Text und Leben: Goethes Spiel mit inner- und außerliterarischer Wirklichkeit in »Dichtung und Wahrheit« [1 ed.] 9783428522989, 9783428122981

Seit Erscheinen von »Dichtung und Wahrheit« machen sich Leser und Interpreten vom Titel ausgehend Gedanken über das Verh

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Text und Leben: Goethes Spiel mit inner- und außerliterarischer Wirklichkeit in »Dichtung und Wahrheit« [1 ed.]
 9783428522989, 9783428122981

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STEFANIE HAAS

Text und Leben

Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl

Band 29

Text und Leben Goethes Spiel mit inner- und außerliterarischer Wirklichkeit in Dichtung und Wahrheit

Von

Stefanie Haas

Duncker & Humblot . Berlin

Die Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 3-428-12298-4 978-3-428-12298-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Es wäre Dichtung und Wahrheit unangemessen, wenn sich diese Studie in Analogie zu den Gesetzen der Metamorphose der Pflanze regelmäßig fortschreitend entwickelt hätte. Retardierende Dämonen hatten ihre Pfoten im Spiel und günstige, und es ist nicht zuletzt der Zuversicht und Kritik und Geduld meines Doktorvaters Prof. Dr. Günter Niggl (Eichstätt) zu verdanken, daß diese Dissertation so wurde, wie sie ist. Vielfältige Anregungen und Aufmunterungen kamen von Prof. Dr. Peter Schulz (Lugano), er hat zudem das Zweitgutachten übernommen. Die sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt hat diese Arbeit im Wintersemester 2004/2005 als Dissertation angenommen, für den Druck wurde der Text geringfügig überarbeitet. Ein Promotionsstipendium der Universität hat mir dieses höchst vergnügliche Unternehmen ermöglicht. Den Herausgebern der Schriften zur Literaturwissenschaft danke ich für die Aufnahme der Studie in diese Reihe und der Görres-Gesellschaft, besonders ihrem Präsidenten, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Paul Mikat, für einen Zuschuß zu den Druckkosten. Joachim Rogosch hat in den vergangenen Jahren mehr über Goethe erfahren, als er je wissen wollte; er hat sich durch den Text gequält und mit seinen Hinweisen künftigen Lesern manche Qual erspart. Er ist einer von vielen, die sich allzuoft anhören mußten, daß es sinnvoller sei, Dichtung und Wahrheit zu lesen, als ein Buch darüber zu schreiben. Nun ist doch eins draus geworden.

Eichstätt, Pfingsten 2006

Stefanie Haas

Inhalt Vorbemerkung: die gedichtete Quelle ............................................................................. 11 I. Leben, lesen, schreiben .................................................................................................. 23

1. Ein bedenkliches Unternehmen, von Anfang an ................................................ 23 2. Hineinlesen, herauslesen ...................................................................................... 27 3. Natürlich talentiert das Leben bewältigen: dichten ............................................ 37 H. Leben und Dichtung und Leben .................................................................................. 49 4. Fast wie im richtigen Leben: Sonntagsausflug ins Märchen ............................. 50 5. Mystifikation und Mummenschanz ..................................................................... 59 6. Erlesenes Idyll: mit Goldsmith in Sesenheim ..................................................... 67 7. Wider die Freude am Faktischen: Werther ........................................................... 85 8. Inszenierte Abwesenheit: Lilis Geburtstag ohne Lili ......................................... 92 9. Dichtung verwirklichen, Wirklichkeit verdichten .............................................. 97 III. Halbtheoretisches Zwischenspiel .............................................................................. 103 10. Text und Leben .................................................................................................. 103 11. Diesseits und jenseits des Textes ...................................................................... 108 IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische ................................................................ 111 12. Dämonischer Schlußakkord: das letzte Buch .................................................. 111 a) Rückblick auf die Wege zum Übersinnlichen ............................................ 112 b) Nicht-Beschreibung des nicht Beschreibbaren .......................................... 114 c) Der dämonische Schein im kleinen Leben ................................................. 117 d) Dämonen, kein Dämonisches ...................................................................... 119

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Inhalt 13. Des Lebens Lauf und seine Deutung ................................................................ 120 a) Der reine, ruhige, stete Fortschritt ............................................................... 121 b) Entwicklungsideal und Lebenswirklichkeit ............................................... 126 c) Weben und weben lassen ............................................................................. 130 d) Selbstzitat und Sonnenpferde ...................................................................... 133 e) Wie andere sich das Rätsel ihrer Tage zurechtlegen .................................. 135 14. Vollendet unvollendet: der vierte Teil ............................................................. 142 15. Was das Dämonische nicht ist und worauf es hinweisen könnte ................... 154 a) Gängige Mißverständnisse ........................................................................... 155 b) Gleichgewichtsstörungen ............................................................................. 158 c) Interpretationsversuche ...................... .......................................................... 162

V. Einblicke, Ausblicke ................................................................................................... 167 16. Text und Leben im Lebenstext ......................................................................... 167 17. Rückblick auf den Mittelweg ............................................................................ 170 18. Verwirrung mit Quellenwert ............................................................................. 171 Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 173 Personen- und Werkregister ............................................................................................ 182 Sachregister ....................................................................................................................... 186

Abkürzungen AA

Johann Wolfgang Goethe : Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften der DDR. Historisch-kritische Ausgabe. Bearbeitet von Siegfried Scheibe. Band I: Text. Berlin 1970. Band II: Überlieferung, Variantenverzeichnis und Paralipomena. Berlin 1974.

EGW

Momme Mommsen unter Mitwirkung von Katharina Mommsen : Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Band II. Cäcilia bis Dichtung und Wahrheit. Berlin 1958.

FA

Johann Wolfgang Goethe : Aus meinem Leben . Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Band 14 der 1. Abteilung der Frankfurter Ausgabe. Frankfurt am Main 1986.

GA

Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Ernst Beutler. Band 10 der Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. 2. Auflage. Zürich 1962.

GE

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Fritz Bergemann. 7. Auflage. Frankfurt am Main 1997.

HA

Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Erich Trunz. Band 9 der Hamburger Ausgabe [Bücher 1-13]. 12., durchgesehene Auflage. München 1994. Band 10 [Bücher 14-20]. 10., durchgesehene Auflage. München 1994.

HABG

Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Band II: 1809-1832.3. Auflage. München 1988.

HAGB

Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow unter Mitarbeit von Bodo Morawe. Band IV: 1821-1832. 3. Auflage. München 1988.

MA

Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Peter Sprengel. Band 16 der Münchner Ausgabe . München 1985.

WA

Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bände. Nachdruck der Ausgabe Weimar 1887-1919. TokyofTübingen 1975.

Vorbemerkung: die gedichtete Quelle "Das wirkliche Leben verliert oft dergestalt seinen Glanz, daß man es manchmal mit dem Firniß der Fiction wieder auffrischen muß" (27,244).1 So sieht es der Verfasser einer Autobiographie. Kann man diesem Verfasser trauen, über dessen wirkliches Leben man als Leser etwas erfahren möchte? Läßt sich der Firnis wieder entfernen? Es ist die Lebensgeschichte eines Dichters; dessen "unablenkbare Richtung" sei es, wie er einen gedichteten Freund sagen läßt, "dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben" (AA 1,600). Das ist offenbar mehr als eine dichterische Oberflächenbehandlung biographischer Wirklichkeit. Wenn ein Buch Dichtung und Wahrheit heißt, könnte es sein, daß es darin um Dichtung und Wahrheit geht. Weil es aber eine Autobiographie ist, scheint zunächst die Frage spannender, was wahr ist und was gedichtet und wie aus der Wahrheit Dichtung geworden ist. Daß Goethe auch im Text auf der Ebene des Protagonisten verschiedene Varianten dieses Verhältnisses durchspielt, ist auf den ersten Blick ersichtlich. Aber wie macht er das, und was bedeutet das für die Lebensgeschichte? Kein Interpret kommt umhin, sich vom Titel der Autobiographie ausgehend Gedanken über das Verhältnis von Wahrheit und Dichtung zu machen, über wahre Dichtung und gedichtete Wahrheit zu spekulieren. Immer wieder wird auf das "Grundwahre" hingewiesen, das Goethe in einem Brief an König Ludwig I. von Bayern erwähnt. 2 Eine Erklärung ist das nicht. Ebenso beliebt ist eine Äußerung aus dem Jahre 1831. Im Gespräch mit Eckermann soll Goethe

1 Verweise auf Dichtung und Wahrheit stehen im Text in Klammem: bei Zitaten aus den ersten drei Teilen mit Band- und Seitenangabe der Weimarer Ausgabe (die Bände 26 bis 28 der ersten Abteilung enthalten die Teile eins bis drei der Autobiographie), bei Zitaten aus dem vierten Teil hinter der Sigle AA I (rur den Text-Band von Dichtung und Wahrheit der Akademie Ausgabe) mit Seitenzahl. 2 Goethe schreibt über den "freilich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit und Dichtung", Anlaß sei die Erfahrung gewesen, "daß das Publikum immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege". Es war Goethes "ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken"; Brief an König Ludwig I. von Bayern, 12. Januar 1830; HAGB 363. Unter "Dichtung" habe er alles begriffen, "was dem Erzählenden und der Erzählung angehört [... ], um mich des Wahren, dessen ich mir bewußt war, zu meinem Zweck bedienen zu können" (ebd.).

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Vorbemerkung: die gedichtete Quelle

über seine Autobiographie gesagt haben: "Ich dächte [ ... ], es stecken darin einige Symbole des Menschenlebens. Ich nannte das Buch ,Wahrheit und Dichtung', weil es sich durch höhere Tendenzen aus der Region einer niederen Realität erhebt.,,3 Ob ein einzelnes Erlebtes für eine Autobiographie oder für ein ganzes Leben wichtig ist, hänge von seiner Bedeutung ab. Dieses Kriterium wiegt schwerer als das der sogenannten Wahrheit: "Ein Faktum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte. ,,4 Damit ist die Frage nach der spezifischen Wahrheit der Autobiographie nicht beantwortet, aber auf die Schwierigkeit hingewiesen. Kaum war der erste Teil von Dichtung und Wahrheit erschienen, schrieb Carl Friedrich von Reinhard dem Verfasser einen begeisterten Brief: "In allem diesem ist so tiefe innre Wahrheit, Wahrheit und Dichtung sind so innig verschlungen, daß es die philistermäßigste Bemühung von der Welt wäre, Wahrheit und Dichtung sondern zu wollen. ,,5 Doch eben darum waren und sind viele Leser und Interpreten philistermäßig bemüht. Die Forschung ging seit Erscheinen von Dichtung und Wahrheit mit großem Eifer der Frage nach, was an der Dichtung denn nun wahr sei. Die Autobiographie bot gesicherte Informationen zur Interpretation von Goethes Werken und diente als Grundlage jeder Biographie. Daß Dichtung nicht das Gegenteil von Wahrheit sein könne, wurde beteuert, und immer wieder sorgten neu entdeckte vermeintliche Fehler in der Autobiographie zu Auseinandersetzungen über "Goethes Glaubwürdigkeit in Dichtung und Wahrheit".6 Carl Alt hat am Ende des 19. Jahrhunderts erstmals die Entstehungsgeschichte von Dichtung und Wahrheit anhand umfangreichen Materials dargestellt. 7 Für ihn ist die Autobiographie fraglos die "Quelle für Goethes Jugend", und die Forschung habe "Irrtümer" zu korrigieren, die sich beim Vergleich von literarischem Text und nachprüfbaren Fakten ergeben, - "es wäre aber doch höchst verwunderlich, wenn man sie [die Irrtümer] Goethe zum Vorwurf machen sollte".8 Alt erkennt auch Fiktives: gelegentlich habe der Autobiograph "mit Bewußtsein erfunden [... ], doch so erfunden, daß die Dichtung der Wahrheit nicht widerspricht,,9. An einigen Stellen habe er "aus dichteZu Eckermann, 30. März 1831; GE 461. Zu Eckermann, 30. März 1831; GE 462. 5 Brief von Carl Friedrich von Reinhard an Goethe, 4. Dezember 1811; HABG 111. 6 So lautet der Titel eines Aufsatzes von Kar! Kochendörffer: Goethes Glaubwürdigkeit in Dichtung und Wahrheit. In: Preußische Jahrbücher 66 (1890), S. 537-563. Er sieht Dichtung und Wahrheit "als eine historische Quelle ersten Ranges für seine [d.i. Goethes] Entwickelung und seine Zeit" und ist überzeugt: "im großen und ganzen also, wenn man die Worte nicht pressen will, Dichtung in der Form, Wahrheit im Inhalte" (ebd. S. 540 und 542). 7 Carl Alt: Studien zur Entstehungsgeschichte von Goethes Dichtung und Wahrheit. Nachdruck der Ausgabe München 1898. Hildesheim 1976. 8 Ebd. S. 79f. 9 Ebd. S. 81. 3 4

Vorbemerkung: die gedichtete Quelle

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rischen Prinzipien" den Stoff umgestaltet, und einige "Mängel" ließen sich mit der Arbeitsweise des Verfassers erklären. 10 Dichtung und Wahrheit besteht also weitgehend aus Wahrheit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bemängelt Hans Glagau, daß die Goethe-Biographen ihre "Hauptquelle" nur unzureichend oder gar nicht prüfen. II "Und wie man das quellenkritische Problem vernachlässigt hat, so ist man auch der Frage nach dem Charakter der modemen Selbstbiographie als literarischer Gattung nicht nachgegangen.'''2 Damit macht er auf eine Eigenart des Textes aufmerksam, die bis dahin kaum beachtet wurde, beläßt es aber - da es ihm als Historiker um den Quellenwert geht - bei Andeutungen. Glagau bezeichnet die "moderne Selbstbiographie" als "Tochter des Romans" und ist überzeugt, das Romanhafte aussondern zu können. 13 Kurt Jahn, der 1908 die erste umfassende Monographie zu Dichtung und Wahrheit vorgelegt hat, schreibt im Vorwort, er wolle auch die "Frage nach der Zuverlässigkeit" beantworten. 14 Das erweckt den Eindruck, als versuche er das Wahre vom Nicht-Wahren zu unterscheiden. Zu den Aussagen im Brief an König Ludwig I. stellt Jahn klar: "Der Zusatz ,Dichtung und Wahrheit' war nach Goethes ausdrücklicher Versicherung nur eine Wendung der Vorsicht, der die Abweichungen von der historischen Realität von vornherein entschuldigen sollte, nicht aber eine Ankündigung, daß Goethe sich die Freiheit genommen habe, sein Leben dichterisch umzubilden.'''5 Daraus gehen die Grundannahmen des Interpreten hervor: Goethe ist zuverlässig, da er nicht gedichtet hat; in den meisten Fällen hat er sich an die Fakten gehalten. Zu den Möglichkeiten eines Kommentars gehört nach Jahn, "das Dichterische von dem Reinhistorischen zu scheiden".16 Das Gedichtete ist also vom Historischen zu trennen, mit Schwierigkeiten zwar, aber die Unterscheidung ist denkbar. Die Autobiographie ist der kunstvolle Umgang mit Erinnerungsmaterial, 17 und das läßt sich wieder herauspräparieren. Aus dem Brief an den bayerischen König zieht Jahn den Schluß: "Wahrheit war also das letzte Ziel der Autobiographie, Dichtung nur ein Mittel, sie zu realisieren.'''8 Überdies sei sich Goethe über "mancherlei Irrtümer" klar

10 Ebd. S. 83 und 86.

11 Hans Glagau: Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle. Eine Untersuchung. Marburg 1903, S. 2. 12 Ebd. S. 5. 13 Ebd. S. 5 und 168. 14 Kurt Jahn: Goethes Dichtung und Wahrheit. Vorgeschichte - Entstehung - KritikAnalyse. Halle 1908, S. III. 15 Ebd.S.315. 16 Ebd.S.316. 17 Vgl. beispielsweise ebd. S. 322: "Das Material, das uns unser Gedächtnis überliefert, ist Rohmaterial, in keiner Weise logisch oder genetisch geordnet". 18 Ebd. S. 328.

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Vorbemerkung: die gedichtete Quelle

gewesen. 19 So ist das Bild vom wahrheitsliebenden und zuverlässigen Autobiographen gerettet. Die Philologen, die sich mit dem Nachweis der Irrtümer begnügen, hören nach Ansicht von Theodor Reik da auf, wo es interessant wird. Er geht mit seiner psychoanalytischen Studie der Sesenheim-Geschichte (1929) einen Schritt weiter: "Die Psychoanalyse behauptet, solche Irrtümer der Erinnerung haben eine unbewußte Bedeutung, verraten dem Kundigen einen geheimen, dem Ich unbekannten Sinn.,,20 Reik entdeckt unbewußte Motive, erkennt Schuld- und Reuegefühle, Kastrations- und Berührungsangst des Verfassers. Damit hebt sich sein Umgang mit vermeintlichen Irrtümern von dem der Goethe-Philologie ab, doch Reik kommt nicht auf den Gedanken, daß die Abweichungen im literarischen Text sorgsam komponiert sein könnten. Auch Friedrich Gundolf versucht, sich gegen die Forschung seiner Zeit zu wenden. In seiner Monographie von 1916 schreibt er, Dichtung und Wahrheit sei eben "nicht als Quelle für Goethes Leben, nicht als Kommentar zu Goethes Dichten gemeint".21 Das Buch gebe "Goethes Leben nicht als Stoff eines Werks, sondern als selbstgenugsame Form. Darum gibt es zwar von Goethes Leben [ ... ] eine klarere Anschauung als alle Kommentare zusammen, aber keine Erklärung.,,22 Diese Erhöhung des Dichters und seiner Autobiographie macht die Interpretation des Textes schwierig. Am Anfang des 20. Jahrhunderts begann sich eine metaphysisch-philosophische Goethe-Forschung zu etablieren, die sich entschieden von den positivistischen Versuchen absetzen wollte. 23 Problem- und ideengeschichtliche Fragestellungen rückten in den Mittelpunkt des Interesses. Biographen, Philologen und Philosophen griffen in ihren Bemühungen, Goethes Denken zu erforschen, entweder beiläufig auf Dichtung und Wahrheit als Quelle zurück oder zogen aus Furcht vor diesem seltsam biographisch-fiktiven Zwitterwesen andere Selbstzeugnisse heran, um zuverlässige Auskünfte des Verfassers zu bekommen. 24 Auch die zahlreichen Untersuchungen zu Goethes "Philosophie" halten 19 Ebd. S. 329. Theodor Reik: Warum verließ Goethe Friederike? Eine psychoanalytische Monographie. Mit einem Vorwort von Hanna Gelke. Unveränderter Nachdruck aus Imago 15 (1929). Tübingen 1990, S. 430. 21 Friedrich Gundolf: Goethe. Unveränderter Nachdruck der Auflage Berlin 1930. Darmstadt 1963, S. 4. 22 Ebd. S. 5. 23 Vgl. Kar! Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Band 11. München 1989, S. 22-29. 24 Max Heynacher, der zu Beginn des Jahrhunderts die verstreuten Äußerungen Goethes zur Philosophie zusammengetragen hat, bezieht sich bereits auf der ersten Seite seiner Vorrede auf eine Aussage aus Dichtung und Wahrheit und zeigt häufig, daß er die Autobiographie als Quelle versteht: "Der erste Liebeskummer, der Verlust Gretchens, machte den Fünfzehnjährigen philosophischen Betrachtungen zugänglich." Max Heyna20

Vorbemerkung: die gedichtete Quelle

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sich - meist einer Aussage des Protagonisten von Dichtung und Wahrheit folgend (vgl. 27,11) - an die "Philosophie" in der Dichtung, und wenn Dichtungen herangezogen werden (als Dichtungen, nicht als Quelle), ist die Autobiographie nicht dabei. Vielleicht war es die Abkehr vom Biographismus, die die Philologen wie die Philosophen daran hinderte, sich mit Dichtung und Wahrheit in seiner Eigenart als Kunstwerk eingehend zu beschäftigen: sie schütteten das autobiographische Kind mit dem positivistischen Bade aus. Der nicht eindeutig poetische Text erschien ungeeignet als Gegenstand umfassender Interpretationen. Die Biographen zeigten sich problembewußt und wiesen auf die Schwierigkeit hin, Dichtung und Wahrheit als Quelle heranzuziehen, und Ansätze von Deutungen blieben den Kommentatoren vorbehalten. Ernst Beutler, der in seiner Einführung zu Goethes Autobiographie (1948) auch fragt, "wovon das Werk schweigt,,25, hat viele Details zusammengetragen und beispielsweise historische Fakten zum Siebenjährigen Krieg mit den Aussagen im Text verglichen. Beutler hält es für seine "Verpflichtung, einmal nachzuprüfen, [... ] was Wahrheit ist, was Irrtum, was Dichtung".26 Erleichtert kommt er zu dem Ergebnis: "Goethe hat wirklichkeitstreu erzählt, nichts hinzu ersonnen, kaum und nur im Unwesentlichen hat sein Gedächtnis ihn getäuscht".27 Also mehr Wahrheit als Dichtung. 28 Beutler sieht stellenweise das Literarische des Textes, begnügt sich aber mit Andeutungen. Wer die Autobiographie nicht als literarisches Werk betrachten möchte, kann sich auf den Verfasser berufen; das tut zum Beispiel Emil Staiger. Er ist überzeugt, Goethe habe nicht die Absicht gehabt, "das Ganze oder auch nur die einzelnen Teile und Bücher kunstgerecht durchzuführen", und darum seien alle "Versuche, in ,Dichtung und Wahrheit' - abgesehen von Episoden - Kunstgeheimnisse aufzudecken, [... ] dilettantisch, am falschen Ort beflissen", und sie berücksichtigten nicht, was der Verfasser selbst dazu schreibt: es gehe ihm, wie er im zwölften Buch sagt, nur darum, "die Lücken eines Autorlebens auszufüllen" (28,150).29 Diese Aussage verleitet auch heute noch Interpreten, sich dem

cher (Hrsg.): Goethes Philosophie aus seinen Werken. Ein Buch rur jeden gebildeten Deutschen. Leipzig 1905, S. 3. 25 Beutler: Einruhrung in GA 940. 26 Ebd. S. 908. 27 Ebd. 28 Manchmal scheint Beutler Goethe entschuldigen (besonders mit seinen Äußerungen zum vierten Teil, vgl. Kapitel 14) oder jeden Verdacht der Erdichtung abwehren zu wollen. Nachdem er kurz die Fakten zu den drei Straßburger Semestern ausgebreitet hat, stellt er fest: "Goethe hat an diesen Tatsachen nichts geändert, aber er hat sie sich zurechtgeschoben"; Beutler: Einruhrung in GA 933. Und da der Briefwechsel mit Friederike nicht erhalten ist, "griff der Dichter auf seine eigenen Lieder zurück" (ebd. S. 934). 29 Emil Staiger: Goethe. Band 3. ZürichlFreiburg 1959, S. 253.

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Vorbemerkung: die gedichtete Quelle

Erzähler anzuschließen. 3o Nimmt man diese Stelle als poetisches Programm oder vielmehr als nicht-poetisches Programm für die Autobiographie, gerät der Kunstcharakter dieses Textes aus dem Blick und die Beschränkung auf die Anhäufung nachprüfbarer Fakten scheint gerechtfertigt. Erich Trunz hat in seinem Kommentar zur Hamburger Ausgabe (1955/1959) nicht nur biographisches Material angeführt, sondern auch zahlreiche Bezüge innerhalb des Textes angedeutet sowie auf die Fülle der Formen und auf die literarische Gesamtkomposition hingewiesen. Über das "Grundwahre" schreibt er: "Je mehr Goethe diese künstlerische Wahrheit verwirklicht hat, desto wesenloser ist es, daß er in Einzelheiten korrigierbar ist. (Wenn man Dichtung und Wahrheit als Alterswerk liest, wird diese Fragestellung ohnehin unwichtig.),,31 Trunz bleibt dem Gegensatz von wahr und unwahr verhaftet, wenn er mögliche Korrekturen erwähnt; gleichzeitig versucht er, sich darüber hinwegzusetzen, indem er diese Frage für unwichtig erklärt. Mit dem Vorschlag, Dichtung und Wahrheit auch als Alterswerk zu lesen, eröffnet er einen Ausweg aus dem wahr-unwahr-Schema. 32 Auch seine Erläuterung des Untertitels geht in diese Richtung: "Alles, was an seiner Autobiographie Deutung ist und als solche nur im Alter möglich war, nannte er Dichtung. Die Einzelheiten - wie die chronologischen Schemata sie sammelten - nannte er Wahrheit. Wahrheit und Dichtung (wie der Titel anfangs lautete) heißt also: die Tatsachen und ihr Zusammenhang.,,33 Wenn Trunz unter Dichtung die Deutung, den Zusammenhang versteht, erscheint Dichtung nicht mehr als Zusatz. Die Vorstellung von den zugrunde liegenden tatsächlichen Einzelheiten besteht aber weiter. War die Goethe-Philologie der sechziger Jahre bei den Interpretationen der Romane, Gedichte und Dramen längst bei einer Vielfalt der Verfahren angelangt, blieb es bei einer eigentümlichen Vorsicht im Umgang mit Dichtung und Wahrheit;34 30 Zum Beispiel Fotis Jannidis. Er meint, Dichtung und Wahrheit sei nie "als selbständiges Werk intendiert gewesen"; Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs "Bildung" am Beispiel von Goethes "Dichtung und Wahrheit". Tübingen 1996, S. 58. Das Ergebnis aber macht einen durchaus selbständigen Eindruck. Peter Sprengel ist der Ansicht, die Autobiographie könne "nur die Lücken des Autorlebens überbrücken, zwischen der symbolischen Gestaltung des Erlebten in der Kunst und seiner - wenngleich überhöhenden - Nacherzählung besteht ein prinzipieller Unterschied." Sprengel: Kommentar in MA 972. Wieso in einer Autobiographie eine symbolische Gestaltung des Erlebten nicht möglich sein soll oder weshalb er Goethe das nicht zutraut, sagt Sprengel nicht. 31 Trunz: Nachwort in HA IX,620. 32 Zudem ermöglicht diese Perspektive, im vierten Teil von Dichtung und Wahrheit reizvolle Züge des Altersstils zu erkennen und nicht von Mängeln zu sprechen, die auf das Alter des Verfassers zurückzuführen sind; vgl. Kapitel 14. 33 Trunz: Nachwort in HA IX,611. 34 Auch im Goethe Handbuch von 1961 ist diese Unsicherheit bemerkbar. Albert Fuchs sieht im Verhältnis von Wahrheit und Dichtung eine Schwierigkeit, hält es aber nicht für nötig, auf die Komposition des Textes einzugehen. Die Frage bleibe offen, "in-

Vorbemerkung: die gedichtete Quelle

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die Positivismus-Falle schien nah. In den siebziger Jahren führte das zunehmende Interesse der Literaturwissenschaft an Zweck- und Gebrauchsformen zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit der Gattung Autobiographie. 35 Seit dieser Zeit erscheinen mehr und differenziertere Studien zu Dichtung und Wahrheit. Ein Stück Grundlagenforschung stellen die Bemühungen Klaus-Detlef Müllers dar, die Eigenarten von Autobiographie und Roman zu erhellen. 36 Müller will klären, "in welcher Weise und in welchem Umfang sich die Autobiographie als Wirklichkeitsaussage Erzähltechniken der Fiktion aneignen kann, ohne selbst zur Fiktion zu werden", und untersucht die "fiktionalisierenden Darstellungstechniken" in Goethes Autobiographie. 37 Er trennt also die Wirklichkeitsaussage von der Fiktion, um das Verhältnis beider zu bestimmen. Erst mit Dichtung und Wahrheit sei "in Deutschland der Übergang von der literarischen Zweckform zur literarischen Form der Autobiographie vollzogen".38 Müller unterscheidet den Roman von der Autobiographie, letztere bleibe bei allen fiktionalisierenden Mitteln eine referentielle Gattung.39 Auch er ist der Ansicht, es widerspreche "dem ausdrücklich formulierten Grundsatz von ,Dichtung und Wahrheit', dieses Werk isoliert als ästhetisches Gebilde zu betrachten: in seiner Konzeption bleibt es auf Goethes Gesamtwerk bezogen,'.40 Hier zeigt sich eine Schwierigkeit jedes Interpreten: einerseits anzunehmen, daß Goethes Leben und Werk Thema der Autobiographie sind, andererseits nicht auszuschließen, daß der Verfasser zu "fiktionalisierenden Darstellungstechniken" gegriffen hat. Ende der siebziger Jahre stellt Bemd Witte fest: "Die bisherige Forschung hat das Werk nur daraufhin untersucht, ob es wahr ist. Was es zu bedeuten hat,

wiefern die unvermeidliche Einwirkung der Persönlichkeit des Darstellenden, Hervorhebenden, die nackten Tatsächlichkeiten umgestaltet, einerseits unbewußt durch Erinnerungsfehler und eine bei aller intellektuellen Redlichkeit ungenügend gebliebene materielle Dokumentierung, andererseits bewußt durch die geistige Haltung des Autors." Der größte Teil der "Unwahrheiten" betreffe "Daten und andere Einzelheiten", die meist belanglos seien. Albert Fuchs: Dichtung und Wahrheit. In: Goethe Handbuch. Hrsg. von Alfred Zastrau. Band 1. Stuttgart 1961, Sp. 1814-1840, hier Sp. 1832f. 35 Vgl. Günter Niggl: Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. 2., ergänzte Auflage. Darmstadt 1998, S. 1 bis 17, hier S. 7. 36 Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976; vieles aus dieser Untersuchung ist in Müllers Kommentar zu Dichtung und Wahrheit in der Frankfurter Ausgabe eingegangen. 37 Ebd. S. 53 und 330. 38 Ebd. S. 242. 39 "Der Roman ist Sinn stiftung und Faktensetzung, die Autobiographie dagegen Sinnfindung im vorgegebenen Faktischen." (ebd. S. 63). 40 Ebd. S. 253.

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ist dabei weitgehend im Dunkeln geblieben.,,41 Das stimmt nicht ganz, weist aber auf ein Grundproblem der Forschung an Dichtung und Wahrheit hin. Solange der Vergleich mit der sogenannten Wahrheit im Vordergrund steht, kommt die Bedeutung zu kurz. Die Kommentatoren, die die Materialmengen zu Goethes Leben und Umwelt anzuführen haben, sind bemüht, den Biographismus-Verdacht abzuwehren. Längst geht es ihnen nicht mehr vorrangig um Abweichungen oder Erinnerungsfehler, und alle versuchen, mit dem Begriffspaar aus dem Titel die Eigenart von Dichtung und Wahrheit zu benennen. Und immer noch wollen die Interpreten herausfinden, wie die Wahrheit außerhalb des Buches und die Dichtung innerhalb zusammenhängen. Pierre Grappin fragt: "Wie hat der Verfasser von ,Dichtung und Wahrheit' den Stoff, also das faktisch Geschehene, bearbeitet; mit welchen Absichten und nach welchen Grundsätzen?,,42 Diese Strategien erforschen zu wollen, ist ein wichtiges Anliegen und fuhrt wieder, wenn auch differenzierter als Jahrzehnte zuvor, zu der Frage nach der textexternen Wirklichkeit, denn mit der wird die Autobiographie verglichen. Zutreffend merkt Grappin an, der Biograph werde "zum Romancier der eigenen Lebensgeschichte,,;43 doch auf den zugrundeliegenden Zusammenhang von Leben und Fiktion geht er nicht ein. Um diesen bemüht sich HeinzDieter Weber. Er fragt nach der Funktion der Fiktion in Dichtung und Wahrheit. Dieser Titel weise "dem Fiktiven eine Funktion der Wahrheitsvermittlung zu", das heißt: "Kein Fall für einfache fiktionstheoretische Verhältnisse".44 Diesen verwickelten Verhältnissen kann man auf zwei Fluchtwegen entkommen: dem biographistischen oder dem dekonstruktivistischen. Auf dem ersten Weg wird die Dichtung als quantite negligeable betrachtet und der Wahrheit untergeordnet, auf dem zweiten wird das Problem aufgelöst, indem dem traditionell als Autobiographie benannten Text von vornherein jeder Bezug zu einer extratextuellen Wirklichkeit abgesprochen wird. Auf diesen zweiten Weg begibt sich Gabriele Blod. Sie versucht, Dichtung und Wahrheit als fiktionalen Text zu lesen; die Märchen und Märchenanspielungen eröffneten diese Möglichkeit. 45 An einigen Stellen erzeuge in Dichtung 41 Bemd Witte: Autobiographie als Poetik. Zur Kunstgestalt von Goethes "Dichtung und Wahrheit". In: Neue Rundschau 89 (1978), S. 384-401, hier S. 385. Weniger begründet beklagt Erwin Seitz zwei Jahrzehnte später, die ,,kunstvolle Anlage des autobiographischen Werkes" sei "bislang kaum erfaßt worden", und mit seiner Nacherzählung der ersten drei Teile schließt er diese vermeintliche Lücke auch nicht. Erwin Seitz: Talent und Geschichte. Goethe in seiner Autobiographie. Stuttgart 1996, S. 17. 42 Pierre Grappin: Dichtung und Wahrheit - 10. und 11. Buch. Verfahren und Ziele autobiographischer Stilisierung. In: Goethe Jahrbuch 97 (1980), S. 103-113, hier S. 112. 43 Ebd. S. 113. 44 Heinz-Dieter Weber: Ästhetische Identität. Über das Fiktive in "Dichtung und Wahrheit". In: Der Deutschunterricht 41 (1989/2), S. 21-36, hier S. 21. 45 Gabriele Blod: "Lebensmärchen". Goethes Dichtung und Wahrheit als poetischer und poetologischer Text. Würzburg 2003. Es erscheint merkwürdig, daß die Verfasserin

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und Wahrheit "nicht das Ich den Text, sondern der Text das Ich (oder eine Figur)". So werde "eine der Grundannahmen der dekonstruktivistischen Theorie inszeniert und gleichsam vorweggenommen".46 Blod will sich von jenen Interpreten abheben, die die Autobiographie als referentiellen Text betrachten, und sie hält ihren Ansatz fiir einen gattungstheoretischen. Eine solche dekonstruktivistische Lesart ist wohl eine Gegenbewegung zum Biographismus: wo einst autobiographische Einzelteile ausnahmslos auf das Leben des Verfassers bezogen und vermeintliche Abweichungen allenfalls mit Erinnerungsfehlern und Irrtümern gerechtfertigt wurden, wird nun jeder Bezug auf eine textexterne Wirklichkeit ausgeschlossen. Letztlich sind diese dekonstruktivistischen Versuche fiir das Verständnis des Textes nicht weiterfiihrend - wenn auch bisweilen aus heuristischen Gründen interessant, als Warnung vor Biographismus zum Beispiel.

Goethes Autobiographie scheint auf die Frage nach der Wahrheit aufmerksam zu machen und zu Spekulationen zum Verhältnis von Dichtung und Wahrheit herauszufordern. 47 Daß in der Autobiographie eines Schriftstellers die Themen Leben und Dichtung eine Rolle spielen, ist nicht allzu überraschend und im Falle von Dichtung und Wahrheit ersichtlich, noch bevor man das Buch aufschlägt. Hinter der eigentümlichen Verschränkung beider Themen verbirgt sich möglicherweise ein Zusammenhang, den Goethes Autobiographie auf besondere Weise herausstellt oder zum Vorschein bringt. Die folgende Untersuchung fragt nach den Interferenzen von Text und Leben, wie sie im Text dargestellt sind. Dabei ist es unmöglich, nicht auf das unangemessene Oppositions-V erhältnis dieses Begriffspaars zurückzugreifen. Hinzu kommen bedenkliche begriffliche Unschärfen: mal ist von Dichtung und Wahrheit die Rede, mal von Literatur und Leben oder von Dichtung und Wirklichkeit, und die unterschiedlichen Dimensionen des Fiktiven lassen sich nicht eindeutig klassifizieren. 48

einen eigentümlichen Respekt hat vor Datumsangaben, Orts- und Personennamen. Sind sie doch nicht so fiktional? 46 Ebd. S. 57. 47 Das war von Anfang an so: "Erst seit 1812, also mit dem Erscheinungsbeginn von Goethes Dichtung und Wahrheit, wird die Autobiographie auch in den Lehrbüchern häufig ausfiihrlicher behandelt und dabei namentlich ihr spezifisches Wahrheitsproblem erörtert." Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977, S. 117. 48 Was hier "Wirklichkeit" genannt ist, kommt dem nahe, was Wolfgang Iser als das Reale bezeichnet: "die außertextuelle Welt [... ], die als Gegebenheit dem Text vorausliegt und in der Regel dessen Bezugsfelder bildet. Diese können Sinnsysteme, soziale Systeme und Weltbilder genauso sein wie etwa andere Texte, in denen eine je spezifische Organisation bzw. Interpretation von Wirklichkeit geleistet ist." Wolfgang Iser: Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? In: ders./Dieter Henrich (Hrsg.): Funktionen des Fiktiven. München 1983, S. 121-151, hier S. 123, Anm.

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Zunächst soll - im ersten Teil - gezeigt werden, wie der Protagonist sich lesend und schreibend die Welt erschließt und wie sich diese Eigenart im Laufe der Autobiographie entwickelt. Undurchdringlichere Varianten des Verhältnisses von Literatur und Leben sind Thema des zweiten Teils, hier wird dargestellt, wie der Verfasser diese Wechselwirkungen inszeniert und thematisiert. Der dritte Teil dient mit kurzen Anmerkungen zur narrativen Identität und zur Frage der Referentialität einer erneuten methodischen Klärung, bevor im vierten Teil - ausgehend vom "Dämonischen" - die Deutung und DarsteIlbarkeit des Lebens in der Autobiographie im Mittelpunkt stehen. Im abschließenden ftinften Teil sind die Schlüsse und Fragen dargestellt, die sich aus diesen Perspektiven ergeben. Es ist hinreichend erforscht, welche Bücher Goethe während der Entstehung von Dichtung und Wahrheit gelesen hat, wen er um welche Informationen gebeten hat, und auch die Auswertung des väterlichen Haushaltungsbuchs oder des Taufbuchs der Stadt Frankfurt hat unzählige Details zu Goethes Jugend und zu vermeintlichen Irrtümern in der Autobiographie zutage gebracht. Auf solche Forschungen wird allenfalls am Rande eingegangen. Hilfreich waren die Erläuterungen von Erich Trunz in der Hamburger Ausgabe und von Klaus-Detlef Müller in der Franlifurter Ausgabe. 49 Die ersten drei Teile von Dichtung und Wahrheit, die zu Goethes Lebzeiten erschienen sind, werden nach der Weimarer Ausgabe zitiert, der vierte Teil nach der Akademie-Ausgabe, in der die Eingriffe der Nachlaßverwalter eliminiert sind. 50 Paralipomena werden ebenfalls nach der Akademie-Ausgabe zitiert, Tagebücher, Briefe und andere Werke nach der Weimarer Ausgabe. 51 Protagonist und Erzähler werden in dieser Untersuchung an einigen Stellen leichtsinnig Goethe genannt. Das ist eine Folge der Annahme, daß es sich bei der Autobiographie um eine referentielle Gattung handelt und daß Dichtung und Wahrheit demnach mit dem Leben des Verfas49 Selten wurde der Kommentar von Peter Sprengel in der Münchner Ausgabe herangezogen und kaum der von Walter Hettche in der Reclam-Ausgabe. Eine sehr lesbare Mischung von biographischen Einzelheiten und weiterfiihrenden Interpretationsansätzen bietet der Artikel von Benedikt Jeßing: Dichtung und Wahrheit. In: Goethe Handbuch. Band 3. Prosaschriften. Hrsg. von Bemd Witte und Peter Schmidt. Die naturwissenschaftlichen Schriften von Gemot Böhme. Stuttgart/W eimar 1997, S. 278-330. 50 Der Text beruht auf den Gesamthandschriften, an denen Goethe bis 1831 gearbeitet hat; vgl. AA II,264 sowie Siegfried Scheibe: Der vierte Teil von "Dichtung und Wahrheit". In: Goethe. N.F. des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 30 (1968), S. 87 bis 115 . 51 Paralipomena sind nach der Zählung in der Akademie-Ausgabe genannt und mit der Seitenzahl im zweiten Band AA II nachgewiesen. Die gängigen Ausgaben von Dichtung und Wahrheit mit den vielzitierten Kommentaren sowie die Gespräche mit Eckermann und Momme Mommsens Sammlung zur Entstehung von Goethes Werken sind ebenfalls sigliert. Auf letztere gehen Hinweise zur Entstehung der ersten drei Teile zurück; fiir den vierten Teil sind Siegfried Scheibes Erläuterungen in der Akademie-Ausgabe präziser.

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sers zu tun hat. Namen sind einheitlich so geschrieben, wie sie im wirklichen Leben geschrieben werden. 52 Mit einer Ausnahme: Sesenheim. Dieser halbpoetische Ort verdient einen eigenen Namen, und daß zwischen Drusenheim und Auenheim Sessenheim liegt, ist ein anderes Problem. Die folgende Interpretation soll darlegen, wie das spannungsvolle Verhältnis von Wahrheit und Dichtung den Text durchzieht und wo Goethe es eigens thematisiert. Dabei wird nicht danach gefragt, was denn nun wahr ist und was gedichtet oder wie sich welche sogenannten Tatsachen aus Goethes Leben verklärt, verHUscht, verdichtet in der Autobiographie wiederfinden. Die Untersuchung ist verbunden mit den Vorsätzen, aus Dichtung und Wahrheit keine Rückschlüsse auf Goethes Leben zu ziehen, nicht häufiger als nötig den Text mit den erforschten Fakten zu vergleichen und nur in sehr begrenztem Maße über Verfasser-Intentionen zu spekulieren. Zudem ist der Versuchung zu widerstehen, all die so griffigen und anschaulichen Goethe-Stellen aus anderen Werken und aus Selbstzeugnissen anzuführen.

52 Und sie werden nicht ergänzt. Viele Interpreten fUgen die Nachnamen der nichtliterarischen Vorbilder ein; da ist dann beispielsweise von Friederike Brion die Rede oder von Lili Schönemann, die so in Dichtung und Wahrheit nicht vorkommen.

I. Leben, lesen, schreiben Einige der zu untersuchenden Probleme sind im Vorwort zum ersten Teil von Dichtung und Wahrheit ausgesprochen oder angedeutet, und bereits auf den ersten Seiten gerät die Unterscheidung von Wahrheit und Dichtung ins Wanken. Dieser kurze Text ist Ausgangspunkt zur Untersuchung der Themen Lesen und Schreiben. Zieht man gar zu eilig das "Grundwahre" erläuternd heran oder andere wohlklingende Äußerungen des Verfassers, gerät der Text aus dem Blick. Vielleicht läßt sich durch Ausklammern der außerliterarischen Welt mehr über diesen Text erfahren, in dem die außer- und die innerliterarische Sphäre untrennbar verknüpft sind. Das fangt schon vor dem Anfang der eigentlichen Lebensgeschichte an. Denn wozu gehört das Vorwort?

1. Ein bedenkliches Unternehmen, von Anfang an Goethe hält seine Autobiographie für besonders vorwortbedürftig, das betont er bereits im ersten Satz des Vorwortes und zeigt mit einem "vielleicht", daß er sich nicht ganz sicher ist (26,3). Um ein "immer bedenkliches Unternehmen" handle es sich, und dieses sei nicht einmal die Idee des Verfassers, sondern durch den Brief eines Freundes veranlaßt. So wird dem Leser ein vertrauliches Gespräch mit dem Autor suggeriert. Es scheint, als teile der Verfasser dem Leser seine Bedenken mit. Oder ist es der Erzähler? Und wer hat den Brief geschrieben? Und schon ist der Leser mittendrin in den Wirren der autobiographischen Möglichkeiten. 1 Der Brief ist fingiert, das erfährt der Leser heute aus jedem Kommentar? Auch wenn es ohne Erläuterungen naheliegt, daß der Adressat des Briefes auch I Nach Ansicht von Michael Gärtner werde "der authentische Hintergrund der Erzählung eher verschleiert als verdeutlicht". Um dies beurteilen zu können, müßte geklärt werden, was denn der authentische Hintergrund ist - und das wäre wieder die Frage nach der biographischen Wahrheit. Michael Gärtner: Zur Psychoanalyse der literarischen Kommunikation: "Dichtung und Wahrheit" von Goethe. Würzburg 1998, S. 133f. Gärtner berücksichtigt in seiner Studie die "kommunikative Eigendynamik des Textes" (ebd. S. 129) und stellt dar, wie Goethe mit Gattungskonventionen und Lesererwartungen umgeht. Das ist für die Interpretation des Textes erhellend, auch wenn man nicht alle psychoanalytischen Schlüsse teilen kann oder möchte. 2 Freilich nicht ohne Hinweise auf ähnliche Aussagen Goethes aus der Zeit, als die Werkausgabe erschienen war; vgl. etwa den Brief an earl Friedrich Zelter vom 22. Juni 1808; WAIV,20,85.

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dessen Verfasser ist, bleibt das im Text selbst im ungewissen. Mit dem vermeintlich authentischen Einschub im Vorwort macht Goethe seine Leser auf Rezeptionsprobleme aufmerksam und konfrontiert sie mit ihren Erwartungen, derer sie sich vorher möglicherweise gar nicht bewußt waren. 3 Der Brief bezieht sich auf die tatsächlich existierende Gesamtausgabe (auch wer von dieser nicht weiß, wird sie im Falle Goethes für möglich halten), und dieser erfundene Brief wiederum soll Anlaß zu dem Buch gewesen sein, das der Leser vor sich hat. Bereits in den ersten Zeilen überschneiden sich mögliche Entstehungsumstände im außerliterarischem Leben des Verfassers und die literarische Wirklichkeit, die sich dem Leser eröffnet. Die Erwartungen an ein Vorwort, das der Leser für ein eher fiktionsfreies Gebilde hält, werden nicht erfüllt. Das ist die Einstimmung auf einen Text, in dem der Verfasser seine Leser mit dem Verhältnis von Fiktion und Referenz verwirrt und sich auch selbst oder zumindest den Erzähler diesem Spiel nicht entziehen kann. Der briefschreibende Freund und Leser sieht die einzelnen Bände der Werkausgabe als ein Ganzes, es ist ihm aber unmöglich, sich aus den Werken "ein Bild des Autors und seines Talents" (26,3) zu machen. Abschließend empfiehlt er, der Verfasser möge seine Dichtungen "wieder als Stoff [... ] behandeln und zu einem Letzten [... ] bearbeiten" (26,5). Das ist mehr als eine Zweckform, die allein die "Lücken zwischen dem bereits Bekanntgemachten" (26,6) auszufüllen sich bemüht, mehr als ein erklärender nicht-literarischer Text, der die literarischen Texte zu ergänzen hat. Wenn die einzelnen Dichtungen wieder als Stoff behandelt werden, ist das auch eine Art Poesie der Poesie. Der Freund wünscht ein "Letztes", damit könnte ein endgültiger Kommentar zu Werk und Leben gemeint sein. Aber deutlich wird das nicht. Diese Bearbeitung zu einem Letzten sei, wie der Freund meint, "sehr unterhaltend und neubelebend" (26,5) für den Schriftsteller. Mit Hilfe des erdichteten Freundes inszeniert Goethe ein indirektes Selbstgespräch; es ist offensichtlich, daß er, in welchem Maße auch immer, eigene Gedanken und Bedenken äußert. Michael Gärtner merkt an, daß der Erzähler in dem Moment, in dem er sich "auf den Brieffreund bezieht, [... ] selbst Teil der Fiktion des Autors" werde. Damit erfahre "die Figur des Erzählers eine partielle Entwirklichung".4 Mit dem Vorwort weist Goethe den Leser darauf hin, daß der Erzähler seiner Autobiographie zumindest teilweise eine Fiktion des Autors ist (was den Wahrheitsgehalt der Geschichte nicht ein3 Kerstin Stüssel vermutet, Goethe verberge durch "den Kunstgriff, einen fiktiven Leser die Kommunikationsprobleme zwischen modemen Autoren und Lesern aufzeigen und demonstrieren zu lassen, [... ] die eigene Unsicherheit gegenüber seinem Leben und Werk"; Kerstin Stüssel: Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln. Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Tübingen 1993, S. 255. Oder er macht den Leser erst darauf aufmerksam. 4 Gärtner, S. 133. Anders sieht das Gabriele Blod: sie behauptet, der Text erzeuge das Ich, mehr noch, im Vorwort zeuge sich der Text selbst; vgl. Blod, S. 72f. und 75.

I. Ein bedenkliches Unternehmen, von Anfang an

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schränken muß). So eröffnen sich schon in der Ouvertüre zur eigentlichen Lebensgeschichte Spielräume des Autobiographischen. 5 Das Vorwort steht vor dem ersten Buch, im ersten Teil. Damit befindet es sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Autobiographie, und bereits diese Überlegung verweist auf die Frage, inwieweit sich der Text auf eine Wirklichkeit außerhalb seiner selbst bezieht, was Text ist und was Leben. Noch bevor Goethe mit der Schilderung seiner Kindheit beginnt, sensibilisiert er flir die Schwierigkeiten der "halb poetische[ n], halb historische[ n] Behandlung" (26,8) und kündigt an, daß weitere Ausflihrungen zu diesem Thema im Laufe der Erzählung folgen werden. Nicht nur mit einer Autobiographie hat es der Leser also zu tun, sondern auch mit Überlegungen zu Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen dieses bedenklichen Unternehmens. Der "kritische Umgang des Autors mit der Referenz-Konvention,,6 durchzieht den gesamten Text und zeigt sich in der Wahl des Titels. Mit diesem wird nicht nur der vermeintliche Gegensatz von Wahrem und Erfundenem untergraben, Dichtung ist auch im Sinne dessen zu verstehen, was der Dichter geschaffen hat. Der Leser kennt ihn von seinen Dichtungen und erhebt den Anspruch, in der erzählten Lebensgeschichte Wahrheit zu erfahren. Das gilt sowohl flir den Leser der Autobiographie als auch flir den fiktiven Leser, der den im Vorwort wiedergegebenen Briefverfaßt hat. Durch den Brief flihIt sich der Leser von Dichtung und Wahrheit zudem im Buch vertreten und dem Erzähler sowie vom ersten Buch an dem Protagonisten etwas näher. Das ausgeprägte Problembewußtsein des Erzählers schärft jenes des Lesers. Schon vor Beginn der eigentlichen Erzählung wird das in der Autobiographie gattungsgemäß eindeutige Verhältnis von Autor, Erzähler und Protagonist, nämlich Identität, verwirrt, in Frage gestellt - und letztlich hält der Leser doch daran fest. Schließlich wird er nach der Lektüre des Vorworts nicht weniger davon überzeugt sein, in dem ihm vorliegenden Buch etwas von Goethe über Goethe zu erfahren. Der hat mit dem Possessivpronomen im Titel Aus meinem Leben klargestellt, daß er selbst Gegenstand der Geschichte ist, und mit dem Untertitel Dichtung und Wahrheit diese Gewißheit wieder erschüttert oder aber poetisch gesteigert. Und da er sein Buch nicht einfach Mein Leben nennt, son5 Jürgen Lehmann ist der Ansicht, mit dem Vorwort konstruiere Goethe innerhalb des Textes einen idealen Leser und korrigiere damit seine schwierige Beziehung zum Publikum; vgl. Jürgen Lehmann: Bekennen - Erzählen - Berichten. Studien zur Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tübingen 1988, S. I 54f. Damit nimmt Lehmann dem Vorwort seine spielerisch-verwirrende Nuance. Es bleibt mehr im Ungewissen, als daß konstruiert oder korrigiert wird. Michael Gärtner zufolge dient das Vorwort auch dazu, mögliche Ansprüche des Lesers abzuwehren; vgl. Gärtner, S. 137. Mehr noch: es macht dem Leser seine Ansprüche erst bewußt und setzt sich dann teilweise darüber hinweg. 6 Gärtner, S. 148.

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dem Aus meinem Leben, behält er sich zudem vor, auszuwählen, was er für wichtig, für erzählenswert hält. Goethe äußert vorsichtig, was "Hauptaufgabe der Biographie" (26,7) zu sein scheint. Wieder ist er sich nicht sicher, und für eine Programmatik ist die Passage auch zu ungewiß. 7 Der Erzähler erklärt sich und seinen Lesern, was er zu tun hat und was sie zu erwarten haben, was eine Biographie leisten soll und daß vom Biographen ein "kaum Erreichbares" gefordert werde. Das Problem der Identität und das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem, Grundfragen der Autobiographie und Erfahrungen mit dem Publikum werden im Vorwort präludiert. Bereits im Brief taucht die Frage nach der Identität des Verfassers auf. Der Freund kann kaum glauben, daß all die unzusammenhängenden Schriften Werke eines und desselben Autors sind (vgl. 26,4). Nimmt man an, daß Goethe den Brief geschrieben hat, stellt er sich die Frage auch selbst. In den Zeilen zur "Hauptaufgabe der Biographie" kommt, ganz allgemein, das Individuum vor, das "unter allen Umständen dasselbe geblieben" ist. Es wird dem Jahrhundert gegenübergestellt, das "sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet" (26,7). Dieses dauernde Individuum und den Wechsel der Zeiten aufeinander zu beziehen, ist Aufgabe des Biographen. Mit zahlreichen Gegensatzpaaren - innere Regungen und äußere Einflüsse, Theorie und Praxis, Privatleben und weite Welt, Individuum und Jahrhundert (vgl. 26,7) - weckt der Erzähler die Erwartung, daß die folgende Lebensgeschichte spannungsreich wird. Auch das Motto zum ersten Teil weist in diese Richtung. 8 Überdies stellt Goethe fest, daß der Zeitpunkt der Geburt Bildung und Wirkung entscheidend prägt, ja daß "ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, [... ] ein ganz anderer geworden sein" dürfte (26,8). Es ist, als werde der Leser Zeuge eines biographischen Versuchs. Ob die Biographie ihre "Hauptaufgabe" erfüllt und dem Verfasser somit ein "kaum Erreichbares" gelingt, ist an dieser Stelle nicht abzusehen. Die vorliegende Autobiographie werde aus "diesem Gesichtspunct ihres Entstehens [ ... ] am besten genossen, genutzt, und am billigsten beurtheilt werden können" (26,8); diese Lese- und Verstehenshilfe fügt der Erzähler und Autor fast entschuldigend dem Brief und den daraus folgenden Erwägungen hinzu. Das kann man so verstehen, daß die Entstehungsbedingungen von Dichtung und Wahrheit unverzicht-

7 Dirk Kemper spricht von "dem im Vorwort entwickelten narrativen Konzept"; Dirk Kemper: ineffabile. Goethe und die Individualitätsproblematik der Modeme. MünchenlPaderborn 2004, S. 454. Daß diese Auffassung Dichtung und Wahrheit nicht angemessen ist, wird im Laufe dieser Untersuchung deutlich werden. S Das Menander-Zitat "Der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen" (26,1) läßt darauf schließen, daß es der Protagonist nicht gerade leicht gehabt und eben davon profitiert hat. Das mag eindrucksvoll wirken oder etwas zu heldenhaft, vielleicht meint es der Autor auch gar nicht allzu ernst, jedenfalls ist eine glatt verlaufende Bildungsgeschichte nicht zu erwarten.

2. Hineinlesen, herauslesen

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bare Grundlage der Interpretation sind oder daß die im Vorwort angedeuteten Schwierigkeiten und Gedanken stets mit zu bedenken sind. Daflir spricht, daß von "diesem Gesichtspunct" die Rede ist; das bezieht sich auf die unmittelbar zuvor genannten "Erinnerungen und Überlegungen" zu den Eigenheiten einer erzählten Lebensgeschichte. Der Text wird nicht als Konstrukt des Verfassers dargestellt, er hat seine eigene Dynamik: er "entsprang" (26,8) den Gedanken, die der Brief ausgelöst hat. Andere Autobiographien wurden geschrieben, gedichtet, geschaffen, diese entsprang. Von Anfang an erscheint die Dichtung als etwas Aktives. 9 Dazu paßt auch, daß der Verfasser keine eindeutige Programmatik voranstellt, keine theoretische Grundlegung, die er anschließend umsetzt. Diese ersten Seiten von Dichtung und Wahrheit dienen der anregenden Verwirrung: Der Leser glaubt sich noch im Vorwort und ist schon mittendrin in der Geschichte des erzählenden Protagonisten, noch bevor der zur Welt kommt. Und kaum ist er geboren, beginnt er, so scheint es, zu lesen.

2. Hineinlesen, herauslesen Der sehr junge Protagonist und seine Freunde reisen mit Lord Anson um die Erde. Sie begleiten den "trefflichen Seemann mit den Gedanken" und werden so "weit in alle Welt geflihrt" (26,50). Lord Anson 's Reise um die Welt bereitet den Kindern ein besonderes Lesevergnügen, denn in dem Buch werde "das Würdige der Wahrheit mit dem Phantasiereichen des Mährchens" verbunden (26,50). Eine reizvolle Kombination: Wahres und Märchenhaftes spielen zusammen und wirken auf die jungen Leser. Der Erzähler läßt das Märchenhafte gelten und das Wahre, er schätzt das Zusammenwirken und versucht hier erst gar nicht, das eine dem andern überzuordnen. Dichtung und Wahrheit ist auch ein Lesebuch, ein Buch vom Lesen. Darin erzählt Goethe von seiner Lebens- und Leseweise und davon, wie literarische Muster sein Leben, Erleben und Selbstbild geprägt haben. Immer wieder setzt er sich als Lesender, als flir Literatur höchst empfanglich in Szene. Aufschlußreich sind die Studien von Michael Gärtner und Gisela Brude-Firnau zu diesen Themen. 10 Längst ist erforscht, welche Bücher Goethe wann gelesen hat und in9 Auch im Brief des Freundes heißt es, die Werke seien vom Schriftsteller "entsprungen" (26,4). 10 Der Schwerpunkt von Gärtners Buch liegt auf der Kommunikation, Brude-Fimaus Interpretation geht auf Goethe als Leser ein und auf den "intendierten Leser" von Dichtung und Wahrheit. Diese Untersuchung ist brauchbar, wenn auch ergänzungsbedürftig (und der halbfeministische Ausklang ist nicht einmal kommentarwürdig). Gisela BrudeFimau: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Paul Michael Lützeler/James E. McLeod (Hrsg.): Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Stuttgart 1985, S. 319-343.

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I. Leben, lesen, schreiben

wieweit sie in die Autobiographie eingegangen sind. Für die vorliegende Interpretation sind diese Untersuchungen kaum von Belang. Hier stehen die Selbstdarstellung Goethes als Leser im Mittelpunkt und die Stellen, in denen sich die literarische und die sogenannte wirkliche Welt einander nähern, sich überschneiden oder schwer bis gar nicht voneinander zu unterscheiden sind. Im ersten Buch berichtet der Erzähler ausführlich von frühen Leseerlebnissen. Dazu gehören der Orbis pictus des Amos Comenius, die große Foliobibel mit Merian-Stichen, Gottfrieds Chronik, die Acerra philologica sowie die Metamorphosen Ovids (vgl. 26,49f.). All dies sind Bücher, die bildlich und einprägsam eine Art Grundwissen vermitteln. Das ,junge[] Gehirn" des Protagonisten sei "schnell genug mit einer Masse von Bildern und Begebenheiten, von bedeutenden und wunderbaren Gestalten und Ereignissen angefüllt" gewesen (26,50). Goethe stilisiert sich immer wieder als besonders gefühlvoll, so habe beispielsweise Fenelons Telemach "eine gar süße und wohltätige Wirkung" auf sein Gemüt gehabt (26,50). Schon früh habe die Dichtung anregend auf das eigene mehr oder weniger literarische Schaffen des Knaben gewirkt: der Erzähler führt eine "gewisse Reim- und Versewuth" des Protagonisten auf die "Lesung der damaligen deutschen Dichter" zurück (26,48). In dem Lebensabschnitt, der im ersten Buch geschildert ist, entwickelt der Knabe einen immer eigenständigeren Umgang mit Literatur. Ob Goethe nun tatsächlich in sehr jungen Jahren all die Bücher gelesen hat, über die er im Alter schreibt, spielt hier keine Rolle. Entscheidend ist, daß er das Lesen als einen wichtigen Bestandteil der jugendlichen Bildung und Entwicklung darstellt. Auch literarisch weniger anspruchsvolle Texte nahm der Protagonist begierig auf und unterrichtete sich so über "manches Verdienst voriger Zeiten", obgleich diese Schriften "nicht vortrefflich genannt werden können" (26,51). Den Gewinn, den er aus der Lektüre dieser Bücher zog, bezeichnet der Erzähler als "Ernte"; die Leseerfahrung ist demnach etwas, wovon man zehren kann. Bereits das Kind las Volksbücher (26,51) - Jahrzehnte bevor die Romantiker diese einst abseitigen Werke in den Rang der Literatur erhoben und populär machten. 11 Damit betont der Erzähler, wie der Protagonist schon als Leseanfänger seiner Zeit voraus war. Die mindere Qualität solcher Bücher wird erwähnt: sie waren "in stehenden Lettern auf das schrecklichste Löschpapier fast unleserlich gedruckt" (26,51). Die damals gängigen, besonders vom Vater gepflegten Vorstellungen, was ein gutes Buch sei, konnten das Kind von der Lek11 Erich Trunz weist darauf hin, daß das Wort "Volksbuch" durch die Romantiker eine neue Bedeutung erhielt, "bisher hatte man Werke wie Pestalozzis ,Lienhard und Gertrud' so bezeichnet; Goethe nimmt das Wort in der neuen Bedeutung auf'; Trunz: Anmerkungen in HA IX,659. Erst seit Joseph Görres' Die teutschen Volksbücher (1807) ist die Gattungsbezeichnung geläufig (vgl. Müller: Kommentar in FA 1084). Somit ist die Perspektive des rückblickenden Erzählers derjenigen des kindlichen Protagonisten übergeordnet.

2. Hineinlesen, herauslesen

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türe nicht abbringen. Zudem tritt schon deutlich zutage, daß die Beziehung zum Buch keine rein geistige ist, daß Mängel an Papier und Druck durchaus wahrgenommen werden. Die preiswerten Heftchen waren einfach zu erwerben und, wenn sie zerlesen waren, rasch zu ersetzen. Eine bunte und vielfaltige Welt eröffnete sich den Kindern: "Der Eulenspiegel, die vier Haimonskinder, die schöne Melusine, der Kaiser Octavian, die schöne Magelone, Fortunatus, mit der ganzen Sippschaft bis auf den ewigen Juden, alles stand uns zu Diensten" (26,51). Im Verlauf von Dichtung und Wahrheit wird der Leser der Melusine wiederbegegnen und dem ewigen Juden. Damit zeigt Goethe, wie diese frühe Lektüre aufs spätere Dichten wirkt. Die Figuren aus den Volksbüchern standen den Kindern zu Diensten, wann immer sie die Hefte aufschlugen. Das Verlangen nach Büchern schildert der Erzähler als etwas Sinnliches. Die Kinder "gelüstete nach diesen Werken, anstatt nach irgend einer Näscherei zu greifen". Im Bild des Lesehungers ist es naheliegend, daß Bücher "verschlungen" werden (26,51): Lektüre als Lebensmittel. Diesem Reigen von Lesegenüssen folgt eine Passage zum Übel der Kinderkrankheiten. Just als sich der Protagonist den Fortunatus gekauft hatte, erkrankte er an Pocken (vgl. 26,52). Damit sind Lebensgeschichte und Lektüre verflochten, und der Erzähler macht deutlich, daß seine Erinnerungen, auch an körperliche Erlebnisse, nicht zuletzt von Leseerfahrungen strukturiert werden. Sie dienen als Orientierungspunkte im Lebenslauf. Ebenso ist die ShakespeareLektüre oder vielmehr das Leben mit dem Dichter in Goethes Erinnerung etwas, das einen Lebensabschnitt deutlicher markiert als eine bloße Zeitangabe. Er spricht von einer "der schönsten Epochen meines Lebens" (28,73), die Shakespeares Werk bezeichnete. Dieses Werk schien wie für ihn geschaffen: "Jene herrlichen Eigenheiten, die großen Sprüche, die treffenden Schilderungen, die humoristischen Züge, alles traf mich einzeln und gewaltig." (28,73) Goethe beschreibt sich als sensibel, als fahig, unmittelbar von einem literarischen Text angesprochen zu werden. In der begeisterten Erzählung seiner Shakespeare-Erlebnisse fragt er: "Streichen wir nicht in einem Buche Stellen an, die sich unmittelbar auf uns beziehen?" (28,72). Diese Frage stellt der Erzähler auch dem Leser. Und sollte der sie bejahen, müßte er die soeben gelesene Stelle anstreichen und wäre somit zustimmend miteingebunden. So ist diese Frage mindestens ebenso auf Dichtung und Wahrheit wie auf Shakespeare bezogen, und der Erzähler hat das Leseerlebnis zur Verständigung mit den Lesern der Autobiographie genutzt. Mehrmals schildert Goethe, wie er sich literarische Geschichten gleichsam einverleibt hat. Der Edda hat er sich "bemächtigt" (28,143), und er schreibt, daß er indische Fabeln "mit großer Lust" in seinen "Mährchenvorrat hineinzog" (28,144). Er erzählte sie gerne nach, doch die "unförmlichen und überförmlichen Ungeheuer" konnten ihn "nicht eigentlich poetisch befriedigen; sie lagen zu weit von dem Wahren ab, nach welchem [sein] Sinn unablässig hinstrebte" (28,144). Mit diesen "kunstwidrigen Gespenster[ n]" tat er sich schwer; die Ge-

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1. Leben, lesen, schreiben

stalten der Märchen sollten mit denen der Welt außerhalb des Märchens zumindest vergleichbar sein. Ein gemeinsamer Bezugsrahmen flir beide Sphären muß gegeben sein, das läßt der Erzähler schon den jungen Protagonisten ahnen. Wieder betont Goethe sein außerordentliches Gespür flir das poetisch Wahre. 12 Diese Passage leitet die Erzählungen vom Werther ein, in denen nicht zuletzt die allzu verführerische Vergleichbarkeit von Literatur und Leben unerfreuliche Mißverständnisse in der Rezeption verursacht hat. 13 Wie Literatur auf das Leben wirken kann, zeigt Goethe im zweiten Buch mit einer sehr anschaulichen Anekdote. Klopstocks Verse, die der Vater in seinem Haus nicht duldet, weil er sie nicht flir Verse hält, üben auf den Knaben eine besondere Anziehungskraft aus. Heimlich und begeistert lesen die Kinder den Messias. Mit großem Eifer bemühen sie sich, "besonders die zartesten und heftigsten [Stellen] so geschwind als möglich in's Gedächtniß zu fassen" (26,124). Sie nehmen diese "zwar gräßlichen aber doch wohlklingenden Verwünschungen" in ihr alltägliches Repertoire auf und begrüßen sich mit "diesen höllischen Redensarten" bei jeder Gelegenheit (26,125). Eines Tages murmeln die Geschwister hinter dem Ofen wieder einmal ihre "herkömmlichen Flüche", während der Vater flir die Sonntagsrasur eingeseift wird. Von den Versen erhitzt ruft Comelia leidenschaftlich und "mit flirchterlicher Stimme": ,,0 wie bin ich zermalmt!" - woraufhin der Barbier vor Schreck den Vater mit Seifenwasser überschüttet, und Schlimmes hätte passieren können, wenn er schon mit dem Rasiermesser hantiert hätte (26,125). Goethe hat dieses Beispiel flir die heftige Wirkung der Poesie auf das Leben nicht nur fröhlich gestaltet. Die möglichen Folgen waren grauenvoll, und so bringt es das "Unglück, das die Hexameter angerichtet hatten" (26,126), mit sich, daß die gefährlichen Nicht-Verse aufs neue verbannt werden. Goethe beschließt die heiter-dramatische Messias-Anekdote und das zweite Buch mit einer allgemeinen Weisheit: "So pflegen Kinder und Volk das Große, das Erhabene in ein Spiel, ja in eine Posse zu verwandeln; und wie sollten sie auch sonst im Stande sein es auszuhalten und zu ertragen!" (26,126). Gisela Brude-Fimau spricht von der "Gedankenlosigkeit der Heranwachsenden gegenüber dem Inhalt und der Form eines literarischen Werkes,,14, doch die Stelle weist auch in 12 Goethe erwähnt gerne seinen Sinn rurs Poetische. Zu Crusius' prophetischer Theologie äußert er sich kritisch, der Protagonist hielt sich "zur klaren Partei" des aufgeklärten Emesti - aber nicht ohne Vorbehalte: "ob ich mir gleich zu ahnen erlaubte, daß durch diese höchst löbliche verständige Auslegungsweise zuletzt der poetische Gehalt jener Schriften mit dem prophetischen verloren gehen müßte" (27,99). Die Formulierung ,,zu ahnen erlaubte" deutet darauf hin, daß er wußte, nicht parteigemäß zu denken. Was ihn, den unerschrockenen Verfechter des Poetischen, nicht davon abhalten konnte, sich um den poetischen Gehalt zu sorgen. 13 Vgl. Kapitel 7. 14 Brude-Fimau, S. 323.

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eine andere Richtung. Die jungen Leser sind mit Leidenschaft bei der Sache, sie leben auf ihre Weise mit und in der Dichtung. Die Episode VOn den unglückbringenden Hexametern macht deutlich, daß Lesefreuden und -gefahren dicht beieinanderliegen. Mit dieser Passage veranschaulicht Goethe zudem seine besondere Sensibilität ftir den lebendigen Umgang mit Dichtung und seinen Eigensinn in Geschmacksfragen, auch im Gegensatz zu des Vaters ablehnender Haltung gegenüber reimloser Dichtung. Insofern ist die Szene ein Beispiel ftir den literarhistorischen Generationenunterschied. Diese Sicht ist erst aus der Perspektive des Verfassers möglich, der Protagonist erkennt lediglich die Dramatik der Situation und die Wirkung der Klopstockschen Dichtung. 15 Sein inniges Verhältnis zum Buch stellt Goethe dar, indem er VOn einer Bücherverbrennung erzählt. Er erwähnt sie im Zusammenhang mit "verschiedenen Executionen": "Es hatte wirklich etwas Fürchterliches, eine Strafe an einem leblosen Wesen ausgeübt zu sehen" (26,237). Vom Lebewesen wird das Buch unterschieden, dennoch weiß der junge Leser, daß da mehr als ein Stapel gebundenen Papiers verbrennt. Allerdings macht der Umstand, daß dieses Buch vernichtet werden sollte, den Inhalt interessanter, als er sonst wohl gewesen wäre (vgl. 26,238). Hier zeigt der Erzähler eine differenzierte Haltung gegenüber dem Buch: die Tatsache, daß es verbrannt werden soll, macht es noch nicht zu einem guten Buch, und die Verbrennung ist dennoch schrecklich. So jedenfalls erzählt es der alte Goethe. Gleichgültig, ob der junge einst ein diffuses Unbehagen beim Anblick brennender Bücher empfunden haben mag oder nicht, ob er sich weiterftihrende Gedanken gemacht hat oder gar nie bei einer Verbrennung war - diese Stelle ergänzt das Bild des lese hungrigen Protagonisten, der sich auf vielerlei Weise mit dem Medium Buch auseinandersetzt. Goethe inszeniert seinen eigenwilligen und unbefangenen Umgang mit Literatur, wenn er von seiner frühen Homer-Lektüre erzählt, vom Unbehagen am Schluß der !lias und daran, daß die Eroberung Trojas nicht erwähnt wird. Schließlich findet er bei Vergil, was ihm bei Homer fehlt (vgl. 26,62). Damit ist auch gesagt, daß die verschiedenen literarischen Welten nicht getrennt nebeneinander bestehen. Zumindest phantasiebegabten Lesern ist es möglich, sie zu verbinden oder erst gar nicht als getrennt zu betrachten. Sein unkonventionelles Lesen übt der Knabe auch an der Bibel. Dieses Buch schätzt Goethe besonders, es sei "so voller Gehalt", daß es mehr als jedes andere "Stoff zum Nachdenken und Gelegenheit zu Betrachtungen über die menschlichen Dinge darbietet" (27,96). Mehr noch, er sagt von der Bibel: "fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig" (27,96). Die bleibenden Eindrücke der Bibellektüre ver-

15 Erich Trunz merkt an, daß diese Anekdote auch zeige, "welcher Sinn für Dichtung in diesem Knaben - noch unbewußt und unerkannt - schlummert"; Trunz: Anmerkungen in HA IX,664.

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mag der Erzähler nicht genau zu benennen, aber er ist sich sicher, dieses Buch "war auf eine oder die andere Weise wirksam gewesen" (27,97). Die Wirkungen des Lesens sind ein mehrfach wiederkehrendes Motiv in Dichtung und Wahrheit. Goethe preist im Zusammenhang mit den Geflihlslagen zur Werther-Zeit die "wahre Poesie" als "weltliches Evangelium", sie befreie "durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen" von irdischen Lasten (28,213). Wie "ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspective vor uns entwickelt daliegen" (28,213f.). Diese Poesie nimmt Beschwerlichem das Gewicht, sie verschafft einen Überblick und bietet eine Verstehenshilfe. Das ließe sich auch auf die Autobiographie beziehen (was Goethe nicht explizit tut). Die Literatur kann mildernd wirken, lindernd und ausgleichend (vgl. 28,214), oder ganz anders als vom Leser und Verfasser erwartet. Der Protagonist und seine Freunde lasen allein aus Neugier Holbachs Systeme de la nature. Sie glaubten, es gehöre zu jenen Büchern, die keine Wirkung ausübten, sie "begriffen nicht, wie ein solches Buch gefährlich sein könnte", - und schon im nächsten Satz zeigt sich, wie die Freunde vor diesem Buch "wie vor einem Gespenst schauderten" (28,68). Der Leser kommt nicht umhin, die vom Protagonisten erwartete Wirkungslosigkeit und die vom Erzähler geschilderte heftige Wirkung aufeinander zu beziehen. Die Erwartungen der Jünglinge an das Buch wurden enttäuscht, und darum hatte keiner von ihnen "das Buch hinausgelesen" (28,69). Es ist auch ein Beispiel dafür, wie die Wirkung eines Buches unterschätzt werden kann; es ist nur schwer abzusehen, welches Buch bei welchem Leser welche Folgen hat. Im Falle Holbachs bleibt eine letztlich positive Wirkung, denn dem Protagonisten und seinen Freunden wurden Philosophie und Metaphysik so sehr verleidet, daß sie sich "aufs lebendige Wissen, Erfahren, Thun und Dichten [ ... ] nur desto lebhafter und leidenschaftlicher hinwarfen" (28,71). Vergeblich hatte sich der Protagonist um "ein Bildungsmittel" seines "wunderlichen Wesens" bemüht, schließlich fand er es in Spinoza. Er kann nicht sagen, was er aus dem Werk "herausgelesen", was er in es "hineingelesen" hat, aber die Wirkung weiß er bildlich zu benennen: "es schien sich mir eine große und freie Aussicht über die sinnliche und sittliche Welt aufzuthun" (28,288). Ein vertieftes Weltverständnis, eine freiere Sicht der Dinge scheint eine Wirkung dieses Leseerlebnisses zu sein; eine präzisere Aussage ist offenbar nicht möglich. Es geht um seine eigene Weise des Spinoza-Lesens, und er weiß, daß er über den Inhalt oder die Wirkung eines Buches an sich nichts sagen kann. Das lesende Subjekt liest hinein und heraus, und so kommt ein höchst individuelles Leseerlebnis zustande. Diese Einsicht hängt mit der Spinoza-Lektüre zusammen. Sie gibt dem Erzähler zu Beginn des vierten Teils Anlaß zu einer allgemeinen und resignativen Feststellung: er erwähnt die Erfahrung, "daß Niemand den andern versteht, daß keiner bey denselben Worten dasselbe was der andere denkt, daß eine Lectüre bey verschiedenen Personen verschiedene Ge-

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dankenfolgen aufregt" (AA 1,555). Er bezeichnet sich hier als den "Verfasser von Werther und Faust", dem solche Widrigkeiten nur allzu bekannt sind, der "von solchen Mißverständnissen tief durchdrungen" sei und sich daher auch nicht anmaße, Spinoza vollkommen zu verstehen (AA 1,555). Damit teilt Goethe seinen Lesern auch mit, daß niemand Dichtung und Wahrheit völlig verstehen kann. Ausgehend von der schmerzlichen Erfahrung des Unverstandenseins sensibilisiert er ftir die Schwierigkeiten der Hermeneutik. Und er nimmt den Lesern die Gewißheit, sie könnten verstehen, was sie soeben lesen (wenn sie diese Stelle denn auf sich beziehen). Die Leser werden auch weiterhin glauben, das Gelesene zu verstehen. Aber die Möglichkeit des Nicht-Verstehens ist etwas nähergerückt. Das Lesen der Schriften Spinozas förderte die Selbsterkenntnis des Protagonisten und diese wiederum die Welterkenntnis: "Ich ergab mich dieser Lectüre und glaubte, indem ich in mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben" (AA 1,554). Fundamentale Fragen des Verstehens und der Überlieferung verhandelt Goethe im zwölften Buch. Da ist er, was das Verstehen und Verstandenwerden angeht, optimistischer als in den oben erwähnten Abschnitten am Beginn des vierten Teils. Ausgangspunkt ist die Bibellektüre. Er erzählt von seiner "Grundmeinung", von der er nicht weiß, ob sie ihm "eingeflößt", ob sie bei ihm "angeregt worden, oder ob sie aus eigenem Nachdenken entsprungen sei" (28,100f.): Bei allem was uns überliefert, besonders aber schriftlich überliefert werde, komme es auf den Grund, auf das Innere, den Sinn, die Richtung des Werkes an; hier liege das Ursprungliche, Göttliche, Wirksame, Unantastbare, Unverwüstliche, und keine Zeit, keine äußere Einwirkung noch Bedingung könne diesem innem Urwesen etwas anhaben, wenigstens nicht mehr als die Krankheit des Körpers einer wohlgebildeten Seele (28,101).

Vorsichtig distanziert gibt Goethe seine Auffassung im Konjunktiv wieder. Das mag damit zusammenhängen, daß sie sich mit der Zeit gewandelt hat. Die Zurückhaltung deutet auch darauf hin, daß er ahnt, wie schwer dieses Problem der Hermeneutik zu fassen ist. Um ein einfach zu beschreibendes Phänomen handelt es sich nicht. Grund, Inneres, Sinn und Richtung stehen nebeneinander, darin liege "das Ursprüngliche, Göttliche, Wirksame, Unantastbare, Unverwüstliche", also etwas, das sich auf einen Begriff nicht bringen läßt. Zudem schließt der Erzähler aus, was diesem "innern Urwesen" etwas anhaben kann: Zeit, äußere Einwirkung und Bedingung. Diesen Widrigkeiten ist das Innere eines Werkes enthoben. Allenfalls an der Oberfläche oder am Rande können sie Schaden anrichten. 16 Dies erklärt Goethe mit dem Bild des kranken Körpers 16 Hermann Beisler schreibt, die Stelle beziehe sich nicht allein auf die Bibel, es handle sich um eine "existenzielle Lektüreauffassung". Dies sei die Meinung des Goethe von 1772, der von "einem direkten, unverfälschten Verstehen des Inneren, des Sinnes und damit des Ursprunglichen und Unantastbaren religiöser Texte voll überzeugt" sei. Der Goethe zur Zeit der Niederschrift von Dichtung und Wahrheit hingegen teile diese

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und der davon kaum betroffenen "wohlgebildeten Seele". Von der Seele eines Textes zu sprechen hieße beide Ebenen vermischen. Dennoch liegt diese Übertragung nahe. Goethes Annäherung an das, was einen Text - oder allgemeiner: eine Überlieferung - ausmacht, vermittelt eine Vorstellung von etwas Erhabenem. Das wird durch die offenkundige Unbeschreibbarkeit noch verstärkt. Der beständige Kern des Textes und die letztlich machtlosen Wirkungen von außen ähneln auch dem Verhältnis von Individuum und Jahrhundert, wie es im Vorwort zum ersten Teil beschrieben ist. Das Textinnere in seiner Unantastbarkeit ist allerdings widerstandsfähiger als das Individuum einer Lebensgeschichte; dieses wird, ob es will oder nicht, vom Jahrhundert geprägt und bestimmt (vgl. 26,7). Auch der Text ist ein Individuum, und das Innere eines ansprechenden Textes steht in einem eigentümlichen Verhältnis zum lesenden Individuum. Dem wiederum ist es aufgegeben, sich über dieses Verhältnis und seine Wirkungen klar zu werden: "Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erforschen, sei daher eines jeden Sache, und dabei vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte, und in wie fern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde" (28,lOlf.). Auch das gehört zur "Grundmeinung", die der Erzähler im Konjunktiv äußert. Nicht ums bloße Aufnehmen geht es, sondern darum, sich vom Text anziehen zu lassen und zu fragen, worin die Attraktivität besteht. Das muß jeder Leser für sich leisten, da er allein sein Inneres mit dem Innern des Textes in Beziehung zu setzen vermag und der Text sich zu jedem Leser anders verhält. Die aus den Leseerfahrungen gewonnene Einsicht ist für Goethe nicht nur bei der Lektüre hilfreich: Diese Überzeugung liege seinem "sittlichen sowohl als literarischen Lebensbau" zugrunde (28,102). Das Fundament des sittlichen und des literarischen Lebensbaus ist, zumindest teilweise, dasselbe. Die gemeinsame Überzeugung in beiden Bereichen weist darauf hin, daß Dichtung und Leben eng miteinander verflochten sind. Bemerkenswert ist zudem, daß diese Einsicht aus "Glauben und Schauen" (28,102), nicht aus theoretischer Spekulation entstanden ist. Es scheint, als sei es die immer noch gültige Einsicht des Verfassers. Goethe stellt das Lesen als bevorzugte Lemmethode dar. Dem Erzähler ist klar, was der Protagonist der erzählten Zeit nicht wußte: daß er "wohl aus Büchern und im Gespräch, nicht aber durch den zusammenhängenden Kathedervortrag etwas lernen konnte" (28,166). Der Vorteil des Selbstlesens liegt in der Eigenleistung des Subjekts; der Leser liest in seinem Tempo und hält inne, wann er es für förderlich erachtet. Die Eigenart des Lesens, daß es stets mit dem Lesenden und dessen Horizont verknüpft ist, führt den Erzähler nicht dazu, Zuversicht nicht mehr, er wisse, daß es ein vollkommenes Textverständnis nicht geben könne. Hermann Beisler: Goethe und die romantische Hermeneutik. München 1999, S. 3 und 22.

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jede Verständigung über Gelesenes für unmöglich zu halten. Im Gegenteil: lesen verbindet. Goethe zeigt das beiläufig am Beispiel seiner grundlegenden Leseerfahrungen der Kindheit. Er und der Dresdner Schuster pflegen unter anderem deshalb einen vertrauten Umgang miteinander, weil sie sich über Anspielungen auf die Bibel oder auf Gottfrieds Chronik verstehen (vgl. 27,169). Gemeinsame Lektürevorlieben vermögen auch Gruppen zusammenzuhalten, das wird im zwölften Buch ersichtlich. Unter den Freunden, auf ,jener Bildungsstufe, in jenem Gesinnungskreise", konnte sich keiner dem Deserted vi/lage von Goldsmith entziehen (28,156). Indirekt macht Goethe damit auch darauf aufmerksam, daß seine Leseerfahrungen und die der Leser von Dichtung und Wahrheit etwas Verbindendes haben können. Um Klinger zu beschreiben, erwähnt er, daß "einem solchen Jüngling [00'] Rousseau's Werke vorzüglich zusagen" mußten; Emile war "sein Haupt- und Grundbuch" (28,254). Die Lektürevorlieben dienen der Charakterisierung. Der Erzähler geht davon aus, daß der Leser nach einer solchen Anspielung eine Vorstellung davon hat, was dieser Klinger für ein Mensch ist. Auch wenn Goethe zur Illustration Figuren aus eigenen Stücken erwähnt und damit Erlebtes mit Hilfe von Gedichtetem erläutert, macht er deutlich: beide Welten sind, so man sie überhaupt trennen kann, zumindest kommensurabel. l ? Begriffe, die gewöhnlich literarische Texte klassifizieren oder beschreiben, können auch Lebensbruchstücke bezeichnen. Beispielsweise sagt Goethe über den Bildungsverlauf, den sein Vater für ihn vorgesehen hatte: "Dieses Mährchen meines künftigen Jugendganges ließ ich mir gern wiederholen" (26,47). Es schien ihm unwirklich, etwas Konstruiertes, aber auch etwas Reizvolles, das er immer wieder mit Interesse hörte. An einigen Stellen vergleicht er Geschehnisse, die er erlebt oder von denen er gehört hat, mit literarischen Formen. Eine Episode von der Krönung Franz' des Ersten bezeichnet Goethe als "Mährchen" (26,308)/8 im siebzehnten Buch nennt er die Verbindung mit Lili einen "kleine[n] Roman" (AA 1,581), und die ins Theatralische stilisierte Begegnung mit Gottsched wird ergänzt durch den Zusatz "wie es im Lustspiel zu geschehen pflegt" (27,87). Demoiselle Delph meint angesichts der ungeklärten Beziehung des Protagonisten zu Lili, diese Neigungen müßten unterstützt und "dieser kleine Roman fördersamst abgeschlossen werden" (AA 1,581). Hier sieht der 17 Mal benennt Goethe Personen aus seinem Umfeld mit literarischen Namen, mal vergleicht er sie mit Figuren aus der Literatur. So heißt beispielsweise der Freund Pylades - besser gesagt, der Erzähler gibt ihm diesen Namen: er erwähnt einen Knaben, "den ich Pylades nennen will" (26,76) -, Friederikes Schwester bezeichnet er in Dichtung und Wahrheit nach dem Vorbild im Wakefield als Olivie, seine Mutter vergleicht er mit Frau Aja aus den Haimonskindern und den Freund Merck immer wieder mit Mephistopheles. Auch "Gretchen" klingt nicht gänzlich unliterarisch. 18 Damit stellt er diese Episode den starren, blutarmen Feierlichkeiten der Wahl und Krönung Josephs 11. in der Gegenwart kontrastiv gegenüber; vgl. auch Kapitel 5.

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Erzähler den Unterschied zwischen der damaligen Situation und einem abschließbaren Roman, die literarische Form dient als Gegenbild zur wenig romanhaften Wirklichkeit. Begriffliche Übertragungen dieser Art sind noch keine Belege dafür, daß außer- und innerliterarisches Erleben zusammenhängen, doch sie weisen in diese Richtung. Goethe spielt mit literarischen Vorlagen, das werden die Interpretationen im H. Teil dieser Untersuchung zeigen. Nach literarischen Mustern zu leben und zu empfinden ist für den Protagonisten offenbar selbstverständlich. In Straßburg mußte er einmal fürchten, sein Tischgenosse würde sich in den Rhein stürzen: "Wäre ich sicher gewesen, ihn, wie Mentor seinen Telemach, schnell wieder aufzufischen, so mochte er springen, und ich härte ihn für dießmal abgekühlt nach Hause gebracht" (27,269). Dieser heitere Hinweis auf die FenelonLektüre, die bereits im ersten Buch vorkommt, enthält die Überzeugung oder Erfahrung, daß Erlebnisse oder Figurenkonstellationen in der Literatur und im Leben vergleichbar sind. Der Protagonist sieht die mögliche Situation in der Literatur vorgebildet und malt sie sich am Modell aus dem Telemach aus. 19 Damit stellt sich Goethe dar als einer, in dessen Welt auch literarische und mythologische Figuren zu Hause sind. 20 Deutlicher noch tritt die Prägung des eigenen Erlebens und Empfindens durch Literatur in Sesenheim zutage, dies bedarf später einer ausführlicheren Interpretation. 21 Die kleinen Dienste, die der Protagonist Lili erwies, erläutert der Erzähler mit Hilfe eines Rückgriffs auf Gelesenes: "Und es ist wohl diese Dienstschaft das Erfreulichste was einem Menschen begegnen kann; wie uns die alten Ritter-Romane dergleichen zwar auf eine dunkle aber kräftige Weise zu überliefern verstehen" (AA 1,579). Der Jüngling handelt also rittergemäß, wie er - oder zumindest der Erzähler - es aus diesen Romanen kennt, und dieser Hinweis dient auch der Verständigung mit dem Leser, der mit den alten Ritterromanen etwas verbindet. Und wenn Goethe von Jungs desolater Lage erzählt, nachdem diesem eine Augenoperation mißglückt war, faßt er das schlicht so zusammen: "genug, wir spielten das unerfreuliche Drama Hiobs von Anfang bis zu Ende durch" (AA 1,565). So erhält der Leser eine eindrucksvolle Vorstel19 Hierbei handelt es sich um einen noch verwickelteren literarischen Bezug, da Fenelons Telemach aus der mythologischen Vorlage weitergedichtet ist. 20 Ein Beispiel mit Figuren aus der Mythologie findet sich im runfzehnten Buch; da erzählt er, daß Tantalus, Ixion und Sisyphos seine Heiligen waren. Er hatte Mitleid mit ihnen und ließ sie in der Iphigenie auftreten, gab ihnen in der Dichtung gewissermaßen eine neue Chance - und verdankt ihnen "wohl einen Theil der Wirkung" des Stückes (28,314). Auch Schriftsteller früherer Epochen gehören zum erlesenen Freundeskreis. Goethe bezeichnet Montaigne, Amyot und Rabelais als seine Freunde, die in ihm "Antheil und Bewunderung" erregten (28,52). 21 Zu Sesenheim als bevorzugtem Ort rur die Überschneidung von inner- und außerliterarischer Welt vgl. Kapitel 6.

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lung vom Zustand des Freundes, da mit dem "unerfreuliche[n] Drama Hiobs" ein lebhaftes Bild von Klage und Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit vermittelt ist. Das klingt so, als spielten die beiden das Drama nicht selbständig durch, als laufe es nach dem biblischen Muster ab. Goethe erzählt, daß in seinem Freundeskreis alle den Harnlet gelesen hatten. Jeder kannte die entscheidenden Passagen auswendig, "und jedermann glaubte, er dürfe eben so melancholisch sein als der Prinz von Dänemark, ob er gleich keinen Geist gesehn und keinen königlichen Vater zu rächen hatte" (28,216). Die Leser nehmen sich eine Eigenheit einer Figur heraus, ungeachtet der völlig unvergleichbaren Lebenssituation. Goethe führt damit ein Beispiel dessen an, was er an anderer Stelle als "herauslesen" bezeichnet (vgl. 28,288). Auch hier zeigt sich: Was zählt, ist die Stimmung, nicht die Übereinstimmung. 22 Zudem ist die deutliche Distanz zur einstigen leidenschaftlichen Harnlet-Lektüre zu spüren, wenngleich es ein freundlicher Rückblick auf die eigene Jugend ist. Zum Lesen gehört auch das Vorlesen. Ausführlich demonstriert Goethe, wie auf diese Weise Literatur lebendig werden kann. Im zweiten Buch erzählt er, wie der Protagonist sein Märchen vom Neuen Paris vorträgt, im zehnten Buch läßt er Herder aus dem Wakefleld vorlesen, schließlich liest der Protagonist in Sesenheim aus diesem Roman vor und erzählt dort auch die Geschichte von der Neuen Melusine, und in Straßburg trägt er den Harnlet vor. 23 Goethes mitfühlendes und lebendiges Lesen ist die Basis für eine andere Weise, die Gefühlsund Erfahrungsmöglichkeiten zu erweitern: fürs Dichten.

3. Natürlich talentiert das Leben bewältigen: dichten Die Eigenart des Protagonisten, "die Dichtkunst zum Ausdruck [seiner] Gefühle und Grillen zu benutzen" (28,142), kommt in der Autobiographie immer wieder vor. Der Leser erlebt mit, wie sich diese Fähigkeit entwickelt und wie der Erzähler sie als naturgegebenes Erkenntnis- und Bewältigungsmittel des Protagonisten darstellt. In einem ersten Blick auf diese Stellen in Dichtung und Wahrheit mögen Grundzüge dieser Entwicklung deutlich werden, die Interpretationen im 11. Teil werden einiges ergänzen. Nicht nur lesend und schreibend erschließt sich der Protagonist die Welt. Auch Zeichnen und Malen stellt Goethe als Mittel zum besseren Verständnis der Dinge dar: "Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt 22 Ähnlich verhält es sich mit Ossian. Der lockte die Freunde "bis an's letzte Thule" (28,216). Im Mondschein in schaudererregenden Gegenden, umschwebt von "untergegangene[n] Helden, verblühte[n] Mädchen", glaubten sie "zuletzt den Geist von Loda wirklich in seiner furchtbaren Gestalt zu erblicken" (28,217). 23 Vgl. die Interpretationen dieser Vortrags-Episoden in den Kapiteln 4 und 6.

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faßte" (27,16)?4 Ebenso werden in der Begegnung mit den Wissenschaften seine vielfältigen Fähigkeiten und Interessen ersichtlich. Dabei stellt Goethe an mehreren Stellen sein Ungenügen an den wissenschaftlichen Vorgehensweisen dar, er gibt der Erfahrung den Vorzug vor der Theorie und erzählt von seinen eigenwilligen Erkenntniswegen. Häufig sucht der Protagonist mit Hilfe eigenen literarischen Schaffens sein Leben zu verstehen, mit Schwierigem fertigzuwerden. Besonders nach oder während Liebeswirren ist die Dichtung heilsam, diese Schilderungen finden sich in Dichtung und Wahrheit mehrfach. Des Protagonisten erste große Liebe, die zu Gretchen, endet fürchterlich, und die dichterische Fähigkeit ist noch nicht so weit entfaltet, als daß sie dem Leidenden seine Lage erträglich machen könnte. Nach dem traurigen Ende der (für den Protagonisten) glücklichen Episode erzählt er sich "Mährchen auf Mährchen, sah nur Unglück auf Unglück" (26,339). Einzig im "Wiederkäuen" seines Elends und "in der tausendfachen imaginären Vervielfältigung desselben" findet er etwas Zufriedenheit (26,340). In dieser Ausnahmesituation zeigt sich die poetische Anlage von ihrer zerstörerischen Seite: "Meine ganze Erfindungsgabe, meine Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch diese Lebensgewalt, Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln" (26,340f.). Die später oft so hilfreiche und erfreuliche Dichtergabe wirkt gewaltig, der Junge leidet körperlich und seelisch. Verzweifelt und einsam und krank hat er Zeit genug, sich "den seltsamsten Roman von traurigen Ereignissen und einer unvermeidlich tragischen Katastrophe selbstquälerisch auszumahlen" (26,342).25 Damit endet das fünfte Buch und der erste Teil von Dichtung und Wahrheit. Darin hat Goethe von seinem erwachenden dichterischen Talent ausführlich erzählt, doch zur Bewältigung schwieriger Situationen taugt die Dichtung in diesem Lebensabschnitt noch nicht. Ein weiterer Versuch, mit der Dichtung zu leben, findet sich im siebenten Buch. Nachdem der Protagonist durch eine vermeintliche Kleinigkeit mit heftiger symbolischer Wirkung an Annettes Liebe zu ihm und an sein Unrecht ihr 24 Er erzählt, wie er schon früh vom Vater zum Zeichnen angehalten wurde und wie er begeistert das Schaffen der Maler verfol~~e, die in seinem Zimmer im Auftrag des Grafen Thoranc an Bildtapeten arbeiteten. Uber einen Umweg läßt der Erzähler einfließen, Seekatz habe es für bedauerlich gehalten, daß der Knabe "nicht zum Mahler bestimmt sei" (27,18). Die Frage nach der Bestimmung ist damit keineswegs abgetan; besonders bildhaft kehrt sie wieder zu Beginn des dreizehnten Buches. Da hat der Protagonist den "alte[n] Wunsch", eindrucksvolle Landschaften "würdig nachahmen zu können" (28,175), und befragt ein eigenartiges Orakel. Seine kritische Auslegung der uneindeutigen Erscheinung führt zu neuen Zweifeln an seinen Fähigkeiten als Maler. Das aber hält ihn nicht vom Zeichnen ab; bis in den vierten Teil hinein, besonders auf der Schweizer Reise, malt und zeichnet der Protagonist. 25 Dies ist auch als Hinweis auf die Parallele zu Prevosts Manon Lescaut zu verstehen; vgl. Plp. 72; AA II,535-540 sowie Kapitel 5.

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gegenüber erinnert worden war, verwandelte er "dieß Ereigniß in eine Idylle". Diese konnte er "niemals ohne Neigung lesen und ohne Rührung andern vortragen". Es war der Versuch, Annette "alles doppelt und dreifach abzubitten" (27,104). Dies ist eine von vielen Bemühungen des Protagonisten, sich mit einer poetischen Abbitte von Qualen zu befreien. Nicht an Annette selbst wendet er sich, sondern sucht Linderung im Dichten der Idylle. Er bekennt sich zu seinem Fehlverhalten und glaubt zudem genau zu wissen, wie er es kompensieren kann. Schließlich verdirbt er die Liaison zu Annette, und er wäre nach der Trennung an diesem Verlust vielleicht völlig zugrundegegangen, "hätte sich nicht hier das poetische Talent mit seinen Heilkräften besonders hülfreich erwiesen" (27,112). Zeugnis hiervon ist das Stück Die Laune des Verliebten, mit dem der launische Verliebte "zu einer quälenden und belehrenden Buße" (27,112) seine Lage dramatisch behandelt und verwandelt. Der Leser, der das Ergebnis der Buße, die so entstandenen Stücke, kennt oder kennen könnte, wird daran erinnert, daß es sich auch um eine authentische Lebensgeschichte handeln könnte. Die Existenz des Stückes verleiht der autobiographischen Erzählung von seiner Entstehung etwas Glaubhaftes. Nur wenige Seiten nach der Schilderung von den "Heilkräften" des poetischen Talents (27,112) werden die Sakramente als "Heilmittel für das ganze Leben" (27,121), als "Heilkräfte" (27,122) bezeichnet. Diese auffällige Übereinstimmung legt den Schluß nahe, daß die Dichtung ähnlich wirksam ist wie die Sakramente, ja daß jene diese vielleicht sogar ersetzen kann. Die Priesterweihe wird das "höchste dieser Symbole" genannt, sie sei eine "große, mit einer schweren Pflicht verbundene Gunst" (27,123). Im Zusammenhang des siebenten Buches ist die Nähe zum Dichter überdeutlich. 26

Im Schmerz über Friederikes Lage nach der Trennung sucht der Protagonist "abermals Hülfe bei der Dichtkunst", und wieder ist die Nähe zum Sakrament gegeben. Er setzt die "hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büßung einer innern Absolution würdig zu werden" (28,120). Das religiöse Vokabular weist auf die existentielle Not des Beichtenden hin und auf die erhoffte erlösende Kraft der Dichtung. Was poetisch gebeichtet wird, ist zumindest entschärft. Eine bequeme Selbsterlösung scheint das nicht zu sein: die "selbstquälerische Büßung" fordert vom Pönitenten die dichterische Auseinandersetzung mit den eigenen Marotten und Verfehlungen; 26 Das heißt nicht, daß die Poesie die Religion ablöst oder ersetzt. So sieht es Bernd Witte, er meint, der Abschnitt über die Sakramente sei "nicht theologische, sondern poetologische Rede"; Witte, S. 387. Nach Wittes Ansicht sind "die zahlreichen sogenannten Exkurse über religiöse Gegenstände nicht nur als metaphorische Darstellungen dichterischen Tuns zu lesen. Sie sollen zugleich die Durchdringung, ja die Vernichtung des theologischen Gehalts zugunsten des Dichterischen anschaulich machen" (ebd. S. 391). So wichtig diese Erfahrungen und Überlegungen fiir das Werden des Dichters auch sind, es gibt keinen Grund, ihnen den Bezug zur religiösen Entwicklung des Protagonisten völlig abzusprechen.

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eine absichtliche Selbsttäuschung würde ihn wohl kaum überzeugen. Goethe spricht von einer "innern Absolution", es handelt sich also nicht um einen Vorgang an der Oberfläche. Indem der Erzähler die sonderbaren Verhaltensweisen des Protagonisten, mit denen dieser die Freundinnen betrübt hat, nicht verschweigt, stellt er dessen poetisches Talent, das ihn aus diesen Situationen rettet, in ein um so helleres Licht. 27 Auch Gefühle, die durch widerwärtiges Verhalten anderer gegenüber der Geliebten hervorgerufen werden, vermag die Poesie zu lindern; davon berichtet der Erzähler im neunzehnten Buch. Zur Messezeit kamen Handelsfreunde ins Haus von Lilis Familie, und alle waren sie entzückt von der bezaubernden Tochter. Besonders zudringlich verhielten sich die älteren Herren - sie "waren ganz unerträglich mit ihren Onkelsmanieren" (AA 1,634) -, was Goethe offenbar noch Jahrzehnte später beim Diktat dieser Passage derart zuwider ist, daß er sich wieder einmal von sich selbst distanziert und sich nur als "den Freund" bezeichnet (AA 1,634). Mit einem entschiedenen "Doch!" beginnt er einen neuen Absatz und fahrt fort: "Wenden wir uns von dieser noch in der Erinnerung beynahe unerträglichen Quaal zur Poesie, wodurch eine geistreich herzliche Linderung in den Zustand eingeleitet wurde." (AA 1,634) Und wieder macht die Dichtung das Unerträgliche erträglich. Goethe nennt ein Gedicht, das dies eben nicht vermittelt, Lilis Park. Er fügt es nicht ein, "weil es jenen zarten empfindlichen Zustand nicht ausdrückt sondern nur, mit genialer Heftigkeit, das Widerwärtige zu erhöhen und durch komisch ärgerliche Bilder das Entsagen in Verzweiflung umzuwandeln trachtet" (AA 1,634). Der Verfasser-Erzähler gibt sich als kritischen Beobachter seiner selbst zu erkennen und stellt fest, daß eine noch so geniale Erhöhung des Widerwärtigen allein nicht ausreicht, dieses Widerwärtige zu mildern oder gar zu verwandeln. Passend scheint ihm ein Gedicht aus Erwin und Elmire, das er dem Leser nicht vorenthält. Die Identität von Erzähler und Verfasser ist hier selbstverständlich, denn es sind Werke des Verfassers genannt, die dem Leser bekannt sein können, zudem spricht der Autor von Dichtung und Wahrheit über seine aktuelle Arbeit. Bernd Witte ist der Meinung, erst vom zehnten Buch an erscheine die Dichtung "als Instrument der Erkenntnis der Realität und zugleich der Bewältigung der Lebenskrisen".28 Das Erkenntnisfördernde und Beruhigende der Dichtung tritt im Laufe des erzählten Lebens tatsächlich immer mehr zutage, doch Goethe erwähnt auch in den vorangegangenen Büchern solche Versuche. An einigen früheren Stellen wird sichtbar, daß die Dichtung zwar als passendes Mittel gesehen wird, aber - insofern hat Witte recht - diesen Zweck noch nicht zu er27 Ebenso hatte der Protagonist "die fürchterliche Lücke", die ihn von Lili trennte, "durch Geistreiches und Seelenvolles auszufüllen" und fing, wie es am Ende des neunzehnten Buches heißt, "also wirklich Egmont zu schreiben an" (AA 1,636). 28 Witte, S. 396.

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füllen vermag. Zudem sind die so entstandenen Dichtungen keineswegs immer Kunstwerke. Das wird an einem Beispiel aus dem siebenten Buch ersichtlich. Unter der "Oberfläche des städtischen Daseins" spielten sich in Frankfurt oft fürchterliche Szenen ab: "Banqueroute, Ehescheidungen, verführte Töchter, Morde, Hausdiebstähle, Vergiftungen" (27,113). Der junge Protagonist hat in derartigen Widrigkeiten helfend und rettend eingegriffen, mußte vermitteln und vertuschen, dabei blieben ihm Kränkungen und Demütigungen nicht erspart. Das ertrug er auf seine Art: "Um mir Luft zu verschaffen entwarf ich mehrere Schauspiele" (27,114). Diese blieben jedoch unvollendet, da die meisten "mit einem tragischen Ende drohten" (27,114). Als könne er dies schlecht ertragen, führte er sie erst gar nicht weiter; einzig Die Mitschuldigen brachte er zu einem Ende. Unter diesen ernsten Erfahrungen entwickelte sich in dem Heranwachsenden ein "verwegener Humor" (27,115), der sich in dichterischem Übermut niederschlug. Die daraus entstehenden "humoristischen[n] Kühnheiten, mit Geist und Sinn auf das Theater gebracht" (27,115), hielt der Protagonist für höchst wirkungsvoll, wenngleich er nie darauf gekommen wäre, "ein Unterfangen dieser Art als einen Gegenstand für die Kunst zu betrachten" (27,116). Damit sagt der Erzähler dreierlei: der Protagonist lebte in unangenehmen Umständen, wußte sich aber dank seiner poetischen Gabe daraus zu retten und hielt in aller Bescheidenheit die so entstandenen Stückchen nicht für Kunstwerke. Er hatte eine Vorliebe für die "Angelegenheiten des Herzens"; all das "Hohe und Tiefe [... ], dessen Verknüpfung in unserer Natur als das Räthsel des Menschenlebens" (27,116) angesehen werden könne, habe ihn immer wieder zum Nachdenken gereizt. Und zum Dichten: "Auch hier suchte ich, was mich quälte, in einem Lied, einem Epigramm, in irgend einem Reim loszuwerden" (27,116). An dieser Stelle ist dem Leser das Bemühen des Protagonisten um einen dichterischen Umgang mit Qualvollem schon bekannt, es wird lediglich ein weiteres Beispiel angeführt. In diesem Fall hat das sogar mit dem "Räthsel des Menschenlebens" zu tun. Hier steht noch deutlich der Versuch im Vordergrund, etwas poetisch loszuwerden; ob das gelingt, erfährt der Leser nicht. Zudem waren diese Lieder und Epigramme nicht publikumstauglich. Zu sehr waren sie mit den Empfindungen und Erfahrungen des Dichters verbunden, als daß sie für den Rezipienten Anknüpfungspunkte hätten bieten können (vgl. 27,116). Nach der Trennung von Zimmermann machte sich der Protagonist wieder ans Dichten: "Ich zog mich [... ] in mein eigenthümliches Fach zurück und suchte die von der Natur mir verliehenen Gaben mit mäßiger Anstrengung anzuwenden, und in heiterem Widerstreit gegen das was ich mißbilligte, mir einigen Raum zu verschaffen, unbesorgt wie weit meine Wirkungen reichen und wohin sie mich führen könnten" (28,341 f.). Das poetische Talent erscheint als etwas Naturhaftes, und Goethe, das Naturtalent im Wortsinne, gibt zu verstehen, daß er auf Wirkung nicht bedacht gewesen sei. Nur "mit mäßiger Anstrengung" ist er tätig, er schöpft sein Potential also nicht aus, und der Widerstreit ist ein he i-

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terer, das hat etwas Leichtes, als würde bereits die Auseinandersetzung das Unbehagen mildem. Dichten ist nach der Darstellung in Dichtung und Wahrheit einerseits aktiver Umgang mit Widrigem und Erfreulichem, andererseits etwas schwer Beeinflußbares, naturhaft Gegebenes. Im Verlauf der Autobiographie greifen diese beiden Besonderheiten zunehmend ineinander. Am Beispiel des Götz demonstriert der Erzähler, wie der Protagonist instinktiv dichtete. Er überließ sich, "ohne Plan und Entwurf, bloß der Einbildungskraft und einem innern Trieb", eine "wundersame Leidenschaft" riß ihn "unbewußt hin" (28,199). In diesem Zustand verliebt er sich in die selbstgedichtete Adelheid. Andere Figuren des Dramas sind, so jedenfalls die Schilderung in der Autobiographie, der Lebenswirklichkeit des Dichters entlehnt. Seine Mutter erkennt sich in Götzens Hausfrau wieder (vgl. AA 1,598), und auch der Freund Lerse kommt vor (vgl. 27,256). Sich selbst läßt er - in der Reue über den Schmerz, den er Friederike zugefügt hat, - als die Figur des Weislingen auftreten, der für seine Treulosigkeit bestraft wird (vgl. 28,120). Die spöttische Reaktion Herders auf die erste Götz-Fassung konnte den jungen Dichter nicht von seinem Vorhaben abhalten: "Ich ließ mich dadurch nicht irre machen, sondern faßte meinen Gegenstand scharf in's Auge; der Wurf war einmal gethan, und es fragte sich nur, wie man die Steine im Bret vortheilhaft setzte" (28,198). Da er den eigenen Ansatz als Wurf bezeichnet und das Dichten als Spiel versteht, erscheint die Tätigkeit des Dichters als Zusammenwirken von Glück und Eigenleistung. Der Dichter als Spieler ist derjenige, der einen Wurf tun kann (dabei das Ergebnis aber nicht voraussieht) und der aus diesem auch etwas machen muß. Im sechzehnten Buch erzählt Goethe von seinem "nachtwandlerischen Dichten" und von seiner besonderen Ehrfurcht diesen Dichtungen gegenüber, "weil ich mich doch ohngefähr gegen dieselben verhielt, wie die Henne gegen die Küchlein, die sie ausgebrütet um sich her piepsen sieht" (AA 1,557). Die "Ausübung dieser Dichtergabe" trat "am freudigsten und reichlichsten [... ] unwillkürlich, ja wider Willen hervor" (AA 1,556), und als wolle er dies beweisen, fügt der Erzähler ein Gedicht an. Kurz zuvor macht er sich - von Spinoza angeregt - Gedanken über die Natur, die "nach ewigen, nothwendigen dergestalt göttlichen Gesetzen [wirkt], daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte" (AA 1,555). Mehrfach ist vom "Entsetzen" die Rede, das "uns" überfällt, wenn in Tieren oder Pflanzen etwas Vernunftähnliches erscheint oder umgekehrt, wenn Menschen unvernünftig handeln. Diese von Spinoza vermittelten Einsichten wendet Goethe auf sein "eigenes Wesen sehr wunderlich an"; damit werde seine Auffassung von seiner Dichtergabe besser verständlich. Er betrachtet das ihm "innewohnende dichterische Talent ganz als Natur" und "die äußere Natur als den Gegenstand desselben" (AA 1,556). So sind die zuvor erwähnten ewigen Gesetze der Natur in ihm wirksam, und wenn "die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte" (AA 1,555), kann sich der Dichter seinem Talent nicht entziehen. Das belegt Goethe mit eigenen Erfahrungen: Er erzählt, wie er im

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Halbschlaf ans Pult stürzte und mit Bleistift (um vom "Schnarren und Spritzen der Feder" nicht aus dem poetischen Nachtwandeln gerissen zu werden) Gedichte niederschrieb, häufig ohne den Bogen zurechtzurücken (AA 1,557). Er erweckt den Eindruck, als könne er sich seinem Talent unter keinen Umständen widersetzen. 29 Dabei entsteht nichts Planbares, er dichtet nicht willentlich. Die Gabe des Dichtens wird ihm zuteil. Mit dieser Darstellung erhebt Goethe sein Talent in höhere Sphären, es ist etwas Naturhaftes, etwas Göttliches. Eine Distanz des Erzählers zum Protagonisten ist hier nicht zu spüren. Im Anschluß bringt er ein weiteres Beispiel dafür, wie die Dichtung im Umgang mit Unerfreulichem hilfreich sein kann. Himburg druckte ohne Goethes Erlaubnis dessen Werke. Der antwortete nicht dem Verleger, sondern "rächte" sich "im Stillen" mit einem Gedicht (AA 1,557). Daß es "die Natur" war, die solche Gedichte "unaufgefordert" in ihm hervorbrachte, zeigt, daß dies eine Illustration des vorher Gesagten ist. Hier sind beide Besonderheiten des Dichtens eng verbunden: zum einen das naturhaft gegebene und damit gleichsam göttliche Talent, zum anderen die Fähigkeit, mit ebendiesem Talent Widrigkeiten erträglich zu machen. Wenn er im siebzehnten Buch berichtet, daß er Zeit fand, "dasjenige zu vollbringen wohin mich Talent und Leidenschaft unwiderstehlich hindrängten" (AA 1,574), erscheint das Dichten als eine Art Reaktion auf einen höheren Antrieb, dem er zu folgen hat. Goethe erzählt, er war "die frühsten Morgenstunden [... ] der Dichtkunst schuldig, der wachsende Tag gehörte den weltlichen Geschäften" (AA 1,574). Der Dichter ist seiner Kunst etwas schuldig, er dient ihr, und diese höhere Tätigkeit ist deutlich unterschieden von den weltlichen Geschäften. Daß das Dichten nur bedingt mit dem Willen des Dichters zu tun hat, zeigt sich auch während der Entstehung von Dichtung und Wahrheit. Jedenfalls versucht der Erzähler, beim Leser diesen Eindruck zu erwecken: Nachdem er von Lenz berichtet hat, schließt er ein Portrait Klingers an und schreibt, es müsse "dem Verfasser um so angenehmer sein, daß ein entschiedener Gegensatz sich ihm anbietet" (28,252). Als sei die Ordnung der Textteile nicht Sache des Verfassers, legt Goethe Wert darauf, daß der Gegensatz zwischen den beiden Portraitierten sich anbietet. So inszeniert er eine Eigendynamik des Textes, der er sich nicht entziehen kann. Ein Beispiel hierfür sind - auf der Ebene des autobiographischen Helden - auch die oben erwähnten Schauspiele, die "mit einem tragischen Ende drohten" (27,114) und dem Dichter ihre Vollendung unmöglich machten. Nachdem Goethe am Ende des elften Buches den Besuch im Mannheimer Antikensaal geschildert hat, schreibt er: "Wie gern hätte ich mit 29 Der Dichter setzt sich auch im Juristen durch, wie "der solide Georg Schlosser" einmal bemerkt: "du hast dich in diesem Fall mehr als Schriftsteller, denn als Advocat bewiesen" (28,191). So stellt sich der Verfasser gerne dar: von einem Freund beschrieben und damit dem Vorwurf der eitlen Selbstbeschreibung enthoben.

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dieser Darstellung ein Buch angefangen, anstatt daß ich's damit ende" (28,87). Wenn dies die Einschätzung des Verfassers sein soll, gibt er vor, seine autobiographische Dichtung nicht im Griff zu haben, ihr gewissermaßen ausgeliefert zu sein, und damit ergänzt er die später geschilderten Erfahrungen des dichtenden Protagonisten. Die Eigenwilligkeit literarischer Stoffe geht auch aus einer Bemerkung aus dem fünfzehnten Buch hervor: "Weil nun aber alles, was ich mit Liebe in mich aufnahm, sich sogleich zu einer dichterischen Form anlegte, so ergriff ich den wunderlichen Einfall, die Geschichte des ewigen Juden [... ] episch zu behandeln" (28,306f.). Nicht er formt das Aufgenommene, es legt sich zu einer dichterischen Form an, und er ergreift den Einfall. Entscheidend ist auch, wie der Dichter etwas aufnimmt: mit Liebe. An anderer Stelle spricht der Erzähler auch von "liebevoller Nachahmung", vom Bemühen des Protagonisten, "das Äußere liebevoll zu betrachten" (28,149). Diese liebende Hinneigung zu den Dingen ist eine Voraussetzung dafür, daß sie sich poetisch verwandeln. Der Dichter, zur liebevollen Betrachtung befähigt, reagiert lediglich. So scheint das Verhältnis von Text und Dichter kaum faßbar und das Geschäft des Dichtens um so schwieriger und geheimnisvoller. Der Held der Dichter-Autobiographie hielt sein "productives Talent" für eine "Naturgabe", sie gehöre ihm "ganz eigen" an und könne "durch nichts Fremdes weder begünstigt noch gehindert werden" (28,311). Goethe macht deutlich, daß es sich um seine damalige Sicht der Dinge handelt. Diese Auffassung bezog er nicht allein auf einen Lebensbereich, die Kunst, er wollte darauf sein "ganzes Dasein in Gedanken gründen" (28,311). Dies erwähnt er im Zusammenhang mit der Einsicht, daß der Mensch letztlich auf sich zurückgewiesen werde. Selbst "die Gottheit" könne, wie es scheine, dem Menschen "dessen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht immer, wenigstens nicht gerade im dringenden Augenblick, erwidern" (28,310f.). Die "sicherste Base" der Selbständigkeit fand der Protagonist in seinem produktiven Talent; dieses gleicht demnach etwas aus, das die Gottheit versäumt. Die Vorstellung von der Naturgabe "verwandelte sich in ein Bild" (28,311), damit ist in die Beschreibung dieses Talents gleich ein Beleg desselben eingeflochten. Es ist das Bild des Prometheus, "der, abgesondert von den Göttern, von seiner Werkstätte aus eine Welt bevölkerte" (28,311). Dieses Bild stellt Goethe neben seine Erfahrung, daß er nur in der Einsamkeit Bedeutendes schaffen konnte, und dem Leser bleibt nichts, als die Parallele zwischen dem jungen Dichter und Prometheus zu ziehen. Bei dieser Wesensverwandtschaft liegt es nahe, daß die "Fabel des Prometheus" im Protagonisten lebendig wird. Nicht er selbst erweckt sie zum Leben oder bearbeitet sie, sie selbst bietet sich an. Das "alte Titanengewand", den Stoff im Doppelsinn, schnitt er sich nach seinem "Wunsche zu, und fing, ohne weiter nachgedacht zu haben, ein Stück zu schreiben an" (28,312). Der freie Umgang mit der "Fabel" ist prometheisch; wie von selbst verwandelte sich die Vorstellung in ein Bild, und der Dichter

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muß nicht weiter nachdenken, bevor er ein eigenwilliges Stück daraus macht. Der Monolog des Prometheus löste, über Umwege, den Spinoza-Streit aus, rückblickend spricht der Erzähler vom "Zündkraut einer Explosion" (28,313). Die selbstreflexive Dichtung hat etwas sichtbar gemacht, was sonst vielleicht nie zum Vorschein gekommen wäre. Goethes sich entwickelndes Selbstverständnis als Dichter ist auch eine Reaktion auf die damalige Lage der Literatur. Im siebenten Buch versetzt er seine Leser mit ausftihrlichen "cursorischen und desultorischen Bemerkungen über die deutsche Literatur" bewußt in Verwirrung, um ihnen eine Vorstellung zu geben "von jenem chaotischen Zustande [... ], in welchem sich [sein] armes Gehirn befand" (27,108). Damit ist der Leser in die Geftihls- und Gedankenwelt des Protagonisten einbezogen, und er wird zudem daran erinnert, daß er einen Text vor sich hat, der diese Wirkungen gezielt verursacht, und es ist auch eindeutig, daß es sich nicht um den Versuch einer objektiven Literaturgeschichte handelt. Der Protagonist erkennt, daß ihm in seinem Dichten nichts anderes übrig blieb, als auf Selbsterlebtes zurückzugreifen. "Verlangte ich nun zu meinen Gedichten eine wahre Unterlage, Empfindung oder Reflexion, so mußte ich in meinen Busen greifen" (27,109). Auf diese Weise entstehen allerlei kleine Gedichte. Diese Fähigkeit des Protagonisten ist die Voraussetzung ftir seinen sehr speziellen Umgang mit Widerfahrnissen jedweder Art: Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußern Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deßhalb zu beruhigen (27,109f.).

Selbst wenn er wollte, hätte er von dieser Richtung nicht abweichen können. Das klingt so, als werde er - gewissermaßen von Natur aus oder von höheren Kräften geleitet - zum Dichten gedrängt. Niemandem sei die Fähigkeit zur dichterischen Verwandlung nötiger gewesen als ihm, schreibt Goethe, da ihn "seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf' (27,110).30 Die Dichtergabe wirkt beruhigend, klärend, ausgleichend, sie ist das adäquate Mittel ftir den extrem Empfindenden. 3 ! Der Erzähler vermittelt den Eindruck, dem Protagonisten sei dieses Talent gegeben, weil er es braucht. Als sei es der sinnvollen Einrichtung der Welt zu verdanken, daß er diese außergewöhnliche Gabe 30 Diese Eigenart nimmt mitunter krankhafte Ausmaße an, zum Beispiel in Leipzig: "Meine Natur, von hin länglichen Kräften der Jugend unterstützt, schwankte zwischen den Extremen von ausgelassener Lustigkeit und melancholischem Unbehagen" (27,186). 3! Auch vor dem Dämonischen suchte er sich zu retten, indem er sich, nach seiner "Gewohnheit, hinter ein Bild flüchtete" (AA 1,641). Das heilsame Dichten empfiehlt der Protagonist auch anderen. Jacobi fordert er auf, "alles was sich in ihm rege und bewege, in irgend einer Form kräftig darzustellen. Es war das Mittel, wodurch ich mich aus so viel Verwirrungen herausgegriffen hatte" (28,292).

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hat. Aus dieser Sicht ist es ausgeschlossen, daß er allein aus Ehrgeiz oder gar aus Eitelkeit zum Dichter geworden ist. Unmittelbar im Anschluß an diese Darlegung des dichterischen Umgangs mit der Welt folgt eine der meistzitierten Stellen aus Dichtung und Wahrheit: "Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Confession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist" (27,110). Häufig wird der Satz so verstanden, daß mit den Bruchstücken die einzelnen Dichtungen gemeint sind; diese Bruchstücke sollen mit dem Mörtel der Entstehungsumstände und des Lebens zu einer Lebensgeschichte zusammengefügt werden. 32 Bezieht man den fingierten Brief aus dem Vorwort mit ein, könnte es naheliegen, daß das dort geforderte "Bild des Autors und seines Talents" (26,3) als Ergänzung der Werkausgabe dienen soll. Hierzu möge der Dichter seinen Lesern Vorbilder und theoretische Grundsätze "in einem gewissen Zusammenhange vertrauen" (26,5). Goethe gebe an der Stelle von der "großen Confession" "das poetologische Prinzip seiner Autobiographie an", meint Klaus-Detlef Müller. Er weist zudem darauf hin, daß Goethe mit der Formulierung von den Bruchstücken "den verbreitetsten Terminus der Gattungsgeschichte der Autobiographie systematisch aufnimmt".33 Ob es tatsächlich ein poetologisches Prinzip ist und ob Dichtung und Wahrheit diesem Prinzip letztlich entspricht oder sich ihm widersetzt, ist schwer zu ergründen. Es bleibt offen, was mit "Confession" genau gemeint ist, ein Bekenntnis oder eher ein Geständnis. Zudem ist nicht eindeutig, wem Goethe was bekennt. Dem Leser seiner Werke die Entstehungsbedingungen derselben, wie man aus dem Vorwort schließen könnte? Sich selbst die vergangenen Pläne und Wirren und Entscheidungen? Es ist wohl mehr als eine scherzhafte Untertreibung, wenn Goethe Dichtung und Wahrheit als "Büchlein" bezeichnet, als "gewagte[n] Versuch", die große Konfession zu vervollständigen (27,110). Mit der "großen Confession" ist das gesamte Schaffen des Dichters gemeint, dazu zählt auch die diese Werke überschauende Autobiographie. So ist das "Büchlein" wiederum selbst Bruchstück der Konfession, dieses poetisch gestalteten Bekenntnisses, und zugleich mehr als nur ein Teil davon, sondern etwas die Einzelteile Umgreifendes. Es sieht so aus, als sei sich der Verfasser bewußt, daß diese biographischen Bemühungen lediglich eine Annäherung an sein Leben sein können. Er spielt mit den Schwierigkeiten der Autobiographie. Im zwölften Buch äußert sich 32 Gerhard Kaiser bemerkt zu "Goethes berühmte[m] Dictum", es sei "zu Tode gehetzt worden in der Suche nach biographischen Mustern, Anlässen und Abhängigkeiten seiner Werke, die oft auf der Hand liegen. Darüber ist vernachlässigt worden, daß der biographische Anlaß erst durch produktive Transposition, Entfaltung und Bearbeitung dichterische Gestalt gewinnt"; Gerhard Kaiser: Wozu noch Literatur? Über Dichtung und Leben. München 1996, S. 61. 33 Müller: Kommentar in FA 1147 und \041.

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Goethe grundsätzlich zu seiner autobiographischen Tätigkeit und sagt über sein Buch: "Es hat sich nicht als selbstständig angekündigt; es ist vielmehr bestimmt, die Lücken eines Autorlebens auszufüllen, manches Bruchstück zu ergänzen und das Andenken verlorner und verschollener Wagnisse zu erhalten" (28,150). Hier sind frühere Dichtungen und wohl auch Erlebnisse als "Wagnisse" bezeichnet. In der Aussage zur "großen Confession" sagt Goethe von seinem "Büchlein", es sei ein "gewagter Versuch". Die Dichtungen und die Dichtung der Dichtungen sind etwas Gewagtes, ein bißchen kühn, möglicherweise in gefährlicher Nähe zum Scheitern, und das Ergebnis ist ungewiß. Auch an dieser Stelle ist die Identität von Verfasser, Erzähler und Protagonist augenfällig. Die Stelle zur "großen Confession" bezeichnet im siebenten Buch den Übergang von der Schilderung der "wässerigen, weitschweifigen, nullen Epoche" (27,88) der deutschen Literatur jener Zeit zu Goethes Schritt, sich daraus herauszuretten. Einzig der Rückgang auf Selbsterlebtes bietet einen Ausweg aus der Nichtigkeit. 34 Das gilt nicht nur rur die Dichtungen, die eindeutig als Fiktion zu verstehen sind, sondern auch für die Autobiographie, die den Erlebnissen des Verfassers und Erzählers und Protagonisten noch näher ist. Damit ist nicht gesagt, daß die Umkehrschlüsse - von der poetischen Verarbeitung auf die tatsächlichen Erlebnisse - zulässig und für das Textverständnis dienlich sind. Dies zeigt sich besonders in den Erzählungen von der Entstehung und Rezeption des Werther.35 Seine "Leichtigkeit zu reimen und gemeinen Gegenständen eine poetische Seite abzugewinnen" (27,36) stellt Goethe auch im sechsten Buch heraus. Gemeinsam mit seinem Freund Horn hat er allerlei Erlebnisse ,poetisch aufgestutzt' , "und so entstand durch die Schilderung einer Begebenheit immer eine neue Begebenheit" (27,37). Die "poetische Nachbildung" bereitete ihm größtes Vergnügen. Mit "immer wachsender Leichtigkeit" war er dichtend tätig, instinktiv und unbeirrt (27,42). Es war gewissermaßen ein poetischer Naturzustand, in dem der angehende Dichter sich wohlfühlte. Wissend, daß die eigenen Werke noch nicht vollendet sind (hiermit schreibt er sich einen kleinen Anflug von Bescheidenheit zu), war er überzeugt, daß er eines Tages neben bedeutenden Dichtem wie Geliert und Hagedorn "mit Ehre dürfte genannt werden" (27,42). Das scheint die Hoffnung vom Ende des vierten Buches zu präzisieren, wo er sich den Dichterlorbeer wünscht (vgl. 26,257). In diesen sehr unterschiedlichen Aussagen über das Dichten kehren Natur und Instinkt immer wieder, und es bleibt etwas Unbestimmbares. Das zeigt sich auch in den Überschneidungen von der Welt des Wirklichen und der des Ge-

34 35

Vgl. auch Müller: Autobiographie und Roman, S. 279f. V gl. Kapitel 7.

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dichteten. An Günther, "der ein Poet im vollen Sinne des Worts genannt werden darf' (27,81), schätzte der Protagonist, daß er alles besaß, "was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen, und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben" (27,81). Damit wird deutlich, daß nicht eine wirklichkeitsfeme Sphäre des Poetischen abgesondert vom "gemeinen wirklichen Leben" existiert, sondern daß das Poetische die Wirklichkeit durchdringt oder berührt oder ihr jedenfalls nicht fern ist. Das erinnert an eine Passage aus dem ersten Buch: die Großmutter ließ ein Puppenspiel auffUhren und erschuf damit "in dem alten Hause eine neue Welt" (26,18f.). Goethe hebt hervor, wie sehr ihn dieses Schauspiel beeindruckte und prägte. An dieser Stelle beläßt es der Erzähler dabei, die Begeisterung zu erwähnen, an der späteren Bemerkung über Günther reflektiert er schon die Vorzüge dieser poetischen Welt. Nachdem ein possenhafter Brief des Protagonisten allerlei Verwirrungen und Sorgen verursacht hat, merkt der Erzähler lapidar an: "Das wirkliche Leben verliert oft dergestalt seinen Glanz, daß man es manchmal mit dem Firniß der Fiction wieder auffrischen muß" (27,244). Und dies sei nicht die letzte Aktion dieser Art gewesen. Solche Auffrischungen der Wirklichkeit sind ein Indiz dafUr, daß Fiktion und Wirklichkeit auf irgendeine Weise kompatibel sind - auf der Ebene des Protagonisten. Goethe inszeniert die vielschichtigen Wechselwirkungen von Poetischem und Wirklichem in Dichtung und Wahrheit, das bedarf der eingehenderen Interpretation.

11. Leben und Dichtung und Leben Der Erzähler erinnert sich im achtzehnten Buch "eines merkwürdigen Wortes" des Freundes und mephistophelischen Begleiters Merck, das er sich oft wiederholte und immer wieder als bedeutend empfand: "Dein Bestreben, sagte er, deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative, zu verwirklichen und das giebt nichts wie dummes Zeug" (AA 1,600).1 Der Protagonist sieht sich in dieser Charakteristik exakt getroffen, und der Erzähler fUgt hinzu: "Faßt man die ungeheure Differenz dieser beiden Handlungsweisen, hält man sie fest und wendet sie an; so erlangt man viel Aufschluß über tausend andere Dinge" (AA 1,600).2 Mit diesem Selbstportrait, das er dem Freund in den Mund legt, benennt Goethe ein Grundthema seiner Autobiographie. Die "poetische Gestalt", die der Protagonist dem Wirklichen zu geben bestrebt ist, kann ganz unterschiedlich geartet sein. Es kann, wie bereits dargestellt, ein Versuch sein, nach literarischen Mustern zu leben oder mit Hilfe der eigenen Dichtung besser zu leben. Innerhalb von Dichtung und Wahrheit greifen das Poetische und das Wirkliche sowohl auf der Ebene des Protagonisten als auch auf der der Darstellung vielfältig ineinander. Fünf Ausschnitte mögen das belegen. Die ausgewählten Textstücke sind zum Teil kaum vergleichbar. Tertium comparationis ist die Verschränkung von Dichtung und Leben. Die im Vorwort erwähnte "halb poetische, halb historische Behandlung" (26,8) des Lebens tritt in immer neuen Ausformungen und mit wechselnden Akzenten zutage. In den folgenden Interpretationen zeigt sich, wie Wirklichkeit und Dichtung manchmal fast unmerklich ineinander übergehen und dieses seltsame Wechselverhältnis häufig thematisiert ist. Goethe macht bereits mit dem Titel auf dieses ProI Die Stelle steht im Zusammenhang mit der Reise in die Schweiz",die andem" sind die Brüder Stolberg. Merck sieht die Reise "mephistophelisch querblickend" an und beschreibt die Gefährten "mit schonungsloser Verständigkeit" (AA 1,599). Im Schema zur Schweizer Reise (entstanden im Oktober 1821) spricht Goethe ohne den Umweg über Merck von sich: "Meine unablenkbare Richtung dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben." Plp. 138; AA II,616. 2 Dies illustriert der Erzähler umgehend mit einem Beispiel: seine Freunde waren heftig bemüht, sich in einen Naturzustand zu versetzen. Dies glaubten sie nackt unter freiem Himmel badend zu erreichen, "es gab Skandal auf alle Fälle" (AA 1,600). Das ist die Gegenrichtung zum Ansinnen des Protagonisten, "dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben"; die Gefährten versuchten, wie im Buch zu leben. Das führt im Leben zu Schwierigkeiten und ist Goethe offenbar zuwider: "ich läugne nicht ich beeilte unsre Abreise" (AA 1,600).

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11. Leben und Dichtung und Leben

blem aufmerksam, das nicht nur die Lebensgeschichte durchzieht, sondern ihre Darstellung formt, schwierig macht und anregend. Wenn im folgenden nach den Interferenzen von Wirklichkeit und Dichtung gefragt wird, bezieht sich das nicht auf das wahre Leben des Dichters Goethe und die Umsetzung in Dichtung und Wahrheit, sondern auf die Gestaltung dieses Zusammenhangs in der Autobiographie. Dabei spielt auch Goethes rascher Wechsel der Perspektiven eine Rol1e: Mal befindet sich der Leser auf Augenhöhe mit dem Protagonisten, dann wird er vom Erzähler distanziert von den Eigenheiten des Helden unterrichtet, und bisweilen mischt sich der Verfasser ein, auf dessen bekannte Werke verwiesen wird.

4. Fast wie im richtigen Leben: Sonntags ausflug ins Märchen Goethe stel1t sich als einen lesend wie dichtend frühreifen Knaben dar. Schon in jungen Jahren vermochte er mit selbsterfundenen Geschichten seine Zuhörer zu entzücken. Im zweiten Buch berichtet er, wie er seine Freunde "sehr glücklich machen" konnte, wenn er ihnen Märchen erzählte, "und besonders liebten sie, wenn ich in eigner Person sprach" (26,76).3 Der Knabe muß nicht allzuviel Anstrengung aufbringen, um seine Phantastereien als wirklich darzustel1en, darauf weist er schon vor Beginn des Neuen Paris hin. Seine Zuhörer haben sich mehr selbst betrogen, als er sie hätte betrügen können, sagt der Erzähler (vgl. 26,77), der sowohl der Erzähler der Autobiographie als auch des Märchens ist. Daß er den Betrug erwähnt ~ wenn er ihn auch nicht sich selbst anlastet ~ , zeigt die Nähe von Dichtung und Täuschung. Er kennt die Gefahren solcher Unternehmungen, er weiß, daß sie "gewiß nicht ohne schlimme Folgen" für ihn geblieben wären, hätte er nicht, seinem "Naturel1 gemäß, diese Luftgestalten und Windbeuteleien zu kunstmäßigen Darstellungen" verarbeiten gelernt (26,77). Die Gabe des Dichtens kann verheerende Folgen haben, doch hier kommt dem Dichter sein Naturell zugute, das diese Fähigkeit in geordnete Bahnen lenkt. Im Protagonisten werden die negativen Seiten des Dichtertalents ausgeglichen, und zudem entsteht auf diese Weise Kunst. Diesen Wesenszug bezeichnet der Erzähler als "Trieb" und sieht darin "diejenige Anmaßung [... ], womit der Dichter selbst das Unwahrscheinlichste gebieterisch ausspricht, und von einem jeden fordert, er solle dasjenige für wirklich erkennen, was ihm, dem Erfinder, auf irgend eine Weise als wahr erscheinen konnte" (26,77). Diese Aussage steht im Zusammenhang mit dem jungen

3 Der Erzähler gebraucht hier den Begriff "Mährchen"; wenn die Freunde solche Geschichten verlangen, ist es um so verwunderlicher und unangemessener, daß sie nach dem Vortrag versuchen, die Wahrheit des Erzählten zu erforschen.

4. Fast wie im richtigen Leben: Sonntagsausflug ins Märchen

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Märchenerzähler, und sie weist darüber hinaus. 4 Damit ist die Frage verbunden, was wahr ist und was wirklich, und vielleicht ist das auch eine Anspielung auf die "Wahrheit" aus dem Titel. Wohlwissend, daß es als anmaßend empfunden werden mag, richtet der Erzähler in der Autobiographie an die Zuhörer nicht die Bitte, sondern die Forderung, sie mögen nicht zweifeln. Was dem Dichter "auf irgend eine Weise als wahr erscheinen konnte", hat der Rezipient für wirklich zu nehmen, und scheint es ihm auch noch so unwahrscheinlich. Vielleicht gilt diese Forderung auch dem Leser von Dichtung und Wahrheit. Goethe spricht hier nicht direkt von sich, sondern erzählt, wie "der Dichter" vorgeht. Und da er diesen "Trieb" bei sich entdeckt, zählt er sich offenbar zu "den Dichtem". Der Erzähler beläßt es in den Ausführungen zum dichterischen Trieb und zur Anmaßung des Dichters nicht bei einer allgemeinen Überlegung, er ergänzt und illustriert sie mit einem Beispiel, dem Paris-Märchen. Dafür erhält der sehr junge Erzähler großen Beifall.

In der Autobiographie ist das Märchen durch die Überschrift hervorgehoben. Es trägt den Titel Der neue Paris, und der Untertitel ergänzt, daß es sich um ein Knabenmärchen handelt. Nach diesem auch graphisch kenntlich gemachten EinschnittS beginnt eine neue Erzählung, die allerdings von der vorangegangenen nicht deutlich zu unterscheiden ist. Mit dem Anfang "Mir träumte neulich" gibt Goethe - das ist sowohl der Autobiographie-Protagonist und -Erzähler als auch der Erzähler des Märchens und zudem der Held desselben - vor, die vorangegangenen Schilderungen fortzusetzen (26,78). Auch wenn nur eine Zeile zuvor an nicht zu übersehender Stelle darauf hingewiesen wurde, daß nun ein Märchen folgt, binden das Personalpronomen und die zeitliche Bestimmung diesen Text in die autobiographischen Erzählungen ein und auch, aus der Perspektive der jungen Zuhörer, in das Leben des jungen Märchenerzählers. Das Verhältnis vom Protagonisten der Lebensgeschichte und dem des Märchens bleibt ungeklärt. 6 Es ist ein Spiel mit diesem Verhältnis, das durch das "Ich" Identität sein könnte, was wegen des Untertitels mehr eine märchenhafte als eine logische Identität zu sein scheint. Dieser Zwischenzustand macht nicht nur die Erzählung in der Erzählung besonders reizvoll, sie erinnert auch an ein 4 Jochen Golz erblickt darin "ein Grundgesetz Goethescher Produktions- und Wirkungsästhetik", das hier "fast beiläufig fonnuliert" werde; Jochen Golz: Märchen Goethes neu gelesen. Der neue Paris und Die neue Melusine. In: Gerhard KaiserIHeinrich Macher (Hrsg.): Schönheit, welche nach Wahrheit dürstet. Beiträge zur deutschen Literaturvon der Aufklärung bis zur Gegenwart. Heidelberg 2003, S. 71-83, hier S. 74. 5 In der Erstausgabe und in der Ausgabe letzter Hand ist das Märchen durch einen längeren mittig gesetzten Querstrich vor und nach dem Titel sowie nach dem Ende deutlich abgesetzt. 6 Michael Gärtner meint, Goethe präsentiere den Neuen Paris nicht als fingierte Rede des Protagonisten: "Eine Identität zwischen dem Erzähler und dem jugendlichen Protagonisten, der das Vorbild zum Ich-Erzähler des Märchens abgibt, kann nicht direkt hergestellt werden." Gärtner, S. 143.

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11. Leben und Dichtung und Leben

Grundproblem der Autobiographie. Hier wie dort ist mit dem "Ich" nicht nur der Held der Geschichte bezeichnet, sondern auch der Erzähler und der Verfasser, und da kann es Verschiebungen geben, die nicht völlig zu ergründen sind. Die Geschichte vom Neuen Paris beginnt mit einem Traum. Zuhörer und Leser könnten zunächst annehmen, die Vorkommnisse im Traum bildeten das Märchen. Doch die Lage ist verwickelter, es ist ein Traum im Märchen, das in mancher Hinsicht den Lebensumständen des Erzählers ähnelt. 7 Der Traum endet zwar innerhalb der Erzählung, bleibt aber mit dem weiteren märchenhaften Geschehen verbunden. 8 Am Ende des Märchens merkt der Erzähler an, er habe nach dem Vergleich mit dem Schauplatz "beinahe glauben" müssen, "das zweite Abenteuer sei so gut als das erste ein Traum gewesen" (26,98f.). Damit ist sowohl die Nähe zum Traum als auch der Unterschied ausgesprochen. Der Erzähler läßt es zunächst so erscheinen, als sei das Wunderbare auf den Traum begrenzt, denn nach dem Traum geht es im Ton der autobiographischen Erzählung weiter, auf bekanntem Terrain. Auch jenseits der Grenzen des Märchens bleibt das Geschehen in der Schwebe zwischen Traum und Wirklichkeit und Phantasie des autobiographischen Helden. 9 Es gibt Anhaltspunkte im Märchen, die auf die außerliterarische Wirklichkeit des Erzählers innerhalb von Dichtung und Wahrheit weisen, und es gibt mindestens ebensoviele Abweichungen und unerklärliche Sonderbarkeiten. 10 So wie der Autobiograph von sich erzählt, spricht der Protagonist nun zu seinen Zuhörern. Das Märchen fängt an wie eine freundliche Plauderei und gleich-

7 Schon der erste Satz, schreibt Volker Klotz, deute den Vorgang an, "der auch fortan die Erzählung bestimmt: ein mähliches Crescendo aus verläßlicher Gegenwart in die unberechenbare Wunderzone"; Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. Fünfundzwanzig Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Modeme. Stuttgart 1985, S. 116. 8 Ernst Beutler spricht einfach von der "Fortsetzung des Traums"; Ernst Beutler: Die Philemon-und-Baucis-Szene, die Merianbibel und die Frankfurter Maler. In: Beiträge aus Frankfurter Bibliotheken zum Gutenbergjahr 1941 oder 1942, S. 3-51, hier S. 40. 9 Vgl. auch Karl-Heinz Kausch: Goethes "Knabenmärchen" "Der Neue Paris" - oder "Biographica und Aesthetica". In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 24 (1980), S. 102-122, hier S. 109: "Halb wirklich und halb unwirklich kündigt sich also die Geschichte an: Sie beginnt in Frankfurt und zugleich im Traum. Bis zum Ende, ja über das letzte Wort des Märchens weit hinaus wird das der Grundzug des Textes bleiben." 10 Gonthier-Louis Fink ist der Ansicht, daß Goethe Wirklichkeit und Seltsames nicht mische, Held wie Leser wüßten, wo der eine oder andere Bezirk beginne und ende. Und kurz darauf schreibt Fink: "le merveilleux ne fait pas vraiment intrusion dans la n:alite"; Gonthier-Louis Fink: Le Nouveau Paris de Goethe ou L'echec provisoire de l'enfant. In: Etudes Germaniques 38 (1983), S. 32-55, hier S. 36f. Aus der Einleitung zum Neuen Paris gehe hervor, daß Goethe die Vermischung von Wunderbarem und Realität verabscheue (ebd. S. 39). Und selbst wenn dem so wäre: Wieso sollte der Verfasser die Vermischung dann so kunstvoll inszenieren?

4. Fast wie im richtigen Leben: Sonntagsausflug ins Märchen

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zeitig bedeutungsvoll, in der Nacht vor Pfingsten. Der Erzähler beschreibt sich selbst und bezieht mit einem "wie ihr wißt" (26,78) die Zuhörer mit ein. Das ist rezeptionsästhetisch nicht gerade subtil. Aber - das hat der Erzähler schon vor dem Märchen klargestellt - die gespannt Lauschenden bedürfen auch nicht mehr: sie sind erfreut, daß ihrem Gespielen "so wunderliche Dinge könnten begegnet sein", und es kümmert sie nicht, daß sie eigentlich wissen müßten, wie des Erzählers Alltag aussieht und daß darin kaum Zeit und Raum für derartige Abenteuer ist, die überdies "heut oder gestern" in anderen Gegenden geschahen (26,77). Auch der Leser von Dichtung und Wahrheit bemerkt, daß beispielsweise die beiläufige Erwähnung des sonntäglichen Mittagessens am groß elterlichen Tische im Märchen (vgl. 26,80) auf eine Passage aus der Erzählung des sogenannten wirklichen Lebens nur wenige Seiten zuvor anspielt (vgl. 26,71). Und später, im dritten Buch, beschreibt Goethe seine Sonn- und Festtagskleidung mit den Worten, er sei "angezogen wie man mich in jenem Mährehen gesehen" (26,149). Auch "die lieben Eltern" (26,78) kamen in der vorangegangenen autobiographischen Erzählung bereits vor. Die Requisiten und Kulissen des Märchens sind dem Leben des Autobiographie-Heiden entliehen, 11 und dem Leser wird klar, daß beide Sphären zumindest vergleichbar sind und der Protagonist nur schwer einer von beiden zugeordnet werden kann. Goethe (das ist in diesem Fall der Verfasser) spielt mit dem Gemisch von Erdichtetem und Erlebtem. Das erfundene Selbsterlebte, von dem der Märchenerzähler berichtet, setzt die Leser der Autobiographie wie auch die Zuhörer innerhalb derselben in Verwirrung: Da tut der Protagonist einer Autobiographie so, als sei er Zeuge oder vielmehr Held einer märchenhaften Geschichte gewesen. Das mag in einzelnen Details kaum glaubhaft erscheinen, aber die Erlebnisse bleiben an den gebunden, der sie erzählt. Es ist eine "paradoxe Fiktionalität", wie sie Ingrid Kreuzer diagnostiziert. 12

11 Ganz in diesem Sinne ist auch die Illustration in einer Ausgabe der Autobiographie von 1903 ausgewählt. Unter einem Stich, der die "schlimme Mauer" zeigt, steht erklärend: "Der Schauplatz des Knabenmärchens". Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Illustrierte und kommentierte Ausgabe [der Kommentar ist nie erschienen]. Besorgt von Richard Wülker. Leipzig 1903, S. 45. Und der Degen, den Goethe im Leben und der Erzähler des Neuen Paris möglicherweise im Märchen trug, ist - zur Freude der Kommentatoren - im Ausgabenbuch des Vaters am 6. September 1761 verzeichnet: "gladius Guelfi argenteus, 15 Gulden"; Johann Caspar Goethe: Liber domesticus. 1753-1779. Hrsg. von Helmut Holtzhauer unter Mitarbeit von Irmgard Möller. 2 Bände. BemlFrankfurt am Main 1973 [Faksimile, nicht paginiert]. Mit diesen und anderen überprüfbaren Einzelheiten aus Goethes Leben versucht Ernst Beutler, das Märchen zu datieren, erkennt dann jedoch die Vergeblichkeit solcher Bemühungen: ,,Aber man sollte ein Märchen ebensowenig datieren wollen wie deuten"; Beutler: Einfiihrung in GA 905. 12 Ingrid Kreuzer: Strukturprinzipien in Goethes Märchen. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 21 (1977), S. 216-246, hier S. 236.

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H. Leben und Dichtung und Leben

Die einleitende Szene vor dem Spiegel zeigt den Protagonisten in seiner Zeit. Es gelingt ihm nicht, sich anzuziehen, ständig verwechselt er die Kleidungsstücke. 13 Sie machen sich selbständig und fallen dem Jungen vom Leibe, damit kommt etwas Unerklärliches in die alltägliche Situation. Es ist, als passe er nicht in seine Rolle, als mühe er sich mit dem falschen Kostüm. Da tritt Merkur hinzu, den der Märchenheld wie selbstverständlich sofort erkennt (was selbst Merkur erstaunt).14 Er überreicht ihm drei Äpfel und erteilt ihm einen "wichtigen Auftrag" "von den Göttern" (26,79). Kaum nimmt der Knabe die Äpfel in die Hände, werden sie zu "drei schönen, schönen Frauenzimmerchen in mäßiger Puppen größe" (26,79). Diese entschweben, sobald er sie erhaschen will, und ein noch zauberhafteres Geschöpf erscheint. Auch dieses läßt sich nicht einfangen, allein der Versuch des Helden wird mit einem heftigen Schlag auf den Kopf bestraft. Aber das alles ist noch der Traum eines mythologisch gebildeten Knaben, das könnte er so auch außerhalb des Märchens träumen. Aus "dieser Betäubung" (26,80) erwacht der Junge, als es Zeit ist zum Ankleiden und zum Kirchgang. Somit sind Traum und Wirklichkeit verbunden, denn es ist nicht einfach nur der Schlaf, aus dem er erwacht, sondern die Folge des Schlages (auch wenn er in der Wirklichkeit im Bett erwacht und nicht auf dem Boden des Zimmers). Das verleiht auch dem vorangegangenen Geschehen im Traum etwas Wirkliches. Der ganz normale Pfingstsonntag, der sich so auch im Leben des Autobiographie-Protagonisten abgespielt haben könnte, entwickelt sich auf einem Nachmittags-Spaziergang wieder zum Märchen. Seine Freunde will der Junge besuchen, und als er sie zu Hause nicht antrifft, folgt er ihnen in die Gärten. Auch das ist eine Verbindung zu den Zuhörern, einige von ihnen sind damit vielleicht angesprochen, und der Schauplatz der Geschichte kann von den ihnen bekannten Gärten nicht allzuweit entfernt sein. So rücken sie in die Nähe des Märchens. In der vertrauten Umgebung entdeckt der Knabe eine seltsam verzierte Pforte. Nicht er öffnet sie, sie öffnet sich ihm, so gelangt er in einen eigenartigen Garten. Dort erlebt er Wunderliches.

13 Das ,,zeitkostüm des Rokoko" schnürt den lebendigen Menschen modisch ein, schreibt Wolfgang Schadewaldt: Goethes Knabenmärchen "Der neue Paris". Eine Deutung. In: ders.: Goethestudien. Natur und Altertum. Zürich/Stuttgart 1963, S. 263-282, hier S. 267. Das Motiv der Verkleidung kehrt immer wieder, nicht nur im Märchen, auch in Dichtung und Wahrheit; vgl. die folgenden Interpretationen des fiinften, zehnten und elften Buches (Kapitel 5 und 6). 14 Es ist ein heiteres Kompliment, das Goethe sich und seiner Bildung hier macht, und ein Hinweis darauf, daß die erlesene Welt und die - wenngleich im Traum und im Märchen - erlebte kompatibel sind. Daß der Protagonist selbst merkurartige Züge trägt, ist dem vorangehenden Satz zu entnehmen: "die Locken standen mir wie Flügelchen vom Kopfe" (26,78).

4. Fast wie im richtigen Leben: Sonntagsausflug ins Märchen

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Wie die Symbole und Motive des Märchens zu verstehen sind, ist vielfach und keineswegs erschöpfend erforscht. 15 Das soll nun nicht im einzelnen erör15 Die Interpretationen des Märchens weisen eine erstaunliche Deutungsvielfalt auf. Schon der Titel läßt die antike Vorlage einerseits und die Modernisierung andererseits erkennen. Im vierten Buch merkt der Erzähler im Zusammenhang mit ,jenem Mährchen" an, daß den Protagonisten "das Gemisch von Fabel und Geschichte, Mythologie und Religion [... ] zu verwirren drohte" (26,221). Dem Leser geht es nicht anders. Stephane Moses äußert die Vermutung: "In Der neue Paris sind die verschiedenen möglichen Lesarten so subtil ineinander verflochten, daß man sich unweigerlich fragt, ob dieses symbolische Gewebe nicht dazu bestimmt sein könnte, nicht nur irgendeine verborgene Wahrheit durchschimmern zu lassen, sondern vielleicht und vor allem jede allzu klare und bestimmte Bedeutung zu verschleiern"; Stephane Moses: Das wiedergefundene Eden: Goethes Märchen ,Der neue Paris'. In: ders.: Spuren der Schrift. Von Goethe bis Celan. Frankfurt am Main 1987, S. 13-38, hier S. 14. Ob antik oder christlich, orientalisch oder kabbalistisch, die unterschiedlichen Deutungen schließen einander nicht aus. Einen knappen Einblick in allerlei Auslegungsversuche gibt Schadewaldt, S. 263f. Schadewaldt interpretiert den Text im Hinblick auf antike Muster. Er versteht das Märchen auch als Spiel des alten Goethe wider die "Rokoko-Antike" und macht auf einige "wechselseitige Entsprechungen mit Goethes zweitem Faust" aufmerksam. Es handle sich um die ,,noch unvollkommene Vorstufe dieser Begegnung [Paris'] mit Helena" (ebd. S. 280f.). Goethe habe wohl nie "sonst in seinen Werken und Aussprüchen das Bewußtsein seiner Sendung als Wiedergewinners des griechischen Geistes so unverhüllt und stark geäußert" wie im Knabenmärchen (ebd. S. 273). Er war auch, wie Ernst Beutler herausgefunden hat, von den Tapeten angeregt, die in seinem Zimmer die Maler Seekatz und Trautmann rur den Grafen Thoranc angefertigt haben; vgl. Beutler: Die Philemon-und-Baucis-Szene, S. 41, sowie Beutlers Einruhrung in GA 905. Für Beutler ist es offenbar selbstverständlich, daß diese Anregung aus der Knabenzeit stammt. Zahlreiche Motive der Scheherazade entdeckt Katharina Mommsen: Goethe und 1001 Nacht. Berlin 1960. Sie versucht nachzuweisen, daß die orientalischen Einflüsse jene aus der antiken Mythologie überwiegen. Maria BeyerIes eigenwillige Interpretation stellt religiöse Zusammenhänge heraus und zieht dazu auch jene Stellen von Dichtung und Wahrheit heran, die im weitesten Sinne mit Religion zu tun haben oder mit dem Verhältnis von Poesie, Religion und Philosophie. Letztlich zeige sich im Kannbenmärchen Goethes Entscheidung rur die "formlose Religion"; Maria Beyerle: Goethes Märchen ,Der neue Paris'. Ein Deutungsversuch. In: Hochland 29/2 (1932), S. 425-442. Stephane Moses findet im Neuen Paris mystische Schemata aus Wellings Opus mago-cabbalisticum wieder; Moses, S. 31. Fink widerspricht dem, er entdeckt theosophische Elemente und Freimaurerisches; Fink: Le Nouveau Paris de Goethe, S. 44. Emil Staiger nimmt die Datierungsvorschläge Beutlers auf (vgl. Beutler: Einruhrung in GA 905) und glaubt, ,,hier doch ungefähr [zu erfahren], wie dem zwölfjährigen Goethe zumute war" - und stellt klar: "Wie ihm zumute war! Nicht viel mehr. Denn es wäre verfehlt, das Märchen wie eine rein symbolische oder gar allegorische Deutung auslegen zu wollen"; Emil Staiger: Goethe. Band 1. 2., unveränderte Auflage. ZürichlFreiburg 1957, S. 15f. Gabriele Blod liest das Knabenmärchen auch als "Geschichte des Körpers" (die in der autobiographischen Erzählung ausgespart werde), versteht es als Weg zur Kunst und als ästhetischen Diskurs und zieht - wie einige Interpreten vor ihr - Goethes Farbenlehre heran; vgl. Blod, S. 101-149. Letztlich ist diese Interpretation wenig weiterruhrend, was um so überraschender ist, als die Märchen in Dichtung und Wahrheit Schwerpunkte der Untersuchung sind. Als Beispiel rur eine psychoanalytische Deutung des Neuen Paris sei der Versuch von Rolf Tiedemann erwähnt: Zu Goethes Knabenmärchen "Der neue Paris" und den Faust-Dichtungen. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 18 (1986), S. 221-235: Figuren und Schauplätze des Märchens werden Personen und Orten aus Goethes Umfeld zu-

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11. Leben und Dichtung und Leben

tert werden, hier geht es um die feinen Verflechtungen von Märchen und Autobiographie. In der erzählten Lebensgeschichte, der gattungsgemäß ein gewisses Maß an Referenz auf die außerliterarische Wirklichkeit eignet, steht ein Märchen, das eben nicht so eindeutig und unmittelbar auf die Wirklichkeit bezogen ist. Dieses Text-im-Text-Spiel thematisiert die Schwierigkeit einer Unterteilung in Erlebtes und Erdichtetes, in Wirklichkeit und Märchen, es nimmt Probleme der Rezeption auf, und wie schon im Vorwort wird der Leser in dieses Gemisch von Fiktion und Wirklichkeit mithineingenommen. Nun aber in gesteigerter Form, da die Verwirrung innerhalb der nicht eindeutig nicht-fiktiven Autobiographie und innerhalb dieser wiederum in einem nicht eindeutig fiktiven Märchen entsteht. Am Ende des märchenhaften Spiels von Kunst und Natur deutet der Pförtner auf einen Brunnen, eine Tafel und Nußbäume an der gegenüberliegenden Mauer, damit sich der Knabe einpräge, wie das Pförtchen zum Garten wiederzuerkennen ist. Der Weg zurück ist als möglich angedeutet und der Knabe außerhalb des wunderbaren Bezirks. Aber er spricht noch als der, der das Märchen erlebt hat. In der Schlußpassage berichtet er, wie er sich vergewissern wollte, ob das Erlebte wahr ist oder ob sich in der Wirklichkeit zumindest Anknüpfungspunkte finden, die das Abenteuer als einigermaßen realitätsgebunden erscheinen lassen. Damit geht er auf mögliche Zweifel des Publikums ein und nimmt den vorschnellen Vergleich von Märchenhaftem mit der Wirklichkeit vorweg. Er erzählt, daß er sich immer wieder "diese Geschichten" wiederholte, die er selbst "kaum glauben konnte" (26,98); das ermöglicht dem Publikum die Identifikation mit dem Erzähler und Protagonisten. Schließlich, so erzählt er, sucht er die Schauplätze auf. Brunnen und Nußbäume und Tafel entdeckt er, doch muß er die Beschreibung des Vorgefundenen jedesmal mit einem "aber" einschränken, und die Pforte ist verschwunden. Verheißungsvoll äußert er die Hoffnung, daß die Merkzeichen sich zur einstigen Konstellation zurückbewegen, und dann werde wahrscheinlich "auch die Pforte von neuem wieder sichtbar sein, und ich werde mein Mögliches thun, das Abenteuer wieder anzuknüpfen" (26,99). Diese Erfahrungen bei der Suche nach dem Märchengarten schildert der Erzähler innerhalb des Märchens. Auch für den Leser bleibt unklar, ob der Erzähler nun die Perspektive des Märchenhelden aufgibt oder ob er die Erlebnisse in seine märchenhafte Wirklichkeit zu integrieren versucht. Noch im letzten Satz des Märchens erweckt der Erzähler den Eindruck, als sei er nicht geordnet, Kastrationsangst und Ödipusproblematik sind berücksichtigt, das Märchen wird nach den Prinzipien der Traumdeutung interpretiert (der Verfasser spricht von zwei "eventuell fiktiven" Träumen), da liegt es nahe, die Tür als Pforte zum Unterbewußten zu verstehen. Der Kunstcharakter der Autobiographie spielt in dieser Auslegung keine Rolle. Vielleicht ist alles auch viel einfacher: Waltraud Bartscht stellt fest, der Neue Paris habe keine tiefere Bedeutung; vgl. Waltraud Bartscht: Goethes "Das Märchen". Translation and Analysis. Lexington 1972, S. 16.

4. Fast wie im richtigen Leben: Sonntagsausflug ins Märchen

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Herr seiner Erzählung. Damit umgibt er sich abschließend noch einmal mit der Aura des märchenhaft Sonderbaren: "Ob ich euch erzählen kann, was weiter begegnet, oder ob es mir ausdrücklich verboten wird, weiß ich nicht zu sagen" (26,99). Das Ende des Märchens ist noch weniger als der Anfang von der autobiographischen Erzählung abgegrenzt. Mit einem vermittelnden "Nun läßt sich wohl denken" (26,98) leitet der Erzähler die Passage ein, in der der Protagonist der Autobiographie (oder ist es noch der Held des Märchens?) sich selbst als jemanden darstellt, der Märchenhaftes mit Wirklichem zu vergleichen sich bemüht. Und schon eine Druckseite weiter, nach dem mehr graphisch als inhaltlich deutlichen Abschluß des Neuen Paris, beginnt er dem Leser von Dichtung und Wahrheit zu schildern, wie die Zuhörer von der "Wahrheit" des Märchens "sich leidenschaftlich zu überzeugen trachteten" (26,99). Dies geschieht im Vergleich mit der Frankfurter Wirklichkeit. Die Freunde suchen den im Märchen erwähnten Ort auf, sind allerdings hinsichtlich einiger Details uneins. Der Erzähler sieht dies als "ein frühes Beispiel, wie die Menschen von einer ganz einfachen und leicht zu erörternde Sache die widersprechendsten Ansichten haben und behaupten können" (26,100).16 Nähmen die Zuhörer das Märchen als Märchen, würden sie dessen Wahrheit nicht an der Wirklichkeit messen wollen. Sie drängen den Knaben heftig, er möge die Geschichte weiterfUhren. Doch der junge Erzähler verweigert die Fortsetzung hartnäckig, daraufhin muß er wieder und wieder den ersten Teil zum besten geben. 17 An den Umständen ändert er nur wenig, "und durch die Gleichförmigkeit meiner Erzählung verwandelte ich in den Gemüthern meiner Zuhörer die Fabel in Wahrheit" (26,100). Die überlegene Position des Märchenerfinders, der die Zweifel seiner Zuhörer geschickt und erzählend auszuräumen oder zumindest zu überspielen weiß, ermöglicht ihm, auf die Gemüter der Rezipienten zu wirken. Der Dichter ist es, der dort die Fabel in Wahrheit verwandelt, und zwar nicht durch Argumente oder Beweise des Erzählers, sondern durch ständiges Wiederholen der gleichen Geschichte. Als fUrchte er den Vorwurf der Unglaubwürdigkeit, fUgt Goethe unmittelbar an, er sei "den Lügen und der Verstellung abgeneigt, und überhaupt keineswegs leichtsinnig" gewesen, und um dies zu unterstreichen, leitet er über zum "innere[n] Ernst, mit dem ich schon früh mich und die Welt betrachtete" (26,100), und erwähnt seine stoischen Übungen aus Kindertagen. Die Eigenarten des Dichtens und des Lebens stehen eng beieinander. Die Diskrepanz zwischen der 16 Ganz so einfach ist die Sache aus der Sicht des Märchen-Helden nicht: auch er findet die Merkzeichen Brunnen, Tafel und Bäume nicht genau so, wie er sie an jenem Pfingstsonntag gesehen hat. 17 Der Wunsch der Hörer nach Fortsetzung und das bruchstückweise Veröffentlichen erzeugt Spannung und Erwartung. Dies entspreche, wie Katharina Mommsen schreibt, dem Verfahren der Scheherazade, und es lasse sich nachweisen, "daß Goethe sich dessen in vollem Maße bewußt war"; Katharina Mommsen, S. 18.

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II. Leben und Dichtung und Leben

Welt des Protagonisten und den Erlebnissen im Märchen zeigt sich in den folgenden Schilderungen, in denen der Knabe längst nicht so heldenhaft erscheint wie der Junge im Märchen. Nach der Interpretation von Bernd Witte rächt sich das Leben am Autobiographie-Protagonisten: in der Schule "kann der Träumer und Märchenerzähler sich nicht durchsetzen und wird von drei Knaben, die kompositorisch den drei Frauen des Märchens entsprechen, grausam mit Ruten gepeitscht". 18 Demnach wäre das Märchen eine Folie, vor der das wahre Leben außerhalb des Märchens um so ärmer, grausamer und unverständlicher erscheint. Die Dichtung gäbe die Wunschvorstellungen des Knaben oder Erzählers wieder, der sich mit seinen Phantastereien eine Gegenwelt schafft. Eine Integration von Dichtung und Leben gelingt dem Protagonisten hier nicht. Der Verfasser wirft mit dem Märchen in der Autobiographie die Frage auf, inwieweit sich das Erzählte auf eine außerliterarische Wirklichkeit bezieht. Er verankert das Märchen in seinem Alltag und läßt die begeisterten und neugierigen Zuhörer nachforschen, was denn nun wahr ist an der Geschichte. Das ist auch ein Vorgriff auf die Rezeption von Dichtung und Wahrheit. Im Märchen finden sich Versatzstücke aus der antiken Mythologie und deren Rokoko-Varianten, aus biblischen Geschichten und aus der Kabbalistik, aus orientalischen Märchen und aus dem Leben des Erzählers, und das Ganze steht im Kontext der Autobiographie. Der Neue Paris ist mehr als die symbolische Darstellung früher Bildungserlebnisse und des sich regenden Dichtertalents. Grundlegende Probleme des Verhältnisses von Wahrheit und Dichtung sind ins Märchenhafte enthoben und doch wieder mit der erzählten Wirklichkeit verknüpft. 19 Mehr als im Märchen selbst zeigt sich das in den Schilderungen von den Erfahrungen mit dem Publikum und von dessen Versuchen, sich von der Wahrheit des Märchens zu überzeugen. Die TextsteIlen der Übergänge von Dichtung und Wirklichkeit sind nicht ganz eindeutig, aber es ist klar, daß es sich um ein Märchen handelt und daß die Wirklichkeit des Protagonisten ganz anders aussieht. Auch für die Zuhörer ist das eine fremde Welt, sie haben sich selbst betrogen, um die Geschichte für wahr oder zumindest für möglich zu halten (vgl. 26,77). Sowohl in der Überschneidung als auch im Unterschied beider Sphären - des Gedichteten und des Wirklichen - zeigt sich, daß es dem Verfasser in seiner Autobiographie auch um das Verhältnis von Wahrheit und Dichtung geht. Das Verkleidungs-Motiv und das Interesse der Zuhörer am Stofflichen werden an anderer Stelle wiederkehren, besonders in den Erzählungen von Sesenheim und vom Werther. Eine ganz andere Ausprägung des Erfindens und dessen unvorhersehbaren Folgen, verknüpft mit einem Stück Welttheater, inszeniert Goethe im letzten Buch des ersten Teils. Witte, S. 396. Jochen Golz sieht im Neuen Paris "ein tiefsinniges, den Leser unmerklich bildendes Exempel für das Verhältnis von Kunstwelt und Lebensrealität"; Golz, S. 74. 18 19

5. Mystifikation und Mummenschanz

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5. Mystifikation und Mummenschanz Das fünfte Buch bringt eine eigenartige Verschränkung unterschiedlicher Erlebniswelten des jugendlichen Protagonisten: zum einen ist das die verwirrende Erfahrung mit Gretchen, verbunden mit den falschen Briefen, zum andern die Königskrönung, die etwas Unwirkliches hat. Ohne das Verhältnis von nachprüfbaren autobiographischen Ingredienzien und Fiktion zu bestimmen, geht aus dem Text hervor, daß es sich um ein literarisiertes Geschehen, eine Inszenierung handelt. Das betrifft die Krönung, die Gretchen-Geschichte und die Verflechtung beider. 2o In Dichtung und Wahrheit erscheint die Verquickung von Heiligem Römischem Reich und des Knaben erster Liebe als romanhafte Episode, in der Hohes und Niedriges, Erdichtetes und Wirkliches, Spiel und Ernst, die große und die kleine Welt vielfältig miteinander verbunden und ineinander verschoben sind. Seine Tätigkeit als "poetischer Secretär" (26,265) schildert Goethe ausführlich, bis zum unguten Ende. Anfangs erkennt er die Täuschung nicht und wird selbst getäuscht. Der Protagonist glaubt einem Freund des Pylades 2 \ seine dichterischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, indem er ein Stegreif-Gedicht aufschreibt, "einen recht artigen Liebesbrief in Versen" (26,262f.). Daß die Freunde "einen sehr lustigen Gebrauch" davon machen, erfährt er im nachhinein, und das Ganze wird noch verwickelter, als der Verfasser des Liebesbriefs gebeten wird, im Namen des dichtungsunfähigen Empfängers nun auch in Versen zu antworten (26,264). Der Erzähler hebt hervor, daß der Protagonist diesen Brief für einen Scherz wie viele andere hielt, für eines jener Spiele, die auf "Mystificationen und Attrapen" beruhen (26,265). Damit ist ein Grundton für das gesamte fünfte Buch angeschlagen. Über die neuen Freunde lernt der Junge auch Gretchen kennen. Erstmals verliebt er sich, es eröffnet sich ihm "eine neue Welt des Schönen und Vortrefflichen" (26,272). Das wirkt auch auf seine gedichteten Briefe, zumal wenn er aus der Perspektive einer Frau zu schreiben hat und sich in Gretchen hineinzu20 Dies ist auch Thema eines Aufsatzes von Benedikt Jeßing: Der Autobiograph als Zuschauer und Regisseur. Zur Theatralik und literarischen Inszenierung zweier Feste in Dichtung und Wahrheit. In: Denise BlondeaulGilles Busco/Christine Maillard (Hrsg.): Jeux et fetes dans I'reuvre de J.W. Goethe. Fest und Spiel im Werk Goethes. Strasbourg 2002, S. 47-64. Zum Verständnis des fiinften Buches trägt die Studie von Manfred Beetz bei: Überlebtes Welttheater. Goethes autobiographische Darstellung der Wahl und Krönung Josephs 11. in FrankfurtIM. 1764. In: Jörg Jochen BemslThomas Rahn (Hrsg.): Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 1995, S. 572-599, ebenso das entsprechende Kapitel bei Müller: Autobiographie und Roman, S.318-330. 2\ Der Pylades genannte Freund aus Kindertagen war auch unter den Zuhörern beim Vortrag des Knabenmärchens; so ist das zweite Buch mit dem fiinften verknüpft und die Nähe zum Märchen vorsichtig angedeutet.

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II. Leben und Dichtung und Leben

versetzen sich bemüht. Er glaubt, "aus ihrer Gestalt, ihrem Wesen, ihrer Art, ihrem Sinn" herauszuschreiben, im drängenden Wunsch, "es möchte wirklich so sein" (26,268). Seine Rolle als Briefschreiber bekommt durch die neuen, verwirrenden Umstände etwas Wahres. Die Liebesbriefe sind nicht länger bloßes Spiel, und der rückblickende Erzähler erkennt: "So mystificirte ich mich selbst, indem ich meinte einen andern zum Besten zum haben" (26,268).22 Als der poetische Sekretär einem der Auftraggeber den Brief vorliest, ist Gretchen anwesend. Daß er den Brief aus ihrer Perspektive verfaßt hat, scheint noch betörender, als wenn er ihr geschrieben hätte, und seine Neigung zu Gretchen wird dadurch verstärkt, daß sie ihn dringend bittet, das Spiel mit den falschen Briefen nicht länger mitzumachen. Die Idealvorstellung dessen, was sie hätte schreiben können, wirkt auf den Brief und wird bestätigt, indem die Verehrte, die das Konzept lieber "zu einem bessern, zu einem wahren Gebrauch" bestimmt sähe (26,271), die Dichtung unterschreibt und damit zur Wirklichkeit erhebt. So wird die selbstgedichtete "poetische Epistel" des Verliebten zum "liebenswürdigen Bekenntnis[ ... ]" (26,272). Erfundenes und Wirkliches greifen hier ineinander. Der Brief nimmt die Wirklichkeit vorweg, was auch nicht ganz zutreffend ist, schließlich entstand er, als der Verfasser sich vorstellte, was ihm Gretchen schreiben könnte oder vielmehr was er gerne von ihr lesen würde. In dem Moment, in dem die erfundene Korrespondenz beendet wird, erhält die Neigung zu Gretchen etwas Wahres, und dennoch bleibt der Eindruck, als sei auch dies nur ein Spiel. Die neuen Freunde gehören einer anderen Schicht an, das zeigt sich in einer geselligen Runde, in der sie sich von ihren Tätigkeiten und Vorhaben erzählen. Der Sohn aus den besseren Kreisen wird aufgefordert, er möge ein "Mährchen erzählen, wie er es anfangen würde, wenn er in diesem Augenblick, so wie wir, ganz auf sich selbst gestellt wäre" (26,276). Auch dies ist ein Rollenspiel, er soll sich hineinversetzen in die Lebensumstände seiner Freunde. Nun kommt Gretchen hinzu, und der Protagonist erfindet seine "hypothetische Lebensgeschichte" (26,277). Sein tatsächliches Leben hat in diesem Kreis keinen Platz, er muß ein passendes erdichten. Das Rollenhafte und Unwirkliche spiegelt sich mehrfach in der kurzen Szene bei der Putzhändlerin. Dorthin schickt den Protagonisten seine Schwester, damit er Kunstblumen besorge. In dieser Welt des Schmucks und des Scheins trifft er völlig unerwartet Gretchen. Sie paßt ebensowenig in seine Welt wie er in ihre. 23 Seine Empfindungen angesichts Gretchens in der ihr nicht gemäßen

22 Damit werde, so Müller, der Vorgang zu einem "selbstinszenierten Liebesroman, der eine elementare Erfahrung ermöglicht"; Müller: Autobiographie und Roman, S. 321. 23 Auch der "Anputz" Gretchens als Gehilfin im Galanterieladen wollte sich "zu ihrem übrigen Leben und Wesen [... ] gar nicht schicken" (26,284). Damit wird erneut ersichtlich, wie sehr sich die Lebensumstände des Protagonisten und der Freundin unterscheiden.

5. Mystifikation und Mummenschanz

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Umgebung sind zwiespältig: einerseits verdrießt ihn ihre "Maske", andererseits kam sie ihm "in dieser Maske reizender vor[ ... ] als jemals" (26,283). Zwischen den Identitäts-Wirren VOn unechten Briefen und hypothetischer Lebensgeschichte einerseits und der nun einsetzenden Paralle\handlung der Königswahl und -krönung andererseits steht vermittelnd und steigernd die Episode im Galanterieladen. Nicht nur das Sortiment der Putzhändlerin ist Sinnbild des Künstlichen, auch daß der Erzähler zweimal in einem Satz die irritierende "Maske" Gretchens erwähnt und später das Kostüm (v gl. 26,283f.), weist auf etwas Unangemessenes, Unechtes und auf etwas Theaterhaftes, das in diesem Buch noch in ganz anderen Dimensionen von Bedeutung sein wird. Als der Protagonist verwirrt und entzückt nach Hause kommt, eröffnet ihm der Vater, daß Erzherzog Joseph König werde. Damit der Junge für diese Feierlichkeiten hinreichend unterrichtet sei, wird er mit Diarien der beiden vorangegangenen Krönungen präpariert. Die Lektüre wird VOn jüngsten Geschehnissen belebt, in einem Satz ist beides verbunden: Gretchen schwebte "immer zwischen den höchsten Gegenständen des heiligen Römischen Reiches hin und wider" (26,284). So sind die beiden Erzählstränge aufs engste verflochten. Die aktuelle private Wirklichkeit des jungen Helden vermischt sich mit den längst vergangenen und hochoffiziellen Abläufen der Wahl und der Krönung. Mit diesen höchsten Gegenständen verhält es sich eigenartig. Bereits bei der Ankunft der kaiserlichen Kommissarien mischen sich Bedenken in die Schilderungen, auch wenn es andere sind, die sich diese Gedanken machen. 24 Die Handlungen vor und während der Krönung erkennt der Erzähler und häufig auch der beobachtende Protagonist als symbolhaft, die Zeremonien sind nicht mehr unmittelbar verständlich. 25 Immer wieder werden die Feiern als unwirklich 26 und unzeitgemäß geschildert. Dem rückblickenden Erzähler entgeht nicht das Theaterartige, das Kostümhafte der vorbereitenden Handlungen, und diesen Eindruck läßt er bereits den jungen Protagonisten gewinnen?? Die Feierlichkeiten vor der Wahl vergleicht dieser zur Unterweisung Gretchens "nicht unschicklich [... ] mit einem Schauspiel" (26,296). Das kommt offenbar an: kurz darauf äußert die Belehrte ihre Freude, "dieses einzige Schauspiel" gesehen zu 24 So "wollten Kenner behaupten, [...] diese Wahl und Krönung werde schwerlich an Glanz jener von Karl dem Siebenten gleich kommen" (26,288). 25 VgI. auch Müller: Autobiographie und Roman, S. 323. 26 Ein erschreckendes Beispiel ist der Saal, der ein "gespensterhaftes Ansehn" bekam, da "so viele unsichtbare Gäste auf das prächtigste bedient wurden" (26,328). 2? Die jungen Zuschauer sind von diesem farbenprächtigen Aufzug begeistert, sehen aber auch die Unstimmigkeiten dieser Verkleidungen. Über die "kurzen modernen Beinkleider, die weißseidenen Strümpfe und modischen Schuhe" (26,299), wie sie die Botschafter der abwesenden Kurfursten trugen, äußert sich der Erzähler kritisch: "Wir hätten HalbstiefeIchen, so golden als man gewollt, Sandalen oder dergleichen gewünscht, um nur ein etwas consequenteres Costüm zu erblicken" (26,300).

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II. Leben und Dichtung und Leben

haben (26,311). Später bezeichnet der Erzähler die Feiern bis zum Einzug des künftigen Königs über den Umweg eines Konditionalsatzes als "überlegtes Kunstwerk" (26,301). Es ist zwar ein Irrealis, doch indem ihn der Erzähler ausspricht, legt er den Vergleich nahe. Die Zeremonien entsprechen den Anforderungen an ein Schauspiel, damit hebt der Erzähler das Theatralische - und das ist in der Wirklichkeit etwas Unwirkliches - deutlich hervor: Alles war gut vorbereitet; sachte fingen die öffentlichen Auftritte an und wurden immer bedeutender; die Menschen wuchsen an der Zahl, die Personen an Würde, ihre Umgebungen wie sie selbst an Pracht, und so stieg es mit jedem Tage, so daß zuletzt auch ein vorbereitetes gefaßtes Auge in Verwirrung gerieth (26,301).

Ein wohlinszenierter Maskenzug. Vor Beginn der Feierlichkeiten herrscht gespannte Stille, und als die Sturmglocke den Einzug ankündigt, "schien das ganze Volk von Schauer und Erstaunen ergriffen" (26,316) - das sind "typisch dramatische Wirkungseffekte".28 Auch die Episode von der Krönung Franz I. und der Herzlichkeit seiner Gemahlin entsprechen den Anforderungen des Theaters: der Ästhetik des bürgerlichen Trauerspiels gemäß sind die beiden trotz ihrer Standesüberlegenheit gemischte Charaktere und bieten so dem Publikum Identifikationsmöglichkeiten. 29 Ans Theater erinnern auch die prachtvollen Kostüme und Verkleidungen. Gretchen scherzt darüber, "daß man Gewänder und Krone dem jungen König anprobirt habe" (26,312); das ergänzt das Bild vom Schauspiel, ebenso der Kostümwechsel im kaiserlichen Quartier (vgl. 26,317). Das Symbolhafte und zugleich in der Bedeutung Beliebige dieses Schauspiels demonstriert der Erzähler in dem Einschub über Lavater. Der reist an jenem Tag durch Frankfurt, als der Kurfürst von Mainz mit seinem Gefolge in die Stadt einzieht. Jahre später entdeckt Goethe in einer von Lavater verfaßten "poetische[n] Paraphrase, ich glaube der Offenbarung Sanct Johannis", daß der Einzug des Antichristen bis ins Detail dem des Kurfürsten von Mainz in Frankfurt nachempfunden ist (26,294). Damit weitet der Erzähler den Spielraum möglicher Assoziationen, und eine spätere Entdeckung des Verfassers ist eingebunden. Die Zeremonie ist offenbar so arm an Inhalt, daß sie mit einer anderen

28 Jeßing: Der Autobiograph als Zuschauer und Regisseur, S. 52. Die erzählerische Inszenierung dieser theatralischen Krönungs-Handlung hat Jeßing eingehend untersucht und gezeigt, wie sehr sich Goethe dabei "an traditionellen Bestimmungen des Theaters und seiner Rezeption" orientiert (ebd.). 29 Vgl. auch Jeßing: Der Autobiograph als Zuschauer und Regisseur, S. 51. Goethe beschreibt nicht nur das ästhetische Schauspiel, beiläufig analysiert er "in literarischer Textur den politischen Stellenwert des Zeremoniells in der Zeitgeschichte und seinen abbröckelnden Symbo1charakter als absolutistische Machtdemonstration ebenso wie als kultische Feier"; Beetz, S. 579.

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Bedeutung geflillt werden kann. 3o Zudem wahrt Goethe Distanz zu dieser Sicht der Dinge, schließlich hat es ein anderer so dargestellt. Als Kaiser und König ins Rathaus einziehen, ist das Lächerliche nicht mehr zu übersehen. 3l Der junge König im unzeitgemäßen und zu großen Gewand "schleppte sich [00'] mit den Kleinodien Karls des Großen, wie in einer Verkleidung, einher", lächelt über sich selbst, und "man konnte sich nicht leugnen, daß man lieber eine mächtige, dem Anzuge gewachsene Gestalt, um der günstigem Wirkung willen, damit bekleidet und ausgeschmückt gesehen hätte" (26,322). Karosse, Krone und Gewänder sind überdimensioniert, die Symbole des alten Reiches erscheinen (aus der Sicht des rückblickenden Autobiographen von 1811) wie unangemessene Kostüme und Requisiten. "Überlebtes Welttheater" nennt es Manfred Beetz. 32 In dieses Theater mit den bedenklich unwirklich-wirklichen Zeremonien ist die Liebesgeschichte verwoben. Allerlei "Mystificationen und Attrapen" in beiden Erzählsträngen und das Bemühen des Protagonisten, Gretchen alles zu erzählen und zu erklären, verbinden die beiden Geschichten. 33 Sie erhellen sich wechselseitig; hier wie dort ist vieles unecht. Das Spiel der leeren Symbole bei den hochoffiziellen Feiern wirft ein anderes Licht auf die Liebesgeschichte. 34 Das Maskenhafte ist nicht auf die große Bühne des Welttheaters beschränkt, auch der Protagonist der privaten Parallelhandlung bedarf der Verkleidung. Um nicht erkannt zu werden, zieht er "einigermaßen vermummt" (26,329) mit Gretchen, Pylades und dessen Freundin durch die Stadt. Er glaubt "in jenen glücklichen Gefilden Elysiums zu wandeln, wo man die krystallnen Gefaße vom Baume bricht, die sich mit dem gewünschten Wein sogleich flillen, und wo man Früchte schüttelt, die sich in jede beliebige Speise verwandeln" (26,331). Vermummung und paradiesische Geflihle und schließlich der Kuß Gretchens sind die dramatische Steigerung, bevor es zur Katastrophe kommt und der Junge erfahrt, daß er, ohne es zu wissen, "in die gefahrlichsten und schlimmsten Händel verwickelt" ist (26,332). Die kriminelle Spielart der Mystifikationen be-

30 Das ist "die extreme, wenngleich folgerichtige Konsequenz der Schauspielmetaphorik"; Müller: Autobiographie und Roman, S. 325. 3l Und wieder verweist der Erzähler aufs Theater, auf eine Komödie des Plautus: "Vater und Sohn waren wie Menächmen überein gekleidet" (26,321). Diese Anspielung sollte nicht überinterpretiert werden, denn an anderer Stelle in Dichtung und Wahrheit verwendet Goethe das Wort "Menächmen" als Synonym rur Zwilling (vgl. 27,165). 32 Beetz, S. 572. 33 Diese Verschränkungen untersucht Manfred Beetz ausruhrlich. Möglicherweise stehen zum Beispiel der "Hausomat" des Kaisers (26,317) und das "Hauskleid" Gretchens (26,284) in einem Zusammenhang; vgl. Beetz, S. 591. 34 "Auf ihre Weise ist auch die Kaiserkrönung als eine Mystifikation dargestellt, so daß die Liebesgeschichte bereits eine Art Kommentar zur politischen Handlung ist"; Müller: Autobiographie und Roman, S. 325.

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endet das Liebesverhältnis, das eigentlich keins war. Der Protagonist bleibt in seiner kleinen Welt verzweifelt und - wie im Motto angedeutet - geschunden zurück. Eine weitere Dimension der Liebesgeschichte eröffnet sich, wenn man die Einflüsse von Pn:vosts Manon Lescaut berücksichtigt. Damit tritt das Romanhafte des fünften Buches noch deutlicher zutage. Goethe hatte ursprünglich vor, in Dichtung und Wahrheit eine Inhaltsangabe des Romans einzufügen, das geht aus einem Paralipomenon hervor. 35 Am Ende des zurückgezogenen Abschnittes 35 Vgl. Plp. 72; AA H,535-540. Der Text sollte nicht, wie der Weimarer Ausgabe zu entnehmen ist (und darauf beziehen sich viele Kommentatoren), am Ende des fiinften Buches stehen, dies hat Siegfried Scheibe nachgewiesen: Goethes Inhaltsangabe von "Manon Lescaut". Entstehung - Überlieferung - Überarbeitung durch Eckermann. In: Goethe. N.F. des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 28 (1966), S. 76-92. Die Schilderung der Krönung war ursprünglich fiir das sechste Buch geplant, der erste Teil sollte aus sechs Büchern bestehen. Als Goethe das fiinfte und sechste Buch zusammenlegte, strich er einige Passagen, da dieses Buch sonst zu umfangreich geworden wäre: "So wurde auch die Inhaltsangabe von ,Manon Lescaut' weggelassen, da sie nur den bereits geschilderten Zustand des jungen Goethe reflektierte, dem aber nichts Neues hinzufiigte." (ebd. S. 88). Immerhin hätte der Versuch, nach dem Roman zu leben, damit angedeutet werden können. Auf Parallelen bei der Texte hat erstmals Hugo Friedrich aufmerksam gemacht: Ebenso wie Desgrieux will der Knabe in Dichtung und Wahrheit lange nicht wahrhaben, daß er sich mit Betrügern eingelassen hat, und die Väter der beiden reagieren streng, als sie entdecken, mit wem die Söhne Umgang haben. Allein in ihren Zimmern hängen sie den Gedanken an die Geliebte nach und leiden auch körperlich an ihren seelischen Schmerzen; vgl. Hugo Friedrich: Abbe Prevost in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Empfindsamkeit. Heidelberg 1929, bes. S. 129-137, die genannten Parallelen S. 135-137. Friedrich betrachtet Dichtung und Wahrheit offenbar als historischen Bericht, daher schließt er aus zahlreichen mit Manon Lescaut vergleichbaren Stellen, das Gretchen-Erlebnis sei "dem Manon-Roman so ähnlich [... ], daß der Junge, dem das Buch gerade in die Hände fiel, ihm nachlebte" (ebd. S. 130). Mit dieser Folgerung hebt Friedrich zu Recht die Fähigkeit des Protagonisten hervor, nach literarischen Mustern zu leben, unterschätzt aber die Komposition der Autobiographie und die Möglichkeit des Verfassers, solche Parallelen herzustellen (obschon Friedrich Briefe Goethes aus der Zeit der Niederschrift des fiinften Buches heranzieht). "In die Darstellung des Gretchen-Erlebnisses [... ] haben sich Züge eingeschlichen, die ebenso aus der unmittelbaren Erinnerung zu kommen scheinen, wie sie auffällige Ähnlichkeit, manchmal bis in die Wortwahl hinein, mit Prevosts Manon-Lescaut-Geschichte haben. Der schon im Erlebnis Goethes selbst vorliegende Zusammenhang mit dem Roman hat schuld an der seltsamen Ineinanderverwebung von Erinnerungsstoff und literarischem Gut auch in der Wiedergabe des Erlebnisses." (ebd. S. 135) Friedrich sieht eine "ursprüngliche[] Verschmolzenheit von fremder Dichtung und eigener Wirklichkeit" (ebd. S. 135), unterscheidet also zu wenig zwischen Verfasser und Protagonist. Dennoch sind die aufgezeigten Parallelen aufschlußreich, insofern sie das Bemühen des Protagonisten um ein romanhaftes Leben und Empfinden hervorheben. Die Anknüpfungspunkte an Manon Lescaut hätten (wenn Goethe die Passagen nicht gestrichen hätte) das Unwirkliche der Liebesgeschichte verstärkt und ein weiteres anschauliches Beispiel fiir die - bisweilen bedenkliche - Überschneidung von echten und literarisch vermittelten oder gesteigerten Empfindungen geben können. Henry Remak hat sich mit beiden Texten beschäftigt: Henry Remak: Goethes Gretchenabenteuer und Manon Lescaut: Dichtung oder Wahrheit? In: Günter Reichenkron, Erich Haase (Hrsg.): Formen der Selbstdarstel-

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merkt er an, daß der Protagonist letztlich keinen Zugang zu diesem Kunstwerk fand, der Text hatte auf ihn lediglich eine "stoffartige Wirkung", und darum "bildete [er sich] ein so liebend und so treu seyn zu können, wie der Ritter". 36 Die Formulierung zeigt deutlich, daß der Erzähler den Protagonisten und seine Art, romangemäß zu leben, kritisch distanziert betrachtet. Dieser hielt eine unmittelbare Übertragung der Tugend einer literarischen Figur aufs eigene Leben flir möglich, jener hält das flir Einbildung. Die Lektüre von Manon Lescaut habe nicht wenig dazu beigetragen, das "Verhältniß zu Gretchen so lang es bestand reicher behaglicher, ja wonnevoller, und als es zerstort wurde meinen Zustand trauriger, jammervoller, ja das Ubel unheilbar zu machen. Damit an mir erfullt wurde was geschrieben steht.,,37 Dieses biblische und ironisch gebrochene Verständnis von der Erfüllung einer literarischen Vorlage erweckt den Eindruck, als verstärke die Bekanntschaft mit dem Roman Prevosts das Erleben des Protagonisten und als sei die Gretchen-Geschichte ein Bemühen gewesen, nach dem literarischen Muster zu leben. Da ist es konsequent, daß das flinfte Buch mit dem "seltsamsten Roman von traurigen Ereignissen und einer unvermeidlich tragischen Katastrophe" endet, den der kranke Knabe sich "selbstquälerisch" ausmalt (26,342).38 Zu Beginn des sechsten Buches folgt das Nachspiel zur Gretchen-Episode. Der Protagonist erfahrt, was die Verehrte vor Gericht ausgesagt hat: sie habe

lung. Analekten zu einer Geschichte des literarischen Selbstportraits. Festgabe fiir Fritz Neubert. Berlin 1956, S. 379-395. Remak fragt nach der "überraschenden Verwandtschaft einer deutschen romanhaften Autobiographie mit einem französischen autobiographisch geprägten Roman" und versucht, "Goethes Beschäftigung mit Manon als organischen Teil seiner Lebensentwicklung [zu] erweisen" (ebd. S. 381). Manon Lescaut sollte "die Stimmungs schöpfung der Gretchenepisode in ähnlicher Weise fördern [... ] wie der Vicar die künstlerische Gestaltung des Friederikenerlebnisses" (ebd. S. 383). Seine Untersuchung hat Remak später noch etwas fortgefiihrt: Manon Lescaut und die Gretchenepisode in Dichtung und Wahrheit: Quelle, Parallelen, Kontraste. In: Goethe. N.F. des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 19 (1957), S. 138-154. 36 Plp. 72; AA II,538f. Hugo Friedrich bezeichnet die "stoffartige Wirkung", von der Goethe schreibt, als "eine gierige und beglückte Heranziehung der Dichtung in das eigene Leben, nicht etwa bloß in die literarische Phantasie", und er sieht darin eine Parallele zur Werther-Rezeption: "Es war derselbe zündende, dirigierende Glaube an die Dichtung als an ein vorbildlich gelebtes Leben, den das deutsche Publikum nachher Goethes eigener Liebesdichtung, dem ,Werther', entgegengebracht hat." Friedrich, S. 132. Auch hier übersieht er (oder erwähnt zumindest nicht), daß diese Parallele möglicherweise vom Verfasser hergestellt oder hervorgehoben wird. 37 Plp. 72; AA 11,539. 38 Aus einem Paralipomenon geht hervor, daß in dieser mißlichen Lage die Lektüre von Manon Lescaut gefiihlsintensivierend auf den Protagonisten wirkt: ,,zu Bestärkung eines solchen Kummers waren gewisse Romane, besonders die von Prevot recht auserlesen. Die Geschichte[n] des Ritters DeGrieux u[nd] der Manon Lescaut fielen mir zu der Zeit in die Hände und bestärkten mich, auf eine süßquälende Weise in meinen hypochondrischen Thorheiten." P1p. 74; AA 11,541.

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"ihn immer als ein Kind betrachtet" und ihre Neigung zu ihm sei "wahrhaft schwesterlich" (27,8). Diese Aussage hat sie unterschrieben; das weckt die Erinnerung an den unterzeichneten Liebesbrief. Er ist wütend, und in dieser Enttäuschung gipfelt die Geschichte von Gretchen. Nun wird auch dem Protagonisten klar, daß seine erste Liebe größtenteils auf einer Mystifikation beruhte. Einerseits wird die Bedeutung der Kaiserkrönung relativiert, weil das Geschehen in die Gretchen-Handlung eingebettet ist,39 andererseits wirkt das Spiel mit den sinnentleerten Symbolen auch auf die Liebesgeschichte und entzaubert sie. Für die Frage nach den Interferenzen von Wirklichkeit und Dichtung ist das ftinfte Buch aufschlußreich. Echtes und Unechtes sind gemischt, das ist auch aus der Perspektive des Autobiographen so, der die tatsächlich erlebte Königskrönung und die fingierte Liebesgeschichte miteinander verbindet. 40 Mal holt innerhalb der Autobiographie die Wirklichkeit die Fiktion ein (im Falle des von Gretchen unterzeichneten Liebesbriefes), mal erscheint die Wirklichkeit als gespenstisch und maskenhaft, und die Übergänge sind fließend. Am Ende des vierten Buches hatte der junge Protagonist die diffuse Hoffnung, "etwas Außerordentliches hervorzubringen", und wenn er an ein "wünschenswerthes Glück" dachte, erschien ihm das "am reizendsten in der Gestalt des Lorbeerkranzes [00']' der den Dichter zu zieren geflochten ist" (26,257). Mit Dichtung haben die geHUschten Liebesbriefe wenig gemein. Aber Goethe sensibilisiert mit der Krönungs- und Liebesgeschichte ftir die Unterscheidung des Wahren vom Unwahren und ftir die verwirrende Überschneidung innerhalb jeder der beiden Geschichten. Der Versuch, romangemäß zu leben und zu lieben, scheitert; hinzu kommen die unvorhersehbaren Folgen der gedichteten Briefe und die Verlockungen des Dichter-Erfolges. 41 Bemd Witte beobachtet, daß hier die "Dichtung erst in einem defizienten Modus" vorhanden ist, "als fiktional gesteuertes Leben".42 Dieser Umgang mit Wirklichkeit und Dichtung erweist 39 So sieht es Müller: Autobiographie und Roman, S. 320. 40 Es hat die Interpreten stets interessiert, was an der Gretchen-Geschichte wahr ist.

Ein aufmerksamer Leser hat schon früh erkannt, daß diese Frage vom Dichter bewußt nicht beantwortet wird: Carl Friedrich von Reinhard hielt es mr die "philistermäßigste Bemühung von der Welt [00']' Wahrheit und Dichtung sondern zu wollen. Ebenso in der dramatischen Verschlingung der Geschichte Gretchens mit den Krönungsfeierlichkeiten, in der Geschichte Gretchens selbst und dessen, was daraus folgte". Reinhard thematisiert die eigene enttäuschte Neugier: "wiewohl ich nicht leugnen will, daß ich selbst hier Philister genug wäre, den historischen Hergang der Sache wissen zu wollen, den ich aber, eben zu meiner Strafe, gewiß nicht erfahren werde." Brief von Carl Friedrich von Reinhard an Goethe, 4. Dezember 1811; HABG 111. 41 Auch darauf mag sich die Sentenz am Beginn des mnften Buches beziehen: "Für alle Vögel gibt es Lockspeisen, und jeder Mensch wird auf seine eigene Art geleitet und verleitet." (26,261). 42 Witte, S. 393. Nach Wittes Ansicht werde Politik in Dichtung und Wahrheit "von Anfang an als symbolisches Zeichensystem verstanden" (ebd. S. 392). Durch die Gegenüberstellung der Dichtung mit "den hohl gewordenen Symbolen der feudalen Herrschaft gibt Goethe gleichnishaft und ex negativo einen Hinweis darauf, daß die neue Symbolik

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sich als unangemessen, und der Protagonist wird sich noch häufiger mit diesen Schwierigkeiten der Integration von Literatur und Leben herumquälen. Augenfälliger wird dieses Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit im zehnten und elften Buch.

6. Erlesenes Idyll: mit Goldsmith in Sesenheim Mitten in Dichtung und Wahrheit steht die Sesenheim-Geschichte. Ein Idyll auf dem Lande, romanhaft gespiegelt in Goldsmiths Landpriester von Wakefield, von Seltsamem und Sonderbarem durchwebt und mit allerlei IdentitätsSpielereien durchsetzt, und in all dem zeigt sich, daß die "halb poetische, halb historische Behandlung" (26,8) der Autobiographie hier eine neue Qualität erlangt. Der Erzähler gibt nicht vor, Erlebtes wiederzugeben, wie es sich zugetragen hat. Von Anfang an werden die Sesenheimer Erlebnisse als deutlich komponiert dargestellt. 43 Bereits die Einführung läßt erkennen, daß es eine Inszenieaus dem individuellen, den Menschen formenden Liebeserlebnis in der Dichtung entstehen wird" (ebd. S. 393). Nach dieser Interpretation tritt die Literatur "als universales Zeichensystem an die Stelle von Religion und Politik", sie übernehme "deren Funktion der Welterklärung und Handlungsanweisung" (ebd. S. 349). 43 Um so verwunderlicher ist es, mit welchem Eifer die Fakten-Forscher seit Erscheinen der Bücher am Werk sind. Die Chronologie der tatsächlichen Ereignisse im Leben des jungen Goethe und ihre Darstellung oder Umsetzung in der Autobiographie bleiben ein beliebtes Feld der Forschung. Auch in jüngeren Untersuchungen spielt der Vergleich von Fakten und dem, was in der Lebensgeschichte davon zu finden ist, eine große Rolle. So zum Beispiel im Aufsatz von Edgar Bracht: Wakefield in Sesenheim. Zur Interpretation des 10. und 11. Buches von Goethes ,,Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit." In: Euphorion 83 (1989), S. 261-280. Bracht verfängt sich bisweilen in einer biographistischen Perspektive, wenn er beispielsweise anführt, daß Goethe in der Autobiographie um der Wakefield-Parallele willen eine Schwester der wahren Friederike "unterschlägt" (ebd. S. 271). Er vergleicht die Chronologie (was Goethes Kenntnis des Wakefield betrifft) des tatsächlichen Lebens mit der Darstellung in Dichtung und Wahrheit. Ähnlich verfährt Pierre Grappin. Seine "Hypothese der romantischen Stilisierung" leitet Grappin her vom "deutliche[n] Abstand zwischen geschichtlich überlieferten Tatsachen und deren Darstellung in ,Dichtung und Wahrheit'" und dem Vergleich vom Leben im Sesenheimer Pfarrhaus mit Goldsmiths Roman (Grappin, S. 104f.). Seine Ausgangsfrage - "Wie hat der Verfasser von ,Dichtung und Wahrheit' den Stoff, also das faktisch Geschehene, bearbeitet, mit welchen Absichten und nach welchen Grundsätzen?" (ebd. S. 112) - geht auf das alte Schema von Wahrheit und dichterischer Bearbeitung zurück. Grappin kommt zu dem Schluß, es gebe "nichts Falsches, nichts Erfundenes oder Erdichtetes, nur wählt er [d.i. der Biograph] aus der Masse des Gegebenen die Elemente heraus, die seinem Stilwillen entsprechen" (ebd. S. 113); damit zeigt Grappin, daß er letztlich zu sehr am "Gegebenen" hängt. Eine stoffartige Teilnahme, wie Goethe sagen würde (vgl. 28,204). Solche Studien verleiten zur entschiedenen Abkehr von jedem auch nur angedeuteten Biographismus. Gabriele Blod bemüht sich, "den Bezug zur außersprachlichen Realität [zu] vernachlässigen" und Dichtung und Wahrheit als poetischen Text zu lesen, erwähnt dann aber die "verdrehte und fehlerhafte Chronologie" der Sesenheim-Geschichte; Blod, S. 58 und 206. Also gibt es doch eine Chrono-

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rung ist, ein vielschichtig literarisiertes Geschehen. Der Erzähler schildert die Besuche beim kranken Herder, dann fährt er fort: Entfernen wir uns jedoch nunmehr von der freundschaftlichen Krankenstube und den allgemeinen Betrachtungen, [... ] begeben wir uns in die freie Luft, auf den hohen und breiten Altan des Münsters, als wäre die Zeit noch da, wo wir junge Gesellen uns öfters dorthin auf den Abend beschieden, um mit gefiillten Römern die scheidende Sonne zu begrüßen. (27,323)

Mit dem "wir" nimmt der Erzähler den Leser mit und zeigt mit dem Hinweis auf die vergangene Zeit, daß es sich bei der Darstellung von Anfang an um ein "als ob" handelt; als steige man mit dem jungen Goethe aufs Münster. Ein weiteres "wir" verbindet den Erzähler mit dem Protagonisten und dessen damaligen Freunden. Goethe macht an dieser Stelle auf die Unterscheidung zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit aufmerksam, es ist eine bewußte Rückschau. Der Blick vom Münster gerät zum Blick in die Zukunft: Die Freunde sehen in die Feme, ein jeder findet einen Lieblingsort, und auch der Protagonist entdeckt ein "Plätzchen", das ihn "mehr als alles andere mit einem lieblichen Zauber an sich zog" (27,323). Diese Blicke vom Münster regen zu kleinen Ausflügen an. Eine dieser Reisen - "da sie in manchem Sinne für mich folgenreich gewesen" (27,323) - greift Goethe heraus, und nicht nur das, er macht dem Leser zudem deutlich, daß er eine Auswahl exemplarischer Erlebnisse darbietet. So gibt er sich wieder als ordnender Erzähler zu erkennen, der im Gegensatz zum Protagonisten schon weiß, welche Reise von Bedeutung ist, und ahnungsvolle Andeutungen in die geschilderten Erlebnisse flicht. Was folgt, ist zunächst eine herkömmliche Reisebeschreibung. Bis der Protagonist in tiefster Nacht allein zu einem Jagdschloß spaziert: In der Finsternis, logie? Dann bezöge sich der Text auf eine außersprachliche Realität, gar auf das Leben des Verfassers, und Dichtung und Wahrheit wäre eine Autobiographie in jenem aus dekonstruktivistischer Sicht längst überholten Sinne, daß sie sich durch eine eigenartige Referenz auf das Leben des Verfassers auszeichnet (vgl. hierzu auch Kapitel 11). Mit Rücksicht auf Goethes Leben behält Klaus-Detlef Müller die Autobiographie als Dichtung im Blick und zieht vorsichtig nachvollziehbare Schlüsse für die Interpretation; Müller: Autobiographie und Roman, S. 298-310. Auch Müller hält fest am "zugrundeliegenden Erlebnis", hebt aber die "Spannung von Roman und Wirklichkeit" hervor, die auch im Text thematisiert ist (ebd. S. 300, vgl. auch S. 310). Er hält "die romanhafte Darstellungsweise der Sesenheim-Teile gerade deshalb [für] so bemerkenswert [... ], weil die Erzählerrolle die des Autobiographen ist" (ebd. S. 305), und ergänzt, daß "diese beiden Erzählfunktionen auf sehr subtile Weise variiert und ausgetauscht werden können" (ebd. S. 310). Mit dem Problem von Wahrheit und Dichtung, wie es sich besonders in der Geschichte von Sesenheim für viele Interpreten stellt, hat sich Goethe nicht nur in der kurzen Notiz über Wiederholte Spiegelungen (WA I,42/2,56f.) befaßt, einer Reaktion auf August Ferdinand Naekes Wallfahrt nach Sesenheim von 1822 (1840 gedruckt), auch die vielzitierte Aussage Eckermanns benennt mehr das Problem, als sie den Weg zu einer Lösung weist: "Von den ,Wahlverwandtschaften' sagt er, daß darin kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie er erlebt worden. Dasselbe von der Geschichte in Sesenheim." Zu Eckermann, 17. Februar 1830; GE 370.

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unter dem "brennende[n] Sterngewölbe" empfindet der Reisende die größte Einsamkeit, plötzlich wird er - wie es romantischer nicht sein könnte - vom Klang der Waldhörner überrascht. "Da erwachte in mir das Bild eines holden Wesens, das vor den bunten Gestalten dieser Reisetage in den Hintergrund gewichen war, es enthüllte sich immer mehr und mehr, und trieb mich von meinem Platze nach der Herberge, wo ich Anstalten traf, mit dem Frühsten abzureisen." (27,336) Das Märchenhafte dieser Ahnung, das Romantisierte und Inszenierte ist überdeutlich. Den Freund ließ der Protagonist "bei einer lächerlichen Steinkohlengruben-Visitation [... ] und ritt durch Hagenau, auf Richtwegen, welche mir die Neigung schon andeutete, nach dem geliebten Sesenheim" (27,339f.). Als wisse oder ahne er, was ihn an dem bislang unbekannten Ort erwarte. Die absurd anmutende Vorliebe des Freundes in Kombination mit den Wegen, die dem Protagonisten die Neigung "schon" andeutet (vom Inhalt dieser Neigung weiß er noch nichts), lassen vermuten, was hier wichtig ist und was nicht. In Dichtung und Wahrheit ist der Ort - so erfährt es der Leser - ein geliebter, noch bevor der Protagonist je dort war. Von Anfang an ist offenkundig, daß die Darstellung in der Autobiographie eine bewußt künstlerische ist und daß die Chronologie der tatsächlichen Geschehnisse keine Rolle spielt. 44 So wirkt der Verfasser einer biographistischen Lesart von vornherein entgegen. 45 Der Erzähler erwähnt ein Frauenzimmer, dem der Protagonist "von Herzen ergeben" war, und die dem Leser Unbekannte verdiente "so viel Achtung als Liebe" (27,340). Das klingt vielversprechend, gern wüßte man's genauer, doch wieder wird der Fortgang der Geschichte mit einem Einschub retardiert. Der Erzähler bittet seine Leser, die er vertraulich als "meine Freunde" bezeichnet, um Verständnis. Er will einen Umstand erwähnen, "der sehr viel beitrug, meine Neigung und die Zufriedenheit, welche sie mir gewährte, zu beleben und zu erhöhen" (27,340). Dieser Umstand ist die Bekanntschaft mit dem Landpriester von Wakefield, den Herder ihm empfohlen und vorgelesen hat. Die Erzählung vom Vortrag Herders und von den Besonderheiten des Buches bereiten den Leser auf die Sesenheim-Geschichte VOr. 46 Goldsmiths Roman hält der Erzähler für einen "der besten, die je geschrieben worden" (27 ,343). Der Charakter des Landgeistlichen sei "auf seinem Lebens44 Damit sind hier auch die tatsächlichen Ereignisse innerhalb von Dichtung und Wahrheit gemeint. Das Erstaunen des Protagonisten, als er kurz darauf in Sesenheim eintrifft, weist darauf hin, daß dies sein erster Besuch dort war. Somit ist das "geliebte Sesenheim" zur erzählten Zeit seiner Nennung ein völlig unbekannter Ort. Der Leser, der bereits vor der Lektüre der Autobiographie von Sesenheim und der Bedeutung dieses Ortes für Goethe gehört hat, wird deutlich daraufhingewiesen, wie sehr diese Episode noch vor ihrem eigentlichen Beginn ist Poetische erhöht ist. 45 Vgl. auch Gärtner, S. 152. 46 Zahlreiche Interpreten verweisen hier und da auf den Roman, eine ausführliche Untersuchung der vielfältigen Bezüge zu Goldsmiths Roman in Dichtung und Wahrheit gibt es nicht.

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gange durch Freuden und Leiden" dargestellt, ein weiterer Vorzug sei "das immer wachsende Interesse der Fabel, durch Verbindung des ganz Natürlichen mit dem Sonderbaren und Seltsamen" (27,343). Zum Teil trifft das auch auf Dichtung und Wahrheit zu und besonders auf die Sesenheim-Passagen. 47 Der Erzähler attestiert Goldsmith "große Einsicht in die moralische Welt, in ihren Werth und in ihre Gebrechen", zudem Ironie (27,343), und er ist überzeugt von der Dankbarkeit seiner Leser, die seinem Hinweis folgend den Roman wieder oder erstmals lesen. Das klingt so, als sei die Kenntnis dieses Buches Voraussetzung fUr das Verständnis des folgenden Textes. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß der Erzähler den Leser kurz mit dem Rest der Pfarrersfamilie bekanntmacht. Die beiden Töchter - "Olivie, schön und mehr nach außen, Sophie, reizend und mehr nach innen gesinnt" (27,344) - werden dem Leser später in Sesenheim wiederbegegnen. 48 Wieder fUgt der Erzähler eine Verzögerung ein und berichtet über Herders Vortrag. Goethe stellt dessen lebensarme Art des Vorlesens der Leseweise des Protagonisten gegenüber. Der Erzähler betont den unmittelbaren Zugang des Jünglings zur Literatur, ihm sei "alles lebendig, wahr, gegenwärtig" gewesen. Er war "vom Stoff überwältigt", Herder hingegen beachtete "bloß Gehalt und Form" (27,345). Herder sieht den Roman "bloß als Kunstproduct", während die jugendlich-überschwenglichen Zuhörer "noch in jenen Zuständen wandelten, wo es wohl erlaubt ist, Kunstwerke wie Naturerzeugnisse auf sich wirken zu lassen" (27,345). Diese spontane Auffassung eines Kunstwerks als etwas Naturhaftes, der unverstellte Blick auf den Text wird den jungen Zuhörern vom Erzähler der Autobiographie nicht nur zugestanden, Goethe scheint sich vom kunstsinnigen Herder zu distanzieren, wenn er im folgenden dartut, daß sich der Protagonist von seiner lebendigen Rezeptionsweise nicht abbringen ließ (vgl. 27,345f.).49 Dieses leidenschaftliche Lesen ist die Voraussetzung dafUr, daß der 47 Das beginnt schon mit einem sonderbaren Auftakt am Ende des neunten Buches. Lucinde, die Tochter des Tanzlehrers, die sich vergeblich um den Protagonisten bemüht hatte, küßt ihn und ruft aus: "Unglück über Unglück fUr immer und immer auf diejenige, die zum ersten Male nach mir diese Lippen küßt! " (27,292) Damit will sie lediglich eine Liaison zwischen ihm und ihrer Schwester vereiteln, doch dieser Fluch wird ihn bis nach Sesenheim verfolgen. Benedikt Jeßing spekuliert über die Gründe, weshalb Goethe das so dargestellt hat: "Vorab wird gewissermaßen die dortige Schuld des jugendlichen Heiden, der seine Geliebte aus lang genährter Hoffuung in Verlassenheit und Trauer stürzt, zum Teil von ihm auf die unbestimmbare Macht des Schicksals abgewälzt." Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 298. 48 Zudem erinnern sie an die Töchter des Tanzlehrers, damit ist Lucindes Verwünschung des Protagonisten über einen literarischen Umweg miteinbezogen. 49 Damit liefert er ein weiteres Beispiel rur seine Eigenständigkeit im Umgang mit Literatur, auch vor einer Autorität wie Herder. Ihm gegenüber verteidigt der Protagonist auch seine Vorliebe fUr Ovid (vgl. 27,3 I 8f.). Doch er verschweigt sein Interesse an Götz und Faust, die sich in ihm "nach und nach zu poetischen Gestalten ausbilden wollten" (27,320f.). Als fUrchte er, Herders - möglicherweise vernichtendes - Urteil könnte die

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Protagonist in Sesenheim das Gefühl haben wird, im Roman zu leben oder die literarische Vorlage zu erfüllen. Der Wakejield habe bei ihm, erzählt Goethe, "einen großen Eindruck zurückgelassen", von dem er sich selbst "nicht Rechenschaft geben konnte" (27,346). Das macht die Wirkung noch gewaltiger, da geheimnisvoller. Er fühlte sich "in Übereinstimmung mit jener ironischen Gesinnung, die sich über die Gegenstände, über Glück und Unglück, Gutes und Böses, Tod und Leben erhebt, und so zum Besitz einer wahrhaft poetischen Welt gelangt" (27,346). Damals sei ihm das nicht klar gewesen, bemerkt rückblickend der Erzähler, aber er erinnert sich, wie es ihm dennoch "viel zu schaffen" machte. Auch er hält sich an dieser Stelle für fähig, zum "Besitz einer wahrhaft poetischen Welt" zu gelangen. 50 Verheißungsvoll schließt er den Absatz damit, daß er nicht erwartet hätte, "alsobald aus dieser fingirten Welt in eine ähnliche wirkliche versetzt zu werden" (27,346). Er ist es doch, der in der Autobiographie die fiktive Welt Wakefields und die letztlich kaum weniger fiktive Sesenheims so zueinander in Beziehung setzt, daß der Leser nicht umhin kann, zwischen Wakefield aus dem Roman und Sesenheim, wie der Protagonist es erlebt, Parallelen zu sehen. Hier ermöglicht der spielerische Umgang mit der Identität von Verfasser, Erzähler und Protagonist eine Überschneidung von fiktiver und wirklicher Welt. Zudem ist - von der Ebene des Verfassers her gesehen - bemerkenswert, daß Goethe die Chronologie des sogenannten wirklichen Lebens umkehrt: er hat den Wakejield-Roman erst nach seinem ersten Besuch in Sesenheim kennengelernt. 51 So hebt er mit der Darstellung in Dichtung und Wahrheit das Friederiken-Erlebnis von vornherein ins Romanhafte. Durch den Hinweis auf Goldsmiths Roman literarisch präpariert und mit der Rezeptionsweise des leidenschaftlich mitfühlenden Autobiographie-Protagonisten vertraut gemacht, wird der Leser nun mitgenommen nach Sesenheim. Goethe nennt sich im Vorfeld der Reise "einen jungen Ritter" (27,347); diese romanhafte Selbstbezeichnung ist auch ein Indiz dafür, daß er sich selbst als Figur versteht, wie er sie aus der Literatur kennt. Verstärkt wird das Rollenhafte Entwicklung der poetischen Gestalten behindern und ihn letztlich von der Ausführung abhalten. 50 Michael Gärtner schreibt, es sei Goethes Absicht gewesen, den Leser "dahin zu bringen, daß er dem innerliterarischen Bezugssystem (die ,wahrhaft poetische Welt') gegenüber Fragen nach der Authentizität (die ,Gegenstände') und Moralität (,Gutes und Böses') eine Priorität zuerkennt: zu einer Einstellung also, die sich über die biographische Neugier und den Wahrheitseifer des konventionen-geleiteten Lesers hinwegsetzt"; Gärtner, S. 161. 51 Vgl. auch Bracht, S. 268. Nach einer ausführlichen Untersuchung der "wahren" zeitlichen Folge bleibt Bracht zurückhaltend in seinen Schlüssen: Ob Goethe "bewußt die Chronologie vertauschte oder aber den natürlichen Schranken des Gedächtnisses Tribut zahlen mußte ~ erst fiir die Zeit nach 1776 lagen ihm ausfiihrliehe Aufzeichnungen vor ~ bleibt unentscheidbar".

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durch das Verkleidungs-Motiv, das auch erläutert wird und mehrfach wiederkehrt. Es sei eine "verzeihliche Grille bedeutender Menschen" (27 ,347), sich zu verkleiden. Daß aber "ein junger Mensch ohne Bedeutung und Namen" daran Gefallen findet, "möchte mancher fUr einen unverzeihlichen Hochmuth auslegen" (27,347f.). Großzügig sieht der Erzähler dem Protagonisten solche Anwandlungen nach. Er erklärt, daß "wir fUr dießmal, unserer Unterhaltung zu Liebe, dem Jüngling seinen Dünkel verzeihen", und verknüpft dies mit einer allgemeinen Aussage zur Autobiographie: Es sei hier nicht die Rede "von Gesinnungen und Handlungen, in wiefern sie lobens- oder tadelnswürdig, sondern wiefern sie sich offenbaren und ereignen können" (27,348). Am Ende des Satzes erläutert der Erzähler, der nun wieder mit dem Helden der Lebensgeschichte identisch ist, "daß von Jugend auf in mir eine Lust mich zu verkleiden selbst durch den ernsten Vater erregt worden" (27,348). Erst spricht der Erzähler-Verfasser überlegen und verallgemeinernd in der ersten Person Plural über den Protagonisten, dann grundsätzlich über die Autobiographie, und schließlich findet er zurück zur Ich-Perspektive des Erzählers, der mit dem Protagonisten identisch zu sein vorgibt. Der Wechsel der Perspektiven innerhalb eines Satzes erinnert an die Eigenart der vorliegenden Lebensgeschichte. Der Protagonist reist "wunderlich zugestutzt" (27,348) mit dem Freund nach Sesenheim und fUrchtet noch unterwegs, aus der Rolle zu fallen. Das Spiel mit der eigenen Identität durchzieht das zehnte und das elfte Buch. Das ist eine Parallele zum Beginn des Neuen Paris und zudem eine Anleihe von Goldsmith. Nach seiner Ankunft in Sesenheim beginnt der Verkleidete, seine "Rolle mit Mäßigung zu spielen, halb beschämt, so gute Menschen zum besten zu haben" (27,352). Er ist eine unechte Figur in einer echten Umgebung. Aber so echt ist die Umgebung nicht, der Erzähler hat das Idyll sorgsam inszeniert. Dem Protagonisten hingegen erscheint das sonderbar. Eine Vorstellung, die ihn "schon früher überfallen hatte" (27,353), drängt sich ihm auf: "Meine Verwunderung war über allen Ausdruck, mich so ganz leibhaftig in der Wakefield'schen Familie zu finden" (27,353). Es folgt ein gemäßigter Vergleich, auch Abweichungen vom Roman sind genannt. Friederikes Schwester nennt der Erzähler, nachdem er sie zunächst als "die ältere Tochter", "die Älteste" oder "die Schwester" bezeichnet hat, nach dem Roman Olivie,52 den jüngeren Bruder Moses. Einerseits sind die Roman-Familie aus Wakefield und die tatsächliche aus Sesenheim vergleichbar, andererseits fehlt es an unmittelbarer Übereinstimmung. Damit entkräftet der Erzähler vordergründig den Verdacht, er könnte sich die Sesenheimer Welt so zurechtgelegt haben, daß sie dem Roman entspricht; allzuviel Ähnlichkeit wäre verdächtig. Der Leser ist vom alten Goethe 52 Nach der Erwähnung Olivies merkt der Erzähler in Klammem an: "so mag auch hier die ältere Schwester heißen" (27,369) - dies ist ein weiterer Hinweis, daß er die Wirklichkeit des Protagonisten an der Welt des Wakefield-Romans orientiert.

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poetisch vorbereitet, als er mit dem jungen in Sesenheim ankommt. Die literarische Welt aus Goldsmiths Roman und die wirkliche Welt des Protagonisten greifen ineinander. 53 Damit wird nicht nur die Grenze zwischen WakefieldRoman und Sesenheim-Wirklichkeit durchlässig, das ganze ländliche Idyll um den Pfarrhof erscheint poetisiert. Diese Geschichte spielt nicht nur mit romanhaften Elementen, sie hat das Romanhafte selbst zum Thema. 54 Was um so verwirrender ist, als sich das Ganze innerhalb einer erzählten Lebensgeschichte abspielt. Es ist mehr als eine fiktionalisierende Bearbeitung von Erlebnismaterial. "Fürwahr! [... ] das Mährchen ist ganz beisammen", ruft der Freund aus, als er mit dem Protagonisten allein ist (27,356).55 Er weist diesem und sich selbst Rollen aus dem Wakefield zu, der Protagonist hingegen beschäftigt sich mehr mit seiner selbstgewählten Rolle als armer Theologiestudent. Am nächsten Morgen erschrickt er "über die verwünschte Garderobe" (27,357), er will seine "verwünschte Hülle" (27,358) so schnell wie möglich loswerden. Sein "verkleidetes Selbst", zu dem Friederike am Vorabend so freundlich gesprochen hatte, ist ihm leid geworden, und als der Freund ihm bestätigt: "du siehst ganz verwünscht aus!" (27,358), will er der Verwünschung ein Ende bereiten und macht sich auf in die Stadt, um sich umzuziehen. Unterwegs schlüpft er dann aber in die Kleider und Rolle eines Wirtssohnes. Friederike erkennt ihn zunächst nicht, anders ihre Mutter: "Sie sind es, junger Herr? wie viel Gestalten haben Sie denn?" Darauf der Verkleidete: "Im Ernst nur Eine, [... ] zum Scherz, so viel sie wollen" (27,364). Damit ist das Maskenspiel als Scherz von der wahren Identität als Ernst unterschieden. Friederike erschrickt, als sie ihn erkennt (vgl. 27,365). Schließlich verursacht der Verkleidete noch allerlei Heiterkeit, und als ihm angeboten wird, das Gewand eines Vetters anzulegen, lehnt er ab; eine weitere Rolle mag er nicht annehmen. Doch es folgt wieder ein Maskenspiel, eines der subtileren Art. Der Protagonist sitzt mit Friederike, ihrer Schwester und dem Freund in einer Laube und trägt sein Märchen von der Neuen Melusine vor. Annähernd alle Anforderungen an eine kunstvoll komponierte, angemessen vorgetragene und ebenso aufgenommene Erzählung scheinen erfüllt. Mit einem einzigen Satz, in 53 Ähnlich sieht das Martin Andree: "So erscheint Literatur als Antizipation des Lebens, wie umgekehrt das Leben die, Vorlage' der Literatur sein wird. Auf diese Weise werden in Dichtung und Wahrheit fortlaufend Deja-vu-Effekte erzeugt, in denen sich immer wieder Litera/ur und Leben überkreuzen." Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute. München 2005, S. 479. 54 Vgl. auch Müller: Autobiographie und Roman, S. 309f. Zur "humoristisch ausgelotete[n] Spannung zwischen Schein und Sein" in Goldsmiths Roman vgl. Weber, S. 32. 55 Das ist wohl eine Anspielung auf den Untertitel des Romans von Goldsmith: The Vicar ofWakefield. A Tale. Supposed to Be Written by Himself. London 1766. Auch in den beiden Untertiteln ist die Mischung von Märchen und fiktiver Autobiographie auffällig.

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dem sich zahlreiche Facetten einer gelungenen Rezeption geradezu überschlagen, beschreibt der Erzähler der Autobiographie die Wirkung des Märchens bei den Zuhörern: Genug mir gelang, was den Erfinder und Erzähler solcher Productionen belohnt, die Neugierde zu erregen, die Aufmerksamkeit zu fesseln, zu voreiliger Auflösung undurchdringlicher Räthsel zu reizen, die Erwartungen zu täuschen, durch das Seltsamere, das an die Stelle des Seltsamen tritt, zu verwirren, Mitleid und Furcht zu erregen, besorgt zu machen, zu rühren und endlich durch Umwendung eines scheinbaren Ernstes in geistreichen und heitern Scherz das Gemüth zu befriedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen Bildern und dem Verstande zu fernerm Nachdenken zu hinterlassen. (27,372f.)

Eine "Sternstunde literarischer Vermittlung", wie Gisela Brude-Firnau zu Recht feststellt. 56 Die Bedingungen sind ideal: in lieblichster Umgebung, vor wohlwol1enden Zuhörern trägt ein begabter Dichter eines seiner Werke so vor, daß das Publikum gar nicht anders kann, als sich mitreißen zu lassen, mitzufühlen und davon noch nach dem Vortrag zu zehren. Der Erzähler fahrt fort mit schreib kritischen Anwandlungen in geschriebener Form: "Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Rede" (27,373). Das ist die Folge der zuvor geschilderten vorzüglichen Kommunikationssituation; dieses Rezeptionsideal ist über das gedruckte Wort allein nicht zu erreichen. 57 Ganz allgemein merkt der Erzähler an, "der Mensch" sei "eigentlich nur berufen [... ], in der Gegenwart zu wirken" (27,373). Damit ist auch der Leser der Autobiographie angesprochen. Denn ihm wird vermittelt, daß seine aktuel1e Rezeptionstätigkeit nur ein schwacher Abglanz einer lebendigen Kommunikation ist. Zudem wird der Leser mit dem "uns" (hingewiesen auf die "ländliche Wirklichkeit und Einfalt, die uns hier gefallig umgibt" [27,372]) deutlich miteinbezogen. So gelingt es Goethe wieder, es seinen Lesern leicht und schwer zugleich zu machen: sie einerseits mitzuverwickeln in das erzählte Geschehen, sie andererseits immer wieder auf Distanz zu halten und auf die ambivalente Rezeptionssituation mit ihren Schwierigkeiten hinzuweisen. In Sesenheim erzählt Goethe sein Märchen von der Neuen Melusine. Dem Leser der Autobiographie erzählt er's nicht. Im Gegensatz zum Neuen Paris läßt er diesen Text in Dichtung und Wahrheit aus, fürchtet er doch, die "ländliche Wirklichkeit und Einfalt" durch "wunderliche Spiele der Phantasie" zu beeinträchtigen (27,372).58 Auf die geschilderte Situation bezieht sich das nicht, schließlich wurde das Märchen damals erzählt. Die "ländliche Wirklichkeit und Brude-Firnau, S. 331. Auf die Nähe der Vorzüge mündlicher Überlieferung zur Herderschen Volkspoesie weist Benedikt Jeßing hin: Dichtung und Wahrheit, S. 300. 58 Michael Gärtner beobachtet, daß die Erwartungen der Leser, "den Protagonisten unmittelbar zu vernehmen, [... ] gleichermaßen geschürt und enttäuscht" werden; vgl. Gärtner, S. 143. 56

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Einfalt, die uns hier gefällig umgibt" (27,372), ist also die Gegenwart des Autobiographie-Schreibers und des Lesers.59 Auch das erste "hier" in diesem Satz "ich würde es hier einrücken" (27,372) - bezieht sich eindeutig auf den autobiographischen Text. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Goethe mit einem feinen und bedeutsamen Bruch oder einer Unbestimmtheit der deiktischen Kohärenz für Verwirrung sorgt. Das ist an dieser Stelle besonders augenfällig, da der Protagonist etwas tut, was der Erzähler nicht tut, und dies wird auch noch - möglicherweise vom Verfasser - begründet. Wenn Goethe von der Erzähler- zur Protagonisten-Perspektive wechselt und sich dann wieder als Verfasser äußert, verunsichert er den Leser nicht unbedingt, er zieht ihn um so mehr hinein in das erzählte Geschehen. Es ist problematisch, das an anderer Stelle veröffentlichte Märchen in der Interpretation von Dichtung und Wahrheit zu berücksichtigen. Denn so einfach verhält es sich nicht mit der Identität des Protagonisten in Sesenheim mit dem Dichter Goethe, und daher steht das in der Dichtung erzählte Märchen in einem eigenartigen Verhältnis zu der Fassung, die später, in der sogenannten Wirklichkeit, gedruckt wurde.60 Zudem zieht man damit einen Text heran, den der Verfasser, wie der Erzähler deutlich erklärt, eben nicht in seiner Autobiographie haben wollte. Aber das ist kein Grund, den Inhalt der Neuen Melusine völlig außer acht zu lassen, und vielleicht steckt dahinter die Strategie des Verfassers, auf den nicht eingeschalteten Text erst aufmerksam zu machen und auf das Nichtvorhandensein des Textes in der Autobiographie.

59 Vgl. hierzu auch Bemhard Greiner: Dialogisches Wort als Medium des ÜberSich-Redens: Goethes Bekenntnisse einer schönen Seele im Wilhelm Meister und die Friederiken-Episode in Dichtung und Wahrheit. In : Johannes Cremerius u.a. (Hrsg.): Über sich selbst reden. Zur Psychoanalyse autobiographischen Schreibens. Würzburg 1992, S. 95-120, hier S. 119. 60 In seiner Einführung zum Erstdruck von 1816 spielt Goethe mit diesem Verhältnis: "Man hat das Mährchen verlangt, von welchem ich zu Ende des zweyten Bandes meiner Bekenntnisse gesprochen. Leider werde ich es jetzo in seiner ersten unschuldigen Freyheit nicht überliefern; es ist lange nachher aufgeschrieben worden, und deutet in seiner jetzigen Ausbildung auf eine reifere Zeit als die ist, mit der wir uns dort beschäftigten. So viel reiche hin, um die einseitigen Hörer vorzubereiten. Sollte ich also gegenwärtig jenes Mährchen erzählen, so würde ich folgendergestalt anfangen: [... ]" (WA 1,25/2,154). Gonthier-Louis Fink nimmt diese Aussage zu ernst, wenn er daraus folgert: "Ce que Goethe apresente a ses jeunes amies n'etait donc pas la conte tel que nous le connaissons." Das leitet er auch aus der Situation des Autobiographie-Protagonisten ab: "Etant tres epris de Frederique, il n'aurait pu faire allusion a la mesalliance et l'incompatibilite des amants, sans parler d'autres motifs qu'il aurait ete inconvenant d'evoquer." Gonthier-Louis Fink: "La Nouvelle Melusine". Goethe a la recherche d'un nouveau langage esoterique. In: ders. u.a. (Hrsg.): Goethe. Paris 1980, S. 145-177, hier S. 153 . Was der Protagonist der Autobiographie in Sesenheim erzählt hat oder erzählt haben könnte, ist hier weniger von Belang als die Frage, weshalb der Verfasser vom Märchen spricht, ohne es zu erzählen . Bemerkenswert ist auch, daß Goethe die niedergeschriebene Fassung wieder in eine Dichtung, in die Wanderjahre, einbaut.

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Das Märchen ist die Geschichte zweier ungleicher Liebender. 61 Wie beim Neuen Paris im zweiten Buch trägt ein Ich-Erzähler das "wahrhafte Märchen" vor, und wieder geht es, wie der Titel verrät, um einen neuen Helden in einer altbekannten Geschichte (die der Protagonist der Autobiographie seit frühster Kindheit kannte, vgl. 26,51). Des Helden Liebe zu Melusine ist unmöglich, denn diese ist - obwohl sie zunächst in menschengroßer Gestalt erscheint - eine Zwergin. Ihre Welt ist ihm zu klein. Als er mit Hilfe eines Zauberrings die Größe Melusines annimmt und sie im Zwergenreich heiratet, ändert das nichts am Eindruck des Begrenzten, ihm Ungemäßen. In sich empfindet er den Maßstab seiner vorigen Größe, das macht ihn unruhig und unglücklich. Schließlich gelingt es dem Helden, sich den Ring vom Finger zu feilen, und er erhält seine ursprüngliche Größe wieder. Die Rückverwandlung spielt sich außerhalb des Zwergenpalastes ab. So wird abschließend noch einmal deutlich, daß der Held in seiner ihm angemessenen Gestalt die Gebäude, ja diese ganze Zwergenwelt gesprengt und zerstört hätte. Ohne das Märchen in den autobiographischen Kontext, in dem es erwähnt, aber nicht erzählt wird, hineinpressen zu wollen, liegt es nahe, den Helden des Märchens mit dem Erzähler in Sesenheim und die Welt der Melusine mit der Friederikes in Beziehung zu setzen. 62 Mit dem Märchen deutet der Protagonist der Autobiographie an, daß die kleine Welt Friederikes für ihn zu eng ist. 63 Das wird sich in der Folge bestätigen. Mindestens so bedeutsam wie der Inhalt der Geschichte ist ihr Nichtvorhandensein in der Autobiographie. Das betonte Auslassen des Textes führt zu der Frage: Was kann ein abwesender Text, was ein anwesender nicht kann? Er kann beispielsweise den Leser auf etwas noch nicht 61 Vgl. Goethe: Die neue Melusine. In: Wilhelm Meisters Wanderjahre, Teil 11; WA 1,25/1 ,131-165. Erstmals wurde das Märchen in zwei Teilen im Taschenbuchfor Damen auf das Jahr 1817 (1816) und in jenem auf das Jahr 1819 (1817) gedruckt, 1821 fiigt es Goethe in die Wanderjahre ein. Zu den Parallelen des Märchens und der Situation in Sesen heim vgl. auch Müller: Autobiographie und Roman, S. 305f. 62 Dafiir sprechen auch entstehungsgeschichtliche Gründe: Als Goethe im Herbst 1812 am zehnten Buch arbeitet, nimmt er das Märchen wieder vor, das er fiinf Jahre zuvor abgeschlossen hatte, und diktiert eine Reinschrift (vgl. WA III,4,325f.). Es ist bereits 1797 in einem Brief an Schiller erwähnt (vgI. WA IV, 12,31 f.), laut Tagebuch hat sich Goethe im Mai 1807 damit beschäftigt und das Märchen zu einem vorläufigen Abschluß gebracht (vgl. WA III,3,211 und 217). Daß Goethe gleichzeitig an beiden Texten arbeitete, läßt auf ein zirkuläres Verhältnis von autobiographischer Dichtung und Märchen schließen, das nicht ganz zu erhellen ist: Die Beschäftigung mit der Sesenheimer Zeit regt ihn an, das Märchen wieder vorzunehmen; es stellt dem Verfasser die Lage des Protagonisten am Ende des zweiten Teils von Dichtung und Wahrheit möglicherweise anschaulicher vor Augen, als es die autobiographische Erzählung hätte tun können. Das spräche dafür, das Märchen einzufügen. Ob Goethe dies je erwogen hat, ist unklar. 63 Bereits bei der Erwähnung des ersten Spaziergangs, des ersten Gesprächs zwischen Friederike und dem Protagonisten, ist von der "kleinen Welt" die Rede, und zwar keineswegs abschätzig: "Es war mir sehr angenehm, stillschweigend der Schilderung zuzuhören, die sie von der kleinen Welt machte, in der sie sich bewegte" (27,355).

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Sichtbares hinweisen; dies kann er allerdings nur, wenn der Leser Inhalt und Bedeutung des Textes kennt. Das Ende des Friederiken-Idylls ist von außen noch nicht erkennbar, aber im Innern des Protagonisten, der die Situation bewußt oder unbewußt in ein Märchen faßt, deutet es sich schon an. Damit bereitet das ausgelassene Märchen auf die Entwicklung im elften Buch vor; im defizienten Modus ist die Ahnung, daß ein Leben in dieser kleinen Welt dem Protagonisten nicht angemessen wäre, bereits gegenwärtig. Was wirkte denn anders, wenn der Verfasser das Märchen eingeftigt hätte? Zerstörte er damit zu früh die Idylle? Wäre der Anfang vom Ende der Friederiken-Geschichte zu deutlich markiert? Benedikt Jeßing meint, der Erzähler bedürfe an dieser Stelle längst keines Beweises mehr ftir sein dichterisches Talent und habe es daher nicht nötig, das Märchen einzuschalten. 64 Klaus-Detlef Müller erklärt Goethes Entscheidung, den Text des Märchens in Dichtung und Wahrheit nicht aufzunehmen, damit, "daß der in der Wiedergabe erzeugte Zwischenbereich zwischen Dichtung und Wirklichkeit nicht durch ein dichterisches Produkt seiner poetischen Dimension entkleidet werden soll. In diesem Sinne wird also die autobiographische Distanz selbst zum Mittel der Fiktionalisierung.,,65 Es ist ein Schweben zwischen nicht erzähltem Märchen und poetisierter Wirklichkeit, ein Spiel mit Andeutungen und ein weiteres Beispiel ftir ein nicht aufzulösendes Ineinander verschiedener Wirklichkeits- und Poesieschichten. Dem rundum gelungenen Vortrag des Märchens folgt in der Autobiographie eine kurze Anmerkung zur Herkunft von Goethes, des Protagonisten, Dichtertalent. Die "väterliche Mitgift" sei "eine gewisse lehrhafte Redseligkeit", und von der Mutter habe er die Fähigkeit, "alles was die Einbildungskraft hervorbringen, fassen kann, heiter und kräftig darzustellen, bekannte Mährchen aufzufrischen, andere zu erfinden und zu erzählen, ja im Erzählen zu erfinden" (27,373). Die Gaben der Eltern werden ergänzt durch das Bedürfnis des Protagonisten, sich "figürlich und gleichnisweise auszudrücken" (27,374). Das hat er kurz zuvor mit der Neuen Melusine bewiesen, auch wenn die Zuhörer, bei aller Begeisterung, das Gleichnishafte nicht auf die gegenwärtige Situation Friederikes und des Märchenerzählers bezogen haben. Auch die "lehrhafte Redseligkeit" des Vaters und die von der Mutter geerbte Fähigkeit, ein Märchen an eine aktuelle Situation anzupassen, lassen es als möglich erscheinen,

64 Vgl. Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 300.

65 Müller: Autobiographie und Roman, S. 305. Ähnlich sieht das Greiner, S. 116. Beutler schließt sich der Aussage des Verfassers an und schreibt, Goethe habe "in Besorgnis[,] den Rahmen zu sprengen", das Märchen nicht eingefügt; Beutler: Einführung in GA 933.

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daß der Protagonist mit seiner Erzählung die Zuhörer nicht nur unterhalten wollte. 66 Am Ende des zehnten Buches und des zweiten Teils und mitten in der Erzählung von Friederike steht der Protagonist als Dichter in einer poetisierten Welt. Die Abschnitte über Sesenheim sind von Straßburger Erlebnissen unterbrochen und durch die Grenze zwischen zehntem und elftem Buch sowie zwischen zweitem und drittem Teil getrennt. Die Fortsetzung der Geschichte im elften Buch beginnt der Erzähler, indem er auf die Neue Melusine in der Laube zu Sesenheim zurückkommt. Er knüpft unmittelbar an Raum und Zeit der Szene am Ende des zehnten Buches an. Von seinem Märchen sagt er, daß darin "das Gemeine mit dem Unmöglichen anmuthig genug wechselte".67 Und das kommt an: seine Zuhörer sieht er von der "seltsamen Darstellung aufs äußerste verzaubert" (28,5). Weyland klärt ihn auf, weshalb die Erzählung die Schwestern derart beeindruckte: auf der anderen Rheinseite lebe ein Ehepaar, das dem im Märchen sehr ähnlich sei. Daher erkundigen sich die Mädchen denn auch, ob der Märchenerzähler dieses Paar kenne (v gl. 28,6f.). Der aber hatte sich, so der Erzähler der Autobiographie, nicht auf eine tatsächlich existierende Vorlage bezogen. Das kann man so verstehen, als habe der Protagonist unwissentlich die Wirklichkeit zum Märchen verdichtet. Wenn der Erzähler darauf hinweist, daß er sich in Gedanken gerne "mit solchen Späßen" beschäftigte, "ohne weitere Beziehung" zu tatsächlichen Gegebenheiten, und daß er nicht wußte, wie er auf den Einfall gekommen war (28,7), will er damit sagen, daß sich der Protagonist mit seinem Märchen von der Neuen Melusine nicht auf seine und Friederikes Lage bezogen hat. Auf diesem Umweg kann er den Leser darauf aufmerksam machen, daß es eben doch irgendeinen Bezug zur Wirklichkeit gibt; auch das in diesem Zusammenhang genannte Bedürfnis, sich "figürlich und gleichnisweise auszudrücken" (27,374), läßt eher auf einen - möglicherweise auf den ersten Blick nicht erkennbaren - mehrdeutigen Inhalt des Märchens schließen als auf Späße "ohne weitere Beziehung". Am Ende des zehnten Buches ist der Erzähler überzeugt, es sei dem Protagonisten mit seinem Märchen-Vortrag gelungen, "der Einbildungskraft Stoff zu neuen Bildern und dem Verstande zu fernerm Nachdenken zu hinterlassen" (27,372f.). Das könnte mit der Hoffnung des Protagonisten verbunden sein, daß die Zuhörer zumindest ahnen, was er mit dem Märchen sagen möchte. Die neue Melusine in den Wanderjahren ist in Ich-Form erzählt. Sollte dies auch für das 66 Die erwähnten Gaben hat nicht nur der Protagonist, sondern auch der Erzähler und Verfasser von Dichtung und Wahrheit, und so kann auch die Darstellung in der Autobiographie damit gemeint sein. Das wäre ein - wenn auch unbestimmter - Hinweis an die Leser, auch die Sesenheim-Passagen "figürlich und gleichnisweise" zu verstehen. 67 Das erinnert an einen Vorzug des Wakefield: an diesem Roman schätzt der Protagonist "das immer wachsende Interesse der Fabel, durch Verbindung des ganz Natürlichen mit dem Sonderbaren und Seltsamen" (27,343).

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in Sesenheim erzählte Märchen gelten, hätte diese Identität von Erzähler und Märchenheld die Zuhörerinnen auf einen Bezug zur Gegenwart hinweisen können. Die Übereinstimmung des Märchenpersonals mit Bekannten der Schwestern hindert diese jedoch daran, das Erzählte mit ihrer eigenen Situation in Verbindung zu bringen. Das vom Protagonisten erzählte, vom Autobiographie-Erzähler ausgelassene Märchen verknüpft den zweiten Teil von Dichtung und Wahrheit mit dem dritten. Für die Leser, die das Melusinen-Märchen kennen (was erst nach der Veröffentlichung 1816/1817 möglich war), deutet es auf den Abschied von Friederike im elften Buch voraus, ohne dem zehnten Buch die Stimmung zu nehmen. Auch im elften Buch wird die Poetisierung Sesenheims auf mehreren Ebenen thematisiert, und das idyllische Landleben dauert zunächst fort. Ein Morgenspaziergang mit Friederike scheint durch ein Leseerlebnis intensiviert. Der Protagonist genoß "an der Seite des lieben Mädchens der herrlichen Sonntagsfrühe auf dem Lande, wie sie uns der unschätzbare Hebel vergegenwärtigt hat" (28,12). Sollte der Leser das Gedicht Hebels kennen oder nachlesen, wird er einen umfassenderen, lebendigeren Eindruck von jenem Spaziergang bekommen. Doch um eine Erlebnisvorlage aus der erzählten Zeit kann es sich nicht handeln, das Gedicht wurde erst 1803 publiziert. Indem der Erzähler in dieser fast weltenthobenen Situation das Gedicht erwähnt, verleiht er der ganzen Schilderung etwas Poetisches. Die späteren Leseerfahrungen des Verfassers tragen zur Poetisierung der Erlebnisse des Protagonisten bei. Im Gegensatz zu diesem hatte Friederike "überhaupt wenig gelesen" (28,17). Dies sagt sie einer Bekannten, nicht im Gespräch mit dem Freund selbst. Der wagt nicht, ihr den Wakefield anzubieten. Unwissend, daß sie und ihre Familie den Figuren aus dem Roman ähnlich sind, sagt Friederike, sie lese gerne Romane, "man findet darin so hübsche Leute, denen man wohl ähnlich sehen möchte" (28,18). Damit erwähnt sie eine Erfahrung, die der Protagonist nur zu gut kennt und die zudem in diesen Szenen der Autobiographie von zentraler Bedeutung ist. Wieder hat Goethe in der Erzählung die Welt der Romane und die außerliterarische ineinander verflochten. Der Leser ist an dieser Stelle mit einigen Vergleichbarkeiten von Goldsmiths Roman und der Wirklichkeit in Sesenheim längst vertraut. Im Gegensatz zu Friederike weiß er um die Ähnlichkeit - und er weiß auch, daß diese Ähnlichkeit eine vom Erzähler fingierte ist. Durch die scheinbare Einteilung in Wirklichkeit hier (in Sesenheim) und Literatur dort (in Wakefield) gerät die Darstellung in ein halbpoetisches Zwielicht. Daß in der Literatur zwischen inner- und außerliterarischer Wirklichkeit unterschieden wird und der Verfasser mit dieser Unterscheidung spielt, erzeugt eine metaliterarische Verwirrung. Weyland begeht die "Schalkheit", den Wakefield nach Sesenheim mitzubringen. Das klingt so, als dürften sich die einander ähnlichen Welten in Roman und Wirklichkeit nun doch nicht allzu nahe kommen. Da der Verfasser aber eben dies will, wird der Protagonist gebeten, aus dem Buch vorzutragen. Wie-

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der liest er vor erheiterten Gesichtern. Es "schien ihnen gar nicht unangenehm, abermals [wie schon beim Vortrag der Neuen Melusine] zu einer Vergleichung genöthigt zu sein" (28,26). Sie machen die Erfahrung, daß sie sich in den Figuren und Erlebnissen des Romans wiederfinden - angeregt durch die GoldsmithLesung des Protagonisten. Daran schließt sich eine Reflexion über eine Erfahrung an, die der Erzähler für eine allgemein-menschliche hält: "Alle Menschen guter Art empfinden bei zunehmender Bildung, daß sie auf der Welt eine doppelte Rolle zu spielen haben, eine wirkliche und eine ideelle, und in diesem Gefühl ist der Grund alles Edlen aufzusuchen" (28,26). Die wirkliche Rolle sei einem jeden deutlich, welche ideelle uns zugeteilt ist, "darüber können wir selten in's Klare kommen" (28,26). Dieses Gefühl wird geweckt und gestärkt durch den Vergleich mit literarischen Figuren. Auch wenn die ideelle Rolle unbestimmt bleibt, ist die Ahnung bereits fühlbar. Der Goldsmith rezitierende Protagonist in Sesenheim orientiert sich nicht nur selbst an literarischen Vorbildern, er ermöglicht dies auch seinen Zuhörern. Die "doppelte Rolle" ist keine Täuschung im negativen Sinne, sie erweitert die Identität. Unmittelbar im Anschluß daran erwähnt Goethe den ,jugendliche[n] Trieb, sich mit Romanfiguren zu vergleichen", was ja auch Friederike gerne tut. Dieser Trieb zähle zu den "läßlichsten Versuche[n], sich etwas Höheres anzubilden, sich einem Höheren gleich zu stellen" (28,27); er sei ebenso unschuldig wie unschädlich und unterhalte in Zeiten größter Langeweile. Der Erzähler erinnert an die "Litanei vom Schaden der Romane" und fragt, ob es ein Unglück sei, sich an die Stelle anderer zu setzen. "Ist denn das bürgerliche Leben so viel werth, oder verschlingen die Bedürfnisse des Tags den Menschen so ganz, daß er jede schöne Forderung von sich ablehnen soll?" (28,27) Nein, soll er nicht, sagt der Erzähler, indem er diese Fragen stellt. Der Vergleich mit literarischen Figuren ist eine Art gedanklicher Verkleidung, er eröffnet Spielräume, die im Leben außerhalb der Romanwelten verschlossen bleiben. Die "historisch-poetischen Taufnamen" nennt der Erzähler "kleine Nebenzweige der romantisch-poetischen Fictionen" (28,27). Eltern geben ihren Kindern wohlklingende Namen, "diese Verknüpfung einer eingebildeten Welt mit der wirklichen verbreitet sogar über das ganze Leben der Person einen anmuthigen Schimmer" (28,28). Es ist eine poetische Identität, die die wirkliche erhöht. Dies ist allerdings nicht jedem verständlich: "Der kalt und einseitig urtheilenden Welt ist nicht zu verargen, wenn sie alles was phantastisch hervortritt, für lächerlich und verwerflich achtet; der denkende Kenner der Menschheit aber muß es nach seinem Werthe zu würdigen wissen" (28,28). Dieser Apologie des Poetischen liegt die Gewißheit zugrunde, daß zwischen eingebildeter und wirklicher Welt ein Zusammenhang besteht. Es ist auffällig, daß Goethe dies am Anfang vom Ende der Sesenheim-Geschichte betont. Rechtfertigt der Erzähler das Verhalten des Protagonisten, also Goethe sich selbst, kurz bevor sichtbar wird, daß die Liebe zu Friederike auf Dauer doch nicht so idyllisch-romanhaft ist? Oder erwähnt er die Vorzüge der Verknüpfung von eingebildeter und wirk-

6. Erlesenes Idyll: mit Goldsmith in Sesenheim

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licher Welt, weil er in der Folge zwar selbsterlebte Schwierigkeiten mit den bei den Welten darstellt, letztlich aber an diesen Vorzügen festhalten will? Derartige Spekulationen fUhren nicht zu einer eindeutigen Interpretation, zeigen aber, worum es geht: um das Verhältnis von Literatur und Leben. 68 An einem weiteren Beispiel demonstriert Goethe, wie sehr er die Erlebnisse in Sesenheim mit denen des Romans von Goldsmith in Beziehung setzt. Mit seinem Freund bemalt er die Kutsche des Pfarrers, und damit "es aber auch an einem Wakefield'schen Mißlingen nicht fehlen möchte" (28,33), verwenden sie den falschen Firnis. Mit dem Fehler erfUllen sie die literarische Vorgabe. So entsteht der Eindruck, als bestimme die Fiktion die Wirklichkeit, als handelten die Freunde unbewußt nach dem Muster des Romans. Wobei dieser Eindruck eben ein vom Erzähler fingierter ist. Goethe erhebt Sesenheim zur poetischen Welt, indem er den einigermaßen realen Ort im romanhaften spiegelt. Solche "unangenehme[n] kleine[n] Zwischenfälligkeiten" wie beim Bemalen der Kutsche konnten die Gesellschaft in Sesenheim "so wenig als Doctor Primrose und seine liebenswürdige Familie" in ihrem "heitern Leben" stören (28,33). Doch ist es nun ein "Mißlingen", das Roman und Wirklichkeit verbindet. Unterschwellig breitet sich eine ungute Stimmung aus. Als Friederike, ihre Schwester und die Mutter in Straßburg zu Besuch sind, zeigt sich das noch deutlicher. Die Stadt-Kulisse ist den Frauen vom Lande nicht angemessen, ihre Tracht wirkt wie eine Verkleidung. Auch Goldsmith paßt nicht in diese Umgebung: nun liest der Protagonist "an einem Abend den ganzen Hamlet ununterbrochen" (28,37). So kommen ins Bezugsgeflecht der Texte neue Motive, die mehr mit dem unveröffentlichten Vorwort zum dritten Teil als mit der Idylle aus dem zehnten Buch gemein haben, und wieder ist die Unmöglichkeit der Beziehung zu Friederike über einen literarischen Umweg, mit dem Hinweis auf einen Text, dargestellt. 69 Als der Besuch schließlich abreist, ist der Protagonist erleichtert, und die Erzählung fährt mit dem Straßburger Alltag fort, mit der Promotion und den Por68 Dieses Verhältnis spielt auch auf einer anderen Ebene eine Rolle: Mit der Darstellung des vermeintlich authentischen autobiographischen Hintergrunds der Gedichte aus Sesenheim beeinflußt Goethe die Rezeption dieser Gedichte; vgl. auch Andree, S. 478. 69 Benedikt Jeßing hält es zu Recht rur konsequent, daß sich "auch der literarische Referenztext [ändert], der bisher idyllisierend in den autobiographischen Darstellungszusammenhang hineinragte"; Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 301. Heinz-Dieter Weber setzt diese Vorlese-Szene mit dem Vortrag der Neuen Melusine in Beziehung: "In der Stadt literarisiert der junge Goethe Friederike implizit noch einmal im Hamlet-Vortrag: Hamlet-Goethe scheint nun Friederike-Ophelia poetisch ins Wasser zu schicken, eine tragischere und poetisch gerechtere Lösung als der brisante Zwergenvergleich." Weber, S. 35. Die erneute Literarisierung Friederikes ist - fiir Leser, die den Harn/et kennen und diese Parallele ziehen können - ein weiteres Beispiel dafiir, wie der Protagonist seine schwierige Lage mit Hilfe der Dichtung wenigstens zum Ausdruck bringen kann.

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H. Leben und Dichtung und Leben

traits einiger Zeitgenossen. Bevor der Erzähler von diesem Lebensabschnitt berichtet, äußert er sich allgemein zur Gradlinigkeit von Lebensläufen. Es seien "nur wenige Biographien, welche einen reinen, ruhigen, stäten Fortschritt des Individuums darstellen können" (28,50). Diese Einsicht nimmt er zum Anlaß, sich über die "unbegreifliche Weise" Gedanken zu machen, auf die das Leben aus Freiheit und Notwendigkeit zusammengesetzt ist (28,50). Es ist die Erfahrung, die Inszenierung des eigenen Lebens nicht immer in Händen zu haben; die Anklänge an das nicht veröffentlichte resignative Vorwort zum dritten Teil der Autobiographie sind deutlich. 70 Auf den Leser wirkt das so, als sei dem Erzähler die Entwicklung, die er beschreibt, selbst unbegreiflich. Oder der Verfasser stellt das Geschehen nur als nicht nachvollziehbar dar, und die Einschätzung Müllers trifft zu, daß Goethe die Erlebnisse in Sesenheim als "folgerichtigen Ablauf schildert, der im Grunde von Anfang bis Ende keine Entscheidung verlangt", um so "das Verhängnisvolle als ein Absichtsloses erscheinen [zu] lassen".7! Mögliche Schuldgeftihle wären so gemildert. 72 Am Ende des elften Buches erwähnt der Erzähler ein letztes Wiedersehen mit Friederike. Von diesem Ausflug nach Sesenheim erfährt der Leser fast nichts, nur: "Es waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist" (28,83).73 Auch der Abschied wird in einem einzigen Satz geschildert. Eine "der sonderbarsten Ahnungen" überfällt den Protagonisten auf dem Rückweg. In einer Vision reitet er sich selbst entgegen, "in einem Kleide, wie ich es nie getragen" (28,83). Acht Jahre später trägt Goethe, so jedenfalls berichtet es der Erzähler, genau diese Kleidung - und zwar "nicht aus Wahl, sondern aus Zufall" -, als er noch einmal auf dem Wege nach Sesenheim ist (28,84). Das "wunderliche Trugbild" des Doppelgängers gab ihm "einige Beruhigung", der Abschiedsschmerz war entschärft, und so fand er sich "auf einer friedlichen und erheiternden Reise so ziemlich wieder" (28,84). Die Antizipation in der erzählten Zeit der Autobiographie läßt die Komposition des Verfassers deutlich erkennen. Es ist ein Hinweis auf eine Zeit außerhalb von Dichtung und Wahrheit, somit kommt hier der Autor ins Spiel, der das Sonderbare der SelbstBegegnung noch steigert, indem er nachträgt, daß sie sich später zugetragen 70 Dieser Abschnitt und das Vorwort werden in Kapitel 13 behandelt. 71 Müller: Autobiographie und Roman, S. 300. 72 Martin Stern ist der Ansicht, Goethe habe "im neunten bis elften Buch seiner Autobiographie eigene wieder erwachte Schuldgefühle beschwichtigt, wenn nicht verdrängt". Den Autobiographen von 1811 bis 1813 hätten "unbewältigte Schuldgefühle inbezug auf sein eigenes Jugendverhalten" noch "stark bewegt"; Martin Stern: Autobiographie als Medium der Introspektion. Zur textstrukturierenden Wirkung von Schuldgefühlen in Goethes "Dichtung und Wahrheit". In: Therese Wagner-Simon/Gaetano Benedetti (Hrsg.): Sich selbst erkennen. Modelle der Introspektion. Göttingen 1982, S. 175 bis 197, hier S. 189, 191. 73 Für Martin Stern ist diese Erinnerungslücke als "Amnesie aus Schuldgefühl erklärbar"; Stern: Autobiographie als Medium der Introspektion, S. 190.

6. Erlesenes Idyll: mit Goldsmith in Sesenheim

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hat. Die Vision korrespondiert mit der Verwünschung am Ende des neunten Buches. Diese beiden wirkungsvollen Begebenheiten rahmen die Geschichte von Sesenheim ein und verleihen ihr etwas Unheimliches. Im zwölften Buch kommt Friederike noch einmal vor. Ihr Brief läßt den Protagonisten erkennen, daß er "das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet" hatte (28,118). Er fühlt sich schuldig. Diese "Epoche einer düstern Reue" war "peinlich, ja unerträglich". Unmittelbar darauf schreibt der Erzähler: "Aber der Mensch will leben" (28,118). Das heißt auch: leben mit Hilfe der Dichtung. Der Protagonist setzt im Schmerz über Friederikes Lage die "hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büßung einer innern Absolution würdig zu werden" (28,120). Folge seiner "reuigen Betrachtungen" sind die treulosen Liebhaber in Götz und Clavigo. Der Erzähler formuliert das vorsichtiger und schreibt, sie "möchten wohl Resultate" dieser Überlegungen gewesen sein. Es sind demnach keine unmittelbaren Umsetzungen von lästigen Schuldgefühlen. Die poetische Beichte erweist sich - in Kombination mit körperlichen Übungen - als heilsam, der Protagonist war "zu neuen Lebensfreuden und Genüssen vielfältig aufgeregt" (28,120). Die Sesenheim-Erzählungen werden häufig als Ausdruck und Verarbeitung von Schuldgefühlen interpretiert. Diese Schlüsse seien psychologisch bewanderten Lesern überlassen. 74 Endgültige Aussagen, worauf sich die Darstellung nicht bezieht, sind ebenso problematisch wie die Ergebnisse der biographistischen Forschung. Bernhard Greiner ist überzeugt: "Was in dieser Episode vergegenwärtigt wird, die Unmittelbarkeit, hinreißende Augenblicksseligkeit einer Liebe: es kommt aus der Literatur und verweist auf nichts jenseits dieser, vielmehr immer wieder nur auf andere Texte".75 Das hieße, dem Protagonisten und Verfasser jedes Erlebnis abzusprechen oder die Erlebnisse als von vornherein derart literarisiert zu verstehen, daß sie keinen Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit haben. Die zahlreichen intertextuellen Bezüge sowohl zu Goethes eigenen Gedichten aus dieser Zeit als auch zu Wakefield, zu Harnlet oder zu Hebels Sonntagsfrühe bilden ein Netz, in dem die Erlebnisse und Gefühle des 74 Die psychologischen Auslegungen sind oft mehr erheiternd als aufschlußreich. Theodor Reik beispielsweise hat herausgefunden, daß Goethe unter neurotischer Berührungsangst litt, und die Vision des Protagonisten nach dem Abschied von Friederike erklärt er damit, es sei "sehr wahrscheinlich, daß sich Goethe bereits auf jenem Ritt von Sesenheim 1771 mit dem Plane, Friederike später wieder zu besuchen, beschäftigt hat. Die unbewußte Erinnerung daran hat den Eindruck des Prophetischen gewiß verstärkt"; Reik, S. 530, Anm. Andere Interpreten erwägen, ob Friederike schwanger gewesen sein könnte oder gar unter den Folgen einer Abtreibung gelitten habe, sie diagnostizieren allerlei Störungen und halbbewußte Schuldgefiihle des Protagonisten oder mehr noch des Verfassers, übersehen dabei jedoch den Kunstcharakter der Autobiographie. Um eine Vermittlung bemüht sich Bemhard Greiner: Dialogisches Wort als Medium des Über-Sich-Redens. 75 Greiner, S. 115.

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11. Leben und Dichtung und Leben

Protagonisten intensiviert erscheinen. Es ist nicht nur ein Text-Spiel. Auffallend sind die Überschneidungen von Erlebtem und Erdichtetem, wie sie in der Autobiographie dargestellt sind. Worauf der Text sich letztlich bezieht, ist nicht in jedem Einzelfall zu entscheiden, aber es ist anzunehmen, daß es auch auf der Ebene des Verfassers Überschneidungen und Verschränkungen von Erlebtem und Erdichtetem gibt. 76 Die Literarisierung des Geschehens versteht Greiner "nicht als ein nachträgliches Ausschmücken oder Erhöhen durch Literatur", vielmehr bestehe sie "in generellem Umkehren des Verhältnisses von Literatur und außerliterarischer Wirklichkeit".77 Es ist ein komplexeres Verhältnis als ein bloßes Umkehren. Die Wakefield-Spiegelungen in Sesenheim sind kunstvoll arrangiert: der Protagonist entdeckt nach und nach die Übereinstimmungen seines geliebten Romans mit der Wirklichkeit, und es ist offenkundig, daß der Verfasser-Erzähler diese Konvergenzen inszeniert. Im zehnten Buch bemerkt der Leser der Autobiographie diese Ähnlichkeiten, im elften Buch entgeht auch den Sesenheimern nicht, daß sie den Romanfiguren Goldsmiths vergleichbar sind. Aber da wird die Idylle schon brüchig. Das Leben ist doch nicht so romanhaft, wie es zunächst scheint, das wird auch dem Protagonisten klar. Zu bedenken bleibt, wie die Sesenheim-Fortsetzung im elften Buch wirkte, wenn das Vorwort zum dritten Teil der Autobiographie gedruckt worden wäre. Der Umschwung von der Idylle zum traurigen Ende der poetischen Beziehung erschiene abrupt, und dem Beginn des elften Buches wäre die heitere Leichtigkeit genommen, mit der an die Handlung vom Ende des zehnten Buches angeknüpft wird. Ohne das Vorwort wird der Leser langsam, aber bestimmt auf die Trennung vorbereitet. Er erlebt die Entwicklung mit und wird nicht mit theoretischen Erwägungen darauf hingewiesen. Auch das Märchen von der Neuen Melusine hätte wohl zu drastisch die Ungleichheit der beiden Liebenden veranschaulicht. Die "kompositionelle Fuge" mitten in der Sesenheim-Geschichte zwischen dem zehnten und elften Buch sowie zwischen dem zweiten und dritten Teil scheidet nach Ansicht von Bernd Witte "die Haltung des jungen Goethe, der Dichtung und Leben verwechselt, der dichterisch zu leben versucht und sich daher Täuschungen hingibt, von der des herangereiften, der die realen Verhältnisse durchschaut und sie anerkennt".78 Die Grenze zwischen zwei Büchern und zwei Bänden der Autobiographie ist auf den ersten Blick äußerlich markanter als inhaltlich. Daftir ist die Wirkung beim Leser um so heftiger. Die leidenschaftliche Wakefield-Lektüre des Protagonisten nimmt im zehnten Buch auch den Leser in die zauberhafte Liebesgeschichte mit hinein. Das romanhafte Leben ermöglicht dem Protagonisten Geftihle und Erfahrungen, die ihm das Le76 77

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V gl. auch Kapitelll. Greiner, S. 115. Witte, S. 396.

7. Wider die Freude am Faktischen: Werther

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ben ohne Roman nicht hätte bieten können. Doch die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Integration von Leben und Literatur im elften Buch lassen den Eindruck entstehen, das Leben entziehe sich der Literarisierung. Und da all das in Form von Literatur dargestellt ist, ergibt sich für den Leser der Autobiographie ein verwickeltes Spiel, in dem die Komponente des Verfasser-Lebens mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Im elften Buch macht sich der Erzähler, noch bevor er den Abschied von Friederike erwähnt, Gedanken über Diderot und Rousseau und was sie "auf Kunst gewirkt". Diese Aussage erläutert zudem die Darstellung der Erlebnisse in Sesenheim: "Die höchste Aufgabe einer jeden Kunst ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu geben. Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrig bleibt" (28,65).79 Nach dem hartnäckigen Versuch, Wakefield in Sesenheim zu sehen, klingt die Überlegung zur höchsten Aufgabe der Kunst so, als kommentiere der Erzähler des Protagonisten "falsches Bestreben", den Schein verwirklichen zu wollen. 80 Dieses Bestreben erlebt der Protagonist später auch bei seinem Publikum.

7. Wider die Freude am Faktischen: Werther Hat Goethe die Erlebnisse in Sesenheim poetisiert, bemüht er sich im zwölften und dreizehnten Buch, den Werther zu entpoetisieren. Der Roman wird gewissermaßen ins Autobiographische rückübersetzt, allerdings nicht so, daß das in die Dichtung eingegangene Leben wieder heraus präpariert würde. Einen direkten Vergleich von Roman und Erlebnis erschwert Goethe nachdrücklich, beispielsweise dadurch, daß er die Freundschaft mit Lotte und die Niederschrift des Textes getrennt voneinander darstellt, sie sogar auf zwei Bücher verteilt. Die einzelnen Elemente, die zum Werther geführt haben, - die Erlebnisse in Wetzlar, die Begegnung mit Frau von La Roches Tochter, Jerusalems Selbstmord - kennt der Leser möglicherweise, er weiß vielleicht, daß sie im Roman zu einem Zusammenhang verdichtet sind. In Dichtung und Wahrheit werden sie auffällig zusammenhanglos nebeneinandergestellt.

79 Auch von Rousseaus Pygmalion sagt der Erzähler, diese "wunderliche Production" schwanke "zwischen Natur und Kunst, mit dem falschen Bestreben, diese in jene aufzulösen" (28,67). 80 Klaus-Detlef Müller schreibt, es sei diesem "Grundsatz entsprechend [... ] die Sesen heim-Geschichte zwischen Roman und Wirklichkeit in der Schwebe gehalten, was zugleich motiviert und reflektiert wird"; Müller: Autobiographie und Roman, S. 310.

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11. Leben und Dichtung und Leben

Die alltägliche Langeweile am Wetzlarer Reichskammergericht, das als unecht geschildert wird, setzt dem Protagonisten zu. SI Sein Dichten kommt ins Stocken, er verliert sich in "ästhetische Speculationen" (28,147). An diesen läßt der Erzähler, zur Vorbereitung der Werther-Passagen, auch den Leser teilhaben. Goethe erwähnt seinen damaligen Vorsatz, "meine innere Natur nach ihren Eigenheiten gewähren, und die äußere nach ihren Eigenschaften auf mich einfließen zu lassen". Dies trieb ihn "an das wunderliche Element, in welchem der Werther ersonnen und geschrieben ist" (28,149). Daß der Dichter getrieben wurde und zudem an ein wunderliches Element, verleiht der Entstehung des Romans etwas Geheimnisvolles. Der Protagonist der Autobiographie ist wertherähnlich dargestellt: hochsensibel, dichtend und malend, zur Einsamkeit neigend. So ist eine Parallele zum Roman nahegelegt, die diese Passagen gleichzeitig aufzulösen bestrebt sind. In einem kurzen Absatz weist der Erzähler auf die "Leere im Busen" hin, die der Abschied von den Freunden in Sesenheim, Frankfurt und Darmstadt beim Protagonisten hinterlassen hatte, dann folgt eine grundsätzliche Aussage zur Autobiographie. Goethe spricht von sich als vom "Verfasser", denn nur der ist in diesen Angelegenheiten kompetent. Und indem nun der Verfasser zu dieser Stufe seines Unternehmens gelangt, fühlt er sich zum ersten Mal bei der Arbeit leicht um's Herz: denn von nun an wird dieses Buch erst was es eigentlich sein soll. Es hat sich nicht als selbstständig angekündigt; es ist vielmehr bestimmt die Lücken eines Autorlebens auszufüllen, manches Bruchstück zu ergänzen und das Andenken verlorner und verschollener Wagnisse zu erhalten. Was aber schon gethan ist, soll und kann nicht wiederholt werden (28,150).

Mit dem letzten Satz wird deutlich, daß Goethe nicht noch einmal seine Erlebnisse zur Erläuterung des Romans ausbreiten will. Daß dieses Buch sich nicht "als selbstständig angekündigt" hat, ist dem Vorwort aus dem ersten Teil zu entnehmen. Die "Lücken eines Autorlebens" füllt Dichtung und Wahrheit nicht so aus, wie das diese Stelle aus dem zwölften Buch nahelegen könnte. Wenn das Buch von nun an erst wird, "was es eigentlich sein soll", und dann in der Folge eben nicht die "Lücken des Autorlebens" mit privaten Erlebnissen ergänzt, ist dieser allgemeine Hinweis des Verfassers auch Ausdruck seines Ver81 Zu den Sonderbarkeiten des Reichskammergerichts paßt auch eine eigenartige Vergnügung der Gesandtschaftsuntergeordneten: sie hatten ihren Mittagstisch "durch eine romantische Fiction erheitert" und zur Rittertafel gemacht (28,135). In dieser Runde trug jeder einen Ritternamen, der Protagonist hieß Götz von Berlichingen. Der Erzähler schildert das "fabelhafte FratzenspieI" (28,137) wohlwollend, fügt aber hinzu, daß es für ihn ein zweckloser Zeitvertreib war, heiter zwar, aber nicht erfülIend. In der Autobiographie verschränken sich gespielte Wirklichkeit und gedichtete Geschichte, da der Protagonist als Dichter des Göfz bekannt ist und an der Rittertafel den Götz gibt. Daß ihm die Institution des Reichskammergerichts so gespenstisch vorkam wie einst die Wahl- und Krönungsfeiern, zeigt Goethe, indem er erwähnt, daß ihm ,jener halbleere Speisesaal am Krönungstage" in den Sinn kam (28,146).

7. Wider die Freude am Faktischen: Werther

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ständnisses von der Autobiographie. Es geht ihm nicht darum, die Dichtungen mit Fakten aus seinem Leben verständlich zu machen; er zeigt, daß das Verhältnis vielschichtiger ist, als die neugierigen Werther-Leser sich vorstellen konnten. Der vorangehende Absatz über die "Leere im Busen" und die folgende grundsätzliche Äußerung zur Autobiographie stehen auf den ersten Blick unvermittelt nebeneinander, auf den zweiten ist es eine Verbindung von damaligem Empfinden und aktueller Schreib-Situation des Autobiographen. Die Erleichterung ist eine doppelte: einmal auf der Erlebnisebene durch den Werther, zudem auf der Darstellungsebene durch die autobiographischen Erzählungen von ebendiesem Roman. Benedikt Jeßing merkt zutreffend an, die Stelle müsse "als ironische Selbstreflexion der Gattung interpretiert werden,,82. Der Erzähler nimmt hier die Erwartungen der Leser auf, um sie in der Folge nicht nur nicht zu erfUllen, sondern bewußt in Frage zu stellen. Das zeigt sich auch in der zurückhaltenden Schilderung der Wetzlarer Wirren. Wohlwollend stellt der Erzähler das Brautpaar vor. Da ist einer, "den wir kurz und gut den Bräutigam zu nennen pflegten" (28,151), und von seiner Verlobten heißt es: "Solche Personen [... ] werden klug und verständig ohne Anstrengung, und bedürfen zu ihrer Bildung wenig Bücher. So war die Braut." (28,153) Einige Zeilen weiter nennt der Erzähler sie beim Namen: "Lotte denn so wird sie denn doch wohl heißen" (28,153). Das weiß der Roman-Leser längst. Mit dieser lakonischen Bemerkung gibt der Erzähler zu verstehen, daß er davon ausgeht, daß auch der Autobiographie-Leser das weiß. Goethe schildert die Freundschaft äußerst sachlich. Vom Protagonisten spricht er nur in der dritten Person, da zeigt sich das Bemühen um Distanz und darum, voreilige Schlüsse neugieriger Leser zu vermeiden. Der Erzähler will also einen großen Unterschied zwischen erlebter Wirklichkeit und romanhafter Verdichtung suggerieren. 83 Von den drei Freunden wird nur gesagt, sie lebten "eine echt deutsche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Prosa, und eine reine Neigung die Poesie hergab" (28,154). Die Natur war erquickend und ergötzlich, alle Tage erschienen als Festtage, und diesen Zustand erläutert der Erzähler mit einem Hinweis auf Rousseau. 84 So bringt er wieder ein durch Leseerfahrung gewonne82 Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 306. 83 Vgl. auch die Selbstbezeichnungen in der dritten Person an folgenden Stellen des

dritten Teils: 150, 155, 158,206,233,235 oder 237. 84 "Verstehen wird mich, wer sich erinnert, was von dem glücklich unglücklichen Freunde der neuen Heloise geweissagt worden: Und zu den Füßen seiner Geliebten sitzend, wird er Hanf brechen, und er wird wünschen Hanf zu brechen, heute, morgen und übermorgen, ja sein ganzes Leben." (28,155) Es ist ein doppelter Bezug zu Rousseau: Kar! Maurer sieht Parallelen zum "hochpoetischen Bericht über die Entstehung der ,Neuen Helolse' im neunten Buch der Rousseauschen ,Confessions''', diesem Bericht sei die Stelle bei Goethe "in augenfälliger Weise nachgebaut."; Kar! Maurer: Die verschleierten Konfessionen. Zur Entstehungsgeschichte von Goethes Werther (Dichtung und Wahrheit, 12. und 13. Buch). In: Siegfried Gutenbrunner u.a. (Hrsg.): Die Wissen-

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11. Leben und Dichtung und Leben

nes GefUhlsmuster bei. Und jegliche Andeutung auf eine tragische Entwicklung ist vermieden. 85 Dann wird Jerusalem eingefUhrt, so gekleidet, wie Werther im Roman (vgl. 28,155). Er zeichnet und beschäftigt sich mit englischer Literatur, ist also dem Protagonisten der Autobiographie nicht unähnlich. Mit den Erzählungen von der Götz-Rezeption weist Goethe auf die WertherMißverständnisse voraus. Die Teilnahme junger Männer an seinen Stücken sei "meistens stoffartig" gewesen (28,204); da fUhlte sich der Dichter verkannt. Der Erzähler erwähnt die Kritik eines Lesers, der moniert hatte, Götz von Berlichingen sei nicht der Schwager des Franz von Sickingen, der Verfasser habe "durch dieses poetische Ehebündnis gar sehr gegen die Geschichte verstoßen" (28,205). Diese Beispiele ignoranter Leser, die den Kunstcharakter der Dichtungen nicht zu erkennen vermögen, bereiten vor auf das Buch, das im Gegensatz zum Götz nicht zu Vergleichen mit geschichtlichen Details verfUhrt, sondern zu Spekulationen, welche Erlebnisse des Dichters in die Geschichte von Werther eingegangen sein könnten. Der Roman besteht aus einem Geflecht von Erfahrungen und GefUhlslagen. Der "Ekel vor dem Leben" (28,209), die "Wiederkehr der Liebe" (28,210), die "unaufhaltsame Wiederkehr unserer Fehler" (28,211), höchst sensible deutsche Jünglinge und die englische Poesie - all das verstörte und beschäftigte sowohl Werther als auch den jungen Dichter. Der Erzähler schiebt eine allgemeine Aussage über die "wahre Poesie" ein, noch bevor er von der Niederschrift des Romans berichtet: Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspective vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen (28,213f.).

Diese Bemerkung hängt mit der Kritik am didaktischen Charakter der einflußreichen englischen Poesie zusammen und geht der Abwehr eines didaktischen Werther-Mißverständnisses voraus. 86 Durch den Vergleich mit dem weltlichen schaft von deutscher Sprache und Dichtung. Methoden, Probleme, Aufgaben. Festschrift für Friedrich Maurer. Stuttgart 1963, S. 424-437, hier S. 428 . Maurer will Dichtung und Wahrheit offenbar als Tatsachenbericht retten, wenn er darauf hinweist, daß Rousseaus Enthüllungen über die Neue Heloise 1772 und 1774 noch unveröffentlicht waren, doch schließe das nicht aus, "daß Goethe sie wenigstens zum Teil schon damals vorausgeahnt hat" (ebd. S. 431). 85 Dazu paßt auch, daß Merck von Lotte keineswegs beeindruckt ist (vgl. 28,171). Klaus-Detlef Müller stellt fest, daß diese Gleichgültigkeit zur "Entzauberung Lottes" beiträgt. Das Urteil Mercks sei zwar kein objektives, gehöre "aber doch zur ernüchternden Objektivierung"; Müller: Autobiographie und Roman, S. 313, Anm. 86 Zu den didaktischen Forderungen vgl. 28,228 sowie den Fortgang dieses Kapitels.

7. Wider die Freude am Faktischen: Werther

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Evangelium ist die Poesie einerseits als etwas Irdisches charakterisiert, andererseits auch sakralisiert. Sie schafft Erleichterung und mit dem Wechsel der Perspektive einen Überblick. Sollte der Leser diesen Maßstab der wahren Poesie an den Werther anlegen, kommt er nicht umhin, dem Roman - aus der Sicht seines Verfassers - die Kriterien der wahren Poesie zuzusprechen. Für die meisten Werther-Leser allerdings erweist sich der Roman keineswegs als Exempel der in diesem Sinne wahren Poesie, er mäßigt nicht Lust und Schmerz, im Gegenteil, er verursacht sie. Die immense Wirkung des Werther erklärt der Erzähler mit der damaligen allgemeinen Gesinnung. Das Buch habe "das Innere eines kranken jugendlichen Wahns öffentlich und faßlich" dargestellt (28,217). Der Erzähler äußert sich über den Selbstmord im Allgemeinen. Häufig seien es "übertriebene Forderungen an sich selbst" (28,218), die das Leben verleiden. Er wechselt wieder zur Ich-Perspektive und schildert eigene Erfahrungen, auch die Erwägungen unterschiedlicher Todesarten. Kaiser Otho imitierend wollte er sich erdolchen, doch der Versuch scheiterte; "so lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf alle hypochondrischen Fratzen hinweg, und beschloß zu leben" (28,220).87 Und er wußte auch wie: "Um dieß aber mit Heiterkeit tun zu können, mußte ich eine dichterische Aufgabe zur Ausführung bringen, wo alles was ich über diesen wichtigen Punct empfunden, gedacht und gewähnt, zur Sprache kommen sollte" (28,220). Allein es fehlte ihm "eine Begebenheit, eine Fabel" (28,221). Bis er die Nachricht von Jerusalems Tod erhält: "in diesem Augenblick war der Plan zu Werthern gefunden; das Ganze schoß von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im Gefaß, das eben auf dem Puncte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung sogleich in festes Eis verwandelt wird" (28,221).88 Plötzlich gewinnt das Gestaltlose Gestalt. 89 Die Kombination von der Begegnung mit Lotte, Jerusalems Tod und dem Anblick der Ehe der ältesten La Roche-Tochter versetzt den Protagonisten in einen unerträglichen Zustand. Leidenschaftlich bewegt von diesen Erlebnissen schreibt 87 Ähnlich äußert sich der Erzähler, als er den Gram des Protagonisten über Friederikes Leiden schildert: "Aber der Mensch will leben" (28,118). Auch in dieser Situation suchte er "Hülfe bei der Dichtkunst" (28,120). 88 Ilse Graham hat die Wassersymbolik in den Werther-Erzählungen in Dichtung und Wahrheit eingehend untersucht und weist darauf hin, daß die Form, die Goethe schuf, "keineswegs eine äußere Form war, die er über den Fluß der Vorstellungen und Gefiihle gestülpt hätte - etwa wie man eine Gebäckform über den Teig stülpt -, sondern das Produkt einer spontanen Anlage auf seiten des Elementaren, Struktur anzunehmen, ohne in irgendeiner Weise die Grundsubstanz zu verändern"; Ilse Graham: Goethes eigener Werther. Eines Künstlers Wahrheit über seine Dichtung. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S. 268-303, hier S. 286. 89 Ganz so plötzlich war das im Leben des Verfassers nicht: zwischen der Nachricht von Jerusalems Tod und dem Beginn der Niederschrift liegt mehr als ein Jahr. Ernst Beutler moniert: "Besonders irrefiihrend sind Goethes Angaben über den , Werther' ." Beutler: Einfiihrung in GA 936.

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II. Leben und Dichtung und Leben

er den Werther. So kam es, daß er ,,jener Production [... ] alle die Gluth einhauchte, welche keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Wirklichen zuläßt" (28,224). Demnach ist es das Werk des Schriftstellers, die Unterscheidung zwischen Dichterischem und Wirklichem unmöglich zu machen; verursacht wird dies durch die seelische Verfassung während des Schreibens. Es ist eine mehrfache Verwicklung: die Erlebnisse wirken auf den Dichter, der sich daraus rettet, indem er eine Dichtung schafft, in der Wirkliches und Dichterisches nicht zu unterscheiden sind. Diese Ununterscheidbarkeit ist in der Autobiographie nicht nur thematisiert, der Leser erlebt selbst, daß er sich zu unterscheiden bemüht und der Dichter dem entgegenwirkt. In den Erzählungen von der Niederschrift des Romans mystifiziert Goethe sein Dichten. Von der Welt zurückgezogen habe er den Werther "ziemlich unbewußt, einem Nachtwandler ähnlich, geschrieben" (28,224). Die heilende Wirkung blieb nicht aus: "ich hatte mich durch diese Composition mehr, als durch jede andere, aus einem stürmischen Elemente gerettet" (28,225). Erneut therapiert er sich selbst mit Hilfe der eigenen Dichtung, die den oben genannten Anforderungen an eine "wahre Poesie" entspricht. Wieder greift er zu einem religiösen Vergleich, er habe sich wie nach einer Generalbeichte gefühlt: "wieder froh und frei, und zu einem neuen Leben berechtigt". Ihm sei das "alte Hausmittel [ ... ] vortrefflich zu statten gekommen" (28,225). Doch so hilfreich und erlösend eine poetische Beichte auch sein mag, die Freude darüber kann von den Lesern getrübt werden. "Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen" (28,225).90 Das ist die Wirkung jener "Gluth [... ], welche keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Wirklichen zuläßt" (28,224). Und so war "dieses Büchlein, was mir so viel genützt hatte, [... ] als höchst schädlich verrufen" (28,225). Der Protagonist hat mit dem alten Vorurteil zu kämpfen, das "aus der Würde des gedruckten Buchs" entspringt: "daß es nämlich einen didaktischen Zweck haben müsse. Die wahre Darstellung aber hat keinen. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge und dadurch erleuchtet und belehrt sie" (28,228). Wie der Erzähler zuvor die "wahre Poesie" und ihre Vorzüge beschrieben hat, wehrt er nun falsche Forderungen an die "wahre Darstellung" ab. Diese Äußerung läßt sich auf Dichtung und Wahrheit beziehen. Damit wäre wieder 90 Dies ist eine vorweggenommene Illustration von Mercks Urteil über den Protagonisten: "Dein Bestreben, sagte er, deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andem suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative, zu verwirklichen und das giebt nichts wie dummes Zeug" (AA 1,600).

7. Wider die Freude am Faktischen: Werther

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eine mögliche Lesererwartung aufgegriffen und abgewehrt. 9 I Die begeisterten Leser des Romans, "theilnehmende wohlwollende Seelen", wollten "sämmtlich ein- für allemal wissen, was denn eigentlich an der Sache wahr sei" (28,231). Das verärgerte den Dichter. Denn diese Frage zu beantworten, hätte ich mein Werkchen, an dem ich so lange gesonnen, um so manchen Elementen eine poetische Einheit zu geben, wieder zerrupfen und die Form zerstören müssen, wodurch ja die wahrhaften Bestandtheile selbst wo nicht vernichtet, wenigstens zerstreut und verzettelt worden wären (28,231).

Zum einen weist der Erzähler die Frage, was denn am Werther wahr sei, als unangemessen zurück, zum anderen zerstört er in der Autobiographie willentlich die Form des Romans, womit er die "wahrhaften Bestandtheile" zumindest ein bißchen "zerstreut und verzettelt". Was der Leser hier erfahrt, sind nicht lebensgeschichtliche Bruchstücke, vielmehr wird er vertraut gemacht mit der Eigenart der Dichtung, daß sie nicht aus Einzelteilen zusammengefügt ist, die unmittelbar auf Erlebnisse des Dichters zurückzuführen sind. So bringt der Autobiograph den Leser dazu, seine eigenen Erwartungen als vermessen zu erkennen, und vielleicht ist das auch ein Hinweis an den gedichteten Briefschreiber aus dem Vorwort zum ersten Teil. Das Publikum ist an der sogenannten Wahrheit der Dichtung interessiert, es will vom Fiktiven aufs Faktische schließen und zeigt damit, daß ihm der Sinn für die "poetische Einheit" fehlt. Daß sich Leben und Dichtung trennen lassen, ist für den Erzähler undenkbar, nicht einmal dem Dichter selbst ist es möglich, eindeutig zu unterscheiden, was denn nun der Wirklichkeit entnommen ist. "Auf den Grund der Sache war aber gar nicht zu kommen: denn was ich von meinem Leben und Leiden der Composition zugewendet hatte, ließ sich nicht entziffern" (28,232). Darum sind die Fragen nach den außerliterarischen Tatsachen müßig. Dem Protagonisten war es zuwider, daß er immer wieder aufgefordert wurde, Einzelheiten aus dem Werther zu bezeugen. Er bevorzugte andere Rezipienten. Wenn er Kindern Märchen erzählte, "welche aus lauter bekannten Gegenständen zusammengesonnen waren", belästigte ihn keiner der erfrischend unbefangenen Zuhörer mit zudringlichen Fragen, "was denn wohl daran für Wahrheit oder Dichtung zu halten sein möchte" (28,278). Indem der Erzähler hier auf den Titel anspielt, gibt er zu verstehen, daß es um das Verhältnis von Wahrheit und Dichtung eben nicht geht, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß Wahres aus dem Leben des Verfassers in die Dichtung eingegangen ist und nachträglich wieder herausgelöst werden kann. Das "forschende Publicum" wollte herausfinden, wem die Lotte nachempfunden sei, fand einzelne Züge in verschiedenen Frauen wieder und gab sich 91 Im zehnten Buch bezieht sich der Erzähler explizit auf die Autobiographie. Es gehe darin nicht um "Gesinnungen und Handlungen, in wiefern sie lobens- oder tadelnswürdig, sondern wiefern sie sich offenbaren und ereignen können" (27,348).

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II. Leben und Dichtung und Leben

damit nicht zufrieden: "Diese mehreren Lotten aber brachten mir unendliche Qual, weil jedermann der mich nur ansah, entschieden zu wissen verlangte, wo denn die eigentliche wohnhaft sei" (28,233). Der Leser von Dichtung und Wahrheit spürt den Unmut und das Unverständnis gegenüber diesen Recherchen und wird erneut mit seinen Erwartungen konfrontiert. An diesem Beispiel wurde dem Verfasser des Werther - hier spricht Goethe von sich wieder in der dritten Person - die "ungeheure Kluft" zwischen Autoren und Publikum bewußt. Auch daß er von Autoren im Plural spricht, verleiht der Aussage etwas Distanzierend-Allgemeines. Von dieser Kluft haben Autoren und Publikum, "zu ihrem Glück, beiderseits keinen Begriff' (28,233). Mit dieser Aussage ist ihr Inhalt widerlegt. Denn Goethe als Autor weiß um diese Kluft Uedenfalls zur Zeit der Niederschrift von Dichtung und Wahrheit), sonst könnte er nicht darüber schreiben, und der Leser erfährt mit diesem Satz davon. Damit ist zudem gesagt, daß das Autobiographie-Publikum vom Autobiographen getrennt ist und bleibt. Auch lenkende Hinweise des Verfassers sind meist vergebens: "Ferner mag ein Autor bevorworten, so viel er will, das Publicum wird immer fortfahren, die Forderungen an ihn zu machen, die er schon abzulehnen suchte" (28,234). Die Werther-Passagen handeln stets auch von den Forderungen des Publikums an den Autor, und damit sind sie auf die Erwartungen der Autobiographie-Leser übertragbar und auf die Kluft, die sie vom Autor des Buches trennt, in dem sie gerade lesen. Dem Protagonisten gelingt es mit dem Werther erstmals, sich dichtend aus einer schwierigen Situation zu retten, indem er die Wirklichkeit zur Kunst verdichtet und objektiviert. Mit den gescheiterten Versuchen, die Literatur anderer Autoren auf das eigene Leben zu übertragen, hat diese Art der Lebensbewältigung nichts mehr gemein. Heilsam ist das Dichten hier vor allem rur den Dichter. Eine ganz andere Variante des poetischen Schaffensprozesses bringt Goethe im vierten Teil seiner Autobiographie.

8. Inszenierte Abwesenheit: Lilis Geburtstag ohne Lili Im siebzehnten Buch erzählt Goethe von Lilis siebzehntem Geburtstag. An jenem 23. Juni 1775 - das Datum ist zweimal erwähnt - war der Protagonist, will man der autobiographischen Erzählung aus dem achtzehnten Buch Glauben schenken, auf einer Reise in der Schweiz. An dieser Stelle ist das Datum vom Vortag des Geburtstags genannt. 92 Diese Abweichung ist nur die Spitze des Fiktionalitäts-Eisbergs; in der Geschichte von Lilis Geburtstag finden sich unzählige Verschränkungen von Fiktion und Wirklichkeit. 92 Daß Goethe beide Daten angibt, spricht rur eine kalkulierte Irritation des Lesers; vgl. Kapitel 14.

8. Inszenierte Abwesenheit: Lilis Geburtstag ohne Lili

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Das Inszenierte, das später beim Geburtstagsfest offensichtlich ist, läßt der Erzähler bereits zu Beginn des Buches in die Schilderung der damaligen Situation einfließen. Er berichtet von der wachsenden Zuneigung zu Lili und verschweigt nicht die "Mißtage und Stunden". Dabei macht er dem Leser die Perspektive des Erzählers deutlich, der das Geschehen präsentiert: Die Geschichte von Lustpartien die zur Unlust ausliefen; ein retardierender Bruder [... ], auch sonstiges Antreffen und Verfehlen, Ungeduld und Entbehrung, alle diese Peinen, die in irgend einem Roman, umständlicher mitgetheilt, gewiß theilnehmende Leser finden würden, muß ich hier beseitigen (AA 1,570).

Immerhin hat er "diese Peinen" kurz genannt und verallgemeinert. Die Abgrenzung vom Roman ist nur eine scheinbare, damit wird die Fiktionalität verstärkt. Daß der Bruder als "retardierender" vorkommt, weist auch darauf hin, daß das Geschehen bühnentauglich wäre. Das Wort war zwar gebräuchlich, aber der Anklang ans dramentheoretische Vokabular ist erkennbar. Goethe erzählt von Offenbach und von "Onkel Bemhard wie ich ihn gleich mit seinem Familientitel nennen will" (das spricht für eine gewisse Integration in die Familie oder soll diese hervorheben), von einem anderen Onkel Lilis, d'Orville, in dessen Haus der Geburtstag gespielt oder gefeiert werden wird, und all das vermittelt den Eindruck, als sei er zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Goethe spricht von sich in der dritten Person, das wirkt typisierend. "Der Liebende konnte für seine Gefühle keinen erwünschtem Raum finden" (AA 1,572). "Der Liebende" ist die Rolle, die der Protagonist zu spielen hat. Auch der Schauplatz des Geschehens ist so beschrieben, daß er den Anforderungen an eine Kulisse entspricht (vgl. AA 1,572). Mit der Szenerie hat der Erzähler seine Leser bekannt gemacht, es folgt die Einführung der dramatis personae, sodann ein Absatz, in dem er den Ausblick vom Haus seines Gastgebers am frühen Morgen schildert und damit dem Leser ein vollendetes Stimmungsund Bühnenbild vor Augen stellt. Auch die Natur versagt ihre Mitwirkung nicht: "Ein heiterer Himmel der schönsten Jahreszeit überwölbte das Ganze und wie angenehm mußte sich eine traute Gesellschaft, von solchen Scenen umgeben, morgendlich wiederfinden" (AA 1,574).93 Am 23. Juni 1775 wurde Lili siebzehn Jahre alt. Die Erwähnung des Datums erweckt (auch ohne den Hinweis der Kommentatoren, daß es der Wirklichkeit 93 Dieses Idyll möchte der Erzähler beim "emsten Leser", dem "eine solche Lebensweise gar zu lose zu leichtfertig erscheinen" könnte, nicht mißverstanden wissen. Er möge bedenken, "daß zwischen dasjenige was hier des Vortrages halben wie im Zusammenhange geschildert ist sich Tage und Wochen des Entbehrens andere Bestimmungen und Thätigkeiten, sogar unerträgliche Langeweile widerwärtig einstellten" (AA 1,574). Damit macht Goethe wieder auf die Differenz zwischen Erleben und Erzählen aufmerksam, und er schaltet ein Stück seines Juristenlebens ein. Zur Verzögerung der Geburtstagshandlung berichtet er von seinen Verpflichtungen und hofft, damit seine "ernsten Leser [... ] einigermaßen befriedigt zu haben" (AA 1,575).

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II. Leben und Dichtung und Leben

entspricht) den Eindruck, als handle es sich bei dieser Episode in der Autobiographie um die allenfalls leicht literarisierte Darbietung biographischen Materials. Doch die verwirrende zeitliche Unstimmigkeit, die beim Lesen der Erzählung von der Schweizer Reise auffalIt (vgl. AA 1,6l6f.), läßt ahnen, daß die "halb poetische, halb historische Behandlung" (26,8) hier besondere Wendungen nimmt. Auch der Text selbst bietet genügend Ansatzpunkte. Der Geburtstag soll nach dem WilIen der Freunde ohne jede Künstlichkeit gefeiert werden (v gl. AA 1,576). Dieses Vorhaben, den schönen Schein, das Inszenierte fernzuhaIten, nennt Goethe, um seine Inszenierung des Geburtstags einzuleiten. Am Vorabend erfahrt der Protagonist von Lilis Bruder, daß die zu Feiernde erst gegen Abend werde erscheinen können. Darum bittet sie den Freund "herzlich dringend [... ], etwas zu erfinden, wodurch das Unangenehme dieser Nachricht [.. .] gemildert ja versöhnt werde" (AA 1,576). Wie "durch himmlische Eingebung" weiß der junge Dichter sogleich, was er zu tun hat, und macht sich mit Begeisterung und ohne große Mühen an die Arbeit. Er verspreche, läßt er Lili ausrichten, "gerade dieses Unheil solIe zum Fest werden" (AA 1,576). Er schreibt ein "Gelegenheits-Gedicht" mit dem Titel Sie kommt nicht! Es handelt sich um "ein jammervolIes Familienstück welches, geklagt sey es Gott den 23 ." Juny 1775 in Offenbach am Mayn auf das allernatürlichste wird aufgeführt werden. Die Handlung dauert vom Morgen bis aufn Abend" (AA 1,577). Wieder ist das Datum genannt, zudem der tatsächlich existierende Ort. Der Erzähler erwähnt, daß er sich oft nach einem Konzept oder einer Abschrift "von diesem Scherze" erkundigt habe, alIerdings vergeblich, nun muß er das Stück für die Autobiographie "wieder aufs neue zusammendichten, welches im alIgemeinen nicht schwer falIt" (AA 1,577).94 Das neuerliche Zusammendichten ist möglicherweise ein erstmaliges, und das Bemühen des Erzählers, die Authentizität zu belegen, ist so deutlich hervorgehoben, daß der Leser geneigt ist zu glauben, der Verfasser wolIe auf das hohe Maß an Fiktion der Episode eigens hinweisen. Sollte es von diesem Stück nie ein Konzept gegeben haben, wird hier auch die Arbeit des Autobiographen fiktionalisiert. Das Stück beginnt mit den Festvorbereitungen im Hause d' Orville. Kinder, "nach dem Leben gebildet", treten auf, der tatsächliche Nachbar und Komponist, der Gärtner und schließlich der Bote, der dem Herrn des Hauses die Nachricht überbringt. Der liest die Depesche nicht vor, die Papiere falIen ihm zu Boden, und er ruft aus: ",Laßt mich zum Tisch! laßt mich zur Comode, damit ich nur streichen kann'" (AA 1,577). Im Kreise der halbfiktiven Familie und der Freunde versteht das jeder, der Leser von Dichtung und Wahrheit hingegen be-

94 Darin sieht Benedikt Jeßing einen "Freibrief tUr die autobiographische Fiktion"; Jeßing: Der Autobiograph als Zuschauer und Regisseur, S. 58.

8. Inszenierte Abwesenheit: Lilis Geburtstag ohne Lili

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darf einer Erklärung. Der Erzähler macht ihn mit einer von "Lili's anmuthigsten Eigenheiten" vertraut, dem "Streichen" (AA 1,577). Als einst ein Fremder bei Tisch "etwas Unziemliches vorbrachte", reagierte Lili auf ihre Art. Sie strich mit ihrer Hand "gar lieblich über das Tischtuch weg" und schob Besteck, Brot und Salzfaß zu Boden - eine schwer verständliche Geste. Doch "die Umsichtigen" waren erfreut, daß Lili "eine Unschicklichkeit auf eine so zierliche Weise erwiedert und ausgelöscht" hat (AA 1,578). Diese Handbewegung samt Benennung war in den Erfahrungs- und Verhaltensfundus von Lilis Familie und Freundeskreis eingegangen. Der Erklärung des "Streichens" folgt eine Überlegung des Erzählers, nun aus der Perspektive des Dramenschreibers. Er versucht dem Leser klarzumachen, was es bewirkt, wenn "der Dichter nun also dem Hausherrn diese Begierde zu streichen, eine uns zur Natur gewordene Gewohnheit als Mimik aufgiebt" (AA 1,578). Diese Geste des Unmuts und die sonderbare, in diesem Kreis bekannte Art des Umgangs mit Widrigkeiten wird bei der Festgesellschaft für Erheiterung sorgen, weil jeder darin eine Eigenheit der ausbleibenden Lili erkennt. Daß sich der Gastgeber mit einer Geste der Abwesenden eben diese Abwesenheit erträglich macht, ist eine besondere Pointe dieses Dramas, das mit dem "Streichen" insofern verwandt ist, als es Lilis Ausbleiben nicht nur thematisiert, sondern auch kompensieren will. Es ist ein Stück für Eingeweihte. Der Erzähler gibt es nicht einfach wieder, er erläutert es dem Leser von Dichtung und Wahrheit auch und zeigt so, daß er um die Wirkungen der dramatischen Mittel weiß und sie gezielt einsetzt. Er kehrt zurück zur Handlung. D'Orville wird von den Umstehenden daran gehindert, "alles von allen Flächen herunter zu streichen", schließlich läßt er sich erschöpft in den Sessel fallen, und die Festgesellschaft ist bemüht, den Inhalt der Depesche zu erfahren. Der ist dem Leser der Autobiographie längst bekannt: "Sie kommt nicht!" Jedenfalls nicht so früh wie erwartet, "Hoffnung blieb auf den Abend" (AA 1,578). Diese Nachricht bringt Unruhe unter die Gäste, schließlich bringt der "musterhaft ruhige Onkel Bernhard" das Durcheinander in eine gewisse Ordnung, und zwar bühnengemäß: "völlig wie in der Griechischen Tragödie ein Gott die Verworrenheiten der größten Helden mit wenigen Worten aufzulösen weiß" (AA 1,578). Soweit die Handlung des Stückes. Der Bote holt um Mitternacht das Schriftstück ab und soll es am Geburtstagsmorgen zustellen. Die Wirkung der Depesche ist in derselben bereits beschrieben; diese mehrfache Verschränkung von Fiktion und Wirklichkeit ist schwer zu entwirren. In der nicht fiktionsfreien Autobiographie dichtet der Protagonist eine wirklichkeitsnahe Familienszene mit bekanntem Personal. Die Freunde lesen in der Nachricht, wie sie reagieren, wenn sie die Nachricht erhalten. Daß Lili nicht kommt, erfahren sie erst im Stück, so ist diese unerfreuliche Mitteilung in das mehr heitere als jammervolle dramatische Geschehen eingebettet. Wie das kleine Drama ankommt, erfahrt der Leser von Dichtung und Wahrheit nicht unmittelbar, da der dichtende Held erst gegen Mittag in Offenbach eintrifft. Dort wird er empfangen "mit dem wunderlichsten chari vari von

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H. Leben und Dichtung und Leben

Entgegnungen; das gestörte Fest verlautete kaum" (AA 1,578). Die Dichtung hat ihren Zweck erfUllt, sollte dadurch doch nach Lilis Wunsch "das Unangenehme dieser Nachricht [00'] gemildert ja versöhnt" werden (AA 1,576). Der Dichter lobt sich und sein Stück: die Freunde "schalten und schimpften, daß ich sie so gut getroffen hätte" (AA 1,578f.). Als Lili eintrifft, findet sie eine fröhliche Festgesellschaft vor und ist "beynah betroffen, daß ihr Außenbleiben so viel Heiterkeit erlaube" (AA 1,579). Innerhalb der Autobiographie ist das ,jammervolle[ ... ] Familienstück" der Wirklichkeit nachempfunden, es antizipiert die verzögerte Geburtstagsfeier und mildert damit die Verzögerung. Und was ist das eigentlich Fiktive an diesem Stück? Personal und Schauplatz sind bekannt, und die Handlung ist lediglich vorweggenommen. Es ist mehr das Gemisch von gedichteter und tatsächlicher Reaktion, das den Reiz des Dramas ausmacht. Sowenig dieses Stück bei d'Orville und seinen Gästen als unrealistisch erscheint, sosehr wirkt die ganze Episode in der Autobiographie literarisiert. Mit einem an die Wirklichkeit angenäherten Drama verschiebt Goethe die Lili-Handlung ins Theatralische. Dazu paßt auch, daß die Delph meint, "dieser kleine Roman [müsse] fördersamst abgeschlossen werden" (AA 1,581). Sie arrangiert die Verlobung, was allerdings keinen romanhaften Fortgang der Beziehung mit sich bringt. Die Trennung von Lili ist aus dieser Geburtstags-Geschichte nicht herauszulesen. Doch daß der Familien- und Freundeskreis gar zu vorhersehbar reagiert und die Figuren, die im Stück wie im Leben vorkommen, typisiert erscheinen, wirkt bedenklich. Üblicherweise inszeniert der Verfasser einer Autobiographie einzelne Abschnitte seines Lebens, hier tut das zudem der Held der Geschichte. Das ist insofern nicht verwunderlich, als er Dichter ist, aber auch bemerkenswert, da die offensichtliche Inszenierung aus der Sicht des Protagonisten auf solche Tätigkeiten des Verfassers der Autobiographie hinweisen könnte. Im Vergleich zu den im fUnften Buch geschilderten Feierlichkeiten ist der Protagonist hier nicht mehr nur Zuschauer, er fUhrt auch Regie. 95 Ohne größere Anstrengung gelingt es ihm, mit dem Stück die Wirklichkeit vorwegzunehmen; das Geschehen an Lilis Geburtstag ohne Lili könnte die dramatische Vorlage erfUllt haben. Es ist nicht mehr Versuch des Protagonisten, nach literarischen Mustern zu leben, sondern aktives, produktives Eingreifen in die Wirklichkeit mit Hilfe der Dichtung. Nicht nur, daß Lilis Geburtstag zunächst ohne Lili stattfindet, er wird auch ohne den Verfasser der Autobiographie gefeiert, aber mit dem später eintreffenden Protagonisten. Hier zeigt sich, wie bedenklich die Unterscheidung von Verfasser und Protagonist bisweilen sein kann - so mag hier denn vom jungen

95 Das hebt auch Benedikt Jeßing in seiner Interpretation der Geburtstags-Episode hervor; vgl. Jeßing: Der Autobiograph als Zuschauer und Regisseur, S. 55-60.

9. Dichtung verwirklichen, Wirklichkeit verdichten

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Goethe die Rede sein, der, so die Darstellung in Dichtung und Wahrheit, erst später zum Geburtstag seiner Freundin erscheint. Am Ende des folgenden und zu Beginn des übernächsten Buches ist allerdings zu lesen, er stehe an jenem Juni-Tag am "Scheidepunct" auf dem Gotthard und blicke nach Italien, entscheide sich schließlich für die Rückkehr (vgl. AA 1,616f). Da ist das ,Jammervolle[] Familienstück" (AA 1,577) das am wenigsten fiktive Ingrediens dieser eigentümlichen Mischung aus Wirklichkeit und Dichtung. Es ist ein Spiel um die Abwesenheit Lilis: im Stück ist sie nicht da, in Offenbach zunächst auch nicht, und erst recht nicht auf dem Gotthard. Der Protagonist ist dargestellt als begabter Gelegenheits-Dichter. Souverän nimmt er in Offenbach die Wirklichkeit in der Fiktion vorweg, erheitert die Freunde, die sich als Figuren im Stück wiederfinden, und er sieht das Dramentaugliche in der Wirklichkeit. Die Angabe der Daten verleitet dazu, es den poesiefeindlichen Werther-Lesern gleichzutun und nach dem wahren Aufenthaltsort des Protagonisten oder gar des Verfassers zu forschen. Von Dichtung und Wahrheit aus gesehen ist nicht zu beurteilen, ob sich die beiden Liebenden an diesem 23 . Juni begegnet sind, aber der Protagonist war Lili an beiden Schauplätzen nahe: Die Gelegenheits-Dichtung in Offenbach ist ein Zeichen des Liebesdienstes und die Umkehr am Gotthard ein Zeugnis der Sehnsucht nach Lili.

9. Dichtung verwirklichen, Wirklichkeit verdichten In den Textbeispielen - ebenso wie an den zahlreichen Stellen zu den Themen Lesen und Schreiben - macht Goethe aufmerksam auf die Übergänge und Verschachtelungen von Dichtung und Wirklichkeit und stellt seine Entwicklung als Dichter dar. Schon als Kind ist er ein begeisterter Leser und beginnt, selbst zu dichten. Die Geschichte vom Neuen Paris ist kunstvoll in die Lebensgeschichte eingebettet; die Grenzen zwischen Märchen und Autobiographie sind nicht ganz eindeutig, letztlich aber wirkt die Dichtung nicht in den Alltag hinein. Die bewußte Inszenierung der Doppelgeschichte von der ersten Liebe und von den offiziellen Zeremonien hebt das Schauspielhafte der Feierlichkeiten hervor und das Unechte der Beziehung zu Gretchen. Die Liebes- und Krönungsgeschichte ist ein Spiel von Täuschung und Enttäuschung und endet traurig. Zauberhaft und weltenthoben beginnt die Geschichte von Friederike. Die Poetisierung von Sesenheim ist offensichtlich und durch die zahlreichen intertextuellen Bezüge verstärkt. Die Dichtung liefert Erlebnismuster, und der leidenschaftlich lesende Protagonist ist hierfür besonders empfänglich (oder, da die Integration von Leben und Literatur sich oft nicht einfach gestaltet: anfällig). Verkleidung und Verwünschung kehren immer wieder, und die Dichtung wird als identitäts fördernd und -erweiternd verteidigt. Die Werther-Passagen widersprechen der Lesererwartung: der Erzähler bringt nicht Erlebnisse zum besseren Verständnis der Dichtung - und damit vermittelt er seine Auffassung von der Autobiographie. In diesen Erzählungen stellt Goethe dar, wie das Ver-

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II. Leben und Dichtung und Leben

hältnis von Erlebnis und Dichtung nicht aussieht. Und es gelingt dem Protagonisten erstmals, sich durch das Dichten aus Widrigkeiten zu befreien.

In der ersten Hälfte der Autobiographie überwiegen die Rezeption literarischer Werke und die Versuche, sie ins Leben zu übertragen. In der zweiten Hälfte erscheint die Produktion literarischer Texte zunehmend als Mittel zum besseren Verständnis und zur Bewältigung des Lebens. Nach der Auffassung Bernd Wittes verhält sich der Protagonist in den ersten zehn Büchern "dichterisch zum Leben. Die Wirklichkeit kommt dabei nicht zu ihrem Recht, wird mit Märchen und Verkleidungen überspielt,,96. So extrem ist das nicht. Die Wirklichkeit wird nicht nur überspielt, sie erscheint von Anfang an als kompatibel mit der Dichtung; allerdings gelingt es dem Knaben nicht, die Dichtung überzeugend und langfristig in sein Leben zu integrieren. Die Erfahrung des jungen Dichters, mit der Niederschrift des Werther "die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben", steht der irrigen Annahme der Freunde gegenüber, die "glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln" (28,225). Das erinnert an die Haltung des Protagonisten in Se senheim, der dort die Goldsmith-Poesie in Wirklichkeit verwandelt sehen wollte. Wenn von den Werther-Erzählungen an das Buch erst wird, "was es eigentlich sein soll" (28,150), könnte das so zu verstehen sein, daß hier eine Stufe des Umgangs mit Literatur und Leben erreicht ist, die dem Verfasser wichtig ist. Der Vergleich von nachweisbaren Lebenstatsachen und literarischem Text könnte Spekulationen über Fiktionalisierungs- und Symbolisierungsstrategien des Verfassers ermöglichen. Doch so weit reicht die begrenzte Untersuchung der innerautobiographischen Dialektik von Dichtung und Wirklichkeit nicht. Sie kann lediglich ein zirkuläres Verhältnis von Dichtung und Leben und Dichtung konstatieren: Die Dichtung wirkt auf das Leben (das zeigen die ausflihrlichen und farbigen Schilderungen der Leseerlebnisse) und regt dazu an, wie im Roman zu leben oder wie im Gedicht zu empfinden. Das ermöglicht dem Protagonisten intensive Geflihle und Erfahrungen, auch wenn das Leben nach der Literatur nicht immer und erst recht nicht vollständig gelingt. Und das - auch durchs Lesen gesteigerte - Leben wirkt auf die Dichtung. Wie diese Wirkung nicht aussieht, zeigt der unangemessene Umkehrschluß der Werther-Leser vom Roman auf Goethes Leben. Die Dichtung ist dargestellt als ein Mittel, mit dem der Dichter sich und die Welt besser versteht und mit dem er Widrigkeiten erträglich machen kann. Es ist eine schlichte Einsicht, daß in Dichtung und Wahrheit das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit eine Rolle spielt. Und zwar nicht aus der Sicht der Interpreten, die versuchen, die Dichtung mit den Fakten zu vergleichen, sondern aus der Perspektive des Protagonisten. Der ist in ein buntes Wechselspiel

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Witte, S. 396.

9. Dichtung verwirklichen, Wirklichkeit verdichten

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von Dichtung und Wirklichkeit verwickelt, in dem er anfangs bemüht ist, nach den geliebten Büchern zu leben, und sich später zunehmend mit Hilfe der eigenen Dichtung aus unerfreulichen Lebenslagen zu retten weiß. Heinz-Dieter Weber vergleicht diese Wechselwirkungen von Literatur und Leben mit jenen, von denen Rousseau in seinen Confessions erzählt. Weber ist überzeugt, Goethe fUhre einen "anthropologischen Diskurs [ ... ], der ein von Rousseau offengelassenes Problem zu beheben bestimmt ist"; im Mittelpunkt dieses Diskurses stehe die "Frage nach Wesen und Funktion des Fiktiven fUr die Konstitution eigener Identität".97 Vom Text selbst ausgehend, kann man diese Frage nur auf der Ebene des Protagonisten zu beantworten versuchen, und da ist offensichtlich, daß die Literatur einen entscheidenden Beitrag zum Selbstverständnis und zum Selbstbild leistet. Erst in einem zweiten Schritt kann man - sofern Verfasser und Protagonist identisch sind - fragen, was Goethe mit der Dichtung seiner Lebensgeschichte beabsichtigt haben könnte und ob das mit der "Konstitution eigener Identität" zu tun hat. Diese Autobiographie hat auch stets sich selbst zum Gegenstand. Indem Goethe immer wieder die Perspektive des Erlebenden von der des Erzählenden unterscheidet, sensibilisiert er fUr die Eigenheiten der Gattung. Er macht es dem Leser schwer, die Erzählung als unmittelbare Erlebniswiedergabe zu verstehen, und ermöglicht es ihm, sie als literarisches Kunstwerk zu sehen. Auf der Ebene des Protagonisten wird das Verhältnis von Wirklichkeit und Dichtung häufig thematisiert; der Effekt besteht in einer anregenden Verunsicherung. Der Leser ahnt, daß es sich nicht um ein eindeutiges Referenz-Verhältnis handelt, in dem die Dichtung auf etwas feststellbar Wirkliches bezogen ist, und er erkennt, daß die Frage nach der unmittelbaren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit diesem Buch nicht angemessen ist. Fiktives und Wirkliches stehen sich nicht einander ausschließend gegenüber. Klaus-Detlef Müller ordnet diese Eigenart des Textes gattungsgeschichtlich ein. Er weist darauf hin, daß sich im 18. Jahrhundert der Typus der abenteuerlichen Lebensgeschichte der romanhaften Darstellung angeglichen hatte; zudem habe der modeme Roman die Erzählgrundsätze der "wahren Geschichte" und der pragmatischen Geschichtsschreibung übernommen. Auf diese Entwicklung gehe Goethe "programmatisch ein, indem er wichtige Passagen von Dichtung und Wahrheit in einer Spiegelung durch die Romanliteratur erzählt. ,.98 Der häufige Verweis auf literarische Texte ist mehr als nur ein Kunstgriff des Verfassers, der die eigenen Erlebnisse ins Allgemeine erhöhen will. Damit beWeber, S. 27. Müller: Kommentar in FA 1049. Als Beispiele fuhrt Müller die Sesenheim-Geschichte an, den Plan zum Manon Lescaut-Abschnitt und "die Verwendung des Tagebuchs der Schweizer Reise [... ]: der Reisebericht war ja ein gängiger Formtypus fUr die abenteuerliche Lebensgeschichte" (ebd.). 97

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IOD

11. Leben und Dichtung und Leben

tont er das Literarische des autobiographischen Textes und verhindert den direkten Vergleich mit den biographischen Fakten. Um eine besonders undurchdringliche Intertextualität handelt es sich bei der Erzählung des Märchens von der Neuen Melusine: es ist ein selbstgewebter Bezugstext, der sich wiederum auf eine alte Vorlage bezieht, und der Bezug wird dadurch erschwert, daß der Text nur genannt, nicht wiedergegeben ist. Bemhard Greiner ist der Ansicht, in der Schreib- und Lesegegenwart werde die Friederiken-Episode "als Effekt von Textverwebungen konstituiert".99 Ob die Geschichte ausschließlich ein Effekt von Textverwebungen ist, kann und will die Betrachtung des autobiographischen Textes nicht erweisen. Wenn der Erzähler bekannte, gedruckte Werke des Verfassers erwähnt oder darauf anspielt, ist damit eine Verbindung zum Verfasser außerhalb der Autobiographie gegeben. loo Diese mehrschichtige Intertextualität in der Autobiographie betrifft Texte, die der Protagonist liest und nach denen er bisweilen zu leben sich bemüht, die er schreibt und die der Leser in vielen Fällen kennen kann, und auch der Erzähler bedient sich eigener wie fremder literarischer Vorlagen, um Stimmungen und GefUhle darzustellen. Darin kann man einen Kunstgriff des Dichters sehen, den Blick mehr auf andere Texte und damit weniger auf die textexterne Wirklichkeit zu lenken. lol Zudem wird so deutlich, daß Text-WeIt und Lebens-Welt zusammenhängen. Goethes Romanfiguren als Lesende oder Theaterliebende wurden vielfach untersucht, ebenso Goethe selbst als Leser. Der Autobiographie-Protagonist als Leser kommt in solchen Studien zu kurz,102 vielleicht, weil es allzu selbstverständlich ist, daß ein Dichter von seinen Lektüreerfahrungen erzählt, und weil der literarische Wert dieser Texte unterschätzt wird. Nach Ralph Rainer Wuthenow "hat das Gelesene in einer Autobiographie eine andere Funktion als in rein fiktionalen Werken: es sagt mehr über Lesegewohnheiten und individuelle Bil99 Greiner, S. 119. 100 Er verweist beispielsweise im Klettenberg-Portrait auf die Bekenntnisse einer

schönen Seele (vgl. 27,199) oder im neunzehnten Buch auf das "Fragment von Werthers Reisen, welches in dem XVI Bande meiner Werke neuerlich wieder mit abgedruckt ist" (AA 1,622). Und in der Erzählung von Sesenheim erwähnt er Gedichte, die er dann - im Gegensatz zu den Lili-Gedichten im vierten Teil - nicht zitiert, dem Leser aber versichert, er könne die wenigen erhaltenen Lieder aus dieser Zeit "leicht aus meinen übrigen herausfinden" (27,30). 101 Gärtner sieht das so: Die Intertextualisierung von Dichtung und Wahrheit sei "Teil einer umfassenden Strategie, die darauf abzielt, das Interesse des Lesers an der Frage nach der autobiographischen Wahrheit hin zur Frage nach der Bedeutung der poetischen und damit auch der intertextuellen Gestaltung zu verschieben"; Gärtner, S. 158. 102 Es sei denn, er wird mit dem jungen Goethe gleichgesetzt, und damit ist wieder die literarische Eigenart der Autobiographie mißachtet. Anneliese Domnick zum Beispiel hat Goethes Leseerfahrungen im sogenannten wirklichen Leben nachgezeichnet und dabei Dichtung und Wahrheit häufig als Quelle herangezogen. Anneliese Domnick: Studien zum Kreis einfacher Seinsformen in Goethes jugendlicher Bildungswelt. Kiel 1964, besonders das erste Kapitel des zweiten Teils, S. 54-207.

9. Dichtung verwirklichen, Wirklichkeit verdichten

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dung sowie über die bekannten Werke der Epoche aus als über Wirkung und Funktion der Bücher im Buch".103 Wuthenow stellt den lesenden Werther vor und den lesenden Wilhelm Meister, nicht aber den lesenden Protagonisten der Autobiographie. Im Sammelband über Gelebte Literatur in der Literatur beobachten einige Interpreten literarische Figuren nicht nur beim Lesen, sondern auch beim Nachleben von Literatur. Dabei geht es um die Frage, "wie die Lektüre auf den lesenden Helden wirkt und seine Lebenseinstellung und Lebensführung beeinflußt".104 Auch in diesen Texten ist ein Autobiographie-Protagonist von vornherein ausgeschlossen. lOS Es lohnt sich, Dichtung und Wahrheit als literarischen Text ernstzunehmen. So eröffnen sich vielfaltige Verschränkungen, die nicht ganz zu erhellen sind und die auf die - bisweilen deutlich inszenierte - Kompatibilität von Literatur und Leben hinweisen. Klaus-Detlef Müller hat die "fiktionalisierenden Darstellungstechniken" in Goethes Autobiographie untersucht. Die Fiktion sei "das eigentliche Medium der Wahrheit, indem sie die ,Resultate' aus dem historisch Gegebenen verbindlich herleitet.,,106 Dieses Vorgehen beruhe "auf einem Dichtungsverständnis, das die Trennung von Poesie und Leben programmatisch aufgehoben hat, indem es zugleich die poetische Gestalt des Wirklichen als seine höhere Wahrheit begriff,.IO? Das mag auf Goethes Dichtungsverständnis zutreffen, erweckt allerdings den Eindruck, als habe er Techniken zur Bearbeitung der Wirklichkeit angewandt. Mit der Trennung und Überschneidung von Poesie und Leben spielt der Verfasser immer wieder, er macht auf das wechselvolle Verhältnis aufmerksam und läßt den Protagonisten die Vorzüge und Verlockungen der Rollenspiele und Täuschungen erleben. Damit wird der Leser an die Grenzen der

103 Ralph Rainer Wuthenow: Im Buch die Bücher oder Der Held als Leser. Frankfurt am Main 1980, S. 13f. \04 Theodor Wolpers: Zu Begriff und Geschichte des Motivs "Gelebte Literatur in der Literatur". Gemeinsames Vorwort der Beiträger. In: ders. (Hrsg.): Gelebte Literatur in der Literatur. Studien zu Erscheinungsformen und Geschichte eines literarischen Motivs. Bericht über Kolloquien der Kommission rur literaturwissenschaftliehe Motiv- und Themenforschung 1983-1985. Göttingen 1986,S. 7-29, hier S. 17. 105 "Mit ,gelebter Literatur' ist wesentlich das eigentliche Literatumachleben durch eine fiktive Figur gemeint. Hierbei geht es um ein Geschehen auf der dargestellten personalen Ebene, nicht um eine Literatumachahmung durch den Autor" (ebd.). Auch in der Reihe der "erlesenen Helden", die Friedhelm Marx untersucht, wäre der autobiographische Held in guter Gesellschaft gewesen, kommt aber nicht vor. Friedhelm Marx: Erlesene Helden. Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur. Heidelberg 1995. 106 Müller: Autobiographie und Roman, S. 330. Die "Resultate" beziehen sich auf die vielzitierte Äußerung Goethes Eckermann gegenüber, da soll Goethe über Dichtung und Wahrheit gesagt haben: "Es sind lauter Resultate meines Lebens, [... ] und die erzählten einzelnen Fakta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen." Zu Eckermann, 30. März 1831; GE 461. 107 Müller: Autobiographie und Roman, S. 332.

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H. Leben und Dichtung und Leben

Unterscheidbarkeit geführt und zur Frage, ob Text und Leben vergleichbar sind und ob ein sichtlich literarischer Text sich auf ein nicht-fiktives Leben beziehen kann.

III. Halbtheoretisches Zwischenspiel In den vorangegangenen Interpretationen zeigte sich, daß in Dichtung und Wahrheit ein zirkuläres Verhältnis von Dichtung und Leben und Dichtung dargestellt ist: Die Dichtung wirkt auf das Leben und verführt zum romanhaften Leben oder ermöglicht dem Protagonisten ein Empfinden wie im Gedicht. Und dieses durch Literatur gesteigerte und bereicherte Leben wirkt auf die Dichtung. Auch in den Erzählungen von den Lese- und Schreib-Erlebnissen des Protagonisten wurde deutlich, daß Dichtung und Leben in einem Spannungsverhältnis stehen. Diese Dialektik von Fiktion und Wirklichkeit erweist sich auch dann als grundlegender Zusammenhang, wenn man nicht den Vergleich mit der außerliterarischen Wirklichkeit bemüht. Aber was ist das Eigenartige an der Fiktion in einer Lebensgeschichte? Ist es ein fiktives Leben? Oder erlebte Fiktion? Bezieht sich der Text überhaupt auf etwas außerhalb seiner selbst? Möglicherweise sind einige theoretische Überlegungen hilfreich, um Dichtung und Wahrheit in diesem Punkt besser zu verstehen.

10. Text und Leben Wilhelm Dilthey kommt in seinen Ausführungen zum "Zusammenhang des Lebens"] auf die Autobiographie zu sprechen. Im Zusammenhang eines Textes wie in dem eines Lebens drücke jeder Teil etwas vom Ganzen aus und habe seine eigene Bedeutung, die wiederum vom Ganzen her bestimmt ist. HansGeorg Gadamer sieht darin "das alte hermeneutische Prinzip der Textinterpretation, das deshalb auch für den Lebenszusammenhang gilt, weil in ihm in gleicher Weise die Einheit einer Bedeutung vorausgesetzt wird, die in allen seinen Teilen zum Ausdruck kommt.,,2 Text und Leben sind einander also zumindest ähnlich. Die Überlegungen zu einer narrativen Identität führen diese Gedanken fort: Die Identität eines Menschen besteht in der Einheit seiner Lebensgeschichte, und diese Einheit der Lebensgeschichte ist mit der Einheit einer erzählten Geschichte vergleichbar. Dilthey hielt seinen Begriff des "Lebenszu] Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften. Band VII. Hrsg. von Bemhard Groethuysen. 4., unveränderte Auflage. Stuttgart/Göttingen 1965, S. 196-220. 2 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Gesammelte Werke. Band 1. 6., durchgesehene Auflage. Tübingen 1990, S.228.

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III. Halbtheoretisches Zwischenspiel

sammenhangs" für gleichbedeutend mit dem der Lebensgeschichte, einen Schritt weiter geht die narrative Theorie personaler Identität. Sie versucht, dieses "Vorverständnis einer geschichtlichen Bedeutung des Zusammenhangs [ ... ] auf höherer begrifflicher Ebene zu artikulieren ,,3 . In der Theorie gibt es nicht die narrative Identität. Zahlreiche Disziplinen beteiligen sich an dieser Diskussion, und oft ist nur schwer auszumachen, ob all diese unterschiedlichen Ansätze überhaupt etwas verbindet. 4 Die Versuche zur narrativen Identität sind zum Teil aus dem Problem von Fiktion und Wirklichkeit in der Geschichtsschreibung erwachsen; man kann sie - sehr grob vereinfacht - in zwei Lager aufteilen. 5 Die Vertreter der einen Richtung, wie zum Beispiel Hayden White,6 nehmen an, daß mit der Erzählung von Ereignissen und Entwicklungen die unstrukturierte Wirklichkeit strukturiert wird. So wird der Wirklichkeit eine Form und Bedeutung gegeben, die sie zuvor nicht hat. Leben und Geschichten sind also nicht notwendig miteinander verbunden. Louis O. Mink stellt schlicht fest: "Geschichten werden nicht gelebt, sondern erzählt.,,7 Narrative Eigenschaften lägen dem Leben nicht zugrunde, sie würden von der Kunst auf das Leben übertragen. 8 Genau andersherum sieht das Barbara Hardy, eine Vertreterin der anderen Richtung: Erzählungen seien keine ästhetischen Erfindungen von Künstlern, um Erfahrungen zu ordnen, sondern eine primäre Verstandestätigkeit, die vom Leben auf die Kunst übertragen wer-

3 Paul Ricreur: Das Selbst als ein Anderer. München 1996, S. 174. Es wäre eine lohnenswerte Untersuchung, der Frage nachzugehen, inwiefern Dilthey auch aufgrund seiner Lektüre von Dichtung und Wahrheit zu seinen allgemeinen Überlegungen zur Autobiographie, zum Erlebnis, zum Lebenszusarnmenhang und zum Verstehen des Lebens kommt. Möglicherweise hat ihn das Buch angeregt, und wenn das so wäre, hätte Dichtung und Wahrheit über Umwege auch auf die Studien zur narrativen Identität gewirkt. 4 Einen guten Überblick bieten Jens Brockmeier und Donal Carbaugh: Introduction. In: dies. (Hrsg.): Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture. Amsterdam 200 I, S. 1-22, sowie Lewis und Sandra Hinchman: Introduction. In: dies. (Hrsg.): Memory, Identity, Community. The Idea of Narrative in the Human Sciences. New Y ork 1997, S. xiii-xxxii. 5 Guy Widdershoven unterscheidet in der Geschichtsphilosophie die Anhänger der "continuity thesis" von jenen der "discontinuity thesis"; vgl. Guy Widdershoven: The Story of Life. Hermeneutic Perspectives on the Relationship Between Narrative and Life History. In: Ruthellen Josselson/Amia Lieblich (Hrsg.): The Narrative Studies of Lives. Voll. Newbury Park u.a. 1993, S. 1-20. Eine vergleichbare Aufteilung findet sich bei Jens Brockmeier und Donal Carbaugh, S. 14, ebenso bei Lewis und Sandra Hinchman, S. xix. 6 Hayden White: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main 1990. 7 Louis O. Mink: History and Fiction as Modes of Comprehension. In: New Literary History 1 (1970), S. 541-558, hier S. 557. 8 Ebd. S. 558.

10. Text und Leben

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de. 9 Die Natur, nicht die Kunst, mache die Menschen zu Geschichtenerzählern. lO Ähnlich sieht das David Carr, für ihn ist die Struktur jeder Erfahrung vergleichbar mit der Struktur einer historischen oder fiktionalen Erzählung. 11 Und Alasdair MacIntyre ist überzeugt, daß Geschichten erlebt werden, bevor sie erzählt werden; der Mensch sei ein "Geschichten erzählendes Tier". 12 Nehmen die einen an, die Erzählung ordne Ungeordnetes und gebe Bedeutungslosem eine Bedeutung, sind die anderen überzeugt, die Erzählung bringe eine gegebene Ordnung, eine Bedeutung zum Vorschein, ja die Wirklichkeit selbst sei immer schon pränarrativ strukturiert. Für die Frage nach der Identität hat das erhebliche Konsequenzen . Überträgt man die Ansicht der erstgenannten Theoretiker auf die narrative Identität, so ergibt sich, daß Personen sich und ihre Identität selbst schaffen, indem sie von sich erzählen. Die andere Seite nimmt an, daß Menschenleben eine narrative Form haben oder zumindest eine Vorform des Narrativen. 13 Beide Positionen schließen sich nicht aus. Guy Widdershoven stellt ihnen einen hermeneutischen Standpunkt gegenüber, demzufolge menschliches Leben ein Prozeß narrativer Interpretation sei. Leben und Geschichten seien nur in gegenseitiger Wechselwirkung bedeutsam. 14 Paul Ricreur versucht mit seinem Modell der dreifachen mimesis, diese Dialektik zu ergründen. Dabei geht es ihm zunächst nicht um das Verstehen des eigenen Selbst, sondern um das Entstehen und die Rezeption von erzählten Geschichten. 15 Für Ricreur ist das Verhältnis von Leben und Geschichten ein zirkelartiges, und diese Kreisbewegung 9 Vgl. Barbara Hardy: Towards a Poetic of Fiction: An Approach Through Narrative. In: Nove12 (1968), S. 5-14, hier S. 5. 10 Vgl. Barbara Hardy: Tellers and Listeners. The Narrative Imagination. London 1975, S. vii. Zur Auseinandersetzung von Louis O. Mink und Barbara Hardy vgl. Alasdair Maclntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt am Main 1995, S. 283. II David Carr: Time, Narrative, and History. BloomingtonlIndianapolis 1986; ders.: Epistemologie et ontologie du recit. In: Jean GreischlRichard Keamy (Hrsg.): Paul Ricceur. Les metamorphoses de la raison hermeneutique. Actes du colloque de Cerisy-laSalle ler_1 1 aoüt 1988. Paris 1991, S. 205-214. 12 Vgl. Maclntyre, S. 283 und 288. 13 Lewis und Sandra Hinchman bezeichnen dies als ",strong' theory of narrative identity, insofar as its exponents find narrativity to be anchored in the way the world really is, an expression, if not a mirror, of the way human beings must experience themselves". Lewis und Sandra Hinchman, S. xx. Vgl. auch Marya Schechtman: The Constitution ofSelves. IthacaiLondon 1996, S. 93. 14 Widdershoven, S. 2 und 4. Auch Anthony Kerby hält die Selbst-Erzählung sowohl rur eine rezeptive als auch rur eine kreative Tätigkeit, die implizite narrative Struktur des Lebens werde in unseren expliziten Erzählungen aufgenommen und erweitert; vgl. Anthony Kerby: Narrative and the Self. Bloomington/Indianapolis 1991, S. 9 und 12. 15 Vgl. Paul Ricceur: Zeit und Erzählung I: Zeit und historische Erzählung. München 1988, S. 87-135.

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III. Halbtheoretisches Zwischenspiel

verläuft nicht zweidimensional, sondern in Form einer Spirale: weil die Wirklichkeit Ansätze und Anreize zum Erzählen enthält, werden Geschichten zum besseren Verständnis der Wirklichkeit erzählt, und diese Geschichten wiederum verändern die Wirklichkeit. 16 Die Vergleichbarkeit und die Wechselwirkungen von gelebtem Leben und erzählter Geschichte sind Grundlage der Überlegungen zur narrativen Identität. Dies sei eine Art von Identität, "die ein menschliches Wesen dank der Vermittlung der narrativen Tätigkeit erlangt"l7, sagt Ricceur. Es ist eine brüchige, dynamische, nie abgeschlossene Identität. Das narrative Selbst-Verständnis eines Menschen besteht darin, daß er einzelne Erlebnisse seines Lebens nicht isoliert voneinander betrachtet, sondern sie als Teil einer fortlaufenden Geschichte interpretiert, die ihnen ihre Bedeutung verleiht. 18 Die narrative Einheit eines Lebens besteht rur Ricceur in einem "unbeständige[n] Gemisch von Phantasiegebilde und lebendiger Erfahrung,,19. Widdershoven schreibt, die personale Identität sei das Ergebnis des hermeneutischen Verhältnisses von Erfahrung und Geschichte, in dem die Erfahrung die Geschichte hervorbringt und die Geschichte die Erfahrung artikuliert und dabei modifiziert. Die im gelebten Leben implizite Bedeutung werde durch die Geschichten explizit gemacht. 2o Diese Überlegungen beziehen sich nicht speziell auf Autobiographien, sind aber übertragbar - im Falle von Dichtung und Wahrheit sowohl auf die Ebene des Verfassers als auch auf die des Protagonisten. Das "unbeständige[] Gemisch von Phantasiegebilde und lebendiger Erfahrung,,21 wird am Beispiel des Protagonisten anschaulich: er versucht mit Hilfe von Literatur zu leben, findet sich in Büchern und rettet sich schreibend aus Widrigkeiten. Das ist naheliegend, denn es handelt sich um die Autobiographie eines Dichters. Und es ist eigenartig, weil der Verfasser im Text mit dem Verhältnis von Dichtung und Wahrheit spielt und Uneindeutigkeiten eher kalkuliert als vermeidet. Schließt man vom Protagonisten auf den Verfasser, ist es eine autobiographische Wahrheit, die mit der Dichtung untrennbar verbunden ist. Ricceur ist der Meinung, der Mensch könne lernen, Erzähler seiner eigenen Geschichte zu werden, auch deren Held - ohne Autor seines eigenen Lebens zu werden. Dies sei der große Unterschied zwischen Leben und Fiktion. 22 In die-

16 Vgl. ebd. S. 115; vgl. auch Widdershoven, S. 6: "Thus a story is based on life, but it is not detennined by it because it is an articulation oflife that gives it a new and richer meaning." 17 Paul Ricreur: L'identite narrative. In: Esprit 1988, n° 7-8, S. 295-304, hier S. 295. 18 Vgl. Schechtman, S. 97. 19 Ricreur: Das Selbst als ein Anderer, S. 199. 20 Vgl. Widdershoven: The Story ofLife, S. 9. 21 Ricreur: Das Selbst als ein Anderer, S. 199. 22 Vgl. Paul Ricreur: Life in Quest of Narrative. In: David Wood (Hrsg.): On Paul Ricreur. Narrative and Interpretation. LondonlNew York 1991, S. 20-33, hier S. 32.

10. Text und Leben

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sem Sinne sei es wahr, daß das Leben gelebt wird und daß Geschichten erzählt werden; es bleibt eine Verschiedenheit. Diese Verschiedenheit ist - das zeigt sich im Leben des autobiographischen Helden in Dichtung und Wahrheit - teilweise aufgehoben, wenn man versucht, verschiedene Rollen von Lieblingsfiguren aus Lieblingsgeschichten anzunehmen. 23 Ricreur stellt fest, "daß literarische Erzählungen und Lebensgeschichten nicht nur einander nicht ausschließen, sondern sich - trotz oder wegen ihres Kontrastes - ergänzen. Diese Dialektik erinnert daran, daß die Erzählung zum Leben gehört, ehe sie sich vom Leben ins Exil der Schrift begibt".24 Die Geschichte des Protagonisten von Dichtung und Wahrheit ist eine Illustration dieser Aussage. Die narrative Identität ist brüchig und instabil, denn man kann "für sein eigenes Leben stets unterschiedliche, ja gegensätzliche Fabeln ersinnen. ,,25 Ricreur ist der Ansicht, die narrative Identität sei "mindestens ebensosehr der Name eines Problems wie der einer Lösung", und er fügt hinzu: "Eine systematische Untersuchung der Autobiographie und des Selbstportraits würde diese prinzipielle Instabilität der narrativen Identität zweifellos bestätigen.,,26 Auch eine Untersuchung von Dichtung und Wahrheit bestätigt diese reizvolle Instabilität. Der Leser erlebt mit, wie der Erzähler das Leben des Protagonisten - im eindeutigsten autobiographischen Fall ist es des Verfassers eigenes Leben - inszeniert. Vom Titel über den Inhalt bis zur Komposition zeigt sich das auf den drei autobiographischen Ebenen. Hierbei erweist sich die Instabilität keineswegs als notwendiges Übel, mit dem sich Verfasser, Erzähler und Protagonist zu arrangieren haben, vielmehr eröffnet sie eine unendliche Spielwiese, auf der sich das Ineinander von Leben und Lebenserzählung in immer neuen Varianten entfaltet und verwirrt. Die Frage, ob und inwieweit Text- und Lebenszusammenhang vergleichbar sind, entscheidet sich auch daran, ob man annimmt, dem Leben liege eine mehr oder weniger ersichtliche Ordnung zugrunde. Ist dies nicht der Fall, kann ein Zusammenhang des Lebens allenfalls erzählerisch und im nachhinein geschaffen werden. Vom autobiographischen Text aus läßt sich nicht ermitteln, was auf Erlebnisse des Verfassers zurückgeht, ebensowenig kann man behaupten, daß erst und ausschließlich im Schreiben Sinn und Kohärenz geschaffen werden. Die Prämisse, dem gelebten Leben liege etwas wie ein Zusammenhang, gar 23

Vgl. ebd. S. 33.

24 Ricreur: Das Selbst als ein Anderer, S. 200. 25 Paul Ricreur: Zeit und Erzählung III: Die erzählte Zeit. München 1991, S. 399. "In

dieser Hinsicht könnte man sagen, daß - im Wechselspiel der Rollen von Historie und Fiktion - die historische Komponente der Autobigraphie ihre Erzählung aus einer Chronik schöpft, die denselben dokumentarischen Beweisverfahren unterworfen ist wie jede andere historische Narration auch, während die fiktionale Komponente sie aus Phantasiereserven schöpft, diie die narrative Identität destabilisieren" (ebd.). 26 Ebd.

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IIl. Halbtheoretisches Zwischenspiel

eine Ordnung zugrunde, hat für die Interpretation der Autobiographie erhebliche Konsequenzen. Und sie steht in der Theorie unversöhnlich neben der Auffassung, erst und allein der sinngebende Autobiograph bringe erzählend Ordnung, Zusammenhang und Bedeutung in sein unstrukturiertes Leben. Wie das im Fall von Dichtung und Wahrheit aussieht, werden die Kapitel zum Dämonischen zu klären versuchen. Aber viel1eicht stellt sich die Frage gar nicht. Gibt es denn überhaupt ein Leben außerhalb des Textes?

11. Diesseits und jenseits des Textes Die Annahme, ein autobiographischer Text beziehe sich - mehr oder weniger - auf das Leben seines Verfassers, ist schwer zu widerlegen. Ein Abbild des gelebten Leben ist es nicht, das liegt auf der Hand. Aber es gibt ein Leben vor dem Text, und vielleicht wirkt der Text wiederum auf das Leben. Nein, sagen die dekonstruktivistischen Verfechter reiner textualite, es gibt kein Außerhalb des Textes. Paul de Man kommt zu dem Schluß, daß die Autobiographie sich empirisch wie theoretisch als ungeeignetes Objekt für eine Gattungs-Diskussion erweise, dies sei eine Diskussion von "lähmender Unfruchtbarkeit,,27. Die Autobiographie scheine über eine einfachere Form der Referentialität, der Repräsentation, der Erzählung zu verfügen; Abweichungen von der Wirklichkeit blieben in einem einzigen Subjekt verwurzelt. De Man fragt, ob das Leben die Autobiographie hervorbringe wie eine Handlung ihre Folgen. Oder bringt die Autobiographie Leben hervor und bestimmt es? Die Frage "Autobiographie oder Fiktion?" hält de Man für unentscheidbar?8 Gibt es keine vorsprachliche Realität, kein Außerhalb des Textes, dann gibt es weder Autobiographien noch nichtautobiographische Texte,29 und die Referenz selbst gerät zur Fiktion. Ist die Opposition von Fiktion und Wirklichkeit erst einmal aufgelöst, wird die Frage nach der Gattung Autobiographie hinfällig. Nach Ansicht von Jacques Derrida reduzieren sich die Wirkungen oder die Struktur eines Textes nicht auf seine "Wahrheit", auf seinen Autor. 3o Dieser Hinweis kann dazu beitragen, den autobiographischen Text nicht ausschließlich auf außerliterarische Tatsachen zurückzuführen. Die Aussage allein genügt allerdings nicht, um die Autobiographie für rein fiktional zu erklären und ihr so die gattungskonstituierende Eigenheit abzusprechen. Dem Leseeindruck widerspricht das. Immerhin steht auf 27 Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. von Christoph Menke. Frankfurt am Main 1993, S. 131-146, hier S. 132. 28 Ebd. S. 133. 29 Ebd. S. 134. 30 Jacques Derrida: Otobiographies. L 'enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre. Paris 1984, S. 93.

11. Diesseits und jenseits des Textes

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dem Buch ein Name, dem der Leser sowohl den textexternen Verfasser als auch den textinternen Protagonisten zuordnet, zudem den Erzähler. Die Bemühungen um allerlei Entsubstantialisierungen von Text und Leser und Leben sind keine notwendige Voraussetzung für das Verständnis von Dichtung und Wahrheit, doch einige Annahmen aus diesen Theorien mögen das Problem präzisieren. Die Überlegungen von Bernd Scheffer seien herausgegriffen, da er in seinem Versuch zu Interpretation und Lebensroman die Autobiographie besonders berücksichtigt. Er versteht sie als "Lebensstudien eines Lesers", denn er geht davon aus, daß Texte keine in ihnen selbst liegende Bedeutung haben. Erst der Leser - Scheffer nennt ihn Beobachter - schreibe den Texten Bedeutungen zu. 3! Zu den "problematischen Annahmen" eines "konventionellen" Autobiographie-Verständnisses zählen nach Scheffer (der sich von unsinnig-konventionellen Begriffen gerne mit Anführungszeichen distanziert) die Annahme einer äußeren Wirklichkeit und die Möglichkeit, diese sprachlich abzubilden, eine "Linearität" von Zeit und Geschichte, "Kausalität" von Handlungen und nicht zuletzt eine stabile Autor- bzw. Leser-"Identität". Das Problem der Narrativität tauche "allenfalls in einer Art folgenloser Präambel" auf. 32 Man muß die Annahme, der Autobiograph mache seine Erfahrungen erst und ausschließlich im Schreiben und erlebe seine Vergangenheit allein im Vollzug des Textes,33 nicht teilen, um sie in einer Interpretation zu berücksichtigen: man kann sie als Warnung verstehen, hinter dem Text ein statisches Selbst zu vermuten, das sich und sein Leben abbildet. 34 Ein hartnäckiges Festhalten an Kategorien wie Text oder Wirklichkeit mag hoffnungslos naiv erscheinen, aber damit muß keineswegs die Versuchung einhergehen, vom Text auf die Wirklichkeit zu schließen und diese besser zu verstehen, als es dem Autor möglich war. Die Dekonstruktion soll hier nicht als konträre Position oder Schreckgespenst herhalten. Man kann einige Hinweise ernstnehmen, ohne von vornherein auszuschließen, daß sich der autobiographische Text auf das Leben des Verfassers bezieht. Daß die Lebensgeschichte nicht Abbild des Lebens ist, war auch Goethe klar, obschon er einen Zusammenhang zwischen seinem Leben und der davon erzählten Geschichte wahrscheinlich für so selbstverständlich hielt, daß er sich erst gar nicht dazu äußerte. Auch ging er nicht davon aus, daß er seine endgültig geformte, unveränderliche Identität entdeckt habe und exakt beschreibe oder daß er einen Standpunkt au3! Vgl. Bemd Scheffer: Interpretation und Lebensroman. Zu einer konstruktivistischen Literaturtheorie. Frankfurt am Main 1992, S. 56,27 und 234. 32 Vgl. ebd. S. 246 . 33 Vgl. ebd. S. 256. 34 Bei der Lektüre von Dichtung und Wahrheit zeigt sich, daß das vermeintlich konventionelle Autobiographie-Konzept in traditionellen Texten wesentlich vielschichtiger und der Autor eines solchen Textes weitaus problembewußter ist, als das manche theoriebewußte Interpreten vermuten oder zugeben würden.

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III. Halbtheoretisches Zwischenspiel

ßerhalb des eigenen Lebens einnehme und objektiv darüber berichte; davon zeugen die zahlreichen Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen des autobiographischen Unternehmens. Die Annahme, das Selbst konstituiere sich erst und ausschließlich im Erzählen, scheint nicht zuzutreffen - und diese These läßt sich in der Auseinandersetzung mit Dichtung und Wahrheit weder beweisen noch entkräften. Auch wenn das Verhältnis von inner- und außerliterarischer Wirklichkeit unergründbar bleibt, ist doch bemerkenswert, daß diese entscheidende Frage innerhalb von Goethes Autobiographie eine bedeutende Rolle spielt. Der Protagonist ist darin verwickelt, mal lesend, mal nachempfindend, und immer wieder dichtend. So stellt sich Goethe dar als einer, der in und mit der Dichtung lebt, rur den die Dichtung lebenswichtig ist und der im Laufe seiner Entwicklung rur die Dichtung wichtig wird. Sein Leben ist mit der Dichtung untrennbar verknüpft, da wäre es sehr merkwürdig, wenn die Autobiographie nicht gedichtet wäre. Implizit ist im Text die Frage nach der Deutung des Lebens und seiner Darstellbarkeit mitformuliert. Offensichtlich wird das, wenn der Protagonist sein Leben zu verstehen sucht. Aber auch der Verfasser ist mit dem Schreiben seiner Autobiographie bemüht, sein Leben so zu deuten und zu ordnen, daß es darstellbar ist. Diese beiden Ebenen lassen sich nicht trennen, wenn man annimmt, daß Protagonist und Verfasser einer Autobiographie identisch sind. Es ist ein Vorzug von Dichtung und Wahrheit, daß der Leser die Schwierigkeiten nicht nur des autobiographischen Helden, sondern auch des Verfassers bei der Deutung seines Lebens miterlebt. Das läßt sich zeigen anhand einer Annäherung ans Dämonische.

IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische Im Vorwort zum ersten Teil von Dichtung und Wahrheit äußert sich der Erzähler vorsichtig zur "Hauptaufgabe der Biographie" (26,7). Sie scheine darin zu bestehen, die Wechselwirkungen zwischen Jahrhundert und Individuum darzustellen. Das Leben und das Schreiben über das Leben haben gezeigt, daß es sich so einfach nicht verhält. Ein anderes trat hinzu, ein Unvorhersehbares, Inkommensurables, Unaussprechliches. Goethe nennt es im letzten Buch seiner Autobiographie - "nach dem Beyspiel der Alten und derer die etwas Ähnliches gewahrt hatten" (AA 1,640f.) - das Dämonische. Diese Passagen im zwanzigsten Buch wirken zurück auf den gesamten Text, darum empfiehlt es sich, die Interpretation mit dem Ende zu beginnen.

12. Dämonischer Schlußakkord: das letzte Buch Dem Blick auf das zwanzigste Buch sei ein Hinweis zur Entstehung vorangestellt. I Im November 1812, wenige Wochen nachdem Goethe das letzte Buch des zweiten Teils von Dichtung und Wahrheit zum Druck gegeben hatte, kündigt er seinem Verleger Cotta zuversichtlich an, der dritte Band der Lebensgeschichte könne "zu Michael 1813, der vierte Michael 1814 abgedruckt seyn,,2. Es sollte anders kommen. Zu Beginn des Jahres 1813 arbeitet Goethe gelegentlich an seiner Biographie, von März an wieder regelmäßiger. Er revidiert die Schemata und entschließt sich zur "concentrirten Behandlung" seiner Biographie. 3 Mit einem umfangreichen dritten Teil will er die Geschichte beschließen, sie soll mit der Abreise nach Weimar enden. Am 4. April 1813 notiert er: "Biographisches. Conception des Dämonischen und Egmonts,,4. Die folgenden Monate arbeitet Goethe am dritten Teil und am Vorwort zu diesem Teil. Zu dieser Zeit entsteht auch der Schluß des jetzigen zwanzigsten Buches mit dem Abschnitt über das Dämonische; den Rest des Buches diktiert Goethe Anfang 1825. Bereits im Frühjahr 1813 ist mit dem Entschluß zur "conI Vgl. Siegfried Scheibe: Der vierte Teil von "Dichtung und Wahrheit"; sowie Scheibes genauere Analyse der Handschriften in AA 11. 2 An Johann Friedrich Cotta, 12. November 1812; WA IV,23,136. 3 Vgl. Goethes Tagebucheintragungen vom 9. und vom 24. März 1813; WA 111,5,22 und 26 . 4 Tagebuch vom 4. April 1813; WA I1I,5,30.

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IV . Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

centrirten Behandlung" und der "Conception des Dämonischen" das autobiographische Feld abgesteckt. Dabei bleibt es auch, als Goethe im Herbst 1813 den Plan zur "concentrirten Behandlung" aufgibt, und daran hat sich bis zum Ende der Arbeit im Jahre 1831 nichts geändert. Eingerahmt von der günstigen Sternen konstellation in der Geburtsstunde und dem Bild von den Sonnenpferden bei der Abreise nach Weimar sollte sich die Geschichte abspielen.

a) Rückblick auf die Wege zum Übersinnlichen In "Tagen leidenschaftlicher Unruhe und innerlicher Entzweyung" setzt das zwanzigste und letzte Buch ein (AA 1,637). Die Trennung von Lili hatte sich immer deutlicher abgezeichnet. Am Ende des neunzehnten Buches bemüht sich der Protagonist, die "fürchterliche Lücke", die ihn von ihr trennte, "durch Geistreiches und Seelenvolles auszufüllen", und so fangt er "also wirklich Egmo nt zu schreiben an" (AA 1,636). Er stürzt sich in die Arbeit, kommt gut voran, bleibt aber innerlich zerrissen. In diesen Wirren hilft ihm der Maler Georg Kraus "über manche böse Stunden hinweg" (AA 1,637). Die Bilder von Weimarer Personen, Gebäuden und Landschaften der Umgebung bieten Gelegenheit zum längsten und detailliertesten Abschnitt über die Weimarer Verhältnisse. Es sind auch Bereiche erwähnt, in denen Goethe später tätig war, zum Beispiel das Bergwerk in Ilmenau oder die Universität Jena. Für den Erzähler wie für den Leser ist das ein Blick in die Zukunft, die längst schon Vergangenheit ist; aus der Perspektive des Protagonisten kann das allenfalls eine Ahnung sein oder ein Wunsch. Auf den ersten Blick völlig unvermittelt wechselt der Erzähler das Thema: Man hat im Verlaufe dieses biographischen Vortrags umständlich gesehn, wie das Kind, der Knabe, der Jüngling sich auf verschiedenen Wegen dem Uebersinnlichen zu nähern gesucht, erst mit Neigung nach einer natürlichen Religion hingeblickt, dann mit Liebe sich an eine positive festgeschlossen, ferner durch Zusammenziehung in sich selbst seine eignen Kräfte versucht und sich endlich dem allgemeinen Glauben freudig hingegeben (AA 1,640).

Mit diesem einen Satz blickt der Erzähler auf die Entwicklung des Protagonisten zurück, die auch der Leser der Autobiographie nachvollziehen kann. Von der "Neigung" zu "einer natürlichen Religion" berichtet das erste Buch. Der "kirchliche Protestantismus", der den Kindern überliefert wurde, erschien dem Jungen lediglich als "eine Art von trockner Moral", "die Lehre konnte weder der Seele noch dem Herzen zusagen" (26,62).5 Er hörte von allerlei christlichen 5 "Das Bild des ,kirchlichen' Protestantismus ist also mehr durch Mängel und Leerstellen als durch positive Züge gekennzeichnet"; Günter Niggl : Goethes Pietismus-Bild in Dichtung und Wahrheit. In: Hans Georg KemperlHans Schneider (Hrsg.): Goethe und der Pietismus. Tübingen 2001, S. 257-268, hier S. 258 .

12. Dämonischer Schlußakkord: das letzte Buch

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Gemeinschaften, die auf eigenen Wegen durch Christus Gott nahezukommen versuchten, und er wurde auch selbst tätig. Der Erzähler wechselt in die dritte Person und berichtet freundlich distanziert, wie sich "der Knabe" "dem großen Gotte der Natur" unmittelbar näherte; "der Weg dazu aber war sehr sonderbar" (26,63). Im Gegensatz zu den Separatisten hielt er sich an den Gott des Alten Testaments. 6 Als Priester schmückte er ein Musikpult des Vaters als Altar "auf gut alttestamentliche Weise" (26,64) mit den besten Stücken aus der Naturaliensammlung und einer Räucherkerze. 7 Einmal war er so sehr in seine Andacht vertieft, daß er nicht merkte, "welchen Schaden sein Opfer anrichtete" und wie es sich in den Lack des Pultes einbrannte. Da war ihm "der Muth zu neuen Opfern [... ] vergangen, und fast möchte man diesen Zufall als eine Andeutung und Warnung betrachten, wie gefahrlich es überhaupt sei, sich Gott auf dergleichen Wegen nähern zu wollen" (26,66). Damit endet das erste Buch. Auch wenn der Erzähler zurückhaltend und nicht mit übertriebenem Ernst darauf hinweist, daß man diesen "Zufall" nur "fast" als Andeutung und Warnung sehen möchte, ist diese Erwähnung früher religiöser Erfahrungen und Versuche für die gesamte Autobiographie von Bedeutung. Allgemein zur natürlichen Religion äußert sich der Erzähler im vierten Buch im Zusammenhang mit der Erzvätergeschichte. 8 Dem Rückblick aus dem zwanzigsten Buch zufolge hat sich "der Knabe" "mit Liebe [... ] an eine positive [Religion] festgeschlossen" (AA 1,640). Das entspricht nicht ganz der Darstellung in der Autobiographie. Dort erzählt Goethe von seiner intensiven Lektüre der Patriarchengeschichte, vom Interesse an originellen Sonderwegen der Pietisten, sich Gott unmittelbar zu nähern, von der Begegnung mit Fräulein von Klettenberg und den Herrnhutern. 9 Aber ernstlich "festgeschlossen" hat er sich nicht. Goethe hat von der Begegnung mit den Pietisten ausführlich erzählt, er hat dabei das Anziehende hervorgehoben und das Trennende nicht verschwiegen. Selbst die Abkehr von den Brüdern ist freundlich geschildert. Sie wirkt auf den Protagonisten förderlich, er bildet sich 6 Den hatte er bereits als zornigen Gott kennengelernt, der in Lissabon die Erde beben ließ und in Frankfurt die neuen Fenster des Elternhauses mit Hagel, Blitz und Donner zusammenschlug, so daß eine Art Sintflut in die gewohnte Umgebung hereinbrach (vgl. 26,42f.). 7 Als "eine besondere Zierde des Zimmers" blieb der Altar nach den ersten Versuchen stehen; was er darstellte, war das Geheimnis des Protagonisten: "Jedermann sah darin nur eine wohl aufgeputzte Naturaliensammlung; der Knabe hingegen wußte besser was er verschwieg" (26,65). Damit wirkt dieser Zugang zum "großen Gotte der Natur" noch eigenwilliger. 8 Sie gehe jeder geoffenbarten Religion voran (26,212) und bedürfe "eigentlich keines Glaubens: denn die Überzeugung, daß ein großes, hervorbringendes, ordnendes und leitendes Wesen sich gleichsam hinter der Natur verberge, um sich uns faßlich zu machen, eine solche Überzeugung dringt sich einem jeden auf" (26,218). So auch dem Knaben am Ende des ersten Buches. 9 Vgl. hierzu Niggl: Goethes Pietismus-Bild in Dichtung und Wahrheit . Zur Freundschaft mit Fräulein von Klettenberg vgl. auch Abschnitt 13e.

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"ein Christenthum zu [seinem] Privatgebrauch" (28,306). Das ist die dritte Stufe, auf die der Erzähler am Ende der Autobiographie zurückblickt: der Jüngling hatte "durch Zusammenziehung in sich selbst seine eignen Kräfte versucht" (AA 1,640). Nicht nur in religiösen Fragen hat ihn der Pietismus angeregt, die zunehmende Eigenständigkeit wirkte auch auf seine poetische Produktion und auf sein Selbstverständnis als Dichter. Besonders augenfällig ist das im fünfzehnten Buch; dort berichtet der Erzähler, welche Überlegungen und Stimmungen den Protagonisten nach der Trennung von den Brüdern zu seinem Prometheus geführt haben. Harald Schnur versteht den Rückblick im zwanzigsten Buch so, daß der "eigentliche Gegenstand" dieser Lebensgeschichte das "Übersinnliche" sei; "Kind", "Knabe", "Jüngling" entsprächen den drei Teilen der Autobiographie. 10 Die Stadien einer natürlichen, einer positiven sowie einer eigenen Religion durch "Zusammenziehung in sich selbst" fänden sich im ersten und zweiten Teil, und der "Jüngling", der sich "endlich dem allgemeinen Glauben freudig" hingibt, könne dem dritten Teil zugeordnet werden. So eindeutig ist das nicht. J J Die verschiedenen Selbstbezeichnungen und die drei Stufen könnten sich auch auf die drei Teile beziehen, das vierte Stadium aus den drei anderen hervorgehen und sie im doppelten Sinne aufheben. Erich Trunz hält die dargestellten Stufen für eine "Dreiheit, die von einem Vierten überwölbt und vereinigt wird".12 Der eine Satz zur religiösen Entwicklung dient der Vorbereitung jener Passage, die wie keine andere in dieser Autobiographie die Deutung des gesamten Lebens betrifft.

b) Nicht-Beschreibung des nicht Beschreibbaren

Dem einleitenden Satz vom Rückblick auf die Wege zum Übersinnlichen und von der freudigen Hingabe an den "allgemeinen Glauben" folgt, immer noch in der dritten Person, die Schilderung einer Erfahrung: "Als er in den Zwischenräumen dieser Regionen hin und wieder wanderte, suchte, sich umsah, begegnete ihm manches was zu keiner von allen gehören mochte und er glaubte 10 Harald Schnur: Identität und autobiographische Darstellung in Goethes Dichtung und Wahrheit. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1990, S. 28-93, hier S. 78. 11 Auch Erich Trunz ist bei der Zuordnung der verschiedenen Stufen auf Passagen der Autobiographie sehr vorsichtig, das gibt er mit einem dreifachen "bezieht sich wohl" zu erkennen; Trunz: Anmerkungen in HA X,648. 12 Trunz: Anmerkungen in HA X,649. Trunz verweist auf eine Studie von Wolfgang Binder: Goethes Vierheiten. In: Stefan Sonderegger u.a. (Hrsg.): Typologia litterarum. Festschrift rur Max Wehrli. ZürichlFreiburg 1969, S. 311-323. Binder untersucht diese Stelle aus Dichtung und Wahrheit nicht, doch die kurze Anmerkung zu den vier Ehrfurchten im Wilhelm Meister legt nahe, eine solche Vierheit auch in den Glaubensrichtungen des Protagonisten zu sehen.

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mehr und mehr einzusehn, daß es besser sey den Gedanken von dem Ungeheuren, Unfaßlichen abzuwenden" (AA 1,640). Die "Regionen" sind die zuvor angedeuteten Wege zum Übersinnlichen; das ist schon nicht sehr konkret, und noch weniger vorstellbar sind die Zwischenräume. Darin bewegt sich der Protagonist ziellos wandernd und suchend, und was er dort schließlich findet, hat er nicht gesucht, es ist ihm begegnet. Es ist ihm dermaßen unheimlich, daß er nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Er glaubte einzusehen, daß es besser sei "den Gedanken von dem Ungeheuren, Unfaßlichen abzuwenden", aber nicht einmal dieser Einsicht ist er sicher. Sosehr er diesen Gedanken auch zu verdrängen suchte, immer wieder "glaubte [er] in der Natur [00'] etwas zu entdekken, das sich nur in Widersprüchen manifestirte und deshalb unter keinen Begriff noch viel weniger unter ein Wort ge faßt werden könnte" (AA 1,640). Wieder glaubte er nur, etwas zu entdecken. Es handelt sich wohl um etwas, das gar nicht entdeckbar ist. Und daß dieses Widersprüchliche weder mit Begriffen noch mit Worten gefaßt werden könnte, ist vielleicht ein Hinweis darauf, wie aussichtslos bereits der Versuch erscheint, es begrifflich zu fassen. Der Erzähler bemüht sich dennoch um eine Beschreibung, die keine Beschreibung sein kann. Die Widersprüchlichkeit läßt sich allenfalls in widersprüchlichen Aussagen darstellen, damit ist eine Wirkung des Unfaßlichen anschaulich gemacht, nicht aber der Begriff gefaßt. Eine Annäherung an das Unnennbare versucht der Erzähler mit den Mitteln der negativen Theologie, mit der Aufzählung einiger Eigenschaften, die diesem Ungeheuren nicht zukommen: göttlich ist es nicht, da es unvernünftig zu sein scheint, menschlich nicht, da es keinen Verstand hat, teuflisch kann es nicht sein, da es mitunter auch wohltätig wirkt, und engelartig ist es auch nicht, denn oft zeigt es Schadenfreude. Es gleicht ebenso dem Zufall wie der Vorsehung, denn zum einen deutet es auf keinerlei Folge, zum anderen doch auf einen Zusammenhang. Menschlichen Grenzen ist es nicht unterworfen, willkürlich widersetzt es sich Raum und Zeit. "Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen" (AA 1,640). Die Unmöglichkeit des Beschreibens veranschaulicht der Erzähler mit Aussagen, die das Ungeheure nicht präzisieren, und auch diesen Aussagen wird der feste Grund entzogen. Immer wieder ist davon die Rede, wie es mit dem Unfaßlichen zu sein scheint. Man kann ihm schwerlich oder gar nicht beikommen, und wer es dennoch probiert, nähert sich allenfalls dem Schein. Das fünffache "schien" in fünf Sätzen und die zahlreichen Negationen vermitteln den Eindruck, als handle es sich um das Gegenteil einer Definition. Die würde das Unfaßliche eingrenzen und ihm damit nicht gerecht werden; Goethes Annäherung ist vielmehr der Versuch einer Entgrenzung des Vorstellbaren. Benannt ist das schwer Faßbare an dieser Stelle noch nicht, es ist ein indefinibles "es". Was sich zeigt, ist nicht dieses Unbestimmt-Sonderbare selbst. Es sind Wirkungen, und alle Versuche, von diesen Wirkungen auf irgendwelche Kräfte zu schließen, enden in Widersprüchen oder unzulänglichen Gleichnissen und füh-

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ren an die Grenzen der Sprache und des Vorstellbaren. Der Dichter hat nur eine Möglichkeit, sich vor diesem "furchtbaren Wesen" zu retten: "indem ich mich, nach meiner Gewohnheit, hinter ein Bild flüchtete" (AA 1,641). Nach "dem Beyspiel der Alten und derer die etwas Ähnliches gewahrt hatten" nennt er das sonderbare Wesen "dämonisch" (AA 1,640f.).13 Ob die erwähnte Rettung sich auf die folgende Darstellung der Arbeit am Egmont bezieht, auf die Bezeichnung des furchtbaren Wesens als dämonisches oder auf beides, ist nicht ganz eindeutig. Bezieht sie sich auf die poetische Figur des Egmont, ist es bedeutsam, daß der Protagonist die Erfahrung mit dem Dämonischen zunächst in dichterischer Form gestaltet hat. Er erfaßt damit etwas kaum Faßbares, über das er sich erst später und auch dann nur wenig klarer wird, und da ist es nicht mehr der Protagonist, sondern der Verfasser der Autobiographie. Des Dichters Gewohnheit, sich hinter Bilder zu flüchten, ermöglicht es ihm, von sich selbst zu sprechen, ohne von sich selbst zu sprechen. Das selbstgeschaffene Bild des Grafen Egmont zeigt einen lebenslustigen Jüngling - dem Verfasser nicht unähnlich 14 -, den "gränzenlose[s] Zutrauen zu sich selbst" auszeichnet und "die Gabe, alle Menschen an sich zu ziehn (attrativa)" (AA 1,641). Die sonderbare Anmerkung des Erzählers, er wisse nicht, ob er "sobald wieder zur Rede gelange" (AA 1,641), bezieht sich auf das Ende von Dichtung und Wahrheit. 15 Der Erzähler will "um mancher geliebten Leser willen" sich an dieser Stelle selbst vorgreifen und "etwas aussprechen, wovon ich mich erst viel später überzeugte": es ist die Erfahrung mit dem Dämonischen. So ist auch hier offensichtlich, daß es sich um eine ordnende und interpretierende Rückschau handelt. Der deutliche Hinweis auf die Doppel-Perspektive von Protagonist einerseits, der in die Geschehnisse verwickelt ist, und Erzähler andererseits, der Zusammenhänge erkennen kann, die dem Protagonisten nicht einsichtig sind, erinnert den Leser ein weiteres Mal an eine Eigenheit der Autobiographie, die auch thematisch mit dem Dämonischen verwandt ist. Es als Dämonisches

13 Zunächst ist es das Adjektiv "dämonisch", das das Wesen präzisiert, im übernächsten Absatz ist unbestimmter vom Dämonischen die Rede und bei der Überleitung zum Fortgang der Lebensgeschichte vom "dämonischen Schein" (vgl. AA 1,642). 14 Goethe erzählt, wie er das Bild des historischen Egmont umgebaut und sich selbst angeglichen hat; in Gedanken hat er ihn "verjüngt und von allen Bedingungen losgebunden" (AA 1,641). Nach Walter Muschgs Meinung ist Egmont, "der scheinbar Planlose, aber innerlich Sichere, [.. .] ein Wunschbild des Ratlosen [d.i. Goethe]"; Walter Muschg: Goethes Glaube an das Dämonische. In: ders.: Studien zur tragischen Literaturgeschichte. BemlMünchen 1965, S. 31-58, hier S. 33. Günter Niggl ist der Ansicht, Goethe zeichne ein "geheimes Selbstporträt"; Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert, S. 163. 15 Schon beim Diktat dieser Passage im Frühjahr 1813 war klar, daß sie den Schluß der Autobiographie bilden würde, den Schluß eines umfangreichen dritten Teils. Auch im unveröffentlichten Vorwort zu diesem dritten Teil eröffnet der Verfasser seinen Lesern, daß er sich "fiir eine Zeitlang von ihnen beurlaube"; Plp. 122; AA II,582.

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zu erkennen und zu benennen, ist in der Gegenwart meist unmöglich, im Rückblick ist es manchmal und in Ansätzen möglich. Die vertrauliche Hinneigung zum Leser erweckt den Eindruck, als spreche hier der Verfasser, als wolle er kurz vor Schluß noch etwas Wichtiges loswerden, das möglicherweise ftir den gesamten Text wichtig ist. 16 Mit den folgenden Überlegungen zum Dämonischen präzisiert der Erzähler die ersten verwirrenden Aussagen zu diesem "furchtbaren Wesen". Nun geht es nicht mehr um die Zwischenräume religiöser Regionen, sondern um den "wunderbarsten Zusammenhang", in dem das Dämonische mit dem Menschen steht, so daß es "eine der moralischen Weltordnung wo nicht entgegengesetzte, doch sie durchkreuzende Macht" bildet (AA 1,641). Dieses Verhältnis vergleicht der Erzähler mit Einschlag und Zettel. Die Wirkungen dieser Macht seien mit unzähligen Namen bezeichnet worden, da alle Religionen und Philosophien versucht haben, "prosaisch und poetisch dieses Räthsel zu lösen und die Sache schließlich abzuthun" (AA r,642). Der Erzähler maßt sich nicht an, das Rätsel ein für allemal zu lösen, doch ist er von "der Sache" zu sehr angezogen, als daß er sie abtun könnte. In seinem Leben hat der Verfasser gesehen, daß das Dämonische am furchtbarsten erscheint, "wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt" (AA 1,642). Von solchen Menschen, wie auch Egmont einer ist, geht "eine ungeheure Kraft" aus, sie üben "eine unglaubliche Gewalt" aus auf alle und jeden. Diese unfaßbaren Erscheinungen mögen, so der Erzähler im selben Satz, zu dem "sonderbare[ n] aber ungeheure[ n] Spruch" geftihrt haben "nemo contra deum ni si deus ipse" (AA 1,642).17 Ist das Dämonische, das die moralische Weltordnung durchkreuzt, letztlich ein Göttliches? Gott selbst? Wer durchkreuzt was und weshalb? Goethe flüchtet sich nicht nur hinter ein Bild, sondern auch hinter ein neues Geheimnis.

c) Der dämonische Schein im kleinen Leben

Von den "höheren Betrachtungen" zum Dämonischen kehrt Goethe zurück in sein "kleines Leben" (AA 1,642). Auch da macht er die Erfahrung der "durch16 Peter Hofmann meint, die Diktion deute "auf ein unmittelbares und nicht redigiertes Diktat, - ganz so, als durchbräche er sein andeutungsvolles Schweigen über dieses Thema ein wenig wider Willen und Gewohnheit." Peter Hofinann: Goethes Theologie. Paderbom u.a. 200 I, S. 368f. Möglicherweise ist das vom Verfasser so gewollt. Zu den stilistischen Eigenheiten des vierten Teils vgl. Kapitel 14. 17 Gabrie1e Blod glaubt, im "sonderbare[n] aber ungeheure[n] Spruch [00'] nemo contra deum ni si deus ipse" (AA 1,642) tauche, "versteckt in der Fremdsprache, die mögliche Herkunft des Namens ,Goethe' von ,Gott' auf'; Blod, S. 297f. Das kommt auch der 1nterpretin sonderbar vor, daher fUhrt sie diese Beobachtung "mit aller Vorsicht" an.

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

kreuzenden Macht". Diese letzte Episode in Dichtung und Wahrheit leitet er mit der Bemerkung ein, daß ihm "seltsame Ereignisse" bevorstünden, sie seien "wenigstens mit einem dämonischen Schein bekleidet" (AA 1,642). Nach der gescheiterten und damit annähernd gelungenen Beschreibung des Dämonischen klingt das vielversprechend. Der vernünftige Vorsatz des Protagonisten, sich endgültig von Lili zu trennen, ändert nichts an seiner Zuneigung, und so bleibt ihm nur die erneute Flucht, will er dieser mißlichen Lage entkommen. Just zu dieser Zeit reisen der Herzog von Sachsen-Weimar und seine Frau durch Frankfurt und erneuern die Einladung, er möge ihnen folgen . Dem scheint nun, von den Bedenken des spottenden Vaters abgesehen, nichts mehr entgegenzustehen. "Aber auch hier sollte durch ZuHilligkeiten eine so einfache Angelegenheit verwickelt, durch Leidenschaftlichkeit verwirrt und nahezu völlig vernichtet werden" (AA 1,644). Nachdem der Protagonist überall Abschied genommen hat, verzögert sich die Abreise, wird immer ungewisser. Er zieht sich zurück, wie besessen schreibt er am Egmont. Schließlich wird er immer ungeduldiger und unruhiger, er hält es zu Hause nicht mehr aus und wagt sich nachts verkleidet in die Stadt, sogar vor Lilis Fenster. Letztlich bricht er - dem drängenden Bitten und den Versprechungen des Vaters folgend - in Richtung Italien auf und reist zunächst nach Heidelberg. Der Erzähler blickt zurück und beurteilt die damalige Lage: "Ich hatte diese Zeit an mir und andern wunderliches erlebt, aber es war noch alles im Werden, kein Resultat des Lebens hatte sich in mir hervorgethan und das Unendliche was ich gewahrt hatte, verwirrte mich vielmehr" (AA 1,647). Er kann seine Erlebnisse nicht einordnen und erst recht keine Entscheidung treffen. In dieser schwierigen Lage eröffnet die Verrnittlerin Delph eine weitere Perspektive, doch des Protagonisten "planloses Wesen konnte sich mit der Planmäßigkeit" der Demoiselle "nicht ganz vereinigen" (AA 1,648). Er will nach Süden weiterreisen. Kaum ist dieser Entschluß gefaßt und ein Ende der Wirren in Sicht, trifft der Brief aus Frankfurt ein, alle Mißverständnisse klären sich auf - und der Weg nach Weimar ist frei. Im nachhinein erweisen sich all die Spekulationen, weshalb sich die Abreise verschoben hat, als überzogen. Wieder einmal zeigt sich - wie der Erzähler das bereits einige Seiten zuvor dargestellt hat -, "daß wir die Strategie gewöhnlich erst einsehn lernen, wenn der Feldzug vorbey ist" (AA 1,646). Das verbindende "wir" weist auf das Allgemeine dieser Erfahrung: "wir verschwören uns gar zu gern mit dem Irrthum gegen das Natürlichwahre [...]; und so entsteht gerade das Element, worin und worauf das Dämonische so gern wirkt und uns nur desto schlimmer mitspielt, jemehr wir Ahndung von seiner Nähe haben" (AA 1,646). Dies war die allgemeine Vorbereitung rur die Erzählung von den Geschehnissen vor der Fahrt nach Weimar. In dieser Lebenslage war der Protagonist anfällig rurs Dämonische, er bot ihm eine Angriffsfläche. Was die Fahrt tatsächlich verzögerte, war keineswegs dämonisch, es war alles "ganz natürlich" zugegangen (AA 1,648). Die Irrtümer sind als solche erkannt, und der Abreise steht

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nichts mehr im Wege, da schämt sich der Protagonist fast wegen seines "wunderlichen Seitensprungs" (AA 1,648). Er stellt fest, daß er vor der Demoiselle Delph und vielleicht auch vor sich selbst seine Entscheidung mit Argumenten nicht zu verteidigen weiß, und so flüchtet er sich wieder hinter das Bild Egmonts, mit ihm hinter das antike Wagengleichnis, zitiert die selbstgeschaffene literarische Figur und ruft "leidenschaftlich und begeistert" die Worte Egmonts aus: Kind, Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als, muthig gefaßt, die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da die Räder abzulenken.[18] Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam (AA 1,694).

So endet Dichtung und Wahrheit. Dieser bildhafte Schluß ist mehr als eine verspätete Rechtfertigung der einst kaum begründbaren Entscheidung für Weimar. 19 Goethe versucht hier, anders als in den verschiedenen Annäherungen an die Religion, sein eigenes Leben in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Im Gewirr von Plänen und Planlosigkeit macht der Protagonist die Erfahrung, daß es etwas gibt, das jenseits aller noch so durchdachten Pläne wirkt und diese zu verwirren vermag. Der Verfasser rückt mit dem Zitat des Protagonisten im nachhinein die gesamte Autobiographie in ein anderes Licht, wenn er von sonderbaren Kräften spricht, andeutungsweise nur, vorsichtig und rätselhaft, aber auch bedeutsam, zumal der Leser weiß, wie folgenreich der Entschluß für Weimarwar. d) Dämonen, kein Dämonisches

Bereits im ersten Teil von Dichtung und Wahrheit bezeichnet Goethe an zwei Stellen Unfaßbares, Unnennbares als Wirkung von Dämonen. Vom Dämonischen ist nicht die Rede. Das Erdbeben von Lissabon und die verheerenden Folgen schreibt der Erzähler im ersten Buch dem "Dämon des Schreckens" zu, der "zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet" hat (26,43), und vom Grafen Thoranc berichtet das dritte Buch, er sei hin und wieder von einer "Art von Unmut, Hypochondrie, oder wie man den bösen Dämon nennen soll", überfallen worden (26,137). Das hat den milden, heiteren und tatkräftigen Mann manchmal tagelang in einen unberechenbaren und zurückgezogenen Menschenfeind verwandelt. Im vierten Teil erst kommen die Dämonen abermals vor: im siebzehnten Buch herrscht ein "realistischer Dämon" im Operntheater (AA 1,572), im achtzehnten Buch erwähnt der Prot-

18 Im Drama heißt es: "die Räder wegzulenken"; vgl. Goethe: Egmont; WA 1,8,220. 19 Zum Kontext des Zitats im Egmont vgl. Abschnitt 13d.

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

agonist in einer Rede den "betörenden Dämon Bacchus" (AA 1,598), und ein "dämonisches Mißgeschick" läßt das Hautleiden der Schwester "gewöhnlich an Festtagen" auftreten (AA 1,602). Zwar wird auch mit den "Dämonen" und dem Adjektiv "dämonisch" etwas Sonderbares benannt, etwas Unheimliches, das Goethe - wie später mehrfach im Gespräch mit Eckermann - mit dem drastischen Bild der Dämonen anschaulich macht. Aber "das Dämonische" scheint etwas Umfassenderes zu sein und etwas noch weniger Greifbares?O Mit der widersprüchlichen Nicht-Beschreibung des Scheins des Dämonischen hat in der Autobiographie auch das einen Platz, was sich der Darstellung entzieht. Im Text bleibt das Dämonische weitgehend uninterpretiert, damit wird der Erzähler einer Besonderheit dieses Un-Begriffs gerecht. Es ist die verwirrendste Passage dieser Art, aber nicht die einzige Deutung des Lebens in Dichtung und Wahrheit. Die vorangegangenen Versuche, im Leben Bedeutung und Zusammenhang zu finden und in der Lebensgeschichte darzustellen, zeigen eine Entwicklung des Protagonisten wie des Verfassers. Diese Entwicklung nachzuvollziehen, kann zum Verständnis des Dämonischen beitragen.

13. Des Lebens Lauf und seine Deutung Mit dem Dämonischen bricht am Ende der Autobiographie etwas Unfaßliches, Unintegrierbares in die Lebensgeschichte hinein. In den ersten beiden Teilen scheint die Entwicklung und Entfaltung des Knaben mehr gefördert als behindert, und vom dritten Teil an mehren sich, kaum merklich, Schwierigkeiten - nicht nur des Protagonisten, sondern auch des Verfassers. Wie Goethe seine Entwicklung in Dichtung und Wahrheit in Gleichnissen lesbar zu machen versucht, gibt Aufschluß darüber, wie sich sein Verständnis von der eigenen Entfaltung und ihrer autobiographischen Darstellung im Laufe des Lebens und des Schreibens ändert.

20 Auch entstehungsgeschichtlich sind die Ausführungen zum Dämonischen deutlich entfernt von denen zu den Dämonen: Die SteHe aus dem ersten Buch hat Goethe im Mai 1811 diktiert, die aus dem dritten im Juli desselben Jahres (vgl. EGW 349), und die erwähnten Passagen aus dem vierten Teil sind im November 1830 entstanden (vgl. Scheibe: AA 11,212 und 217f.). Aus einem anderen Zeitraum stammen die Abschnitte, in denen das Dämonische vorkommt: den Teil des zwanzigsten Buches, der mit dem Rückblick auf die Wege zum Übersinnlichen beginnt und der Abreise nach Weimar endet, hat Goethe Anfang April 1813 begonnen und irgendwann in den folgenden drei Monaten vollendet (vgl. Scheibe: AA 11,137-139).

13. Des Lebens Lauf und seine Deutung

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a) Der reine, ruhige, stete Fortschritt Mit dem Leben verhält es sich ähnlich wie mit der Pflanze, dachte Goethe. In der Anlage ist alles mitgegeben und wird sich früher oder später entwickeln. Es war die Vorstellung von der zielgerichteten Entfaltung; in Analogie zur Metamorphose der Pflanze wollte Goethe das eigene Werden darstellen. 21 Auf der Reise nach Karlsbad im Mai 1810 unterhält er sich mit Riemer über "Biographica und Aesthetica". In den Aufzeichnungen dazu findet sich ein Abschnitt mit der Überschrift "Metamorphose": Der Grund von allem ist physiologisch. Es gibt ein physiologisch-pathologisches, z.E. in allen Uebergängen der organischen Natur, die aus einer Stufe der Metamorphose in die andere tritt. Diese wohl zu unterscheiden vom eigentlichen morbosen Zustande. Wirkung des Äußeren bringt Retardationen hervor, welche oft pathologisch im ersten Sinne sind. Sie können aber auch einen morbosen Zustand hervorbringen und durch eine umgekehrte Reihe von Metamorphosen das Wesen umbringen. 22 Damit spricht Goethe Probleme der Autobiographie und der Deutung des eigenen Lebens an. Der Wandel von der einen Gestalt zur anderen, von einer Lebensstufe zur nächsten, muß auf den ersten Blick nicht als Fortschritt erscheinen. Das Fortschreiten kann von äußeren Einwirkungen behindert werden, was sich auf den zweiten Blick häufig als Entwicklung zu einer neuen Stufe erweist. Aber Goethe hält auch "eine umgekehrte Reihe von Metamorphosen" für denkbar, die "das Wesen" zerstören können. Das wäre das Ende des ziel gerichteten Gestaltwandels. Doch diese Möglichkeit taucht in den ersten beiden Teilen von Dichtung und Wahrheit nicht auf. Im Vorwort zum ersten Teil erläutert der Erzähler, was "Hauptaufgabe der Biographie" zu sein scheint (26,7). Individuum und Jahrhundert sollen in ihrem Wechselverhältnis dargestellt werden; mit Einwirkungen anderer Art rechnet der Verfasser (oder zumindest der Erzähler) offensichtlich nicht. Der Zeitpunkt des Eintretens in das Jahrhundert ist von Belang (vgl. 26,8), aber dieser Zeitpunkt wird nicht weiter hinterfragt. Im vierten Buch ist sich der Erzähler sicher, daß auch Umwege letztlich wieder auf die eine vorgegebene Lebensbahn zurückführen: "Der Mensch mag sich wenden wohin er will, er mag unternehmen was es auch sei, stets wird er auf jenen Weg wieder zurückkehren, den die Natur ihm einmal vorgezeichnet hat" (26,204). Diese

21 Zum Verhältnis von Morphologie und Autobiographie vgl. Christoph Michel: "Eine Ausgeburt mehr der Notwendigkeit als der Wahl" - Goethes Autobiographie und die Metamorphose der Pflanzen. In: Goethes Bedeutung rur das Verständnis der Naturwissenschaften heute. Bayreuth 1982, S. 197-235; Günter Niggl: Das Problem der morphologischen Lebensdeutung in Goethes Dichtung und Wahrheit. In: Goethe-lahrbuch

116 (1999), S. 291-299. 22 Plp. 7; AA 11,477.

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

Sentenz steht in den Schilderungen der exegetischen Übungen und bezieht sich auf den gedanklichen Rückgang zur Urgeschichte. Sie ist daher nicht unmittelbar auf die Autobiographie übertragbar, doch sie enthält eine Grundannahme, die auch für die Deutung des Lebens gilt: Die von der Natur vorgezeichneten Wege setzen sich immer durch, auch gegen die Unternehmungen des Menschen. Eine gewollte oder ungewollte Abkehr von diesem Weg, eine den Protagonisten gefährdende "umgekehrte Reihe von Metamorphosen" zieht der Erzähler hier nicht in Erwägung. In die Schilderung seiner Kindheit fügt Goethe im zweiten Buch eine allgemeine Beobachtung ein über Kinder, über ihre vielversprechenden Anlagen und ihre Entwicklung. "Wüchsen die Kinder in der Art fort, wie sie sich andeuten, so hätten wir lauter Genies; aber das Wachsthum ist nicht bloß Entwickelung" (26,110). Resigniert klingt das nicht, denn es ist die Undurchschaubarkeit des Wachstums, die es bisweilen ungeordnet erscheinen läßt. Letztlich zweifelt der Erzähler nicht daran, daß sich Kinder zielgerichtet entfalten: "die verschiednen organischen Systeme, die den Einen Menschen ausmachen, entspringen aus einander, folgen einander, verwandeln sich in einander, verdrängen einander, ja zehren einander auf, so daß von manchen Fähigkeiten, von manchen Kraftäußerungen, nach einer gewissen Zeit, kaum eine Spur mehr zu finden ist" (26,110). Diese Art des Wachstums, die zunächst der Entwicklung zuwiderzulaufen scheint, ist naturgegeben und das Zusammenspiel der "verschiednen organischen Systeme" letztlich der Entwicklung förderlich. Prognosen sind schwierig: "Wenn auch die menschlichen Anlagen im Ganzen eine entschiedene Richtung haben, so wird es doch dem größten und erfahrensten Kenner schwer sein, sie mit Zuverlässigkeit voraus zu verkünden; doch kann man hinterdrein wohl bemerken, was auf ein Künftiges hingedeutet hat" (26,110f.). Insofern ist die Autobiographie vorzüglich geeignet, eine Entwicklung darzustellen: Der Verfasser kann diese einstigen Hinweise auf Späteres, das mittlerweile auch vergangen ist, aus dem Leben herauslesen und in die Lebensgeschichte hineinflechten. Aus der Perspektive des Protagonisten mag die künftige Entwicklung unverständlich sein, doch der Verfasser kann erklärend darauf zurückblicken. Der Erzähler äußert sich allgemein zu Dichtung und Wahrheit: er werde in den ersten Büchern seine Jugendgeschichten nicht völlig abschliessen, sondern "vielmehr noch späterhin manchen Faden aufnehmen und fortleiten, der sich unbemerkt durch die ersten Jahre schon hindurchzog" (26,111). Der souveräne Erzähler ordnet die Fäden, die sich für den Protagonisten wie für den Leser unbemerkt durch die ersten Jahre und Bücher schlingen; so wird er im nachhinein Wachstum und Entwicklung darbieten, wo zur erzählten Zeit wenig davon zu ahnen war. Darin zeigt sich die Zuversicht des Erzählers sowohl hinsichtlich des zielgerichteten Wachstums als auch hinsichtlich der Darstellung desselben in der Autobiographie. Noch im neunten Buch ist er weitgehend überzeugt davon, daß die entelechische Entwicklung im Laufe eines Lebens sichtbar wird, und das gilt offenbar

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für alle Menschen, denn der Erzähler spricht hier in der ersten Person Plural. Er hält ,,[u]nsere Wünsche" für "Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden", jeder wisse oder ahne, wofur er wahrhaft geboren ist, "wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im Stillen besitzen" (27 ,276). Der Mensch entwickelt und entfaltet sich, früher oder später, "bei günstigen Umständen auf dem geraden Wege, bei ungünstigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem einlenken" (27,276). Aber bereits an dieser Stelle ist der Optimismus ein klein wenig von Skepsis getrübt, denn die Erfahrung lehrt, daß es derart widrige Umstände gibt, die Entwicklungen nicht nur verzögern, sondern auch völlig zum Stillstand bringen können: "Nun gesellen sich aber zur menschlichen Beschränktheit noch so viele zufällige Hindernisse, daß hier ein Begonnenes liegen bleibt, dort ein Ergriffenes aus der Hand fällt, und ein Wunsch nach dem andern sich verzettelt" (27,277). Es scheint, als wolle Goethe die Vorstellung der teleologischen Entwicklung unbedingt beibehalten, wenn er im Anschluß erklärt, daß auch ein anderer weiterfuhren könne, was man selbst liegen ließ, und daß auf diese Weise sogar "manches Verwandte, das man nie berührt, ja woran man nie gedacht hat, zum Vorschein kommen werde" (27,277). Dann trete "das schöne Gefuhl ein, daß die Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist, und daß der einzelne nur froh und glücklich sein kann, wenn er den Muth hat, sich im Ganzen zu fühlen" (27,277f.). Ganz überzeugend klingt das zunächst nicht. Doch diese Überlegung ist die Ouvertüre zur anschließenden Schilderung von Sulpiz Boissen:es Engagement für den Kölner Dom. Damit erläutert der Erzähler, daß es gute Gründe geben kann, weshalb "ein Begonnenes liegen bleibt" (27,277), ja liegenbleiben muß: die "ungeheuren Conceptionen" der unfaßbar großen gotischen Kirchen standen "zu den irdischen Mitteln dergestalt außer Verhältniß [... ], daß sie nothwendig in der Ausführung stocken mußten" (27,279). Und es ist möglich und nach Ansicht des Erzählers höchst fördernswert, daß Boissen:e in seinen Bemühungen um die Rekonstruktion der alten Pläne den einst liegengebliebenen Wunsch früherer Baumeister erfüllt und wieterführt. In Dichtung und Wahrheit ist die Stelle von den verzettelten Wünschen der erste Hinweis darauf, daß es auch ernstzunehmende Entwicklungshindernisse geben kann. Mit diesem Abschnitt erklärt der Erzähler das Motto des zweiten Teils: "Was einer in der Jugend wünscht, hat er im Alter genug!" (27,276)23. Es sei ein "brave[s] und hoffnungsvolle[s] altdeutsche[s] Wort", gegen das "manche umgekehrte Erfahrung" angeführt werden möchte. Doch der Erzähler ist überzeugt, es spreche "auch viel Günstiges [... ] dafür" (27,276). Wünsche wer23 Tatsächlich lautet das Motto: "Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle" (27, I).

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den sich erflillen, wenn auch nicht sofort, so doch innerhalb eines Lebens oder in einer der folgenden Generationen. Am Ende des großen Lobes Boissen!es kommt der Erzähler auf das Motto zurück: "wenn die Resultate solcher vaterländischen Bemühungen vorliegen", werde er "mit wahrer Zufriedenheit jenes Wort im besten Sinne wiederholen können" (27,280). So hat er wieder an die eigene Geschichte angeknüpft und zudem erzählte Zeit und Erzählzeit miteinander verbunden. Das Motto scheint bestätigt: Boissen!e erflillt mit seiner unermüdlichen Arbeit einen Jugendwunsch des Verfassers. Hinter diesem Musterfall einer Entwicklung über Umwege steckt die Gewißheit, daß früher oder später und nicht immer auf durchschaubaren Wegen Wirklichkeit wird, was im Wunsch angedeutet ist. 24 Auch im Motto zum ersten Teil überwiegt die Zuversicht; es bezieht zwar Widrigkeiten mit ein, aber diese sind letztlich der Erziehung förderlich. Dieses positive Verständnis von Welt- und Lebenszusammenhang ist der sichere Grund, auf dem die ersten beiden Teile stehen. Zu Beginn des dritten Teils findet sich eine Stelle, die diese Gewißheit bestätigt, auch wenn die Lebensumstände des Protagonisten auf den ersten Blick wie Entwicklungshindernisse aussehen. Nach der Rückkehr aus Sesenheim in die Stadt fallen ihm seine Geschäfte schwer. Der Erzähler erläutert und verschleiert das mit einer allgemeinen Aussage: "der zur Thätigkeit geborne Mensch übernimmt sich in Planen und überladet sich mit Arbeiten. Das gelingt denn auch ganz gut, bis irgend ein physisches oder moralisches Hinderniß dazutritt, um das Unverhältnismäßige der Kräfte zu dem Unternehmen in's Klare zu bringen." (28,7) Es sind nicht Retardationen der Art, die "durch eine umgekehrte Reihe von Metamorphosen das Wesen umbringen,,;25 widrige Umstände erweisen sich - im besten aller epigenetischen Fälle - als Korrektiv. 26 Goethe glaubte einst, seine Lebensgeschichte in Analogie zur den Gesetzen der Metamorphose der Pflanze zu gestalten. Jedenfalls sagt er das im nachhinein, als sich diese Analogie als unangemessen erwiesen hatte. In der nicht veröffentlichten Vorrede zum dritten Teil von Dichtung und Wahrheit, der nach dem damaligen Plan die Autobiographie abschließen sollte, heißt es: Ehe ich diese nunmehr vorliegenden drey Bände zu schreiben anfing, dachte ich sie nach jenen Gesetzen zu bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt. 24 Dies ist nur eine Variante der Entwicklung, wie dem nächsten Absatz zu entnehmen ist: "Kann man aber bei solchen Wirkungen, welche Jahrhunderten angehören, sich auf die Zeit verlassen und die Gelegenheit erharren, so gibt es dagegen andere Dinge, die in der Jugend, frisch, wie reife Früchte, weggenossen werden müssen" (27,280). 25 Plp. 7; AA II,477. 26 Auch die im achten Buch geschilderte Krankheit deutet der Erzähler nicht nur als Krise, sondern auch als Übergang zu einer höheren Entwicklungsstufe: "so schien ich auch nunmehr ein anderer Mensch geworden zu sein: denn ich hatte eine größere Heiterkeit des Geistes gewonnen, als ich mir lange nicht gekannt, ich war froh mein Inneres frei zu fiihlen, wenn mich gleich äußerlich ein langwieriges Leiden bedrohte" (27,187).

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In dem ersten sollte das Kind nach allen Seiten zarte Wurzeln treiben und nur wenig Keimblätter entwikeln. In zweyten der Knabe mit lebhafterem Grün stufenweis manigfaltiger gebildete Zweige treiben, und dieser belebte Stengel sollte nun im dritten Bande ähren- und rispenweis zur Blüte hineilen und den hoffnungsvollen Jüngling darstellen. 27

Demnach wollte Goethe die eigene Entwicklung als regelmäßige und fortschreitende Selbstentfaltung darstellen. Von dieser Absicht zurückblickend erscheinen seine Überlegungen zur Morphologie übertragbar auf die Autobiographie; vielleicht waren es die impliziten Annahmen, die einst in die Gestaltung des Textes eingegangen sind und die Goethe erst richtig wahrgenommen hat, als sie problematisch geworden waren. In einer Notiz von 1807 heißt es, die Morphologie ruhe "auf der Überzeugung daß alles was sey sich auch andeuten und zeigen müsse. ,,28 In den beiden ersten, 1811 und 1812 erschienenen Teilen von Dichtung und Wahrheit und auch im dritten Teil ist anschaulich dargestellt, daß alles, was ist, sich auch andeutet und zeigt. 29 Der Erzähler und Verfasser bildet die Autobiographie den Entwicklungsgesetzen der Pflanze nach, voller Vertrauen in die Hypothesen von Evolution und Epigenese, und der Protagonist soll sich naturgemäß entfalten. So einfach ist das, dachte Goethe. Und wurde eines Besseren belehrt.

Plp. 122; AA 11,581. Goethe: Paralipomena zur Morphologie; WA 11,6,446. 29 Im Januar 1812 schreibt Goethe an Johann Rochlitz (der sich über die "asiatischen Weltanfange" im vierten Buch lobend geäußert hatte), er hoffe, dieser sei überzeugt, "der erste Theil sey mit Bewußtsein und Absicht geschrieben, und enthalte auch nicht das kleinste geringfugig scheinende, was nicht künftig einmal nach seinem Geschlecht und Art in B1üthe und Frucht hervortreten soll. Freylich, das Publicum, wenn man es an ein Saatfeld fuhrt, bringt gleich die Sicheln mit, und bedenkt nicht, daß noch mancher Monat bis zur Emdte hingeht, ja wohl noch das ganze grüne Feld eine schöne Zeit unter einer Schnee- und Eisdecke zu ruhen hat." An Johann Friedrich Rochlitz, 30. Januar 1812; WA IV,22,252. Bei aufmerksamen Lesern kamen die ersten beiden Teile im Sinne des Verfassers an . So schreibt Sulpiz Boisseree an Goethe: "Bei meiner Neigung, mich in alles Bauwesen hineinzudenken, glaube ich die Anlage zu dem dritten Bande schon recht deutlich in dem zweiten zu sehen, dessen Vergleichung mit dem ersten mich nicht ohne große Freude auf einen tiefen, künstlichen Zusammenhang gebracht hat, welche durch die anmutig umgebende, dem Spiel des Zufalls scheinbar hingegebene Darstellung durchgeht und dem Ganzen noch einen besondem Wert und Bedeutung gibt." 20. Dezember 1812; HABG 129f. Die Darstellung ist nur scheinbar dem Zufall hingegeben, letztlich hat sie der Verfasser im Griff; so jedenfalls sieht es Boisseree nach der Lektüre der ersten beiden Teile. Und schon vor der Veröffentlichung, nachdem Goethe im Frühjahr 1811 aus seiner Biographie vorgelesen hat, schreibt Charlotte von Schiller voller Begeisterung über den "Meister" und Protagonisten: "er war eine Pflanze, die sich nach allen Weltgegenden ausranken konnte, durch Glück wie durch Natur begünstigt." Charlotte von Schiller an Caroline von Mecklenburg-Schwerin, 1. Mai 1811; zitiert nach EGW 385. 27

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b) Entwicklungsideal und Lebenswirklichkeit

Im Laufe des Lebens und des Schreibens über das eigene Leben ging ihm auf, daß es sich bei der Entwicklung eines Menschenlebens so gradlinig und gesetzmäßig nicht verhält. Auch bei der Pflanze nicht, darauf weist das zurückgehaltene Vorwort hin: "Freylich ist es Gartenfreunden wohl bekannt, daß eine Pflanze nicht in jedem Boden, ja in demselben Boden nicht jeden Sommer gleich gedeiht, und die angewendete Mühe nicht immer reichlich belohnt".30 Insofern ist der Vergleich mit der Pflanze wieder angemessen. 31 Goethe bleibt seinem Pflanzen bild treu, doch ist es nun ein völlig anderes Bild. Die Zuversicht, daß sich alles regelmäßig fortschreitend entfalten werde, ist geschwunden. Dieses Gleichnis steht nicht nur für die Entwicklung des Lebens, sondern auch für die Entwicklung der erzählten Lebensgeschichte: und so hätte denn auch diese Darstellung, mehrere Jahre früher, oder zu einer günstigem Zeit unternommen, eine frischere und frohere Gestalt gewinnen mögen . Sie ist aber nun, wie es jedem Gewordenen begegnet, in ihre Begrenzung eingeschlossen, sie ist von ihrem individuellen Zustand umschrieben, von dem sich nichts hinzu noch hinweg thun läst 32 .

Die Zeit des Verfassens war möglicherweise nicht die günstigste, und des Dichters Einfluß auf die Wahl dieses Zeitpunkts scheint gering. Das klingt so, als sei er nicht frei in der Darstellung, als beziehe sich die Bedingtheit nicht nur auf die Autobiographie, sondern auch auf den Autobiographen. Dementsprechend hält der Verfasser seine Lebenserzählung für "eine Ausgeburt mehr der Nothwendigkeit als der Wahl".33 Er kündigt seinen Lesern an, daß er sich "für eine Zeitlang von ihnen beurlaube".34 Denn die erste Weimarer Zeit entzieht sich völlig der morphologischen Darstellung im positiven Sinne, sie bestätigt und übertrifft die negativen Erfahrungen des Gartenfreundes:

Plp. 122; AA 11,582. Bereits zu Beginn des zweiten Teils veranschaulicht Goethe eine schmerzliche Erfahrung mit einem Pflanzen bild: "Durch Gretchens Entfernung war der Knaben- und Jünglingspflanze das Herz ausgebrochen; sie brauchte Zeit, um an den Seiten wieder auszuschlagen und den ersten Schaden durch neues Wachsthum zu überwinden" (27,40). Letztlich ist das ein positives Bild. Denn damit äußert der Erzähler seine optimistische Sicht der Dinge: er ist überzeugt, daß früher oder später ,,neues Wachsthum" den Schaden beheben wird. Der Schmerz ist der Übergang zu einer neuen Entwicklungsstufe, insofern ist der vermeintlich widrige Umstand letztlich der Entwicklung förderlich. Damit zeigt diese Stelle, wie Günter Niggl anmerkt, "daß Goethes MetamorphoseBegriff nicht nur von der Theorie der Evolution, sondern ebenso stark von der der Epigenese bestimmt ist"; Niggl: Das Problem der morphologischen Lebensdeutung, S. 292. 32 Plp. 122; AA 1I,582. 33 Plp. 122; AA 1I,582. 34 Plp. 122; AA 11,582. 30

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in der nächsten Epoche zu der ich schreiten müste fallen die Blüten ab, nicht alle Kronen sezen Frucht an und diese selbst, wo sie sich findet, ist unscheinbar, schwillt langsam und die Reife zaudert. Ja wie viele Früchte fallen schon vor der Reife durch mancherley Zufälligkeiten, und der Genuß, den man schon in der Hand zu haben glaubt, wird vereitelt. 35

Nun ist das negative Pflanzenbild nochmals verschärft. Die zuvor genannte Erfahrung, daß Wachstum auch von Boden und Wetter abhängt, läßt noch eine verzögerte Entwicklung als möglich erscheinen, hier aber sind in zwei Sätzen derart viele Entwicklungshindernisse auf mehreren Stufen dargestellt, daß die gereifte Frucht am Baum eher die seltene Ausnahme als die Regel ist. Zunächst entspricht der Protagonist selbst der Pflanze, dann umfaßt der Vergleich die autobiographische Darstellung, und die Überlegungen zur "nächsten Epoche" beurteilen wieder das Darzustellende. Der Verfasser-Gärtner, der sein Autobiographie-Pflänzchen hegt und pflegt, wird nicht notwendig mit einer reichen Ernte belohnt, und auch seine Entwicklung verläuft nicht gradlinig. Erscheinen hier die bereits niedergeschriebenen Teile von Dichtung und Wahrheit als autobiographischer Stoff, so steht der Verfasser zugleich innerhalb und außerhalb des autobiographischen Textes. Auf dieser Metaebene ist nicht immer zu unterscheiden, ob der Erzähler spricht oder der Verfasser (was sich in dieser Untersuchung daran zeigt, daß in diesem Zusammenhang häufiger als sonst von "Goethe" die Rede ist). Goethe hofft, "die gegenwärtige Bemühung" - das ist der dritte und letzte Teil der Autobiographie - möge "ihre Hauptabsicht erreichen und als Einleitung in meine poetischen und andern Produkzionen dienen, wovon ich eine neue Ausgabe vorbereite".36 Damit knüpft er an das Vorwort zum ersten Teil an. Er sieht seine Biographie als Ergänzung der Werkausgabe, als Unterhaltung mit "wohlwollenden Kennern" über die Entstehung seiner Werke. 3? Im Vergleich zum Vorwort zum ersten Teil klingt das nun so, als sei dieses Minimalziel gerade noch erreicht; das spannungsvolle Wechselverhältnis von Individuum und Jahrhundert ist hier nicht mehr erwähnt, das Jahrhundert wirkt allenfalls begrenzend. Im dritten Teil von Dichtung und Wahrheit treten vermehrt Schwierigkeiten in der erzählten Zeit auf, auch zeigen sich, wie der Vorrede zu entnehmen ist, Widrigkeiten zur Zeit der Niederschrift. 38 Mit diesem Vorwort kommt eine zusätzliche Zeitebene hinein: zur erzählten Zeit und der gegenwärtigen Erzählzeit tritt die vergangene Erzählzeit hinzu. Damit wird die Autobiographie zum Stoff

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Plp. 122; AA 11,582. Plp. 122; AA 11,582. Plp. 122; AA 11,582. Mehr dazu im Abschnitt zu den Interpretationen des Dämonischen (l5c).

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ihrer selbst und das ganze Unternehmen nochmals komplexer. 39 Das entspricht auch der beschriebenen Lebensphase. Der Autobiograph blickt nicht nur auf sich in seiner Jugend zurück, sondern auch auf sich als Zurückblickenden. Ein Vergleich des Vorworts zum ersten Teil mit dem zum dritten Teil ergänzt diese Beobachtung: War in ersterem der Zeitpunkt der Geburt des Protagonisten als entscheidend ftir den Lebenslauf genannt (v gl. 26,8), ist es im Vorwort zum dritten Teil der Zeitpunkt der Niederschrift, von dem die "frischere und frohere" oder eben weniger frohe Gestalt der Biographie abhängt. Das Vorwort zum dritten Teil blieb unveröffentlicht. Im gedruckten Text ist diesem Teil ein Motto vorangestellt, ein Konzentrat des neugedeuteten Pflanzen-Gleichnisses: "Es ist daftir gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen" (28,1). Wieder ist es ein Bild botanischer Herkunft. Die Abkehr vom einstigen Entwicklungsideal ist deutlich: Zur Entwicklung gehört mehr als das bloße Fortschreiten unter besseren oder schlechteren Bedingungen. Das muß nicht ausschließlich negativ gemeint sein, das Ende des sichtbaren Wachstums kann zur Entwicklung gehören. 4o Im Herbst 1813 gab Goethe den Plan zur "concentrirten Behandlung,,41 auf, der dritte Teil reichte doch nicht bis 1775. So war der Hinweis auf die nächste Epoche, die erste Weimarer Zeit, nicht mehr passend. 42 Auch wäre damit wohl

Diese Tendenz verstärkt sich im vierten Teil; vgl. Kapitel 14. Benedikt Jeßing schreibt, das Baum-Motto weise "im Bilde des Pflanzenwachstums entweder selbstkritisch oder selbstironisch auf die begrenzte Gültigkeit eben dieses Bildes und die Begrenzung optimistisch-teleologisch aufgefaßter individueller Entwicklung bis zur Vollendung"; Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 324. 41 Tagebuch vom 24. März 1813; WA III,5,26. 42 Das ist der offensichtlichste Grund dafiir, daß das Vorwort nicht in den endgültigen Text eingegangen ist. Goethe schickte es am 24. Juli 1813 an Riemer mit der Bemerkung: ,,Aus diesen Blättern ersehen Sie daß ich gewissermaßen abschließe und ich hoffe Sie geben mir recht." (WA,IV,23,411) Drei Tage später schrieb er: "Ich glaube, Sie werden die Wendung billigen, durch die ich im Vorwort einen Abschnitt andeute und eine Pause vorbereite." (WA,IV,23,417) Siegfried Scheibe ist der Ansicht, daß "nur um diesen Tatbestand mitzuteilen" ein Vorwort zum dritten Teil notwendig wurde - und da dieser "Hauptzweck" nun wegfiel, war auch das Vorwort obsolet; vgl. Scheibe: Das Vorwort zum dritten Teil von Goethes Dichtung und Wahrheit. In: Forschungen und Fortschritte 41 (1967), S. 307-310, hier S. 309. Ob es aus Goethes Sicht die einzige Aufgabe des Vorworts war, den Leser auf das Ende der Biographie hinzuweisen, ist nicht zu ermitteln. Eine Überarbeitung dieses Vorworts wäre zumindest nicht ausgeschlossen gewesen; es hätte auch vor den tatsächlich letzten Teil, den vierten, rücken können. Peter Sprengel macht "Goethes Abneigung gegen laute Programmatik" dafiir verantwortlich, "daß die hier [im Vorwort zum dritten Teil] formulierten Gedanken nicht an anderer Stelle in die Autobiographie aufgenommen wurden"; Sprengel: Einfiihrung in MA 889. Fotis Jannidis erinnert daran, "daß es sich hier um ein verworfenes Vorwort handelt, das eine Konzeption des dritten Bandes einleiten sollte, die Goethe noch einmal verändert hat"; Jannidis, S. 95. Deshalb muß er die darin geäußerten Erfahrungen und Bedenken keineswegs revidieren : "Die Zurücknahme des Vorworts aus äußeren Gründen bedeutet 39

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ein zu resignativer Ton angeschlagen, der dem zwar nicht ganz so frischen und frohen, letztlich aber keineswegs trüben dritten Teil nicht angemessen wäre. Das Vorwort zu diesem Teil hätte zudem mitten in der Sesenheim-Geschichte gestanden und an dieser Stelle, wie bereits erwähnt, wohl zu deutlich auf ihr Ende hingewiesen. 43 Ohne das Vorwort erlebt der Leser langsam mit, daß der Lebenslauf des Protagonisten nicht nur eine Entfaltung auf geraden Wegen ist.

Im elften Buch findet sich ein Hinweis darauf, daß die Entwicklung eines Menschenlebens nicht so eindeutig entelechisch verläuft, wie man das aus dem Vorwort zum ersten Teil herauslesen könnte und wie das eine Übertragung der Metamorphose der Pflanze auf einen menschlichen Lebenslauf nahe legt. Der Erzähler stellt fest, einen "reinen, ruhigen, stäten Fortschritt des Individuums" könnten nur wenige Biographien darstellen. "Unser Leben ist, wie das Ganze, in dem wir enthalten sind, auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Nothwendigkeit zusammengesetzt" (28,50). Aber einen sinnvollen Zusammenhang scheint es zu geben, wie sonst könnte Goethe ,,[u]nser Wollen" ftir ein "Vorausverkünden dessen [halten], was wir unter allen Umständen thun werden" wenngleich uns diese Umstände "auf ihre eigene Weise" ergreifen (28,50). Mit diesen allgemeinen Aussagen weist der Erzähler auf eine Schwierigkeit hin beim Verstehen des eigenen Lebens. Bis dahin herrschte im Leben des Protagonisten eine Art Natur-Notwendigkeit im positiven Sinne, nun erwähnt der Erzähler eine Notwendigkeit, die die Freiheit einschränkt. Weshalb das so ist, sagt er nicht. Vielmehr macht er dem Leser klar, daß diese Frage zu stellen nicht sinnvoll ist: "Das Was liegt in uns, das Wie hängt selten von uns ab, nach dem Warum dürfen wir nicht fragen, und deßhalb verweis't man uns mit Recht aufs Quia" (28,50). Diese Erfahrung zeugt von einer Korrektur der allzu optimistischen Auffassung, ein Leben sei versteh- und darstellbar. Das Was ist gegeben und nicht zu ändern, das Wie meistens auch nicht, und die Frage nach dem Warum wird abgewiesen, bevor sie gestellt ist, vielleicht, weil eine Antwort nicht zu erwarten ist. Bleibt das Weil, die Ursachen und Wirkungen. Das gilt auch ftir den, der sein eigenes Leben zu verstehen sucht. Das Quia ist allerdings keine Frage, es gehört zur erklärenden Antwort, und daher klingt das so, als müsse man sich mit Antworten zufriedengeben anstatt Fragen zu stellen. Diese Gedanken macht sich der Erzähler, als er den Alltag in Straßburg schildert, die Promotion und die Zukunftspläne, die Entscheidung gegen eine Karriere in Frankreich, und über all dem steht auch die Frage, ob und wie es mit Friederike weitergehen soll. Anläßlich des Rückblicks auf diese also kein Dementi seiner Gedanken." Niggl: Das Problem der morphologischen Lebensdeutung, S. 296, Anm. 43 Vgl. Kapitel 6. Eine Unterbrechung der Sesenheimer Idylle scheint auch Siegfried Scheibe undenkbar; vgl. Scheibe: Das Vorwort zum dritten Teil von Goethes Dichtung und Wahrheit, S. 307.

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privat wie beruflich folgenreichen Entscheidungen erkennt oder ahnt der Erzähler, daß er letztlich nicht ergründen wird, wie das Leben "auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Nothwendigkeit zusammengesetzt" ist (28,50). Oder den Verfasser plagen Schuldgefühle gegenüber Friederike, und er stellt zur Selbstrechtfertigung seine Entscheidungen als nicht frei dar. 44 Die Deutung des eigenen Lebens wird im letzten Teil von Dichtung und Wahrheit schwieriger, und damit ändert sich auch die Erzählweise. 45 Das Vorwort zum vierten Teil ist mehr als siebzehn Jahre nach dem zum dritten Teil entstanden. Darin wendet sich wieder der Verfasser an den Leser: "Bey Behandlung einer mannigfaltig vorschreitenden Lebensgeschichte, wie die ist die wir zu unternehmen gewagt haben, ergeben sich [Umstände] die uns einigermaßen hinderlich in den Weg treten" (AA 1,551). In diesem ersten Satz des Vorworts ist nicht ganz eindeutig, ob von Hindernissen im beschriebenen Leben oder im Schreiben über das Leben die Rede ist. In der Folge scheint es so, daß eher Schwierigkeiten des Verfassers als solche des Protagonisten gemeint sind: So kommen wir, um dergleichen faßlich und lesbar zu machen, in den Fall, einiges was in der Zeit sich verschlingt, nothwendig zu trennen, anderes was nur durch eine Folge begriffen werden kann in sich selbst zusammenzuziehn und so das Ganze in Theile zusammenzustellen, die man sinnig überschauend beurtheilen und sich davon manches zueignen mag (AA 1,551).

Mit "dergleichen" sind wohl die Lebensgeschichte und auch die hinderlichen Umstände im Leben des Protagonisten gemeint, und so macht der Autobiograph zwischen den Zeilen auf seine Doppelrolle als einst Erlebender und nun Ordnender aufmerksam. Es ist seine Aufgabe, Erlebnisse "faßlich und lesbar" zu machen, einiges zu sondern, anderes zusammenzufügen. Im gelebten Leben ist vieles weder faßlich noch lesbar. Auch diese Erfahrung versucht Goethe in einem Bild anschaulich zu machen.

c) Weben und weben lassen Am Ende von Dichtung und Wahrheit, mitten in den Ausführungen zum Dämonischen und zur Figur des Egmont, vergleicht Goethe das Verhältnis von der "moralischen Weltordnung" und der "durchkreuzende[n] Macht" des Dämonischen vorsichtig mit Zettel und Einschlag (AA 1,641). Es ist keine direkte Übertragung, der Erzähler sagt lediglich, daß "man" die moralische Weltordnung und das Dämonische für Zettel und Einschlag "könnte gelten lassen" (AA

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Vgl. Kapitel 6. Vgl. Kapitel 14.

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1,641).46 Das Webegleichnis, das er in der Nicht-Beschreibung des Dämonischen erwähnt, scheint ihm nun angemessener als der Vergleich mit der geregelten Metamorphose der Pflanze. Zum innerweltlichen Verhältnis von Individuum und Jahrhundert kommt ein ungeheures Drittes, ein Durchkreuzendes hinzu. Auf der einen Seite steht nun (als Zettel) das Wechselverhältnis von Ich und Welt, was der Erzähler als "moralische Weltordnung" bezeichnet, auf der anderen Seite (als Einschlag) das Dämonische. In dieser "hypotaktisch gegliederte[n] Doppelpolarität von Ich, Zeit und dämonischer Gegenmacht,,47 hat sowohl das Verhältnis von Individuum und Jahrhundert, wie es im Vorwort zum ersten Teil als Thema der Autobiographie genannt ist, seinen Platz als auch die Erfahrung des Unerwarteten, schwer Integrierbaren. Die moralische Weltordnung allein ließe sich vielleicht im Bild des Pflanzenwachstums veranschaulichen, zum Ganzen gehören die durchkreuzenden Kräfte. Die Wechselwirkungen von Ich und Welt sind in dieser Konzeption keineswegs uninteressant geworden, sie stehen in einem größeren Zusammenhang. Das Gewebe der Wirklichkeit besteht aus sich durchkreuzenden Fäden und hätte ohne Einschlag keinen Halt. Zunächst erscheint das Dämonische als Unfaßbares, das sich in unauflösbaren Widersprüchen manifestiert und zerstörend wirken kann. Das optimistische Bild von der Metamorphose der Pflanze wird dem umfassenderen Webegleichnis untergeordnet. Das bedeutet nicht, daß das Bild von Zettel und Einschlag ein ausschließlich negatives ist, das die Resignation des begrenzten Menschen und die Schwierigkeiten des Autobiographen zum Ausdruck bringt. Das neue Gleichnis weist daraufhin, daß möglicherweise einst ein Gewebe entstehen wird, also wieder eine Ordnung. Darin ist die moralische Weltordnung ebenso unverzichtbar wie das Dämonische. Das Webbild entspricht nicht nur dem Leben, sondern auch der Autobiographie. 48 Die Herkunft des Wortes Text von textura, Gewebe, trägt diese Doppelbedeutung in sich. Gerhard Kaiser erinnert an Lukrez und Ovid, die die Dichtung als Gewebe deuten. Lukrez geht noch einen Schritt weiter, er versteht in De rerum natura die "Welt als Gewebe [00']' dessen Analogie das Gewebe des dichterischen Texts ist. ,,49 Im unveröffentlichten Vorwort zum dritten Teil 46 Erich Trunz macht auf die Zurückhaltung des Verfassers aufmerksam: "Es genügt ihm, diese Begriffe zu geben; er vermeidet es, sie unmittelbar auf das eigene Leben anzuwenden"; Trunz: Anmerkungen in HA X,645. 47 Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert, S. 164. 48 Daß der Name der Mutter Goethes - Textor - gar zu gut ins Webbild paßt, ist naheliegend, doch jede Interpretation dieser Koinzidenz ginge zu weit. Gabrie\e Blod versucht es dennoch; vgl. Blod, S. 98f. 49 Kaiser, S. 26. Kaisers Ausfiihrungen beziehen sich zwar nicht auf Dichtung und Wahrheit, sie tragen dennoch zum Verständnis des Webbildes in der Autobiographie bei: "Schon bei Lukrez übrigens schließt das Bild vom Gewebe das Bewußtsein fiir den Sachverhalt ein, daß es ein Kontinuum aus Diskontinuitäten ist. Die rechtwinklige Verschlingung von Fäden (Kette und Schuß) zur Fläche impliziert Zwischenräume, wenn

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vergleicht der Erzähler-Verfasser zunächst den Protagonisten mit der Pflanze, später die Autobiographie. Auch das Bild des Webens könnte sowohl das erlebte als auch das erzählte Leben umfassen; doch Goethe beläßt es bei der Andeutung. Der Verfasser wechselt nicht nur das Gleichnis, auch sein Umgang mit dem Gleichnis wandelt sich. Nur beiläufig erwähnt der Erzähler, daß man moralische Weltordnung und Dämonisches für Zettel und Einschlag "könnte gelten lassen" (AA 1,641), und im Vorwort zum dritten Teil steht er der einstigen Übertragung der Gesetze des Pflanzenwachstums auf das eigene Leben und die Lebensgeschichte kritisch gegenüber. Aber auch mit "Übertragung" ist fast schon zu viel gesagt, schließlich deutet nichts darauf hin, daß der Verfasser irgendwe\che Schemata erfüllen wollte. Er ist vorsichtiger geworden, vielleicht scheint ihm sein Leben zunehmend unvergleichbar und jede Analogie unangemessen. Es scheint, als gewinne er Klarheit über seine einstigen Annahmen in dem Moment, als sie ihm problematisch werden. Die Abkehr von der zuversichtlichen, an den Gesetzen der Metamorphose der Pflanze orientierten Lebensdeutung und der zurückhaltende Vergleich mit Einschlag und Zettel sind die Vorbereitung fürs Finale, in dem nicht nur der Erzähler, sondern auch der Protagonist sich bildhaft ausdrückt.

auch, bei dichter Webart, unsichtbare: auch sie bestimmen die Gewebestruktur mit, und darauf kommt es bei der Gewebemetapher an, denn die Welt ist nach Lukrez eine Anordnung von Atomen, die als solche von den Nachbaratomen abgesetzt sind. Das Gewebe wird also auch durch Lücken und innere Grenzen aufgebaut. Bei Goethe wird, erstmals in der deutschen Literatur, dieses Kompositionsprinzip des Texts konzeptionell reflektiert und in allen seinen Möglichkeiten entfaltet. Lücken, Schnitte, Abbrüche, Verwerfungen erweisen sich dabei nicht als formzerstörend, sondern formbestimmend." (ebd. S. 33) Kaiser erwähnt den zweiten Teil des Faust, die Wahlverwandtschaften und die Wanderjahre - seine Beobachtung trifft auch auf den vierten Teil von Dichtung und Wahrheit zu. Vgl. hierzu auch Hans Staub: Der Weber und sein Text. In: Gerhard Buhr u.a. (Hrsg.): Das Subjekt der Dichtung. Festschrift für Gerhard Kaiser. Würzburg 1990, S. 533-553. Staub zeigt, wie Goethe in den Wanderjahren "textile Thematik und narrative Textur miteinander in Beziehung" setzt (ebd. S. 542). Er erwähnt, daß die technische Web-Beschreibung in den Wanderjahren "fast Wort für Wort einem von Heinrich Meyer 1810 verfaßten Bericht über die textile Heimarbeit am Zürichsee" entstammt (ebd.). Goethe schreibt an Meyer: "Ich habe diese Tage nach Ihrer Anleitung die Baumwolle gut studiert, und suche nun einen hinlänglichen realen Zettel zu einem poetischen Einschlag vorzubereiten." An Johann Heinrich Meyer, 3. Mai 1810; WA IV,21,272. Möglicherweise hat der Bericht auch auf Dichtung und Wahrheit gewirkt. Zwei Wochen nach diesem Brief notiert Goethe im Tagebuch Allgemeines zur Biographie, wenige Tage später legt er ein umfassendes Schema an, das er in der Folgezeit ergänzt (das sogenannte Karlsbader Schema; vgl. Plp. 8; AA II,478-497). Auch in seinem letzten Brief erwähnt Goethe das Webbild: ,,zettel und Einschlag, ein Gleichniß das ich so gerne brauche"; an Wi1helm von Humboldt, 17. März 1832; WA IV,49,282.

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d) Selbstzitat und Sonnenpferde Im Gewebe des Textes wie des Lebens ist es immerhin möglich, daß aus den sich durchkreuzenden Fäden letztlich ein Gewebe, eine Ordnung entsteht. Das Wagen lenker-Bild ganz am Ende der Autobiographie deutet ins Ungewisse: es scheint weder Gesetze noch die Aussicht auf eine Ordnung zu geben; der Lenker hält die Zügel, doch es ist, als ob unsichtbare Geister die Sonnenpferde vom Wege abzubringen versuchten. Der Wagen des Schicksals ist für die Kraft dieser Pferde zu leicht, der Lenker ist sturzgefährdet und kann allenfalls das Schlimmste verhindern. Der Erzähler läßt den Protagonisten hinter die selbstgeschaffene literarische Figur fliehen und ihn "leidenschaftlich und begeistert die Worte Egmonts" ausrufen (AA 1,649). Auch wenn es für das Verständnis des autobiographischen Textes nicht zwingend notwendig ist, das Drama mit einzubeziehen, dem das Schlußzitat entnommen ist, ist es gut zu wissen, aus welchem Kontext der Ausruf stammt. Der Egmont im Drama pocht unbändig auf seine eigenen Entscheidungen, er fühlt sich frei und kraftvoll und verachtet jedes Sicherheitsbedürfnis. Das wird um so deutlicher im Gespräch mit dem Sekretär, der das Gegenteil des Temperaments Egmonts verkörpert. In einem Brief hatte Graf Oliva seine Sorge über Egmont geäußert, der fühlt sich bevormundet und mißverstanden: "ich soll leben wie ich nicht leben mag. Daß ich fröhlich bin, die Sachen leicht nehme, rasch lebe, das ist mein Glück; und ich vertausch' es nicht gegen die Sicherheit eines Todtengewölbes.,,50 Egmont lebt im Hier und Jetzt,51 und nachdem er dem bedächtigen Sekretär die wilde Wagen-Vision von den Sonnenpferden der Zeit entgegengeschleudert hat, ruft er aus: "Ich stehe hoch, und kann und muß noch höher steigen; ich fühle mir Hoffnung, Muth und Kraft. Noch hab' ich meines Wachsthums Gipfel nicht erreicht; und steh' ich droben einst, so will ich fest, nicht ängstlich stehn.,,52 Der Protagonist von Dichtung und Wahrheit läßt sich nicht in die Figur des Egmont pressen,53 und die Fortsetzung des Egmont ist nicht die ungeschriebene Fortsetzung der Autobiographie. 54 Möglicherweise stellt der Erzähler mit dem Selbstzitat den Protagonisten beim Entschluß zur Abfahrt nach Weimar mutiger dar, als ihn der Verfasser in Erinne50 Goethe: Egmont; WA 1,8,218. 51 "Scheint mir die Sonne heut, um das zu überlegen was gestern war? und um zu ra-

then, zu verbinden, was nicht zu errathen, nicht zu verbinden ist, das Schicksal eines kommenden Tages?" Goethe: Egmont; WA 1,8,220. 52 Goethe: Egmont; WA 1,8,221. 53 Zumal dieser in derselben Szene sagt: "unter vielem Verhaßten ist mir das Schreiben das Verhaßteste"; Goethe: Egmont; WA 1,8,217. 54 Eine interessante Parallele entdeckt Gabriele Blod: "Das Drama klingt in einer Siegessymphonie aus und fUhrt Poesie und Musik zusammen wie in der [... ] Schlussszene der Lili-Geschichte." Blod, S. 298.

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

rung hat. Vielleicht wäre er gerne so ungestüm und furchtlos gewesen wie Egmo nt. 55 Im Vorwort zum dritten Teil erscheint in der "nächsten Epoche", d. i. in der ersten Weimarer Zeit, des "Wachsthums Gipfel" unerreichbar, die Entwicklungshindernisse überwiegen. Anders als in den erwähnten Überzeugungen des Egmont aus dem Drama ist dieses Wachstum ungewiß und vielfältig eingeschränkt. 56 Der Protagonist versucht nun, sein Leben selbst zu lenken. Er hat sich gegen den Plan des Vaters und gegen den Plan der Delph entschieden; und so bricht er auf, ins Ungewisse zwar, aber er hält die Zügel selbst in der Hand. An dieser entscheidenden Stelle des Lebens und der Autobiographie läßt der Verfasser den Protagonisten aus einem selbstverfaßten Stück zitieren. Die anderen eingeschalteten Zitate im vierten Teil sind als Zitate des Erzählers kenntlich gemacht, nun zitiert der Held der Autobiographie den Helden eines selbstgeschriebenen Dramas. Der Verfasser der Autobiographie läßt den jungen Dichter dem eigenen Text, den er eigenwillig nach den Quellen verfaßt hat, eine neue Bedeutung geben. 57 Wenn mit dem Egmont-Zitat auch der Verfasser spricht, so ist der Hinweis, daß er sich nur kaum erinnert, woher er kam, auch auf die Autobiographie bezogen und relativiert diese rückwirkend. Das macht die vorangegangene Lebensgeschichte nicht unwahr oder weniger glaubhaft, doch es erschüttert ein weiteres Mal die Gewißheit, daß hier ein all- oder zumindest vielwissender Erzähler sein Leben ausbreitet und zu deuten versteht. Beim Webbild ist der Erzähler zurückhaltender als einst beim Pflanzenbild, und beim Bild von den Sonnenpferden läßt er den Protagonisten hinter eine selbstgeschaffene literarische Figur treten. In den wechselnden Versuchen, den Lauf des Lebens in ein Bild zu fassen, wird auch die DarsteIlbarkeit des Lebens zum Thema der Autobiographie. Der Verfasser ist auf der Suche nach einem angemessenen Vergleich. Dirk Kemper fragt, "wie sich das am Ende verwandte Schema [von Einschlag und Zettel] zu dem im Vorwort entwickelten narrativen Konzept verhält".58 Doch weder ist die vorsichtig genannte "Hauptaufgabe der Biographie" aus dem Vorwort ein Konzept, noch das fast beiläufig genannte In diese Richtung geht die Interpretation Walter Muschgs, S. 33. Auch Egmont sieht das anders, nachdem er im Gefängnis sein Todesurteil vernommen hat: "Es glaubt der Mensch sein Leben zu leiten, sich selbst zu führen; und sein Innerstes wird unwiderstehlich nach seinem Schicksale gezogen." Und er versucht, diese Gedanken beiseite zu schieben. Goethe: Egmont; WA 1,8,301. 57 Robert Gould weist auf das so entstehende Textgeflecht hin: "This taking of a text, giving it a new meaning and fimction, removing the usual narrator from the scene through the use of direct speech, and making the young man speak in his own right, all this reveals the extremely complex relationship first between text and text and text, i.e. source, drama, and autobiography, and then between autobiographical text and experience." Robert Gould: The functions of the non-literary quotations in Part 4 of Dichtung und Wahrheit. In: Gerrnan Life and Letters 44 (1990/1991), S. 291-305, hier S. 301. 58 Kemper, S. 454. 55 56

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Bild vom Gewebe ein Schema. Bei den Gleichnissen handelt es sich nicht um Konstrukte, nicht um theoretische Ideale, die der Verfasser zu erfüllen sich bemüht. Kemper erwähnt auch "Goethes methodisches Programm für seine Autobiographie", dieses bedeute "gegenüber der Tradition der Gattung eine außerordentliche Komplexitätserhöhung, die durch ein narratives Schema überhaupt nicht zu bedienen wäre".59 Von einem methodischen Programm zu sprechen, ist im Falle von Dichtung und Wahrheit unangemessen. Wenn es ein solches gegeben hätte, wäre es wohl in den vielen minutiös ausgearbeiteten Schemata notiert worden. Es ist wenig wahrscheinlich, daß Goethe von Anfang an wußte, daß er den Lauf seines Lebens mit wechselnden Bildern darstellen und vor den Augen des Lesers von diesen Gleichnissen wieder abkommen würde. Kemper hält es für eine "produktionstheoretische Strategie", nicht nur eine Idee zugrunde zu legen, dies verwirkliche Goethe "durch einen Polyperspektivismus narrativer Schemata".6o Kemper hat recht, wenn er sagt, es gebe "nicht den einen Schlüssel und das eine Konstruktionsprinzip, das dem Gesamtwerk als zu entwickelnder Ideengehalt zugrunde läge.,,61 Doch es entsteht bei Kemper der Eindruck, als habe sich Goethe eine Reihe von Konstruktionsprinzipien ausersehen, nach denen er seine Autobiographie dann zusammengebaut hat. 62 Wenn Goethe tatsächlich eine Reihe theoretischer Konzepte verwirklicht haben sollte, dann hat er das in den biographischen Schemata und den Briefen zur Entstehungszeit gekonnt verborgen. e) Wie andere sich das Rätsel ihrer Tage zurechtlegen

Die Bemühungen des Verfassers, seinen Lebenslauf zu deuten und seine Autobiographie entsprechend zu ordnen und zu gestalten, zeigen sich nicht nur in den Gleichnissen. Bemerkenswert ist auch, wie er in Dichtung und Wahrheit Deutungsmodelle anderer beschreibt, ihnen zustimmt oder sie als Kontrast zur eigenen Sicht der Dinge anführt. Drei Beispiele seien herausgegriffen: Fräulein von Klettenberg, Demoiselle Delph und Jung-Stilling. Sie stehen in der Autobiographie nicht nur für verschiedene Weisen der Weitsicht, auch an ihrem Verhältnis zum Protagonisten zeigt sich, was der Verfasser von ihren Auffassungen hält. Und das wiederum legt Schlüsse zur Interpretation der Autobiographie nahe, die ja auch eine Deutung des Lebens ist. Ebd. S. 415. Ebd. S. 416. 61 Ebd. S. 416. 62 Vorsichtiger und damit dem Text eher angemessen äußert sich Bemhard Kuhn: ,,Poetry and Truth eschews any simple attempt at narrative recuperation"; Bemhard Helmut Kuhn: Natural history and the history of the self: autobiography and science in Rousseau and Goethe. Princeton 2002, S. 166. S9

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

Fräulein von Klettenberg wird vorgestellt als eine "gebildete und herzliche Gottesverehrerin[ ... ]", kurz darauf ist ihr "herzliches natürliches Betragen" (27,199) erwähnt. Daß ihr "sehr netter Anzug [... ] an die Kleidung Herrnhutischer Frauen" (27,199) erinnert, rückt sie in die Nähe dieser Ausprägung des Pietismus, aber es ist nicht mehr als eine Andeutung; damit ist die Eigenwilligkeit der Klettenberg hervorgehoben. Ihr Interesse an den "religiosen Gesinnungen" (27,200) und die Gespräche darüber mit dem Protagonisten verknüpfen das Portrait mit dem ebenfalls im achten Buch theoretisch erwähnten Freundschafts-Ideal, das nun erfüllt erscheint. Wenige Seiten zuvor äußert sich der Erzähler allgemein zu Freundschaften und dazu, was Freunde letztlich verbindet: "es sind die religiosen Gesinnungen, die Angelegenheiten des Herzens, die auf das Unvergängliche Bezug haben, und welche sowohl den Grund einer Freundschaft befestigen als ihren Gipfel zieren" (27,192). Und da der Protagonist solche Angelegenheiten des Herzens mit Fräulein von Klettenberg munter diskutiert, handelt es sich, wie der Leser schließen kann, um eine vollendete Freundschaft, ein besonderes Vertrauensverhältnis. Der Erzähler präzisiert die anziehende Religiosität der Klettenberg und ihre Ausgeglichenheit, indem er sie zwischen zwei Extreme auf dem "gleichen Weg zum Heil" stellt: In ihrer eigenwilligen Frömmigkeit sei sie weder "zu streng, zu trocken, zu gelehrt", noch begnüge sie sich, wie so viele andere Frauen, "mit der Entwickelung ihres Gefühls" (27,200). Sie ist gebildet und herzlich zugleich (v gl. 27,199), und sie läßt den Protagonisten teilhaben an ihren Interessen. Es überrascht nicht, daß ihr Hamann "eine willkommene Erscheinung" war, der "auch noch etwas Geheimes, Unerforschliches gelten ließ" und darum für einen "abstrusen Schwärmer" gehalten wurde (28,106). Das Portrait der Freundin ist auch eine Möglichkeit, das Bild des Protagonisten zu ergänzen. Sie findet in ihm "ein junges, lebhaftes, auch nach einem unbekannten Heile strebendes Wesen" (27,201). Damit bringt der Erzähler eine Fremdperspektive in die Autobiographie; und auf der Ebene des Protagonisten wird durch die Begegnung mit der Klettenberg eine Facette seines Wesens angesprochen, die ihm ohne sie vielleicht verborgen geblieben wäre. Sie deutet seine Unruhe und Ungeduld, sein "Suchen, Forschen, Sinnen und Schwanken" auf ihre Weise: er habe "keinen versöhnten Gott" (27,201). Der Protagonist hingegen glaubt, mit seinem "Gott ganz gut zu stehen", allerdings habe der ihm zu wenig geholfen. Über diesen Dünkel streitet er mit der Klettenberg immer wieder, es sind lebhafte Auseinandersetzungen, die stets freundlich enden. Sie erscheint gelassen und sympathisch, sie weiß den Jüngling einzuschätzen und mit ihm zu diskutieren, ohne ihn einzuengen. Immer wieder kehrt er von "so vielfachen Zerstreuungen" zu seiner "edlen Freundin" zurück, denn ihre Gegenwart vermag seine "stürmischen, nach allen Seiten hinstrebenden Neigungen und Leidenschaften, wenigstens für einen Augenblick" zu beschwichtigen (28,301). Ihr Urteil war geschätzt: Wenn sie "einen heitem ja seligen Blick über die irdischen Dinge warf, so entwirrte sich vor ihr gar leicht was uns andere Erden-

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kinder verwirrte, und sie wußte den rechten Weg gewöhnlich anzudeuten, eben weil sie in's Labyrinth von oben herabsah und nicht selbst darin befangen war" (28,325). Das erinnert an die Wirkung der "wahren Poesie", wie sie in den Passagen zum Werther beschrieben ist,63 und auch an die Perspektive des Autobiographen. Der allerdings hat diesen Überblick, wenn überhaupt, im nachhinein. Und der Held der Geschichte, der die Dinge vom Innern des Labyrinths aus sieht oder eben nicht sehen kann, bedarf einer Beraterin mit Überblick. Erwähnt ist auch die Art der Klettenberg, mit Widrigkeiten umzugehen. Sie "betrachtete ihre Krankheit als einen nothwendigen Bestandtheil ihres vorübergehenden irdischen Seins; sie litt mit der größten Geduld" (27,199), ja ihre Heiterkeit nahm mit der Krankheit zu (vgl. 28,301). Ihr klarer Blick auf die Dinge zeigt sich auch darin, daß sie - anders als der Vater - das Vorhaben des Protagonisten befürwortet, sich mit dem jungen Herzog in Mainz zu treffen, und das war, wie Verfasser und Leser wissen, folgenreich. Als er von dieser entscheidenden Begegnung zurückkehrt, erhält er die Nachricht vom Tod der Klettenberg. Nun hat er keine solche kluge Ratgeberin. Die Unentschlossenheit und Zerrissenheit des Protagonisten im vierten Teil weisen auch auf die Lücke hin, die die Klettenberg hinterlassen hat. Eine Beraterin anderer Art wird ihm von Lilis Familie zur Seite gestellt: Demoiselle Delph, ein Gegenbild zu Fräulein von Klettenberg. 64 Sie vermittelt in den unterschiedlichsten Angelegenheiten, kommt dem Protagonisten in seinem "wunderlichen Zustande" (AA 1,581) zu Hilfe und arrangiert schließlich die Verlobung mit Lili. Die kurze Vorstellung der Delph spricht für sich: "es war eine eigne Person, ernsten männlichen Ansehns und gleichen derben hastigen Schritts vor sich hin. Sie hatte sich in die Welt besonders zu fügen Ursache gehabt und kannte sie daher wenigstens in gewissem Sinne" (AA 1,581). Der Erzähler ist bemüht, sie nicht abwertend zu beschreiben: man "konnte sie nicht intriguant nennen" (AA 1,581), und im zwanzigsten Buch heißt es, sie "war eine von den Personen, die ohne gerade intriguant zu seyn, immer ein Geschäft haben, andere beschäftigen und bald diese bald jene Zwecke durchführen wollen" (AA 1,647). Daß sie zweimal als nicht intrigant charakterisiert ist, heißt nicht, daß sie intrigant war, aber es ist auffallig, daß der Erzähler diese Einschätzung für naheliegend hält und sie dem Leser damit erst nahelegt. Nach dem Abschied von Lili und von Frankfurt freut sich der Protagonist, in Heidelberg Demoiselle Delph zu treffen; von ihr erhofft sich der verwirrte Jüngling ein entwirrendes Urteil über die Lage der Dinge und Hilfe bei schwie-

63 "Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspective vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen" (28,213f.). 64 Diesen Gegensatz hebt Trunz besonders hervor; vgl. Anmerkungen in HA X,604.

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

rigen Entscheidungen. Wider Erwarten hält die Delph die Trennung von Lili für sinnvoll, und sie ist überzeugt, "man müsse sich in das Unvermeidliche ergeben, das Unmögliche aus dem Sinne schlagen, und sich nach einem neuen Lebensinteresse umsehn" (AA 1,647). Sie hat auch schon eins im Auge: an den Mannheimer Hof hätte sie den Protagonisten nach seiner Italienreise gerne vermittelt. Daß sie vor nicht allzu langer Zeit die Verlobung befördert hat und nun schon wieder ein anderes Ziel für den Ratsuchenden verfolgt, ergänzt die Einschätzung, sie wolle "bald diese bald jene Zwecke durchführen" (AA 1,647). Mit ihrer PIanmäßigkeit wird sie dem planlosen Protagonisten nicht gerecht. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die vorangehenden Ausftihrungen zum Dämonischen. Sie leiten über zu den "seltsame[n] Ereignisse[n]", die "wenigstens mit einem dämonischen Schein bekleidet" (AA 1,642) waren und zur Abreise nach Weimar geführt haben. In dieser Sphäre des Seltsamen wirkt die plan volle Delph deplaziert. Daß der Protagonist schließlich gegen alle Pläne ins Ungewisse aufbricht, weiß er mit Argumenten nicht zu erklären, er ruft der Beraterin und sich ein Zitat aus einem eigenen Drama zu. Das Bild des Wagenlenkers, dessen Einfluß auf die gefährliche Fahrt begrenzt ist, der kaum weiß, woher er kommt, und noch weniger weiß, wohin es geht, ist der deutliche Gegensatz zu den gut gemeinten Vermittlungen der Demoiselle Delph. In den Wirren um die private wie die berufliche Zukunft bleibt dem Protagonisten letztlich nichts anderes, als die Zügel selbst in die Hand zu nehmen und sich gegen den Plan der Delph und gegen den des Vaters durchzusetzen. Das ist eine Abkehr vom allzu Planmäßigen und erinnert entfernt an die Zuversicht der Klettenberg, und letztlich schließt die Entscheidung für Weimar an das Ende des dritten Teils an, als die Freundin zu einem bedeutsamen Zeitpunkt, kurz vor ihrem Tode, den Protagonisten ermuntert hat, sich mit dem Herzog zu treffen. Goethe stellt die beiden Ratgeberinnen Klettenberg und Delph nicht einander gegenüber. Sie stehen in der Autobiographie an verschiedenen Stellen und für sehr unterschiedliche Weisen, mit dem Leben umzugehen, Entscheidungen zu treffen oder anderen dabei zu helfen. Wechselnde "Zwecke" will die Delph durchführen, ein übergeordnetes Ziel hat sie offenbar nicht. Sie macht Pläne und erftillt sie auch, Entscheidungen, die sie für wichtig hält, trifft sie selbst und überläßt sie nicht dem Zufall. Sie wird vorgestellt als eine Person "ernsten männlichen Ansehns" (AA 1,581), die Religiosität der Klettenberg ist als typisch weibliche erwähnt (vgl. 27,268). In der Beschreibung der Delph fallen die Adjektive "derb" und "hastig" auf (vgl. AA 1,581), als "zart gebaut" ist die Klettenberg dargestellt (27,199), zudem als sanft, heiter und edel. Zählen im Austausch mit ihr die "religiosen Gesinnungen" zu den Gesprächsthemen (27,200), will der Protagonist mit der Demoiselle Delph die Vergangenheit "durchschwätzen" (AA 1,647). Die Klettenberg hat ihn bestärkt, sich mit earl August zu treffen, die Delph versuchte die Abreise nach Weimar zu verhindern. Das Bild der "edlen Freundin" (28,301) Klettenberg in Dichtung und Wahrheit ist rundum positiv. Sie wirkt auf den Jüngling ausgleichend und verständnis-

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voll; ihre Herzlichkeit, Hingabe und Zuversicht scheinen ihm und seinen Stärken wie Schwächen angemessen. Das Bild der Demoiselle Delph ist kein negatives, der Erzähler spricht von der "werthen geduldigen und nachsichtigen Freundin" (AA 1,647). Auch sie meint es gut mit dem Protagonisten, und dennoch wirkt das so, als verstünde sie nicht viel von ihm. Die ,,Angelegenheiten des Herzens, die auf das Unvergängliche Bezug haben" (27,192) und die im achten Buch als Fundament und Krönung wahrer Freundschaft dargestellt sind, scheinen ihre Sache nicht zu sein. Die herzliche und kluge Art der Klettenberg ist in der Autobiographie auch das Beispiel einer eigenwilligen Frömmigkeit außerhalb aller kirchlichen Begrenzungen und auch außerhalb der von der Kirche abgesonderten Bewegungen. Die Freundin ist geistig unabhängig und letztlich gewiß, daß sie ihr Leben nicht selbst in Händen hat, das wird auch aus ihrem Umgang mit der Krankheit ersichtlich. Eine weniger entspannte Weise, den Plan Gottes im eigenen Leben zu entdecken, begegnet im Portrait des Freundes Jung-Stilling. Äußerlich erscheint er etwas skurril, das zeigt sich an seiner "veralteten Kleidungsart" und der "Haarbeutel-PeITÜcke" (27,250). Er ist beschrieben als ein gefUhlvoller Mensch mit einem "Enthusiasmus fUr das Gute, Wahre, Rechte" (27,251) und einem unerschütterlichen Glauben pietistischer Prägung. Er hatte, wie es im vierzehnten Buch heißt, "den Glauben an Gott und die Treue gegen den Menschen immer zu seinem köstlichen Geleit" (28,292). Diese Seite Jungs beschreibt der Erzähler wohlwollend und verständnisvoll, manches erinnert an die Zuversicht der Klettenberg. Doch Jungs "unverwüstlicher Glaube an Gott und an eine unmittelbar von daher fließende Hülfe, die sich in einer ununterbrochenen Vorsorge und in einer unfehlbaren Rettung aus aller Noth, von jedem Übel augenscheinlich bestätigte" (27,251), erscheinen als eine gar zu geschlossene Vorstellung von Gottes direktem Einwirken. Diese Unmittelbarkeit, die "ununterbrochene Vorsorge", die "unfehlbare Rettung" in ausnahmslos allen Schwierigkeiten und zudem die sichtbare Bestätigung dieses Glaubens wirken in dieser Darstellung allzu durchschaubar. Der Protagonist kannte diese Sinnesweise, er schätzte diese "Natürlichkeit und Naivetät", wenn er auch nicht alle Auffassungen teilte (27,253). Über einen doppelten Umweg klingen kritische Töne an. Der Erzähler läßt nicht einen andern die Kritik äußern, sondern erwähnt nur, daß sich Salzmann "schonend" gegen Jung betrug. Die "vernünftigen, oder vielmehr verständigen Christen", wie Salzmann einer war, gaben sich nicht gern mit Empfindungen ab, "die sie leicht in's Trübe, und Schwärmerei, die sie bald in's Dunkle hätten fUhren können" (27,253f.). Der Hang zum Schwärmerischen ist somit angedeutet, wenn auch auf den ersten Blick nicht gewertet. Jung wird dargestellt als "ein so gutmüthiger wohlgesinnter gottesfUrchtiger Mann" (AA 1,563), der, nachdem ihm eine Augenoperation mißlungen war, den Vorfall "als Strafe bisheriger Fehler" (AA 1,565) ansah. Er zählt zu jenen, die "zufällig angeregt, [ ... ] große Wichtig-

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keit auf ihre empirische Laufbahn" legen, "man hält alles für übernatürliche Bestimmung, mit der Ueberzeugung, daß Gott unmittelbar einwirke". Dies könne, wie der Erzähler hinzufügt, die menschliche "Unentschlossenheit selbst zu handeln" fördern; durch eine solche Lebensweise verkümmere "ein aufmerksames männliches Betragen", und er hält "die Art in einen solchen Zustand zu gelangen gleichfalls [für] gefahrlieh" (AA 1,564). Diese Anmerkungen sind allgemein gehalten. Der Erzähler bemüht sich sichtlich, den Freund Jung, den der Protagonist stets vor Spöttern in Schutz genommen hat, auch in der Autobiographie nicht bloßzustellen. 65 Wenn er erwähnt, daß dieser Lebensweise oft "eine dunkle Geistesform zum Grunde" (AA 1,564) liege, bezieht sich das nicht unmittelbar auf Jung, aber die Nähe zu dieser Geistesform ist deutlich. Für "solche Sinnesverwandten" wie Jung sind "die sogenannten Erweckungen, Sinnesänderungen, denen wir ihren psychologischen Wert nicht absprechen", höchst bedeutsam (AA 1,564). Der Erzähler weiß, wovon er spricht: "Es sind eigentlich was wir in wissenschaftlichen und poetischen Angelegenheiten apperyu's nennen: das Gewahrwerden einer großen Maxime, welches immer eine genialische Geistesoperation ist"; allein durch "Anschauen" komme man dazu (AA 1,564). Derartige unverhoffte Lichtblicke weisen auf einen größeren Zusammenhang, müssen aber nicht ausschließlich religiös gedeutet werden. Daß dem Protagonisten solche Erlebnisse bekannt waren, ist in Dichtung und Wahrheit mehrfach beschrieben. 66 Er weiß nur zu gut, daß ein Aperyu "auf originelle Weise nach dem Unendlichen hindeutet" (AA 1,564), aber der Erzähler beläßt es bei dieser Feststellung - im Gegensatz zu Jung, der gewissermaßen den Bezug des Aperyus und vielleicht auch das Unendliche zu deuten versucht oder gar zu verstehen glaubt. Die Beschreibung Jungs dient dem Erzähler als Folie, vor der der Protagonist und seine WeItsicht sich schärfer abzeichnen. Denn der kann und will sich - im Gegensatz zu seinem Freund - nicht damit abfinden, daß der Mensch den Lauf der Dinge deuten zu können glaubt: Zwar überließ ich gern einem jeden wie er sich das Räthsel seiner Tage zurechtlegen und ausbilden wollte, aber die Art auf einem abenteuerlichen Lebensgange alles, was uns vernünftigerweise Gutes begegnet, einer unmittelbaren göttlichen Einwirkung zuzuschreiben schien mir doch zu anmaßlich so wie die Vorstellungsart, daß Alles was aus unserm Leichtsinn und Dünkel, übereilt oder vernachlässigt, schlimme schwer zu übertragende Folgen hat; gleichfalls rur eine göttliche Pädagogik zu halten wollte mir auch nicht in den Sinn (AA 1,564f.). 65 Aber er zitiert einen Spötter, doch diesen "Einfall eines schalkischen Mannes" ließ er dem Freund "nicht zu Ohren kommen" (AA 1,565). Der Erzähler teilt dem Leser mit, was der Protagonist Jung verschweigt, so kommt der Leser nicht umhin, den Spott doch zur Kenntnis zu nehmen und ihn vielleicht rur nicht völlig abwegig zu erachten. 66 Ebenfalls im sechzehnten Buch, kurz vor der Charakteristik Jungs, erzählt Goethe von seinem "nachtwandlerischen Dichten" (AA 1,557); "unwillkürlich, ja wider Willen" trat die ,,Ausübung dieser Dichtergabe [...] am freudigsten und reichlichsten [... ] hervor" (AA 1,556).

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Wieder ist es eine allgemeine Aussage, aber der Bezug auf Jung ist eindeutig. Es ist - da in der Vergangenheit gehalten - die Einschätzung des Protagonisten. Er hat Respekt vor dem "Räthsel seiner Tage" und vor anderen Weisen der Lebensdeutung, aber eine zu präzise Interpretation erscheint ihm als Anmaßung. Er äußert Verständnis dafür, daß das Verstehen des Lebens mehr mit "zurechtlegen" als mit eindeutig erklären zu tun hat, und mit einem entschiedenen "aber" leitet er seine Kritik ein an einer platten und vermeintlich christlichen Welterklärung. Es ist ihm zuwider, alles Gute und jeden Fehler auf das unmittelbare Wirken Gottes zurückzuführen und sich den jeweiligen Grund dafür zurechtzulegen. Jungs Überinterpretation seiner Lage nach der mißglückten Augenoperation ist in Dichtung und Wahrheit als abschreckendes Beispiel einer begrenzten Weitsicht gestaltet. Davon unterscheidet sich die bewußt unabgeschlossene Lebensdeutung des Protagonisten. Er maßt sich nicht an, den Willen einer höheren Kraft eindeutig zu interpretieren oder einzelne Geschehnisse einer göttlichen Einwirkung zuzuordnen. Wenn er und Jung "zuletzt auf das vernünftig nothwendige Resultat [kommen,] daß Gottes Rathschlüsse unerforschlich seyen" (AA 1,566), ist das eher die Auffassung des Protagonisten als die des verzweifelten Freundes, denn der hält bei aller Ehrfurcht das Wirken Gottes insofern für erklärbar, als er gute wie üble Taten und Geschehnisse dem göttlichen Plan zuschreibt. Diese Variante christlicher Lebensdeutung erscheint im vierten Teil von Dichtung und Wahrheit als selbstzerstörerische Grübelei. Es ist eine völlig andere Art des Glaubens als im Falle der Klettenberg. Zuversicht und Vertrauen kennzeichnen ihre Weitsicht; sie maßt sich nicht an, den Zusammenhang von menschlichem Lebenslauf und Gottes Einwirken völlig zu verstehen, und sie läßt etwas Unbestimmtes zu. Weder die irdische Planmäßigkeit der Delph, noch Jungs zwanghafte Vorstellung von der Planmäßigkeit Gottes, die er zu durchschauen glaubt und die er in jede Lebenslage hineininterpretiert, sind dem Protagonisten angemessen. Er schätzt die heitere Zuversicht der Klettenberg, zudem läßt ihm die Freundin genügend Freiraum. In Dichtung und Wahrheit stellt Goethe verschiedene Arten der Lebensdeutung vor, eigene und andere, und auch die Autobiographie selbst ist der Versuch einer Deutung. Der Verfasser ordnet, wählt aus, ergänzt, glättet, spitzt zu, orientiert sich an Vorstellungen wie zum Beispiel der Metamorphose der Pflanzen, findet Gleichnisse - und doch bleibt etwas Inkommensurables, ein uninterpretierbarer Rest. Da Goethe erst am Ende vom Dämonischen spricht, erlebt der Leser diese Erfahrung mit. 67 Es ist, als sehe man dem Verfasser bei der Revi67 Günter Niggl betrachtet diesen "Wandel der Goetheschen Lebensdeutung von der Nachbildung morphologischer Gesetze bis zur Anerkennung jener Mächte, die Gesetz und Ordnung durchkreuzen" auch in literarhistorischer Hinsicht: Goethe gebe damit "ein wichtiges und anschauliches Beispiel rur seinen Abschied von der normativ-klassischen Periode"; Niggl: Das Problem der morphologischen Lebensdeutung, S. 297.

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

sion der Entwicklungsvorstellung zu. Das hängt auch, aber nicht nur mit der Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte der einzelnen AutobiographieTeile zusammen. In den ersten zwei, drei Teilen scheint der Erzähler alles im Griff zu haben, er stellt das Werden des Protagonisten als natürliche, ja naturnotwendige Entfaltung dar - in der Gewißheit, daß die Entwicklung zielgerichtet ist und Umwege sich letztlich als förderlich erweisen. Im vierten Teil schwindet diese Zuversicht, es entsteht bisweilen der Eindruck, als entziehe sich die dargestellte Lebenszeit der Erzählung. Inwieweit das vom Verfasser beabsichtigt ist, läßt sich nicht ganz klären. Spekulationen, wie er wohl verfahren wäre, wenn er den gesamten Text noch einmal überarbeitet hätte, sind müßig. Gewiß hatte Goethe nicht von Anfang an geplant, den Leser die Korrektur der Entwicklungsvorstellung miterleben zu lassen, ja er war sich vielleicht nur ansatzweise bewußt, daß er seine Geschichte an den Gesetzen der PflanzenMetamorphose orientiert. Es scheint, als habe sich dieser Wandel des Verfassers erst während des Schreibens vollzogen. Zunehmend wurden auch Schwierigkeiten der Deutung und Darstellung des Lebens Thema des Textes, und dies schlägt sich nicht in theoretischen Einschüben nieder, sondern in verstreuten Hinweisen, Bildern und formalen Eigenheiten. Allzu deutlich wollte Goethe auf diese Schwierigkeiten nicht hinweisen, vielleicht hat er daher die Neue Melusine am Ende des zweiten Teils und das Vorwort zum dritten Teil nicht in den endgültigen Text aufgenommen. 68 Die sich wandelnde Vorstellung vom Lauf des Lebens und dessen Darstellung wirkt sich auch auf die Form des Textes aus. Das gilt besonders für den vierten Teil. ~

14. Vollendet unvollendet: der vierte Teil Eine formale Konsequenz der Abkehr vom Metamorphose-Ideal ist der vierte Teil von Dichtung und Wahrheit. Ohne das Unabgeschlossene zur besonders kunstvollen Eigenart dieses Textes zu stilisieren oder das Fragmentarische zum angemessenen Formprinzip zu erklären, sind die Unterschiede zu den anderen drei Teilen hervorzuheben. Einige Besonderheiten des Textes haben mit den Umständen seiner Entstehung zu tun. Die ältesten Passagen, die Partien über Spinoza am Beginn des sechzehnten Buches und das Ende des zwanzigsten Buches, hat Goethe im Frühjahr 1813 diktiert, und mit teils mehrjährigen Unter68 Dieses Vorwort wäre auch ohne Hinweis auf das Ende nach dem damaligen dritten Teil möglich gewesen und, etwas modifiziert, auch als Einleitung zum vierten Teil denkbar. Günter Niggl vermutet, daß die Zurücknahme des Vorworts mit dem Wechsel der Gleichnisse zu tun hat: "Das Pflanzengleichnis wird vom Webegleichnis abgelöst, und dies mag der innere Grund sein, weshalb Goethe jene Vorrede mit dem neugedeuteten Metamorphose-Bild auch fiir den späteren Schluß von Dichtung und Wahrheit nicht mehr verwendet hat." Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert, S. 163.

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brechungen hat er noch bis im Herbst 1831 an der Autobiographie gearbeitet. Er hat es nicht flir nötig befunden, die einzelnen Teile so zu verknüpfen, daß der Eindruck entsteht, der Text sei am Stück geschrieben. In den ersten drei Teilen wird der Leser mit hineingenommen in die Erlebnisse des Protagonisten, im vierten Teil sind zunehmend auch die Erlebnisse des Autobiographie-Schreibers Thema der Autobiographie. Das festigt die Identität von Protagonist, Erzähler und Verfasser - was den Verfasser nicht daran hindert, mit dieser Identität zu spielen und sich beispielsweise von sich selbst zu distanzieren. Im Vorwort zum vierten Teil ist die Rede von Hindernissen, die der Erzähler "faßlich und lesbar zu machen" bemüht ist (AA 1,551), und diesen Vorgang des Faßlich- und Lesbarmachens erlebt der Leser mit. Häufiger als in den anderen Teilen sind Gedichte des Verfassers und andere Texte eingeschaltet; scheinbar unmittelbar wiedergegebene Erlebnisse des Protagonisten stehen neben den Äußerungen des Erzählers und Verfassers. Damit macht Goethe aufmerksam auf die Diskrepanz zwischen erleben und erzählen, zwischen Protagonist und Verfasser, und so entsteht, wie Robert Gould feststellt, ein "doppeltes Selbstportrait": des alten Goethe beim Schreiben und des jungen Mannes, über den er schreibt. 69 Auch wenn einige Partien in den letzten Büchern nicht vollendet sind, manche Übergänge fehlen und der Text mehrfach durch Freiräume und Querstriche unterbrochen ist, enthält der vierte Teil umfangreiche gefällig erzählte und über Buchgrenzen hinwegkomponierte Abschnitte wie die Lili-Geschichte oder die Nicht-Lili-Geschichte der Schweizer Reise. Der Erzähler oder Verfasser plaudert über sein autobiographisches Unternehmen und spricht die Leser an. 70 Die69 Gould, S. 303. Die Distanz zwischen Erzähler und Protagonist ist augenfällig. Der Erzähler beschreibt den ,,Jüngling von dem wir uns unterhalten" und erwähnt dessen Vorzüge. Dazu zählt "gelegentliches Handeln ohne Bedenken, von letzterem einige Geschichtchen" (AA 1,559). Kurz darauf erzählt er, was "uns ern Freund durch mancherley Wunderlichkeiten bemerklich" machte, und fuhrt ein Beispiel an: "In diesem Sinne scheint nachstehendes Ereigniß bemerkenswerth" (AA 1,560). Auch die Einschätzung des Sturm und Drang und des Geniekults zeigt, wie sich der Erzähler vom Protagonisten distanziert; schon im elften Buch bezeichnet er Wanderers Sturmlied als "Halbunsinn" (28,119). Aus der Sicht zur Zeit der Niederschrift ist der Abstand deutlich "zu der Zeit wo ausgesprochen werden konnte, daß Genie diejenige Kraft des Menschen sey, welche durch Handeln und Thun, Gesetze und Regeln giebt" (AA 1,627). Zur erzählten Zeit hingegen "manifestirte sichs [i.e. das Genie] nur indem es die vorhandenen Gesetze überschritt, die eingefuhrten Regeln umwarf und sich fur gränzenlos erklärte" (AA 1,627). 70 Das tut er auch im zweiten und dritten Teil. Im siebenten Buch thematisiert er die Leserlenkung: wenn er seine Leser mit "cursorischen und desultorischen Bemerkungen über die deutsche Literatur [00'] in einige Verwirrung gesetzt", so sei das in der besten Absicht geschehen, nämlich dem Leser "eine Vorstellung von jenem chaotischen Zustande zu geben" (27,108), in dem der Protagonist sich einst befand. Er nimmt Rücksicht auf den Leser und spricht dies auch aus; im neunten Buch erzählt er von einem Spaziergang und leitet die Passage so ein: "die Geschichte desselben stehe hier statt ähnlicher Fälle, welche den Leser ermüden, wo nicht gar betrüben könnten" (27,264). Mal

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ses heitere Erzählen kann befremdlich wirken. Im Goethe-Handbuch von 1916 ist über den vierten Teil zu lesen, er sei "in einem ermüdeten, gesuchten, gequälten Altersstil geschrieben,,7\ und Peter Sprengel konstatiert ein "massive[s] Auftreten der für Goethes Altersstil so charakteristischen - z. T. geheimrätlich anmutenden - abstrakten Formeln und Formulierungen".72 Ernst Beutler glaubt, er müsse Goethe entschuldigen für vermeintliche Mängel des Textes. Er geht davon aus, daß der größte Teil der letzten fünf Bücher in den Jahren 1830 und 1831 entstanden ist, und erklärt: "Goethe war inzwischen über achtzig Jahre alt geworden. Er hatte ein Recht darauf, es sich leichter zu machen.,,73 Darum habe er beispielsweise das Portrait der Stolbergs dem Buch Lavaters entnommen oder die Eislauf-Anekdote einer Erinnerung der Mutter, und darum habe er zur Schilderung der Schweizer Reise Tagebuch und Zeichnungen benutzt. 74 Deutversichert er sich des Einverständnisses des Lesers, "zum Übergange einige allgemeine Betrachtungen" einfiigen zu dürfen (28,50), an anderer Stelle erwähnt er einen Bekannten, "den wir schon aus dem sechsten Buche kennen" (28,344). Im vierten Teil kommen solche Einschübe häufiger vor. 71 Elisabeth Rotten: Dichtung und Wahrheit. In: Julius Zeitler (Hrsg.): Goethe-Handbuch. 1. Band. Stuttgart 1916, S. 395-405, hier S. 402. Albert Fuchs spricht vom "Werkgefiige, das nur im 4. Teil an Festigkeit verliert"; Fuchs, Sp. 1837. 72 Sprengel: Einfiihrung in MA 903. Heinrich Düntzer schreibt über die Bücher des abschließenden Teils, sie seien "nicht so glücklich komponiert, wiederholen auch schon früher Berichtetes"; Heinrich Düntzer: Goethes Dichtung und Wahrheit. Erläutert von Heinrich Düntzer. Erster Theil: Einleitung. Leipzig 1881, S. 151 f. Und im darauffolgenden Absatz erwähnt Düntzer die große Kunst, "wie wir sie, abgesehen von einem großen Theile des vierten Theils, in der Komposition des Ganzen fanden" (ebd. S. 153). Ähnlich die Einschätzung des Vorwortes zum vierten Teil: "Das Gezwungene im Ausdruck und die Gedankenleere treten hier äußerst auffallend hervor; denn daß eine Lebensbeschreibung zur leichtem Ueberschauung sich in Theile gruppiert, bedurfte keiner Ausfiihrung, die auch viel klarer gegeben werden konnte." Heinrich Düntzer: Goethes Dichtung und Wahrheit. Erläutert von Heinrich Düntzer. Zweiter Theil: Erläuterung. Leipzig 1881, S. 255. 73 Beutler: Einfiihrung in GA 939. 74 Auch andere Eigenarten des Textes meint Beutler mit dem Alter des Verfassers erklären zu müssen. In einem Schema sind "Sittlich interessante Gespräche" mit Lili genannt (Plp. 146; AA 11,625); daß Goethe diese Gespräche in Dichtung und Wahrheit nicht mitteilt (sondern nur erwähnt, vgl. AA 1,569), hat fiir Beutler einen eindeutigen Grund: "Wir stehen hier schon vor der erlahmenden Kraft des Alters." Ernst Beutler: Essays um Goethe. Erweiterte Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Christian Beutler. Frankfurt am Main 1995, S. 238. Ähnlich beurteilt Kurt Jahn die Arbeitsperiode, in der das letzte Drittel des dritten Teils und der vierte Teil entstanden sind: Goethe redigiere "nur noch das Material aus den vorhergehenden Arbeitsabschnitten. Er wünscht nicht zu vollenden, sondern abzuschließen. Neues gelingt nur noch in beschränktem Umfang und eigentlich nur zur notdürftigen Verbindung der Teile. Er hat offensichtlich die Lust, wohl auch die Kraft verloren, an dem Kunstwerk weiter zu bilden: er sorgt lediglich fiir seine Zusammensetzung und Aufstellung." Jahn, S. 241. Daß dies bisweilen auch heute noch so gesehen wird, beweist Heidi I. Stull: The Evolution ofthe Autobiography from 17701850. A Comparative Study and Analysis. New YorklBernlFrankfurt 1985, S. 160. Nach diesen Fehleinschätzungen sei ein seltenes Beispiel fiir eine gründliche Auseinander-

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lich fällt das Urteil von Emil Staiger aus: Goethe gebe sich im vierten Teil "oft auch nicht die geringste Mühe mehr, die durch das Diktieren bedingten Zufälligkeiten der Niederschrift auszugleichen. ,,75 Die Komposition läßt nicht unbedingt auf Nachlässigkeit, Müdigkeit oder Altersschwäche des Verfassers schließen. Der Erzähler dieser letzten Bücher ist kein resignierter Text-Monteur, bloß weil er häufiger als zuvor die eigene Perspektive miteinbezieht, zudem die Schwierigkeiten der Lebenserzählung zum Gegenstand macht und kühner von einem Thema zum nächsten springt. Mal verbindet er zwei Abschnitte mit einer sehr allgemeinen Aussage, mal läßt er sie unvermittelt nebeneinanderstehen, und immer wieder meldet sich der Verfasser zu Wort. 76 Sein Umgang mit bereits geschriebenen Partien spiegelt sich in den sichtbaren Entstehungsschichten des vierten Teils wider, bisweilen erscheint der Erzähler als ordnender Redakteur und Herausgeber. Benedikt Jessing erinnert an die Wanderjahre, wo "die Herausgeberfiktion vollends an die Stelle der Fiktion eines wie auch immer auktorialen Erzählers getreten" sei. 77 Anders als in den Wanderjahren ist in der Autobiographie der sich zum Herausgeber stilisierende Erzähler auch der Verfasser, das macht die Fiktionalisiemng schwieriger. Der Briefschreiber aus dem Vorwort zum ersten Teil bittet den Erzähler, er möge seine Dichtungen "wieder als Stoff [... ] behandeln und zu einem Letzten [... ] bearbeiten" (26,5). Im vierten Teil ist auch die Autobiographie Stoff der Autobiographie, damit bezieht sich der Text auf sich selbst und wird viel-

setzung mit dem vierten Teil genannt: Robert Gould hat sich mit den Zitaten im vierten Teil beschäftigt und dabei einige Besonderheiten des Textes herausgearbeitet. Er zeigt, wie die Erfahrung des Autobiographie-Schreibens auch Gegenstand der Autobiographie ist und wie die Kommentare vor und nach Zitaten zwischen den Zeitebenen des Protagonisten und des Erzählers vermitteln. Indem der Erzähler Zitate als Zitate kenntlich macht und auf die Auswahl hinweist, zieht er die Aufmerksamkeit wiederholt auf sich selbst, auf den Akt des Zitierens und die Bedeutung des Zitats, auf den Prozeß der Komposition und Kommunikation und damit auf die Probleme der Autobiographie. Gould, bes. S. 294f. 75 "Er bricht ab, wenn er ermüdet ist, und nimmt den Faden am andern Tag mit einiger Mühe wieder auf. Er greift zurück und vor, trägt nach, schiebt plötzlich etwas Vergessenes ein und entschuldigt sich, wenn ihm ein Abschnitt mißlingt." Staiger: Goethe. Band 3, S. 253. 76 Eindeutige Hinweise auf die Perspektive des zurückblickenden Verfassers durchziehen den gesamten vierten Teil. In der Schweiz bietet ein Wirt dem Protagonisten Kristalle an, dazu erklärt der Erzähler: "ich war aber damals so entfernt von solchen Naturstudien daß ich mich nicht einmal für den geringen Preis mit diesen Bergerzeugnissen beschweren mochte" (AA 1,615). Der Verfasser kommentiert auch seine eigenen Kommentare, um den Abstand zum Protagonisten zu verdeutlichen: "Dergleichen Betrachtungen jedoch waren gänzlich ausser dem Gesichtskreis jener Jünglinge" (AA 1,614). 77 Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 328.

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schichtiger. 78 In diesem Teil finden sich viele Charakteristika des goethischen Altersstils: die lockere Komposition, die Tendenz zur Verallgemeinerung, zyklisch wiederkehrende Motive, ein Zusammenhang, der sich nicht immer unmittelbar erschließt. 79 Diese Eigenheiten, die zum Teil in den anderen Büchern schon angelegt sind, erweitern die autobiographischen Möglichkeiten. Erich Trunz ist überzeugt, daß im vierten Teil von Dichtund und Wahrheit "eine innere Beziehung und ein organischer Aufbau" ebenso vorhanden sind "wie in der sprunghaften, motivreichen Komposition des Faust II oder der Wahlverwandtschajten".8o Es ist ein verschärfter Altersstil im vierten Teil, das mag auch mit den besonderen Entstehungsbedingungen zu tun haben. Große Teile der Bücher sechzehn bis neunzehn sind in der intensiven Arbeitsperiode im November 1830 geschrieben, in einer Zeit, als der Verfasser mit seelischen und körperlichen Widrigkeiten zu kämpfen hatte: 81 Am 9. November nimmt der 81jährige Goethe die Autobiographie wieder hervor und beginnt, die Erlebnisse mit Lili zu schematisieren. Tags darauf erhält er die Nachricht vom Tod seines Sohnes. Beinahe zwei Wochen lang arbeitet er täglich am vierten Teil, er ist beschäftigt mit "Redaction und Verknüpfung des Vorhandenen,,82 und diktiert fast die komplette Lili-Geschichte. Es entstehen auch die Anekdoten vom Brand in der Judengasse und vom Schlittschuhlaufen im Pelz der Mutter sowie große Teile der Erzählung von der Schweizer Reise. 83 Ende November erkrankt Goethe schwer, erholt sich aber rasch. Im Dezember und Januar arbeitet er gemeinsam mit Riemer an Korrekturen; zwischen November 1830 und Januar 1831 diktiert Goethe zudem das Vorwort zum vierten Teil. 84 78 Das läßt sich mit den Formeln Friedrich Schlegels anschaulich machen. Eine Autobiographie, die die Dichtungen als Stoff bearbeitet, wäre eine Art Poesie der Poesie, 1l? Wird dieser Text wiederum bearbeitet, ist das eine weitere Potenz: (ll?i, also Jt4. Kerstin Stüssel ist der Ansicht, daß in den ersten drei Teilen der autobiographische Text den poetischen Texten eine eindeutige Bedeutung unterlegen sollte, im vierten Teil hingegen werde die "Beweislast" umgekehrt: es "werden nun unerläutert poetische Texte eingefiigt, die ihrerseits die Lebenserfahrung Goethes deuten sollen". Dieser ,,Kollaps der Differenz von Kommentar und Kommentiertem eröffuet das Spiel der Deutungen, das die Autobiographie doch zu beenden vorgibt." Stüssel, S. 286 und 288. 79 Vgl. Erich Trunz: Altersstil. In: Alfred Zastrau (Hrsg.): Goethe Handbuch. Band I. Stuttgart 1961, Sp. 178-188, hier Sp. 180f. 80 Trunz: Anmerkungen in HA X,605. Bemerkenswert ist, daß die ersten drei Teile von Dichtung und Wahrheit, die einige Jahre nach den Wahlverwandtschaften geschrieben sind, im Gegensatz zum vierten Teil keinen ausgeprägten Altersstil zeigen. 81 Vgl. zum folgenden die Tagebucheinträge vom 9. bis 27. November 1830; WA III,12,329-336, sowie Scheibe: Der vierte Teil von "Dichtung und Wahrheit", S. 96f. 82 So am 18. November 1830; WA III,12,332. 83 Scheibe faßt dieses ungeheure Arbeitsquantum in Zahlen: in 13 Tagen hat Goethe den Text von 83 Druckseiten der Weimarer Ausgabe ausgearbeitet; vgl. Scheibe: Der vierte Teil von "Dichtung und Wahrheit", S. 96. 84 Vgl. Scheibe: AA 1I,229f.

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Ende 1830 schreibt er an Zelter, er habe die Arbeit am vierten Teil "mit Gewalt" angegriffen, der Band sei in einem druckfertigen Zustand. Dennoch äußert Goethe die Hoffnung, "den Inhalt noch reicher und bedeutender, die Behandlung aber noch vollendeter darzustellen". 85 In dieser Phase der Arbeit an Dichtung und Wahrheit entstehen die meisten der Stellen, die die Eigenart des vierten Teils prägen. Der Verfasser bezieht seine Leser mit ein, und seine Arbeitsweise schlägt sich auf den Erzählton und die Form nieder. Das Ergebnis ist nicht eine Montage bewußt unzusammenhängender Fragmente. Souveränes Erzählen und Hinweise auf die Erzähltätigkeit stehen nebeneinander. Im siebzehnten Buch schaltet der Erzähler die beiden Gedichte Herz, mein Herz, was soll das geben? und Warum ziehst du mich unwiderstehlich ein, um "diese betrachtende Darstellung, einer lebendigen Anschauung, einem jugendlichen Mitgefühl anzunähern" (AA 1,570).86 Er ist sich des Effekts sicher: "Hat man sich diese Lieder aufmerksam vorgelesen lieber noch mit Gefühl vorgesungen, so wird ein Hauch jener Fülle glücklicher Stunden gewiß vorüber wehen" (AA 1,571).87 Wieder ist der Leser hingewiesen auf die Diskrepanz zwischen erlebtem und erzähltem Leben; freundlich wird er darauf aufmerksam gemacht, daß er es mit vermittelten und längst vergangenen Erlebnissen zu tun hat. Und er könnte annehmen, daß ihn der Verfasser anspricht. Der empfiehlt sein Gedicht In allen guten Stunden "auch unsern Nachkommen" und wünscht allen, "die es singen und aussprechen gleiche Lust und Behagen" wie damals (AA 1,576). Solche Einschübe des Verfassers unterbrechen weder den Fluß der Erzählung, noch nehmen sie der Lili-Handlung den Zauber. Der Erzähler wendet sich vertraulich an seine Leser, das schafft Nähe und Glaubwürdigkeit. Im achtzehnten Buch hält der Protagonist eine übermütige 85 An earl Friedrich Zelter, 10. Dezember 1830; WA IV,48,41. Erwin Seitz begründet seine irrige Annahme, "daß Goethe mit dem dritten Teil von ,Dichtung und Wahrheit' das autobiographische Projekt vorläufig abschließt", mit der Vermutung, "daß er mit den ersten drei Teilen das eigentliche dichterische Ziel des autobiographischen Projekts schon erreicht hatte"; Seitz, S. 326. Wieso Goethe immer wieder und noch bis ein halbes Jahr vor seinem Tod am vierten Teil gearbeitet hat, bemüht sich Seitz nicht zu erklären. 86 Beinahe mitleidig bemerkt Ernst Beutler zu dieser Stelle: "Rührend hat der greise Dichter sein Versagen [nicht alle Stichworte aus dem Schema ausgefiihrt zu haben] durch die Weisung ausgeglichen, man solle durch Singen seiner Lieder an Lili die betrachtende Darstellung in lebendige Anschauung und Mitgefiihl verwandeln." Beutler: Essays um Goethe, S. 238f. 87 Die eingefiigten Lili-Gedichte leitet der Erzähler ein mit der Bemerkung, er wolle damit seine damalige Stimmung zumindest andeuten. So zum Beispiel vor dem Gedicht, das auf dem Zürichsee entstanden ist: "Möge ein eingeschaltetes Gedicht von jenen glücklichen Momenten einige Ahnung herüberbringen" (AA 1,609); ebenfalls im achtzehnten Buch findet sich diese Überleitung: "Wie mir zu Muthe gewesen, deuten folgende Zeilen an, wie sie damals geschrieben noch in einem Gedenkheftehen aufbewahrt sind" (AA 1,610).

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Rede auf den Weinstock. Hier bleiben Freiräume im Manuskript, und es folgt eine Überlegung des Erzählers, die sich auf die Tätigkeit des Verfassers bezieht und zudem die Identität beider mit dem Protagonisten unterstreicht: "Wenn ich hier, wie die besten Historiker gethan, eine fingirte Rede jener Unterhaltung einzuschieben in Verdacht gerathen könnte, so darf ich den Wunsch aussprechen es möchte gleich ein Geschwindschreiber diese Peroration aufgefaßt und uns überliefert haben" (AA 1,599). Nicht nur, daß man "die Motive genau dieselbigen" finden würde, sondern auch "den Fluß der Rede vielleicht anmuthiger und einladender" (AA 1,599). Damit bescheinigt sich der Erzähler einerseits Genauigkeit, was die Motive der Rede betrifft, andererseits macht er deutlich, daß die Rede zur erzählten Zeit - "vielleicht" - gefälliger dargeboten wurde als nun in der Biographie. 88 Als Leser fühlt man sich eingebunden in den Vorgang des autobiographischen Schreibens. Der Vergleich von einst Erlebtem und später darüber Geschriebenem sowie die selbstreflexiven Einschübe des Erzählers zeigen dem Leser, mit welcher Textsorte er es zu tun hat. Nachdem der Erzähler die Abreise aus Emmendingen und die schwierige Lage der Schwester geschildert hat, wendet er sich schmeichlerisch an den Leser: "Nun aber wird der einsichtige Leser, welcher fähig ist zwischen diese Zeilen hineinzulesen was nicht geschrieben steht, aber angedeutet ist, sich eine Ahnung der ernsten Gefühle gewinnen, mit welchen ich damals Emmendingen verließ" (AA 1,603). Damit ist zweierlei gesagt: zum einen entzieht sich manches der Darstellung in den Zeilen, zum andern bedarf es eines aufmerksamen Lesers, der die Andeutungen des Erzählers oder Verfassers versteht. In der Geschichte von der Schweizer Reise versucht der Erzähler, dem Leser den Protagonisten und seinen Freund anschaulich vor Augen zu stellen, und diesen Vorgang spricht er auch aus. "Man denke sich den jungen Mann, der etwa vor zwey Jahren den Werther schrieb, einen jüngeren Freund der sich schon an dem Manuscript jenes wunderbaren Werks entzündet hatte" (AA 1,613). Es folgen Äußerungen zur Gemütslage der beiden, und der Erzähler schließt diese Aufzählung nach einem Gedankenstrich: "dann nähert man sich der Vorstellung jenes Zustandes, den ich nicht zu schildern wüßte stünde nicht im Tagebuch: ,Lachen und Jauchzen dauerte bis Mitternacht'" (AA 1,613). Der Zustand ist offenbar nicht leicht zu beschreiben, und überdeutlich weist der Erzähler darauf hin, daß er Aufzeichnungen aus der erzählten Zeit zu Hilfe nimmt. Das ist nicht ganz zutreffend: in diesen Passagen hielt sich der Verfasser nicht an sein Tagebuch aus dem Jahre 1775, sondern an ein Exzerpt vom No-

88 Mehrfach hat Goethe die direkte Rede gebraucht, ohne den Erzähler Bedenken äußern zu lassen: zum Beispiel bei der Auseinandersetzung des Vaters mit Thoranc (hier gibt er allerdings vor, die Berichte des Dolmetschers mitzuteilen, vgl. 26,164), in der Gretchen-Geschichte, in der dramatischen Szene mit den Töchtern des Tanzlehrers und immer wieder in den Erzählungen von Sesenheim.

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vember 1813. 89 Bereits die erste Anleihe aus dem Tagebuch ist markiert: "Am 16 Juni 1775, denn hier find ich zuerst das Datum verzeichnet" (AA 1,612). Goethe ist bemüht, den Text so zu gestalten, daß er möglichst wenig komponiert wirkt, darum erscheint die tagebuchartige Unmittelbarkeit als eine vermittelte. Es entsteht der Eindruck, als seien Notizen aneinandergefügt, unverarbeitetes Rohmaterial montiert,90 als sehe man dem Verfasser beim Schreiben und Ordnen über die Schulter. Aus dem Eintrag vom 21. Juni: "an der Matte trefflicher Käss. Sauwohl u Projeckte,,91 wird in der Autobiographie: "An der Matte fand sich der berühmte Ursener Käse und die exaltirten jungen Leute ließen sich einen leidlichen Wein trefflich schmecken um ihr Behagen noch mehr zu erhöhen und ihren Projecten einen phantastischem Schwung zu verleihen" (AA 1,615). Auch ohne Kenntnis des Tagebuchs ist ersichtlich, daß der Erzähler eine freundliche Distanz zum Protagonisten wahrt. 92

Vgl. Plp. 131; AA 11,588-590; zur Entstehung vgl. Scheibe: AA 11,158. Auch der Umgang mit den Schemata kann diesen Eindruck erwecken. Ernst Beutler beobachtet, daß sich Goethe bei der Ausarbeitung des siebzehnten Buches an die Stichworte aus dem Schema gehalten hat, und schließt daraus: "da das Schema an sich keinerlei künstlerische Komposition verrät und man von der Ausruhrung sagen kann, daß sie unter solchem Fehlen fast leidet, so ergibt sich, daß, was Goethe hier erzählt, wirkliche Erinnerung ist und nicht Dichtung." Beutler: Essays um Goethe, S. 243. Ähnlich die Einschätzung Peter Hofmanns zum Hinweis des Erzählers im zwanzigsten Buch, er wisse nicht, ob er "sobald wieder zur Rede gelange" (AA 1,641): Hofmann vermutet hier "ein unmittelbares und nicht redigiertes Diktat"; Hofmann, S. 368. Hinter solchen Stellen kann auch ein überlegener Erzähler stecken. Emil Staiger bemängelt die aus seiner Sicht mangelhafte - Komposition der Abschnitte über die Schweizer Reise. Diese werde "zum Teil wortwörtlich aus dem bekannten kraftgenialischen Tagebuch herübergenommen, zum Teil aber in der formelhaften Sprache des hohen Alters geschildert, ohne daß der Leser über den Wechsel des Stils verständigt würde." Staiger: Goethe. Band 3, S. 253. 91 21. Juni 1775; WA III,I,6. 92 Im Exzerpt heißt es: ,,An der Matte trefflicher Käße Wildes Behagen und Projekte" (Plp. 131; AA 1,590). Erich Trunz stellt fest, soweit das Tagebuch reicht, gehe Goethe "tagebuchartig im Erzählen voran [00']. Doch wie sind die jugendlichen explosiven Wortbrocken mit ihren geballten Stimmungsgehalten hier in behaglich-ruhige AItersepik transponiert!" Trunz: Anmerkungen in HA X,626f. Der Vergleich von Tagebuch und Autobiographie ruhrt Walter Hettche "ohne weiteres zu dem interpretatorischen Schluß, daß Goethe in ,Dichtung und Wahrheit' den typischen Duktus des Sturm und Drang in eine gemilderte Form bringen wollte, um den Eindruck zu erwecken, als habe er keinen großen Anteil am Gebaren jener Epoche, von der er in ,Dichtung und Wahrheit' immer wieder mit deutlichem Befremden spricht"; Walter Hettche: Die Biographie als Sonderfall rur die Kommentierung. In: Gunter Martens (Hrsg.): Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft rur germanistische Edition 4. bis 7. März 1992, autor- und problembezogene Referate. Tübingen 1993, S. 141-149, hier S. 145. Die Erzählung von jener Zeit erweckt nicht den Eindruck, als sei dem Verfasser sein damaliges Verhalten nun peinlich oder völlig unverständlich, vielmehr blickt er ebenso kritisch wie wohlwollend zurück. 89

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Das Datum des 22. Juni ist am Ende des achtzehnten Buches genannt, ebenso wie im siebzehnten Buch das Datum von Lilis Geburtstag, der 23. Juni. Der autobiographischen Darstellung der Schweizer Reise zufolge stand der Protagonist an diesem Tag auf dem Gotthard, am "Scheidepunct" (AA I,616) zwischen Nord und Süd, zwischen den eigenen Plänen und denen des Vaters, zwischen Lilis Nähe und noch größerer Entfernung zu ihr. Er war frei und nicht frei, "zwar unter freyem Himmel jedoch in engen von hohen Gebirgskuppen umschlossenen Räumen" (AA I,616), und der Verfasser plaziert diesen Scheidepunkt zwischen dem achtzehnten und neunzehnten Buch. Da in diesen Abschnitten das Tagebuch als Quelle genannt ist, wirkt das Datum authentisch, und so scheint es naheliegender, daß der Protagonist an diesem Tag auf dem Gotthard war und nicht in Offenbach. Oder war es der Verfasser?93 Die Erzählung vom Familienstück Sie kommt nicht! (AA I,576, Zeile 15, bis 579, Zeile 12) ist bereits 1821 diktiert, die Abschnitte davor und danach sind zwischen dem 10. und 18. November 1830 entstanden. 94 Goethe hat das Datum, das auch im Untertitel des Stücks erwähnt ist (vgl. AA I,577), in der Einleitung aus der späten Arbeitsphase noch einmal genannt. Kurz darauf, zwischen dem 18. und 22. November, hat er die am Tagebuch-Exzerpt entlang geschriebene Schweizer Reise mit den auffällig zahlreichen Daten diktiert. 95 So ist es möglich, daß er absichtlich auf das Datum von Lilis Geburtstag aufmerksam machen und diesen Faktenbezug mit den präzisen Zeitangaben in den Erzählungen von der Reise wieder relativieren wollte und damit die Geburtstags-Episode rückwirkend als symbolisch kennzeichnen. 96 Die Verwirrung wird dadurch gesteigert, daß der 23. Juni 1775 tatsächlich Lilis siebzehnter Geburtstag war. 97

93 Auch im Tagebuch-Exzerpt von 1813 (vgl. Plp. 131; AA 11,590) ist das Datum genannt, im Tagebuch selbst hingegen läßt es sich nur erschließen (vgl. WA III,I,6). Daß Goethe bereits am 21. Juni 1775 zum Gotthard-Hospiz aufgestiegen ist, hat bereits Johannes Herzfelder nachgewiesen: Goethe in der Schweiz. Eine Studie zu Goethes Leben. Leipzig 1891, S. 27-29. Er hat auf "irrige Data" in Dichtung und Wahrheit aufmerksam gemacht (ebd. S. 27) und dargelegt, weshalb der Tagebuch-Absatz, der mit "ab 35 Min auf 4" beginnt, nicht dem 22. Juni zugeordnet werden kann, sondern sich eindeutig auf den Nachmittag des 21. Juni bezieht. Wenn man es denn als Irrtum bezeichnen will, ist es bereits einer des Tagebuch-Exzerpts; daß es ein kompositorischer Kunstgriffwar, ist nicht anzunehmen. 94 Vgl. Scheibe: AA 11,212. 95 Vgl. Scheibe: AA 11,218. 96 Auf "chronologische Fehler" weist Carl Alt hin: "So irrt Goethe, [... ] wenn er am 23. Juni 1775 in Offenbach gewesen sein will"; Alt, S. 79. 97 Den Nachlaßverwaltern lag das Tagebuch nicht vor, so konnten sie nicht überprüfen, ob es sich, wie Eckermann annahm, bei der Angabe in der Schweizer Reise um ein "falsches Datum" handelt. Riemer fürchtet: "G. hat Anachronismen begangen, seiner Composition wegen." Er schlägt vor, das Datum des Geburtstags nicht zu nennen. Eckermann verlegt die Reise schließlich: "Das widersprechende Datum habe ich aus Juny in July bestimmt, wo nun nichts weiter dagegen zu sagen ist." Zitiert nach Scheibe:

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Das Spiel mit Lilis Abwesenheit paßt vortrefflich zur Geschichte von der Flucht in die Schweiz, war diese Reise doch ein Versuch, "ob man Lili entbehren könne" (AA 1,599). Der Protagonist spielt in seinem Stück durch, wie Lilis Freunde und Verwandte auf ihr Ausbleiben reagieren. Vielleicht erinnert sich der Verfasser an Gedankenspiele auf dem Gotthard, wie ein Leben ohne die Freundin aussehen könnte. Die Wirkung der abwesenden Lili zeigt sich in der Erzählung von der Reise auch in den eingefügten Gedichten. So entsteht ein anschauliches Bild von der Gefühlslage des Protagonisten. Im Gegensatz zur Geburtstags-Episode inszeniert er hier nicht und nimmt nicht die Wirklichkeit vorweg, sondern ist zwischen verschiedenen Möglichkeiten hin- und hergerissen. Dies ist die Vorbereitung auf die Passagen zum Dämonischen und auf die schwer zu begründende Entscheidung ganz am Ende des Textes. Die erwähnten Stellen aus dem vierten Teil sind allesamt im November 1830 entstanden,98 ebenso die Vorstellung der Demoiselle Delph im siebzehnten Buch, die Erzählung von Jung nach seiner mißglückten Operation im sechzehnten Buch und das Vorwort zum vierten Teil. Der Protagonist scheint zeitlich weit entfernt, und der Verfasser bemüht sich - für den Leser sichtbar - Nähe herzustellen, wodurch die Distanz erst recht bemerkbar wird. Die Zitate und die Bemerkungen dazu zeigen den Erzähler als jemanden, der Texte macht und gebraucht,99 und der Leser gewinnt einen Einblick in die Arbeit an jenem Buch, das er gerade liest. 100

AA II,252f.; vgl. die Erstausgabe: Goethe's Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. [Taschenausgabe]. Acht und vierzigster Band. Stuttgart!Tübingen 1833 (= Goethe's nachgelassene Werke. Achter Band), S. 119. Peter Sprengel schließt aus der Tatsache, daß Goethe am 23. Juni 1775 in der Schweiz war, die Geburtstags-Erzählung müsse sich "daher auf ein anderes Fest im Kreis von Lilis Offenbacher Verwandten beziehen"; Sprengel: Kommentar in MA 1056. Ernst Beutler zählt diese Episode zu jenen Stücken der Autobiographie, fiir die Goethe sich nicht mit den Quellen beschäftigt hat - da "liefen ihm Irrtümer unter"; Beutler: Einfiihrung in GA 939. 98 Vgl. die Übersicht von Siegfried Scheibe: Der vierte Teil von "Dichtung und Wahrheit", S. 100f. 99 Vgl. Gould, S. 292. Als Überleitung von Lavaters physiognomischem Werk zur Kritik am Geniekult des Sturm und Drang und zur impliziten Romantik-Kritik erklärt der Erzähler: "Nachfolgende Betrachtungen möchten wohl gleichfalls auf jene Zustände bezüglich, hier am rechten Orte eingeschaltet stehen." (AA 1,627) Nach diesem Einschub leitet er zurück zu Lavater und zitiert aus dessen Werk den Abschnitt über die Brüder Stolberg. Sie könne man in der Genie-Epoche "nur aus ihren Irrschritten" kennenlemen, der Erzähler aber will "ihr eigentliches Wesen geschätzt und geehrt vorfiihren" (AA 1,628) und bringt hierzu ein Urteil aus dem 18. Jahrhundert; "deshalb wir denn, weil die schweren und theuren Bände des großen physiognomischen Werkes nur wenigen unsrer Leser gleich zur Hand seyn möchten, die merkwürdigen Stellen welche sich auf beide beziehen, aus dem zweiten Theile gedachten Werkes, und dessen dreysigsten Fragmente, Seite 244. hier einzurücken kein Bedenken tragen" (AA 1,628). Der Hinweis auf die unhandlichen, teuren Bücher und die Angabe der Seitenzahl erwecken

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Der Erzähler nennt auch die Vorzüge der eingefügten Texte und begründet ihre Auswahl. Im siebzehnten Buch zitiert er aus einem Brief Ulrich von Huttens an Willibald Pirckheimer, anschließend kommentiert er die Entscheidung, diesen Text einzuschalten: er hatte von seinen "vornehmeren Freunden und Bekannten dergleichen tüchtige und kräftige Gesinnung zu vernehmen" - allerdings nicht "in solchem Flusse des Zusammenhangs" (AA 1,590). Dieser Zusatz zum Brief stammt aus dem Frühjahr 1831. 101 Der Verfasser unterstreicht mit dieser Anmerkung den Unterschied zwischen Erleben und Anschaulichmachen fur die Leser. Der Fluß des Zusammenhangs fehlt dem achtzehnten Buch in großen Teilen; es machte Goethe besonders zu schaffen. Ein letztes Schema hat er im September 1831 erstellt,102 ausgeführt hat er es nicht mehr. Die "Aristeia der Mutter,,103 ist kurz vor oder nach diesem Schema entstanden, Goethe hat dieses Textstück nicht in das Manuskript eingefügt, 104 und die Inhaltsangabe des zweiten Faust-Teils vom Dezember 1816 105 war überholt. In der letzten Arbeitsphase zwischen März und September 1831 diktiert er die Abschnitte zu Hanswursts Hochzeit. Der Erzähler äußert die Hoffnung, "daß Gegenwärtiges [Hanswursts Hochzeit] in guter Gesellschaft auch wohl im anständigen Familienkreise vorgelesen werde" (AA 1,596), daher dürfe er die Figuren des Stücks in der Autobiographie nicht nennen. Er tut es dennoch. Nach einem Leerraum fährt er fort: "Zum Versuch legen wir ein Blatt bey, unsern Herausgebern die Zulässigkeit, zu beurtheilen anheim stellend" (AA 1,596), und es folgen einige kurze weitere Absätze zu Hanswursts Hochzeit. Es sind die unfertigsten Passagen in der ganzen Autobiographie. Mit dem Hinweis an die Herausgeber stellt er die Vorläufigkeit des Textes zur Schau; vielleicht war er überzeugt, daß nicht er die Schlußredaktion übernehmen wird. Der Umgang des Protagonisten mit Texten zeigt sich in seiner Arbeit am Egmont. Eifrig studiert er die Quellen und gestaltet die historische Figur nach seinen Vorstellungen um. Das abschließende Egmont-Zitat demonstriert auch, wie sich die Bedeutung von Texten, die scheinbar dieselbe Person darstellen, wanbeim Leser den Eindruck, daß hier der Verfasser vom Schreiben seiner Biographie erzählt. 100 Michael Gärtner berücksichtigt in seinem Kapitel "Der Erzähler" die Besonderheiten des vierten Teils nicht - dabei wäre es gerade da spannend geworden; vgl. Gärtner, S. 137-141. Er stellt fest: "Wird in DuW die Entstehung mehrerer Werke behandelt, so erfahrt man über die Entstehung der Autobiographie kaum etwas." (ebd. S. 140) Das ist zum einen nicht verwunderlich, da die erzählte Zeit 1775 endet, zum andem ist es nicht ganz richtig, denn besonders im vierten Teil plaudert der Erzähler über seine Autobiographie und die Schwierigkeiten des Schreibens. 101 Vgl. Scheibe: AA 11,238. 102 Vgl. Plp 158; AA 1I,653f. 103 Vgl. Plp. 157; AA II,64 1-653. 104 Vgl. Scheibe: AA 11,245. 105 Vgl. Plp. 135; AA II,61O-613.

14. Vollendet unvollendet: der vierte Teil

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deIn kann, wenn diese Texte in einen neuen Kontext verschoben werden. 106 Robert Gould hält dieses Zitat für den Höhepunkt des vierten Teils und der gesamten Autobiographie, es zeige die Autobiographie als Text und als Manipulation von Texten. 107 Manipulation klingt negativ, es ist eher der freie, dem Verfasser und Protagonisten eigene Umgang mit Texten. Das ist auch aus dem Text selbst ersichtlich: die Aussagen über Spinoza zum Beispiel ergänzen sich nicht nur, sie relativieren sich auch. Dabei erfährt der Leser, wie unterschiedlich ein und dasselbe Individuum beschrieben werden kann; das gilt auch für die locker montierten Textstücke über Lavater. 108 Man tut gut daran, den vierten Teil nicht zu sehr von den ersten dreien abzuheben. Liest man Dichtung und Wahrheit am Stück, bemerkt man im letzten Teil keineswegs eine völlig andere Tonlage oder Kompositionsweise im Vergleich zu den vorangegangenen Teilen. 109 Zwanzig Jahre liegen zwischen den zuerst und den zuletzt entstandenen Partien. Da ist eine Entwicklung des Stils unvermeidlich, und daß die Auseinandersetzung mit den bereits geschriebenen Textstücken in den Text eingeht, mindert nicht das Lesevergnügen, sondern steigert die autobiographischen Möglichkeiten. Der vierte Teil ist nicht völlig formlos im Vergleich zu den ersten drei Teilen. Es ist eine formale Folge der sich wandelnden Entwicklungsvorstellung, den Erzähler mehr als Redakteur und Herausgeber erscheinen zu lassen, Texte einzubauen und dieses Zitieren zu kommentieren oder Übergänge als Übergänge sichtbar zu machen. Darin spiegelt sich die Abkehr von der Auffassung, ein Leben und die Erzählung eines Lebens entwickelten sich in Analogie zu den Gesetzen der Metamorphose der Pflanze. Das ist keineswegs so zu verstehen, als habe der Dichter nach langen

Vgl. Gould, S. 303. Ebd. 108 Diese Abschnitte leitet der Erzähler von 1830 so ein: "Und so sind nachstehende Äußerungen über ihn zu verschiedenen Zeiten geschrieben. [... ] Ich vergegenwärtigte mir ihn mehrmals, und so entstanden diese Blätter ganz unabhängig von einander, in denen man Wiederholung, aber hoffentlich keinen Widerspruch finden wird" (AA 1,624). Es folgt ein Textstück, das zwischen 1814 und 1821 entstanden ist, dann eine Passage aus dem Frühjahr 1813; vgl. Scheibe: AA II, 162 und 139. 109 Olav Severijnen untersucht das semantische Feld "Individualität" in Dichtung und Wahrheit und stellt den Text in zwei Tabellen früheren und späteren Autobiographien gegenüber. Dazu unterteilt er den Text in die ersten und die letzten zehn Bücher: In der ersten Hälfte verlaufe die Entwicklung des Protagonisten kausal, in der zweiten dialektisch, und in den Büchern 11 bis 20 seien Optimismus und Erkennbarkeit geschwunden; vgl. Olav Severijnen: Individuum est ineffabile: de modernistische autobiografie tussen Goethe en Leiris. Amsterdam/Atlanta 1989, S. 75 und 137. Diese sehr grobe Einteilung ist kaum begründet, und eher wäre eine besondere Betrachtung des vierten Teils angemessen (zum al er hier zahlreiche Ansätze rur den Übergang zur modemen Autobiographie hätte finden können). Daß Severijnen diesem Teil nicht gerecht wird, zeigt sich auch daran, daß er in Dichtung und Wahrheit nur wenige selbstreflexive Momente entdeckt (ebd. S. 81). 106 107

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

theoretischen Erwägungen beschlossen, den vierten Teil unvollendet zu lassen oder als Bruchstück-Sammlung darzubieten. Wie beim Wechsel der Gleichnisse besteht der Reiz darin, daß diese Veränderungen nicht konstruiert erscheinen und damit um so eindrucksvoller sind. Der vierte Teil ist nicht ganz vollendet, und das ist konsequent. Er ist auch dadurch vollendet, daß er unvollendet ist. Dieser Zwischenzustand als vollendet unvollendete Lebensgeschichte ist bedeutsam rur die Frage, inwieweit Text und Leben vergleichbar sind. Christoph Michel sieht Dichtung und Wahrheit als unvollendetes Kunstwerk; der "Plan, es nach den Gesetzen der Metamorphose zu bilden", scheitere "intern an der Höhe der Forderung". 110 Die Besonderheit des Textes besteht darin, dem Verfasser bei diesem Scheitern zuzusehen. Es ist, wenn man es schon so bezeichnen will, ein fruchtbares Scheitern. Der Erzähler korrigiert seine Annahmen von der Entfaltung, die sich weder im Leben noch im Erzählen vom Leben als angemessen erwiesen haben. So wird die Autobiographie zum Gegenstand ihrer selbst, und die Frage, inwieweit ein Leben überhaupt im Text darstellbar ist, gewinnt an Bedeutung. Der vierte Teil mit seinen wohlinszenierten Brüchen, entstehungsbedingten Lücken und dem dämonischen Ausklang ist abgeschlossen und offen zugleich. 111

15. Was das Dämonische nicht ist und worauf es hinweisen könnte Das Dämonische am Ende von Dichtung und Wahrheit läßt den gesamten Text in einem anderen Licht erscheinen. Es ist ein "Schlußstein des ganzen Werkes"ll2, und eine Besonderheit dieser Autobiographie besteht darin, daß die verwirrend-erhellenden Partien zum Dämonischen vom Ende her auf den vorangegangenen Text wirken. I 13 Der vorsichtige, gewollt unabgeschlossene DeuMichel, S. 222. Zutreffend stellt Gerhart von Graevenitz fest, in Goethes Autobiographie herrsche "das Doppellicht, das Nebeneinander von Einheitsmaxime und Heterogenität des Textes. Der Entwurf einer Sinntotalität und die Vielfalt nicht harmonisierbarer Textkonstellationen koexistieren in einem Text." Gerhart von Graevenitz: Das Ich am Rande. Zur Topik der Selbstdarstellung bei Dürer, Montaigne und Goethe. Konstanz 1989, S. 32. 112 Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert, S. 163. 1!3 Dazu schreibt Gundolf: "Goethe selbst hat das ,Dämonische', das Gestalten und Vorgänge in Dichtung und Wahrheit umschwebt und an diesen unausgesprochen als dichterische Konzeption wahrnehmbar ist, am Schluß seines Werkes als ein philosophisches, ja als ein biographisches Prinzip ausgesprochen, und uns so am Ausgang des ganzen Labyrinths gleichsam einen Ariadnefaden gegeben [... ]. Gewiß ist die Fülle des Goethischen Lebens [ ...] [nicht] erschöpft durch einen noch so vielfassenden Begriff, und ein Ariadnefaden ist nicht das Labyrinth, ein Schlüssel nicht das Gebäude, das er öffnet"; Gundolf, S. 616. Adolf Grabowsky ergänzt: "Es ist ein umgekehrter Ariadnefaden, so möchte man hinzufiigen, einer, der nicht zu Anfang gereicht wird, damit man sich zurückfindet, sondern erst am Ende. Echt Goethisch ist das, weil nicht von irgendei110 111

15. Was das Dämonische nicht ist und worauf es hinweisen könnte

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tungsversuch des Lebens, die beschreibende Nicht-Beschreibung einer Erfahrung, fordert dazu heraus, die gesamte Erzählung der Lebensgeschichte auch als Suche nach Bedeutung zu verstehen. Mit dem Dämonischen entsteht in der Autobiographie ein Ausblick, eine Lücke. Diese Lücke läßt Goethe uninterpretiert. Das reizt die Interpreten besonders. a) Gängige Mißverständnisse

Aus der unübersehbaren Menge von Literatur zum Dämonischen im allgemeinen und bei Goethe im besonderen sind nur die wenigsten Untersuchungen für das Verständnis von Dichtung und Wahrheit weiterführend. Einige Interpreten halten das Dämonische für derart unfaßlich, daß sie sich die Mühe der Auslegung erst gar nicht machen,114 andere hingegen wissen gar zu gut, was mit dem Dämonischen gemeint ist, grenzen es ein und werden ihm damit nicht gerecht. 115 Es bleibt schwierig, das Unfaßbare doch zu fassen und dabei weder ehrfurchtsvoll oder resigniert nicht zu schreiben noch zu predigen, sondern zu fragen, was das Dämonische am Ende von Goethes Autobiographie bedeuten könnte. Einige der häufig auftauchenden Mißverständnisse seien einleitend genannt. Viele Interpreten unterscheiden nicht zwischen Dämonischem, dem Daimon im Sinne der Urworte und den Dämonen,116 sie lassen sich von begrifflichen Unner vorherigen Doktrin ausgehend, sondern vom Erlebnis." Adolf Grabowsky: Das Motto des IV. Teils von "Dichtung und Wahrheit". In: Trivium 3 (1945), S. 241-264, hier S. 255. 114 August Raabe stellt zu Recht fest, daß Goethe mit dem Dämonischen am Ende von Dichtung und Wahrheit keinen klar umrissenen Begriff darbietet. Daher glaubt Raabe nicht versuchen zu müssen, "die Bedeutung dieser widerspruchsvollen Macht etwas in systematischer Darlegung zu veranschaulichen", sondern sieht seine Aufgabe darin, "gleichsam aus Goethes Menschenseele heraus das Erleben des Dämonischen nach gestaltend einem teilnehmenden Leserkreis nahezubringen"; August Raabe: Das Erlebnis des Dämonischen in Goethes Denken und Schaffen. Berlin 1942, S. 11. 115 Das ist Thema des folgenden Abschnitts. 116 Man könne insbesondere "dort, wo das Wort als Substantiv gebraucht wird", einen "spezifischen Leitbegriff' von Goethes Denken sehen, schreibt Theo Buck und verweist auf den Dämon aus den Urworten (der ja eher ein Daimon ist und zudem nicht mehr substantivisch als das Dämonische). Von Dichtung und Wahrheit erwähnt er lediglich am Rande ein Schema. So fragt sich, weshalb Bucks Artikel mit "Dämonisches" überschrieben ist. Theo Buck: Dämonisches. In: Goethe Handbuch. Band 4/1. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. StuttgartlWeimar 1998, S. 179-181. Da Klaudia Hilgers die Ausfiihrungen Bucks unkritisch referiert, kann sie dem Dämonischen nicht gerecht werden. Das ist um so verwunderlicher, als ihre Untersuchung den vielversprechenden Titel trägt: Entelechie, Monade und Metamorphose. Formen der Vervollkommnung im Werk Goethes. München 2002, S. 90f. Mal spricht Hilgers vorn Dämonischen, mal vom "Dämon-Begriff', und weil sie nicht danach fragt, was das Dämonische mit

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

schärfen und von den bildlich-einprägsamen Dämonen in Goethes verstreuten Äußerungen zu Spekulationen verführen, werfen Zitate ganz unterschiedlicher Provenienz durcheinander oder erklären das Dämonische mit allerlei Dämonen aus der Philosophie- und Religionsgeschichte. I 17 Die Passage über das Dämonische im zwanzigsten Buch stammt aus dem Jahre 1813; die meisten anderen Selbstzeugnisse zu diesem Thema sind später entstanden, ein großer Teil erst in den letzten Lebensjahren. Möglicherweise hat die Arbeit an der eigenen Biographie Goethes Verständnis vom Dämonischen verändert, hat ihn sensibilisiert für das Unnennbare. Einige Interpreten gehen noch immer davon aus, daß das "Entelechie, Monade und Metamorphose" zu tun haben könnte, entgeht ihr ein entscheidender Aspekt der untersuchten "Formen der Vervollkommnung im Werk Goethes". Ähnlich undifferenziert geht Erwin Seitz mit dem "Dämonischen" und seinen Wortverwandten um. Er zitiert allerlei Stellen aus Goethes Werk, und auch er meint, "dämonisch" als Adverb oder den "feindselige[n] Dämon" aus den Wahlverwandtschaften (WA 1,20,394) zur Erläuterung des Dämonischen in der Autobiographie heranziehen zu können. Seitz, S. 81. Die Schlüsse aus solchen Untersuchungen tragen zum Verständnis des Dämonischen in Dichtung und Wahrheit nichts bei. Präzise untersucht Hugh Barr Nisbet Goethes Gebrauch des Wortes "Dämonisches" und grenzt diesen Begriff ab von "Dämonen", "Daimon" und "dämonisch", nennt aber auch Ähnlichkeiten; vgl. Nisbet: Das Dämonische. On the Logic of Goethe's Demonology. In: Forum for Modem Lanll;uage Studies 7 (1971), S. 259-281. Auch Hermann Kunisch bemüht sich in seinen Uberlegungen zu "Goethes Menschenbild" um eine deutliche Differenzierung von Daimon und Dämonischem, dieses Kapitel ist in die Abschnitte "Daimon" und "Das Dämonische" unterteilt; Kunisch: Goethe-Studien. Berlin 1991, S. 9-83. Überschneidungen und Unterschiede der Bedeutungen von "Dämonischem", "Dämonen" und "Daimon" stellt auch Hans Joachim Schrimpf dar: Das Weltbild des späten Goethe. Überlieferung und Bewahrung in Goethes Alterswerk. Stuttgart 1956, S. 303-313. Das Goethe-Wärterbuch versucht die verschiedenen Bedeutungen zu ordnen und macht darauf aufmerksam, daß der "Dämon" seit "etwa 1808/09, häufiger seit 1815 auch außerhalb der tradierten Mythologie für irrationale, von außen in das Einzelschicksal meist irritierend eingreifende Mächte" steht. Dies ähnelt der unter dem Stichwort "dämonisch" aufgeführten Bedeutung 2; vgl. Goethe Wörterbuch. Zweiter Band. Stuttgart u.a. 1989, Sp. 1056-1058. Das verführt zu Spekulationen, ob das Dämonische aus dem letzten Buch der Autobiographie auch auf den späteren Wortgebrauch von "Dämon" gewirkt hat. Im GoetheWortschatz von Paul Fischer ist der Eintrag zu "Dämonen" und "dämonisch" auf wenige Zeilen beschränkt, ein Hinweis auf Dichtung und Wahrheit findet sich nicht. Fischer: Goethe-Wortschatz. Ein sprachgeschichtliches Wörterbuch zu Goethes sämtlichen Werken. Leipzig 1929, S. 808f. In vielen allgemeinen Untersuchungen über das Dämonische bei Goethe wird der Dämon vom Dämonischen unterschieden, doch diese Studien werden hier nur herangezogen, insofern sie sich mehr als mit schwammigen Andeutungen auf Dichtung und Wahrheit beziehen. 117 In zahlreichen Studien zu Goethes Verhältnis zur Religion oder Goethes Religion ist das Dämonische erwähnt. Es hat für die Interpreten den großen Vorteil, daß es sich in seiner Unbestimmtheit in jede Richtung biegen läßt und für die unterschiedlichsten Deutungen herhalten kann. Der "sonderbare aber ungeheure Spruch" "nemo contra deum nisi deus ipse" (AA 1,642) hat die Forschung besonders herausgefordert, zumal er mehr als 130 Jahre lang für das Motto des vierten Teils gehalten wurde. Daß dies ein Eingriff der Nachlaßverwalter war, hat Siegfried Scheibe herausgefunden: "Nemo contra deum nisi deus ipse". Goethes Motto zum 4. Teil von Dichtung und Wahrheit. In: Goethe. N.F. des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 26 (1964), S. 320-324.

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Ende von Dichtung und Wahrheit in der letzten Arbeitsphase, 1830 oder 1831, diktiert ist, und ziehen so unbekümmert Belege aus späten Briefen und Gesprächen zur Interpretation der Autobiographie heran. 118 Eine in jüngster Zeit beliebte Variante, mit dem Dämonischen in der Autobiographie umzugehen, ist seine völlige Mißachtung. So erklärt beispielsweise Fotis Jannidis in einer Anmerkung, daß er auf eine Analyse des Dämonischen verzichte: denn es "hatte nur für Goethe Gültigkeit". I 19 Und selbst wenn dem so ist, kann man fragen, was es für Goethe bedeutet haben mag und wieso er ihm am Ende seiner Autobiographie einen so exponierten Platz einräumt. Es ist eine befremdliche Tendenz einiger neuerer Arbeiten zu Dichtung und Wahrheit, das Dämonische nicht zu berücksichtigen. 12o Vielleicht ist diese Vernachlässigung der religiösen Dimension eine Gegenbewegung zu den pathetischen Äußerungen einiger früherer Interpreten 121 und zu den gar zu gewissen Überinterpretationen, von denen im folgenden einige vorgestellt werden. 118 So zum Beispiel Dirk Kemper, der bereits im Vorwort seiner Studie erkennen läßt, daß er davon ausgeht, die Abschnitte zum Dämonischen seien nach der Italienischen Reise entstanden; vgl. Kemper, S. xiii, vgl. auch S. 443. 119 Jannidis, S. 175, Anm. Jannidis meint, das von den Nachlaßverwaltern hinzugefiigte Motto zum vierten Teil habe dazu gefiihrt, "Goethes Darstellung des ,Dämonischen' [... ] als zentrale Stelle des Werks" anzusehen. Und seit bekannt ist, daß Goethe den Spruch dem vierten Teil nicht vorangestellt hat, erübrigt es sich - so die implizite Folgerung -, die einst fiir zentral gehaltenen Passagen zum Dämonischen genauer zu betrachten (ebd.). Es ist konsequent, daß Jannidis das Dämonische unterschätzt, wendet er sich doch entschieden gegen die gängige Annahme, "daß Goethe sein Modell der menschlichen Entwicklung während der Arbeit an Dichtung und Wahrheit verändert hat". Jannidis weist darauf hin, daß es sich nicht um zwei unterschiedliche Entwicklungskonzeptionen handle, es seien vielmehr unterschiedliche Aspekte eines Modells (ebd. S. 91-95). 120 Vgl. dazu auch die Rezension von Harald Schnur zu den Büchern von Erwin Seitz und Fotis Jannidis in: Aurora 57 (1997), S. 217-223. Seitz untersucht nur die ersten drei Teile der Autobiographie. Ungeachtet dessen, wie unsinnig begründet und fragwürdig diese Entscheidung ist, sollte er wenigstens konsequent zum Dämonischen schweigen, doch er spekuliert am Rande ein bißchen über Dämonen und hält das Dämonische fiir "die verjüngende Kraft im Kosmos, die das Überkommene zusammenbrechen läßt". Seitz, S. 82. Kathryn Riely Edmunds beschränkt sich auf die ersten drei Teile der Autobiographie, damit stellt sich die Frage nach dem Dämonischen nicht, und so bleiben der Verfasserin wichtige Aspekte von Goethes Selbstdarstellung verborgen; Kathryn Riely Edmunds: "Nicht wie im Spiegel". Self-representation in Goethe's Die Leiden desjungen Werther, Wilhelm Meisters Lehrjahre and Dichtung und Wahrheit. Princeton 1994. Auch Gabriele Blod kümmert sich nur kurz ums Dämonische; vgl. Blod, S. 296-298. 121 Diese Deutungen können auch Zutreffendes enthalten, wirken wegen des feierlichen Tons aber oft abschreckend. Als Beispiel sei EmiI Staiger angefiihrt: "Und nur wo Selbstvertrauen und Ergebung einander so die Waage halten, wie am Schluß von ,Dichtung und Wahrheit', in den Worten Egmonts, mit denen Goethe das Buch beschließt, eröffnet sich die Bahn zu einer unübersehbaren Zukunft und gewinnt der Mensch die Krone des Lebens." Staiger: Goethe. Band 3, S. 260. Vgl. auch die unten genannten Zitate aus Beutlers Kommentar.

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

b) Gleichgewichtsstörungen Die Abschnitte übers Dämonische sind ein Versuch des Verfassers, sein Leben zu deuten und gleichzeitig Deutungsspielräume zu eröffnen. Es handelt sich mehr um Fragen als um Antworten, und ob man diese Fragen als religiös bezeichnen mag oder als metaphysisch oder nichts von al1edem - es geht um umfassende Zusammenhänge, viel1eicht um höhere Ordnungen. Werden die Leerstel1en, auf die das Dämonische weist, zu eindeutig als religiöse gesehen und entsprechend gefül1t, nimmt man dem Dämonischen die Unbestimmtheit. Erich Trunz schreibt über den dämonischen Schein im kleinen Leben des Protagonisten (vgl. AA 1,642), "daß fortan das Bild des Helden in größten Zusammenhängen steht und am Ende der Leser weiß, daß alles in der Hand dessen liegt, dessen Name hier verehrungsvoll nur so sparsam genannt wird".122 Das mag der Leser so sehen oder nicht, am Text läßt sich das nicht festmachen. Ernst Beutler weiß genau, wie der Schluß von Dichtung und Wahrheit auszulegen ist. Goethes "Werk kündet von Gott, auch wo er ihn nicht versteht", das Dämonische sei der "Vorhang, den niemand hebt".123 Auch al1gemeine Aussagen Beutlers zum Lauf der Welt dienen nicht dem Verständnis der Autobiographie. 124 Er schließt seine Einführung zu Dichtung und Wahrheit bedeutungsschwer: "Welches ist also dann die Stellung des Menschen? - Die gleiche, die dem Urvater des Menschengeschlechts zugemessen war - es ist die Adams, Ton zu sein in der Hand des Schöpfers.,,125 Beutler übersieht, daß Goethe möglicherweise Gründe hatte, dies nicht so eindeutig darzustellen und eine Vielfalt von Auslegungen zuzulassen. Es ist ein eigenartiger Balanceakt, die Abschnitte übers Dämonische einerseits als religiöse Fragen im weitesten Sinne zu verstehen und diese Fragen andererseits nicht mit religiösen Spekulationen ein für allemal zu beantworten. Goethe gelingt es, dieses Gleichgewicht zu halten, vielen Interpreten nicht. Die allzu religiösen Lesarten füllen die Leerstelle des Dämonischen, die der Verfasser offenläßt, mit zu großer Gewißheit aus. Es ist eine Eigenart von Dichtung und Wahrheit, die Fragen der Lebensdeutung erst eindrücklich darzubieten und sie dann mit reizvoll-rätselhaften Andeutungen nicht zu beantworten. Damit haben die psychologisch versierten Interpreten ihre Schwierigkeiten; viele von ihnen wissen zu gut, worüber Goethe schweigt, und sie erklären zudem, was er mit dem Dämonischen verbergen oder kompensieren will. Wider-

122 Trunz: Anmerkungen in HA X,645 . 123 Beutler: Einfiihrung in GA 955. 124 "Nicht der Mensch, sondern Gott formt das Leben und gestaltet die Geschichte";

Beutler: Einfiihrung in GA 955. 125 Beutler: Einfiihrung in GA 955.

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legen lassen sich solche Deutungen nicht und noch weniger am Text nachvollziehen. Gerhard Schulz sieht eine Schwierigkeit mit dem Begriff des Dämonischen darin, "daß er im Grunde eine Privatmythe in einem vorpsychologischen Zeitalter bleibt, die Goethe teils als rein psychologische, teils als geschichtliche Bezeichnung verwendet".126 Damit macht Schulz auf ein Problem aufmerksam, das andere gar nicht erst erkennen oder benennen. Es sei begreiflich, schreibt Martin Stern, daß "ein im tiefsten religiöser Mensch wie Goethe in der Krise des Christentums nach Hilfskonstruktionen Ausschau hielt".127 Die Hilfskonstruktion des Dämonischen sei allein Goethes Angelegenheit. Da bekannt sei, "wie oft gerade Verunsicherte autoritär auftreten", seien vielleicht auch jene Stellen von Dichtung und Wahrheit anders zu verstehen, "an denen der Verfasser eigene Überzeugungen mit einschüchternder Sicherheit als Gesetze der Menschheit darstellte. Sie waren sein Mittel, sich vorläufig über unlösbar gewordene Fragen zu beruhigen"l28. Das Dämonische wäre demnach nichts als das selbstgeschaffene Beruhigungsmittel eines orientierungslosen Dichters, das mit den "Gesetzen der Menschheit" tatsächlich wenig zu tun hat. Walter Muschg sieht im Dämonischen das "mythische Gegenbild zu Goethes eigener Entschlußunfähigkeit"; die Ausftihrungen am Ende von Dichtung und Wahrheit seien "als Rechtfertigung seines Verzichts auf die Verlobung mit Lili und seiner vielkritisierten Übersiedlung an den Hof von Weimar gemeint".129 Nicht jede Beschreibung eines Gewahrwerdens unerklärlicher Mächte kann zu Kompensation heruntergespielt werden. So argumentieren nicht alle psychologisch geschulten Interpreten; Michael Gärtner beispielsweise geht differenzierter vor. Er meint, Dichtung und Wahrheit diene Goethe zur "lebensgeschichtlichen Integration", damit habe er sich "die Kontinuität persönlicher Krisen und deren Überwindung bewußt machen" können. 130 Benedikt Jeßing, der gerne von Sinn- und anderen Stiftungen spricht, \31 hält die Flucht nach Weimar, "die alle Frankfurter Verhältnisse, zu Lili, zum Vater, zur bürgerlichen wie juristischen Existenz, abbrechen läßt", ftir das "Symptom einer radikalen existentiellen Krise". Diese Flucht verweigere sich "der biogra126 Gerhard Schulz: Chaos und Ordnung in Goethes Verständnis von Kunst und Geschichte. In: Goethe Jahrbuch lID (1993), S. 173-183, hier S. 179. 127 Martin Stern: "Wie kann man sich selbst kennen lernen?" Gedanken zu Goethes Autobiographie. In: Goethe Jahrbuch 10 I (1984), S. 269-281, hier S. 280. 128 Stern: "Wie kann man sich selbst kennen lernen?", S. 280. 129 Muschg, S. 33. 130 Gärtner, S. 171. 131 So erklärt er beispielsweise zu Beginn seines aufschlußreichen Artikels zu Dichtung und Wahrheit, er wolle "die Zielintention der autobiographischen Sinnstiftung G.S überhaupt sichtbar" machen; Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 281.

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

phischen Sinnstiftung, der narrativen Konstruktion sinnhafter Kontinuität und Identität".132 Es sieht so aus, als halte Jeßing die "Sinnstiftung" ausschließlich für die Aufgabe des Autobiographen, der sich schreibend über sich und sein Leben klar werden soll.133 Peter Sprengel erwähnt die "fonngebende und sinnstiftende Hand des Autobiographen,,134, und Walter Hettche, der die Auseinandersetzung Goethes mit Lavater in den Briefen und die Darstellung in Dichtung und Wahrheit vergleicht, meint, in der Autobiographie werde das "Prinzip der ,Dichtung'" sichtbar: "hier in Gestalt einer nachträglichen Sinnstiftung, einer aus der Sicht des Alters den Wirren der Jugendjahre gegebenen Hannonie und Einheitlichkeit, die der Jugend gewiß nicht in dem Maße eignete, wie Goethe in Dichtung und Wahrheit glaubhaft zu machen versucht".135 Das klingt so, als wolle der Verfasser seine Leser täuschen und als habe der Interpret ihn dabei ertappt. Hettche spricht mal von "sinnstiftenden Betrachtungen", mal von "den deutenden und ordnungs stiftenden Mitteln der Dichtung", mit diesen lege der Autobiograph "dem Publikum, aber vor allem sich selbst, Rechenschaft ab[ ... ] über das, was er als die Wahrheit seines Lebens erkannt hat". 136 All die Ausführungen zur sogenannten Sinn stiftung lassen auf die implizite Annahme schließen, das erlebte Leben habe keinen Sinn, zumindest keinen erkennbaren. Identität und Zusammenhang müssen erst "narrativ gestiftet" werden. Der sinnstiftend tätige Autobiograph verleiht den sinnlosen Fragmenten eine Ordnung. So ließe sich auch das Dämonische interpretieren: es wäre allein eine Hilfskonstruktion. Wieso sollte Goethe sein Leben beschreiben, wenn es ihm sinnlos erschiene? Im Vorwort zum vierten Teil erwähnt der Erzähler Hindernisse, die er "faßlich und lesbar zu machen" versucht (AA 1,551). Damit ist nicht gesagt, daß das gelebte Leben völlig unzusammenhängend und sinnlos ist. In der Autobiographie macht der Verfasser Zusammenhänge sichtbar, ob er sie

132 Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 323. Über den vierten Teil schreibt er: "Das lockere, erzählerisch ge stiftete Verhältnis zwischen biographischem Erleben und autobiographischer Narration tritt hier in den Blick des Textes, ebenso wie die nunmehr mangelnde Kraft, zwischen den Einzelheiten des Erlebten Zusammenhang zu stiften." (ebd. S. 327f.) Auch die Identität muß offenbar gestiftet werden, das belegt folgende Aussage: "Die Konzeption der über das autobiographische Schreiben versuchten Identitätsstiftung als geniehaftem Dichter versagt also vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung der Niederlage Napoleons, dessen Genie dem eigenen gleichgesetzt wird." Benedikt Jeßing: Johann Wolfgang Goethe. StuttgartlWeimar 1995, S. 176. 133 "Erst im biographisch reflektierenden Schreiben" konstituiere sich "der Sinn eines Lebens, der nicht mehr fraglos gegeben ist"; Jeßing: Dichtung und Wahrheit, S. 280. 134 Sprengel: Einfiihrung in MA 896. 135 Walter Hettche: Nachwort. In: Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Walter Hettche. Band 2. Stuttgart 1991, S. 375f. 136 Ebd. S. 385 und 394.

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findet oder erfindet, ist schwer auszumachen. 137 Von Sinnstiftung kann sinnvollerweise nur gesprochen werden, wenn man der Autobiographie - und sei es nur an diesem Punkt - die referentielle Eigenart abspricht. Und wenn man das tut, stellt sich die Frage: wer stiftet denn den Sinn? Der Verfasser? Gibt er erzählend seinem Leben einen Sinn? Überzeugt er sich damit selbst? Diese Fragen führen über eine Interpretation des Textes hinaus. Eine andere Art der begrenzten Sicht auf Dichtung und Wahrheit besteht darin, den Protagonisten vor seinem Aufbruch nach Weimar als völlig unfrei zu betrachten. Am Ende absorbiert die Notwendigkeit nicht endgültig jede Freiheit,138 auch wenn der junge Dichter mit Egmonts Worten seinen Einfluß auf den Lauf seines Lebens als äußerst begrenzt darstellt. Es ist lediglich eine "unbegreifliche Weise" der Zusammensetzung aus beiden Komponenten (vgl. 28,50).139 Der Begriff des Dämonischen ist ein Nicht-Begriff, er steht für etwas, das sich allen Begriffen entzieht. Es ist dem Gegenstand unangemessen, das Undefinierbare mit eindeutigen Auslegungen zu sehr einzugrenzen. Zwar ist das Dämonische nicht gänzlich interpretationsresistent, doch die Frage nach seiner Bedeutung verschiebt sich. Nicht wofür es genau steht oder welche Traditionen der Verfasser im Sinn gehabt haben mag, ist für das Verständnis von Dichtung und Wahrheit interessant, sondern welche Ausblicke es am Ende der Autobiographie eröffnet. In diesen Fragen zeigt sich, weshalb es hilfreich sein kann, Paul Ricceurs Überlegungen zur narrativen Identität heranzuziehen. Er schlägt vor, ein Ineinander von Leben und Text anzunehmen, das nicht völlig aufzulösen ist, und diese Position verträgt sich weder mit der Vorstellung, ein Leben außerhalb narrativer Sinnstiftung weise keinen erkennbaren Sinn auf, noch mit der Überzeugung, die Autobiographie sei ein Abbild des Lebens.

137 Müllers Unterscheidung von Autobiographie und Roman fällt eindeutig aus: "Der Roman ist Sinnstiftung und Faktensetzung, die Autobiographie dagegen Sinnfindung im vorgegebenen Faktischen." Müller: Autobiographie und Roman, S. 63. 138 Eugen Wolf1iest aus dem Egmont-Zitat den Sieg der Notwendigkeit über die Freiheit heraus: ,,ziel und bewegende Kraft unterliegen nicht der Berechnung des Menschen: der Anteil, den er selbst an der Gestaltung seines Lebens hat, ist geringfiigig; er lebt nicht, er wird gelebt." Eugen Wolf: Irrationales und Rationales in Goethes Lebensgefiih\. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 4 (1926), S. 491-507, hier S. 501. 139 Martin Stern hat dies wohl mißverstanden: Er meint, nun dominiere "die Vorstellung einer übernatürlichen, numinosen Fremdbestimmung"; "weder dem Zufall noch der freien sittlichen Entscheidung" werde "ein echter Spielraum gelassen". Daß Goethe den eigenen Lebenslauf als "schicksalhaft-notwendig" darstelle, sei das "Mittel, um sich Selbstzweifel vom Hals zu halten"; Stern: "Wie kann man sich selbst kennen lernen?", S.279f.

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

c) Interpretationsversuche

So unangemessen es ist, jede Erfahrung des Verfassers anzuzweifeln oder auszuschließen (wenn man denn annimmt, daß er sich in seiner Autobiographie auch auf sein Leben bezieht), so schwierig ist es zu entscheiden, inwieweit der Verfasser über eigene Erlebnisse schreibt. Die Stelle aus dem elften Buch über die unbegreifliche Zusammensetzung des Lebens aus Freiheit und Notwendigkeit (vgl. 28,50) ist ebenso wie das Ende der Autobiographie mit der Passage zum Dämonischen und das Vorwort zum dritten Teil im Frühjahr und Frühsommer 1813 entstanden. Diese Abschnitte verweisen auf die sich ändernde Vorstellung des Verfassers, der zunächst die Entwicklung des Protagonisten für gesetzmäßig und zielgerichtet hielt oder jedenfalls so darstellte und nun gewahr wird, daß bisweilen unerklärliche Kräfte auf das Leben wirken. Die Frage, was die zuversichtliche Vorstellung vom geregelten Fortschreiten ins Wanken gebracht hat, kann zu den Einflüssen in der Erzählzeit führen - wenn man davon ausgeht, daß es die Einsichten des Verfassers sind, die sich hier vor den Augen des Lesers wandeln, und nicht ein vom Verfasser komponierter Auffassungswandel des Erzählers (und auch dafür könnten sich Anhaltspunkte in der Entstehungszeit finden lassen). Was mag es gewesen sein, das Goethe vom Pflanzenbild abgebracht und zu seiner neuen Konzeption der Autobiographie veranlaßt hat? Dieses die Entwicklung mal fördernde, mal hemmende Unvorhersehbare muß ihm in der ersten Hälfte des Jahres 1813 in besonders eindrucksvoller Weise begegnet sein. 140 Harald Schnur versucht die Entstehungsgeschichte von Dichtung und Wahrheit zu erhellen, indem er Goethes Verhältnis zu Napoleon näher betrachtet. 141 140 Kurz vor Erscheinen des dritten Teils äußerte Goethe die Hoffuung, daß man dem Text ,,nicht ansehe in welcher Zeit er geschrieben ist." An Georg Sartorius, 26. Januar 1814; WA IV,24,124. Diese Aussage spricht fiir merkliche Erschütterungen oder zumindest einschneidende Erlebnisse während der Entstehung des Textes. 141 Vgl. zum folgenden Schnur: Identität und autobiographische Darstellung. Auf den möglichen Einfluß Napoleons hat auch Günter Niggl hingewiesen: "Wieweit Napoleons sinkender Stern und die sich ausbreitende Unruhe der Befreiungskriege dazu beigetragen haben, daß Goethe in diesen Monaten sein bislang optimistisches, vielleicht nur in der Theorie erbautes Bild der gesetzmäßig-entelechischen Lebensentfaltung einer gründlichen Revision unterzog, sei dahingestellt." Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert, S. 162. Diese Andeutung hat Niggl später ausgefiihrt: vgl. Das Problem der morphologischen Lebensdeutung in Goethes Dichtung und Wahrheit. Nicholas Boyle hält das Jahr 1814 fiir entscheidend: ,,1814 bricht die Welt noch einmal zusammen. Die Napoleonische Herrschaft nähert sich ihrem Ende. Goethe muß sich in seinen Schriften eine neue Identität bauen, die seinen Abstand von der Mit- und Umwelt besser zum Ausdruck bringt als die Rolle des mit seinem Publikum völlig einverstandenen Erzählers von ,Dichtung und Wahrheit'." Der Einschnitt in Goethes Leben, "den das Jahr 1814 bedeutet, ist aber sowohl von literarischem als auch von biographischem Belang, denn um diese Zeit vollzieht sich ein markanter und selten richtig gewürdigter Stilwechsel auch in den rein autobiographischen Schriften". Boyle wird mit dieser Über-

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Die beiden sind sich am 2. Oktober 1808 in Erfurt begegnet. 142 Der "Kaiser von Frankreich hat sich sehr geneigt gegen mich erwiesen,,143, schreibt Goethe an Zelter, und Cotta teilt er mit, daß ihm in seinem Leben "nichts Höheres und Erfreulicheres begegnen konnte, als vor dem französischen Kaiser und zwar auf eine solche Weise zu stehen,,144. Am 14. Oktober wurde Goethe das Kreuz der Ehrenlegion verliehen, zwei Tage zuvor erfuhr er, daß er die Auszeichnung erhalten werde. Exakt ein Jahr später, am 12. Oktober 1809, entstand das erste grundlegende Schema zur Autobiographie. Auf diese Koinzidenz vom Jahrestag der Ordensverleihung und der Grundlegung der Autobiographie hat Schnur aufmerksam gemacht. Daß Goethe die Konzeption von Dichtung und Wahrheit im Frühjahr 1813 überarbeitet hat, legt für Schnur den Schluß nahe, daß die Autobiographie "mit grandeur et misere Napoleons in einem Bedingungszusammenhang steht, in einem Abhängigkeitsverhältnis" 145. Für diese Thesen spricht auch die Tatsache, daß in den Tagebüchern Goethes die knappen Eintragungen zum "Biographischen" neben jenen zu Überlegungen zur Metamorphose der Pflanze stehen, und stets werden "Kriegsneuigkeiten",146 die "neusten Politica und Militaria,,147 und der Aufenthaltsort Napoleons sorgfaltig notiert. 148 bewertung des Einschnitts von 1814 den ersten drei Teilen allerdings nicht ganz gerecht. Nicholas Boyle: Geschichtsschreibung und Autobiographik bei Goethe (1810-1817). In: Goethe Jahrbuch 110 (1993), S. 163-172, hier S. 171, 169. 142 Vgl. Schnur: Identität und autobiographische Darstellung, S. 61. 143 An Carl Friedrich Zelter, 30. Oktober 1808; WA IV,20,193. 144 An Johann Friedrich Cotta, 2. Dezember 1808 [Konzept]; WA IV,20,225. 145 Ebd. S. 32. 146 25 . Mai 1813; WA IIl,5,50. 147 2. April 1813; WA III,5,29. 148 Überdies soll Goethe 1831 zu Eckennann gesagt haben, auch Napoleon sei "im höchsten Grade" dämonischer Art gewesen, "so daß kaum ein anderer ihm zu vergleichen ist"; 2. März 1831; GE 438. Beiläufig und als ob dies außer Frage stünde, schreibt Beutler über "die berühmten, durch Napoleons Sturz veranlaßten Ausführungen über das Dämonische"; Beutler: Essays um Goethe, S. 234. Auch Benedikt Jeßing erachtet den Einfluß Napoleons für entscheidend; vgl. Jeßing: Johann Wolfgang Goethe, S. 176. Paul Hankamer hat die Jahre zwischen 1805 und 1810 in Goethes Leben untersucht. Der Tod Schillers, eigene Krankheiten und Schaffenskrisen, die verwirrende Begegnung mit Minchen Herzlieb, "die Erscheinung und der verführerische, aber auch verklärende Zauber Napoleons, dies und eine Fülle kleinerer Geschehnisse bewirkten eine Erschütterung seiner ganzen Existenz, wie Goethe sie seit wenigstens zwanzig Jahren nicht mehr erlebt hatte." Zu jener Zeit habe er "das Dämonische in besonderer Stärke und mit erhöhter Bewußtheit als Schicksalsmacht" erfahren. Paul Hankamer: Spiel der Mächte. Ein Kapitel aus Goethes Leben und Goethes Welt. Tübingen 1943, S. 341. Bleibt zu fragen, wieso dieses Dämonische erst am Ende des Textes verschleiernd genannt wird. Hätte Goethe das bereits zu Beginn der autobiographischen Arbeit geplant, wäre es in den frühen Schemata wahrscheinlich erwähnt. Erwin Seitz unterschätzt den Einfluß politischer Geschehnisse während der Entstehung von Dichtung und Wahrheit, das mag mit seinem begrenzten Blick auf die ersten drei Teilen der Autobiographie zusammenhängen: "Der alte Goethe hatte sich in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts längst ein Welt- und

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

Napoleon war gewiß nicht der einzige Anlaß, eine Autobiographie zu planen und diesen Plan später zu revidieren. Das sollte man etwas weiter fassen: die Erfahrung des Unergründlichen geht als Grunderfahrung in Dichtung und Wahrheit ein, und in besonderer Weise erfuhr Goethe dieses Schicksalartige anläßlich der Erfolge und Niederlagen Napoleons. Das Dämonische wäre kein Dämonisches, wenn man es einer eindeutig erfaßbaren Ursache zuordnen könnte. Offensichtlich ist, daß Goethe im Frühjahr und Sommer 1813 - aus welchen Gründen auch immer und gewiß auch angesichts der Niederlagen Napoleonsvon der Vorstellung einer gesetzmäßig fortschreitenden Entwicklung seines Lebens abkam. 149 Auch die Auseinandersetzung mit Friedrich Jacobi und seinem Buch Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung mag auf die Autobiographie und auf die Passagen zum Dämonischen gewirkt haben,150 vielleicht auch das Schreiben der letzten Abschnitte über Fräulein von Klettenberg. 151

Menschenbild erarbeitet, das von tagespolitischen Ereignissen nicht mehr wesentlich erschüttert werden konnte. [... ] Das Ende des napoleonischen Reiches bedeutete weder rur Deutschland noch rur Goethe persönlich eine Katastrophe, anders gesagt, die Welt brach nicht zusammen!" Seitz, S. 325. 149 Die Vermutungen, Byron könne eines der Vorbilder rur einen dämonischen Menschen gewesen sein (vgl. z.B. Eliza M. Butler: Byron and Goethe. Analysis of a Passion. London 1956, S. 209-224; häufig wird auf das Gespräch mit Eckermann vom 8. März 1831 verwiesen, vgl. GE 442), treffen in Bezug auf Dichtung und Wahrheit nicht zu, schließlich kam der Kontakt zwischen Goethe und Byron erst 1816 zustande, also nach der Entstehung der Abschnitte übers Dämonische; vgl. Nicholas Boyle: Byron, George Gordon Noel, Lord (1788-1824). In: Goethe Handbuch. Band 4/1. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart/Weimar 1998, S. 145-149, hier S. 146. Für Gerhard Schulz ist die "Spekulation darüber [... ], wer ihm [d.i. Goethe] zu seiner Bestimmung des Dämonischen in der Geschichte Modell gestanden hat, [ ...] nicht von zentraler Bedeutung, so interessant sie sein mag und so offensichtlich die Angebote rur eine Antwort sind. Wichtig vor allem ist, woraus das Bedürfuis nach einer solchen Bezeichnung erwuchs." Schulz, S. 180. Dabei ist nicht auszuschließen, daß dieses Bedürfnis mit einer Begegnung zusammenhängen kann. 150 1811 erscheint Jacobis Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, ein "Büchlein", das Goethe nach eigener Aussage "ziemlich indisponirt"; vgl. den Brief an Friedrich Jacobi, 10. Mai 1812; WA IV,23,7. In diesem Brief beschreibt sich Goethe als einen, "dem es unmöglich eine angenehme Empfindung erregen kann, wenn irgend ein Apostel seinen Mitbürgern einen anderen und noch dazu formlosen Gott aufdringen will" (WA IV,23,7). Es ist nicht allein die Unvereinbarkeit der Gottesvorstellungen, die Goethe und Jacobi trennt, sondern auch die Unfähigkeit Jacobis, andere Auffassungen gelten zu lassen. Seine sehr präzise Gottesvorstellung und die Überzeugung, daß die Natur Gott verberge, waren Goethe unerträglich. Er hat die Jacobi-Stellen rur Dichtung und Wahrheit möglicherweise im Mai 1813 diktiert (vgl. EGW 355). Im Januar desselben Jahres hatte er dem Freund geschrieben, es war der letzte Brief, und er blieb unbeantwortet. Von Jacobis Ansichten und Eigenarten herausgefordert, charakterisierte Goethe sein eigenes Denken so: "Ich rur mich kann, bey den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden als das andre. Bedarf ich eines Gottes rur meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist darur auch schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die

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Wohlwollende Interpreten gestehen dem Verfasser zu, daß ihm etwas Unfaßbares begegnet ist, und deuten seinen dichterischen Umgang mit dieser Erfahrung. Sie halten jenes Gleichgewicht, das in den oben genannten Deutungen gestört ist. Hermann Kunisch merkt an, daß Goethe diese letzte Frage, ob das Dämonische an der göttlichen Wirklichkeit teilhabe, unbeantwortet läßt. "Wie überhaupt zu sagen ist, daß er in einem Letzten sich vor dem ,Dämonischen' ins Schweigen zurückzieht. Er läßt Entscheidendes im Unklaren; so sehr war er von diesem Geheimnis des Menschen angegriffen und ihm als einem Ungeheuren selbst begegnet. ,,152 Die Frage ist eine religiöse, und daß Goethe keine Antwort gibt, ist eine angemessene Haltung. Seine Sicht ist, wie Herrnann Krings schreibt, einzigartig, "weil er Beobachter der Natur und Dichter in einem ist. So gelingt ihm eine einmalige, ebenso genaue wie umfassende wie schöpferische Sichtung und Benennung des Phänomens. Eine besondere religiöse Sinndeutung bleibt dabei aus, und so muß es nach Goethes Art wohl auch sein".153 Das muß nicht heißen, daß sich der Interpret keine Gedanken darüber macht, worauf diese Lücke hinweisen könnte, doch ist Zurückhaltung geboten. Es ist die Erfahrung des Protagonisten, daß das Dämonische "uns nur desto schlimmer mitspielt, jemehr wir Ahndung von seiner Nähe haben" (AA 1,646). Jede Annäherung ans Dämonische fordert es also erst recht heraus. 154 Es entzieht sich einer eindeutigen Deutung. Nach der Interpretation von Hugh Barr Nisbet besteht die Funktion von Goethes Begriff des Dämonischen nicht darin, zu erklären, sondern Erklärungen zu verhindern. Der Begriff soll das Geheimnis nicht lüften, sondern bewahren. 155 Das Dämonische beschließt die Lebens-

Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen." (An Friedrich Jacobi, 6. Januar 1813; WA IV,23,226) Daß er "nicht an einer Denkweise genug haben" kann, mag sich auch in der Unbestimmtheit des Dämonischen und im Wechsel der Gleichnisse widerspiegeln. 151 Die Klettenberg-Passagen im fiinfzehnten Buch sind laut Tagebuch am 25. März 1813 entstanden; vgl. WA III,5,26. Kaum hatte Goethe über ihren Tod geschrieben und sich die Eigenart der "edlen Freundin" vergegenwärtigt, steckte er mit den abschließenden Ausfiihrungen zum Dämonischen das Feld ab fiir die erzählte Zeit, in der der Protagonist ohne Ratgeberin wichtige Entscheidungen treffen muß und gewahr wird, daß zwischen all den Plänen auch unberechenbare Kräfte wirken. 152 Kunisch, S. 62f. 153 Hermann Krings: Fragen und Aufgaben der Ontologie. Tübingen 1954, S. 213f. 154 Auch Hans Joachim Schrimpf versteht die Stelle so: "Das als Fügung gedeutete Dämonische schlägt also gerade dann, wenn es direkt der Gottheit zugeschrieben wird, um in das zerstörerisch Dämonische, das dem Menschen so schlimm mitspielt. Wir dürfen demnach den religiösen Sinn des Dämonischen als höhere Fügung darin sehen, daß diese in ihrer Geheimnisstruktur anerkannt und jenes gleichsam als eine Zone der Distanzierung bescheiden zwischen den Menschen und das Göttliche gerückt wird, ohne daß damit der Gottheit ein zweites Urprinzip entgegengesetzt oder nebengeordnet würde." Schrimpf, S. 306f. 155 Vgl. Nisbet, S. 270.

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IV. Dichtung, Wahrheit und das Dämonische

geschichte, stellt sie in einen größeren Zusammenhang und eröffnet Deutungsmöglichkeiten. So bietet Goethe beides: eine abgeschlossene Geschichte und einen Ausblick auf die ungewisse Zukunft des Protagonisten. Es ist keine metaphysische Deutung im Sinne eines religiösen Bekenntnisses und auch nicht der Versuch, jeden Transzendenzbezug auszuschließen, sondern ein verwirrendoffenes Ende. Die Beschäftigung mit dem Dämonischen in Goethes Autobiographie führt nicht zu einem Ergebnis, aber zu einem reizvollen Problem: zur Frage, ob dieses Dämonische allein eine Erfindung des Verfassers ist oder ob es doch auf ein Erlebnis, eine Erfahrung zurückgeht. Manche Interpreten verstehen das Dämonische als bewußt eingesetzte Hilfskonstruktion zur Selbstberuhigung oder Rechtfertigung. Hinter einigen dieser Deutungen steht die Annahme, der sinnstiftende Autobiograph müsse die unzusammenhängenden Erfahrungen und Geschehnisse zu einer einheitlichen Geschichte verdichten. Man würde jedoch Goethe nicht gerecht, verbannte man das Dämonische in die Sphäre der Erfindungen des Dichters und sähe es allein als erdachtes Organisationsprinzip einzelner Wirklichkeitsteile. Da in Dichtung und Wahrheit Fiktion und Wirklichkeit auf vielen Ebenen ineinanderspielen, ist es unangemessen, das Dämonische mit unerschütterlicher Gewißheit der sogenannten Fiktion zuzuordnen. Es ist ein Bild, gewollt unzulänglich in Worte gefaßt, es hat mit der Deutung des Lebens zu tun, es schließt die Lebensgeschichte ab und läßt sie gleichzeitig offen. Goethe ist kein scheiternder Erzähler, bloß weil er abschließend noch einmal darauf hinweist, daß er sein Leben nicht völlig versteht und zu deuten vermag. Im Gegenteil: Indem er seine vorsichtigen Vergleiche revidiert und an die Grenzen des Darstellbaren, des Faßlich- und Lesbarmachens gerät, zeigt er, daß es eine angemessene Haltung ist, das Leben nicht gänzlich interpretieren zu können.

V. Einblicke, Ausblicke 16. Text und Leben im Lebenstext Es könnte aufschlußreich sein, das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit im Text zu untersuchen - von dieser Vermutung hat die Untersuchung ihren Ausgang genommen. Die Vermutung bestätigte sich vielfach. Zum einen auf der Ebene des Protagonisten: der liest und dichtet auf seine Weise, er lebt mit und in der Dichtung. Zum andern auf der Ebene des Verfassers: mit den sichtlich fiktionalisierten Episoden in Dichtung und Wahrheit macht er auf sich aufmerksam und literarisiert vor den Augen des Lesers nicht nur seine Erlebnisse, sondern auch seine autobiographische Arbeit. Die Dialektik von Leben und Literatur durchzieht den gesamten Text, und sie ist mit der Identität des Protagonisten untrennbar verknüpft. Der Held der Autobiographie liebt die Verkleidung und das Rollenspiel. Diese Begeisterung tritt nicht nur im Nachleben von Literatur zutage, er verkleidet sich auch mit selbstgewebten literarischen Stoffen, zum Beispiel als Ich-Erzähler des Neuen Paris und vielleicht auch der Neuen Melusine. Wie lebenswichtig die Dichtung ftir ihn ist, wurde in den Interpretationen deutlich. Der Verfasser inszeniert die Interferenzen von Leben und Dichtung, indem er den Protagonisten mitftihlend lesen, nach der Literatur leben und dichtend überleben läßt. Er stellt sich häufig so dar, als könne und wolle er zwischen Literatur und Leben nicht unterscheiden: er erlebt, was er liest, oder liest, was er erlebt, und wenn er sich dichtend mit der Welt auseinandersetzt, hat er hinterher mit dem Problem zu kämpfen, daß die Leser oder Zuhörer das Erlebte vom Gedichteten trennen wollen. Diese Wechselwirkungen von Literatur und Leben auf der Ebene des Protagonisten lesen sich stellenweise wie eine Illustration zu den Theorien zur narrativen Identität, wie ein Beleg ftir ihre Tragfähigkeit. In diesen Theorien geht es vorwiegend um nichtliterarische Geschichten und ihre Wirkungen auf die Identitätsbildung; die Autobiographie ist hier ein Sonderfall und die eines Dichters eine nochmals speziellere Variante. Dichtung und Wahrheit ist keine Studie zur narrativen Identität. Aber daß der Text etwas anschaulich macht, das heutige Denker in jedermanns Lebensvollzügen entdecken, ist festzuhalten. Vielleicht ist der fundamentale Zusammenhang von Literatur und Leben auch ein "Symbol[] des Menschenlebens"', etwas Allgemeingültiges, etwas, das zum

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V. Einblicke, Ausblicke

"Grundwahre[ n]"2 nicht nur im Leben des Verfassers gehört, sondern auch im Leben des Lesers. Jede Autobiographie ist eine Identitätsgeschichte, Thema ist die Dauer im Wechsel: der Protagonist wandelt sich und bleibt doch derselbe. 3 Zudem ist aus dem Helden der Autobiographie der geworden, der sie nun erzählt. Die Identität der Hauptfigur in Dichtung und Wahrheit erscheint unproblematisch. Dem Leser wird es nicht schwer gemacht, den Helden dieser Geschichte durchgehend flir ein und denselben zu halten. Zerstreuung und Zerstückelung (zumeist seiner Studien) sind erwähnt,4 aber sie sind nicht in dem Sinne formal umgesetzt, daß in der Autobiographie bewußt unzusammenhängende Fragmente aneinandergereiht würden. Auch das Problem der Identität von Protagonist und Erzähler und Verfasser ist in Dichtung und Wahrheit keins. Durch den teils raschen Wechsel der Perspektiven wird die Identität weder aufgelöst noch gefährdet, vielmehr entsteht so ein mehrdimensionales Bild. Mal blickt der Erzähler wohlwollend auf den Protagonisten, mal spöttisch, dann wechselt er wieder zur bevorzugten Ich-Perspektive. Besonders im vierten Teil ist auch der Verfasser einbezogen. Beim Leser stärkt das die Gewißheit, daß es sich um die Geschichte des Knaben handelt, aus dem der Verfasser geworden ist, und er erfährt über beide etwas. Auch daß viele Antizipationen über die erzählte Zeit hinausweisen, verbindet Protagonist und Verfasser. Einige Vorausdeutungen beziehen sich auf das Leben Goethes nach 1775, und das ist streng genommen nicht mehr das Leben des Protagonisten. Wenn der Erzähler später entstandene eigene Texte erwähnt, ist das die Sicht des Verfassers ebendieser Texte und der Autobiographie, und das erzählte Geschehen ist damit an die extratextuelle Wirklichkeit gebunden. Einige theoriebewußte Interpreten verstehen Dichtung und Wahrheit als Konstrukt. Das wird der präzise geplanten, größtenteils diszipliniert diktierten und heiter erzählten Geschichte nicht gerecht. Weder ist es ein theoretischer Text, noch Goethe ein Textkonstrukteur, der Theorien in Dichtung verwandelt.

Zu Eckermann, 30. März 1831; GE 461. Brief an König Ludwig I. von Bayern, 12. Januar 1830; HAGB 363. 3 Im Vorwort zum ersten Teil wird das Individuum, das "unter allen Umständen dasselbe geblieben" ist, dem Jahrhundert gegenübergestellt, das "sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet" (26,7). Es scheine die "Hauptaufgabe der Biographie" zu sein, dies darzustellen. 4 Es ist eine auffällige Übereinstimmung an mehreren Stellen: Im vierten Buch spricht Goethe von "meinem zerstreuten Leben, [... ] meinem zerstückelten Lernen" (26,221), im Zusammenhang mit dem Unterricht bei Geliert ist die Rede von einer "vielfachen Zerstreuung, ja Zerstückelung meines Wesens und meiner Studien" (27,67), auch in Straßburg macht der Protagonist die Erfahrung der ,,zerstreuung und Zerstückelung meiner Studien" (27,238). Und in "so vielfachen Zerstreuungen" wendet er sich an die Klettenberg (28,301). 1

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16. Text und Leben im Lebenstext

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Es bleibt eine Schwierigkeit, die vielschichtigen Bezüge zu verstehen zu suchen, ohne dem Verfasser die Umsetzung irgendwelcher Konzepte zu unterstellen. Auch die Abstecher zur narrativen Identität und zur Dekonstruktion können nicht mehr sein als Anregungen. Dichtung und Wahrheit scheint sich eindeutigen theoretischen Zugriffen zu widersetzen. Zutreffend sieht Gerhart von Graevenitz die theoretische Diskussion zur Hermeneutik "eingeklemmt zwischen den Leitmetaphem ,Verschmelzung' und ,Dekonstruktion"', doch es gebe "literarische Sinnordnungen, denen sich diese Probleme so gar nicht stellen".5 Über das "Nebeneinander von Bruchstückhaftigkeit und Einheit" schreibt von Graevenitz, daß keines der beiden Prinzipien das andere aufzehre. "Solche kombinatorische Strukturen der Hermeneutik sind [...] seit langem im theoretischen und begrifflichen Abseits. Gleichwohl sind sie in Texten zu beobachten.,,6 Musterhaft finden sich diese Strukturen in Dichtung und Wahrheit, besonders im vierten Teil. Damit erhält das Leben seine angemessene Form in einem Text, der zugleich abgeschlossen ist und offen, in dem vieles überlegen erzählt und fast naturnotwendig als sinnvoll gefügt erscheint, anderes hingegen als unverständlich und unbenennbar stehenbleibt. Nicht nur der Protagonist hat Mühe, die eigenen Erlebnisse und Entscheidungen zu verstehen, auch der Erzähler tut sich schwer, das zeigt sich im gescheiterten und damit gelungenen Definitionsversuch des Dämonischen. Im Bemühen um das Verständnis des Lebens stößt der Erzähler an Grenzen, und der Leser erlebt das mit. Es ist, als werde man in der autobiographischen Werkstatt Zeuge, wie sich die Darstellung des Lebens im Text als schwierig gestaltet. Der Wandel in der Lebensdeutung von den Gesetzen der Morphologie zum Webbild bis hin zu den Sonnenpferden und auch die zunehmende Zurückhaltung, den Lauf des Lebens mit Hilfe von Gleichnissen zu verstehen, erscheint als unabgeschlossene Suche nach dem passenden Bild. Der Protagonist sieht sich in unergründliche Zusammenhänge verwickelt, und der Erzähler ist bemüht, diese dem Leser anschaulich zu machen, ohne sie restlos zu erklären. In der Frage nach der Vergleichbarkeit von Dichtung und Leben ist das als Dämonisches bezeichnete Nicht-Integrierbare von Bedeutung. Wenn nicht nur 5 Von Graevenitz, S. 36. 6 Ebd. S. 36f. Dieses "Nebeneinander von Bruchstückhaftigkeit und Einheit" entdeckt von Graevenitz sowohl in Dichtung und Wahrheit als auch in Montaignes Essais. Es ist bemerkenswert, daß er die "kombinatorische[n] Strukturen der Hermeneutik" nicht rur eine Strategie Goethes hält, sondern diese Strukturen im Text beobachtet. Kuhn erblickt in Dichtung und Wahrheit weder die reine Bruchstückhaftigkeit noch die wohlorganisierte Ordnung. Sein Vergleich mit dem Kaleidoskop hebt die sich wandelnde Struktur des Textes hervor und die Schönheit der verschiedenen Formen und Muster: "the autobiographical text is neither a set of disconnected, partially, and imperfectly remembered events, nor a rigidly organized and codified narrative structure; it is instead a kaleidoscope, a collection of beautiful forms (kalos + eidos), which is to say a variegated, changing pattern, rearranging itselfupon each successive inspection." Kuhn, S. 200.

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V. Einblicke, Ausblicke

der Held, sondern auch der Erzähler Schwierigkeiten hat, sonderbare Erfahrungen zu benennen und einzuordnen, wirkt das dem Eindruck entgegen, es handle es sich um eine allzusehr geglättete Geschichte, in der Einzelteile im nachhinein harmonisiert und in einer kausalen Ordnung dargestellt werden, die im Leben nicht einmal zu ahnen war. Mal scheint es, als webe der Verfasser den Lebenstext, dann stellt er dieses Leben wieder als so eigenwillig dar, als entziehe es sich einer geordneten Geschichte, und zudem thematisiert er die Schwierigkeit, das gelebte Leben "faßlich und lesbar zu machen" (AA 1,551). Ob er sich selbst mehr findet oder erfindet, einen Zusammenhang seines Lebens darstellt oder herstellt, ist nicht auszumachen, vielleicht gehört - wie beim Protagonisten - beides zusammen. Dann wäre der Text sowohl ein literarischer als auch ein referentieller. Dichtung und Wahrheit ist beides zugleich; das "und" im Untertitel ist ernstzunehmen.

17. Rückblick auf den Mittelweg Goethe frischt sein Leben nicht nur mit dem "Firniß der Fiction" (27,244) auf, er zeigt mit Dichtung und Wahrheit auch, wie in seinem Leben Fiktion und Wirklichkeit ineinander verschränkt sind. Der Leser kann gar nicht anders, als in Sesenheim Wakefield zu erkennen oder an Lilis Geburtstag das Familienstück über Lilis Abwesenheit als eine gelungene Vorwegnahme der Wirklichkeit zu sehen. Zudem erscheint die Dichtung als das diesem Helden adäquate Mittel, sich aus Widrigkeiten zu befreien. Der Protagonist und bisweilen auch der Erzähler haben nur in begrenztem Maße Einfluß auf ihre Dichtungen, und indem Goethe die Eigendynamik auch des autobiographischen Textes andeutet, ergänzt er nicht nur das Bild vom nachtwandlerisch dichtenden Jüngling, sondern verbindet auch die Ebenen von Protagonist und Verfasser. Leben und Dichtung erscheinen im Leben des heranwachsenden Protagonisten als kompatibel, manchmal notwendig aufeinander bezogen. Gilt das auch für den Verfasser, heißt das nicht, daß die Geschichte, die er von sich erzählt, weniger authentisch ist. Der Dichter schreibt einen Bildungsroman über das eigene Leben, damit dichtet er sich auch eine poetische Identität, und er versucht nicht, das zu verbergen. Wenn dieser Protagonist nicht nur eine Erfindung des Verfassers ist, ist es ein angemessener Zugang zum Text, eine Wirklichkeit außerhalb dieses Textes nicht auszuschließen; möglicherweise ist das auch im Sinne Goethes, der sich solche Fragen erst gar nicht stellte. Das muß nicht bedeuten, überall außerliterarische Referenzpunkte zu suchen und dem Dichter Abweichungen nachzuweisen. Hält man die Identität von Protagonist und Verfasser für unmöglich, nimmt man dem Text eine reizvolle wie theoretisch kaum faßbare Nuance: Im Text inszeniert Goethe mit vielfältigen Mitteln und in zahlreichen Situationen des Protagonisten einen Zusammenhang zwischen Text und Leben; so ist zumindest denkbar, daß es einen solchen Zusammenhang auch zwischen Text und Außerhalb-des-Textes geben kann. Für die Interpretation

18. Verwirrung mit Quellenwert

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mag es einfacher sein, entweder alle autobiographischen Einzelheiten mit biographischen Details zu vergleichen oder jeden Bezug zu einer textexternen Wirklichkeit von vornherein für unmöglich zu halten. So ließe sich auch punktuell verfahren, beispielsweise um das Dämonische für fiktional zu erklären, nur weil dem Interpreten die Gewißheit des Verfassers unheimlich ist, daß es auch Unerforschliches gibt. Eine eindeutige Antwort war nicht zu erwarten auf die Frage, ob man von der Protagonisten-Ebene auf die Verfasser-Ebene schließen kann. Das entschiedene "nein" der Dekonstruktivisten ist eine zu einfache Antwort und reduziert Dichtung und Wahrheit um eine Dimension: um die Dimension des potenzierten Verhältnisses von inner- und außerliterarischer Wirklichkeit. Auf dem hier beschrittenen Mittelweg kann man aus heuristischen Gründen zunächst die Frage außer acht lassen, was denn nun als überprütbare Wahrheit gilt. Die Verschachtelung von inner- und außerliterarischer Wirklichkeit im Text ist - das haben die Interpretationen gezeigt - komplex genug. In einem zweiten Schritt kann man in Einzelfällen die Erträge der positivistischen Forschung und Äußerungen des Verfassers heranziehen; nimmt man diese Quellen zu früh hinzu, verstellt das möglicherweise den Blick auf den Text selbst. Dichtung und Wahrheit kann man nicht trennen. Aber man muß sie unterscheiden, um ihren Zusammenhang in Dichtung und Wahrheit zu erkennen. Aus dieser Lesart ergeben sich weiterführende Fragen. Eine gattungsgeschichtliche Untersuchung dieses Zusammenhangs von Text und Leben im Lebenstext hätte zu prüfen, wie sich dieses Verhältnis in Autobiographien im Laufe der Zeit wandelt, ob Dichtung und Wahrheit in diesem Punkt Vorgänger hatte und wie diese Besonderheit des Textes auf spätere Autobiographien, Bildungsromane und fiktive Autobiographien gewirkt hat. Der Held verkörpert auch ein Stück weit die romantische Vorstellung vom Leben als Roman, und es ist bemerkenswert, wie kritisch der Erzähler diese Lebens- und Leseweise mitunter kommentiert. Zahlreiche Parallelen zum Wilhelm Meister ließen sich finden - ohne ständig zu berücksichtigen, daß die beiden Bücher in unterschiedlicher Weise mit dem Leben des Verfassers zu tun haben. Auch bei der Betrachtung des Phänomens der Dichtung in der Dichtung oder bei der Bewertung von Goethes Altersstil ist es nicht ratsam, Dichtung und Wahrheit für weniger literarisch zu halten, bloß weil es sich um eine Autobiographie handelt.

18. Verwirrung mit Quellenwert Goethes Autobiographie ist eine überhöhende Selbstdarstellung - nicht weil schon der Knabe mehrsprachige Briefromane verfaßt oder kunstvoll komponierte Märchen erzählt, nicht weil der Protagonist souveräner oder mutiger erscheint, als es der Verfasser vielleicht je war, oder weil Goethe sich dichtend

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V. Einblicke, Ausblicke

von Schuldgefühlen befreit, sondern weil das Verhältnis von Leben und Dichtung als so geheimnisvoll und grundlegend dargestellt ist, daß auch die Gestaltung eben dieses Lebens in Form einer literarischen Erzählung als angemessen erscheint. Vom Titel bis zum Schlußzitat spielt Goethe mit dem wechselseitigen und wechselhaften Verhältnis von Literatur und Leben, mit Rollen, Identitäten und Verkleidungen. Dabei streift er Grundfragen der Gattung und der Vergleichbarkeit von Text und Leben und ist weit entfernt davon, theoretisch oder poetologisch zu spekulieren oder irgendwe1che Programme dichterisch umzusetzen. Die vielfältigen Synergien von Dichtung und Wirklichkeit sind auf der Ebene des Protagonisten so plastisch dargestellt, daß es schwerfällt, sich den Sprung auf die Ebene des Verfassers zu versagen. Die Literarisierung des Lebens durch den Protagonisten ist eines der Leitmotive dieser Autobiographie, und die Autobiographie wiederum ist ein weiterer Beleg für diese Eigenart des Verfassers. Goethe hat einen Text über sein Leben geschrieben, in dem für den Protagonisten und manchmal auch für den Erzähler keineswegs durchschaubar ist, wer den Lebenstext webt. Damit sind letzte Fragen angesprochen und nicht beantwortet. Die "halb poetische, halb historische Behandlung" (26,8) seines Lebens hat Goethe mit einem Untertitel versehen, der nicht nur das Verhältnis von nachprüfbaren Fakten und Hinzuerfundenem, von wirklichem Leben und Fiktions-Firnis meint, sondern auch eine Besonderheit des autobiographischen Helden verrät. Die Wahl des Untertitels und die halböffentlichen Äußerungen dazu in Briefen und Gesprächen lassen vermuten, daß Goethe das Befremden seiner Leser einkalkuliert. Im undurchdringlichen Dickicht der Bezüge von Literatur und Leben verschiebt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Aufschlußreicher als Daten und Fakten erscheint das Bemühen des Verfassers, das gelebte Leben "faßlich und lesbar zu machen" (AA 1,551) und sich selbst zu inszenieren. Das ist zum Teil so stark betont, daß sich die Frage nicht stellt, ob es im wirklichen Leben genau so gewesen ist. Mit dieser offensichtlichen Literarisierung des eigenen Lebens schafft sich Goethe ein Denkmal, und es ist nicht ausgeschlossen, daß er damit mehr von sich sagt als mit der Anhäufung biographischer Details. So wäre Dichtung und Wahrheit - um auf die alte Frage zurückzukommen - als Quelle höchst zuverlässig. Der gedichtete junge Goethe und der wahre alte Goethe treiben ein ebenso verwirrendes wie unerschöpfliches Spiel mit Wahrheit und Dichtung. Wer hätte das gedacht von einem Buch, das Dichtung und Wahrheit heißt.

Literaturverzeichnis 1. Ausgaben von Goethes Dichtung und Wahrheit a) Erstdrucke Aus meinem Leben Dichtung und Wahrheit. Von Goethe. Erster Theil. Tübingen 1811; Zweyter Theil. Tübingen 1812; Dritter Theil. Tübingen 1814. Goethe's Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. [Taschenausgabe]. Acht und vierzigster Band: Aus meinem Leben . Dichtung und Wahrheit. Vierter Theil. StuttgartlTübingen 1833 (= Goethe 's nachgelassene Werke. Achter Band).

b) Weitere Ausgaben Goethe's Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. [Taschenausgabe] . 24. Band: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 1. Teil. StuttgartiTübingen 1829; 25. Band: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 2. Teil. StuttgartlTübingen 1829. 26. Band: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 3. Teil. StuttgartlTübingen 1829. Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bände 26-29 der ersten Abteilung der Weimarer Ausgabe. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Nachdruck der Ausgabe Weimar 1887-1919. TokyolTübingen 1975 .

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Personen- und Werk register Anders als im Text sind die Personen im Register mit den Namen aufgefiihrt, die sie in der sogenannten Wirklichkeit tragen. Wenn Personen als Figuren in Dichtung und Wahrheit vorkommen (unabhängig davon, inwieweit sie auch außerhalb des Textes existieren), sind die entsprechenden Seitenangaben kursiv gedruckt. Alt, Carl 12 f. Amyot, Jacques 36 Andree, Martin 73, 81 Annette, s. Schönkopf, Anna Katharina

Crusius, Christian August 30

Bartscht, Waltraud 56 Beetz, Manfred 59,62,63 Beisler, Hermann 34 Beutler, Ernst 15, 52, 53, 55, 77, 90, 144f., 147, 149, 151, 158f., 164 Beyerle, Maria 55 Binder, Wolfgang 114 Blod, Gabriele 18f., 24, 55, 67f., 117, 131,133,157 Boisseree, Johann Sulpiz 123, 124, 125 Boyle, Nicholas 162f.,164 Bracht, Edgar 67,71 Brion, Friederike 15,21,35,39,42,65, 67,69-73,75-85,89,97,100,129/ Brockmeier, Jens 104 Brude-Fimau, Gisela 27,30,74 Buck, Theo 156 Buff, Charlotte 85,87,88,89,91/ Butler, Eliza M. 164 Byron, George Gordon Noel 164

Diderot, Denis 85 Dilthey, Wilhelm 103f. Domnick, Anneliese 100 Düntzer, Heinrich 144

Carbaugh, Donal 104 Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach 118,137,138 Carr, David 105 Comenius, Amos - Orbis pictus 28 Cotta, Johann Friedrich 111, 163

Delph, Helena Dorothea 35,96,118,119, 134,135,137-139,151 Derrida, Jacques 108f.

Eckermann, Johann Peter 11, 120, 150 Edmunds, Kathryn Riely 157 Emesti, Johann August 30 Fene1on, Franryois de Salignac de la Mothe - Les aventures de Telemaque 28, 36 Fink, Gonthier-Louis 52, 55, 75 Fischer, Paul 156 Friederike, s. Brion, Friederike Friedrich, Hugo 64,65 Fuchs, Albert 16f.,144 Gadamer, Hans-Georg 103 Gärtner, Michael 23,24,25,27,51,69, 71,74,94,109,152,159 Gellert, Christian Fürchtegott 47, 168 Glagau, Hans 13 Görres, Johann Joseph 28 Goethe, Comelia 30, 60, 120, 148 Goethe, Johann Caspar 28,30,31,35,38, 53,61,72,77,113,118,134,138,148, 150,159

Personen- und Werkregister Goethe, Johann Wolfgang - Bekenntnisse einer schönen Seele 100 - Clavigo 83 - Der Neue Paris 37,50-58,72,74,76, 97, 167 - Die Laune des Verliebten 39 - Die Leiden des jungen Werthers 30, 32,33,47, 58, 65, 85-92, 97, 98, 101, 137, 148 - Die Mitschuldigen 41 - Die Neue Melusine 37, 73-79 80 81 84,100,142,167 ' , , - Die Wahlverwandtschaften 68, 132, 146, 156 - Egmont 40, 111, 112, 116, 117, 118, 119,130, 133f., 152, 157, 161 - Erwin und Elmire 40 - Faust 33, 70 - Faust II 55, 132, 146, 152 - 88 Götz von Berlichingen 42 ' 70 , 83 , 86 , - Hanswursts Hochzeit 152 - Herz, mein Herz, was soll das geben (Neue Liebe, neues Leben) 147 - In allen guten Stunden (Bundes lied) 147 - Iphigenie aufTauris 35 - Italienische Reise 157 - Lilis Park 40 - Prometheus 44f., 114 - Tagebuch zur ersten Schweizer Reise 99,144,148-150 - Urworte, Orphisch 155 - Wanderers Sturm lied 143 - Warum ziehst Du mich unwiderstehlich (An Belinden) 147 - Wilhelm Meisters Lehrjahre 10 1, 171 - Wilhelm Meisters Wanderjahre 75,76, 78,101,132,145,171 - Zur Farbenlehre 55 - Zur Morphologie 125 Goethe, Katharina Elisabeth, geb. Textor 35,42,77,131,144,146,152 Go1dsmith, Oliver 69f. - Deserted village 35

183

- The Vicar of Wakejield 35,37,65,67, 69, 71-73, 78, 79, 80, 81, 83-85, 98, 170 Golz, Jochen 51,58 Gottfried, Johann Ludwig - Historische Chronica oder Beschreibung der Geschichte vom Anfang der Welt bis aufdas Jahr 1619 28,35 Gottsched, Johann Christoph 35 Gould, Robert 134,143,151,153 Grabowsky, Adolf 154f. Graevenitz, Gerhart von 169 Graham, Ilse 89 Grappin, Pierre 18,67 Greiner, Bernhard 75,77,83,84,100 Gretchen 14,35,38,59-66,97,126,148 Günther, Johann Christian 48 Gundolf, Friedrich 14, 154 Hagedorn, Friedrich von 47 Harnann, Johann Georg 136 Hankamer, Paul 163 Hardy, Barbara 104f. Hebel, Johann Peter - Sonntagsfriihe 79, 83 Herder, Johann Gottfried 37, 42, 68, 69, 70, 74 Herzfelder, Johannes 150 Hettche, Walter 20,149, 160 Heynacher, Max 14f. Hilgers, Klaudia 155 f. Hirnburg, Christian Friedrich 43 Hinchrnan, Lewis 104, 105 Hinchrnan, Sandra 104,105 Hiob 36f. Hofmann, Peter 117, 149 Holbach, Paul Thiry d' - Systeme de la nature 32 Horner 31 Horn, Johann Adam 47 Hutten, Ulrich von 152 Iser, Wolfgang 19 Ixion 36

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Personen- und Werkregister

Jacobi, Friedrich Heinrich 45, 164f. - Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarnng 164f. Jahn, Kurt 13f., 144 Jannidis, Fotis 16,128,157 Jeßing, Benedikt 20, 59, 62, 70, 74, 77, 81,87,94,96,128,145, 159f., 163 Jerusalem, Kar! Wilhelm Ferdinand 85, 88,89 Jung, Johann Heinrich (Jung-Stilling) 135, l39-141, 151 Kaiser, Gerhard 46, 131 f. Kausch, Karl-Heinz 52 Kemper, Dirk 26, 134f., 157 Kerby, Anthony 105 Klettenberg, Susanna Katharina von 100, 113, 135-137, 138j, 141,164, 165, 168 Klinger, Friedrich Maximilian von 35,43 Klopstock, Friedrich Gottlieb - Messias 30f. Klotz, Volker 52 Kochendörffer, Karl 12 Kraus, Georg 112 Kreuzer, Ingrid 53 Krings, Hermann 165 Kuhn, Bernhard Helmut 135,169 Kunisch, Hermann 156, 165 La Roche, Maximiliane 85, 89 Lavater, Johann Kaspar 62,153,160 - Physiognomische Fragmente zur Befordernng der Menschenkenntnis und Menschenliebe 144, 151 Lehmann, Jürgen 25 Lenz, Jakob Michael Reinhold 43 Lerse, Franz Christian 42 Lili, s. Schönemann, Anna Elisabeth Lotte, s. Buff, Charlotte Lukrez 131 f. MacIntyre, Alasdair 105 Man, Paul de 108

Mandelkow, Karl Robert 14 Marx, Friedhelm 101 Maurer, Karl 87f. Menander 26 Merck, Johann Heinrich 11, 35, 49, 88, 90 Merian, Matthäus d. Ä. - Folio-Bibel 28 Merkur 54 Michel, Christoph 121, 154 Mink, Louis O. 104,105 Mommsen, Katharina 55,57 Mommsen, Momme 20 Montaigne, Michel de 36 -Essais 169 Moses, Stephane 55 Müller, Klaus-Detlef 17,20,28,46,47, 59, 60, 61, 63, 66, 68, 73, 76, 77, 82, 85,88,99,101,161 Muschg, Walter 116,134,159 Naeke, August Ferdinand 68 Napoleon 1., Bonaparte 160,162-164 Niggl,Günter 17,19,112,113,116,121, 126, 128f., 131, 141, 142, 154, 162 Nisbet, Hugh Barr 156, 165 Ossian (James Macpherson) 37 Ovid 70,131 - Metamorphosen 28 Pirckheimer, Willibald 152 Plautus 63 Prevost d'Exiles, Antoine Fran90is 64f. - Histoire due chevalier des Grieux et de Manon Lescaut 38, 64f., 99 Pylades 35,59,63 Raabe, August 155 Rabelais, Fran90is 36 Reik, Theodor 14, 83 Reinhard, Carl Friedrich von 12,66 Remak, Henry 64f.

Personen- und Werkregister Rica:ur, Paul 104-107,161 Riemer, Friedrich Wilhelm 121,128,146, 150 Rotten, Elisabeth 144 Rousseau, Jean-Jacques 85, 87f. - Confessions 87, 99 - Emile ou De / 'education 35 - Julie ou La Nouvelle Heloi"se 87f. - Pygmalion 85 Salzmann, Johann Daniel 139 Schadewaldt, Wolfgang 54,55 Schechtman, Marya 105, 106 Scheffer, Bernd 109 Scheibe, Siegfried 20, 64, 111, 120, 128, 129, 146f., 15Of., 152, 153, 156 Schiller, Charlotte von 125 Schlegel, Friedrich 146 Schlosser, Johann Georg 43 Schnur, Harald 114, 157, 162f. Schönemann, Anna Elisabeth 21,35,36, 40, 92-97, 100, 112, 118, 133, 1371,

143,144,146,147,1501,159,170

Schönkopf, Anna Katharina 39 Schrirnpf, Hans Joachim 156,165 Schulz, Gerhard 159, 164 Seekatz, Johann Konrad 38,55 Seitz, Erwin 18,147,156,157, 163f. Severijnen, Olav 153

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Shakespeare, William 29 - Ham/et 37,81,83 Sisyphos 36 Spinoza, Baruch de 32f., 42, 45,142,153 Sprengel, Peter 16, 20,128,144,151,160 Staiger, Emil 15,55, 145, 149, 157 Staub, Hans 132 Stern, Martin 82,159,161 Stolberg, Christian 49,144,151 Stolberg, Friedrich Leopold 49, 144, 151 Stüssel, Kerstin 24,146 StulI, Heidi 144 Tantalus 36 Thoranc, Fran-;;ois de Theas de 38, 55, 119,148 Tiedemann, Ro1f 55 Trautmann, Johann Georg 55 Trunz, Erich 16, 20, 28, 31, 114, 131, 137,146,149,158 Vergil 31 White, Hayden 104 Widdershoven, Guy 104-106 Wolf, Eugen 161 Wolpers, Theodor 101 Wuthenow, Ralph Rainer 101

Sachregister Altersstil, Alterswerk, Altersepik 16, 144 bis 146, 149, 171 Antike, antik 43,55,58, 119 Authentizität 24, 39, 71, 81, 94, 150 170

Epigenese, epigenetisch 124,125,126 Evolution 125

Beichte, poetische 39,83,90 Bibel, biblische Geschichten 28, 31 f., 33, 35,37,58,65 Biographismus, biographistisch 15, 18, 19,67,69,83

Genie, genial 40,122,140,149,151,160 - Geniekult 143,151 Gleichnis, Bild 45, 66, 77f., 115-117, 119,120,126-128,130,131-135,138, 141f., 142, 154, 162, 165, 166, 169 - Pflanzengleichnis 121f., 124-129, 131, 132,134,141,142 - Wagenlenkergleichnis 133-135, 138, 169 - Webegleichnis 130-132, 134f. Göttliches, Gott, Götter 42, 44, 95, 113, 117, 136, 139, 140, 141, 158, 164f. Grundwahres 11,16,23,168

Christentum, christlich 139,141,159

55, 112f., 114,

Dämonen 118-120, 155f., 157 Dämonisches 20, 45, 108, 110, 112f., 115-120, 130f., 138, 141, 151, 154161,163-166,169,171 Dekonstruktion, dekonstruktivistisch 18f., 67f., 108f., 169, 171 Dichten - nachtwandlerisches, instinktives 42-46, 47,90,140,170 - als Erkenntnismittel 37,38,40,45,98 - als Heilmittel, als Kompensation 37, 38-40,41,42,45,83,98,167,170 - als Naturgabe, Göttliches 37, 41-44, 47 Dichtungen als Bruchstücke einer großen Konfession 46f. Dichtungsverständnis 97f., 101, 137 - didaktisches 88f.,90 Entelechie 123,129, 156f., 162 Entwicklung 121-130,142 - Entwicklungshindernisse 120, 122, 123f., 126, 127, 130, 134, 143

Freiheit und Notwendigkeit 161, 162

Hermeneutik, hermeneutisch 105, 169

82, 129f.,

33f., 10 1,

Identität 26,51,61,67,72,73,75,80, 99, 103-107, 109, 110, 160, 167, 168, 172 - Identität von Protagonist, Erzähler und Verfasser 25,40,47,51,71,75, 143, 148, 168, 170 - märchenhafte 51 - narrative 20,103-107,161,167,169 - poetische 80, 170 Individuum 26,34,82,129,153 - und Jahrhundert 26,34,111,121,127, 131, 168 Intertextualität 81, 83f., 97, 100, 134 Inszenierung 20, 24, 31, 43, 48, 52, 58, 60, 59, 62, 67-69, 72, 82, 84, 93, 94, 96,97, 101, 107, 151, 154, 167, 170, 172

Sachregister Lebensdeutung 16, 20, 110, 114, 120142, 154f., 158, 166, 169 Lebenszusammenhang 103f., 107f., 124 Lesen (s. auch Vorlesen) 27-37, 70f. 79, 98,100-102 Märchen 18,27,29,30,35,37,38,5058, 59, 60, 69, 73-79, 84,91, 97, 98, 100,171 Maske, Kostüm 54,61-63,66,73 Metamorphose - der Pflanze 121f., 124, 126, 129, 131, 132,141,142, 153f., 163 - als autobiographisches Prinzip 121 f., 124, 126, 129, 131, 132, 141, 142, 153f. Metaphysik, metaphysisch 14, 32, 158, 166 Morphologie 121,125,126,141,169 Muster, literarische 27, 36f., 49, 64, 65, 80, 81, 84f., 87f., 96, 97, 100, 107, 110,167 Mystifikation 59,60,63,66,90 Mythologie, mythologisch 36, 54, 55, 58, 156 Natur 41,42-45,47,49,56,70, 85, 86, 87,93, 95, 105, 113, 115, 12lf., 125, 129, 142, 145,164,165,169 Notwendigkeit, s. Freiheit Pietismus, pietistisch 113f., 136, 139 Poesie der Poesie 146 Positivismus, positivistisch 14, 15, 17, 171 Psychoanalyse, psychoanalytisch 14, 23, 55f., 83,140, 158f. Referenz, Referentialität, referentiell 17, 19, 20f., 24, 25, 56, 68, 99, 108, 161, 170

187

Religion 33, 55,112-114,117,119, 136f., 138,140,141,156,157, 158f., 165f. - und Poesie 39, 66f., 90 - religiöse Entwicklung des Protagonisten 112-114 Rezeption - als Thema in Dichtung und Wahrheit 24,26, 30,47, 50-52, 53, 56, 57, 70f., 74,78, 79f., 87f., 90-92, 98 Rokoko 54,55,58 Rolle, Rollenspiel 54, 60, 71-73, 80, 93, 101,130,167,172 Roman, romanhaft 13, 17, 35f., 36, 37, 38, 59, 60, 64-66, 67f., 69-73, 79-81, 84f., 85-91, 93, 96, 98, 99, 100, 103, 161,170,171 Romantik, romantisch 28,67,69, 80,86, 151,171 Schauspiel, s. Theater Sinnstiftung 39,159-161 Sturm und Drang 143,149,151 Täuschung 50,59,80, 84, 85, 97, 101, 160 Talent 24, 38, 39-46, 50, 58, 77 Theater 35,41,48,58,61-63,93,95,96, 97, 100, 119 Trauerspiel, bürgerliches 62 Verkleidung (s. auch Maske, Kostüm) 54, 58, 61-63, 72f., 80, 81, 97, 98, 118, 167,172 Volksbuch 28f. Vorlesen 37, 70f., 73f., 79f., 81 Wachstum 122,126-128,131,132, 133f. Weltordnung, moralische 117, 130, 131, 132 Zufall 82, 113, 115, 125, 127, 138, 139, 145,161