel 7,12 534 16,16f 331 1. Könige 2 382 Jesaja allg. 89 5,1–7 219 6,8–10 92.538 6,10 91.534.536 33,5 443 40,3 91.534.538 41,4 535 41,8 331 41,10 538 41,13 538 42,1 116 43,10 535 45,13 268 46,4 535 48,12 535 52f 90–92 52,6 535 53,1 91.534.538 54,13 534.538 Jeremia 2,21 219 7,12 443 23,24 101 31,34 538 38,33–34 268 Ezechiel allg. 89 34 219 Hosea 11,1 219 Sacharja allg. 89

648

Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl)

9,9 534.538 12,10 534.538 Psalmen allg. 89 2,4 443 6,4–5 534 11,6 338 22,19 534.538 34,21 534.538 35,14 331 35,19 538 41,10 534.538 69,5 534.538 69,10 534.538.564 72,16 266 77,16.20 538 77,24 268 78,16.20 534 78,24 534.538 80,9–12.15f 219 81,6 549 82,6 535.538 89,37 534 93,1 338 113,6 443 118,25–26 538.543 Hiob 22,26 338 Proverbien 8 62 14,20 331 Hoheslied 3,1–4 46 8,13 27.81 Kohelet allg. 26 1,9 266 Nehemia 9,15 268 2. Chronik 20,7 331

1.2 Zusätzliche Schriften der Septuaginta-Überlieferung Judith 8,19 331

Weisheit Salomos 1,4 443 5,1 338 7,24 443 7,27f 331.443 8,4 461 10,16 443 13,1–9 442 Jesus Sirach allg. 332 1,15 443 6, 5–17 332 12,8–12 332 19,6–19 332 22,9–26 332 24,3–12 446 24,17 219 27,16–21 332 37,1–6 332 43,27f 442 2. Makkabäer 6–7 334 7,27 248 3. Makkabäer 2,30 461 4. Makkabäer 224 6,27–29 334 17,20–22 334

1.3 Neues Testament Matthäus allg. 9–11 1,23 73 12,29f 72 18,20 73 28,20 73 Markus allg. 9–11 2,1–12 233 7,27 504 14,22–25 280.299 Lukas allg. 9–11 11,2 72 22,14–30 369

Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl) Johannes 1,1–18 60–71.73.115f.181–185 1,1 73f.427 1,1f 39.54f.61–64.114–119 1,2f 64 1,4f 64f.183.451 1,6–8 66f 1,11–13 65f.82.216f.318 1,14 34.66.74.101.291f.446 1,15 39.52.54f.66f.114–119 1,16f 66 1,18 34.73f.427 1,23 534.538 1,26 38.51.151–172.263f.355 1,29 115 1,30 39.52.114–119 1,33f 135 1,34 116 1,35–51 45f.84.158f.445f 1,45–50 42f 1,45 547 1,50f 24.75.446f.534 2,23–3,36 80 2,1–12 26.34f.138.292.354–356 2,17 534.538.564 2,22 564 3,1–36 22–24.79 3,8 5 3,10 249 3,14f 90.537 3,16 73.129.436 3,27–29 26.356 3,29 135 3,34–35 426 4,1–42 84.92–94.270f–272 4,9 137 4,22 97.137 4,23 108–113 4,23f 137 4,25 26.235.356f 4,43–54 138 5,1–47 98f.130.135f.230–256 5,1–16 230–256 5,1–9 138 5,15 27.168.103–105.233–241 5,17–30 103–105 5,17–19 421f 5,18 76 5,19 100 5,20–22 426 5,25 108–113 5,27 426 5,36–47 260–262.536 5,37–40 502.544–546

649

5,38 451 5,39 444.509f 5,45–47 515f.546–548.564f 6,1–71 22–24.80.257–278.279– 302.457 6,1–15 138 6,16–21 138 6,27 116 6,28f 127 6,31–33 534 6,31 267f.538 6,35 23.257–279.301.425f 6,44f 502.534.538 6,51–58 257–278.279–302 6,56 457 6,62 39.54f.114–119 6,65 301 6,66f 236 7,1–52 92–94 7,4 337 7,21–24 241–243.548 7,26 338 7,27 26.159.357f 7,28 100 7,38 534.538 7,42 534 8,21–59 84 8,17 535 8,22 27 8,31–59 95 8,31 451 8,44 97.100.137.414.451 8,48–59 117 8,55 100 8,56–57 536 8,58 39.54f.114–119 9,1–10,28 98f 9,1–41 77.130.135f.138.230– 256.362–364 9,2f 77 9,22 100.489–492 9,40 29 10,1–42 219.275–277.400.428–433 10,1–18 61 10,10 130.561 10,16 134.215 10,17f 129 10,24 430 10,30 73f.301.412–438 10,33.36 76 10,33 75.423.431 10,34–36 548f 10,34 535.538 10,35 444.527–553.560

650

Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl)

10,38 73.301.431.432.447 11,1–57 86.130 11,1–44 138 11,10 451 11,46 236 11,47–53 20f.26.28.86f.358–360.406f 11,49 349–368 11,52 215f 11,55–12,50 371f 12,1–50 90–92 12,1–11 27 12,13 534.538 12,15 534.538 12,20–36 388f 12,20f 13 12,24–26 130 12,26 303.319 12,27 534 12,32 505.537 12,34 534.564 12,38–41 91f.534.538 12,41 536 12,42 100.489–492 12,44–50 388f 12,45 75.426 12,46 451 13,1–17,26 77–80.111f.177f.​369–394 13,31–14,31 45f.186–197.372 13,1–38 130–132 13,1–20 18f.25.56f.​137f.​302.​303– 322 13,1 304f.372 13,8 302 13,15 130.303–322 13,16 210 13,18 534.538 13,20 210.318 13,34f 129 14,2f 112.187–189.374.454 14,6 154f.202 14,9 75.426.428 14,10f 73.301.447 14,15–26 189–192 14,16f 77 14,17 450 14,18–24 46 14,20 123.450 14,23 112.123.454 14,25f 77 14,26 74 14,28 75 14,31 22.111f.373f 15,1–16,4d 372 15,1–27 130.275–277.291

15,1–17.21–23 73.219.450–456 15,1–8 454f 15,1 22 15,4f 123.450 15,9–17 340–345 15,9f 451 15,13 129.456 15,25 534.538 16,2 100.489–492 16,4b–33 112.372 16,12–15 77.235 16,21f 112 16,25 235 17,1–26 137.372.395–411 17,3 72.75.422 17,5 39.54f.114–119 17,11 436 17,20–26 134 17,20–23 137.255f 17,21 123.437.447.450 17,22 436 17,23 437 17,24 39.54f.114–119 17,26 437 18,28–19,16 98.336f 18,9 563 18,13 491 18,15–18 218 18,19–24 218 18,20 338f 18,28–32 218 18,32 563 19,4–5 41 19,7 423 19,12 142 19,13 41 19,14 29.360–362 19,19–22 567 19,23–24 407–409 19,24 534.538 19,25–27 45.215.219f.318.389f 19,30 82 19,34 291f 19,36 534f.538 19,37 534.538 20,1–18 27.45f.81. 151–172.445f 20,17 389f 20,21–23 134.389f 20,22 82 20,28 73f.77.235.427 20,30 527–553 20,30f 51.102.136.140.417– 419.567–569

Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl) 21,15–23 389f 21,24f 102.136.140.566.569f Apostelgeschichte 3,26 504 13,46 504 14,15 72 15,19f 72 19,26 72

1. Thessalonicherbrief 1,9f 72 4,9–12 225 1. Timotheusbrief 2,5 72 Titusbrief 2,13 73

Römerbrief 1,16 504 1,23–25 72 3,25 290 4,23–24 547 8,1–17 74 8,10 73 9,5 73 11,25–36 508

Hebräerbrief 1,1–4 73 1,8f 73

1. Korintherbrief 8,4–6 72 9,10 547 10,14–22 286 11,17–34 286f.290.299 11,20 281 11,23–26 280

2. Petrusbrief 1,1 73

2. Korintherbrief 5,17 442 12,5–10 462 13,3.5 73 Galaterbrief 2,20 73.442 3,20 72 4,19 73

Jakobusbrief 2,23 331 1. Petrusbrief 1,10–12 542

1. Johannesbrief allg. 221f 1,1 229 2,20f 225 2,26f 225 2,28 338 3,16 129 4,8.11 129 4,8.16 73 4,17 338 5,20 73 2. Johannesbrief 4 451

Epheserbrief 4,6 72

3. Johannesbrief 6.9f 222

Philipperbrief 2,6–11 73 4,11–12 462 4,12 461 4,13 461

Johannesapokalypse 1,3.11 568 1,9–20 568 1,8 73 21,6 73 22 568 22,13 73

Kolosserbrief 1,15–20 73

651

652

Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl)

2. Frühjüdische Autoren und Texte 2.1 Philo von Alexandrien

2.2 Flavius Josephus

De Abrahamo 50 333 129 331.333 235 333

Contra Apionem 2,267 461

De plantatione Noe 104–106 332f 106 333

2.3 Weitere jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit Apokalypse Abrahams 9,6 331

De sacrificiis Abelis et Caini 62 461 93 535

Buch der Jubiläen 15,33 486 19,90 331

De sobrietate 5,6 331.333

4 Esra 7,98 338

De praemiis et poenis 154 333

1. Henochbuch (äthiopisch) 61,1–13 338 61,15–16 338 69,26 338

De specialibus legibus 1,69–70 333 1,206–207 311 1,321 338 De virtutibus allg. 332 179 333 De vita Mosis allg. 333 1,147–162 334 1,156 333 1,283 535 2,138 310f

Josef und Aseneth allg. 270.285 7,1 311 12,7–10 486 20,1–5 311 Testamente der Zwölf Patriarchen Testament Benjamins 6,4 443 Testament Dans 5,1 443 5,5–6 486

Hypothetica 8,7,8 333

Testament Josefs 10,2 443

Legum allegoriae 3,143 311 3,182 333

2.4 Schrifttum aus Qumran

Quis rerum divinarum heres sit 14 338 21 331 27 338 83 333

1QpHab (Pescher Habakuk) I,1–2 539 VII,1–5 539f 4QpNah (= 4Q169) 539f 1QH (Hodayot) VII,13 331

Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl) 1 QSa (Gemeinderegel) II 486

CD (Damaskusschrift) III,3f 331

4Q174 III 486

2.5 Rabbinisches Schrifttum

4Q176a I,10 331 4Q372 Frg. 1,21

331

4Q525 Frg. 5,12

331

Babylonischer Talmud Megilla 29a 443 mAv 3,7

444

GenR 82 zu 35,12 444 Targum Habakuk 542

3. Griechisch-römische pagane Autoren und Werke Anthologia Graeca

Diogenes Laertius

13.68 311

VI 20–81 VI 69 VII 130 X 121 X 148

Aristoteles allg. 326–328 Eudemische Ethik VII 326–328 Nikomachische Ethik I 7,15 326 II 7,12 351 IV 3,27–30 338 IV 6,9–7,17 351 VIII–IX 326–328 VIII 10,6 339 VIII 15,5 339 IX 2,9 338f IX 8 330f X 10 326 Magna Moralia II 11–17

326–329

Poetik 11 251 Politik I 2

328

Rhetorik 1380b36–1381a1 327 Catull Gedichte 64.158–163 310f

441 338 331 331 331

Epiktet Dissertationes II 7,2–3

331

Enchiridion 32,2 331 Herodot Historien 2.172–175 310 6.19.2 310 Homer Illias 15,494–499 330 Odyssee 17,218 327 19.317–324.343–  348.386–388 310 Cicero Laelius de amicitia 19 329 20 329

653

654

Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl)

Tusculanae disputationes I 89 330 I 102 330 V 92 441 De finibus bonorum et malorum 5,65 333 De legibus 1,33–34 333 Hortensius sive de philosophia 2,7 335 Orator II 67,270 III 3,203

350 351

Diodorus Siculus X 4,3–6 XI 4,4

331 330

Epikur 328 Dissertation IV 1,154–155

330

Euripides 330 Horaz Carmen II 2,13–24

330

Lysis 214d 327 223b 326 Menexenos 237a–b 330 Menon 89f 248 Nomoi 716cd 331 Politeia 336b7–337a7 350 Symposion 7 (=179b) 330 179e–180a 330 193b 331 207a–b 330 208d 330 216d7–e5 350 Theaitetos 142d 248 146b 248 155d 441 Timaios 53d 331 Plinius

Jamblich De vita Pythagorica 235f 331

Naturalis historia 24.103 311 Plutarch

Livius Ab urbe condita 8,9,4–10 330 Lukian Toxaris 6 331 36 331 37 331 Philostratus Vita Apollonii VII 14

Euthydemos 306d 248

331

Platon allg. 326

allg. 329 Adulator 337 Moralia 225 330 De fraterno amore allg. 224.329.339 3 329.339 De amicorum multitudine 329 Pelopidas 21,2–3 330 Vitae parallelae Alexander 14 441

Register der antiken Texte und Stellen (in Auswahl) Pompeius 73,6 310

Caligula 26.2 310

Philodemus

Tacitus 58 325

Lib 337 Quintilian Institutio Oratoria VI 2,15 350f IX 2,44 350f Seneca Epistulae morales ad Lucilium 3; 6; 9 329 9,10 331 Quomodo amicitia continenda sit 329 Sueton

Vespasian 4 325 Tacitus Historiae 3,38 325 Thukydides Historiae 2,35–46 330 Vergil Aeneis V 812–815

330

Augustus 66 325

4. Frühchristliche und patristische Autoren und Werke Apophthegmata Patrum 843 (= Sisoes 40) 478

Hieronymus In Gal. 5,19ff

1 Clemensbrief 55,1 330

Irenäus Adversus Haereses III 11,8 512.556

Didache allg. 289f 9–10 289f Eusebius Historia ecclesiastica 6.14,7 31 Gregor der Große In Ezech. 1,19 526

525

Traditio Apostolica allg. 280 Nag Hammadi Heraklion Protreptikos 50,14–15 5

655

Register der Autorinnen und Autoren (in Auswahl) Ådna, J. ​285 Agus, A. R. E. ​444 Altmann, P. ​284 Asiedu-Peprah, M. ​98f Barth, K. ​462f Barton, St.  C. ​225f Bauckham, R. ​557f Becker, H. ​387 Becker, J. ​37.​112.​192f Bennema, C. ​80.​128 Berger, K. ​279.​341.​415.​463f Betz, H.  D. ​283 Beutler, J. ​21.​36.​492f Bieringer, R. ​95–97 Blank, J. ​84.​109f.​410 Blomqvist, J. ​287 Blomqvist, K. ​287 Booth, W.  C. ​353 Bormann, L. ​288f Bousset, W. ​463 Brendsel, D.  J. ​91f Brown, R.  E. ​235 Brumlik, M. ​414.​484.​493 Buber, M. ​524 Bühner, J.  A. ​410 Bultmann, R. ​15–20.​50.​58.​84.​106f.​194.​231.​ 280.​372.​387.​402.​463.​513 Busse, U. ​21 Byers, A.  J. ​124 Carson, D.  A. ​235 Culpepper, R.  A. ​52.​69.​233f.​250.​353.​378 De Boer, M. ​12 De la Potterie, I. ​465 De Lubac, H. ​522 Dettwiler, A. ​36f.​177f.​200.​374f.​383f.​399 Dietzfelbinger, Chr. ​503.​532 Dodd, Ch.H. ​463 Dohmen, Chr., ​524 Duff, P. ​286 Eckhardt, B. ​283 Elliott, J.  H. ​220 Engberg-Pedersen, T. ​120

Ernst, J. ​465 Evans, C.  A. ​91 Flusser, D. ​490 Frey, J. ​8.​11f.​20.​30.​59.​87f.​90.​105–113.​195.​ 284f.​296f.​341f Fischer, G. ​188 Gehlin, A. ​174 Genette, G. ​377.​379 Gerson, J. ​466 Gniesmer, D.f. ​40.​254 Gnilka, J. ​214f Goffmann, E. ​56 Gorman, M.  J. ​124 Grässer, E. ​489 Graf, F. ​283 Haas, A.  M. ​462.​468 Hainz, J. ​461 Hammes, A. ​235 Heckel, Th. K. ​512.​557 Heidegger, M. ​518 Heil, J.  P. ​406 Heilmann, J. ​279–302 Hellholm, D. ​281 Hengel, M. ​107.​220.​491.​565f Hergenröder, C. ​31–33.​519 Hirsch-Luipold, R. ​33–36 Höffe, O. ​328 Hoegen-Rohls, Chr. ​52f.​380f.​402 Husserl, E. ​518 John, F. ​287 Kammler, H.Chr. ​103–105 Kanagaraj, J.  J. ​464f Kant, I. ​462 Käsemann, E. ​84.​554 Karakolis, Chr. ​70 Karrer, M. ​435 Kazen, Th. ​284 Kee, H. ​220 Kertelge, K. ​205 Klauck, H.-J. ​210–112.​528f Klein, H. ​217

Register der Autorinnen und Autoren (in Auswahl) Klinghardt, M. ​282.​292.​299 Koch, D.-A. ​289f Körtner, U.  H.  J. ​283.​287 Krafft, E. ​235 Kramp, I.  M. ​27f Kraus, W. ​415.​503.​532f Kriener, T. ​76f Kunath, F. ​39.​52.​54f.​81f.​114–119 Larsen, K.  B. ​28.​60.​116 Leonhard, C. ​284 Leonhardt-Balzer, J. ​285 Löhr, H. ​287 Lozada, F. ​235 Lütgert, W. ​493 Maier, J. ​501.​541 Maréchal, J. ​467 Maritz, P. ​27 Marr, W. ​484 Martini, C.  M. ​255 Martyn, J.  L. ​12 Mathew, B. ​25 McGinn, B. ​467f Meeks, W.  A. ​224f Meier, H.-Chr. ​123.​461 Menken, M.  J.  J. ​534–537.​550 Metzner, R., ​234–236 Michel. O. ​405 Moloney, F.  J. ​179.​217f Moser, M. ​92–94 Muecke, D.  C. ​353 Musil, R. ​349.​368 Mußner, F. ​31.​45.​519.​544.​559 Nagel, T. ​5f Neuenschwander, B. ​464 Neumann, G. ​180.​250 Nicklas, T. ​28.​40.​41–43 Obermann, A. ​531f.​550 O’Day, G.  R. ​378f Öhler, M. ​282 Painter, J. ​234 Peterson, E. ​509–526.​556.​558 Pollefeyt, D. ​95–97 Popp, Th. ​22–24.​80 Rabens, V. 83 Rahmsdorf, O. ​132f Rahner, J. ​404f Reinmuth, E. ​50 Reitzenstein, R. ​463.​513

657

Resseguie, J.  L. ​49 Ricoeur, P. ​40f.​200f.​253f.​525f Riedl, H. ​356 Rissi, M. ​493 Roloff, J. ​212f Rosenzweig, F. ​100 Rouwhorst, G. ​287f Rusam, D. ​220–222.​227 Ruschmann, S. ​45f Sänger, D. ​281.​285 Sandnes, K.  O. ​225f.​286 Schäfer, K. ​226 Schenke, L. ​512 Schnackenburg, R. ​83.​177.​183.​188.​215.​258f.​ 268.​276.​323.​405 Schneiders, S.  M. ​43–45.​120f Schnelle, U. ​21.​37f.​119.​241.​512.​536 Schrader, L. ​332 Schröter, J. ​341f Schürmann, H. ​510 Schüssler-Fiorenza, E. ​225 Schultheiss, T. ​48f Schwankl, O. ​29.​84.​183.​185.​416f.​425f.​465 Schweizer, E. ​416 Segovia, F.f. ​386 Sheridan, R. ​82 Shin, S. ​131f Söding, Th. ​4.​8.​86 Splett, J. ​480 Staley, J.  L. ​234 Steck, O.  H. ​175f Stemberger, G. ​490 Sterling, G.  E. ​332 Stibbe, M. W. G. ​219f Stimpfle, A. ​193 Strathmann, H. ​23 Sturdevant, J. S. 49 Theißen, G. ​220.​224.​255 Theobald, M. ​15–20.​21.​276.​415.​502f.​532.​562f Thoma, C. ​490 Thomas, J.Chr. ​234 Thüsing, W. ​53f.​403.​405 Thyen, H. ​21.​492 Tolmie, D.f. ​379f Umoh, C. ​86f Urban, Chr. ​83f Usener, K. ​282 Van Belle, G. ​24 Vandecasteele-Vanneuville, F. ​95–97 Van den Heede, Ph. ​36

658

Register der Autorinnen und Autoren (in Auswahl)

Van der Watt, J.  G. ​62.​125–129.​136 von Aquin, Th. ​466f Wead, David W. ​22 Weder, H. ​179.​273.​300.​416 Wengst, K. ​27.​99–102.​490.​506 Williams, C.  H. ​67 Wilckens, U. ​75f.​183.​241.​276.​395.​506f.​512

Wilmes, B. ​26 Windisch, H. ​557.​569 Winter, M. ​78f.​369.​373.​375.​382–385 Wucherpfenning, A. ​5.​59 Zenger, E. ​552 Zimmermann, R. ​48.​76.​298 Zumstein, J. ​21.​36f.​45.​70.​178.​254f.​434.​551

Sachregister (in Auswahl) Abendmahl ​257–278.​279–302.​304–306.​316 Abraham ​89.​560 Abschied, Abschiedsrede ​77–80.​177f.​369– 394.​420 Amplifikation ​22–25.​93 anagnorisis ​50–52.​235.​250f Anamnese ​77–80.​143 Andreas ​47 Anthropologie ​81–85 Antijudaismus ​41f.​94–97.​483–508 Ästhetik ​31–36 Auferstehung Jesu ​53f.​299.​403.​543f.​559–561 Aufnahme, aufnehmen ​65f.​157f.​216f.​226.​260.​ 262.​298–300.​317f.​397.​436f.​452f Begegnung(‑sgeschichten) ​43–50.​50–52.​457f.​ 472f.​477f Blasphemie ​76f.​101 bleiben ​s. Immanenz Blut ​279–302 Braut / Bräutigam ​26.​29.​336.​354–356.​ 366–368 Brot ​30.​257–278.​279–302 Brotrede ​257–278 Buch ​141.​554–572 Character (Studies) ​43–50 chiastische Struktur ​25 Christentum, frühes ​4–14.​511–514 Christologie ​6f.​71–77.​90.​97.​349–368.​369– 394.​409.​412–438.​561–565 Codierung ​60–71 (Decodierung / Neucodierung) David ​550.​560 Diakonie ​130.​137f.​303–322 Dualismus ​5–7.​209.​231–233.​505 dürsten ​266.​270f Einheit ​134.​216.​412–439.​398.​401.​431–433.​ 473f Ekklesiologie ​133–138.​145.​205–229.​476f Elia ​89 Erinnerung (memory) ​8.​77–80 Erzählforschung ​s. narrative Schriftauslegung Eschatologie ​103–113.​187–197.​398

essen ​257–278.​279–302 Ethik ​124–133.​145.​323–346.​476f Eucharistie ​s. Abendmahl Familie / Familienmetaphorik ​29.​134.​168f.​ 205–229.​339.​384452f Feste (jüdische) ​102.​262 Fleisch ​66.​300f finden ​163f.​240.​252.​349 Fortschreibung ​s. Relecture Fremdprophetie ​161.​295 s. a. Ironie Freunde, Freundschaft ​147.​171.​205–229.​ 323–346.​450–457 Freundschaftsethik ​323–346 Garten(‑metaphorik) ​29f.​81 Gastfreundschaft ​18.​210.​227 Gattung ​57–60.​513 Geburt ​82 gehen ​187 Geist (Heiliger) ​63.​77–80.​82.​143.​211f.​393f.​ 471f Gemeinde ​s. Ekklesiologie Gemeinschaft ​229.​320f Gender ​85.​137 Genre Bending ​57–60 Gericht ​29.​40f.​104.​135.​238f.​243–250.​253f.​ 364f Gesetz ​89.​125.​128f.​334.​496.​535.​541.​543 Glauben, Glaube, Glaubensweg ​46.​130.​145– 147.​171f.​230–256.​321.​397.​475f.​479f Glück ​326 Gnosis ​5–7.​383f Gottesvolk ​82f Hausmetaphorik ​134.​452–454 Heilsgeschichte ​213 Herrenmahl ​s. Abendmahl Herrenworte (Jesu) ​15–20 Herrlichkeit / Verherrlichung ​63.​66.​395–411 Hirtenmetaphorik ​134.​166.​400f Hodegie ​168 hungern ​266f.​270f Ich-bin-Worte Jesu ​75.​101.​108.​257–278.​295f.​ 430

660

Sachregister (in Auswahl)

Immanenz ​71–77.​189–192.​196f.​261.​272.​275f.​ 301.​400f–402.​432–433.​441–458.​459–480 Ironie ​22.​24.​25–28.​70.​93.​98f.​245–247.​249.​ 295.​349–368.​406–409.​495 Israel ​82f.​88–103.​435f.​483–508.​527–553.​ 514–518 johanneische Schule ​4–14.​111.​133.​207f.​227 Johannes der Täufer ​46f.​66f.​135.​336.​560 Joseph von Arimathäa ​130.​134.​233 „die Juden“ ​47f.​96f.​414.​483–508 s. a. Antijudaismus Jünger ​215–219 Kaiser ​336f Kanon ​8.​554–572 kennen, erkennen ​157–160.​250f.​397.​400–402 Kirche ​s. Ekklesiologie Kinder Gottes ​65f.​82.​168f.​205–229 s. a. Familie / Familienmetaphorik Kleinasien ​4–14 König ​27.​336f.​360–362.​366–368 koinonia ​s. Gemeinschaft kommen, wiederkommen ​164.​187–189 kosmos ​137 Kreuz / Kreuzestheologie ​23.​85–88.​143 s. a. Soteriologie krisis ​s. Gericht; s. Richter Leben (ewiges) ​63.​83.​112f.​154.​301.​396.​545 Lebenshingabe ​323–346 (330f.​343f ).​358– 360.​403 Lehrer, lehren ​210f.​228 Licht / Finsternis ​29.​63.​64f.​243–250.​256.​ 451f Liebe / Liebesgebot ​125.​129f.​304.​310–312.​ 323–346 Lieblingsjünger ​49.​133.​211.​228f.​335 Literarkritik ​8.​14–22.​30.​105–113.​259–264 logos ​61–64.​67f.​561–565 Maria (Mutter Jesu) ​44.​48,215 Maria von Magdala ​44–46.​151–172 Messias ​26.​366–368.​417–419 s. Christologie Metaphern / Metaphorik ​22.​24.​28–31.​257– 278.​279–302.​425f martyria ​s. Zeuge /Zeugnis Mimesis ​128.​377 Mission ​137.​321f Missverständnisse ​14.​84.​273.​356f Monotheismus ​71–77.​143.​412–438 Mose / Mosetypologie ​46.​82.​89.​101.​179.​537.​ 560

Mystagogie ​122.​144.​154–156 Mystik ​122–124.​459–480 nachösterliche Hermeneutik ​48.​52–54 et passim narrative Schriftauslegung ​39–52.​68.​92–94.​ 129–133.​136.​140f.​145.​152–154.​231–233.​ 294–296.​305.​365f.​376f Nathanael ​159 Nikodemus ​44.​47.​70.​94.​112.​130.​134.​233 Ostern ​s. Auferstehung Jesu Papiaszeugnis ​555f paradoxe Intervention ​313f Parallelismus ​24 Paraklet ​s. Geist (Heiliger) parresia ​63.​329.​337–339.​345 Partizipation ​s. Teilhabe Personalisierung ​170f Pessach (Pascha) ​284.​286.​304f Petrus ​47.​48f.​133.​214.​228f Pharisäer ​47 Philosophie (zeitgenössische) ​62f.​67f.​119f.​ 144 Philippus ​159 Plot ​50–52.​141 Pneumatologie ​s. Geist (Heiliger) Präexistenz ​39.​54f.​114–119 Priester / Hoher Priester ​26.​86f.​358–360.​ 366–368.​405–409 Proexistenz ​s. Lebenshingabe Prolog ​60–71.​74.​115f.​181–185.​438 Prozess ​s. Gericht Qumran ​6f.​284f.​499–501.​538–543.​551 Rabbi ​166f Refraiming ​55–57.​320 Réécriture ​38f.​93.​173–202.​268–275.​563 Regeln im Evangelium ​161f.​169.​498 Reinheit ​310–312 Relation/ ​74.​83f.​127.​438 relationale Theologie/ ​s. a. Teilhabe relationale Anthropologie rekursive Lektüre ​39.​68–71 Relecture ​17.​36–38.​151–172.​173–202.​268.​ 343.​399–402.​538–543.​563 Reziprozität ​128.​345 Richter ​27.​364f.​366–368 s. a. Gericht; krisis Rollenwechsel ​25–28.​98f.​245–247.​349–368.​ 406–409 s. a. Ironie

Sachregister (in Auswahl) Sabbat ​230–256 Sakrament ​133.​279–302 Samariterin ​168 Schöpfung(‑stheologie) ​81–85.​143 Schrift (Heilige) ​88–103.​527–553 Schriftauslegung ​88–103.​179.​498–504.​ 527–553 Schrifttheologie ​88–103.​143f.​261f.​483–508.​ 509–526.​527–553.​553–572 sehen ​31–33.​164f.​362–364.​518–520.​544 Sendung, senden ​134.​206.​315 Sinnlinie ​169 Soteriologie ​85–88.​299.​302.​315f.​334.​342f.​ 358–360.​406f.​409 s. a. Kreuz / Kreuzestheologie stehen ​157 Stellvertretung ​292 Spiritualität ​120f s. a. Mystagogie; Mystik Sünde ​125.​243–250 suchen ​162–164.​261.​445f.​545 Symbol / Symbolik ​28–31 Symposion ​282f.​291 Synagoge, Synagogenausschluss ​11f.​20f.​210.​ 489–492 s. a. „die Juden“; Antijudaismus Synoptiker ​9–11.​556–558 Teilhabe ​76.​83.​302 Tempel ​29.​102 Thomas ​47 Tora ​s. Gesetz

661

Tod (Jesu) ​83.​299.​315f.​342f.​345.​358–360.​449 s. a. Kreuz / Kreuzestheologie trinitarisches Denken ​80 Um-Schreibung ​s. Réécriture unio distinctionis/ ​73f.​431f.​466–470 unio indistinctionis ​s. a. Einheit; Immanenz Variation ​22–25 verkündigen ​167.​211.​233–241 verstehen ​309.​319f s. a. kennen, erkennen Wahrheit ​63 Wahrnehmung ​s. Ästhetik Wasser (lebendiges) ​270 Weisheit(‑stradition) ​290 Welt ​s. kosmos Wein ​29.​279–302.​454–456 Wiederholung ​22–25.​93 Wirken Jesu ​8 wissen ​s. verstehen, kennen, erkennen Wort ​s. logos Zeichen ​59f.​63.​230–256.​257–278 Zeit ​39.​40.​52–55.​77–80.​103–119.​132f.​144.​ 377–382.​402–405.​543f (Verschmelzung der Zeiten) (Zeitsouveränität Jesu) Zeuge, Zeugnis ​40f.​63.​134–136.​153.​229.535f.​ 544–548