Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen 9783110312997, 9783110310290

This book discusses the categories of temporality, aspectuality, and modality and analyzes how these are made up and fun

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German Pages 429 [430] Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung: eine funktionale und zusammenhängende Betrachtung temporaler, aspektueller und modaler Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen
1.2. Die grammatischen Kategorien Tempus, Aspekt, Modus und die funktionalen Kategorien Temporalität, Aspektualität, Modalität
1.3. Zum Aufbau dieses Buches
2. Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen
2.1 Sprache und Zeit
2.2. Ausdrucksmittel der Temporalität
2.2.1. Unterschiedliche Kodierung von Temporalität
2.2.2. Temporale Adverbiale
2.2.3. Temporalpartikeln
2.2.4. Temporale Verbalperiphrasen
2.2.5. Aspekt und Aktionsart als Ausdruck von Temporalität
2.2.6. Temporalität durch Diskursprinzipien
2.2.7. Tempus als Ausdrucksmittel von Zeit
2.3. Tempora und Repräsentation von Zeit
2.3.1 Schwierigkeiten des Tempusbegriffs
2.3.2. Präsens und Gleichzeitigkeit
2.3.3. Temporale Möglichkeiten des Imperfekts
2.3.4. Das einfache und das zusammengesetzte Perfekt
2.3.5. Das Futur und der Ausdruck von Zukünftigkeit
2.3.6. Vorzeitigkeit in der Vergangenheit und Zukunft
2.4. Bezeichnungen der Tempora in der französischen und spanischen Grammatikographie
2.4.1. Die griechisch-lateinische Tradition
2.4.2. Die Darstellung der Tempora in frühen französischen Grammatiken
2.4.3. Einige Gesichtspunkte der Beschreibung der französischen Tempora im 17. und 18. Jahrhundert und ihre terminologischen Konsequenzen
2.4.4. Benennungen der Tempora der Vergangenheit in einigen Grammatiken des Französischen des 19. und 20. Jahrhunderts
2.4.5. Die Benennung der Verbformen der Vergangenheit in frühen spanischen Grammatiken
2.4.6. Die Benennung der Verbformen der Vergangenheit in spanischen Grammatiken des 18. Jahrhunderts
2.4.7. Terminologische Variation und neue theoretische Ansätze im 19. Jahrhundert
2.4.8. Probleme um die Benennungen des einfachen Perfekts im 20. Jahrhundert
3. Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen
3.1. Aspektualität und Aspekt
3.1.1. Gibt es Aspekt in den romanischen Sprachen?
3.1.2. Theoretische Positionen zum Verhältnis von Aspektualität und Aspekt
3.1.3. Ist der Aspekt subjektiv?
3.1.4. Aktionsarten als Ausdrucksmittel von Aspektualität
3.1.5. Einige Anmerkungen zur Terminologiegeschichte des Aspekts
3.2. Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen
3.2.1. infectum und perfectum im Lateinischen
3.2.2. Verbformen als Ausprägung der Opposition imperfektiv/perfektiv
3.2.3. Infinite Verbformen und der Ausdruck von Aspektualität
3.3. Aspektuelle Verbalperiphrasen
3.3.1. Definition der Verbalperiphrasen in romanischen Sprachen und ihres Beitrags zur Aspektualität
3.3.2. Aspektuelle Verbalperiphrasen und ihre Struktur
3.3.3. Die Periphrase vom Typ STARE+Gerundium und ihre Grammatikalisierung in romanischen Sprachen
3.3.4. Diachronische Entwicklung der Periphrasen vom STARE-Typ im Spanischen und Französischen
3.4. Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität
3.4.1. Verkuyls kompositionelle Erklärung der Aspektualität
3.4.2. Kompositionelle Konstituierung der Aspektualität von Prädikationen
3.5. Aspektualität in deutsch-romanischen und romanisch-deutschen literarischen Übersetzungen
3.5.1. Problemstellung
3.5.2. Thematisch erwartungsgesteuerter Vergleich Original-Übersetzung
3.5.3. Vergleich mehrerer Übersetzungen eines Textes in dieselbe Zielsprache
3.5.4. Vergleich der Übersetzungen eines Textes in mehrere Zielsprachen
3.5.5. Ein Beispiel für Schlussfolgerungen aus dem Übersetzungsvergleich: Aspektcluster
4. Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität
4.1. Modalität als Kategorie
4.1.1. Begriffsbestimmungen in der Modalitätsforschung
4.1.2. Modus und Modalität
4.1.3. Modalverben und Modalität
4.1.4. Dimensionen der Modalität
4.2. Modalität und Polyphonie
4.2.1. Verbformen in eingebundenen Sätzen und Polyphonie
4.2.2. Polyphonie und unterschiedliche Kategorien von Modaladverbien
4.2.3. Imperfekt und Konditional als Markierung von Polyphonie
4.3. Indikativische Verbformen als Ausdruck von Modalität und Evidentialität in romanischen Sprachen
4.3.1. Modaler Gebrauch des Imperfekts in romanischen Sprachen
4.3.2. Erklärungen der modalen Verwendung des Imperfekts
4.3.3. Narratives Imperfekt in romanischen Sprachen
4.4. Evidentialität in romanischen Sprachen
4.4.1. Evidentialität und Modalität
4.4.2. Spezifik nichtgrammatikalisierter Ausdrucksformen von Evidentialität
4.4.3. Modalität, Evidentialität und Deixis
4.4.4. Möglichkeiten der Evidentialität in der Beschreibung romanischer Sprachen
4.4.5. Unterschiedliche Architektur der Kategorie der Evidentialität in den romanischen Sprachen und im Deutschen
4.4.6. Zum Erklärungspotential des Evidentialitätsbegriffs
Schlussbemerkungen
Bibliographie
Index

Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen
 9783110312997, 9783110310290

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Gerda Haßler Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen

Gerda Haßler

Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen

ISBN 978-3-11-031029-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-031299-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039484-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Vorwort ...........................................................................................................................VIII 1. Einleitung: eine funktionale und zusammenhängende Betrachtung temporaler, aspektueller und modaler Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen ........... 1 1.1. Einordnung in den Forschungsstand ................................................................. 1 1.2. Die grammatischen Kategorien Tempus, Aspekt, Modus und die funktionalen Kategorien Temporalität, Aspektualität, Modalität .......................... 5 1.3. Zum Aufbau dieses Buches .................................................................................. 8 2. Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen ........................................... 11 2.1 Sprache und Zeit ................................................................................................... 12 2.2. Ausdrucksmittel der Temporalität .................................................................... 24 2.2.1. Unterschiedliche Kodierung von Temporalität ...................................... 24 2.2.2. Temporale Adverbiale ................................................................................. 29 2.2.3. Temporalpartikeln ........................................................................................ 34 2.2.4. Temporale Verbalperiphrasen .................................................................... 53 2.2.5. Aspekt und Aktionsart als Ausdruck von Temporalität ........................ 74 2.2.6. Temporalität durch Diskursprinzipien ..................................................... 78 2.2.7. Tempus als Ausdrucksmittel von Zeit ...................................................... 80 2.3. Tempora und Repräsentation von Zeit ............................................................ 83 2.3.1 Schwierigkeiten des Tempusbegriffs .......................................................... 83 2.3.2. Präsens und Gleichzeitigkeit ...................................................................... 91 2.3.3. Temporale Möglichkeiten des Imperfekts ............................................. 107 2.3.4. Das einfache und das zusammengesetzte Perfekt ................................ 118 2.3.5. Das Futur und der Ausdruck von Zukünftigkeit .................................. 134 2.3.6. Vorzeitigkeit in der Vergangenheit und Zukunft ................................. 146 2.4. Bezeichnungen der Tempora in der französischen und spanischen Grammatikographie .................................................................................................. 148 2.4.1. Die griechisch-lateinische Tradition........................................................ 149 2.4.2. Die Darstellung der Tempora in frühen französischen Grammatiken ......................................................................................................................... 154 2.4.3. Einige Gesichtspunkte der Beschreibung der französischen Tempora im 17. und 18. Jahrhundert und ihre terminologischen Konsequenzen ............................................................................................................................ 159 2.4.4. Benennungen der Tempora der Vergangenheit in einigen Grammatiken des Französischen des 19. und 20. Jahrhunderts ................... 163 2.4.5. Die Benennung der Verbformen der Vergangenheit in frühen spanischen Grammatiken .................................................................................... 167 2.4.6. Die Benennung der Verbformen der Vergangenheit in spanischen Grammatiken des 18. Jahrhunderts ................................................................... 171 2.4.7. Terminologische Variation und neue theoretische Ansätze im 19. Jahrhundert............................................................................................................. 173

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Inhaltsverzeichnis

2.4.8. Probleme um die Benennungen des einfachen Perfekts im 20. Jahrhundert............................................................................................................. 177 3. Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen .................. 181 3.1. Aspektualität und Aspekt .................................................................................. 181 3.1.1. Gibt es Aspekt in den romanischen Sprachen? .................................... 181 3.1.2. Theoretische Positionen zum Verhältnis von Aspektualität und Aspekt ..................................................................................................................... 198 3.1.3. Ist der Aspekt subjektiv? ........................................................................... 216 3.1.4. Aktionsarten als Ausdrucksmittel von Aspektualität ........................... 219 3.1.5. Einige Anmerkungen zur Terminologiegeschichte des Aspekts ....... 229 3.2. Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen ........... 236 3.2.1. infectum und perfectum im Lateinischen...................................................... 236 3.2.2. Verbformen als Ausprägung der Opposition imperfektiv/perfektiv 238 3.2.3. Infinite Verbformen und der Ausdruck von Aspektualität ................ 243 3.3. Aspektuelle Verbalperiphrasen ........................................................................ 246 3.3.1. Definition der Verbalperiphrasen in romanischen Sprachen und ihres Beitrags zur Aspektualität .......................................................................... 246 3.3.2. Aspektuelle Verbalperiphrasen und ihre Struktur ................................ 249 3.3.3. Die Periphrase vom Typ STARE+Gerundium und ihre Grammatikalisierung in romanischen Sprachen .............................................. 252 3.3.4. Diachronische Entwicklung der Periphrasen vom STARE-Typ im Spanischen und Französischen ........................................................................... 261 3.4. Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität .................. 264 3.4.1. Verkuyls kompositionelle Erklärung der Aspektualität ....................... 264 3.4.2. Kompositionelle Konstituierung der Aspektualität von Prädikationen .................................................................................................................. 267 3.5. Aspektualität in deutsch-romanischen und romanisch-deutschen literarischen Übersetzungen ..................................................................................... 273 3.5.1. Problemstellung .......................................................................................... 273 3.5.2. Thematisch erwartungsgesteuerter Vergleich Original-Übersetzung 279 3.5.3. Vergleich mehrerer Übersetzungen eines Textes in dieselbe Zielsprache ............................................................................................................. 288 3.5.4. Vergleich der Übersetzungen eines Textes in mehrere Zielsprachen 292 3.5.5. Ein Beispiel für Schlussfolgerungen aus dem Übersetzungsvergleich: Aspektcluster ............................................................................................. 294 4. Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität .............................................. 299 4.1. Modalität als Kategorie ..................................................................................... 299 4.1.1. Begriffsbestimmungen in der Modalitätsforschung ............................. 299 4.1.2. Modus und Modalität ................................................................................ 309 4.1.3. Modalverben und Modalität ..................................................................... 315 4.1.4. Dimensionen der Modalität ...................................................................... 319 4.2. Modalität und Polyphonie ................................................................................ 325 4.2.1. Verbformen in eingebundenen Sätzen und Polyphonie...................... 326 4.2.2. Polyphonie und unterschiedliche Kategorien von Modaladverbien . 329 4.2.3. Imperfekt und Konditional als Markierung von Polyphonie ............. 332

Inhaltsverzeichnis

VII

4.3. Indikativische Verbformen als Ausdruck von Modalität und Evidentialität in romanischen Sprachen ............................................................................. 339 4.3.1. Modaler Gebrauch des Imperfekts in romanischen Sprachen ........... 339 4.3.2. Erklärungen der modalen Verwendung des Imperfekts ..................... 341 4.3.3. Narratives Imperfekt in romanischen Sprachen ................................... 349 4.4. Evidentialität in romanischen Sprachen ......................................................... 352 4.4.1. Evidentialität und Modalität ..................................................................... 352 4.4.2. Spezifik nichtgrammatikalisierter Ausdrucksformen von Evidentialität ....................................................................................................................... 357 4.4.3. Modalität, Evidentialität und Deixis ....................................................... 362 4.4.4. Möglichkeiten der Evidentialität in der Beschreibung romanischer Sprachen ................................................................................................................. 365 4.4.5. Unterschiedliche Architektur der Kategorie der Evidentialität in den romanischen Sprachen und im Deutschen ............................................... 371 4.4.6. Zum Erklärungspotential des Evidentialitätsbegriffs .......................... 376 Schlussbemerkungen...................................................................................................... 381 Bibliographie ................................................................................................................... 383 Index ................................................................................................................................. 409

Vorwort Die Idee, ein Buch zu aspektuellen Ausdrucksmitteln in romanischen Sprachen zu schreiben, war mir schon vor der Übernahme meines Dissertationsthemas Mitte der siebziger Jahre gekommen. Dass es dann erst einmal nicht dazu kam, ist einerseits anderen, nicht weniger interessanten Themen geschuldet, andererseits wurden mir jedoch auch die Zusammenhänge mit der Temporalität und der Modalität und damit die Breite des zu bearbeitenden Feldes bewusst. Schließlich fasste ich doch den Entschluss, mich an dieses schwierige Unternehmen zu wagen, immer in dem Bewusstsein, dass auch Mut zu Lücken dafür notwendig ist. Frau Dr. Ulrike Krauß vom Verlag Walter de Gruyter griff meinen Vorschlag auf und unterstützte mich ebenso wie Frau Dr. Christine Henschel in allen Phasen der Arbeit. Verständnisvoll wurde die Abgabefrist mehrfach verlängert, wodurch ich neben allen anderen Verpflichtungen als Hochschullehrerin insgesamt vier Jahre an dem Buch arbeiten konnte. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Verónica Böhm, Anja Hennemann, Udo Mai, Kathleen Plötner und Stefanie Wagner unterstützten mich in dieser Zeit und waren immer für Diskussionen zum Gegenstand des Buches aufgeschlossen. Besonderer Dank gebührt Anja Hennemann, die das Register zu diesem Band erstellte und Udo Mai, der zusammen mit ihr das Korrekturlesen übernahm. Für die Unterstützung im organisatorischen Arbeitsalltag danke ich meiner Sekretärin Beatrice Voigt. Danken möchte ich auch Cordula Neis, Klaus Froese, Alexander und Julia für ihre freundschaftliche Verbundenheit. Schließlich sei erwähnt, dass dieses Buch ohne die liebevolle Zuwendung von Maxi und Moritz nicht entstanden wäre.

1. Einleitung: eine funktionale und zusammenhängende Betrachtung temporaler, aspektueller und modaler Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen 1.1. Einordnung in den Forschungsstand Tempus, Aspekt und Modus gehören zu den Gebieten der modernen Syntax und Semantik, zu denen in den letzten Jahren immer wieder aktiv und umfangreich geforscht wurde. In typologischen Arbeiten wurden sowohl die Gemeinsamkeiten der Gestaltung der Kategorien der Temporalität, Aspektualität und Modalität als auch die unterschiedliche Architektur ihrer Ausdrucksmittel untersucht, z.B. in Bybee, Perkins & Pagliuca (1994), Hollebrandse, van Hout & Vet (2005), Abraham & Leiss (2008), Hogeweg (2009). Während in solchen Studien die romanischen Sprachen oft eine untergeordnete Rolle spielen, nehmen sie in kognitiv und funktional orientierten Forschungen einen wichtigen Platz ein. Ein Forum des Austausches für in dieser Richtung arbeitende Linguisten sind neben zahlreichen anderen Kolloquien die Chronos-Konferenzen, von denen es bisher bereits zwölf gab und deren Ergebnisse in den Cahiers Chronos publiziert wurden.1 Während auf den ersten Chronos-Konferenzen die Relation zum Konzept der ‛Zeit’ zentral war, wurden 2016 Aktionalität, Tempus, Aspekt und Modalität/Evidentialität als gleichberechtigt nebeneinandergestellt. Dass ein gemeinsames Betrachten dieser Kategorien sinnvoll ist, wird auch durch historische Forschungen zum Verbalsystem des Indogermanischen und der alten indoeuropäischen Sprachen, die ein Aspektsystem haben, nahegelegt. Das Zusammenspiel der drei flexiven Kategorien Tempus, Aspekt und Modus (TAM) lässt das System im Indogermanischen rekonstruieren und seine Umstrukturierung beschreiben und deuten. Die Gründe für die anhaltende Beschäftigung mit dem Phänomen der Zeit, ihrer Versprachlichung und ihren Relationen zur Begrenztheit und _____________ 1

Vgl. z.B. Saussure, Moeschler & Puskás (2007), Saussure (2007), Moline & Vetters (2010), Labeau & Saddour (2012).

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Einleitung

zur sprecherbezogenen Subjektivierung sind vielfältig. Der Zusammenhang der Temporalität, Aspektualität und Modalität hat das Interesse nicht nur bei Linguisten, sondern zum Beispiel auch bei Sprachphilosophen geweckt. Gerade die Tatsache, dass die typischen sprachlichen Ausdrucksformen (Marker) für diese semantischen Bereiche oft, vielleicht sogar immer auch für Nachbarbedeutungen verwendet werden, wirft die Frage nach dem Status dieser Morpheme und nach den Wechselbeziehungen der zugrunde liegenden kognitiven Konzepte auf (vgl. Saussure, Moeschler & Puskás 2007: 1). Zweifellos ist unser Wissensstand im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ein anderer als zur Zeit des Erscheinens der Maßstäbe setzenden Arbeiten Aspect (1976) und Tense (1985) von Comrie, doch dennoch steht eine kohärente Anwendung dieses Wissens auf die romanischen Sprachen noch aus. Das Phänomen der Zeit ist Gegenstand vieler unterschiedlicher Disziplinen. Unter philosophischem Blickwinkel ist die Frage interessant, inwiefern Tempus und ontologische Zeit zusammenhängen und ob aus dem Tempus Rückschlüsse auf reale Zeit gezogen werden können. Zeit ist auch für die Narratologie wichtig, insofern Kohärenz und Perspektive mit Hilfe von Tempus ausgedrückt werden, thematische Linien unterbrochen oder aufrecht erhalten werden. Literaturwissenschaftler wie Hamburger (1957) und Weinrich (2001 [1964]) haben zur Untersuchung von Tempus und Aspekt beigetragen, ohne dabei den Aspektbegriff zu verwenden. Für die Narratologie ist es wichtig, dass die chronologische Abfolge von Ereignissen beschrieben wird. Die Narratologen befürworten auch eine Betrachtung der sprachlichen Kategorie des Tempus in Relation zur chronologischen Zeit. Tempus wird dabei als deiktische Kategorie angesehen, was der Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart, Gegenwart und Zukunft entspreche. Außerdem ist Zeit die Chronologie oder die Anordnung des Davor und Danach; schließlich ist sie auch als Extension entweder punktuell oder ausgedehnter Handlungen zu betrachten. Insbesondere Benveniste und Weinrich haben im 20. Jahrhundert Grundlegendes zur Erforschung der Rolle der Tempora in narrativen Texten beigetragen. In seinen Problèmes de linguistique générale (1966) hat Benveniste die Tempora des Französischen, die zu einer Bezugnahme auf die Vergangenheit geeignet sind, zwei unterschiedlichen Tempussystemen zugeordnet, dem discours (oder der Konversation) und der histoire (dem Narrativen). Es ist zu bezweifeln, ob Benvenistes Annahme zweier strikt getrennter Tempussysteme sich an literarischen Texten wirklich verifizieren lässt. Ein ähnliches Problem tritt bei Weinrichs Beschreibung der Tempora des Französischen auf. In seinem Buch Tempus (1985 [11964]) kennzeichnete Weinrich Temporalflexion als eine systembedingte Markierung, durch die nicht etwa Zeit wie bei der Nennung von Daten angegeben wird. Ähnlich

Einordnung in den Forschungsstand

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wie Benveniste unterscheidet er dann zwei Gruppen von Tempora, die er dem Besprechen und dem Erzählen zuordnet. Weinrichs innovativster Beitrag bezieht sich auf die Reliefgebung in narrativen Texten romanischer Sprachen, mit der er die Funktion des imparfait als Hintergrundtempus und des passé simple als Tempus der im Vordergrund stehenden und in einer Aufeinanderfolge erzählten Handlungen kennzeichnete. Mit seiner Tempus-Metaphorik fügte er eine funktionale und semantische Perspektive hinzu, die es erlaubt, Phänomene wie wiedergegebene Rede als metaphorischen Tempuswechsel zu erklären. Die Legitimität, die romanischen Sprachen mit der Kategorie des Aspekts zu beschreiben, wurde vielfach bezweifelt. Zwar stellen sie keine Aspektsprachen in dem Sinne dar, dass sie einen grammatischen Aspekt in Form einer Korrelation von perfektiven und in imperfektiven Verben hätten; sie verfügen jedoch über sprachliche Mittel, um Situationen in ihrer Begrenztheit oder in ihrem Verlauf darzustellen. Jede linguistische Teildisziplin und Schule hat ihren eigenen Zugang zu Tempus und Aspekt (vgl. Binnick 2012: 7), wobei jahrelang die Erklärung der Zeit von Reichenbach (1947) als Standardtheorie herangezogen wurde. Reichenbach hat die Behandlung der Tempora vereinheitlicht, indem er sie alle mit Hilfe eines Bezugspunkts beschrieb. Die naive Annahme eines Bezugs der Tempora zu realen Zeitphänomenen funktioniert jedoch meist nicht, ebenso wie die irrtümliche Identifizierung eines Tempusmarkers mit einem Zeitintervall. Anklänge daran finden sich noch bei Reichenbach und Comrie. Eine Reihe von neueren Arbeiten zum Themengebiet der Temporalität, Aspektualität und Modalität haben auch für unsere Überlegungen Auswirkungen gehabt, obwohl sie nicht direkt die romanischen Sprachen betreffen. Binnick (2006) hat eine Bibliographie zu Tempus, Aspekt, Aktionsart und damit verbundenen Konzepten herausgegeben, die bis 2006 allein 8000 Artikel und 1000 Monographien beinhaltet, seither allerdings nicht aktualisiert wurde. In seinem für ein breites Publikum geschriebenen The Oxford handbook of tense and aspect (Binnick 2012) sind die romanischen Sprachen jedoch kein vorrangiger Gegenstand. Higginbotham (2009) behandelt die Deixis (indexicality) als unterscheidendes Merkmal des Tempus vom Aspekt. Saussure (2008) stellt Fortschritte in der vorwiegend kognitven Syntax und Semantik des Tempus, des Aspekts und der Modalität dar. Ebenfalls kognitiv orientiert sind die Studien in Patard & Brisard (2011). Nur wenige außerhalb der Chronos-Reihe entstandene neuere Arbeiten behandeln explizit die Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen. Der Sammelband von Becker & Remberger (2010) beinhaltet Studien zur Modalität, teilweise auch in Interaktion mit

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Einleitung

anderen Kategorien. Zur Erforschung der Aspektualität in romanischen Sprachen wurden von Dessì Schmid (2014) und zur Modalität von Becker (2014) wichtige Beiträge geleistet. Während es sich bei den genannten Werken mit wenigen Ausnahmen um kollektive Sammelwerke auf der Basis teilweise sehr unterschiedlicher theoretischer Ansätze und mit unterschiedlichen Zielstellungen handelt, soll in diesem Buch eine kohärente Darstellung zu den drei Kategorien Temporalität, Aspektualität und Modalität gegeben werden. Die Ausnahme Higginbothan (2009) bezieht sich nicht auf romanische Sprachen und behandelt vordergründig indexikalische Ausdrücke, während Dessì Schmid (2014) und Becker (2014) jeweils eine der drei Kategorien, die hier gerade in ihrer Interaktion dargestellt werden sollen, behandeln. Außerdem sollen Ergebnisse eigener neuerer Forschungen zur funktionalen Struktur der Kategorie der Aspektualität, zur coverten Modalität und zur Evidentialität in romanischen Sprachen vorgestellt werden, die bisher noch nicht zusammenhängend dargestellt wurden. Informationen über temporale, aspektuelle und modale Merkmale betreffen jede Äußerung und können nicht nur durch Flexion, sondern auch durch verschiedene andere semantische und syntaktische Mittel gegeben werden. Dies führt zu einer Interaktion der sprachlichen Ebenen und kann komplexe Ausdrucksformen hervorbringen. Außerdem wirken temporale, aspektuelle und modale Inhalte auch über die einzelne Äußerung hinaus, was die Berücksichtigung breiterer Kontexte erfordert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Untersuchungen zur Temporalität, Aspektualität und Modalität auch im Bereich der Pragmatik betrieben werden. Traditionell wird grammatikalisierten Ausdrucksformen der Temporalität, Aspektualität und Modalität ein besonderer Status zugeschrieben. Dieser Auffassung stellt Dessì Schmid (2014) für die Aspektualität ein monodimensionales onomasiologisches Modell entgegen, nach dem Aspekt und Aktionsart gleichermaßen Aspektualität ausdrücken. Eine solche Betrachtungsweise wird auch durch die Konstruktionsgrammatik gestützt, die als grundlegende Einheiten der Grammatik nicht syntaktische Einheiten und Kombinationsregeln, sondern Konstruktionen annimmt. Konstruktionen werden auf allen sprachlichen Ebenen als Form-Bedeutungspaare aufgefasst, wobei diese Auffassung über das Lexikon hinaus auch auf die Syntax ausgedehnt wird.2 Neben lexikalischen Einheiten und konventionalisierten Mehrwortausdrücken umfasst der Konstruktionsbegriff Derivations- und Flexionsmorpheme und auch abstrakte, lexikalisch nicht ausgefüllte syntaktische Strukturen, wie Argumentstrukturen oder grammatische Relationen. Eine Konstruktion wie ich war am Lesen könnte somit durchaus _____________ 2

Vgl. Boas & Gonzálvez-García (2014), Goldberg (2006) und (2016).

Die grammatischen Kategorien Tempus, Aspekt, Modus

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als Ausdruck imperfektiver Aspektualität gewertet werden und wäre somit gleichwertig mit der spanischen Verbalperiphrase estar+Gerundium (estaba leyendo) oder dem imparfait (je lisais). Obwohl in diesem Buch gleichfalls ein onomasiologischer Ansatz vertreten wird, gehen wir jedoch nicht so weit, lexikalische und grammatische Ausdrucksformen völlig gleichzusetzen. Beide tragen zum Ausdruck von Temporalität, Aspektualität und Modalität bei, der daher – für die einzelnen Kategorien in unterschiedlichem Maße – als kompositional betrachtet werden kann. Grammatische Formen haben jedoch durch ihre Verwendbarkeit mit verschiedenen lexikalischen Basiskonstruktionen einen höheren Stellenwert im System der Sprache und können durch ihre abstrakte Bedeutung auch eine größere funktionale Vielfalt aufweisen.

1.2. Die grammatischen Kategorien Tempus, Aspekt, Modus und die funktionalen Kategorien Temporalität, Aspektualität, Modalität In diesem Buch gehen wir von den grammatischen Kategorien Tempus, Aspekt und Modus und deren semantischen Merkmalen als onomasiologischem Ausgangspunkt aus und ordnen diese und weitere sprachliche Mittel, die analoge Funktionen erfüllen, den semantischen Kategorien Temporalität, Aspektualität und Modalität zu. Die Untersuchung von Sprachmitteln für einen bestimmten Zweck darf unseres Erachtens funktional genannt werden; auf jeden Fall unterscheidet sie sich von einer formalen Betrachtung der Sprache. Dieser Ansatz ist jedoch nicht funktional im Sinne der Untersuchung von kommunikativen Absichten der Sprecher, sondern wir beschränken uns auf die Realisierung temporaler, aspektueller und modaler Markierungen in Sätzen und Äußerungen. Die Definition der funktionalen Kategorien lehnt sich an den Begriff der funktional-semantischen Kategorien Bondarkos (1967: 18; auch Bondarko 1984, 1987) an, der als Kriterium für die Identifizierung dieser Kategorien die Gemeinsamkeit der semantischen Funktion der korrelierenden Elemente verschiedener sprachlicher Ebenen annimmt. Tempus und Modus werden häufig durch Flexion oder Modifikation des Verbums mithilfe von Auxiliarverben realisiert. So kontrastiert in der Kategorie Tempus das Präteritum in er ging spazieren mit dem Präsens in er geht spazieren, während der Modus in dem Epitaph requiescat in pace der lateinische Konjunktiv requiescat dem Indikativ Präsens requiescit in hic requiescit in pace gegenübersteht. Doch auch Tempus und Modus sind sprachliche Verarbeitungen realer Verhältnisse, nicht direkte Benennungen von

6

Einleitung

Zeit und Realität oder Nichtrealität. Der Gebrauch des Futurs des Indikativs für Annahmen in Bezug auf die Gegenwart ist ein solches Beispiel für im Hinblick auf die Zeitverhältnisse nicht prototypischen Gebrauch des Tempus: Anna ist heute nicht da. Sie wird krank sein. Es ist sogar schwierig, von prototypischem Gebrauch, etwa des Futurs für die Zukunft, zu sprechen. Prototypisch wäre ein Gebrauch, der die wesentlichsten Merkmale einer Verbform am besten repräsentiert und von daher auch häufig zu verzeichnen ist. In bestimmten Verwendungen der Sprache, etwa in spontaner mündlicher Kommunikation, überwiegt jedoch der Gebrauch des Futurs für Vermutungen mit Blick auf die Gegenwart. Andererseits wird bekanntlich das Präsens in vielen Sprachen für zukünftige Ereignisse verwendet. Es ist also nicht möglich, eine lineare Beziehung zwischen ontologischer Zeit und Tempora herzustellen. Die Tatsache, dass Tempora verschiedene Zeiten benennen können, wurde häufig mit metaphorischer Übertragung ausgehend von einer prototypischen Bedeutung erklärt. Die Verwendung des Präsens für den Ausdruck von Zukünftigkeit erkläre sich aus dem Heranholen der zukünftigen Situation an die Gegenwart und aufgrund des gemeinsamen Merkmals der Gewissheit. Es fehlen jedoch diachronische Studien, die diese metaphorische Übertragung beweisen würden. In den meisten europäischen Sprachen lassen sich solche Verwendungen des Präsens für zukünftige Vorgänge sehr früh nachweisen. Den Aspekt als grammatische Kategorie für die romanischen Sprachen zu betrachten ist nur mit Einschränkungen möglich, da im Verbalsystem keine Aspektkorrelation besteht, d.h. es gibt nicht jeweils zwei Verben, die sich als perfektiv und imperfektiv gegenüberstehen, wobei der perfektive Aspekt einer die Situation begrenzenden, ganzheitlichen Darstellung entspricht, während der imperfektive Aspekt die Handlung als solche fokussiert und auch eine Innensicht erlaubt. Diese Opposition liegt in den romanischen Sprachen mit den zusammengesetzten Tempusformen und dem einfachen Perfekt einerseits gegenüber den Imperfektformen andererseits vor. Comrie (1976: 25) kennzeichnet den Unterschied zwischen einfachem Perfekt und Imperfekt als straight distinction between pefective and imperfective. Es scheint jedoch problematisch, die romanischen Sprachen als wirkliche Aspektsprachen zu kennzeichnen. Zwar haben sie Verbformen, die aspektuelle Merkmale aufweisen; ein Satz, in dem beide Partner einer Aspektopposition sinnvoll verwendet würden, ist jedoch in romanischen Sprachen nicht möglich: *Il passait l’examen, mais il ne l’a pas passé. Die Zielgerichtetheit in der lexikalischen Bedeutung von passer würde hier die imperfektive aspektuelle Qualität der Verbform passait überlagern; eine konative Bedeutung des Satzes käme nicht zustande.

Die grammatischen Kategorien Tempus, Aspekt, Modus

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Wie Dessì Schmid (2014) nachgewiesen hat, ermöglicht eine onomasiologische Betrachtungsweise jedoch eine Betrachtung der romanischen Sprachen unter dem Gesichtspunkt der Aspektualität. Wir gehen von der Aspektualität als einer funktionalen Kategorie aus, die alle sprachlichen Mittel umfasst, die eine Begrenzung von Situationen ermöglichen oder diese als ganzheitlich oder im Verlauf befindlich darstellen. Mit dem Terminus Situation erfassen wir dabei alle darstellbaren Prozesse, Vorgänge, Zustände, Ereignisse oder Handlungen. Dieser Terminus wird zur Vermeidung von Aufzählungen spezifischerer Bezeichnungen im Folgenden durchgängig verwendet werden. Bondarko hatte seine Theorie der funktional-semantischen Kategorien, die gleichfalls eine onomasiologische Betrachtungsweise nahelegt, vor allem für den Sprachvergleich entwickelt. Eine funktional-semantische Kategorie kann (muss aber nicht) in einer bestimmten Sprache auf einer rein grammatischen Kategorie basieren (Bondarko 1967: 80; Schwall 1991: 99–102). Während die grammatische Kategorie einer bestimmten wesentlichen Eigenschaft, z.B. des Verbs, entspricht, wird die funktional-semantische Kategorie mit Hilfe von morphologischen, syntaktischen, wortbildenden und lexikalischen Mitteln bzw. durch Kombination all dieser Mittel oder kontextuell ausgedrückt. Syntax Grammatische Kategorie

Wortbildung

Kern

Lexik

Morphologie

Kontext Kombination

Die Bestimmung des Inhalts einer funktional-semantischen Kategorie anhand ihres grammatischen Kerns ist dabei für Bondarko auch sprachübergreifend möglich, d.h. es lassen sich funktionale Kategorien annehmen, wenn in irgendeiner Sprache ein grammatikalisierter Kern vorliegt. Im Rahmen dieses Buches ist dieser Ausgangspunkt für die Annahme funktionaler Kategorien nicht nur für die Aspektualität, sondern auch für die Evidentialität wichtig. Während Bondarkos Absicht eine Zuordnung verschiedener sprachlicher Mittel zu semantisch-funktionalen Feldern war und er auch einen

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Einleitung

typologischen Vergleich anstrebte, ist unser Anliegen in der Untersuchung romanischer Sprachen ein anderes. Es soll die Möglichkeit des Ausdrucks temporaler, aspektueller und modaler Bedeutungen durch Verben und andere Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen untersucht werden. Dabei untersuchen wir auch solche funktionale Kategorien, die in den romanischen Sprachen keinen Kern haben. Gehen wir von den grammatischen Kategorien des Tempus und des Modus aus, gelangen wir zu den funktionalen Kategorien der Temporalität und der Modalität, zu denen neben den beiden Kernen z.B. auch Temporal- bzw. Modaladverbien, Modalverben, temporale bzw. modale Konjunktionen und entsprechende syntaktische Konstruktionen gehören. Anders sieht es bei der Aspektualität aus, für die es in den romanischen Sprachen keinen grammatischen Kern gibt. Bestimmte Verbformen sind allerdings regelmäßig aspektuell markiert, wie zum Beispiel das einfache Perfekt und die zusammengesetzten Verbformen perfektiv und das Imperfekt imperfektiv sind. Auch hier gibt es aber Einschränkungen im Gebrauch, die es nicht erlauben von einem Kern der Aspektualität zu sprechen und über die noch zu reden sein wird. Auch das Verhältnis des Modus zu der äußerst komplexen Kategorie der Modalität ist nicht einfach als Relation eines Kerns zur Peripherie erklärbar. Mit der Evidentialität werden wir schließlich eine Kategorie behandeln, die in den romanischen Sprachen keinen grammatikalisierten Kern hat, für die es aber zahlreiche Ausdrucksmittel gibt.

1.3. Zum Aufbau dieses Buches Im zweiten Kapitel werden verschiedene Ausdrucksmittel der Zeit behandelt, wobei auch das schwierige Verhältnis von ontologischer Zeit und deren sprachlichen Bezeichnungsmöglichkeiten betrachtet wird. Zunächst wird die Frage nach den Ausdrucksmöglichkeiten von Zeit onomasiologisch gestellt und es werden sowohl unterschiedliche Kodierungen von Temporalität als auch Ausdrucksmittel auf verschiedenen Ebenen der Sprache behandelt. Temporalität wird dabei als ein außersprachliches System von Zeitkonzepten verstanden, das in den Tempora grammatisch verarbeitet ist. Während chronometrische lexikalische Ausdrucksmittel sich als sehr differenziert und referentiell präzise erweisen, ist die Verwendung deiktischer Ausdrücke stets relativ und hängt von der Bindung an das deiktische Zentrum ab. Mit temporalen Adverbialen wird eine sehr breite Klasse von Zeitausdrücken erfasst, die von einfachen Adverbien über morphologisch zusammengesetzte bis zu syntaktisch zusammengesetzten Konstruktionen reicht. Mit der Berücksichtigung des Ausdrucks der Temporalität durch Diskursprinzipien wird schließlich der Tatsache

Zum Aufbau dieses Buches

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Rechnung getragen, dass auch über den Satz hinausgehende Gestaltungsmöglichkeiten dem Ausdruck von Zeit dienen können. Für die Betrachtung der Repräsentation der Zeit durch Tempora wird die onomasiologische Betrachtungsweise zugunsten semasiologischer Untersuchungen teilweise verlassen. Es wird dabei der Versuch unternommen, prototypische Bedeutungen einzelner Tempora aufzuzeigen, die allgemein genug sind, um ihren Gebrauch zu erklären. Häufig werden solche prototypischen Bedeutungen aber auch zum Ausgangspunkt für Übertragungen auf andere temporale und auch auf modale Beziehungen. Schließlich werden einige Bezeichnungen von Tempora in französischen und spanischen Grammatiken betrachtet, die unterschiedliche Einflüsse und theoretische Positionen widerspiegeln. Es soll damit auch verdeutlicht werden, dass ein unreflektierter Umgang mit solchen Bezeichnungen zu falschen Schlüssen und Verwirrungen, zum Beispiel im Schulunterricht, führen kann. Obwohl in den heutigen Grammatiken in romanischen Ländern angemessene Bezeichnungen der Tempora verwendet werden, standen wir vor dem Problem ihrer Benennung, sobald wir Aussagen über mehrere romanische Sprachen treffen wollten. So sind zum Beispiel das spanische pretérito perfecto simple und das französische passé simple durch die Verwendung in unterschiedlichen kommunikativen Situationen auch semantisch nicht mehr als gleichwertig anzusehen. Auch das französische imparfait, das italienische imperfetto, das portugiesische imperfeito und das spanische pretérito imperfecto weisen durchaus feine Verwendungsunterschiede auf, sodass eine differenzierte Benennung eigentlich angebracht wäre. Wo es um solche Unterschiede geht, benutzen wir auch die einzelsprachlichen Benennungen. Wenn übereinzelsprachliche Aussagen zu bestimmten romanischen Verbformen getroffen werden sollen, wird jedoch die verallgemeinernde deutsche Bezeichnung verwendet, also zum Beispiel einfaches Perfekt oder Imperfekt. Angemerkt sei hierzu, dass die Bezeichnungen Perfekt oder Imperfekt hier lediglich die Verbformen benennen und nicht mit dem perfektiven oder imperfektiven Aspekt verwechselt werden sollten. Das dritte Kapitel ist der Aspektualität und ihren Ausdrucksmitteln in romanischen Sprachen gewidmet und beginnt mit der Frage, ob es überhaupt Aspekt in diesen Sprachen gibt. Nach der Klärung einiger theoretischer Positionen zum Verhältnis von Aspekt und Aktionsarten wird auch eine Antwort auf die Frage, ob Aspekt subjektiv ist, gegeben und es werden einige terminologiegeschichtliche Anmerkungen vorgelegt. Mit der Behandlung der Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen wird diesen eine zentrale Rolle für den Ausdruck der Aspektualität zugewiesen, was der Annahme einer kompositionellen Struktur dieser Kategorie jedoch nicht widerspricht. Aufbauend auf Verkuyl (1972, 1999,

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Einleitung

2005) wird von einer kompositionellen Konstituierung der Aspektualität ausgegangen, wobei den abstrakteren grammatischen Konstituenten jedoch besonderes Gewicht beigemessen wird. Neben den Verbformen trifft dies auch auf die aspektuellen Verbalperiphrasen zu, die hier nur kurz und in Auswahl dargestellt werden können. Abschließend wird in diesem Kapitel die Aspektualität im Deutschen und in romanischen Sprachen anhand von Übersetzungsvergleichen untersucht. Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die unterschiedliche Architektur der Kategorie der Aspektualität in diesen Sprachen. Während im Deutschen keine aspektuell markierten Verbformen vorhanden sind und auch Verbalperiphrasen weniger gebraucht werden, stehen diese Mittel der Aspektualität in romanischen Sprachen im Vordergrund. Im vierten Kapitel werden zentrale und periphere Ausdrucksmittel der Modalität behandelt und eine Beziehung zur Kategorie der Evidentialität wird hergestellt. Analog zu den beiden anderen Kategorien wird zunächst versucht, das Verhältnis von Modus und Modalität zu klären, was sich bereits durch die komplizierte kognitive Struktur der Modalität als schwierig erweist. Es werden verschiedene Dimensionen der Modalität aufgezeigt. Mit der Einbeziehung der Polyphonie wird eine spezielle Richtung der Modalitätsforschung vorgestellt. Anhand indikativischer Verbformen wird dann gezeigt, dass diese durchaus auch – unterstützt durch bestimmte Kontexte oder allein – zur Kennzeichnung offener Geltung verwendet werden können. Schließlich wird die Evidentialität als Markierung der Quelle der mitgeteilten Information als eine Kategorie behandelt, die Überschneidungen mit der epistemischen Modalität aufweist. Da trotz umfangreicher Forschungen zur Evidentialität in den letzten Jahren diese Kategorie in der deutschsprachigen Romanistik noch nicht etabliert ist, wird explizit auf ihr Erklärungspotential hingewiesen.

2. Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen Für Platon und Aristoteles war das Verb in erster Linie ein Wort, das Zeit angibt. Die Konzentration auf die Konjugationsformen der Verben bei der Erforschung des Ausdrucks von Zeit kommt aus dieser griechischen Tradition und entspricht nicht dem Anteil dieser Formen der Verben an der sprachlichen Gestaltung zeitlicher Verhältnisse (vgl. Klein 2009b: 41). Auch im Deutschen wurde mit der Bezeichnung Zeitwort hervorgehoben, dass Verben neben ihrer affirmativen Funktion in der Regel auch ein Zeitmerkmal ausdrücken. Diese Bezeichnung war jedoch nicht unumstritten, worauf andere Ersatzwörter für ‘Verb’, wie zum Beispiel Werck-Wort oder Tätigkeitswort hindeuten (vgl Haßler & Neis 2009: 1218). Dennoch wird auch heute das Tempus als grammatikalisierter Ausdruck der zeitlichen Lokalisierung gesehen (Comrie 1985: VII) und in den Mittelpunkt der Ausdrucksmittel von Zeit gestellt. Den Ausdruck grammatikalisiert bezieht Comrie dabei nicht auf die Tatsache, dass eine bestimmte sprachliche Einheit ihre lexikalische Bedeutung verloren hätte und zunehmend als grammatischer Marker verwendet würde, wie zum Beispiel die Form je vais ‛ich gehe’ in der Verbalperiphrase je vais chanter ‛ich werde singen’, sondern er verwendet ihn einfach für die Tatsache, dass überhaupt grammatische, d.h. abstrakte und mit allen Verbstämmen verbindbare Morpheme des Ausdrucks von Zeit zur Verfügung stehen. In diesem Sinne ist Zeit in Form der Tempora in den romanischen Sprachen grammatikalisiert. Zeit wird in linguistischen Arbeiten meist als ein Strahl dargestellt, auf dem die linke Seite für die Vergangenheit und die rechte für die Zukunft steht. Die Gegenwart wird als Moment 0 repräsentiert, von dem ausgehend Situationen der Vergangenheit und Zukunft zugeordnet werden (Comrie 1985: 3). Vergangenheit

0

Zukunft

Für die in einer Zeit verlaufenden Prozesse, Ereignisse, Zustände, Handlungen, Vorgänge usw. verwenden wir in Anlehnung an Lyons (1977), Comrie (1976; 1985: 5) und Klein & Li (2009: 3) den zusammenfassenden Ausdruck Situationen. Situation wird dabei als Überbegriff für verschiedene Inhaltstypen aufgefasst, die entweder einen Zustand, eine Handlung, einen Veränderung und Entwicklung beinhaltenden Prozess oder einen Vorgang als nichtagentive dynamische Situation (z.B. fallen) beinhalten. Im Folgenden sollen zunächst Beziehungen von Sprache und Zeit und Möglichkeiten ihrer Darstellung beschrieben werden, bevor wir uns den Ausdrucks-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

mitteln von Temporalität und schließlich den Tempora als Repräsentation von Zeit zuwenden. Den Abschluss dieses Kapitels werden einige Betrachtungen zur Bezeichnung der Tempora bilden.

2.1 Sprache und Zeit Zeit ist eine grundlegende Gegebenheit im menschlichen Leben, die wir durch unsere Erfahrung erleben, jedoch nicht anhand konkreter Sinneswahrnehmungen erfahren können. Wir nehmen Zeit anhand der Veränderungen wahr, die sich in ihr vollziehen, teilen sie in Einheiten ein und erleben auch das „Jetzt“ des Beobachters. Nach der allgemeinen Vorstellung gibt es eine Zeit, die sich in Zeitspannen, Intervalle und Zeitabschnitte einteilt. Zeitintervalle haben eine Dauer, die gemessen werden kann. Die Zeit bleibt während des Messprozesses nicht stehen, die zu messende Einheit verändert sich also während des Messprozesses, was zunächst rätselhaft erscheint. Wir messen jedoch die Dauer und nicht die zeitliche Verortung. Jede Zeitspanne besteht ihrerseits aus kleineren Zeitabschnitten. Es ließe sich die Frage stellen, ob diese Unterteilung immer weiter geht, d.h. ob es eine „kürzeste Zeit“ gibt. Für die menschliche Erfahrung trifft dies sicher zu, es ist jedoch weniger klar, ob es in der Natur eine minimale Zeitspanne gibt. Max Planck hat 1900 gezeigt, dass es in der Physik eine kürzeste Zeit geben soll, die 5,4 x 10-44 Sekunden beträgt. Es lässt sich natürlich eine Zeitspanne von 10-45 Sekunden annehmen; ein solches Produkt unseres Denkens wäre nur für die Gesetze der Physik bedeutungslos. Damit wären wir jedoch noch weit von einer kontinuierlichen Zeit entfernt, die kein kürzestes Intervall hat (Klein 2009a: 23). Für die Philosophen ist es auch relevant, ob es eine „letzte Zeitspanne“ gibt, d.h. ob die Zeit einen Anfang und ein Ende hat. Augustinus (354–430) verneinte diese Frage. In seinen Confessiones schreibt er: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht“.3 Damit wird das Selbstverständliche, aus der Erfahrung Herrührende der Zeit verdeutlicht, das jedoch für eine rationale Erklärung auf seine Grenzen trifft. Für Augustinus gibt es drei Zeiten: Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen. Zeit ist für ihn also immer subjektiv, insofern wir die vergangene Zeit nur als Eindruck in unserem Geiste messen und verschiedene erlebte Zeiträume miteinander verglei_____________ 3

„Quid est ergo tempus? si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.‟ (Augustinus, Confessiones, 11.14.17)

Sprache und Zeit

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chen können. Zukünftige Situationen können wir nicht messen, erst wenn sie vorbei sind und wir einen Eindruck von ihnen haben, können wir über ihre Länge befinden. Reine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren für Augustinus nicht. Obwohl diese Auffassung im Gegensatz zur platonischen objektiven Zeitauffassung steht, nach der Zeit der Bewegung von Himmelskörpern entspricht, ist Augustinus’ Zeitauffassung dennoch nicht vollständig subjektiv. Er verbindet Zeit mit den Dingen der Welt und betrachtet sie als von Gott geschaffen. Eine gegenteilige Antwort nach dem Anfang und Ende der Zeit gibt Stephen Hawking in seinem Buch A brief history of time (1988). Er legt darin den Gedanken dar, das Universum explodiere gewissermaßen seit etwa 13,5 Milliarden Jahren, und die Frage sei nur, ob sich diese Ausdehnung unendlich fortsetzt oder ob dabei ein Zustand erreicht wird, von dem an die zentripetalen Kräfte überwiegen und das Universum wieder zu einer Singularität zusammenschrumpfen lassen. Die Zeit hätte damit einen Anfangs- und vielleicht auch einen Endpunkt. Nach Immanuel Kant (1724–1804) führen sowohl die Annahme eines Anfangs- und Endpunkts der Zeit als auch deren Negation zu Paradoxen. Zeit ist für ihn kein empirischer Begriff, der von einer Erfahrung abgeleitet wäre, sondern sie ist a priori gegeben. Nur in ihr ist die Wirklichkeit der Erscheinungen möglich, die alle wegfallen können, aber die Zeit selbst kann als allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit nicht aufgehoben werden. Die zahlreichen Zeitkonzepte der Philosophie und unterschiedlicher Wissenschaften, wie der Physik, der Biologie, der Psychologie, der Ökonomie und der Anthropologie spielen für die Erfahrungswelt der Menschen und die sprachliche Verarbeitung von Zeit keine Rolle. Zeit gehört zu den grundlegenden Lebenserfahrungen der Menschen: das Aufgehen und Untergehen der Sonne, die Veränderungen der Mondposition in regelmäßigen Intervallen, das Entstehen, Wachsen, Blühen und Sterben von Pflanzen, Tieren und Menschen. Wir handeln hier und jetzt, erinnern uns aber auch an frühere Handlungen und planen für die Zukunft. Einige dieser Ereignisse sind wie der Wechsel der Jahreszeiten zyklisch, d.h. sie kommen in bestimmten Intervallen wieder. Andere sind nicht zyklisch, das heißt nicht wiederholbar. In modernen Kulturen spielt die kalendarische Zeit eine wichtige Rolle. Unser Leben ist um diese organisiert und es gibt viele Ausdrücke, die darauf Bezug nehmen. Es gibt eine Art Basisstruktur der Zeit, auf der Ausdrücke temporaler Beziehungen in natürlichen Sprachen beruhen. Diese Basisstruktur muss grundlegende Beziehungen zwischen Zeitspannen, wie Abfolge und Gleichzeitigkeit, aber auch den Ausgangspunkt des „Jetzt“ des Beobachters beinhalten. Hinzu können weitere differenzierte

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Strukturen kommen, die der kalendarischen Zeit entsprechen. Solche zusätzlichen Strukturen scheinen durch mehr oder weniger komplexe lexikalische Mittel ausgedrückt zu werden, während die Basisstruktur der Zeit häufig durch grammatische Kategorien und einfache Adverbien kodiert wird (Klein 1994, 59–71). Alle bekannten Kulturen und Gesellschaften haben auf die zeitliche Natur der Erfahrung reagiert (Klein 2009a: 5). Zu diesen Reaktionen gehört auch, dass über Zeit gesprochen wird. Zeit kann als ein Raum, in dem abzuschließende Handlungen lokalisiert werden, oder als Ressource, die man für etwas verwendet, konzeptualisiert werden: (1) fr.

Pour accomplir ce travail donné dans l’espace de temps donné, il faut un nombre d’hommes donné, mais variable à volonté. (Frantext. R937 – Genevoix, Maurice, Ceux de 14, 1950: 529)

(2) sp.

Pues una persona común y corriente, que gusta de ir al mercado, cocinar, dedicar tiempo a su familia, coser, leer, bailar, lo único diferente es que ya no tengo el mismo. (CORPES XXI, 2001, Mex.)

Bestimmte Zeiträume können durch Attribute mit Eigenschaften versehen werden: (3) fr.

Les États neutres et complaisants commencent à s’inquiéter de ce nouvel ordre européen futur ; que ne s’en inquiétèrent-ils en temps utile ? (Frantext E190 – Collin, Simonne, Sensible girouette, 1968: 99)

(4) sp.

El paisaje parece que intenta convertir un segundo en un infinito: el tiempo acumulado. (CREA. Universo Fotográfico. Revista de Fotografía, nº 2, 05/2000)

In den vorangehenden Beispielen sind Bezeichnungen der Zeit Bestandteile der Prädikation, d.h. sie sind in sprachliche Handlungen eingebunden, in denen einem Objekt, Sachverhalt oder Begriff Eigenschaften zu- oder abgesprochen werden. Wenn wir über Objekte, Sachverhalte und Begriffe sprechen, d.h. Prädikationen über sie aussagen, muss nicht die Zeit selbst Gegenstand der Prädikation sein, temporale Eigenschaften der Situation können aber trotzdem mitkodiert werden. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen den temporalen Eigenschaften einer Situation (Zustand, Prozess, Ereignis, Handlung) und ihrer mentalen Repräsentation beim Sprecher. Die mentale Repräsentation durch den Sprecher ist entscheidend für die sprachliche Kodierung von Zeit, nicht die Situation selbst (Klein & Li 2009: 4). Alle Sprachen haben Mittel zum Sprechen über Zeit entwickelt, in einigen ist die Markierung von Zeit sogar beinahe obligatorisch. In Sprachen mit Verbflexion wird Tempus ausgedrückt, d.h. es wird eine Verortung auf der Zeitskala vorgenommen (Klein 2009a: 6).

Sprache und Zeit

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Klein (2009a: 27–28) stellt folgende Charakteristika als grundlegend für die Zeitstruktur in allen Sprachen fest: 1. Zeit kann in Segmente – Zeitspannen oder Intervalle – eingeteilt werden. Während unter den Philosophen die Diskussion um die Unendlichkeit der Teilbarkeit von Zeit nicht beendet ist, scheint diese Debatte für den normalen Sprachbenutzer nicht relevant zu sein. Auch für die Beschreibung von Sprachen erscheint es irrelevant, ob die von ihnen ausgedrückte Zeit unendlich segmentierbar ist oder nicht. 2. Es können inklusive Relationen zwischen Zeitsegmenten bestehen. Wenn S1 und S2 Zeitspannen sind, dann kann S1 in S2 enthalten sein. Diese Inklusion kann voll oder partiell sein, wobei im letzteren Fall von Überlappung gesprochen wird. 3. Zeitsegmente können aufeinander folgen. Wenn S1 und S2 Zeitspannen sind, die einander nicht vollständig oder teilweise enthalten, so geht entweder S1 S2 voraus oder S2 geht S1 voraus. 4. Zeitspannen können lang oder kurz sein. Dauer ist nicht ein anderer Name für Zeit (wie Newton es annahm), sondern eine Eigenschaft von Zeitspannen. Sie wird typischerweise durch Adverbiale angegeben, wie eine Woche, schnell, drei Tage, die nicht notwendigerweise objektiv gemessene Zeit beschreiben. 5. Es gibt eine Zeitspanne, die wir „Zeit der gegenwärtigen Erfahrung“ nennen können (Klein 2009a: 28). Alles davor ist uns nur durch das Gedächtnis zugänglich, alles danach nur durch Erwartung und Vermutung. Diese Origo ist der Scheidepunkt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie ist nicht Bestandteil physikalischer oder biologischer Zeittheorien, spielt aber in der linguistischen Kodierung von Zeitrelationen eine große Rolle. Im Folgenden werden wir diesen Origo-Punkt deiktisches Zentrum nennen. Das deiktische Zentrum wird vom Ich, Hier und Jetzt des Sprechers bestimmt. 6. Eine Zeitspanne S1 kann einer Zeitspanne S2 nah oder fern sein. Dieses Merkmal ist weniger in der traditionellen Diskussion als die lineare Ordnung, die Dauer oder die Existenz eines „Jetzt“. Nähe ist aber auch in Sprachen kodiert, zum Beispiel durch die Ausdrücke bald und gerade. Es kommt auch in Tempusunterschieden vor, zum Beispiel spricht man mit Blick auf romanische Sprachen von nahem und fernem Perfekt und nahem und fernem Futur. Nähe und Ferne setzt dabei kein Konzept messbarer Zeit voraus und es ist auch fraglich, ob die Verwendung dieser Verbformen wirklich dem Kriterium der Nähe und Ferne entspricht. 7. Zeitspannen haben keine qualitativen Merkmale; sie sind weder grün noch süß und sie haben keine Räder oder Dornen. Sie sind ineinander enthalten oder folgen aufeinander, sind näher oder weiter voneinander

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

entfernt und sie sind kurz oder lang. Diese quantitativen Eigenschaften zeigen sich in der Diskussion darüber, wie Zeit und Veränderung miteinander verbunden sind. Veränderung ist normalerweise mit Wandel qualitativer Eigenschaften oder Positionen verbunden, Zeit jedoch betrifft die „reine Struktur“, in Beziehung zu der Veränderungen wahrgenommen, vorgestellt und ausgedrückt werden. Wenn wir über Zeit sprechen, werden typischerweise bestimmte deskriptive Eigenschaften mit bestimmten Zeitspannen assoziiert, zum Beispiel wenn wir über die Zeit sprechen, in der ein bestimmtes Ereignis stattfand, oder ein bestimmter Zustand erreicht wurde. Wir müssen sorgfältig zwischen dem Ereignis oder Zustand und der Zeit, zu der sie gegeben waren, unterscheiden. Als einfachste Lösung für die Einbeziehung der Origo, des deiktischen Zentrums, in eine Zeitdefinition ist ihre Bestimmung als Sprechmoment oder Sprechaktmoment (S). Der eingangs dargestellte Zeitstrahl erhält damit folgende Form: Vergangenheit

S

Zukunft

Da nicht alle Situationen allein auf den Sprechaktmoment situierbar sind, hat Hans Reichenbach (1947) mit der Referenzzeit (R) einen weiteren Punkt eingeführt. Ausgehend von drei Zeiten und zwei Relationen möchte er das Tempussystem, d.h. im heutigen Sinne das Tempus- und Aspektsystem aller Sprachen beschreiben. Er stellt zunächst fest, dass mit einem Satz wie Peter ging weg die ausgedrückten Zeiten nicht ein Geschehnis, sondern zwei betreffen, deren Positionen im Hinblick auf den Sprechaktmoment bestimmt werden. Er nennt diese Punkte Ereigniszeit (point of event = E) und Referenzzeit (point of reference = R). Im Beispielsatz Peter ging weg ist die Ereigniszeit die vergangene Zeit, zu der Peter wegging; die Referenzzeit (R) ist ein Punkt zwischen dieser Ereigniszeit (E) und der Sprechaktzeit (S). In einem isolierten Satz ist die Referenzzeit nicht klar, sie wird vielmehr erst durch den Kontext gegeben. In einer Erzählung würde der Referenzpunkt, von der Sprechaktzeit aus betrachtet, in der Vergangenheit liegen; einzelne Geschehnisse würden dann nicht direkt auf die Sprechaktzeit, sondern auf eine durch die Erzählung bestimmte Referenzzeit bezogen (Reichenbach 1947: 288). Die Einordnung von Situationen auf dem oben dargestellten Zeitstrahl wäre in trivialer Form möglich. Eine in der Vergangenheit stattfindende Handlung wäre auf der linken Seite zu verorten, die Feststellung, dass ein Vorgang nach einem anderen stattgefunden hat, ließe ihn rechts

Sprache und Zeit

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von diesem einordnen. Die Feststellung, dass ein Ereignis während eines Prozesses stattfand, lässt es in die Strecke einordnen, die einem Prozess auf den Zeitstrahl zugeordnet ist. Obwohl es aus philosophischer Sicht relevant ist, ob der Zeitstrahl in eine der beiden Richtungen begrenzt ist, kann diese Frage aus linguistischer Sicht außer Acht gelassen werden. Der Zeitstrahl repräsentiert auch nicht den Fluss der Zeit, d.h. die Frage, ob der Gegenwartsmoment als beweglich entlang der Zeitlinie angesehen wird oder ob die Zeit als zu einem statischen Gegenwartsmoment hinfließend betrachtet wird, bleibt gleichfalls außer Acht. Einige Kulturen haben zyklische Zeitvorstellungen. Sie nehmen an, dass Geschehnisse in der Gegenwart der Reflex von Geschehnissen sind, die in früheren Zyklen vorkamen. Es gibt jedoch keine Sprache, in der solche zyklische Zeitvorstellungen in einer grammatischen Kategorie auftreten würden. In Kulturen mit solchen zyklischen Zeitvorstellungen dauern die Zyklen so lang, dass ihre Darstellung für die alltäglichen Handlungen auch auf eine Gerade hinauslaufen würde (vgl. Comrie 1985: 4). Problematisch erscheint auch, dass die Zukunft auf dem Zeitstrahl als symmetrisch zur Vergangenheit dargestellt wird; sie ist jedoch immer spekulativer, d.h. jede Voraussage, die wir für die Zukunft treffen können, kann durch eintretende Ereignisse verändert werden. Die Vergangenheit ist bestimmter als die Zukunft. Vielfach wurde auch bezweifelt, ob man die Futurformen überhaupt als Tempus oder nicht eher als Ausdrucksmittel von Modalität einordnen sollte. In isolierten Sätzen wie den folgenden lässt sich die Zeit des Geschehens (Ereigniszeit, E) in eine einfache Relation zum Sprechaktmoment (S) setzen und als gegenüber diesem vorzeitig bestimmen. Außerdem ist in diesen Sätzen die Ereigniszeit (E) nicht nur durch das Tempus des Verbs gekennzeichnet, sondern auch durch eine adverbiale Bestimmung (hier, en aquel momento, a mezzogiorno) genau benannt: E (5) fr.

La première neige est tombée hier.

(6) sp.

En aquel momento tenía treinta años.

(7) it.

Giovanni partì a mezzogiorno.

S

Kontextuell kann darüber hinaus ein weiterer Referenzpunkt (R) eingeführt werden. Ein solcher Referenzpunkt (R) wird auch bei der Beschreibung des Plusquamperfekts verwendet, das eine Situation bezeichnet, die vor einem Referenzpunkt in der Vergangenheit vorlag. Das Plusquamperfekt ist nicht einfach eine Verbform, die sich auf eine Zeit vor dem Rede-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

moment bezieht, sondern es ordnet eine Situation vor einen anderen Zeitpunkt in der Vergangenheit ein: E

R

S

(8) fr.

Quand il avait dîné (E), Lantier flânait (R) dans les rues.

(9) sp.

Luego que había amanecido (E), salí (R).

(10) it.

Erano ormai le 2 del pomeriggio (R), Giovanni era partito a mezzogiorno (E).

Die Referenzzeit (R) kann im Verhältnis zur Sprechaktzeit (S) in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft lokalisiert sein. Die Ereigniszeit (E) kann gegenüber der Referenzzeit (R) früher, gegenwärtig oder später sein. In der Kombinatorik dieser beiden Relationen gelangt Reichenbach zu einem Modell aus neun Kategorien, in dem er die Relation zwischen der Sprechaktzeit und der Referenzzeit und die zwischen der Referenzzeit und der Ereigniszeit darstellt. In der folgenden Darstellung nach Reichenbach (1947: 297) und Viguier (2013: 56) stellen Striche zwischen den Symbolen E, R und S zeitliche Abstände dar, Kommata stehen dagegen für Gleichzeitigkeit:

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Sprache und Zeit

traditioneller Name

Reichenbachs Benennung

Englische Formen

E–R–S

Past perfect

Anterior past

had done

E,R–S

Simple past

Simple past

did

Posterior past

would do

Anterior past

have done

Simple present Posterior present Anterior future

does is going to do will have done

Simple future

will do

R–E–S R–S,E R–S–E E–S, R S,R,E S, R–E S–E–R S,E–R E–S–R S–R,E S–R–E

— Present perfect Present periphrastic future Future perfect Simple future —

Posterior future



französische und spanische Formen avait fait había hecho fit/faisait hizo/hacía ferait haría a fait ha hecho fait hace va faire va a hacer aura fait habrá hecho fera hará

deutsche Formen hatte getan tat

würde tun hat getan tut wird tun wird getan haben wird tun





Obwohl immer wieder auf Reichenbachs Schema zurückgegriffen wird, sind dessen Nachteile offensichtlich. Zunächst wird in den romanischen Sprachen deutlich, dass der aspektuelle Unterschied zwischen dem einfachen Perfekt und dem imparfait / imperfecto nivelliert wird. Auch die Unterscheidung zwischen nahen und fernen Vergangenheits- und Zukunftsformen werden wir bei der Behandlung dieser Formen hinterfragen müssen. Fest steht außerdem für das Deutsche, dass das Perfekt (ich habe getan) und das Präteritum (ich tat) nicht einer Unterscheidung von naher und ferner Vergangenheit entsprechen, sondern sich vor allem nach stilistischen und diatopischen Merkmalen unterscheiden. Schließlich ist auch die Einführung des Posterior future ein theoretisches Konstrukt, das sich aus der Kombinatorik der Relationen und Zeiträume in Reichenbachs System ergibt, dem aber keine Formen in den Sprachen entsprechen. Eine Vereinfachung des Reichenbachschen Systems hat Klein (1994, 2009a: 31–32) vorgelegt, der die Zeitspanne, die im Blickfeld der Äußerung steht, Thema (theme) nennt und zu einer Relatum genannten Referenzzeit in Beziehung setzt. Außerdem nimmt er für jeden Zeitabschnitt eine

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Zeitspanne an, die diesen enthält. Letztere nennt er Region (Klein 2009a: 30). Er nimmt die folgende Schematisierung vor, in der die Thema-Zeit mit „------“, das Relatum mit „+++++“ und die Region mit Klammern um die eingeschlossene Zeitspanne dargestellt wird. a. Vorher, d.h. das Thema geht dem Relatum voraus: ------ +++++ b. Lange vorher, d.h. das Thema geht der Region des Relatums voraus: ------ (+++++) c. Kurz vorher, d.h. das Thema geht dem Relatum voraus, es ist aber in der Region des Relatums: (------ +++++) d. Unmittelbar vorher, d.h. wie bei ‛kurz vorher’ geht das Thema dem Relatum voraus und ist in der Region des Relatums, grenzt aber an das Relatum: (------+++++)

In diesem Fall ist das Thema automatisch in der Region des Relatums, genauer gesagt der letzte Teil des Themas, denn es ist nicht ausgeschlossen dass es weit früher beginnt. e. Teilweise vorher, d.h. ein erster Teil des Themas geht voraus und ein weiterer Teil ist im Relatum enthalten. Die Region ist hier irrelevant. ---+-+-+-++ f. Das Thema ist voll in Relatum enthalten, es liegt Inklusion vor. ++-+-+-+-+-++ g. Nachher, das heißt, das Relatum geht dem Thema voraus: +++++-----Andere Beziehungen, wie ‛unmittelbar danach’, ‛gleich danach’, ‛lange danach’ können analog definiert werden (vgl. Klein 2009a: 32). Wenn eine temporale Relation in einer kommunikativen Situation ausgedrückt wird, haben die beiden Relata normalerweise einen unterschiedlichen funktionalen Status. Eines davon wird in der Zeit situiert, was durch die Beziehung zu einer anderen Zeitspanne erfolgt, die als in der kommunikativen Situation gegeben angenommen wird. Die Sprechaktzeit funktioniert dann als eine Art Ankerpunkt. Die Tempora erfüllen den Zweck der zeitlichen Verankerung, indem sie Ereignisse in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft situierten. Wenn zum Beispiel Hans ging in einer bestimmten kommunikativen Situation geäußert wird, ist die Zeit des Gehens von Hans das Thema und die Sprechaktzeit das Relatum. Das Relatum kann auf dreierlei Weise gegeben sein: (1) Es kann deiktischer Natur, d.h. es kann aus der Sprechsituation abgeleitet sein. (2) Es

Sprache und Zeit

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kann sich anaphorisch aus dem vorangehenden Kontext, in dem es erwähnt wird, ergeben. (3) Es kann kalendarisch sein, das heißt durch Daten gegeben sein oder sich aus einem wichtigen Ereignis der Kulturgeschichte ergeben. Es gibt keine Sprache, in der das Tempus auf einer grammatischen Verarbeitung des Kalenders beruhen würde. Dagegen gibt es aber viele Adverbiale oder auch nominale Benennungen von Zeiträumen, die einen solchen Ankerpunkt haben: (11) sp. A las diez de la mañana del 20 de noviembre de 1975, unas horas después de que se anunciara oficialmente su muerte, Carlos Arias Navarro leyó en público el testamento político de Francisco Franco. (http://elpais.com/diario/2010 /11/19/opinion/1290121205_850215.html. 14.03.2015) (12) fr.

La Seconde Guerre mondiale laisse l’Europe dévastée. (http://fr.wikipedia.org /wiki/Reconstruction_apr%C3%A8s_la_Seconde_Guerre_mondiale)

Ausdrücke, welche die Sprechaktzeit als Relatum benutzen, haben deiktische Bedeutung, das heißt, sie geben durch ihre lexikalische oder grammatische Bedeutung lediglich Relationen zur Origo vor, erhalten ihre konkrete Referenz jedoch erst durch die jeweilige zeitliche Verortung des Sprechers oder des Textproduzenten. Liest man zum Beispiel den folgenden Satz, weiß man zwar die genaue Uhrzeit, wann auf die Benutzung von Autos und Motorrädern verzichtet werden soll, aber nicht, an welchem konkreten Tag dies geschehen soll. Mit domani wird auf ein ‛morgen’ verwiesen, das Relatum des ‛heute’ jedoch nicht genannt. (13) it.

Domani quindi stop alla circolazione di auto e moto nella Fascia Verde dalle 7,30 alle 12,30 e dalle 16,30 alle 20,30. (http://www.iltempo.it/romacapitale/2014/11/15/domani-prima-domenica-a-piedi-nella-fascia-verde1.1344750)

Ein deiktisches Relatum wirft eine Reihe von Problemen auf (vgl. Klein 2009a: 33–34). Als Erstes stellt sich die Frage, als wie lang die Sprechaktzeit zu betrachten ist, ob sie die gesamte Zeitspanne umfasst, in der eine Äußerung getätigt wird, oder nur einen Teil davon oder ob sie womöglich noch größer ist. Es kann Fälle geben, in denen ein kürzeres Relatum benötigt wird. Klein (2009a: 33) erwähnt den folgenden Satz, in dem das Verstreichen von Zeit während des Sprechvorgangs explizit thematisiert wird. Das erste now hat also ein vier Sekunden früheres Relatum als das zweite: (14) en. From now on, it is precisely four seconds until now.

Bei der zeitlichen Verortung großer geschriebener Texte kann das umgekehrte Problem entstehen, dass ein sehr langer Zeitraum für die „Sprechaktzeit“ angenommen werden muss, der die Verwendung dieses Begriffs fragwürdig macht. So ist es sicher nicht sinnvoll, Deiktika im 1. Buch Mose auf einen imaginären „Äußerungszeitpunkt“ zu beziehen, sondern

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

sie müssen aus ihren Beziehungen im Text erschlossen werden, dessen Elemente ursprünglich aus einer ungeordneten Überlieferung entstammen und in eine Reihenfolge gebracht wurden. Doch auch bei der Betrachtung mündlicher und schriftlicher dialogischer Kommunikation tritt ein Problem bei der Bestimmung des Relatums der Deiktika auf: die kommunikative Situation des Sprechers und des Hörers, des Schreibers und des Lesers müssen nicht zusammenfallen. In der Regel antizipiert der Sprecher oder der Schreiber die Situation des Hörers oder des Lesers und dieser kann seinerseits die Situation des Sprechers oder Schreibers rekonstruieren. Die Komplexität dieser Prozesse wird aber häufig vernachlässigt. Ein deiktisches Relatum haben nicht nur Zeitausdrücke wie heute, voriges Jahr, übermorgen, nachher sondern auch die Tempora der Verben sind deiktisch. Dadurch ergibt sich eine Realität ihrer Verwendung, die nur schwer mit schematischen Darstellungen wie den beschriebenen zu erfassen ist. Anaphorische Relata sind Zeitspannen, die im sprachlichen Kontext gegeben sind und die vor der Thema-Zeit erwähnt werden. Anaphorische Relata sind auch bei der Beschreibung der Tempora wichtig. Es wird zwischen absoluten und relativen Tempora unterschieden, die ersteren sind rein deiktisch, während die letzteren ein anaphorisches Relatum implizieren. So wird im folgenden Satz mit dem pretérito perfecto simple (llegó) die Handlung des Ankommens von Carlos deiktisch in die Vorzeitigkeit vor dem Sprechmoment gelegt, während das Plusquamperfekt (habíamos salido) anaphorisch darauf Bezug nimmt und das Hinausgehen der den Sprecher implizierenden Gruppe vor der Ankunft lokalisiert: (15) sp. Cuando llegó Carlos al final, ya habíamos salido.

Einige Texttypen, zum Beispiel narrative Texte, basieren auf einer Kette anaphorischer Relata. Wie bei allen Arten von Anaphern gibt es drei mögliche Fälle (vgl. Klein 2009a: 34–35): 1. Das anaphorische Relatum geht im selben Teilsatz voraus (intraclausal anaphora), z.B. Um 6:00 Uhr schaltete er das Licht aus. 2. Die anaphorische Relation bezieht sich auf einen vorangehenden Teilsatz, findet aber noch im selben Satz statt (interclausal anaphora), z.B. Als das Telefon klingelte, schaltete er das Licht aus. In solchen Fällen wird häufig von zwei Ereignissen gesprochen, die temporal miteinander verbunden sind. Es ist aber zu beachten, dass der Temporalsatz nur die Zeitspanne bestimmt, also als Relatum fungiert und im Prinzip keine andere Funktion hat als die präzise adverbiale Zeitangabe in dem vorangehenden Satz. 3. Das anaphorische Relatum kann durch eine vorangegangene Äußerung eingeführt worden sein. Dieser Typ von Verbindungen ist wichtig für

Sprache und Zeit

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die Textorganisation. Er folgt dem einfachen Prinzip, dass die Zeitspanne einer beschriebenen Situation auf die Zeitspanne der vorher erwähnten Situation folgt. In der Regel gehen wir davon aus, dass die Reihenfolge des Erzählens auch der Abfolge der beschriebenen Situationen entspricht. In den folgenden Sätzen wird also normalerweise davon ausgegangen, dass die Handlung des ‛Licht Ausschaltens’ dem ‛Beenden der Arbeit’ folgt: (16) dt.

Er beendete die Arbeit und setzte sich vor den Fernseher. Er schaltete das Licht aus.

Diese prototypische Linearisierung zeitlicher Abläufe in der sprachlichen Formulierung analog zum realen chronologischen Verlauf ist jedoch nicht zwingend. Vor allem mit Hilfe von Adverbien oder kalendarischen Zeitangaben kann sie jederzeit durchbrochen werden. Bei aller Vereinfachung durch die Beschreibung auf dem Hintergrund eines Zeitstrahls ist außerdem zu berücksichtigen, dass es keine grammatischen Möglichkeiten der absoluten Lokalisierung auf der Zeitlinie gibt. Eine Möglichkeit der Lokalisierung einer Situation auf der Zeitskala ist, sie in Beziehung zu setzen mit einem bestimmten Punkt oder Segment auf der Leiste. Diese Art von zeitlicher Lokalisierung ist für die Kategorie des Tempus charakteristisch. Während die grammatische Lokalisierung also immer relativ zu Punkten oder Segmenten auf der Zeitachse ist, gibt es lexikalische Mittel der Temporalität, die eine genauere Lokalisierung vornehmen können.4

_____________ 4

Zum Verhältnis von Sprache und Zeit vgl. auch Kamp (1981a) und (1981b) sowie Kamp & Rohrer (1983).

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

2.2. Ausdrucksmittel der Temporalität Während Tempora grammatische Verarbeitungen von Zeitlichkeit sind, ist Temporalität ein außersprachliches System von Zeitkonzepten. Die für die menschliche Kognition und das Handeln grundlegende Erfahrung der Zeit wird in den Tempora grammatisch verarbeitet. Alle Sprachen haben ein reiches Repertoire an Mitteln entwickelt, um Zeit zu kodieren. In vielen Sprachen ist der Ausdruck von Zeit nahezu obligatorisch, da er strukturell mit dem konjugierten Verb verbunden ist. In den romanischen Sprachen sind Tempora mit dem Verb verbunden und es gibt keine Möglichkeit, die folgenden Sätze zu enttemporalisieren: (1) fr.

Le repas était bon.

(2) fr.

Le repas est bon.

(3) fr.

Le repas sera bon.

Jeder der drei obigen Sätze positioniert eine bestimmte Situation, hier eine Art Zustand, in Bezug zum Redemoment. Wir müssen dabei zwischen der Situation selbst, der Beschreibung der Situation und der Kennzeichnung der zeitlichen Positionierung der Situation unterscheiden (vgl. Klein 2009b: 39). Die Beschreibung wird über die nicht flektierten Teile des Satzes durchgeführt, also für unser Beispiel [le], [repas], [être], [bon]. Die Positionierung in der Zeit erfolgt hier über die Modifikationen des Verbs. 2.2.1. Unterschiedliche Kodierung von Temporalität Es gibt umfangreiche Forschungen zu den verschiedenen Ausdrücken der Zeit, die jedoch noch nicht zu einem Ende geführt wurden und unter vielfältigen Mängeln leiden (Klein 2009b: 41-42). Die Forschungen sind auf bestimmte Mittel, meistens auf Tempus und Aktionsart, beschränkt. Dabei orientiert man sich vor allem an Aristoteles und den Möglichkeiten des Zeitausdrucks im Griechischen. Erst in jüngerer Zeit hat man den Aspekt in die Betrachtung einbezogen. Es gibt wesentlich weniger Forschungen zu temporalen Adverbialen, Partikeln und Diskursprinzipien. Dies ist erstaunlich, da im Gegensatz zu den verbalen Kategorien Tempus und Aspekt Adverbien nicht nur in allen Sprachen zu finden sind, sondern auch einen viel differenzierteren Ausdruck von Zeit ermöglichen. Nach Klein (2009b: 41) könnte man sich wundern, weshalb Tempus und Aspekt bei den Möglichkeiten im adverbialen Bereich überhaupt notwendig sind. Ein Ansatz für eine Antwort könnte vielleicht in der Effizienz der grammatischen Kategorien liegen, die bei jedem Verb gegeben sind und die

Ausdrucksmittel der Temporalität

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Markierung von Temporalität erlauben, während lexikalische Mittel zwar eine genauere temporale Einordnung ermöglichen, aber referentiell gebunden sind und dadurch Einschränkungen unterliegen. Die Untersuchungen sind außerdem sehr auf bestimmte Sprachen konzentriert; von 90 % der Sprachen der Welt haben wir nur eine sehr vage Vorstellung davon, wie Zeit ausgedrückt wird. Die Forschungen konzentrieren sich außerdem auf bestimmte Texttypen. Die meisten Arbeiten betrachten den Ausdruck von Zeit in einmaligen Ereignissen in der Realität. Andere Texttypen, zum Beispiel Anweisungen, Beschreibungen, Gesetze werden nicht oder nur auf diesem Hintergrund beschrieben. Tempus wird als Kategorie beschrieben, die eine Beziehung zwischen der Situation und dem Redemoment herstellt. Es ist jedoch schwierig für Texttypen wie einen Roman oder ein Backrezept den Redemoment zu bestimmen. Während wir bisher Zeitangaben als Bezugnahmen auf einen Punkt oder einen Abschnitt auf der Zeitskala betrachtet haben, wobei der Sprechaktmoment als deiktisches Zentrum fungieren kann, ergibt sich jedoch die Frage, ob temporale Angaben unter Zuhilfenahme eines solchen Punktes beschreibbar sind. In einigen Fällen wird eine Situation bezüglich eines zyklisch wiederkehrenden Ereignisses lokalisiert. Zeitliche Lokalisierung mit Bezug auf solche zyklisch wiederkehrende Ereignisse ist mit lexikalischen Ausdrücken möglich (z. B. ‛täglich’, ‛jeden Morgen’). Sprachen kodieren die Temporalität unterschiedlich und unter Nutzung der lexikalischen Bedeutung oder der Flexion verschiedener Wortarten. Neben dem zentralen, aber unpräzisen Ausdrucksmittel der Tempora des Verbs kommen in romanischen Sprachen auch lexikalische Ausdrucksmittel der Temporalität in Betracht. Doch auch die Grammatikalisierung von Temporalität muss nicht an Verbmorphemen erfolgen, wie sich in außereuropäischen Sprachen zeigt. So wird in der von etwa 1400 Sprechern in Bolivien gesprochenen Movima-Sprache die Vergangenheit nicht am Verb, sondern am Artikel ausgedrückt. Der entsprechende Artikel (oj) markiert Substantive als einer früheren Zeit angehörend, kann damit aber auch Situationen der Vergangenheit zuordnen: aj asna-y‘Li ART.NEUTR Haus-1EXCL ‛unser Haus’ oj asna-y‘Li ART.NEUTR.PRÄT home-1EXCL ‛unser früheres Haus’

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

ilo:ni=y‘Li n- oj chaMmo gehen=1EXCL OBL-ART.NEUTR.PRÄT Wald ‛Wir gingen in den Wald’ (wörtl. ‛Wir gehen in den früheren Wald’)

Während die meisten Sprachen mit grammatikalisierten Tempusmorphemen nur wenige zum Ausdruck der Vergangenheit haben, hat die im nordöstlichen Peru gesprochene Yagua-Sprache mehrere davon, die den Abstand vom Redemoment kennzeichnen (vgl. Schlobinski 2012: 22):

-jadá ‛fern, weit oder legendär’

Vergangenheit -tíy -siy ‛fern, ‛wenige wenige Wochen’ Monate’

0 -jáy ‛nah, 1 Tag’

Zukunft

-jásiy ‛nah, wenige Stunden’

Andererseits gibt es Sprachen wie das Yidiny, eine fast ausgestorbene australische Eingeborenensprache, die im nördlichen Queensland gesprochen wurde, in denen es nicht möglich ist, zwischen den beiden Konzepten ‛heute’ und ‛jetzt’ zu unterscheiden. Mögen die Benennungen von Zeitabschnitten noch so detailliert sein oder sogar die Grenzen zwischen Zeitpunkten und Zeiträumen verwischen, betreffen sie doch ausschließlich die lexikalische Ebene. Es gibt keine Sprache, die die Länge der Zeitabschnitte grammatikalisiert hätte. In den romanischen Sprachen ist es möglich, mit dem Plusquamperfekt Situationen vor einer Situation in der Vergangenheit zu lokalisieren, es ist jedoch nicht möglich die Länge dieser Vorzeitigkeit mit grammatischen Mitteln anzugeben. In dem folgenden französischen Satz wird erst durch das Adverbial jusqu’à deux heures du matin deutlich, dass das Warten von Gervaise auf Lantier bis zum Relatum ‛zwei Uhr morgens’ andauerte. Ohne diese adverbiale Bestimmung hätte es zu einem beliebigen Zeitpunkt einsetzen und auch wesentlich früher aufhören können, da das Plusquamperfekt nur die Vorzeitigkeit vor dem Relatum angibt, dabei jedoch keine quantitativen Angaben beitragen kann: (4) fr.

Gervaise avait attendu Lantier jusqu’à deux heures du matin. (Zola; Riegel, Pellat & Rioul 1994: 310)

Sprachen ohne Tempusmorpheme haben die Möglichkeit, die innere temporale Kontur einer Situation, das heißt deren Betrachtung als punktuell und abgeschlossen oder als nicht abgeschlossen und im Verlauf befindlich, für die Lokalisierung in der Vergangenheit zu nutzen. So hat zum Beispiel das Chinesische als isolierende Sprache keine Verbalflexion und damit auch keine Tempusmorpheme. Es verfügt aber über die Möglichkeit, eine abgeschlossene Situation mit der Partikel le auszudrücken. Die Aspektpartikel le markiert die Abgeschlossenheit einer Situation unabhän-

Ausdrucksmittel der Temporalität

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gig von deren zeitlicher Verankerung. Da aber eine abgeschlossene Handlung typischerweise in der Vergangenheit liegt, wird mit der Aspektpartikel le überwiegend Vergangenheitsbezug hergestellt. Es bestehen somit Unterschiede zwischen den Sprachen im Hinblick auf die grammatikalisierte Lokalisierung in der Zeit, deren Feingliedrigkeit und der Anzahl der daran beteiligten Morpheme. Grammatikalisierung heißt hier Integration in das grammatische System einer Sprache. Diese Definition wäre aber zirkulär, denn grammatikalisiert ist ein Ausdruck dann, wenn er obligatorisch und morphologisch begrenzt ist, das heißt wenn keine Varianten dafür zur Verfügung stehen. Die Opposition Vergangenheit/Nichtvergangenheit in romanischen Sprachen ist im Sinne von Comrie (1985: 10) ein klarer Fall von Grammatikalisierung. Es ist unmöglich, einen Satz zu konstruieren, der im Hinblick auf diesen Unterschied neutral wäre. Außerdem wird dieser Unterschied durch eine begrenzte Zahl von Morphemen ausgedrückt. Obligatorik ist als solche jedoch kein hinreichendes Kriterium, um einer Opposition grammatischen Status zuzugestehen. Grammatikalisiert, d.h. sprachlich zu grammatischen Morphemen verarbeitet, sind in den meisten Sprachen nur die Begriffe ʽVorzeitigkeitʼ, ʽGleichzeitigkeitʼ und ʽNachzeitigkeitʼ, mit dem Gegenwartsmoment als deiktischem Zentrum. Die grammatische Kategorie Tempus erweist sich somit als am wenigsten differenziertes Ausdrucksmittel von Temporalität. Dennoch wird sie als grammatische Kategorie, die nach traditionellem Verständnis zur Lokalisierung einer Situation in Bezug auf das “Jetzt“ des Sprechaktes dient, unter den Typen von sprachlichen Mitteln, die zur Kodierung von Zeit verwendet werden, in der Regel an erster Stelle genannt (vgl. Klein 2009b: 40). Zeit als ein physisches Phänomen, das als solches unabhängig von der Sprache existiert, kann auf unterschiedliche Weise sprachlich repräsentiert werden. Sprachliche Einheiten mit nominativer Funktion können Zeitabschnitte benennen und dabei mehr oder weniger exakt ihre chronologische Ausdehnung wiedergeben: fünf Jahre, ein Monat, zehn Sekunden. Kalendarische Zeitangaben können Ereignisse auf der Zeitachse exakt situieren: Am 30. Juni 2016 hat sie das Manuskript abgegeben. Daneben gibt es Adverbien, die eine subjektive Einschätzung der Länge eines Zeitintervalls oder des Zeitpunkts des Eintretens eines Ereignisses mit Bezug auf eine erwartbare Normzeit ausdrücken können. Im folgenden Satz treten zwei solche Adverbien auf, longtemps, das auf eine als lang empfundene Ausdehnung eines Zeitraums in der Vergangenheit hinweist, und de bonne heure, das die relative Frühzeitigkeit des Zubettgehens kennzeichnet: (5) fr.

Longtemps je me suis couché de bonne heure.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Dieser Satz eröffnet Du côté de chez Swann von Marcel Proust und war Gegenstand vielfältiger philologischer Diskussionen. Proust lässt seinen Roman mit diesem Satz beginnen, um ihn mit dem Entschluss enden zu lassen, eben diesen Roman zu schreiben und seinen Personen die Erfahrung einer neuen Zeitdimension zu geben (vgl. Köhler 1958: 20). Mit dieser Analepse wird ein zu einem früheren Zeitpunkt als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat, stattgefundenes Ereignis nachträglich erwähnt (Genette 1994: 175–176). Es ist somit durchaus möglich, gerade durch den Einsatz solcher Zeitadverbien die Linearität des Zeitstrahls zu durchbrechen und komplexere temporale Verhältnisse zu repräsentieren. Neben den Tempora gibt es lexikalische Ausdrucksmittel der Temporalität, die sich als potentiell unendlich erweisen und die durch Zusammensetzungen und Neubildungen flexibel auf den Bedarf an zeitlicher Differenzierung reagieren lassen. In den heutigen Kulturen ist es möglich, Zeitabschnitte sehr genau zu bestimmen und fein zu bemessen. Lexikalisch ist es möglich, immer kleinere, dem Vorstellungsvermögen nicht zugängliche Zeitabschnitte, z.B. die Nanosekunde (=10-9 Sekunden) oder große, weit zurückliegende, lange Epochen, z.B. das Paläozoikum, zu benennen: (6) sp.

La velocidad de nuestros productos está representada en nanosegundos; Un nanosegundo es la mil millonésima parte de un segundo, es decir, a la parte que se obtiene al dividir un segundo en mil millones. Algunas veces, un nanosegundo también recibe el nombre de un bilisegundo (billisecond, en inglés). (http://galeon.com/cintyadavidsandra/nanoseg.pdf)

(7) fr.

Le Paléozoïque (du grec ancien παλαιός / palaiós (« ancien ») et ζωή / zôế (« vie ») est une ère géologique qui s’étend de -541 à -252,2 millions d’années. Cette ère est parfois appelée Ère Primaire (ou Ère des Poissons). http://fr.wikipedia.org/wiki/Pal%C3%A9ozo%C3%AFque

Das spanische Beispiel illustriert in der Erklärung die Analogie zum Englischen und im französischen Beispiel werden neben dem wissenschaftlichen Namen auch volkstümliche Bezeichnungen genannt. Lexikalisch lassen sich noch so große und kleine Zeiträume benennen, nahe und weit von der Gegenwart entfernte Punkte auf der Zeitskala sind ebenfalls auf jeden Fall bezeichenbar. Bezeichnungen von Zeitpunkten und Zeitabschnitten, die sich aus der Chronometrie und aus Kalendersystemen ergeben, können Situationen genau lokalisieren oder auch nur einen Zeitraum, zum Beispiel ein Jahr benennen, in dem sich ein punktuell betrachtetes Ereignis vollzogen hat: (8) pt.

Em 8 de Setembro de 1936, teve lugar em Lisboa a Revolta dos Marinheiros. (http://pt.wikipedia.org/wiki/Ant%C3%B3nio_de_Oliveira_Salazar)

Ausdrucksmittel der Temporalität

(9) it.

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La matrigna Albiera morì appena ventottenne nel 1464, quando la famiglia risiedeva già a Firenze, venendo sepolta in San Biagio. (http://it.wikipedia. org/wiki/Leonardo_da_Vinci)

Während chronometrische und kalendarische Bezeichnungen von Punkten und Abschnitten auf der Zeitskala eine referentielle Bedeutung haben, die unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Verwendung ist, ist die Verwendung deiktischer Ausdrücke, die ‛jetzt’, ‛heute’, ‛morgen’, ‛gestern’, ‛letzte Woche’, ‛nächstes Jahr’ und ähnliche Zeitangaben beinhalten, immer relativ und hängt von der zeitlichen Verortung des deiktischen Zentrums ab. Deiktische Zeitangaben können auch zusammengesetzt sein, wobei die morphologische Komplexität einer Bezeichnung in den Sprachen unterschiedlich sein kann. Während die Bezeichnungen für das Jahr vor dem temporalen deiktischen Zentrum in den romanischen Sprachen wie im Deutschen zusammengesetzt sind (fr. année dernière, it. anno scorso, span. año pasado, port. ano passado, rum. anul trecut, dt. letztes Jahr), steht dafür im Tschechischen eine Einwortbezeichnung (loni) zur Verfügung. Da die Anzahl der Einwortlexeme notwendigerweise begrenzt ist, wird bei besonderen Bezeichnungsbedürfnissen immer auf zusammengesetzte Ausdrücke zurückgegriffen (vgl. Comrie 1985: 8). 2.2.2. Temporale Adverbiale Temporale Adverbiale sind die reichste Klasse an Zeitausdrücken und sie kommen im Gegensatz zum Tempus und Aspekt in allen Sprachen vor. Temporale Adverbiale können einfach (jetzt, bald, oft), morphologisch zusammengesetzt (heutzutage, nachher) oder syntaktisch zusammengesetzt (nach dem Krieg, vor langer Zeit) sein. Als syntaktisch zusammengesetzte temporale Adverbiale haben sie häufig die Gestalt von Präpositionalphrasen. Funktional können sie sehr unterschiedliche temporale Eigenschaften beschreiben, zum Beispiel die Position entlang der Zeitachse (heute, gestern, nächstes Jahr), die Dauer (zwei Stunden), die Häufigkeit (selten) und viele andere, deren präzise Rolle nicht leicht zu bestimmen ist (noch, wieder). In allen Sprachen sind temporale Adverbiale das am weitesten entwickelte und differenzierteste Mittel zur Kodierung von Temporalität. Sie unterscheiden sich in Form und Funktion. Auch in allen romanischen Sprachen gibt es Adverbiale unterschiedlicher Komplexität: A. einfache temporale Adverbiale: frz. hier, span. mañana, it. poi. B. morphologisch zusammengesetzte Adverbiale: frz. après-demain, span. después, it. stamattina. Viele morphologisch zusammengesetzte Temporaladverbien sind so weit lexikalisiert, dass ihre morphologische Struk-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

tur dem Sprecher heute nicht mehr bewusst ist, z.B. frz. aujourd’hui (‛heute’ < ‛am Tag von heute’). C. syntaktisch zusammengesetzte Adverbiale. Diese Gruppe ist besonders reich, zu ihr gehören drei Konstruktionstypen: a) reine Nominalphrasen (fr. toute la journée, span. el año pasado, it. in un prossimo futuro) b) Präpositionalphrasen (fr. depuis la semaine dernière, span. antes de Navidad, it. a poco a poco) c) untergeordnete Sätze oder Partizipialkonstruktionen (frz. avant qu’il soit venu, span. cuando estaba en China, it. sposati da molti anni) Temporale Adverbiale können auch zu komplexen Konstruktionen verbunden werden, z.B. demain dès l’aube. Da praktisch alle lexikalischen und grammatischen Mittel einer Sprache mit temporalen Adverbialen verbunden werden können, lassen sie eine hochgradig differenzierte Charakteristik aller temporalen Merkmale zu. Klein (2009b: 65–67) unterscheidet dabei folgende Funktionen: A. Temporale Adverbiale der Position, wie zum Beispiel frz. maintenant, it. dopo, span. hace dos años, bestimmen eine Beziehung zwischen zwei Zeitspannen als ‛vor-’, ‛nach-’ oder ‛gleichzeitig’. Die spanischen Adverbiale pronto, dentro de poco, presto, lo antes posible, cuanto antes drücken zum Beispiel eine nahe Nachzeitigkeit gegenüber dem Redemoment aus, ebenso wie das mit einer kalendarisch-chronologischen Größenbezeichnung verbundene en cinco minutos. Beide Positionsangaben setzen für eine Verortung auf der Zeitachse jedoch das deiktische Zentrum als Relatum voraus. Die zeitliche Relation kann zusätzlich durch das Futur ausgedrückt werden (z.B. Max viendra dans cinq minutes). Auch in diesem Fall ist das Relatum deiktisch, es ist die Zeit, zu der der Satz ausgesprochen wird. Im Zusammenhang mit temporalen Adverbialen der Position können auch die beiden anderen Typen von Relata auftreten. In dem folgenden Satz wird die zukünftige Handlung des Sprechens auf das im vorangehenden Temporalsatz stehende Relatum ‛Zeitpunkt, zu dem wir die Grundbegriffe eingeführt haben’ bezogen. Das anaphorische Relatum kann dabei in der Gegenwart oder in der Zukunft liegen: (10) it.

Dopo avere introdotto le nozioni fondamentali, parleremo del metodo impiegato. (Schwarze 1988: 629)

Kalendarische Relata verwenden meist mehr oder weniger genaue Datumsangaben (lundi, 8 mai 1843; le 8 mai 1843; en 1843; au XIXe siècle). Dabei ist jedoch zu beachten, dass selbst in einem Satz wie il est mort en 1843 das Relatum nicht explizit ausgedrückt wird. Mit explizitem Relatum würde

Ausdrucksmittel der Temporalität

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der Satz bedeuten: ‛in dem Jahr, das 1843 Jahre nach dem kalendarischen Relatum liegt, starb er’. B. Temporale Adverbiale der Dauer, wie zum Beispiel frz. longtemps, it. un attimino, span. eternamente, nehmen eine Einschätzung der Dauer einer Situation vor, verorten sie jedoch nicht auf einer Zeitskala. Die Dauer kann auf vage Weise angegeben werden und auch unter- und übertrieben werden (Il a travaillé un moment. Die Prüfung dauerte ewig). Adverbiale, die Merkmale wie ‛ewig’ oder ‛ein Moment’ enthalten, werden häufig metaphorisch für subjektive Einschätzungen von Zeitspannen als sehr lang oder sehr kurz verwendet. In den folgenden französischen und spanischen Beispielen wird éternellement / eternamente für eine als sehr lang empfundene oder sich wiederholende Situation, die aber zeitlich begrenzt ist, verwendet: (11) fr.

Il se retrouvait éternellement de l’autre côté de la porte du lycée, le jour où on l’avait mis en pension. (Frantext, R261 – Roy, Claude, Somme toute 1976: 14)

(12) fr.

On ne peut pas se laisser marcher sur le ventre éternellement. (Frantext, S570 – Rochefort, Christiane, Encore heureux qu’on va vers l’été 1975: 215)

(13) sp. […] tiene diez hijos y está eternamente embarazada. (CREA, El Salvador

Hoy, 18/03/1997) (14) sp. Fue uno de esos instantes que duran eternamente, una de esas situaciones de las que no se sabe qué puede resultar. (CREA, Torrente Ballester, Gonzalo, Filomeno, a mi pesar. Memorias de un señorito descolocado, 1988)

Im letzten Beispiel wird die Situation zuerst als kurzer Augenblick eingeordnet, dem jedoch dann eine subjektiv als ewig empfundene Dauer zugeordnet wird. Ebenso wie die Einordnung auf der Zeitskala durch Adverbiale modifiziert werden kann, können Adverbiale dazu beitragen, dass die Dauer von Zeitspannen widersprüchlich und spannungsvoll dargestellt werden kann. Ebenso wie Zeitintervalle subjektiv gedehnt werden können, ist ihre Darstellung als Moment möglich. In den folgenden beiden spanischen Beispielen handelt sich um Zeit, in der sich Denkprozesse vollziehen, die objektiv zu komplex sind, um in einem Moment abgeschlossen werden zu können. Die Bezeichnung mit un momento minimiert die dafür benötigte Zeitspanne aus subjektiver Sicht: (15) sp. Por un momento se me pasó por la cabeza que iba a coger el cuadro e iba a proceder a destrozarlo. (CORPES, Bolaño, Roberto: «Dentista». Putas asesinas. Barcelona: Anagrama, 2001) (16) sp. Es sólo un momento, necesito pensar. (Lillo, Daniella: Con flores amarillas. Chile: archivodramaturgia.cl, 2001)

Auch in den folgenden französischen Beispielen wird das Adverbial un moment für eine unbestimmte Zeit des Wartens beziehungsweise des Blätterns in einem Buch verwendet:

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

(17) fr.

La garde viendrait dans un moment, après que la piqûre aurait fait son effet. (Frantext, E092 – Garat, Anne-Marie, Pense à demain, 2010: 125)

(18) fr.

Je feuillette un moment le bouquin, enfin, c’est là, j’ai trouvé. (Frantext, E056 – Doubrovsky, Serge, Un homme de passage, 2011: 434)

Es können aber auch genaue Zeitangaben erfolgen, die kalendarische Zeitmaße benutzen (Il a travaillé 7 heures et 4 minutes). In diesen Fällen ist die Themazeit, d.h. die Zeit der Situation, deren Dauer spezifiziert wird, mit dem Mehrfachen oder Teilen der Dauer einer anderen Situation in Beziehung gesetzt, zum Beispiel der Rotation der Erde um ihre Achse oder um die Sonne. Adverbiale wie bald oder vor drei Tagen haben auch eine durative Komponente. Obwohl ihre primäre Funktion in der Angabe der zeitlichen Beziehung zwischen zwei Zeitspannen besteht, geben sie zusätzlich die Dauer der Zeit zwischen dem Thema und dem Relatum an. Im folgenden Satz wird die Handlung des Schulterklopfens als Relatum in der Vergangenheit verortet, gleichzeitig dazu findet ein Versprechen statt und die Themazeit des Wiedersehens wird als nach einer Zeitspanne von kurzer Dauer eingeordnet: (19) fr.

On s’est tapé sur les épaules, se promettant de se revoir bientôt. (Frantext, E088 - MARTIN Lionel-Édouard, Le Tremblement : Haïti, 12 janvier 2010, 2010: 82)

C. Temporale Adverbiale der Frequenz quantifizieren das Eintreten bestimmter Situationen in Zeitspannen (zum Beispiel oft, manchmal, oder präziser zweimal pro Woche, jeden Freitag): (20) sp. En la cultura occidental, el desnudo ha sido considerado frecuentemente como símbolo de la verdad. (CORPES, Robayo Alonso, Álvaro: La crítica de los valores hegemónicos en el arte colombiano. Bogotá: Convenio Andrés BelloEdiciones Uniandes, 2001) (21) it.

Per impegni di lavoro mi sono allenato sempre solo due volte la settimana (http://www.bbhomepage.com/forum/programmazione-pianificazionedellallenamento/19226-allenarsi-2-settimana.html)

Ein besonders interessantes Adverb ist dabei immer, das die gesamte Zeit zu quantifizieren scheint. Im vorangehenden italienischen Beispiel bezeichnet sempre die Gesamtheit einer in der Vergangenheit liegenden Zeitspanne, innerhalb derer due volte la settimana ein periodisches sich Wiederholen angibt. Mit dem Adverb immer können auch allgemeingültige Sätze formuliert werden, wie im folgenden spanischen Beispiel:

Ausdrucksmittel der Temporalität

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(22) sp. Siempre habrá una luz en el horizonte aunque sea como dice Joan Baptista Humet “una lucecita que apenas se ve […]”. (CORPES, Elmundo.es. Encuentro digital con Alberto Cortez. www.elmundo.es: elmundo.es, 200106-19)

In der Mehrzahl der Fälle scheinen ‛immer’ bezeichnende Adverbien jedoch die Idee ‛zu jeder relevanten Zeit’ auszudrücken und damit einen Hauch von Subjektivität zu tragen. Der folgende Satz meint nicht, dass es für alle Zeiten zutrifft, dass der Sprecher immer nach Valladolid zurückkehren wird, sondern immer wenn es für ihn relevant ist, wird er es tun. Auch das nächste Beispiel bedeutet nicht, dass zu jedem Zeitpunkt eine Pause von zwei Jahren genommen würde, sondern zu relevanten, die zyklische Wiederholung ausmachenden Zeitpunkten: (23) sp. Si, me acuerdo perfectamente. Siempre volveré a Valladolid. (CORPES, Encuentro digital con Ariel Rot. www.elmundo.es: elmundo.es, 2001-05-10) (24) sp. Siempre me tomo dos años entre disco y disco (CORPES, Encuentro digital con Ariel Rot. www.elmundo.es: elmundo.es, 2001-05-10)

D. Temporale Adverbiale des Kontrasts spezifizieren nicht die relative Position auf der Zeitachse, die Dauer oder die Frequenz, sie haben aber eine deutliche temporale Bedeutung. Typische Beispiele sind ‛noch’, ‛schon’ und ‛wieder’ bezeichnende Adverbien, die das Überlappen von Situationen mit bestimmten Zeiträumen oder das Zutreffen einer Aussage auch für einen früheren oder späteren Zeitraum bezeichnen. Der Verweis auf einen Kontrast ist dadurch gerechtfertigt, dass bei Verwendung dieser Adverbien das Zutreffen einer Aussage mit dem Nichtzutreffen in einer späteren oder früheren Zeitspanne kontrastiert wird. Betrachten wir die Funktion dieser Temporaladverbien zunächst anhand ihrer Hinzufügung zu dem einfachen Satz Hans war in Berlin. Ohne Adverbien drückt der Satz aus, dass eine Zeitspanne in der Vergangenheit (die Topikzeit) sich mit der Zeit der beschriebenen Situation ([Hans] [sein] [in Berlin]) überlappt. In dem Satz Hans war schon in Berlin wird gesagt, dass ein früheres, aber angrenzendes Zeitintervall auch die Eigenschaft hat, dass Hans in Berlin war. Zu einer Zeit T war er also in Berlin und seinerzeit unmittelbar davor war er auch schon dort. Möglich ist auch eine Lesart, bei der das frühere Zeitintervall nicht an die Themazeit angrenzt: er war in Berlin, es war nicht das erste Mal, dazwischen war er aber nicht dort. Mit dem Satz Hans war noch Berlin wird das Zutreffen der Aussage auch für eine spätere, aber angrenzende Zeit festgestellt. In Hans war wieder in Berlin wird die Information ‛nicht das erste Mal’ hinzugefügt. Der Satz bedeutet also: Hans war zu einer bestimmten Zeit T in Berlin und zu einer Zeit davor, die nicht angrenzend sein muss, war er auch schon dort (vgl. Klein 2009b: 68).

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

2.2.3. Temporalpartikeln In einigen Sprachen kommen auch Temporalpartikeln vor, die funktional zwischen Temporaladverbien und Suffixen oder Präfixen liegen. Bekannt sind die chinesischen Partikeln le, zhe und guo, die dem reinen Verbstamm folgen und etwas Ähnliches wie Aspekt ausdrücken (vgl. Klein 2009b: 41), aber auch dem Ausdruck temporaler Verhältnisse dienen. In den romanischen Sprachen spielen Temporalpartikeln dieser Art keine Rolle. Es gibt jedoch auf Temporaladverbien zurückgehende Partikeln, deren lexikalische Bedeutung modifiziert wurde und die zu Diskursmarkern gerechnet werden. Diskursmarker sind in ihrer Bedeutung verblasste Wörter, die das Gespräch steuern. Als solche können sie verknüpfende Funktion haben und dabei auch temporale Merkmale einbringen. Im mündlichen Erzählen erfüllen zum Beispiel Diskursmarker die Funktion, die zeitliche Reihenfolge der Situationen zu kennzeichnen. Mit dieser Funktion werden im Französischen alors und puis, im Spanischen entonces, después und luego und im Italienischen allora, poi und quindi gebraucht. In der folgenden Zeitungsnotiz wird zweimal puis verwendet, um die beiden Handlungen des Erdrosselns und des Erstechens zu verknüpfen und in ihrer Abfolge darzustellen. Obwohl puis hier deutlich in der Funktion eines Konnektors auftritt, ist noch ein zeitliches Merkmal präsent, durch das die sprachliche Linearisierung mit dem Ablauf der Handlungen analog gesetzt wird. (25) fr.

Tréon: il étrangle puis poignarde sa femme Le couple de trentenaires était sur le point de se séparer. L’homme ne l’a apparemment pas accepté. Il aurait tenté d’étrangler, puis de poignarder son épouse. (http://www.lechorepublicain.fr/eure-et-loir/actualite/pays/pays-drouais/2015/02/19/treon-iletrangle-puis-poignarde-sa-femme_11335114.html (05.04.2015))

Ursprünglich war puis ein Adverb, das eine Verbindung einer Situation mit einer vorher erwähnten kennzeichnet, diese Verbindung kann in einer zeitlichen Abfolge oder einem logischen Zusammenhang bestehen: (26) fr.

Elle soupire, cambre les reins et bâille. Puis elle va mettre le verrou, et commence sa toilette (TLF, Puis, Martin du Gard., Vieille Fr., 1933).

Durch häufiges Verwenden wurde diese Funktion auf ein einfaches Anfügen reduziert, wodurch sich die Verwendung als Konnektor begründet: (27) fr.

Il se soutint de la manière suivante: d’abord de l’eau, puis des aliments légers, puis du vin, puis des consommés, enfin de l’opium. (TLF, Puis, BrillatSavarin, Physiologie du goût, 1825)

Daraus entwickelte sich die Verwendung von puis als Diskursmarker, in der es der Einführung eines Arguments oder einer zusätzlichen Erklärung

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dient. Häufig tritt es dabei gemeinsam mit et auf (et puis), was die anfügende Funktion von puis reduziert. Es fügt ein Merkmal der Nachzeitigkeit hinzu, die sich sowohl auf einen Schritt im Erzählvorgang selbst als auch auf die vorher erwähnte Situation beziehen kann: (28) fr.

Tiens ! Et qu’est-ce qu’il a eu ? — Je ne sais pas, la fièvre. Et puis, il n’était pas fort. Il a eu des abcès sous le bras. Il n’a pas résisté. (TLF, Puis, Camus, Peste, 1947)

Der Prozess der Entstehung von Diskursmarkern wird häufig als Grammatikalisierung beschrieben. Synchronisch erscheint Grammatikalisierung als morphosemantisches oder diskurspragmatisches Phänomen (Brinton & Traugott 2005: 22; Aijmer 1996). Diachronisch geht es dabei um Prozesse, in denen lexikalische Elemente unter teilweisem Verlust ihrer lexikalischen Bedeutung grammatische Funktionen erlangen können. Grammatikalisiert wird also ein Element, das der Bildung von Ausdrücken nach Regeln dient, also dem analytischen Zugriff dienstbar gemacht wird (vgl. Haßler 2011). Als Beispiel seien die französischen und spanischen Bewegungsverben aller und ir genannt, die in der Periphrase aller faire qc. und ir a hacer das semantische Merkmal ʽBewegungʼ verloren haben und systematisch zukünftiges Geschehen ausdrücken. Im Prozess der Grammatikalisierung geht eine autonomere zu einer fester ins System integrierten signifikativen sprachlichen Einheit über. Für den Sprecher bedeutet das, dass er die Freiheit, die sprachlichen Einheiten nach seinen kommunikativen Bedürfnissen zu manipulieren, verliert und ihm stattdessen die Grammatik den Umgang mit ihnen diktiert. Mit Blick auf die Temporalität lässt sich jedoch nicht sagen, dass puis zu einem Element geworden wäre, das mit temporaler Funktion grammatikalisiert sei. Offensichtlich sind Diskursmarker für die Erklärung als Grammatikalisierungsphänomene weniger geeignet.5 Während Grammatikalisierung in der Regel zur Verringerung des Skopus führt, haben Diskursmarker häufig einen weiteren Skopus als die Einheit, von der sie sich entwickelt haben. So ist der Skopus in dem Satz Et puis, il n’était pas fort die gesamte Äußerung, während das Adverb puis nur einen angefügten Teil eines Satzes einleitet (Elle est allée à Marseille, puis à Paris). Diskursmarker sind außerdem weniger in den Satz eingebunden. Sie können auch höhere syntaktische Variabilität als ihre Ausgangswörter aufweisen und widersprechen somit der Feststellung, dass grammatikalisierte Einheiten stärkeren Zwängen unterliegen. Außerdem wechseln Elemente, die zu Diskurs_____________ 5

Mroczynski (2012: 85) stellt dazu fest, „dass es bis heute nicht gelungen ist, eine Grammatikalisierungstheorie zu entwerfen, die die Entstehung der Diskursmarker erfasst und gleichzeitig hinreichend differenziert ist, um nicht als eine Aufstellung allgemeiner Sprachwandelgesetze zu erscheinen“.

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markern werden, in der Regel von einer geschlossenen Klasse zur anderen und bewegen sich nicht vom rein lexikalischen Bereich im engeren Sinne in einen grammatischen. Obwohl eine Kommunikation ohne sie problematisch würde, kann man Diskursmarker nicht im strengen Sinne als grammatisch notwendig bezeichnen. Sie entstehen durch eine semantische und syntaktische Reorganisation sprachlichen Materials und weisen häufig auch Fusion auf, entsprechen jedoch nicht den Kategorien, die typischerweise als grammatisch angenommen werden. Sie nehmen in der Regel eine Position außerhalb des Satzes ein, haben keine für den Wahrheitswert ausschlaggebende Bedeutung und funktionieren pragmatisch, d.h. sie werden als etwas „extra-Grammatisches“ angesehen (Brinton & Traugott 2005: 139). Diese Besonderheit von Diskursmarkern hat insbesondere schwedische Forscher (Erman & Kotsinas 1993; Aijmer 1996) veranlasst, von Pragmatikalisierung (pragmaticalization) zu sprechen. Ob Diskurs-, Topik- und Fokusmarker als lexikalisiert, grammatikalisiert oder pragmatikalisiert zu betrachten sind, hängt also letztlich vom Status der Funktion ab, die sie im Diskurs erfüllen. Da die hier betrachteten Diskursmarker nicht auf den systematischen Ausdruck von Zeit spezialisiert sind, sondern pragmatische Funktionen in der Organisation des Diskurses erfüllen und dabei auch das zeitliche Merkmal der Abfolge einbringen können, erscheint es sinnvoller, sie als pragmatikalisiert zu betrachten. Dieser Befund wird auch durch die Verhältnisse in anderen romanischen Sprachen bestätigt. Im Spanischen ist entonces ein Adverb, das eine Einordnung in eine – in der Regel vergangene – Zeit vornimmt, aber metonymisch auch Beziehungen zu Gegebenheiten in einer Zeit herstellen kann, die als Bedingungen konzeptualisiert werden. Während im folgenden spanischen Satz mit entonces direkt auf eine frühere Zeit Bezug genommen wird, bezieht es sich im zweiten Satz auf eine Situation, in der viele Menschen und Güter transportiert wurden und in der das Schicksal des gesamten Landes Mexiko von der Eisenbahn abhing. Aus dem Inhalt dieser Situation wird erklärt, dass die Fahrpläne ungewiss waren: (29) sp. Lo consideraba un gran jugador entonces y ahora. (CORPES, www.elmundo. es, 2001-02-26) (30) sp. […] las locomotoras daban la impresión de venir arrastrando no sólo vagones cargados de gente y galena, de plata y pirita (“el oro de los tontos”), sino la historia del país entero. Entonces, todo horario era incierto. (CORPES, Aridjis, Homero: La zona del silencio. México D. F.: Punto de Lectura, 2005)

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In den folgenden beiden Sätzen tritt entonces dagegen als Diskursmarker auf. Es bezeichnet keine frühere Zeit und stellt auch keine Beziehung zur Grundlage einer Schlussfolgerung her, sondern leitet lediglich die nachfolgende Äußerung ein. Es markiert somit die sprachliche Linearisierung von Situationen, die damit auch als in der Realität aufeinanderfolgend dargestellt werden. Insofern drückt entonces neben seiner den Text organisierenden Funktion auch ein temporales Merkmal aus: (31) sp. Ensueños, un día una voz me dijo: “Está decidido que toques el tambor.” Entonces partí al bosque, miré a un árbol herido por el rayo, pasé a su lado tres veces. (CORPES, Aridjis, Homero: La zona del silencio. México D. F.: Punto de Lectura, 2005.) (32) sp. En sus pesadillas, no obstante, el Ojo soñaba que en mitad de la noche aparecía la policía india y lo detenían con acusaciones indignas. Solía despertar temblando. Entonces se acercaba a las esterillas en donde dormían los niños y la visión de éstos le daba fuerzas para seguir, para dormir, para levantarse. (CORPES, Bolaño, Roberto: «El Ojo Silva». Putas asesinas. Barcelona: Anagrama, 2001)

Das italienische Temporaladverb poi drückt Nachzeitigkeit aus und entwickelte ausgehend davon auch weitere Bedeutungen wie ‛schließlich’ oder ‛außerdem’. In den folgenden Beispielen verweist es auf die Zukunft, wobei es im letzten davon sogar mit einem Artikel substantiviert wird: (33) it.

Di questo parleremo poi.

(34) it.

Bisogna anche pensare al poi.

Davon ausgehend entwickelte sich eine Verwendungsweise von poi als Diskursmarker, bei der es eine zeitliche Abfolge voraussetzt, aber auch eine leichte Tendenz zum Gegensatz zur vorangehenden Proposition beinhalten kann. Im folgenden Beispiel wird mit poi an die vorangehende Aussage, dass sich die Dinge geändert haben, angeknüpft, es wird jedoch mit der Frage, was daran schlecht sei, eine negative Wertung der Veränderungen unterstellt, der mit poi widersprochen wird: (35) it.

Le cose cambiarono; che c’è poi di malo? (Devoto & Oli 1990: 1430)

Im Folgenden wird poi in einem kurzen Ausschnitt aus einem Gespräch über das Verhalten von Schülern, die ständig den Klassenraum verlassen wollen, viermal verwendet. Die temporale Funktion zur Kennzeichnung der Abfolge der erzählten Handlungen ist dabei durchaus gegeben, sie unterstützt die normalerweise beim Rezipienten gegebene Erwartungshaltung, dass Ereignisse in der Abfolge geschehen, in der sie erzählt werden:

38 (36) it.

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[…] eh sempre gli stessi poi quando tutta la classe è a posto comincia la lezione tra parentesi si fa per dire dopo poco ci sono c’è gente vuole che chiede di andare in bagno i professori a un certo eh fino a un certo punto dicon di sì poi quando quelli che vogliono quando quelli che quando la gente vuole uscire diventa troppa cominciano a # a dire di no perchè pensano si vada a fare giratine per la scuola # poi # ahah # poi suona la campanella della ricreazione e tutti escono come alla alla alla carica di centouno (http://badip.uni-graz.at/it/cerca?view=vcerca: FA2/403/A)

Die grundlegende Funktion von poi besteht in dem vorangehenden Gesprächsausschnitt aber in der Verknüpfung der Aussagen und der Organisation des Diskurses. Dabei kann es sogar zu einer Art Überbrückungselement werden, das dem Gesprächspartner den Willen zur Fortsetzung der Äußerung signalisiert, während man überlegt und vielleicht nach Formulierungen sucht. Betrachtet man die von der lateinischen Partikel iam abgeleiteten Formen in den romanischen Sprachen, so fällt eine überraschende Ähnlichkeit der Funktionen auf. Häufig wird in diachronischen Studien nach den Richtungen gesucht, in denen sich die verschiedenen Bedeutungen einer polysemen Partikel ausgehend von einer „Basisbedeutung“ entwickelt haben. Dem halten Hansen & Strudsholm (2008: 499) die Auffassung von einem Netzwerk von Familienähnlichkeiten entgegen, sie gehen aber auch von der Entwicklung der einzelnen Bedeutungen in der Geschichte der jeweiligen romanischen Sprachen aus. Wir werden im Folgenden dem Verdacht nachgehen, dass die Partikeln frz. déjà, it. già, port. já und span. ya ihre Funktionen zwar erweiterten, dabei aber von dem Gebrauch der lateinischen Partikel iam, die bereits als Diskurs- und Fokusmarker verwendet wurde, ausgehen konnten (vgl. hierzu auch Hansen 2011, 2014). Bereits Menge (2000) führt Beispiele an, in denen iam nicht auf die Bedeutung eines Zeitadverbs beschränkt ist: (37) lat. Pons in Hibero prope effectus nuntiabatur; iam vero eo magis illi maturandum iter existimabant (Es wurde gemeldet, dass die Brücke über den Ebro fast fertig gestellt sei; sie glaubten nun, sich umso mehr beeilen zu müssen. (Civ. 1.62,3f. Menge 2000: 211)

In diesem Beispiel dient iam der Überleitung zu einem weiteren Sinnabschnitt, es führt die Handlung weiter, übernimmt also diskursgliedernde Funktion. Zugleich lässt sich aber auch noch eine zeitliche Bedeutung erkennen, insofern sich die Schlussfolgerung, sich beeilen zu müssen, als gleichzeitig zum baldigen Abschluss gedeutet werden kann. Es handelt sich also um einen jener Kontexte, die mit der metasprachlichen Metapher Brückenkontext benannt werden können und die für eine Übertragung von Zeitadverbien auf diskursgliedernde Funktionen charakteristisch sind.

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In traditionellen Darstellungen zu dem in der lateinischen Literatur sehr häufig gebrauchten iam werden in der Regel mehrere stark divergierende Bedeutungen angegeben: 1. schon, bereits (iam diu, iam pridem, iam dudum ‘schon lange; schon längst’, ‘schon lange’), 2. nun, nunmehr, jetzt (iam vero ‘ferner nun’), 3. gleich, sogleich, bald, alsbald, augenblicklich, 4. nun, ferner, weiter (weiterführend), 5. vollends, sogar, wirklich (steigernd), 6. noch (nach Verneinung: nec iam arma nec vires suppetunt ‘weder sind genügend Waffen vorhanden noch reichen die Kräfte aus’, 7. Wendungen: non iam ‘nicht mehr’, iam...iam ‘bald...bald’, iam olim ‘schon längst’, vix iam ‘kaum noch’, iamiam ‘sofort; im nächsten Augenblick’.6 Dabei wird jedoch verkannt, dass iam nicht nur als Zeitadverb, sondern auch mit konnektiver und diskursgliedernder Funktion auftreten kann. Am wenigsten umstritten ist der Gebrauch von iam als Temporaladverb, der mit weiteren temporalen Ausdrücken (z.B. tum) verbunden sein kann: (38) lat. eius libertum Apollonium iam tum equidem, cum ille viveret, et magni faciebam et probabam (‘schon damals als er [Crassus] noch lebte, hatte ich große Achtung und Zuneigung für den Freigelassenen Apollonius.’ Cic. Fam. 13.16.1. Kroon & Risselda 2003: 66)

Kroon & Risselda sehen nur eine geringe Differenz zu diesem rein temporalen Gebrauch in Beispielen, in denen iam als skalare Partikel auftritt. In diesen Fällen spielt der Textproduzent auf eine temporale Skala der Dauer an und verdeutlicht, dass der erreichte Punkt auf dieser Skala höher als erwartet ist: sex menses iam hic nemo habitat (‘schon sechs Monate wohnt niemand hier’, Plaut. Mast. 954. Kroon & Risselda 2003: 66). Die dabei gewählte Bezugsskala muss jedoch nicht temporal sein, wie das folgende Beispiel zeigt: (39) lat. non cum senatu modo sed iam cum dis immortalibus C. Flaminium bellum gerere (‘dass Gaius Flaminius nicht nur mit dem Senat, sondern schon mit den unsterblichen Göttern Krieg führte’, Livius 21.63.6. Kroon & Risselda 2003: 66)

Die Götter werden hier als höher in der Skala der Wertschätzung als die Feinde im Senat betrachtet. Dieser skalare, nicht auf Temporalität beschränkte Gebrauch einer Partikel ist somit ein frühes Phänomen, das sich nicht erst in den romanischen Sprachen beobachten lässt. Auch hier kann der Kontext, in diesem Fall eine Skala von Eigenschaften, auf der ein Bezugspunkt überboten wird, als Brückenkontext gewertet werden. _____________ 6 Vgl. http://www.navigium.de/latein-woerterbuch.php?form=iam sowie ausführlicher und auf mehr Kontexte bezogen in http://www.navigium.de/schoeningh-latein-woerterbuch .php?form=iam.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Darüber hinaus stellen Kroon & Risselda (2003: 67) fest, dass iam auch als konnektive Partikel verwendet werden kann. So tritt bei Cicero in einer Argumentation zum Nachweis einer Erpressung folgender Fragesatz auf: (40) lat. Iam id porro utrum libentes an inviti dabant? (‘Also dann bezahlten sie das willig oder widerstrebend?’, Cic. Ver. 3.118. Kroon & Risselda 2003: 67)

Iam nimmt hier keine syntaktische Funktion innerhalb des Satzes ein und modifiziert auch nicht als Adverb das Verb semantisch. Es hat vielmehr diskursgliedernde Funktion, insofern es den Satz mit der vorangehenden Argumentation verknüpft und in den Diskurs einbindet. Kroon & Risselda (2003: 67) verweisen auf weitere Fälle, in denen iam nicht temporal gebraucht wird, sondern kontrafaktische Konditionalsätze einleitet. Das folgende Beispiel entstammt einem Brief Ciceros, in dem er eine mögliche, jedoch problematische Heirat seiner Tochter diskutiert. Mit iam scheint Cicero das Kontrafaktische der referierten Situation zu unterstreichen, die im Konditionalsatz dargestellt wird. Diese Bedeutung ließe sich als Hinweis auf der Realität Entgegengesetztes verstehen und als polar bezeichnen. Um die Idee der Skala wieder aufzugreifen, könnte man hier das Überschreiten des Möglichen annehmen: (41) lat. nunc, si iam res placeat, agendi tamen viam non video. (‘Nun, selbst wenn ich diesem zustimmen würde, sehe ich keinen Weg zu handeln’, Cic. Att. 5.4.1. Kroon & Risselda 2003: 67)

In einer weiteren Gruppe von Verwendungen dient iam nach Kroon & Risselda (2003: 68) der Fokussierung bestimmter Elemente im Satz. Auch hier ließe sich ein Überschreiten des Normalpunkts in Richtung hoher kommunikativer Wichtigkeit annehmen, wenn man die Ebene der Prädikation verlässt und für die pragmatische Gegebenheit der Informationsstruktur gleichfalls eine Skala annimmt. Im folgenden Beispiel wird iam verwendet, um das Konzept, auf das sich das lateinische Pronomen id anaphorisch bezieht, hervorzuheben. Dieses Konzept wird im vorangestellten Relativsatz als quod ex utroque ‘was aus beidem besteht’ expliziert. Der Satz kommt aus einer philosophischen Diskussion über die Beziehung zwischen ungeformter Materie (materia) und Form (vis), die ohne einander nicht existieren können und zusammen ‘geformte Materie’ oder ‘Körper’ (corpus) ergeben: (42) lat. sed quod ex utroque, id iam corpus et quasi qualitatem quandam nominabant. (‘aber was aus beidem besteht, DAS ist es, was sie Körper oder, wenn ich so sagen darf, Qualität nannten’, Cic. Ac. 1.24. Kroon & Risselda 2003: 68)

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Die Bedeutungen von iam führen Kroon & Risselda (2003: 77) in einer Bestimmung zusammen, die dieses Wort als eine evaluative Partikel erklärt, die eine im Gegensatz zu den Präsuppositionen stehende Beziehung zwischen zwei Konstituenten oder Sachverhalten hervorhebt.7 Wir schließen uns dieser Auffassung an, sehen jedoch auch die Möglichkeit, die Funktion von iam als Kennzeichnung des Überschreitens eines Standards oder einer Norm auf einer abstrakt gedeuteten Skala zu beschreiben. Es gibt keine Studien dazu, dass die rein temporale Bedeutung von iam die prototypische oder die häufigste wäre oder dass sich die anderen Bedeutungen diachron aus ihr entwickelt hätten. Nach Kroon & Risselda (2003: 69) liefern die lateinischen Daten keinerlei Anhaltspunkte für eine historische Entwicklung der verschiedenen Bedeutungen von iam; sie sind vielmehr alle von den frühesten lateinischen Texten an belegt. Wenn wir nun überprüfen, ob die Polysemie von franz. déjà, it. già, port. já und span. ya der Vielfalt der Funktionen von iam ähnelt, gehen wir nicht davon aus, dass eine Fortführung des Etymons die Kontinuität der Bedeutungen garantiert, nehmen jedoch auch nicht an, dass sich unterschiedliche Bedeutungen im Verlauf der Sprachgeschichte jeweils einzelsprachlich aus einer bestimmten Basisbedeutung entwickelt hätten. Der polyfunktionale und nicht wahrheitskonditionale Wert der untersuchten romanischen Partikeln wird ebenso wie die Tatsache, dass ihre Bedeutung von verschiedenen Kontextbeziehungen abhängt, mindestens seit Traugott & Waterhouse (1969) anerkannt. Dabei wird in der Regel die Übersetzbarkeit mit already als Ausgangspunkt gewählt (vgl. Kroon & Risselda 2003 und Hansen & Strudsholm 2008). Hansen & Strudsholm (2008: 472) identifizieren 15 verschiedene Gebrauchsweisen von déjà und già und ordnen diese vier übergeordneten Gruppen zu. Teilweise ist diese Zuordnung jedoch inkonsequent; so wird der Gebrauch als Fokuspartikel sowohl der temporal-aspektuellen (temporal-aspectual uses) als auch der modalen („modal“ uses) Gruppe zugeordnet. Letzterer ordnen sie auch die skalare Bedeutung und den der oben beschriebenen polaren Bedeutung entsprechenden negierenden Gebrauch zu, was unseres Erachtens zu einer nicht sinnvollen Überdehnung des Modalitätsbegriffs führt. Außerdem unterscheiden sie konnektive (connective uses) und interaktionale Verwendungen (interactional uses), was durch Überschneidungen zwischen den Bezugsebenen der Syntax, der transphrastischen Textlinguistik und der Pragmatik auch zu Mehrfachzuordnungen führen kann. _____________ 7 Kroon & Risselda (2003: 69) analysieren die Bedeutung von iam als kompositional aus den drei Merkmalen ‘Polarität’, ‘Phasalität’ und ‘den Präsuppositionen entgegenstehende Fokalität’, wobei diese Merkmale in den einzelnen Bedeutungen in unterschiedlicher Weise präsent sind.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Wenn wir von der Polyfunktionalität von lat. iam ausgehen und daraus abgeleitete und abstrahierte Funktionen gewissermaßen als tertium comparationis verwenden, darf dieses Vorgehen ebenso wenig wie die weitgehende Übereinstimmung der Bedeutungen der Partikel iam mit den entsprechenden Partikeln in den heutigen romanischen Tochtersprachen darüber hinwegtäuschen, dass diese Übereinstimmung in frühen Stadien der romanischen Sprachen nicht gegeben war. Bei der Ausdifferenzierung der Bedeutungen der Partikel scheint es sich um ein panchrones Phänomen zu handeln, das auf kognitiven Prozessen beruht, sich in den einzelnen Sprachen aber erst etablieren muss. In den romanischen Sprachen erstreckte sich diese Entwicklung über mehrere Jahrhunderte und begann zu unterschiedlichen Zeiten. Dennoch erfolgte sie unabhängig von gegenseitigen Einflüssen der Sprachen und führte zu einem weitgehend gleichen Ergebnis. Im Französischen entstand die entsprechende Partikel aus einer Verschmelzung von dès und ja, die das altfranzösische ja ersetzte und dessen Funktionen annahm. Die Lokution des ja, die mit der Bedeutung ‛vom aktuellen Moment an’ oder ‛von diesem (in der Vergangenheit liegenden) Moment an’ verwendet wurde, erfuhr dabei eine Bedeutungsveränderung und bezeichnete einen fortgeschrittenen Punkt auf der Zeitachse: (43) afr. Comme nostre amé frere Jehan de Saint Laurens, religieux, ceinnier de nostre dite eglise, nous eust des ja piessa supplié que nous voulssissions lui ottroier une place situee es fins du jardin du dit ceinnier (Frantext 8203, Chartes de l’abbaye de Saint-Magloire, 1330, 740) ‘Wie unser geliebter Bruder Jehan de Saint Laurens, Mönch, Würdenträger unserer erwähnten Kirche, uns schon vor längerer Zeit gebeten hat, ihm einen Platz im Garten des erwähnten Würdenträgers zuzuteilen’

Diese temporal-skalare Bedeutung tritt bei allen Okkurenzen der Lokution des ja in Frantext auf. Ab dem Ende des 15. Jahrhunderts erscheint déjà bereits als verschmolzenes Wort in verschiedenen orthografischen Varianten und erfüllt die Funktionen, die iam im Lateinischen hatte. Das nicht zusammengesetzte altfranzösische ja ist seit den ersten Texten dokumentiert: (44) afr. Pur le soen Deu qu’il ait mercit de mei. Ja einz ne verrat passer cest premer meis Que jel sivrai od mil de mes fedeilz […] (La Chanson de Roland, Première partie La Mort de Roland, VI, v. 82-83) ‘Im Namen seines Gottes möge er mir gnädig sein; dass er diesen ersten Monat schon nicht mehr verstreichen sieht; dass ich ihm folge mit Tausend meiner Getreuen.’

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In altfranzösischen Texten des zwölften Jahrhunderts wurde ja am häufigsten als Referenz auf eine Zeitskala verwendet, auf der ein bestimmtes Ereignis einen erwarteten Standardmoment überschritten hatte: (45) afr. En ceste tere ad estet ja VII anz. (La Chanson de Roland, ca. 1125, CXCII) ‘schon sieben Jahre ist er in diesem Land.’

Auch der Bezug auf eine nicht temporale Skala lässt sich für ja bereits im Rolandslied nachweisen. Im folgenden Beispiel bezieht sich ja auf einen außerordentlich hohen Grad an Schönheit: (46) afr. Ensurquetut si ai jo vostre soer, Sin ai un filz, ja plus bels n’en estoet, Ço est Baldewin, ço dit, ki ert prozdoem (La Chanson de Roland, Première partie La Mort de Roland, vers 312 à 314) ‘erinnert Euch vor allem daran, dass ich eure Schwester zur Frau habe. Ich habe einen Sohn von ihr, schon den schönsten den es gibt. Es ist Balduin, sagt er, der ein Held sein wird.’

Die zusammengezogene Partikel wird seit dem Ende des 15. Jahrhunderts regelmäßig mit temporal-skalarer Bedeutung verwendet. Im folgenden Beispiel wird die Ehrerbietung gegenüber dem kastilischen König als vor einem erwarteten Zeitpunkt erfolgt dargestellt: (47) fr.

Mais il y a une chose dont je ne suis pas contant. Car vous aves desja fait l’ommage au roy de Castille des iles Canariennes et vous en distes du tout seigneur; […] (Frantext 6206, Béthencourt, Le Canarien, c.1490, 215)

Mit Traugott & Dasher (2002: 3) lässt sich eine metonymische Beziehung zwischen der Zeitskala und anderen skalaren Eigenschaften annehmen, insofern objektive Bewegung entlang der Zeitachse mit dem mentalen und subjektiven Messen an einer Werteskala korreliert. Offensichtlich ist die ungenügende Berücksichtigung von Texten älterer Epochen für die Annahme einer späten Pragmatikalisierung solcher Partikeln verantwortlich. Für eine metaphorische Beziehung zwischen Zeit und Raum gibt es jedoch schon frühe Beispiele, wie das folgende aus dem Jahr 1573, in dem déjà in räumlich-skalarer Bedeutung auftritt: (48) fr.

Par quoi, toute la compagnie se leva et puys nous estantz dehors et moi déjà assez loin, (Frantext, S359 - Paradin Guillaume, Le Journal de Guillaume Paradin ou la Vie en Beaujolais au temps de la Renaissance (vers 1510-1589), 1573, 69)

Der Gebrauch von franz. déjà, it. già, port. já, span. ya als reines Temporaladverb ist in allen betrachteten romanischen Sprachen belegbar, er ist jedoch gegenüber der temporal-skalaren Bedeutung in den Korpora eher marginal. Als rein temporal betrachten wir Verwendungsweisen, in denen das Adverb auf einen mehr oder weniger lange zurückliegenden, gegenwärtigen oder zukünftigen Zeitabschnitt hinweist. Da die skalare Bedeu-

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tung mit einer Bezugnahme auf die Zeitachse in der Häufigkeit dominiert und zu einer prototypischen Bedeutung geworden ist, treten auf lat. IAM zurückgehende Adverbien in rein temporaler Bedeutung häufig mit weiteren Zeitausdrücken auf. Dies können zum Beispiel Benennungen von Jahreszeiten (au printemps), Lebensabschnitten (na faculdade, hier für die Studentenzeit) oder Altersangaben (viejo) sein: (49) fr.

Il reconnut l’anglaise qui, déjà, au printemps, avait accompagné Mme De Battaincourt et sa fille. (Frantext, K365 - Martin du Gard, Roger, Les Thibault: La Consultation, 1928, 1072)

(50) pt.

É verdade que na faculdade você já pensava em filmar Sorôco, Sua Mãe, Sua Filha? (CdP, Pedro Bial, 31 7. 1997)

(51) sp. Spivakov es ya un viejo amigo. (CdE, Entrevista ABC)

Dabei kann ein gewisser Vergleich auf einer Zeitachse, durch den das Ereignis als ‘früh’ gekennzeichnet wird, bereits mitschwingen; durch die Beziehung zu einem konkreten Zeitintervall steht jedoch das Relative im Zeitausdruck eher im Hintergrund. Auch die Verwendung des Namens einer Person mit Zeitbezug kann mit dieser monosemierenden Folge für das Adverb erfolgen: (52) fr.

Voltaire avait déjà pris le parti d’Athalie contre le grand prêtre. (Frantext, L429 – Mauriac, François, La Vie de Jean Racine, 1928, 194)

Wie bereits im Lateinischen treten rein temporal gebrauchte Adverbien auch mit anderen Temporalausdrücken auf, die auf den Zeitpunkt oder die Länge eines Vorgangs hinweisen können: (53) fr.

Mais déjà alors le tremblement m’avait quittée. (Frantext, E106 - MourierCasile, Pascaline, La Fente d’eau, 2011, 68)

(54) fr.

Soyons juste: depuis déjà longtemps il n’y avait plus grand-chose dedans. (Frantext, R022 – Bazin, Hervé, L‘école des pères, 1991, 340)

Hansen & Strudsholm (2008: 476) zählen die folgenden Beispiele zu den temporal-phasalen, aspektuellen Gebrauchsweisen: (55) fr.

Il dort déjà?

(56) it.

Hai già mangiato i calamari?

Zweifellos deutet déjà/già hier auf das Eingetretensein eines Zustands bzw. den Abschluss einer Handlung hin und kann somit als aspektuell bezeichnet werden. Im Hinblick auf den Ausdruck von Temporalität wird mit den Partikeln jedoch zugleich eine Einschätzung des Verhältnisses zu einem Vergleichspunkt auf der Zeitskala vorgenommen. Schläft er also schon, obwohl das Einschlafen zu einem späteren Zeitpunkt zu erwarten wäre; hat die angesprochene Person den Tintenfisch schon aufgegessen, obwohl

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anzunehmen war, dass dafür mehr Zeit gebraucht würde? Mit Doherty (1973: 175) und Klein (1992) lässt sich feststellen, dass die Partikel im betreffenden Satz den Beginn des formulierten Sachverhalts vor der Bezugszeit der Äußerung (Topikzeit) ausdrückt. Tritt eine solche Partikel mit einem imperfektiven Verb auf, so dauert die mit ihm bezeichnete Handlung zur Topikzeit und möglicherweise danach an. Mit perfektiven Verbformen der Vergangenheit verbunden, unterstreicht die Partikel den Abschluss der Handlung. Es erscheint daher gerechtfertigt, solche Verwendungen dem temporal-skalaren Typ zuzurechnen. Dafür spricht auch, dass die Akzeptabilität der folgenden Sätze, wie auch Hansen & Strudsholm (2008: 479) feststellen, fraglich ist: (57) it.

??Piero è già arrivato, con tre ore di ritardo.

(58) fr.

??Jacques s’est déjà marié à 65 ans.

Mit già/déjà wird hier ein Vergleich mit einem als Norm erwarteten Zeitpunkt vorgenommen, von dem die drei Stunden Verspätung und das Heiraten mit 65 Jahren in negativer Richtung abweichen. Eine Verbindung mit già/déjà, das ein „vorfristiges“ Eintreffen dieser Ereignisse kennzeichnen würde, wäre daher allenfalls in einer ironischen Äußerung möglich. Temporale Bedeutung liegt auch bei iterativem Gebrauch vor. Dieser kann in Sätzen mit zusammengesetztem Perfekt auftreten, wobei implizit oder explizit eine Quantifizierung der dargestellten Ereignisse vorgenommen wird: (59) fr.

Tu as déjà mangé des escargots ?

Die hier erfragte Handlung kann mehrmals stattgefunden haben und sie ist auch in der Zukunft wiederholbar. Ein Bezug auf eine „Standardzeit“ ist somit nicht gegeben. Im Italienischen kann già ohne das Merkmal der Abweichung von einer Standardzeit zusammen mit dem einfachen Perfekt auch zur Kennzeichnung von nicht mehr vorhandener Aktualität von Handlungen oder Zuständen verwendet werden. In diesem Gebrauch ist es fast ausschließlich auf Formen des Verbs essere im passato remoto beschränkt: (60) it.

In Firenze fu già un giovane chiamato Federico.

Im Unterschied zum iterativen già ist damit kein Verweis auf die Wiederholbarkeit in der Zukunft verbunden. In anderen romanischen Sprachen ist kein derartiger Gebrauch auf iam zurückgehender Partikeln belegt. Nach Hansen & Strudsholm (2008: 482–483)8 sind derartige Vorkommen _____________ 8 Auch die folgenden Beispiele sind aus Hansen & Strudsholm (2008: 483).

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von già die Quelle für eine quasi-adjektivische Verwendung, in der ihm dt. früherer, ehemaliger, Ex- oder verstorbener entspricht: (61) it.

Il già ministro di Grazia e Giustizia, Giuliano Vassalli, (‘der ehemalige Justizminister Giuliano Vassalli’ (www.unich.it/speciale2003/univ.htm))

(62) it.

Dott.re Lorenzo, figlio del già Peregrino Valasenieri e Laura Magati (‘Dr L., Sohn des verstorbenen P.V. und L.M.’ (www.vallisneri.it/documentifamiglia2.shtml))

Die konversationelle Implikatur, dass der mit già verbundene Sachverhalt nicht mehr zutrifft oder nicht mehr aktuell ist, erscheint beim adjektivischen Gebrauch der Partikel konventionalisiert. Der kategoriale Status von già wurde hier im Zuge einer Lexikalisierung zum Adjektiv hin verändert. Appositionell gebraucht sind solche Strukturen (z.B. Giuliano Vassalli, Senatore della Repubblica, già Ministro di Grazia e Giustizia, vgl. Hansen & Strudsholm 2008: 483) seit dem 13. Jahrhundert nachweisbar, während der adjektivische Gebrauch, der möglicherweise auf eine Reanalyse des Gebrauchs in Appositionen zurückgeht, erst im 16. Jahrhundert auftritt. Obwohl wir keine quantitative Analyse durchführten, lässt sich feststellen, dass die temporal-skalare Bedeutung in allen untersuchten romanischen Sprachen bei Weitem die häufigste ist. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass wir die temporal-phasalen Verwendungen aufgrund des mit ihnen implizierten Moments des Vergleichs hier zuordnen. In temporal-phasalen Verwendungen der betrachteten Partikeln wird auf den Abschluss einer Handlung oder eines Vorgangs vor einem als Topikzeit präsupponierten Moment verwiesen, wobei dieser Moment dem Redemoment, wie im folgenden französischen Beispiel, oder wie im portugiesischen Beispiel einem zusätzlich eingeführten Bezugsmoment, entsprechen kann: (63) fr.

[…] non, moi, je vous ai déjà dit souvent que je ne peux pas. (Frantext, K688 - Maurois André, Climats, 1928, 73)

(64) pt.

Já se vão cinco, seis meses que essas reuniões se tornaram um hábito. (CdP, Ignácio de Loyola Brandão, 12 julho 1997)

Während die Partikel mit perfektiven Verbformen auf den Abschluss der Handlung oder des Vorgangs verweist und ihn vor der Topikzeit auf der Zeitskala verortet, ist mit imperfektiven Verbformen auch eine rückblickende Darstellung möglich. Auch hier erfolgt ein Bezug auf ein früheres Intervall auf der Zeitachse, ohne dass dabei allerdings der Anfang oder das Ende in den Blick geraten, die Handlung also zur Topikzeit noch andauern kann:

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Ausdrucksmittel der Temporalität

(65) fr.

Enfin, quelques jours avant la date fixée, la presse revint à la charge: “on se battait déjà pour les places...” (Frantext, K299 – Martin du Gard, Roger, Devenir, 1928, 71)

Der Bezug zur Zeitachse liegt auch in Fällen vor, in denen mit der Partikel auf einen Moment verwiesen wird, der mit dem Redemoment zusammenfällt. Im folgenden spanischen Beispiel verweist ya – möglicherweise unter Berücksichtigung der Erwartungshaltung des Gesprächspartners – auf das frühe Eintreten des Vergessens der Umstände, unter denen eine Beziehung entstanden ist: (66) sp. Pero, ¿cómo empezó su relación? – Ya no me acuerdo muy bien... (CdE, Tasset, Jean Marie, Entrevista ABC)

Auch hier erfolgt ein Bezug zu einer Zeitskala, auf der eine Art Standardzeit für das Vergessen eines Vorgangs unterschritten wird. Schematisierend ließe sich die temporal-skalare Bedeutung der Partikel folgendermaßen darstellen: Zeitachse Standardzeit déjà/già/já/ya Für die Annahme der temporal-phasalen Bedeutung, die wir der temporalskalaren zuordnen, als Basisbedeutung wurden bereits von mehreren Autoren Belege aus einigen romanischen und germanischen Sprachen angeführt (z.B. Traugott & Waterhouse 1969, Doherty 1973, Muller 1975, König 1977, Hoepelman & Rohrer 1980, Martin 1980, Vet 1980, Välikangas 1982, Löbner, 1989, 1999; Garrido 1992; Vandeweghe 1992; Michaelis 1992, 1996; Auwera 1993, 1998). Tatsächlich legen die Häufigkeit des Auftretens dieser Bedeutung, die kognitive Ableitbarkeit der anderen Bedeutungen aus ihr und die Reihenfolge des Auftretens der einzelnen Bedeutungen in romanischen Texten diese Annahme nahe. Angesichts des Auftretens aller Bedeutungen von iam auch in frühen lateinischen Texten und der Tatsache, dass die Partikeln mit unterschiedlichen Bedeutungen bereits in früheren romanischen Sprachstufen, über die wir nicht ausreichend schriftliche Zeugnisse haben, aufgetreten sein können, scheint jedoch eine definitive Aussage nicht möglich. Da mehrere Eigenschaften skalar konzipiert werden können, liegt eine metaphorische Übertragung der Partikeln franz. déjà, it. già, port. já, span ya auf bestimmte Grade der Ausprägung dieser Eigenschaften nahe. So zeigt déjà im folgenden Beispiel, dass die im Prädikat ausgedrückte Eigen-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

schaft einen höheren Grad als angenommen hat (vgl. Hansen & Strudsholm 2008: 486). (67) fr.

C’est déjà bien ! En fait, c’est même super !

Mit Traugott & Dasher (2002: 3) ließe sich hier eine metonymische Beziehung zur temporalen Skala annehmen, insofern die objektive Bewegung entlang der Zeitachse das subjektive mentale Messen an einer Werteskala impliziert. Auch diese Verwendung wurde erst in späteren romanischen Texten gefunden. In Frantext konnte ein auf einer Zeit-Raum-Metapher beruhendes Beispiel für skalare, nicht-temporale Bedeutung von déjà aus dem Jahr 1573 gefunden werden: (68) fr.

Par quoi, toute la compagnie se leva et puys nous estantz dehors et moi déjà assez loin, (Frantext, S359 - Paradin Guillaume, Le Journal de Guillaume Paradin ou la Vie en Beaujolais au temps de la Renaissance (vers 1510-1589), 1573, 69)

Auch hier lässt sich von einer metonymischen Brücke ausgehen, denn die Entfernung erfolgt in der Zeit, außerdem sind metaphorische Beziehungen zwischen Raum und Zeit kognitiv naheliegend. Sinnvoller als die Annahme einer völlig neuen Bedeutung erscheint, von der allmählichen (Wieder)Nutzung der im kognitiven Potential der Zeitskala bereits ausgeprägten metaphorischen Nutzbarkeit auszugehen, die eine Übertragung auf andere skalar ausgeprägte Verhältnisse, wie Entfernungen (déjà assez loin) oder die Eignung eines Gegenstands für einen Zweck (déjà bien), erlaubt. In den anderen romanischen Sprachen handelt es sich bei der skalaren und nicht temporalen Bedeutung ebenfalls hauptsächlich um räumliche Beziehungen: (69) it.

Gasol è già lontano da Los Angeles (http://it.paperblog.com/gasol-e-gialontano-da-los-angeles-944759/. Zugriff am 28.12.2012)

(70) pt.

Já longe de tanta fumaça, menina que manda seus beijos com graça me faça rir, me faça feliz. (http://www.flickr.com/photos/hi_notori/7860053084/. Zugriff am 28.12.2012)

(71) sp. Los roedores estaban ya muy extendidos, y entre los primates se encontraban el tarsero y el lémur. (CdE, Enc.: Oligoceno)

Eine weitere Bedeutung der Partikel sehen Hansen & Strudsholm (2008: 488) in der Kennzeichnung der Marginalität eines nicht prototypischen Vertreters einer Klasse. In den beiden folgenden Sätzen markiert déjà/gia, dass Menton für Frankreich und ein Pinguin für die Klasse der Vögel nicht unbedingt repräsentativ sind: (72) fr.

Menton, c’est déjà la France.

(73) it.

Un pinguino è già un [tipo di] uccello.

Ausdrucksmittel der Temporalität

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Sätze wie die folgenden wären hingegen in ihrer Akzeptabiltät fraglich: (74) fr.

??Paris, c’est déjà la France.

(75) it.

??Un passero è già un (tipo di) uccello.

Solche erst seit dem 19. Jahrhundert belegte Verwendungen dürften aus dem skalaren Gebrauch abgeleitet sein, wobei höhere oder niedrige Ränge auf einer Skala der Marginalität mit der Zeitskala in Beziehung gesetzt werden können. Die geringe Ausprägung der prototypischen Eigenschaften einer Klasse lässt einen ihrer Vertreter gerade einen minimalen Grad auf der subjektiv zugrunde gelegten Skala erreichen. Im Lateinischen hatten Kroon & Risselda (2003) auch polare Bedeutung von iam nachgewiesen, die man als ein Überschreiten des Möglichen auf einer Skala deuten könnte. Als Hinweis auf der Realität entgegengesetztes, nur präsupponiertes Geschehen lassen sich äußerst wenige Vorkommen der Partikel in romanischen Sprachen finden. In einer solchen reinen polaren Ausprägung findet sich déjà im klassischen Französisch: (76) fr.

Déjà croyant l’imposture, ce pere inconsideré sur la moindre conjecture tenoit le crime averé. (Frantext, Q626 – Tristan l’Hermite, Les Vers héroïques, 1648, 142)

Auch in heutigen romanischen Sprachen kommt die Partikel zur Kennzeichnung des Gegensatzes zur Realität in Konditionalgefügen vor: (77) pt.

Se já existisse naquela época uma visão mais social de atender não só as classes de mais alta renda, hoje nós não teríamos 2 milhões de favelados. (CdP, Nadia Somekh, 11 novembro 1997)

Die Partikel wird jedoch vor allem zur Einführung eines semantischen Gegensatzes benutzt und unterstreicht die gegensätzliche Bedeutung zweier im selben Kontext verwendeter Ausdrücke. So wird im folgenden Beispiel aus Corneille das Merkmal ‘fast entkommen’ mit déjà eingeführt und dadurch in seinem Gegensatz zu ‘an die Kette zurückgekehrt’ unterstrichen: (78) fr.

Que pour ton amitié je vais souffrir de peine ! Déjà presque échappé je rentre dans ma chaîne, Il faut encore un coup m’exposant à ses yeux, Reprendre de l’amour afin d’en donner mieux. (Frantext, R951 – Corneille, Pierre, La Place Royale ou L’Amoureux extravagant, 1637, 501)

In den beiden folgenden Beispielen wird der Gegensatz des wirklichen Lebens (mi vida) zum Produkt schriftstellerischer Tätigkeit (lo que escribo) bzw. des Natürlichen (natural) und des Künstlichen (artificial) durch ya unterstrichen, wobei dieses im zweiten Beispiel wiederholt und ganz im

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Sinne einer im Kontrast zur Realität stehenden Hypothese mit dem Verb im Subjunktiv verbunden wird: (79) sp. Y ese miedo ha sido crucial en mi vida, ya no sólo en lo que escribo. (CdE, Entrevista ABC, Hildebrandt Cesar) (80) sp. Entre los factores exógenos físicos podemos tomar la radiación, ya sea natural, como la cósmica que recibe todo el mundo o la del gas radón que es frecuente en viviendas unifamiliares de este país, ya sea artificial como la que producen los reactores y bombas nucleares. (CdE, Entrevista ABC, Boo Juan Vicente)

Ausgangspunkt für die fokussierende Verwendung der Partikel war möglicherweise die auch heute noch geläufige Verwendung mit bestimmten Zeitausdrücken, die durch die Partikel hervorgehoben und einer Evaluierung im Hinblick auf die Standardzeit unterzogen wurden: (81) fr.

Je l’attends déjà depuis deux heures.

(82) it.

Già all’età di sette anni leggeva il latino senza problemi. (vgl. Hansen & Strudsholm 2008: 484–485)

Eine fokussierende, nicht temporale Funktion kann bereits bei einer Umstellung der Satzglieder erreicht werden. So wird im folgenden Satz nicht mehr der frühe, vor der Standardzeit liegende Zeitpunkt betont, sondern es wird hervorgehoben, dass es die lateinische Sprache war, die er lesen konnte (vgl. Hansen & Strudsholm 2008: 484–485): (83) it.

Leggeva già il latino senza problema all’età di sette anni.

Für den Gebrauch der Partikel in fokussierender Funktion kann für das Italienische vor dem 14. Jahrhundert und für das Französische vor dem 17. Jahrhundert kein Beleg gefunden werden, woraus mit Hansen & Strudsholm (2008: 484) die Schlussfolgerung gezogen werden könnte, dass diese Funktion als einer Erweiterung der temporal-phasalen Funktion zu betrachten ist. Wie oben dargestellt wurde, war jedoch die fokussierende Funktion bereits bei lat. iam vorhanden und gehört somit zu den Möglichkeiten der Partikel. Ob sie tatsächlich beim Übergang zu den romanischen Sprachen zunächst für mehrere Jahrhunderte verloren gegangen war und dann – zu unterschiedlichen Zeitpunkten – wieder auflebte, ist eine Frage, die angesichts der Möglichkeit einer Kontinuität im mündlichen Sprachgebrauch nicht vollständig beantwortet werden kann. In allen betrachteten romanischen Sprachen wird die Partikel déjà/ già/já/ya zur Fokussierung von Konstituenten benutzt. In den beiden folgenden Sätzen fokussiert die Partikel das Subjekt (mes menaces, o Watson): (84) fr.

Mes menaces déjà font trembler tout le monde. (Frantext, R946 – Corneille, Pierre, Clitandre ou l’Innocence délivrée, 1632, 150)

Ausdrucksmittel der Temporalität

(85) pt.

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Já o Watson, era uma coisa dentro dele que fazia aquilo mesmo. (CdP, Carlos Manga, 27 setembro 1997)

Die Partikel ist sogar in der Lage, ein attributiv gebrauchtes Adjektiv zu modifizieren: (86) sp. La estabilidad del país durante la etapa final de la década de 1970 se vio también amenazada por el gran número de refugiados que llegaron a Sudán procedentes de Eritrea, Uganda y Chad, y que agotaron sus ya escasos recursos. (CdE, Enc.: Sudán, república)

Der Gebrauch der Partikel zur Fokussierung einzelner Konstituenten eines Satzes lässt sich mit der Annahme einer Serie von Einheiten erklären, die als Argument im Prädikat des Satzes angenommen werden können und die nach der Wahrscheinlichkeit, als solches aufzutreten, geordnet werden. Es handelt sich hier um eine ad hoc gebildete pragmatische Skala, die nicht semantisch konstituiert wird. Die fokussierte Konstituente wird im gegebenen Kontext als besonders informatives, weil nicht vorhersehbares Argument gekennzeichnet. Die Grenze zwischen anwendbaren und nicht anwendbaren Argumenten wurde somit früher als erwartet überschritten, womit eine konzeptuelle Brücke zur Zeitskala hergestellt ist. Nicht nur einzelne Konstituenten, sondern auch Relationen und die Prädikation als solche können mit der Partikel déjà/già/já/ya fokussiert werden. So wird im folgenden französischen Beispiel, die Eigenschaft des Vorworts, zu lang zu sein, hervorgehoben: (87) fr.

Cette préface n’est déjà que trop longue pour une comédie. (Frantext, S891 – Corneille, Pierre, La Veuve : Au lecteur, 1634, 378)

Auch in den folgenden Beispielen werden über einzelne Konstituenten hinausgehende Teile fokussiert: (88) pt.

As [...] estrangeiras instalam-se aqui olhando o mercado interno, que vai dar a elas uma escala inicial grande e isso já é atrativo em si que as coloca numa posição de exportar. (CdP, Gustavo Franco, 10 agosto 1997)

(89) sp. La idea de la cama ya la tenía pensada. (CdE, Entrevista ABC, Calderón, Manuel)

Im Spanischen kann die Partikel ya zur Fokussierung einer speziellen Art von Relationen im Satz, der Affirmation, verwendet werden: (90) sp. El acordeonista que estuvo en la boda mía tocando ha estao en la boda de EE también, sí en la boda de EE sí, ya estuvo él sí. (González 1998: 8)

Das Spanische ya kann außerdem zur Verstärkung eines Imperativs in Aufforderungen genutzt werden (¡Cállate ya!), was Garrido (1992) als Erweiterung der temporalen Bedeutung erklärt: der Sprecher wünscht die

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Änderung eines Zustands im Gegensatz zur Erwartung, dass dieser fortgesetzt wird. In Frantext gibt es drei derartige Beispiele auch für das Französische, was für das Vorhandensein einer in dieser Sprache weniger genutzten und in ihrer Kombinierbarkeit eingeschränkten potentiellen Bedeutung spricht: (90) fr.

[…] tu l’as voulu, disait-il, tu l’as voulu ! Tu as attaché ta vie à la mienne. Vois déjà ! (Frantext, M728 – Flaubert, Gustave, La Première éducation sentimentale, 1845, 177)

(91) fr.

Vois déjà sa servante, elle revient. (Frantext, R315 – Corneille, Pierre, La Suite du Menteur, 1682, 324)

(92) fr.

Et vois déjà ce qui s’est introduit par cette fissure adventice ! (Frantext, R 252 Claudel, Paul, Commentaires et exégèses. 4 : Le Cantique des cantiques, 1948, 204)

Das Portugiesische erlaubt die Verwendung von já als Bejahungspartikel: (93) pt.

Essa mudança já se vê no primeiro programa? Regina - Já. Mesmo o roteiro estando pronto, tudo pode mudar quando começam as entrevistas. (CdP, Regina Casé, 15.4. 1997)

In der Interaktion kann it. già auch als emphatische Partikel der Zustimmung gebraucht werden (vgl. Hansen & Strudsholm 2008: 496): (94) it.

A. Si è dileguato con tutte le sue promesse. B. Eh già! Dovevamo immaginarlo.

Bernini (1995: 220–222) paraphrasiert già in solchen Kontexten als Già lo sapevo; der Sprecher engagiert sich für die Wahrheit der Aussage also schon vor ihrer Äußerung, womit wiederum ein Bezug zur Zeitskala hergestellt werden kann. Am Beispiel von iam/déjà/già/ya/já wurde deutlich, dass ausgehend von der temporalen bzw. der temporal-skalaren Bedeutung eine Verwendung in anderen Funktionen erklärbar ist. Ob diese Funktionen als von der temporalen abgeleitet betrachtet werden können, ist allerdings angesichts fehlender Daten für den frühen mündlichen Sprachgebrauch in romanischen Sprachen nicht ohne Weiteres feststellbar. Partikeln können in romanischen Sprachen also durchaus temporale Bedeutungen ausdrücken, diese Funktion ist jedoch der Markierung von Beziehungen im Diskurs untergeordnet. Die ausgedrückten temporalen Merkmale sind nicht präzise und meistens auf die Kennzeichnung einer Abfolge von Situationen beschränkt.

Ausdrucksmittel der Temporalität

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2.2.4. Temporale Verbalperiphrasen In der Entwicklung der romanischen Sprachen sind verschiedene Zyklen der Grammatikalisierung temporaler Verbalperiphrasen feststellbar, die sich in den einzelnen Sprachen unterschiedlich ausprägen und heute unterschiedliche Grade erreicht haben. Bereits Friedrich Diez stellt in seiner Grammatik Beispiele für „vollständige periphrastische Conjugation“ (vgl. Dietrich 1973: 68; Pusch & Wesch 2003: 1) fest. Unter Verbalperiphrasen verstehen wir mit Gómez Torrego (1999: 3325) Verbindungen von zwei Verben, die gemeinsam den Kern eines Prädikates bilden können. Das zweite Verb, das als „Hauptverb“ die lexikalische Bedeutung der Periphrase trägt, steht in einer nominalen, unpersönlichen Form des Verbs, also im Infinitiv, Gerundium oder Partizip. Verbalperiphrasen entsprechen der analytischen Tendenz in den romanischen Sprachen, insofern sie die lexikalische Bedeutung des Verbs und die grammatische Bedeutung auf unterschiedliche Bestandteile aufteilen, wobei das Auxiliar die Flexionsmerkmale trägt. Die Bezeichnung Auxiliar ist dabei insofern problematisch, als diese Verbform zwar ihre ursprüngliche Bedeutung teilweise verloren hat, aber nicht wie zum Beispiel das deutsche Hilfsverb sein im zusammengesetzten Perfekt lediglich Personen und Numerus trägt und keinerlei Anteil an der Bedeutung der Periphrase hat. Die Nominalform des Verbs in der Periphrase ist Träger der lexikalischen Bedeutung, benötigt aber das Auxiliar, um überhaupt als Grundlage der Prädikation dienen zu können. Verbalperiphrasen funktionieren als nicht-kompositionelle Einheiten und ihnen kommen temporale, aspektuelle oder modale Bedeutungen zu, wobei wir uns im Folgenden zunächst auf temporale Verbalperiphrasen beschränken werden. Am deutlichsten ist die Zyklizität der Entstehung von synthetischen und analytischen Formen am Beispiel des Ausdrucks der Zukünftigkeit in romanischen Sprachen nachweisbar. Als synthetisch betrachten wir dabei Formen, die sowohl die grammatische als auch die lexikalische Bedeutung in einem Wort vereinen. Das synthetische lateinische Futur I drückt eine in der Zukunft eintretende oder eine in der Gegenwart beginnende und in der Zukunft noch anhaltende Handlung aus: (95) lat. Cras aderit. ‛Morgen wird er da sein. Morgen kommt er.’9

Im Verlauf der Entwicklung zu den romanischen Sprachen ging das synthetische Futur verloren und wurde zunächst durch eine mehrgliedrige Verbalkonstruktion aus Infinitiv+HABERE ersetzt, die als modale Verbal_____________ 9

Bezeichnenderweise vermerkt hierzu Menge (2000: 183): „Das Deutsche wählt hier meistens das weniger umständliche Präsens.“ Das Futur konkurriert auch in den romanischen Sprachen mit dem Präsens und wird häufig durch dieses ersetzt, vgl. 2.3.5.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

periphrase obligative Bedeutung hatte (cantare habeo ‛ich muss singen; vgl. ʽich habe zu singen’). Die ursprüngliche Bedeutung von habere ‛haben, existieren’ ist bereits in dieser Konstruktion nicht mehr gegeben. Die modale Bedeutung trat im Verlauf der weiteren Entwicklung gegenüber der temporalen zurück; schließlich trat eine Verschmelzung des Infinitivs mit den jeweiligen Formen des Nachfolgers von HABERE ein. Die auf diese Weise entstandenen synthetischen Futurformen (frz. je chanterai, it. canterò, span. cantaré, port. cantarei, kat. cantaré) stehen als Ausdrucksmittel für ‛Zukünftigkeit’ zur Verfügung, werden jedoch nicht in allen romanischen Sprachen und deren Varietäten gleichermaßen verwendet.10 Inzwischen hat ein als Grammatikalisierung bezeichneter Prozess des Sprachwandels zu neuen analytischen Ausdrucksmitteln der Zukünftigkeit geführt (vgl. Hopper & Traugott 2003: 124; Bybee, Perkins & Pagliuca 1994). Dass dafür Verben der Bewegung in Frage kommen, scheint mit der menschlichen Kognition zusammenzuhängen, was insbesondere durch analoge Entwicklungen in mehreren Sprachen, die nicht miteinander verwandt sind oder jemals in Kontakt zueinander gestanden hätten, belegt wird. Ein typischer Grammatikalisierungspfad scheint also von den Bewegungsverben zu Ausdrucksmitteln der Zukunft zu führen (vgl. Lehmann 1995). Da die Auxiliare in diesen Periphrasen auf das lateinische Etymon IRE zurückgehen, sprechen wir vom IRE-Typ der Periphrase. Periphrasen des IRE-Typs sind im Spanischen, Portugiesischen und Französischen zur Bezeichnung der Zukünftigkeit sehr verbreitet und haben in einigen Varietäten bereits das einfache Futur zurückgedrängt,11 auch im gesprochenen Italienischen spielen sie eine Rolle. Die Entwicklung der Verben der Bewegung zu Auxiliaren in Periphrasen lässt sich anhand von Brückenkontexten gut nachvollziehen. Brückenkontexte sind in diesem Zusammenhang Okkurrenzen, in denen das konjugierte Verb sowohl als Vollverb als auch als Auxiliar interpretierbar ist: jemand bewegt sich an einen anderen Ort und wird dort – später – eine bestimmte Handlung vollführen. Die Bezeichnung der physischen Bewegung durch ein Bewegungsverb wird schließlich über die Analogie zum Voranschreiten der Zeit als Metaphernspender für die Markierung von Zukünftigkeit verwendet. Die dabei entstandene Periphrase kann auch andere Situationen als Handlungen bezeichnen und ist auch mit Subjekten verbindbar, die sich nicht bewegen können und sogar mit Abstrakta. Der Ausdruck zukünftiger Handlungen mit der Periphrase des Typs ire (+a)+Infinitiv findet sich in romanischen Sprachen sehr früh. Der erste Beleg im Corpus diacrónico del español (CORDE) kommt aus dem etwa _____________ 10 11

Vgl. hierzu 2.3.5. Vgl. 2.3.5.

Ausdrucksmittel der Temporalität

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1300 entstandenen Libro de los azores. Der Kontext kann als Brückenkontext interpretiert werden: ‛geht Wasser trinken’ / ‛wird Wasser trinken’: (96) asp. Quando el açor va a bever agua et bate las alas, sepas que á vexigas en los costados et por esso las bate. (CORDE, Anónimo, Libro de los azores, ca. 1300)

In den meisten frühen Belegen erscheint die spanische Periphrase ohne die Präposition a: (97) asp. Cobdiçia la mi alma a Ti, Señor, seruir / commo a mi Criador, a quien ella ha de ir; / el cuerpo sin ventura luego me va fallir: / ¿quién puede tal batalla soportar e sofrir? (CORDE, Pero López de Ayala, Rimado de Palacio, 13781406) (98) asp. Por ende non se quexe quien a Dios va rrogar alguna petiçión si la non va rrecabdar; (CORDE, Pero López de Ayala, Rimado de Palacio, 1378-1406)

In der Nueva Gramática de la lengua española wird auch für das moderne Spanisch der gelegentliche Gebrauch der Periphrase ohne a im mündlichen Sprachgebrauch und Mündlichkeit simulierenden Texten festgestellt: (99) sp. ¿Cómo va estar contento un tipo en cana? (CORDE, Chavarría, Rojo) (100) sp. Él le va mostrar a América quién manda, aun en su casa. (CORDE, Santiago, Sueño)

Die Verbalperiphrase wird jedoch bereits im mittelalterlichen Spanisch mit der Präposition a verwendet, ohne dass für den Gebrauch mit oder ohne Präposition eine Festlegung auf bestimmte Verben und Kontexte zu erkennen wäre. In den folgenden Sätzen schließen die Subjekte die Deutung als Bewegungsverb aus, die konjugierten Formen des Verbs ir funktionieren bereits als Auxiliar in einer temporalen Periphrase, die Zukünftigkeit ausdrückt: (101) asp. Tiene que de cada parte le quiere ofender, / e por ende, en su maliçia, el coitado va a cresçer, / teniendo que por aquesto, se podrá más defender, / e muy más fuerte, por ende, se torna a mal fa[z]er. (CORDE, Pero López de Ayala, Rimado de Palacio, 1378–1406) (102) asp. Quien quiere lo que non es suyo e quiere otro paresçer, con algo de lo ageno a ora resplandesçer, lo suyo e lo ageno, todo se va a perder: quien se tiene por lo que non es, loco es +va a perder+. (CORDE, Juan Ruiz, Libro de buen amor, 1330–1343)

Allerdings ist im Spanischen des 15. Jahrhunderts die Verwendung von ir in Konstruktionen mit dem Gerundium oder dem Partizip frequenter: (103) sp. e hora se les va començando el mal día para todos que nunca tan malo lo ovieron (CORDE; Pedro de Corral, Crónica del rey don Rodrigo, postrimero rey de los godos, ca. 1430)

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

(104) sp. E tú, buen señor, a quien el presente va tratado, no polido nin limado, a tu requesta enbiado, nótalo, nótalo bien, no considerando, no, en mis defectos, mas en los consejos rectos, sy te do. (CORDE, Gomez Manrique, A Diego Aras [Concionero de Gómez Manrique], 1465)

Die Periphrase ir+a+Infinitiv findet sich auch in den folgenden Jahrhunderten immer wieder und mit unterschiedlichen Personalformen des Auxiliars: (105) sp. Sábete que Este a quien yo voy a adorar sé que es Dios eternal todopoderoso, criador y gouernador de todas las cosas. (Anónimo, Historia de los Reyes Magos, ca. 1490) (106) sp. Tienes en casa el muerto y vas a llorar el ageno. (CORDE, Hernán Núñez, Refranes o proverbios en romance, 1549) (107) sp. trabaja segunt la ley & delos juyzios delos algos son las herençias que es via de buena dotrina por que non veden el bien de su dueño & pues que va a morir non dexe el djnero del heredero que se pierda mas ayalo el quele perteneçe que es el mas çercano (CORDE, Pedro de Toledo, 1419–1432, BNM ms. 10289) (108) sp. ¿Qué galán? -dijo el alguacil-. ¿El de la Membrilla? Por Dios, que, si no, lo vamos a prender a Manzanares. (CORDE, Antonio Enríquez Gómez, El

siglo pitagórico y Vida de don Gregorio Guadaña, 1644) (109) sp. Ahora nada os alegra, vais a hablar, os turbáis, y como involuntariamente exhaláis tiernos suspiros (CORDE, Ignacio García Malo, Voz de la naturaleza. Memorias o anécdotas curiosas e instructivas, 1787–1803: 169) (110) sp. Eso, no, pobrecillos. ¡Qué van a tener esa enfermedad! Si la tuvieran, no vivirían largo tiempo. (CORDE, Pío Baroja, Susana y los cazadores de moscas, 1938: 20)

Gómez Torrego (1999: 3365) ordnet diese Periphrase unter die aspektuellen ein. Als aspektuelle Qualität der Periphrase sieht er die Markierung des unmittelbaren Bevorstehens von Situationen an, die er als verbunden mit dem temporalen Merkmal der Zukünftigkeit sieht. Er führt als Beispiele für dieses futuro inmediato folgende Beispiele an, in denen die Periphrasen nicht durch ein einfaches Futur ersetzt werden können (Gómez Torrego 1999: 3368): (111) sp. ¿Qué hora es? Van a ser las tres. (112) sp. Señores, va a comenzar el partido. (113) sp. Vámonos, que va a llover.

Zweifellos können die Periphrasen in diesen Sätzen nahe Zukunft ausdrücken, dennoch erscheint diese vordergründige Erklärung als „aspektuelle“ Periphrase zweifelhaft. Uns erscheint die Markierung von aspektuellen

Ausdrucksmittel der Temporalität

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Eigenschaften nicht vordergründig bei dieser Periphrase, die neben der Zukünftigkeit auch noch modale Werte (intentional-deontisch, epistemisch) annehmen kann (Gómez Torrego 1999: 3366): (114) sp. Te lo iba haber dicho. (‛Ich hatte die Absicht, es dir zu sagen’) (115) sp. Va a haberlo matado el guarda. (‛Wahrscheinlich hat ihn die Wache getötet’)

Auch der Satz Van a ser las tres als Antwort auf die Frage ¿Qué hora es? Würde normalerweise modal als Antwort von jemandem interpretiert, dem die genaue Uhrzeit nicht zugänglich ist (‛Es wird wohl 3 Uhr sein’). Die Periphrase hat somit neben der Markierung der Zukünftigkeit auch naheliegende modale Funktionen übernommen. Außerdem wird die Periphrase ir+a+Infinitiv im heutigen Spanisch zur Markierung von Zukünftigkeit unabhängig von der Nähe oder Ferne der bezeichneten Situationen verwendet und hat in einigen Varietäten das einfache Futur bereits ersetzt. Als aspektuell betrachten wir außerdem die Kennzeichnung der Verlaufsqualität von Situationen und nicht ihre Einordnung als nah auf einer Zeitskala. Auch die Real Academia Española erkennt der Periphrase ir+a+Infinitiv vordergründig temporale Bedeutung zu (RAE 2009: 2154). Die Periphrase ir+a+Infinitiv konkurriert häufig mit dem einfachen Futur und dem Konditional im Ausdruck von Posteriorität, die sie mit Bezug auf den Sprechaktmoment ausdrückt, wenn das Auxiliar im Präsens, oder mit Bezug auf einen Moment in der Vergangenheit, wenn es in einer Form der Vergangenheit steht. In allen Fällen nimmt die Periphrase prospektive Bedeutung an. Der periphrastische Charakter der Konstruktion ist deutlich daran zu erkennen, dass der Infinitiv mit seinen Komplementen nicht durch ein Pronomen ersetzbar ist und dass die Komponenten nicht vertauschbar sind (Gómez Torrego 1999: 3366): (116) sp. El Presidente se va a dirigir al público dentro de unos momentos. *El Presidente va a eso. *A dirigirse al público es a lo que va el presidente.

Im folgenden Beispiel hat die Verbform va die Bedeutung eines Bewegungsverbs (‛er geht’). Es liegt somit keine Periphrase vor, womit Umstelungen möglich sind: (117) sp. El Presidente va a trabajar todos los días a su empresa. El Presidente va a su empresa a trabajar.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Klitika können vor das Auxiliar treten oder an den Infinitiv angehängt werden. In dieser Eigenschaft stimmt diese Periphrase mit nichtperiphrastischen Konstruktionen überein: (118) sp. Se lo voy a decir a tu madre. / Voy a decirselo a tu madre. (119) sp. ¿Dónde vas con ese regalo? Se lo voy a llevar a mi amigo al colegio. / Voy a llevárselo a mi amigo al colegio.

Da der Infinitiv und nicht das Auxiliar das Subjekt auswählt, sind auch Sätze mit unbelebtem Subjekt und Nullsubjekt möglich: (120) sp. Van a ocurrir cosas importantes. (121) sp. Se va a celebrar una reunión. (122) sp. Va a llover pronto.

Die Bedeutung der Periphrase liegt vor allem in der Markierung von Zukünftigkeit, wobei die Unmittelbarkeit im psychologischen Sinne in Varietäten, in denen die Periphrase mit dem einfachen Futur konkurriert, im Sinne größerer Sicherheit des Sprechers über das Eintreten der bezeichneten Situation ausgeprägt sein kann (Gómez Torrego 1999: 3368): (123) sp. Todos sabemos que, antes o después, vamos a morir. (124) sp. Si te lo digo, ¿me vas a querer más?

Auch in der Nueva Gramática de la lengua española wird eine höhere Wahrscheinlichkeit des Auftretens der Periphrase festgestellt, wenn Indizien für ein garantiertes Eintreten der Situation in der Zukunft vorliegen (RAE 2009: 2155): (125) sp. Va a haber un diluvio, el océano va a entrar en la tierra, las casas van a caerse. (Ruffinelli, Guzmán)

Die Einschätzung, dass die Periphrase eine unmittelbar bevorstehende Situation ausdrückt, wird in der Nueva Gramática de la lengua española jedoch relativiert. Zwar sei sie mit konkreten Zeitangaben, die nahe Zukunft bezeichnen, dem einfachen Futur vorzuziehen, ihre Verwendung für weit in der Zukunft liegende oder niemals stattfindende Situationen schränkten ihre Interpretierbarkeit als nahe Zukunft jedoch ein (RAE 2009: 2155): (126) sp. Las obras no se van a terminar hasta dentro de diez años. (127) sp. A este paso no vamos a llegar nunca.

Die Bedeutung der Zukünftigkeit tritt auch mit dem Auxiliar im Imperfekt auf, wobei die Periphrase Zukünftigkeit in der Vergangenheit ausdrückt und durch einen einfachen Konditional ersetzbar wäre (Gómez Torrego 1999: 3368):

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(128) sp. Sabía que si terminaba la carrera, iba a ponerme a trabajar. (me pondría a trabajar) (129) sp. Me aseguraron que iban a venir (que vendrían).

Mit der Bedeutung der Zukünftigkeit kann sich eine intentional-modale Bedeutung verbinden, was vor allem in Konditionalsätzen vorkommt. In diesen Fällen ist die Periphrase nicht durch ein einfaches Futur oder den Konditional ersetzbar, weil die modale und nicht die temporale Bedeutung dominiert (Gómez Torrego 1999: 3368–3369): (130) sp. Si vas a venir, dinoslo. (‛Wenn du die Absicht hast zu kommen, sag es uns.’) *Si vendrás, dínoslo. (131) sp. Si iban a venir, ¿por qué no me lo dijiste? *Si vendrían, ¿por qué no me lo dijiste?

Die mit Zukünftigkeit verbundene intentionale Bedeutung tritt auch in nichtkonditionalen Kontexten auf, in denen auch ein einfaches Futur möglich wäre. Dieses würde aber als weniger angemessen empfunden (Gómez Torrego 1999: 3369): (132) sp. ¿Qué vas a hacer esta tarde? / ?¿Qué harás esta tarde? (133) sp. ¿Va a salir? / ??¿Saldrá?

Die Konstruktion ¿Va a salir? wird als Formel beim Aussteigen aus einem öffentlichen Verkehrsmittel konventionell realisiert und ist als solche nicht durch das einfache Futur ersetzbar. In dieser intentionalen Bedeutung der Periphrase kann das Auxiliar im Imperfekt auch mit einem zusammengesetzten Infinitiv verbunden werden. Die Periphrase steht dann für eine Absicht in der Vergangenheit, die jedoch nicht realisiert wurde (Gómez Torrego 1999: 3369): (134) sp. Te lo iba a haber dicho, pero no me atreví.

Das Auxiliar im Präsens kann zusammen mit einem zusammengesetzten Infinitiv eine Vermutung und damit epistemische Modalität ausdrücken (Gómez Torrego 1999: 3370): (135) sp. Va a haberlo matado Juan.

In Verbindung mit der zweiten Person Plural tritt der exhortative modale Charakter der Periphrase in den Vordergrund (Gómez Torrego 1999: 3369). Der Sprecher fordert den Gesprächspartner zu einer in der nahen Zukunft zu vollziehenden Handlung auf, in die er sich selbst mit einschließt: (136) sp. Vamos a pensar qué se puede hacer.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

(137) sp. Venga, vamos a tomar otra copita.

Mit dem objektiven Bedeutungsmerkmal der Zukünftigkeit verbinden sich häufig subjektive Merkmale, durch die die Periphrase zur Formulierung bestimmter Sprechakte geeignet ist: (138) sp. Así no vas a conseguir nada.

Warnung

(139) sp. No hagas ruido, que vas a despertar al niño.

Vorwurf

(140) sp. ¡Te vas a enterar de lo que soy capaz!

Drohung

Mit dem Auxiliar im einfachen oder zusammengesetzten Perfekt kann sich emphatischer Ausdruck von Unangemessenheit, Ärger oder Missempfinden des Sprechers verbinden. Diese Bedeutung wird durch die Intonation, durch die Satzmodalität des Ausrufesatzes und durch lexikalische Mittel wie precisamente unterstrichen (Gómez Torrego 1999: 3370): (141) sp. Precisamente fui a cruzar la calle cuando pasaba el autobús. (142) sp. ¡Mira quien fue a hablar! (143) sp. ¡Han ido a venir cuando menos lo esperabamos!

Mit der Periphrase ir+a+ Infinitiv können auch zu allen Zeiten gültige Sätze formuliert werden (RAE 2009: 2157). In solchen Verwendungen verliert die Periphrase zwar ihre temporale Qualität, drückt aber nach wie vor Nachzeitigkeit gegenüber einem fiktiven Moment aus: (144) sp. Los errores que se han cometido suelen ser más graves que los que se van a cometer. (145) sp. Los que te van a traicionar primero se ganan tu confianza.

Für den hohen Grad der Grammatikalisierung dieser Periphrase spricht auch die Tatsache, dass sie mit beliebigen Subjekten verwendbar ist (RAE 2009: 2157). Das Merkmal der Bewegung ist vollständig neutralisiert, was sich in Verbindungen mit abstrakten Subjekten zeigt: (146) sp. Nadie iba a saber. (147) sp. Va a suceder una catástrofe.

Ebenso ist die Periphrase in Konstruktionen ohne Subjekt verwendbar (RAE 2009: 2157): (148) sp. Iba a haber un terremoto. (149) sp. Va a llover.

Die Periphrase wird im gesprochenen Spanisch sehr viel häufiger verwendet als im geschriebenen. In ihrer rein temporalen Bedeutung wird sie in

Ausdrucksmittel der Temporalität

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einigen formalen Registern vermieden, für die sie als weniger angemessen betrachtet würde (RAE 2009: 2155): (150) sp. La mezcla se disolverá (statt: se va a disolver) si le aplica este reactivo. (151) sp. El tren se detendrá (statt: se va a detener) en todas las estaciones.

Wie im Kapitel 2.3.5. dargestellt werden wird, hat die Periphrase ir+a+ Infinitiv in einigen der diatopischen und diaphasischen Varietäten des Spanischen das Futur bereits weitgehend verdrängt. Für das Portugiesische stellt Oliveira (2004: 158) fest, dass die Zukünftigkeit überwiegend durch die Periphrase ir+Infinitiv markiert wird, wenn diese Funktion nicht vom Präsens mit einer entsprechenden adverbialen Zeitangabe übernommen wird. Dem einfachen Futur kommt dagegen heute überwiegend modale Bedeutung zu. Die Verwendung der Periphrase ir+Infinitiv findet sich im Portugiesischen kontinuierlich seit den frühen Texten: (152) pt. Os vossos meus dinheiros, senhor, nompud’eu haver, pero servidos som, come outros, que vos ham-de servir; hei-os d’haver mentr’eu viver, ou pommi-os à mia mort’, ou a quem os vou pedir? (CdP, Cantigas de Escárnio e Maldizer, 1201-1300) (153) pt. Por ho que me pareçe que he ja oras, sera bem que o vamos buscar, e eu averei meu conselho e vos darei a reposta que eû entemder e for aguisado. (CdP, Cronica de Portugal, 1419) (154) pt. E se algûu homem da sua terra ou dos seus vasallos va morar fora do seu senhorio e morre la onde quer que esta este rey manda la pedir toda a fazenda que la fica E lhe dam logo todo sem algûa refferta porque todos o temem (CdP, Códice Valentim Fernandes, 1506-1510) (155) pt. Como se póde imaginar que lucifer taõ sabio se deliberasse va collocar seu throno sobre os astros, entrando-lhe no intendimento este dezejo claramente conhecido, por impossivel? (CdP, Manuel José de Paiva, Enfermidades da língua, 1759)

Steht das Auxiliar im Präsens, drückt die Periphrase Nachzeitigkeit gegenüber dem Sprechaktmoment aus. Mit dem Ausdruck der Nachzeitigkeit kann sich auch die Bekundung einer auf die Zukunft gerichteten Absicht verbinden: (156) pt. O Madureira vai mexer na música e eu também vou alterar partes do texto. Vou torná-lo mais cantável. (CdP, Ariano Suassuna, 12 julho 1997)

Die intentionale Bedeutung bei der Verwendung der Periphrase muss jedoch nicht explizit sein. Ihre Funktion kann sich auf die Markierung von Nachzeitigkeit beschränken, wie der folgende Auszug aus einer Rede des brasilianischen Politikers Mario Covas (1930–2001) zeigt. In dieser Text-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

stelle werden aufeinanderfolgende zukünftige Handlungen mit der Periphrase ir+Infinitiv bezeichnet:12 (157) pt. Elas vão começar três meses de obras sem receber nada, quando vão instalar os 10 pedágios e vão fazer melhoras na estrada, como sinalização, limpeza e garibada na estrada, até para não dar vergonha na hora de cobrar o pedágio. A partir do quarto mês as empreiteiras passam a faturar com a cobrança dos pedágios. JC - Os usuários da rodovia, entre os municípios, não vão pagar mais? (CdP, Mário Covas)

Auch im europäischen Portugiesisch markiert die Verbalperiphrase ir+Infinitiv mit dem Auxiliar im Präsens regelmäßig Nachzeitigkeit gegenüber dem Sprechaktmoment und es bestehen keine Einschränkungen für die Auswahl des Subjekts: (158) pt. Mas com a regionalização vão ser resolvidos muitos desses problemas. (CdP, Narciso Miranda, 96-04-07-5) (159) pt. Quem sabe se esses resultados vão influenciar a construção europeia? (CdP, Gil-Robles, 97-04-27-31)

Bei einem im Imperfekt stehenden Auxiliar wird Nachzeitigkeit in Bezug auf einen Moment der Vergangenheit ausgedrückt. Im folgenden Beispiel ist dieser Referenzpunkt der in der Vergangenheit liegende Moment des Blicks in den Himmel, nach dem geschlussfolgert wurde, dass es regnen würde (Gärtner 1998: 33). Mit dem Ausdruck der Zukunft in der Vergangenheit verbindet sich hier also auch eine modale Bedeutung: (160) pt. Olhou o céu… Certamente ia chover.

Deutlich wird diese Nachzeitigkeit gegenüber einem Moment der Vergangenheit auch nach Verben des Sagens und Meinens, nach denen in der Standardsprache die Zeitenfolge einzuhalten ist: (161) pt. Ele disse que ia escrever logo. (Gärtner 1998: 33)

Ähnlich wie im Spanischen drückt die portugiesische Periphrase ir+Infinitiv mit dem Auxiliar im einfachen Perfekt oder im Plusquamperfekt neben der Nachzeitigkeit gegenüber einer anderen vergangenen Handlung das Befremden oder allgemein eine negative Empfindung des Sprechers aus (Gärtner 1998: 33): (162) pt. Botaram a porta abaixo e foram encontrar o velho morto na cama. (163) pt. Como fora casar com aquela mulher?

_____________ 12

Man verbindet im Portugiesischen die Periphrase nicht mit dem Verb ir (*eu vou ir). Das zeigt, dass – trotz der Grammatikalisierung und der Annahme der Futurbedeutung – die Bedeutung des Gehens noch nicht vollkommen verblasst ist.

Ausdrucksmittel der Temporalität

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Die Periphrase ir+Infinitiv mit dem Auxiliar im Konditional drückt stärkere Irrealität aus als der einfache Konditional: (164) pt. Se você fosse para África, aí então iria ver o que é calor.

Insgesamt kann auch für das Portugiesische ein hoher Grammatikalisierungsgrad der Periphrase ir+Infinitiv festgestellt werden, der sich im Vorkommen mit allen Konjugationsformen des Auxiliars, in der freien und semantisch unabhängigen Wahl des Subjekts und in der hohen Frequenz niederschlägt. Auch im Französischen geht die Tradition der extensiven Verwendung der Periphrase aller+Infinitiv weit in die Geschichte zurück. Die ersten Belege in Frantext sind aus Le voyage de Gênes (1507) von Jean Marot, wobei einige dieser Okkurrenzen als Brückenkontexte von der Bezeichnung von Bewegung zur Markierung der Zukünftigkeit betrachtet werden können: (165) fr. Durant ce trouble, ceste turbe maligne / Va conspirer d’aller mettre en ruine / Le *Castellat et de bouter à mort / Tous les Françoys, qui lors gardoyent le fort (Frantext, R671. Jean Marot, Le Voyage de Gênes, 1507: 94) (166) fr. Leur duc, voyant ce piteux accessoire / Et qu’à l’encontre de luy ja murmuroyent, / Leur va promettre ce jour avoir victoire / Du BastiIlon que les Françoys tenoyent. (Frantext, R671. Jean Marot, Le Voyage de Gênes, 1507: 104)

Auch im klassischen Französisch ist die Periphrase aller+Infinitiv vertreten. Im folgenden Beispiel aus Corneille erscheint sie mit deutlich futurischer Bedeutung: (167) fr. Et mon dessein ne va qu’à vous faire justice, / Qu'à vous favoriser plus que vous ne voulez. (Frantext, R979. Pierre Corneille, Don Sanche d’Arragon, 1650: 53)

Scarron verwendet sie in der Variante s’en aller+Infinitiv: (168) fr. Je verray ces beaux yeux qui luy font tant de mal, / Et vostre amant s’en va devenir mon rival. (Frantext, S111. Paul Scarron, Le Héritier ridicule ou la Dame intéressée, 1650: 23)

Für das moderne Französisch spricht Schrott (1997) vom futur périphrastique, da es im gesprochenen Französisch den Status einer regulär für den Ausdruck der Zukünftigkeit verwendeten Verbform eingenommen hat. Die Verbalperiphrase aller+Infinitiv hat insbesondere im mündlichen Sprachgebrauch das einfache Futur bereits stark zurückgedrängt. Sie kommt jedoch auch in formellen Gesprächssituationen vor. So verwendet Balzac die Periphrase in einer Frage mit Inversion, der ein Satz mit dem einfachen Futur folgt, das in epistemisch-modaler Bedeutung eine Vermutung ausdrückt. In diesem Beispiel könnte sich diese Vermutung mit einer

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

außerordentlich emphatischen Sprecherhaltung (allure extraordinaire; vgl. Schrott 1997: 257) verbinden, die im darauf folgenden Satz mit dem einfachen Futur nicht mehr gegeben ist: (169) fr. Son ignorante vie avait cessé tout à coup, elle raisonna, se fit mille reproches. « Quelle idée va-t-il prendre de moi ? Il croira que je l’aime. » (Frantext, M668. Honoré de Balzac, Eugénie Grandet, 1833: 1106)

Die Periphrase aller+Infinitiv ist offensichtlich ein weitgehend grammatikalisiertes Mittel des Ausdrucks von Zukünftigkeit, das im Französischen seit Jahrhunderten zur Verfügung steht und in seiner Frequenz, diamesisch, diaphasisch und diatopisch variiert. Die italienischen Grammatiken (Schwarze 1988; Renzi, Salvi & Cardinaletti 2001 [1991]) schenken dem periphrastischen Ausdruck der Zukünftigkeit keine Beachtung, was möglicherweise mit ihrer Orientierung am geschriebenen Italienisch zusammenhängt. In der Datenbank BADIP (BAnca Dati dell’Italiano Parlato) konnten wir zahlreiche Okkurrenzen der Konstruktion andare+a+Infinitiv feststellen. In den folgenden Fällen scheint es sich dabei um Brückenkontexte zu handeln, da der Vollzug der zukünftigen Handlung eine Bewegung voraussetzt oder mit einer Bewegung verbunden ist: (170) it. senti no volevo dirti che io sto malissimo c’ho un mal di testa guarda e sto piangendo ma io ora mi piglio due cachet e vado a dormire (FB11.14B) (171) it. allora è venuto eh gli ho detto da scuola li raggiungo per andare alla stazione e eh li vado a salutare (FB12.40B) (172) it. ma c’è un traffico della Madonna adesso faccio un altro giro vado a vedere quell’altro in via Coperni (MB13.5A) (173) it. ha già ha già detto al suo compagno che domani la va a trova’ quello di Genova (FA1.112A)

In den folgenden Beispielen ist eine Bewegung zwar nicht direkt impliziert, es ist jedoch möglich sie ebenfalls als Brückenkontexte zu interpretieren. Dass jemand gleich etwas machen, sehen oder etwas wieder an sich nehmen wird, ist zumindest als mit einer Bewegung zu einem bestimmten Ort verbunden vorstellbar: (174) it. ecco io anzi lo vado a fare ora (FB11.53B) (175) it. quindi vado a vedere (MA5.382A) (176) it. […] li depositi poi quando il casino è finito li vai a riprendere però guarda che mi sembra molto molto difficile è molto semplice è molto debole e anche molto debole giuridicamente (MB12.48B)

In den folgenden Okkurrenzen der Konstruktion andare+Infinitiv scheinen die Formen von andare jedoch ihre ursprüngliche Bedeutung verloren

Ausdrucksmittel der Temporalität

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zu haben und nur noch als Auxiliar zum Ausdruck von Zukünftigkeit zu funktionieren. Der Infinitiv vivere ‛leben’ drückt ‛nicht tot sein’ und ‛sein Leben in die Hand nehmen’ aus, also viel zu abstrakte Konzepte, als dass sie mit einem bestimmten Ort, zu dem eine Bewegung erfolgen müsste, verbunden sein könnten. (177) it. vado a vivere (FE15.432I)

Im folgenden Beispiel wird der Infinitiv lavorare ‛arbeiten’ verneint. Um nichts zu tun, muss man sich nicht an einen Ort bewegen; das Auxiliar drückt hier also einfach Zukünftigkeit aus: (178) it. eh vado a non lavorare perchè non ce la fo’ più (MB86.23°)

In den folgenden beiden Okkurrenzen schließen die Subjekte bereits einen Brückenkontext der Konstruktion zwischen der Bewegung und der Zukünftigkeit aus. Dem Kräutertee (tisana) werden in der Textstelle wohltuende Wirkungen zugeschrieben, die er hervorrufen soll. Der Periphrase kommt hier also eindeutig die Funktion des Ausdrucks einer zukünftigen Situation zu. Ähnlich geht es im zweiten Beispiel um die somatisierende Wirkung von Pflanzen. Mit den Aussagen über Situationen nach dem Sprechaktmoment werden somit auch Aussagen über die Eigenschaften der als Subjekte verwendeten Substanzen getroffen: (179) it.

[…] che dovete prendere lo sciroppo prima in modo che voi quello che avete mangiato non lo assimilate nel modo più assoluto dopo di che va presa la tisana perchè la tisana va a sfiannare appunto va a togliere quei liquidi che si sono formati sul vostro corpo direi che questa è una cosa veramente importante perchè va a rimuovere dall’interno […] (NE11.1A)

(180) it. sono a disposizione anche per ripetere tutto quanto concerne non solo la preparazione ma anche l’utilizzo di queste cure di queste piante come eh come eh si dice piante officinali che sono poi vanno a somatizzare a ad alleviare la somatizzazione (ME6.193B)

Es lässt sich also durchaus auch für das Italienische feststellen, dass sich die Verbalperiphrase andare+a+Infinitiv auf dem Wege der Grammatikalisierung befindet und in der gesprochenen Sprache bereits zu einem geläufigen Ausdrucksmittel der Nachzeitigkeit gegenüber dem Sprechaktmoment geworden ist. Das überdurchschnittlich häufige Auftreten in Brückenkontexten und der regelmäßige Gebrauch des einfachen Futurs in allen Varietäten des Italienischen scheinen für einen geringeren Grammatikalisierungsgrad der Verbalperiphrase als im Spanischen, Portugiesischen und Französischen zu sprechen. Im Rumänischen wurde ein anderer Grammatikalisierungsweg zur Bildung der Futurform gewählt, der ausgehend von einem Verb des Wol-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

lens (a vrea ‛wollen’) bereits zu einem vollständigen analytischen Paradigma des Futurs geführt hat: eu voi cânta tu vei cânta el va cânta

noi vom cânta voi veţi cânta ei vor cânta

Auch in anderen romanischen Sprachen werden hin und wieder Periphrasen mit Verben des Wollens oder des Denkens für den Ausdruck von Zukünftigkeit verwendet, sie stehen jedoch in der Häufigkeit und dem Grad der Grammatikalisierung hinter der Periphrase, die ausgehend von einem Verb der Bewegung entstand, weit zurück. So wurde im mittelalterlichen Spanischen das Verb querer mit prospektiver Bedeutung verwendet, mit der es auch heute noch hin und wieder auftritt (RAE 2009: 1775). Der Sprecher äußert dabei einen Wunsch, manifestiert jedoch gleichzeitig deutlich, dass er die gewünschte Handlung ausführen wird: (181) sp. Y a vos, Raúl, quiero decirte que a mí no me debes explicaciones.

Auch pensar+Infinitiv wird – neben seiner intentional-modalen Bedeutung – als Ausdruck der festen Entschlossenheit zu einer Handlung verwendet und tritt als solche als Markierung der Zukünftigkeit auf: (182) sp. No pienso callarme. (183) sp. Me vine porque allá no me encontré trabajo y solo pienso ir a Colombia de vacaciones.

In dieser temporalen Bedeutung ist der nominale Bestandteil der Periphrase mit ihren Komplementen nicht durch ein Pronomen substituierbar (Gómez Torrego 1999: 3339): (184) sp. Pienso aprobar el curso. ??Lo pienso.

Mit intentionaler Bedeutung in einer Form des Auxiliars in der Vergangenheit erscheint die Pronominalisierung des Infinitivs jedoch normal (Gómez Torrego 1999: 3339): (185) sp. A veces he pensado escribir un libro, pero no me he decidido. A veces lo he pensado, pero no me he decidido.

Es gibt Verwendungen von Verben der Bewegung mit Nominalformen von Verben, die keine Periphrasen darstellen. So behält im folgenden portugiesischen Beispiel die Verbform vinham ‛kamen’ ihre volle lexikalische Bedeutung als Bewegungsverb und das Partizip leitet das Subjektsprädikativum acompanhados dos filhos ‛von den Söhnen begleitet’ ein. Hier liegt somit keine Verbalperiphrase vor:

Ausdrucksmittel der Temporalität

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(186) pt. Os pais vinham acompanhados dos filhos.

In anderen Fällen erscheint die lexikalische Bedeutung des konjugierten Verbs zurückgetreten oder sogar neutralisiert. Im folgenden spanischen Satz drückt das Verb llevar (ursprünglich ‛tragen, mitbringen’) den Abschluss der Handlung des Studierens aus. Es handelt sich also um eine temporal-aspektuelle Verbalperiphrase, deren temporale Bedeutung in der Lokalisierung des Abschlusses vor dem Sprechaktmoment besteht: (187) sp. Lleva bien estudiado el asunto.

Der periphrastische Charakter dieser Form könnte bereits aufgrund der geringen Frequenz im Vergleich zu anderen temporal-aspektuellen Verbalperiphrasen angezweifelt werden. Außerdem werden Verbalperiphrasen typischerweise nicht durch Adverbien (bien) unterbrochen. Was hier für eine Einordnung als Verbalperiphrase spricht, ist die weitgehende Ausbleichung des Auxiliars. Trotz verschiedener Einschränkungen der Verbindbarkeit ist sogar die Kombination eines Bewegungsverbs mit einer Nominalform von sich selbst möglich (andar andando), was für eine deutliche semantische Veränderung spricht. Verbindungen von IRE und dem Gerundium gehen bis auf spätlateinische Gebrauchsformen zurück und ihre Ergebnisse können heute in romanischen Sprachen gefunden werden. Gougenheim (1929: 2) führt ihre Ursprünge bis zur Merowingischen Latinität zurück und erwähnt Beispiele wie stellas ire trahendo comas. Yllera (1980: 58–89) hat den systematischen Gebrauch derartiger Konstruktionen im mittelalterlichen Spanisch beschrieben, wo sich Konstruktionen finden lassen, die den Beginn und die Fortführung einer Handlung kennzeichnen: (188) asp. Alegrando se va mio Cid con todos sus vassallos (1036) / [...] el amor de mio Cid ya lo ivan provando. (1247)

Im Altspanischen lassen sich Konstruktionen vom IRE+Gerundium-Typ finden, die Phasen von Handlungen oder schwer abschließbare Handlungen bezeichnen und nach ihrer Funktion eher zu den aspektuellen Verbalperiphrasen gehören. In dem folgenden Satz tritt das konjugierte Verb in der Konstruktion ir nos hemos, die später zur einfachen Futurform wurde, noch mit dem enklitisch verwendeten Pronomen und mit deontischmodaler Bedeutung auf: (189) asp. Prendiendo de vos e de otros ir nos hemos pagando (1046) ‛von euch und von anderen nehmend, müssen wir gehen und bezahlen’

In altfranzösischen Texten ist die Konstruktion aller+Gerundium relativ häufig, sie kommt in 7 % der Sätze in der Chanson de Roland vor und erreicht in anderen Texten, zum Beispiel in der im zwölften Jahrhundert

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

entstandenen Chanson de geste Aspremont und in dem Roman de Rou des normannischen Dichters Wace (1110–1174), bis zu 13 %. In vielen Fällen gibt das Gerundium zusätzliche Information über den Charakter der Bewegung: aler courant ‛rennend (schnell) laufen’, aler galopant ‛galoppierend laufen’, aler fuiant ‛flüchtend laufen’. Außerdem sind Konstruktionen aus dem Bewegungsverb aller und dem Gerundium von Verben des Kommunizierens vertreten, die auch im modernen Französisch teilweise noch als lexikalisierte Konstruktionen vorhanden sind: aler disant ‛sagend gehen’, aler conseillant ‛ einen Rat erteilend gehen’, aler escriant ‛schreiend gehen’. In periphrastischen Konstruktionen mit Bewegungsverben kann deren ursprüngliche lexikalische Bedeutung in unterschiedlichem Grade präsent sein. Gómez Torrego (1988: 13) vertritt sogar die Auffassung, dass Verben wie andar (‛laufen’) oder llevar (‛tragen, mitbringen’) sowohl als Auxiliare als auch als Vollverben dieselbe Bedeutung hätten: (190) sp. Llevo estudiando esta cuestión varios años. Verbalperiphrase (‛ich habe diese Frage mehrere Jahre studiert’, wörtlich: ‛trage studierend’ (191) sp. Llevo con esta cuestión varios años. Vollverb (‘ich trage diese Frage mehrere Jahre mit mir herum’)

Gómez Torrego (1988: 15) und andere haben formale Prozeduren zur Unterscheidung periphrastischer Konstruktionen von anderen vorgeschlagen. Eine Periphrase kann zum Beispiel nicht vorliegen, wenn die Nominalform des Verbs durch ein einfaches Nomen ersetzt werden kann, da in diesem Fall das Verb seine ursprüngliche Bedeutung hätte und das Nomen regieren würde. In Anwendung dieser Prozedur wäre die Bedeutung des Verbs in den beiden folgenden Sätzen identisch, was eine Grammatikalisierung und das Funktionieren von se lanzó als Auxiliar ausschließt: (192) sp. Juan se lanzó a recoger datos. Juan se lanzó a la recogida de datos.

Im Fall von Juan anda enamorado (‛Juan läuft verliebt herum’) erfüllt enamorado die Funktion eines Adjektivs und nicht die eines Verbs, was ebenfalls das Vorliegen einer Verbalperiphrase ausschließt. Ein weiterer Test für das Spanische basiert auf den Klitika, die bei Vorliegen einer Verbalperiphrase links und rechts von dieser stehen können. Da in den folgenden Sätzen die Rechtsposition der Klitika ausgeschlossen ist, können die darin auftretenden Konstruktionen aus einer konjugierten Verbform und einem Infinitiv nicht als Verbalperiphrasen betrachtet werden: (193) sp. La dejó caer.

*Dejó caerla.

Ausdrucksmittel der Temporalität

(194) sp. Te mandé trabajar.

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*Mandé trabajarte.

Die Periphrasen vom IRE-Typ sind aspektuell weniger bestimmt und es müssen mehrere formale Möglichkeiten des Ausdrucks der Qualitäten, Abschnitte oder Phasen einer Handlung in Betracht gezogen werden, wobei alle zur semantischen Funktion einer solchen Periphrase als Ganzes beitragen: der aspektuelle Wert der Nominalform des lexikalischen Kernverbs, die Aktionsart dieses Verbs, der aspektuelle Wert des flektierten Verbs und die Bedeutung dieses Verbs. Dies lässt sich an der folgenden spanischen Periphrase aus dem Roman Cien años de soledad (1967) von Gabriel García Márquez und ihren Übersetzungen ins Französische, Deutsche und Englische zeigen (vgl. Haßler 2002a): (195) sp. José Arcadio Buendía, que aún no acababa de consolarse por el fracaso de sus imanes, concibió la idea de utilizar aquel invento como una arma de guerra. (195) fr. José Arcadio Buendía, qui n’était pas encore parvenu à se remettre de ses déboires avec les aimants, conçut l’ídée d’utiliser cette invention comme arme de guerre. (195) dt. José Arcadio Buendía, noch immer untröstlich über den Mißerfolg seiner Magnetbarren, kam auf den Einfall, diese Erfindung als Kriegswaffe zu verwenden. (195) en. José Arcadio Buendía, who had still not been consoled for the failure of his magnets, conceives the idea of using that invention as a weapon of war.

Consolarse ist ein Verb, das aufgrund seiner lexikalischen Bedeutung ‛sich trösten’ eine Darstellung des inneren Prozesses erlaubt, obwohl in diesem Fall der Infinitiv eine solche Sichtweise nicht betont. Das finite Verb acabar ist telisch, wird aber im Imperfekt verwendet. Außerdem wird die Vollendung der Handlung explizit verneint. In den Übersetzungen werden einige Beiträge zur Aspektualität der Periphrase verändert. Die französische Übersetzung fokussiert die Abgeschlossenheit des Prozesses, indem sie das Imperfekt durch das zusammengesetzte Perfekt ersetzt. Der englische Übersetzer geht genauso vor und transformiert den gesamten Prozess zusätzlich ins Passiv. In der deutschen Übersetzung wird schließlich ein verbaler Ausdruck vollständig vermieden und eine Umformung in ein Adjektiv vorgenommen, das den Zustand und seine Negation ausdrückt (untröstlich), während die durative Bedeutung durch adverbiale Mittel wiedergegeben wird (noch immer). Auch wenn diese Beispiele als zufällig und von der Subjektivität der Übersetzer beeinflusst erscheinen mögen, illustrieren sie die Möglichkeiten des Ausdrucks von Aspektualität und Temporalität durch Verben und Verbalperiphrasen, die in den romanischen Sprachen, speziell im Spanischen, Katalanischen und Portugiesischen stärker ausgeprägt sind als im Deutschen.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Eine Besonderheit in der Entwicklung der Verbalperiphrase vom Typ weist dabei das Katalanische auf. Dieser Typ der Periphrase ist als das periphrastische Perfekt mit der Bedeutung ‛Vorzeitlichkeit gegenüber dem Sprechaktmoment’ im katalanischen Sprachgebiet mit Ausnahme von Teilen der Region Valencia und den Balearen ausgeprägt. Es hat das synthetische (einfache) Perfekt als Vergangenheitstempus verdrängt und setzt sich aus einem aus dem Bewegungsverb anar ‛gehen’ entstandenen Auxiliar und dem Infinitiv zusammen. Pusch (1997: 285) erläutert den Gebrauch des katalanischen periphrastischen Perfekts anhand des folgenden Textausschnitts in gesprochenem Katalanisch: IRE+Infinitiv

(196) les altercacions d’ ordre públic que es van produir després ART Auseinandersetzungen von Ordnung öffentlich REL sich AUX INF danach die Ausschreitungen die sich ereigneten nach de la manifestació . perquè durant la manifestació no hi va haver von ART Kundgebung weil während ART Kundgebung nicht dort AUX INF der Kundgebung denn während der Kundgebung gab es nicht el menor incident . ε: i que van ser protagonitzats precisament per les ART kleinste Zwischenfall und REL AUX INF angeführt genau durch ART den geringsten Zwischenfall und die ausgelöst wurden genau durch die forces de la policia nacional Kräfte von ART Polizei national staalichen Polizeikräfte

Die drei periphrastischen Perfektformen in diesem Text bezeichnen abgeschlossene und vor dem Sprechaktmoment liegende Handlungen. Im Unterschied zu den anderen romanischen Sprachen, in denen die Konstruktion des Typs IRE+Infinitiv futurische Bedeutung angenommen hat, ging das Katalanische offensichtlich einen Sonderweg. Zur Erklärung dieser Besonderheit hat bereits Meyer-Lübke (1899: 344) eine Hypothese aufgestellt, nach der Konstruktionen dieses Typs das inchoative im Begriff Sein, eine Handlung zu begehen, bezeichneten, das sich im Katalanischen nicht mit dem Blick auf die vor dem Sprecher liegende Zeit, sondern rückwärts entwickelt hat: Auszugehen ist wohl auch hier von der Inkoativbedeutung, während aber im Französischen das Inkoative sich nach der Seite des Futurischen entwickelte […], stellt sich im Katalanischen umgekehrt eine Handlung, deren Anfang besonders betont wird, als hinter der Zeit des Sprechenden liegend dar. (Meyer-Lübke 1899: 344)

Die vor allem von Colón (1961)13 weiterentwickelte Inchoativitätshypothese zur Erklärung des besonderen Verhaltens dieser Periphrase im Katalanischen geht von der dynamisierenden Semantik des Vollverbs anar aus, _____________ 13

Vgl. auch Colón 1975, Vallduvì 1989.

Ausdrucksmittel der Temporalität

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was den Einsatz der Konstruktion anar+Infinitiv zur Belebung und Aktualisierung des Geschehens in Erzählkontexten mit wörtlicher Lesart des Verbs anar erlaubte (Pusch 1997: 287). Die Konstruktion blieb dabei zunächst atemporal, was auch die heute in der Periphrase nicht mehr mögliche Verwendung des synthetischen Perfekts erlaubte. Allmählich habe man das präsentische anar vorgezogen, das die Vorzüge des narrativen Präsens aufwies. Durch eine Reanalyse kam es danach zum Verlust der Bedeutung des Bewegungsverbs in der Periphrase und zur Interpretation des Ausdrucks im Sinne von Vorzeitigkeit und Perfektivität. Eine periphere, ursprünglich an den narrativen Kontext gebundene Funktion der Periphrase anar+Infinitiv wurde somit zum Ausgangspunkt der Grammatikalisierung, während in den anderen romanischen Sprachen, die gleichfalls über Konstruktionen des Typs IRE+Infinitiv verfügten, die zentrale Bedeutung zum Ausgangspunkt der Grammatikalisierung auf dem Pfad ‛Bewegung’ → ‛Zukunft’ wurde (vgl. Pusch 1997: 287). Das unterschiedliche Verhalten der französischen Periphrasen ist hauptsächlich mit den eingeschränkten Möglichkeiten der Nominalform des Kernverbs zu erklären. Während in den iberoromanischen Sprachen dieses Verb als Infinitiv, Gerundium oder Partizip auftreten kann, erlaubt das moderne Französisch, mit Ausnahme einiger eingefrorener und lexikalischer Konstruktionen, nur den Infinitiv. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts konnten im Französischen noch Bewegungsverben mit dem Präsenzpartizip gefunden werden. Im 16. Jahrhundert existierte die Periphrase vom Typ IRE+Infinitiv als Ausdruck von Zukünftigkeit gemeinsam mit der progressiven Periphrase IRE+Gerundium. Dies lässt sich durch folgende Beispiele aus Frantext illustrieren: IRE+Infinitiv (197) fr. Durant ce trouble, ceste turbe maligne Va conspirer d’aller mettre en ruine Le Castellat et de bouter à mort (Marot, J., Le voyage de Gênes 1507: 94) (198) fr. Va, va aprendre ta leçon ! (Six pièces polémiques du recueil de La Vallière 1530: 156)

IRE+Gerundium Et ainsi entre vallées umbrageuses, entre montaignes et rochers elle va consumant petit à petit ses jours. (Flore, J., Contes amoureux 1537: 174) Cent mille noms, pour croistre ma douleur, Me va nommant, dont le moindre est «meschante».(Navarre, M. de, Comédie à dix personnages 1542: 105)

Derartige periphrastische Konstruktionen entwickelten sich aus dem Gebrauch von Verben, die von anderen Handlungen begleitete Bewegungen bezeichnen. Eine Schlüsselstellung nehmen hierbei die bereits erwähnten

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Brückenkontexte ein, in denen das konjugierte Verb noch als Bewegungsverb, aber auch bereits als Auxiliar einer temporalen oder aspektuellen Periphrase verstanden werden kann: (199) sp. Yo soy el Diablo. voy a buscar a Don Quijote de la Mancha (Cervantes II, 34, 0917.25) ‛Ich bin der Teufel, ich gehe/werde Don Quijote de la Mancha holen’ (200) sp. vamos a la ciudad de Segovia acompañando un cuerpo muerto, que va en aquella litera, que es de un caballero que murió en Baeza (Cervantes I, 19, 0203.22) ‛wir gehen zur Stadt Segovia und begleiten / wir begleiten einen toten Körper, der auf dieser Trage liegt und einem Ritter gehört, der in Baeza starb’

Es kann als Zeichen eines beginnenden Grammatikalisierungsprozesses betrachtet werden, wenn das finite Verb mit anderen Bewegungsverben im lexikalischen Kern der Periphrase kombiniert werden kann. Eine solche Kombinationsmöglichkeit führt letztlich zur Spezialisierung auf den Ausdruck der grammatischen Bedeutung: (201) sp. Sancho amigo, la noche se nos va entrando a más andar (Cervantes II, 8, 0687.31) ‛Sancho mein Freund, die nach wird eintreten, wenn wir weitergehen.’

Ein weiteres Zeichen von Grammatikalisierung ist der Gebrauch des Imperfekts des Auxiliars gemeinsam mit dem Gerundium, was zu einer Häufung imperfektiver aspektueller Merkmale führt. Im folgenden Beispiel scheint das Zusammentreffen von Markierungen der Imperfektivität zu einer Wiederbelebung der lexikalischen Bedeutung des Bewegungsverbs zu führen: die Person läuft wirklich und spricht dabei zu sich selbst: (202) sp. Yendo, pues, caminando nuestro flamante aventurero, iba hablando consigo mesmo (Cervantes I, 2, 0046.13). ‛Spazieren gehend, lief unser brennender Abenteurer umher und sprach dabei zu sich selbst (lief sprechend)’

Während die erwähnten periphrastischen Konstruktionen im gegenwärtigen Spanisch sehr häufig sind, ist die IRE+Gerundium-Periphrase im Französischen fast verloren gegangen.14 Dieser Prozess begann schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo sich noch einige Beispiele in eingeschränkten Kontexten finden lassen. Sie finden sich vor allem in solchen Kontexten, in denen die Bedeutung als Bewegungsverb reaktualisiert wird. In solchen Fällen könnte man sogar den Beginn einer Relexikalisierung sehen: (203) fr. David sʼen va errant, et triste je demeure. (Des Masures, David triomphant, 1566: 166) ‛David ging ziellos umhergehend weg und traurig blieb ich zurück’

_____________ 14

Zu den Periphrasen im Mittelfranzösischen vgl. Werner 1980.

Ausdrucksmittel der Temporalität

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Eine der Bedingungen, die diese Periphrase für eine gewisse Zeit noch behalten ließen, scheint der italienische Einfluss zu sein, der vor allem von der Sprache des Hofes ausging. Im 17. und 18. Jahrhundert ist die Konstruktion aus IRE+Gerundium nicht sehr häufig und vor allem auf das Gerundium bestimmter Verben, wie zum Beispiel ruiner, eingeschränkt: (204) fr. va ruinant tant qu’il peut, et proditoirement la verité de ce mystere, par trois moyens aussi meschans l’un que l’autre [...]. (Garasse le père, Doctrine curieuse, 1623: 302)

Die semantische Einschränkung auf den Ausdruck von Empfindungen, Niedergang und Wachstum ist ein Indiz dafür, dass die Grammatikalisierung der Periphrase aller+Gerundium gestoppt wurde und ein Prozess der Lexikalisierung einsetzte, der vor allem zur Festigung der semantischen Kollokationsbeziehung zwischen dem konjugierten Verb und dem Gerundium bestimmter Verben führte. Heute tritt diese Konstruktion in der Form aller(konj.)+en+Gerundium vor allem mit dem Verb augmenter auf und kennzeichnet das Fortdauern von Wachstumsprozessen: (205) fr. [...] et 9 000 décès liés à la drogue ont été signalés chaque année dans l’UE et en Norvège et cette tendance va en augmentant (http://europa.eu/ rapid/press-release_IP-04-294_fr.htm?locale=en. 22.12.2015) (206) fr. On peut dire avec une quasi-certitude que la part du trafic de loisirs va aller en augmentant (http://www.cipra.org/fr/cipra/international/projets/en-cours/ alpmedia/dossiers-1. 22.12.2015) (207) fr. La demande de services va aller en augmentant d'année en année. (http://www. parl.gc.ca/HousePublications/Publication.aspx?DocId=2332222&Language =F&Mode=1&Parl=36&Ses=2. 22.12.2015)

Während die Periphrase vom Typ IRE(+a)+Infinitiv in mehreren romanischen Sprachen zu einem wichtigen Ausdrucksmittel der Zukünftigkeit geworden ist, gibt es keine Belege für eine Generalisierung der ein Fortdauern von Situationen bezeichnenden Periphrase des IRE-Typs. Periphrasen mit Bewegungsverben und Gerundium gehen in ihrer Diskursfrequenz zurück und behalten oder erhöhen sogar ihre Selektionseinschränkungen. Es besteht eine zunehmende Einschränkung dieses Typs von Periphrasen auf Verben, die Wachstumsprozesse bezeichnen und deshalb von Bertinetto (1986: 269) incrementativi genannt werden. Yllera (1980: 60) hat für das Spanische gezeigt, dass die wichtigsten Merkmale der betrachteten Konstruktion bereits im 13. Jahrhundert geprägt wurden. Ir ist in seiner Kombinierbarkeit im Wesentlichen reduziert auf Bewegungsverben und Verben, die Veränderung angeben. Giacalone Ramat (1995) hat für das Italienische nachgewiesen, dass die Konstruktionen aus andare/venire+Ge-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

rundium nur ein mittleres Stadium der Grammatikalisierung erreicht haben und dass sie sogar als Fälle unterbrochener Grammatikalisierung betrachtet werden können. Am weitesten fortgeschritten in ihrer Grammatikalisierung ist unter den temporalen Periphrasen die Periphrase ir(+a)+Infinitiv, die auch mit weiteren Periphrasen zu einer komplexen Periphrase mit einer Kette von mehreren Auxiliaren kombiniert werden kann, in der nur das erste Auxiliar in einer Personalform auftreten kann (Gómez Torrego 1999: 3347). Im folgenden Beispiel sind durch die Auxiliare die Bedeutungen ‛Zukünftigkeit’, ‛Obligation’, ‛Iterativität’ und ‛Inchoativität’ mit dem lexikalischen Kernverb im Infinitiv mit der Bedeutung ‛arbeiten’ verbunden: (208) sp. Vas a tener que Auxiliar 1 Auxiliar 2 Zukünftigkeit Obligation

volver a empezar a Auxiliar 3 Auxiliar 3 Iterativität Inchoativität

trabajar. Infinitiv

Syntaktisch handelt es sich bei solchen Ketten um einfache Sätze, die jedoch durch den Beitrag der einzelnen Auxiliare semantisch von hoher Komplexität sind. 2.2.5. Aspekt und Aktionsart als Ausdruck von Temporalität Einige Forscher betrachten auch den Aspekt und die Aktionsart als Ausdrucksmittel von Temporalität. Da wir diese Eigenschaften des Verbs einer eigenen Kategorie, der Aspektualität, zuordnen, sei hier nur kurz erwähnt, was ihre Betrachtung im Rahmen der Temporalität bis zu einem gewissen Grade rechtfertigt. Wie Tempus ist auch Aspekt eine grammatische Kategorie des Verbs; im traditionellen Verständnis dient der Aspekt der Vorstellung einer Situation unter einem bestimmten Gesichtspunkt, zum Beispiel als andauernd oder abgeschlossen. Prinzipiell sollten Tempus und Aspekt unabhängig voneinander sein, das heißt derselbe aspektuelle Kontrast könnte in allen Tempora gefunden werden. In den meisten Sprachen sind Tempus und Aspekt jedoch zu einem einfacheren Flexionssystem verbunden, das meist Tempussystem genannt wird, obwohl es sich in vielen Sprachen als Tempus-Aspektsystem darstellt. Dass die beiden Kategorien Tempus und Aspekt eng zusammenhängen, lässt sich bereits an der Tatsache erkennen, dass auch in Sprachen mit einer ausgeprägten Korrelation perfektiver und imperfektiver Verben das Präsens dem imperfektiven Aspekt vorbehalten ist, während einfache Konjugationsformen des perfektiven Verbs stets Zukunftsbedeutung haben. Im Russischen bedeutet der folgende Satz mit dem perfektiven Verb ‛ich werde die Prüfung ablegen (bestehen)’, während sich das imperfektive

Ausdrucksmittel der Temporalität

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Verb auf die Gegenwart bezieht und in der imperfektiven Futurform auch die Möglichkeit des Nichtbestehens impliziert ist: (209) ru. Я сдам экзамен. ich ablegen1.Ps.Sing.Perf. Prüfung ‛Ich werde die Prüfung ablegen (bestehen).’ (210) ru. Я сдаю экзамен. ich ablegen1.Ps.Sing.Imperf. Prüfung ‛Ich lege die Prüfung ab’ (211) ru. Я буду сдавать экзамен. ich werde ablegenInf.Imperf. Prüfung ‛Ich werde die Prüfung ablegen (mich ihr unterziehen).’

Da es in den romanischen Sprachen keine Aspektkorrelation gibt, lassen sich nur die Verbformen der Vergangenheit und die Opposition zwischen dem einfachen oder periphrastischen Futur und dem seltenen zusammengesetzten Futur als aspektuell markiert betrachten und sinnvoll auf die temporale Qualität ihrer aspektuellen Merkmale hinterfragen. Tempus und Aspekt sind jedoch in den betreffenden Verbformen so eng verknüpft, dass es schwerfällt, einen aspektuellen Anteil an ihrer temporalen Qualität zu bestimmen. Natürlich markiert das Plusquamperfekt neben der Perfektivität grundsätzlich Vorzeitigkeit gegenüber einem Bezugsmoment R in der Vergangenheit und damit die Perfektivität der bezeichneten Situation, wie in dem oben bereits erwähnten Satz: (212) it. Erano ormai le 2 del pomeriggio (R), Giovanni era partito a mezzogiorno (E).

Die Ersetzung des Plusquamperfekts durch das einfache Perfekt würde hier eine wenig sinnvolle Abfolge von Sätzen ergeben, die in Bertinetto (1991: II, 20) für nicht korrekt erklärt wird: (213) it. *Erano ormai le 2 del pomeriggio (R), Giovanni partì a mezzogiorno (E).

Das einfache Perfekt ist zwar auch perfektiv, durch das Fehlen des Merkmals der Vorzeitigkeit fehlt jedoch der Bezug zum Relatum aus dem vorangehenden Satz. Das passato remoto ist normalerweise ein Erzähltempus, das zum Aufzählen nacheinander stattfindender Ereignisse und Handlungen verwendet wird. Durch die allgemein angenommene Regel, dass die Situationen in der Reihenfolge ihres Auftretens dargestellt werden, entsteht hier ein Widerspruch. Es ist also eindeutig ein temporales Merkmal, das dem Plusquamperfekt seine Fähigkeit, Vorzeitigkeit zu markieren, gibt und nicht sein perfektiver aspektueller Charakter. Eine gewisse temporale Relevanz kommt dagegen dem aspektuellen Charakter des Imperfekts zu. Ersetzen wir die Verbform im zweiten Satz durch das imperfetto, wird die Handlung des Wegfahrens als zur Referenz-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

zeit R noch nicht abgeschlossen dargestellt. Giovanni hat sich also zu Mittag entschlossen wegzufahren, hat sich aber bis mindestens zwei Uhr nachmittags aufhalten lassen: (214) it. Erano ormai le 2 del pomeriggio (R), Giovanni partiva a mezzogiorno (E).

Die Betrachtung einer Situation als ganzheitlich und abgeschlossen legt ihre Verortung in einer Vorzeitigkeit nahe, ebenso impliziert der imperfektive Aspekt mit der ‛Dauer’ auch ein Zeitmerkmal. Dass das Tempussystem der romanischen Sprachen eng mit aspektuellen Merkmalen zusammenhängt, geht auch auf seine Herkunft zurück. Die indoeuropäische Grundsprache war eine Aspektsprache, in der eine Verbalhandlung entweder als ganzheitlich und abgeschlossen (perfektiver Aspekt) oder als unabgeschlossen und im Verlauf befindlich (imperfektiver Aspekt) dargestellt wurde. Für den Ausdruck der Aspektkorrelation standen eigene Aspektstämme zur Verfügung, die häufig fälschlicherweise Tempusstämme genannt werden. Das Funktionieren dieser Aspektstämme lässt sich anhand der Aspektpaare in slavischen Sprachen und im Griechischen nachvollziehen. Im Griechischen ist der perfektive Aspekt durch den Aoriststamm (Σαδυάττης … ἐβασίλευσε ἔτεα δυώδεкα, ‘S. herrschte 12 Jahre lang’, abgeschlossener Zeitraum, Aorist, Hdt. 1,16; Κῦρος ἐβασίλευσε, ‛so bestieg K. den Thron’, punktuell, Aorist, Hdt. 1,130), der imperfektive durch den Präsens- bzw. Perfektstamm repräsentiert (ἐν ὑμῖν … βασίλευε ‛war bei euch König’, durativ, Imperfekt, Hom. Od. 2,46-7) (vgl. Meiser 1998: 38). Der Perfektstamm bezeichnet einen Zustand am Subjekt des Satzes, den eine vorausgegangene Handlung hervorgerufen hat, z.B. die Bezeichnung für ‛wahrnehmen’ als ‛wissen’, der urindogermanische Perfektstamm für ‛er hat wahrgenommen’ erhielt die Bedeutung ‛weiß’. Reste dieser ursprünglichen Funktion bewahrten die lateinischen Verben mit präteritaler Flexionsweise und präsentischer Bedeutung (Präteritopräsentia), wie meminī ‛erinnere mich, denke an’, nōvī ‛habe erkannt, weiß’, ōdī ‛ablehne, hasse’ (vgl. Meiser 1998: 39). In jedem der drei Aspektstämme konnten Zeitstufen unterschieden werden. Dem Ausdruck einer außerzeitlichen oder zeitlich nicht festgelegten Handlung diente der Injunktiv, der durch einfache Endungen gekennzeichnet war. Die aktuelle Gegenwart wurde durch den Parontiv, aus dem der Indikativ Präsens bzw. Indikativ Perfekt entstand, ausgedrückt, sie ist allerdings beim perfektiven Aspekt – ähnlich wie in heutigen Aspektsprachen – ausgeschlossen. Alle drei Aspektstämme konnten ein Präteritum bilden, wovon das Präteritum des Präsensstamms funktional im lateinischen Imperfekt seine Fortsetzung findet, allerdings mit anderen morphologischen Mitteln. Meiser (1998: 39) stellt fest, dass bei klaren temporalen Verhältnissen schon in der indogermanischen Grundsprache anstelle des

Ausdrucksmittel der Temporalität

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Präteritums der uncharakterisierte Injunktiv verwendet werden konnte. In Anlehnung an Meiser (1998: 39) lassen sich die aspektuell-temporalen Ausdrucksmittel des Verbs im Indikativ folgendermaßen darstellen: Tempora Gegenwart Außerzeitlich Präteritum

perfektiv Aoriststamm --Injunktiv Aorist Aorist

Aspekt imperfektiv Präsensstamm Perfektstamm Präsens Perfekt Injunktiv PräInjunktiv Perfekt sens Imperfekt Plusquamperfekt

Im Lateinischen ist dagegen in der Regel jedem Präsensstamm ein eigener Perfektstamm zugeordnet, wobei dieser besonders bei den produktivsten Typen von Verben als vom Präsensstamm abgeleitet betrachtet werden kann: amāre → amā-vī, finīre → finī-vi (vgl. Meiser 1998: 179). Außerhalb dieser Ordnung bleiben nur einige wenige, allerdings sehr häufige Verben (sum, eō, volō), bei denen die hohe Gebrauchsfrequenz möglicherweise zum Erhalt mehrerer Stämme beigetragen hat. Diese Dominanz des Präsensstamms war im urindogermanischen Verbalsystem noch nicht gegeben. In seinem Zentrum stand die Wurzel, zu der jeweils mehrere Präsens- und Aoriststämme sowie ein Perfektstamm gebildet werden konnten. Zu einer Wurzel gab es im Allgemeinen mehr Präsens- als Aoriststämme, höchstens jedoch einen Perfektstamm. Die enge Verbindung der Tempusstämme, wie sie im Lateinischen zu finden ist, war in diesen älteren Sprachzuständen noch nicht gegeben. Dieser alte Zustand ist im Lateinischen durch die Simultanperfekta, die mehreren Präsensstämmen zugeordnet sind, reflektiert (z.B. stetī zu den Präsentien stō und sistō, sēdī zu sedeō und (con-)sīdō) (vgl. Meiser 1998: 180). Das lateinische Verbalsystem unterscheidet sich in der Struktur seines Paradigmas erheblich von der Grundsprache, wobei im Lateinischen Kategorien nicht nur reduziert, sondern auch neu aufgebaut und umgruppiert wurden. Das urindogermanische Aspektsystem war am Ende der uritalischen Periode zusammengebrochen. Der perfektive Aorist und das aspektuell imperfektive Perfekt wurden zu einer neuen Kategorie, dem lateinischen Perfekt, vereint. Dieses hatte, mit Ausnahme der Präteritopräsentien, ausschließlich Vergangenheitsbedeutung, wie auch das Imperfekt des Präsensstamms. Die klare funktionale Zuordnung der urindogermanischen Tempus- und Aspektstämme war damit aufgehoben. Der Präsensstamm und der Perfektstamm hatten ihre spezifischen Funktionen verloren, sie dienten als Basismorpheme der Ableitungen verschiedener Tempus- und Modusbildungen (Meiser 1998: 180).

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Die Vermischung temporaler und aspektueller Markierungen am Verb haben die romanischen Sprachen also bereits aus dem Lateinischen geerbt. Dennoch lassen sich aspektuelle Merkmale bei den Verbformen der Vergangenheit feststellen, die – wie wir gesehen haben – auch temporal relevant sein können. Während der Aspekt eine grammatische Eigenschaft des Verbs ist, sind die Aktionsarten lexikalische Eigenschaften der einzelnen Verben, die auch zu den Mitteln des Ausdrucks von Aspektualität dienen. Aktionsarten werden traditionell als Unterteilung von Verben entsprechend temporal-aspektuellen Eigenschaften der Situation, die sie beschreiben, betrachtet. Sie sind lexikalischer Natur und können durch ein Zusammenwirken mit aspektuellen Merkmalen der Verbformen oder mit Adverbien modifiziert werden. In temporaler Hinsicht können Aktionsarten zum Beispiel für die Verbindbarkeit mit bestimmten Temporaladverbien relevant sein. Während durative Verben mit Adverbien, die ein plötzliches Eintreten der Handlung bezeichnen, durchaus verbindbar sind, dabei aber eine inchoative Aktionsart entwickeln (‛plötzlich begann ich, den Schlüssel zu suchen’), sind terminative Verben nicht mit Dauer bezeichnenden Adverbien verbindbar: (215) dt. PLÖTZLICH suchte ich den Schlüssel. (216) dt. *Ich fand den Schlüssel LANGE.

Verben mit terminativer Aktionsart können bei perfektivem Gebrauch nicht mit Zusätzen versehen werden, die eine danach stattfindende Fortsetzung der Handlung bezeichnen, während durative Verben dies durchaus zulassen: (217) sp. *El avión ha llegado, pero seguirá llegando un rato más. (218) sp. Juan ha viajado por toda Europa, pero seguirá viajando un año más.

Da sowohl der Aspekt als auch die Aktionsarten primär Ausdrucksmittel der Aspektualität sind, sei hier auf das 3. Kapitel verwiesen. 2.2.6. Temporalität durch Diskursprinzipien Schließlich kann sich die Temporalität in einem Text auch durch Diskursprinzipien ergeben. Häufig werden temporale Relationen nicht durch spezifische Wörter oder Konstruktionen ausgedrückt, sondern durch die Art und Weise, in der Sätze zu größeren Texteinheiten organisiert sind. Im Normalfall werden Geschehnisse in einer Geschichte in der Reihenfolge erzählt, in der sie auftreten. Wie wir bereits gesehen haben, tritt dieses

Ausdrucksmittel der Temporalität

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Prinzip auch bei der Interpretation verschiedener anderer Mittel der Temporalität in Kraft. In der alten Rhetorik gab es eine Figur, die hysteron proteron (‛das Spätere als Früheres’) genannt wurde und die diesem Prinzip bewusst widersprach, indem sie auf eine Umstellung der Reihenfolge zur Erzielung besonderer Wirkung setzte. Bekannt ist der folgende Ausspruch aus Vergils Aeneis: (219) lat. Moriamur et in media arma ruamus. ‛Lasst uns sterben und uns in die Waffen stürzen!’

Auch Mephisto aus Goethes Faust I benutzt diese rhetorische Figur: (220) dt. Ihr Mann ist tot und lässt Sie grüßen.

In Los hechos de Garcilaso y el moro Tarfe von Lope de Vega kann ein hysteron proteron als Versuch gedeutet werden, den wichtigsten Gedanken zuerst zu nennen, obwohl er gemäß der chronologischen Reihenfolge am Schluss stehen würde: (221) sp. ¡Oh dura y desigual naturaleza,/Nacida y engendrada por mi daño!

Auch bei Dante kommt diese Figur vor: (222) it. Forse in tanto in quanto un quadrel posa e vola e da la noce si dischiava, giunto mi vidi ove mirabil cosa mi torse il viso a sé (Dante, Divina Commedia, Pd. II, 23–26)

Außerhalb dieser rhetorischen Figur gibt es ebenfalls die Möglichkeit, beim Erzählen die chronologische Struktur der Situationen zu verändern und dabei herausragende Ereignisse besonders zu markieren oder immer wieder zu einem Zeitpunkt zurückzukehren. Es ist jedoch auch möglich, ohne spezielle Mittel der Temporalität, sondern nur durch die Struktur des Diskurses eine Abfolge von Ereignissen zu erzählen, wie der folgende Bericht über einen Motorradunfall zeigt: (223) fr. 17h45 fin du « bourrage » de crâne et retour vers la moto afin de regagner le domicile. […]. En arrivant sur l’artère principale de ville qui est une très grande ligne droite, il y a bien sûr un embouteillage monstre...je patiente derrière les voitures et quand celles-ci se « rangent » pour me laisser doubler... et bien je double prudemment en oubliant pas le petit geste de remerciement... [...] Après le centre-ville traversé, toujours la même ligne droite, toujours le même embouteillage seulement dans mon sens de circulation mais là, il y a des pointillés au sol qui permettent de doubler. […] Après avoir répété la manœuvre plusieurs fois, je continue à doubler, et, voyant arriver en face des véhicules je me range devant un fourgon à l’arrêt... Mais au même moment

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venant de la droite du fourgon une voiture traverse devant celui-ci pour couper les deux sections de voie afin qu’il reparte par la gauche. Et vous l’aurez compris c’est à ce moment-là que je percute sans freiner l’aile avant gauche de cette bagnole. (http://moto-gt.fr/dossier/451/Accident.html)

In dem Bericht wird durchgängig das Präsens verwendet und es gibt auch keine anderen Markierungen, die das Geschehen in der Vergangenheit verorten würden. Auch die Abfolge der einzelnen Ereignisse ist nur durch ihre Aneinanderreihung im Text markiert. Die Textsorte des mündlichen Berichts, der zwar hier verschriftet ist, erübrigt zeitliche Einordnungen und Kennzeichnungen der Abfolge, die hier auch linear den Geschehnissen folgt. 2.2.7. Tempus als Ausdrucksmittel von Zeit Wie der Bericht über den Motorradunfall zeigt, kann keine direkte Beziehung eines bestimmten Tempus zu einer bestimmten Zeit angenommen werden. Die Unterscheidungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehen auf die griechischen Philosophen zurück und wurden in einigen Punkten verfeinert. In einigen Sprachen, so in den romanischen, wird das Wort für Tempus auch für die physische Zeit verwendet. Tempus muss nicht nur von der Zeit getrennt gedacht werden, es ist auch nicht sonderlich wichtig für den Ausdruck von Zeit. Viele Sprachen haben überhaupt kein Tempus und in den Sprachen, die welches haben, ist es stark redundant (Klein 2009b: 43). Dennoch zieht das Tempus das Interesse der Linguisten auf sich und es gibt eine Reihe von Problemen in der Betrachtung des Tempus. Zunächst besteht terminologische Konfusion im Gebrauch der grammatischen Bezeichnung Tempus, die auf drei verschiedene Arten verwendet wird: (1) als Flexionskategorie des Verbs, (2) für spezielle Formen, die mit einem Bündel von Funktionen versehen werden, wie zum Beispiel das passé simple als Ausdruck von Vergangenheit und perfektivem Aspekt, (3) für eine bestimmte Funktion, zum Beispiel in der Aussage diese Form drückt das Vergangenheitstempus aus. Diese Konfusion könnte durch eine sorgfältigere Ausdrucksweise vermieden werden, zum Beispiel durch die Unterscheidung von Tempus-Formen und Tempus-Bedeutung. Es hat verschiedene Versuche gegeben, die Kategorie des Tempus einer exakten Beschreibung zugänglich zu machen. Zum Beispiel hat Dahl (1985, 2000) stärker differenzierte temporale Beziehungen (‛lang vorher’, ‛kurz vorher’) in der Beschreibung von Sprachen vorgeschlagen, in denen tatsächlich solche feinen temporalen Begriffe kodiert sind. Auch die genauere Betrachtung der Zeitspannen wurde vorgeschlagen. Vergangenheit,

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Gegenwart und Zukunft beschreiben die Beziehung zwischen der Situation und dem Sprechmoment, dazwischen könnte man eine weitere Zeitspanne annehmen. Bereits Paul (1882: 273–274) hat einen Referenzpunkt angenommen, der eine genauere Beschreibung der Tempora erlauben würde als ihre bloße Inbezugsetzung zum Redemoment. Die 1947 von Reichenbach eingeführten drei Punkte (S – der Redemoment, E – die Zeit der dargestellten Situation, R – der Referenzmoment) wurden sehr populär, obwohl sie etwas darunter leiden, dass auch er niemals den Versuch unternommen hat, zu erklären, was Referenzpunkt bedeutet (vgl. Klein 2009b: 44). Zu berücksichtigen sind auch die Kombinationen temporaler Funktionen mit anderen Merkmalen ein und derselben Tempusform. So können Tempusformen zeitliche Relationen ausdrücken, zugleich aber auch aspektuelle Unterschiede kennzeichnen. Futurformen bringen häufiger modale Merkmale zum Ausdruck. All das spricht nicht dagegen, dass Tempora zeitliche Relationen ausdrücken, es zeigt aber, dass das Bild viel komplexer ist, als man lange angenommen hat. Wenn wir davon ausgehen, dass Tempora zeitliche Relationen ausdrücken, muss zunächst geklärt werden, Relationen zwischen welchen Bezugspunkten gemeint sind. In Anlehnung an Klein (2009b: 45) unterscheiden wir zwischen (a) der Sprechaktzeit, (b) der Topikzeit, d.h. der Zeit, über die man spricht, und (c) der Zeit der Situation, d.h. die Zeit, in der das besprochene Ereignis stattfindet. Die Zeit der Situation kann länger sein als die Topikzeit. Die mit der Aussage Juan estaba enfermo erwähnte Situation kann noch andauern, der Sprecher trifft lediglich eine Aussage über eine Topikzeit in der Vergangenheit, zu der Juan krank war. Das Tempus, in diesem Fall das spanische imperfecto, stellt eine Beziehung zwischen der Äußerungszeit und der Topik-Zeit her. Die temporale Verankerung muss dabei nicht der Moment der Äußerung (Sprechaktmoment) sein. Nach klassischem Verständnis ist die temporale Verankerung deiktisch gegeben, sie liegt im „Jetzt“, d.h. im Sprechaktmoment. Damit ist jedoch eine Reihe von Problemen verbunden, die bereits bei der Betrachtung von Nebensätzen deutlich werden. So kann sich in vielen Sprachen das Präsens nicht nur auf die Zeit beziehen, in der der Satz selbst geäußert wird, sondern auch auf die Zeit eines wiedergegebenen Denkens oder Sagens: (224) dt. Hans dachte, dass Magda in der Küche ist.

Ein Satz, in dem eine Situation zu einer anaphorisch gegebenen Zeitspanne in Beziehung gesetzt wird, wird manchmal relative Zeit genannt, im Kontrast zur absoluten Zeit, in der die temporale Verankerung deiktisch ist.

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Abgesehen davon, dass das Aussprechen der Äußerung selbst auch Zeit kostet, stellt sich bei längeren Texten die Frage, ob man jedem Satz seine eigene Äußerungszeit zuerkennen muss. Klein (2009b: 48) wirft anhand des folgendes Satzes die Frage auf, was die temporale Verankerung des Satzes ist: (225) dt. Eine Tat ist an jenem Ort begangen, an denen der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist oder nach der Vorstellung des Täters eintreten soll.

Das Relatum für die Tempusformen dieses Satzes ist sicher nicht die Zeit, zu der das Gesetz erlassen wurde oder zu der der Leser es liest. Der Begriff der Sprechaktzeit ist also nur ein Spezialfall für die Verankerung einer Situation. Diese Überlegungen legen nahe, den Begriff der Redezeit oder Äußerungszeit durch einen allgemeineren Begriff, die satzexterne temporale Struktur, zu ersetzen. Diese besteht aus einer Menge satzexterner Zeiten, die sich auf unterschiedliche Art und Weise charakterisieren lassen. Eine solche satzexterne Zeit kann die Zeit sein, in der eine Äußerung ausgesprochen oder gehört wird; es kann aber auch eine andere kontextuell gegebene Zeit sein. In untergeordneten Sätzen kann es die Zeit des Matrixverbs sein, besonders wenn das Verb ein verbum sentiendi vel dicendi ist. Ambiguitäten können entstehen, falls es mehrere satzexterne Zeiten gibt, zu denen eine Situation in Bezug gesetzt werden kann. Da wir uns den Tempora in romanischen Sprachen unter 2.3. ausführlich zuwenden werden, soll hier lediglich auf das Problem des nicht kanonischen Gebrauchs von Tempora eingegangen werden. Tempusformen werden häufig entgegen ihrer „normalen“ Bedeutung gebraucht, wobei bereits die Definition dessen, was als normal betrachtet wird, Schwierigkeiten bereitet. Verlässt man sich auf die Häufigkeit einer Bedeutung, kann der Ausdruck von ‛Zukunft’ nicht unbedingt als normale Bedeutung des Futurs bezeichnet werden, denn zumindest in der gesprochenen Sprache ist der Ausdruck einer Vermutung, auch mit dem Blick auf die Gegenwart, durch das Futur häufiger. Verlässt man sich auf die Aussagen von Grammatiken, stellt man das als „normal“ fest, was jahrhundertealte Überlieferung dazu erklärt hat. Wir sprechen daher eher von prototypischer Bedeutung, die einer Verbform zugesprochen wird, wenn sie nicht durch spezifische Kontextmerkmale beeinflusst wird und auf die sich die Mehrzahl ihrer Verwendungen zurückführen lässt. Nichtkanonische oder nichtprototypische Verwendung liegt zum Beispiel beim narrativen Präsens vor, das wir in dem Bericht über den Motorradunfall gefunden haben. Es gibt zwei Erklärungen für diesen Gebrauch: (1) die Situationen werden im Redemoment als gegenwärtig empfunden;

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(2) der Sprecher stellt sich vor, in den Situationen präsent zu sein. Nach der ersten Interpretation findet eine Zeitverschiebung der Situationen statt, nach der zweiten eine Verschiebung des deiktischen Zentrums. Ein weiterer nichtprototypischer Gebrauch von Verbformen findet statt, wenn Situationen in der Zukunft imaginiert werden und als gegenwärtig dargestellt werden: (226) fr. Nous sommes en 2040. Un astéroïde frappe la terre.

Die Interaktion der Tempora mit anderen syntaktischen Mitteln kann zu Konflikten zwischen der temporalen Bedeutung der Verbform und Adverbialen führen (Comrie 1985: 31). So bezeichnet im Portugiesischen das einfache Perfekt eine Beziehung zur Vergangenheit, es kann jedoch auch in Kontexten auftreten, in denen es futurische Bedeutung erhält: (227) pt. Quando você chegar, eu já saí. ‛Wenn Sie ankommen, werde ich schon gegangen sein.’

Solche Verwendungsweisen ließen sich damit klären, dass im gesprochenen Portugiesischen der Bezug zur Zukunft mit dem Präsens ausgedrückt wird. Der Bezug zu einer Zeit vor einem Referenzpunkt in der Zukunft wird hier durch eine Form hergestellt, die normalerweise auf einen Zeitpunkt vor der Gegenwart bezogen ist. Auch im Deutschen wird das Futur II in der gesprochenen Sprache häufig durch das Perfekt ersetzt: (228) dt. Bis morgen bin ich schon weggefahren.

Nimmt man die Herstellung eines Bezugs zur Vergangenheit als obligatorische Bedeutung des Perfekts an, so tritt sie in diesem Beispiel in Konflikt mit dem Adverb morgen. Es scheint daher angebracht, von obligatorischen Bedeutungsmerkmalen der Tempora, die in allen ihren Verwendungen gegeben sein müssen, abzusehen. Tempora haben jedoch prototypische Bedeutungen, die sie in minimalen Sätzen tragen: já saí oder ich bin schon weggefahren würden außerhalb konfligierender Situationen und Kontextelemente immer auf die Vergangenheit referieren.

2.3. Tempora und Repräsentation von Zeit 2.3.1 Schwierigkeiten des Tempusbegriffs Da Zeit keinen Anfangs- und Endpunkt hat, muss ein willkürlicher Referenzpunkt gesetzt werden, um Situationen zu ihm in Beziehung zu setzen. Typischerweise wird die Sprechsituation, also der Sprechaktmoment als Referenzpunkt gesetzt. Ein System, das auf diesen Sprechaktmoment als Referenzpunkt bezogen ist, ist ein deiktisches System. Nicht nur Ausdrü-

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cke für ‛heute’, ‛morgen’ und ähnliche deiktisch bestimmte Zeitbegriffe, sondern auch Verbformen lassen sich als Tempora deiktisch charakterisieren. Im Gegensatz dazu ist der Aspekt nicht deiktisch, da die interne temporale Beschaffenheit einer Situation unabhängig von ihrer Beziehung zu irgendeinem Referenzpunkt ist. Im Lateinischen bedeutet Tempus sowohl die physische Erscheinung der Zeit als auch das grammatische Tempus, was leicht dazu führen kann, das grammatische Tempus als unmittelbaren Reflex der physischen Zeit in der Sprache zu betrachten. Diese unmittelbare Verbindung hat nicht nur Linguisten, sondern auch Philosophen irregeführt (vgl. Klein 2009a: 7). Sobald wir versuchen, dem dialogischen Charakter der Kommunikation Rechnung zu tragen, stellt sich jedoch das Problem der Unterscheidung des deiktischen Zentrums von Sprecher und Hörer oder, zum Beispiel im Brief, zwischen Schreiber und Leser. Im alten Rom war es üblich, aus Gründen der Höflichkeit das deiktische Zentrum des Empfängers zu wählen und die Tempora entsprechend anzupassen. So schrieb Cicero an Atticus: (1) dt.

cum mihī dixissit Caecilius puerum sē Rōmam mittere, haec scrīpsī raptim. ‛Weil Caecilius mir gesagt hat [mir gesagt hatte], dass er einen Knaben nach Rom senden würde, schreibe [wörtlich schrieb] ich dies in Eile.’ (vgl. Comrie 1985: 16)

Hier wurden Verbformen gewählt, die die Handlungen zurück verlegen, womit der Tatsache Rechnung getragen wird, dass der Leser den Brief später erhalten wird. Diese Verwendungsweise etablierte sich jedoch nicht als Regel. Meist wird davon ausgegangen, dass das deiktische Zentrum des Produzenten und des Rezipienten der Äußerung identisch sind. Auf die Grammatik hat deren Unterscheidung jedenfalls keine Auswirkungen und auch in der Lexik werden sie überwiegend als identisch behandelt. Während in Alltagsgesprächen die Produktion und Rezeption von Äußerungen als gleichzeitig betrachtet werden kann, muss für bestimmte kommunikative Akte eine chronologische Differenz zwischen der Produktion und der Rezeption angenommen werden. Das ‛Jetzt’ des Produzenten kann für den Rezipienten zu einem Moment der Vergangenheit werden, während das ‛Jetzt’ des Rezipienten für den Produzenten noch ein Moment in der Zukunft war. Diese zum Beispiel für Briefe zutreffenden Verhältnisse können auch Konsequenzen für die Verwendung des Verbalsystems haben. Heute ist es üblich, die temporale Perspektive des Empfängers in Briefen vollkommen zu vernachlässigen. Daraus ergibt sich, wie Rojo & Veiga (1999: 2889) darstellen, folgende normale Verwendung von Verbformen in einem Brief: (2) sp.

Querido amigo: te escribo esta carta en un momento en que me encuentro

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absolutamente deprimido, si bien algo más tarde saldré a ver buena película con la intención de animarme un poco.

Während der Autor dieses Briefes die Situation des Deprimiertseins als gegenwärtig und die Handlung des ins-Kino-Gehens als zukünftig darstellt, gehören beide für den Rezipienten nach dem Erhalt des Briefes bereits zur Vergangenheit. Eine Orientierung der Verbformen am deiktischen Zentrum des Rezipienten würde für die heutigen romanischen Sprachen befremdlich wirken. Ihr würde die folgende Textstelle entsprechen: (3) sp.

Querido amigo: te escribí esta carta en un momento en que me encontraba absolutamente deprimido, si bien algo más tarde saldría a ver buena película con la intención de animarme un poco.

Auch in sprachlichen Kommentaren zu Fotos kann es zu solchen Verschiebungen des deiktischen Zentrums kommen. Das Präsens in der folgenden Sequenz unter einem entsprechenden Foto würde zum Beispiel interpretiert, indem die Gleichzeitigkeit zum Moment des dargestellten Ereignisses und nicht zum Moment des Schreibens hergestellt würde: (4) sp.

La policía dispersa la manifestación con botones de humo.

Eine Asymmetrie zwischen den Tempora des Verbs und dem Ausdruck von zeitlichen Verhältnissen wurde schon früh erkannt. So stellte James Harris (1709-1780) fest, dass Wörter, die Zeit nicht nur nebenbei (collaterally) ausdrücken, keine Verben sein können. Das Benennen von Zeit sei vielmehr den Substantiven (time, year, day), Adjektiven und Adverbien (timely, yearly, dayly) vorbehalten (Harris 1993 [1751/1786]: 97). Aus der griechisch-lateinischen Grammatiktradition war jedoch die Annahme dreier grundlegender Zeiten überliefert, nach der zwischen dem die Gegenwart ausdrückenden Präsens, dem die Vergangenheit ausdrückenden Präteritum und dem für die Zukunft stehenden Futur zu unterscheiden war. In den griechischen und lateinischen Grammatiken wurde außerdem nicht zwischen dem Marker und dem begrifflichen Inhalt unterschieden. Als Beispiel für diese Haltung sei der von Du Marsais verfasste Enzyklopädieartikel Conjugaison genannt: Il y a trois tems principaux; 1°. le présent, comme amo, j’aime; 2°. le passé ou prétérit, comme amavi, j’ai aimé; 3°. l’avenir ou futur, comme amabo, j’aimerai. Ces trois tems sont des tems simples & absolus, auxquels on ajoûte les tems relatifs & combinés, comme je lisois quand vous êtes venu, &c. Voyez TEMS, terme de Grammaire. (Encyclopédie, Artikel Conjugaison, DU MARSAIS, 1753: III, 879)

Bemerkenswert ist dabei jedoch, dass Du Marsais neben den üblicherweise angenommenen drei absoluten Zeitstufen, denen drei Tempora entsprechen, auch relative und kombinierte Tempora annimmt. Hierzu

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

zählen nicht nur die zusammengesetzten Verbformen, sondern auch das französische imparfait, das er in seiner temporalen Bedeutung als relativ zu einer anderen Vergangenheitsform kennzeichnet. In modernen Grammatiken wird heute in der Regel auf die Asymmetrie zwischen dem Inhalt der Verbformen (Tempora) und der Zeit als physisches Phänomen hingewiesen. Die Grammaire méthodique du français (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 289) verweist auf die terminologische Konfusion im Französischen, die Damourette und Pichon durch die Einführung der Bezeichnung tiroirs verbaux für die Verbformen zu vermeiden suchten. Mit einem optimistischen Blick auf andere Sprachen wird schließlich festgestellt, dass in diesen eine Unterscheidung zwischen der chronologischen Zeit und dem grammatischen Tempus vorgenommen würde, so würde im Englischen konsequent zwischen time und tense und auch im Deutschen zwischen Zeit und Tempus unterschieden, was für letztere Sprache offensichtlich einem Wunschdenken entspricht. Ganz ähnlich bedauern Rojo & Veiga (1999: 2873) das Fehlen einer terminologischen Unterscheidung der chronologischen Zeit und der Tempora in der spanischen Grammatiktradition und fordern, zwischen folgenden drei Gebrauchsweisen des Wortes tiempo zu unterscheiden: 1. Para los físicos, el tiempo constituye la cuarta dimensión. 2. Tiempo y modo son dos categorías gramaticales. 3. En español, el indicativo tiene más tiempos que el subjuntivo.

Im ersten Satz wird tiempo auf ein physisches Phänomen bezogen, das in der irreversiblen Abfolge von Momenten besteht und dem der Mensch wie alles Existierende unterworfen ist. Im zweiten Beispiel handelt es sich um eine grammatische Kategorie, die sich von der im ersten Beispiel bezeichneten Erscheinung unterscheidet, aber mit dieser verbunden ist und sich in verschiedenen Sprachen unterschiedlich darstellt, während die physische Erscheinung für alle Menschen gleich ist. Im dritten Satz sind die unterschiedlichen Verbformen mit tiempo bezeichnet, mit denen eine Sprache die verschiedenen Werte der im zweiten Satz gemeinten Kategorie ausdrückt. Schon Benveniste (1966) hatte dazu aufgefordert, zwischen der Zeit als physischem Phänomen, der Chronologie und dem Tempus zu unterscheiden. Die Chronologie ist für ihn die Zeit, in der sich Geschehnisse vollziehen. In ihrer subjektiven Form erkläre die Chronologie unsere Sicht auf alles, was sich in zeitlichen Beziehungen zu unserem Leben vollzieht. Die lineare Abfolge der physischen Zeit oder die einfache Empfindung ihres Verlaufs wird so zur Situierung der Vorgänge in Bezug auf den Menschen. Die sprachliche Verarbeitung der Zeit stützt sich zwar auf die chronologische Zeit, ist aber nicht mit dieser identisch. Jeder Sprechakt

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wird zu seinem eigenen Referenzzentrum, in Bezug auf das Situationen vorzeitig, gleichzeitig oder nachzeitig sein können. Das asymmetrische Verhältnis zwischen Tempus und chronologischer Zeit wird in der Grammaire méthodique du français wiederum anhand der unterschiedlichen temporalen Bezüge des imparfait gezeigt (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 289): (5) fr.

Il partait lorsque le téléphone sonna.

(6) fr.

Si tu étais ici, quel bonheur !

(7) fr.

Il serait heureux s’il réussissait à son examen.

Während in Satz (5) das imparfait wegen der Relation zum eindeutigen Vergangenheitstempus sonna auf die Vergangenheit Bezug nimmt und dabei offen lässt, ob die Handlung des Hinausgehens schließlich wirklich ausgeführt wurde, bezieht es sich in Satz (6) auf die Gegenwart und markiert in Satz (7) eine nicht reale, auf die Zukunft gerichtete Bedingung. Die wichtigsten Funktionen des imparfait sind in diesen Sätzen offensichtlich modal, was Zweifel am Tempuscharakter dieser Verbform erlaubt. Noch problematischer ist es, eine direkte Beziehung zwischen realen chronologischen Verhältnissen und dem Tempussystem einer Sprache herstellen zu wollen. Einen einflussreichen Versuch in dieser Richtung hatte Reichenbach unternommen, wie in 2.1. bereits dargestellt wurde. Ein Vorteil der Unterscheidung gegenüber der Annahme der drei grundlegenden Zeiten Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ist die Bezugnahme auf den Akt der Äußerung, die mit der Einführung der Sprechaktzeit (S) erfolgt. Die Zeit der realen Situation (E), unter der wir die Zeit der Handlungen, des Vorgangs, des Zustands zusammenfassen, kann damit in Relation zur Sprechaktzeit gesetzt werden. Die Sprechaktzeit dient der kognitiven Fundierung der ‛Gegenwart’, in der die Zeit der realen Situation (E) mit der Sprechaktzeit (S) zusammenfallen können. Wenn E vor S liegt, lässt sich von Vergangenheit ausgehen, während die Verortung von E nach S auf der Zeitachse für die Zukunft steht. Die Annahme einer Symmetrie von Vergangenheit und Zukunft ausgehend vom Sprechaktmoment ist jedoch insofern irreführend, als allein in der Vergangenheit reale Handlungen dargestellt werden können, während der Zukunft immer ein Moment des Hypothetischen oder Imaginären innewohnt. Dies hat zur Folge, dass der ‛Zukunft’ zugeordnete Tempora immer auch modale Qualitäten haben. Eine weitere Folge dieser tatsächlichen Asymmetrie ist das Vorhandensein und der regelmäßige Gebrauch von mehr Tempora der Vergangenheit als der Zukunft. Reichenbach hat zur Erklärung komplexerer Verhältnisse auf der Zeitachse den Referenzpunkt eingeführt, der von der Situationszeit unter-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

schiedlich sein kann. In den folgenden drei spanischen Sätzen werden durch prototypisch dafür geeignete Verbformen die Vorzeitigkeit, die Gleichzeitigkeit und die Nachzeitigkeit in Bezug auf den Sprechmoment ausgedrückt, wobei diese Relationen gleichzeitig auch durch deiktische Adverbiale benannt werden (zu den Beispielen vgl. Rojo & Veiga 1999: 2870): (8) sp.

Ayer llovió.

(9) sp.

En estos momentos llueve. (Gleichzeitigkeit E=S: presente)

(10) sp. Mañana lloverá.

(Vorzeitigkeit E—S: pretérito perfecto simple)

(Nachzeitigkeit S—E: futuro)

Durch die Einbettung der entsprechenden Propositionen wird mit der Redewiedergabe ein zusätzlicher, in der Vergangenheit liegender Referenzmoment eingeführt. Die Deiktika werden dabei durch referenzielle Zeitadverbiale ersetzt und für den Ausdruck der temporalen Relationen werden andere prototypische Tempora eingesetzt: (11) sp. Me dijo que el día anterior había llovido.

(E—R—S, pluscuamperfecto)

(12) sp. Me dijo que en aquellos momentos llovía.

(E=R—S, imperfecto)

(13) sp. Me dijo que al día siguiente llovería.

(R—E—S, condicional)

Das Plusquamperfekt, das Imperfekt15 und der Konditional erweisen sich somit als relative Tempora, die Relationen der Vorzeitigkeit, Gleichzeitigkeit und Nachzeitigkeit gegenüber einem Referenzmoment kennzeichnen. Die Bestimmung des Verhältnisses zum Moment des Sprechakts erweist sich jedoch als schwierig, wenn Nachzeitigkeit markierende Verbformen und Deiktika zusammentreffen. In den folgenden drei Sätzen wird durch die Verbform im Matrixsatz (pretérito perfecto simple) eine Referenz zu einem Moment vor dem aktuellen Sprechakt vorgenommen und die im Objektsatz formulierte Situation wird durch den Konditional estarían als nachzeitig gegenüber dem Referenzmoment dargestellt. Die Beziehung dieser Situation zum Sprechmoment bliebe dabei jedoch ohne weitere temporale Markierungen unklar (Rojo & Veiga 1999: 2878): (14) sp. Me prometieron que estarían aquí ayer. (15) sp. Me prometieron que estarían aquí hoy. (16) sp. Me prometieron que estarían aquí mañana.

_____________ 15

Wir fassen mit Imperfekt die unterschiedlichen Bezeichnungen dieser Verbform in den einzelnen Sprachen (franz. imparfait, it. imperfetto, span. imperfecto, port. imperfeito) zusammen. Damit ist lediglich eine Aussage über ihre Charakteristika als Tempus impliziert und nicht ihre aspektuelle imperfektive Qualität gemeint.

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Der Wert der Verbform estarían, Nachzeitigkeit gegenüber einem Referenzmoment vor dem aktuellen Sprechaktmoment auszudrücken, kann sich in einer mit dieser gleichzeitigen, aber auch vorzeitigen oder nachzeitigen Situation aktualisieren. Die Funktion, dies zu unterscheiden, übernehmen in den drei Sätzen die deiktischen Adverbien, die sich unmittelbar auf die Sprechaktsituation beziehen. Wenn eine Konstruktion keine deiktische adverbiale Markierung beinhaltet, bleibt die Beziehung der Situation zum Sprechaktmoment unbestimmt, was zum Beispiel im folgenden Satz gegeben ist, der jeder der im nachfolgenden Schema dargestellten Situationen entsprechen könnte: Me prometieron que estarían aquí al día siguiente.

R

S

prometieron que E estarían ayer E estarían hoy

E estarían mañana

Die Verkettung sekundärer Referenzpunkte und Orientierung auf diese hat theoretisch keine Grenzen, es ist jedoch unschwer einzusehen, dass daraus hochkomplexe Systeme entstehen können. Rojo & Veiga (1999: 2879) erklären dies für die spanische Verbform habría cantado, mit der es möglich ist, eine Situation auszudrücken, die einer anderen vorangeht, die ihrerseits nach einer dritten verortet wird, die vor dem Sprechmoment liegt. Hierfür geben sie folgende Formel an und veranschaulichen sie an den nachfolgenden Beispielen. 0 steht dabei für den Sprechaktmoment, V für durch Verbformen ausgedrückte Situationen, - für Vorzeitigkeit und+für Nachzeitigkeit: ((0-V)+X)-V a. Cuando llegues, habremos terminado de cenar. (0+V) (0+V)-V b. Le dije que, cuando llegase, habríamos terminado de cenar. 0-V (0-V)+V ((0-V)+V)-V

Sprache ist jedoch ein mentales Phänomen und kann nicht wie eine physikalische Gegebenheit oder nach behavioristischen Richtlinien beschrieben werden. Da eine Sprache nicht unabhängig von ihren Sprechern existiert sollte das vom Sprecher intuitiv verwendete Wissen nicht zugunsten eines abstrakten algebraischen Systems ignoriert werden.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Die Schwierigkeiten in der Beschreibung der Tempussysteme der romanischen Sprachen haben zu Lösungsversuchen geführt, die sich in zwei Richtungen einordnen lassen (vgl. Rojo & Veiga 1999: 2876). Einerseits nahmen der bereits erwähnte Benveniste und Weinrich (2001 [1964]) zwei unterschiedliche Gruppen von Verbformen an, von denen eine für erzählende Texte, die andere für kommentierende (Weinrich) oder diskursiv auf die Wirklichkeit einwirkende Sprachverwendung (Benveniste) charakteristisch sein sollten. Andererseits führten Damourette & Pichon (1936) Aktualitätsebenen ein – ein Vorschlag, der später von Pottier (1969) aufgegriffen und von Lamíquiz (1971; 1982) auf das Spanische angewandt wurde. Auch Coseriu (1976) und im Anschluss an ihn Cartagena (1978) betrachten die Grade der Aktualität als einen entscheidenden Faktor für das romanische Verbalsystem. Schließlich weist auch die von Alarcos Llorach (1980 [1959]) eingeführte Unterscheidung von zwei Perspektiven, der des Präsens oder der Teilnahme (presente o participación) und der Perspektive der Vergangenheit oder Entfernung (pasado o alejamiento) einige Gemeinsamkeiten mit diesen Theorien auf (Rojo & Veiga 1999: 2876). Wir stellen in unserer Betrachtung der Tempora ihren deiktischen Charakter und ihre Relationalität in den Mittelpunkt. Wie bereits festgestellt, ist Tempus eine deiktische grammatische Kategorie, durch die eine Relation einer Situation entweder zum Sprechaktmoment oder zu einer sekundären Referenzzeit, die ihrerseits direkt oder indirekt mit der Sprechaktzeit verbunden ist, hergestellt wird (Rojo & Veiga 1999: 2879). Die Lokalisierung, die Verbformen im Hinblick auf die Sprechaktzeit oder auf einen Referenzpunkt vornehmen, lässt sich als schwach charakterisieren. Sie nehmen keine konkrete Zuordnung zu einem Punkt auf der Zeitachse vor und geben auch keinen Abstand zum Sprechaktmoment oder zur Referenzzeit an. Solche Angaben sind in Ergänzung zu den Verbformen durch Adverbiale möglich. Obwohl es in einigen Fällen schwierig ist, den Verbformen einen temporalen Wert zuzuordnen, den diese immer ausdrücken, gehen wir davon aus, dass jeder Verbform eine prototypische temporale Bedeutung innewohnt. Diese kann sehr abstrakt sein und muss sich nicht unbedingt im Ausdruck einer bestimmten zeitlichen Relation finden lassen. Außerdem kann durch Verschiebungen des deiktischen Zentrums eine Veränderung des temporalen Wertes eintreten. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass Verbformen als Tempora nicht nur zeitliche Merkmale ausdrücken, sondern auch aspektuelle und modale Charakteristika haben. Diese können in bestimmten Verwendungsweisen und Kontexten den Ausdruck von Temporalität in den Hintergrund treten lassen. Im Folgenden sollen unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen die wichtigsten Tempora des Indikativs in romanischen Sprachen im Hin-

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blick auf ihre prototypische temporale Bedeutung betrachtet werden.16 Der Indikativ ist ein Modus, dessen Verbformen temporal und personal markiert sind. Der Indikativ ist der einzige Modus, dessen Tempora eine Verortung von Situationen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart und der Zukunft vornehmen können. Mitunter wird er daher als Modus der Aktualisierung betrachtet (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 297). Wenn es im Folgenden um verallgemeinernde Aussagen zu romanischen Sprachen geht, werden deutsche Bezeichnungen der Tempora verwendet, zum Beispiel Präsens für das französische présent, das italienische, spanische und portugiesische presente. Dabei muss beachtet werden, dass mit diesen deutschen Bezeichnungen nicht eine Zuschreibung des Werts der deutschen Verbformen beabsichtigt ist und mit der Zusammenfassung unter einem deutschen Terminus auch nicht die absolute Funktionsgleichheit der entsprechenden Verbformen in romanischen Sprachen behauptet werden soll. Dies ist insbesondere bei für das Deutsche nicht zutreffenden Bezeichnungen zu berücksichtigen, die einen Bezug zu anderen, zum Beispiel aspektuellen Qualitäten, nahe legen könnten (vgl. deutsch Imperfekt für französisch imparfait, italienisch imperfetto, spanisch imperfecto, portugiesisch imperfeito). 2.3.2. Präsens und Gleichzeitigkeit Das Präsens ist das in der gesprochenen Sprache am häufigsten verwendete Tempus, dessen Bedeutungspotenzial eine außerordentlich große Flexibilität ermöglicht. Deshalb wurde ihm auch ein temporales Merkmal abgesprochen, während andere Verbformen durch den Bezug zur Vergangenheit oder zur Zukunft markiert seien (vgl. z.B. Riegel, Pellat & Rioul 1994: 298). Anhand spezifischer Verwendungen des Präsens werden wir nachweisen, dass es durchaus Erklärungsmöglichkeiten nicht prototypischer Okkurrenzen des Präsens gibt, die von einer eigenen Bedeutung dieser Verbform ausgehen. Das Präsens drückt die Gleichzeitigkeit einer Situation mit einem Bezugspunkt aus, wobei dieser Bezugspunkt vorzugsweise im Sprechaktmoment besteht. Wenn – wie im folgenden Satz – keine weiteren kontextuellen Bestimmungen hinzukommen, gehen wir davon aus, dass der mitgeteilte Sachverhalt im Moment des Aussprechens der Äußerung zutrifft: (17) fr.

Jeanne est dans sa chambre.

_____________ 16

Zu einem Versuch das französische Tempussystem auf der Grundlage einer binären formalen Tempustheorie zu behandeln vgl. Verkuyl (2008) Berufungskommission.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

(18) sp. El delantero sale al terreno de juego. (19) pt.

Chamam-me lá fora.

In diesem Merkmal der ‛Gleichzeitigkeit’, das sich in prototypischer Form im Hinblick auf den Sprechaktmoment ausprägt, sehen wir das verallgemeinerbare Potenzial des Präsens. Mit Gleichzeitigkeit ist jedoch nichts über die Länge der betrachteten Intervalle gesagt. Das Präsens kann für allgemeingültige Feststellungen verwendet werden, in diesem Sinne besteht nur eine kleine Überschneidung der unendlichen Zeit der Gültigkeit (Thema +) mit dem Sprechaktmoment (Relatum -). Nach dem Modell von Klein könnte dies folgendermaßen dargestellt werden: ++++++-+-++++++++ (20) it.

2 più 2 fa 4.

(21) fr.

Les mammifères forment un taxon inclus dans les vertébrés.

(22) pt.

O ferro é um metal.

(23) sp. El hombre es mortal.

Derartige objektive, definitorische Feststellungen werden nicht nur mit Blick auf den Moment ihrer Äußerung, sondern ohne konkreten Zeitbezug oder für alle Zeiten getroffen. In diesem Sinne ist das Präsens auch die Verbform, die typischerweise zur Einführung von Eigenschaften oder charakteristischen Zuständen von Personen oder Gegenständen verwendet wird. Im folgenden Satz wird nicht über einen bestimmten Moment berichtet, in dem ein bestimmter Muskel etwas benötigen würde, sondern diese Notwendigkeit wird als seine Eigenschaft dargestellt. Es handelt sich um ein generisches oder verallgemeinerndes Präsens (RAE 2009: 1709), das sich nicht unmittelbar auf den Sprechaktmoment bezieht und folglich auch nicht als deiktisch betrachtet werden kann: (24) sp. El músculo necesita que la insulina facilite el transporte de la glucosa. (Palavecino, Nutrición)

Es gibt keine Einigkeit unter den Grammatikern hinsichtlich der Frage, ob das generische Präsens als vollständig zeitlos zu betrachten ist oder ob es in einer kontinuierlichen unbegrenzten Situation, die den Sprechaktmoment beinhaltet, zu lokalisieren ist. Neben objektiv wahren und wissenschaftlich begründeten Aussagen kann das generische Präsens auch in Feststellungen auftreten, die der allgemeinen Alltagserfahrung entsprechen: (25) it.

Dal colle della Maddalena si vede una vasta corona di Alpi.

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Dabei kann die Allgemeingültigkeit auch durch Einschränkungen aufgehoben werden, dennoch trifft der „zeitlose“ Charakter des Präsens auch dann zu: (26) it.

La verità è un bene supremo, ma non sempre. (Bertinetto 1991: 63)

Auch bei der direkten Nennung von Quellen für derartige Aussagen wird häufig das Präsens verwendet. Mit dem analytischen Präsens (RAE 2009: 1716) wird bestimmten Personen eine Aussage zugeschrieben, mit der sich der Sprecher oder aktuelle Textproduzent implizit identifiziert. Im folgenden Beispiel ist es irrelevant, ob der zitierte Professor noch lebt oder nicht, es wird jedoch suggeriert, dass er seine Auffassung zu dem fraglichen Thema nicht verändert hat: (27) sp. Lo expresa muy bien el profesor Giovannini: “Es un hecho generalmente admitido que esta cultura no se transmite fundamentalmente ni por las bibliotecas ni por los discursos de los sabios […]”. (Araujo/Jiménez/Garitaonanindía, Proyecto; RAE 2009: 1717)

Die getroffene Feststellung wird hier nicht mit dem Sprechaktmoment, aber auch nicht wie beim narrativen Präsens mit einem zurückliegenden Bezugspunkt in Beziehung gesetzt. Die Bedeutung der Verbform expresa ist in diesem Beispiel dem generischen Präsens ähnlich, insofern für wahr gehaltene Feststellungen formuliert werden. Mit dem Präsens werden auch vom Sprecher als allgemeingültig aufgefasste Feststellungen ausgedrückt. Daher ist das Präsens auch das Tempus der Sprichwörter und Maximen: (28) fr.

Quand on devient le miroir de l’autre, c’est que l’on n’existe plus.

(29) it.

Tanto va la gatta al lardo, che ci lascia lo zampino.

(30) sp. A quien madruga, Dios le ayuda.

Das in solchen Äußerungen verwendete Präsens wird in der Grammatik der RAE (2009: 1713) gnomisches Präsens (presente gnómico < lat. gnomĭcus < gr. gnōmikós) genannt. Als gnomisch bezeichnet man ein Präsens, das einen fundamentalen, ewig gültigen Sachverhalt oder einen als Lebensweisheit formulierten Sinnspruch ausdrückt. Zwischen den verschiedenen Arten des verallgemeinernden Präsensgebrauchs gibt es einige Unterschiede, die in bestimmten Kontexten neutralisiert werden können. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie bei Verwendung in subordinierten Sätzen mit einem Verb in einer Vergangenheitsform im Hauptsatz eine doppelte temporale Lesart ermöglichen. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass die im Nebensatz gegebene Darstellung der Situation sowohl zu dem Zeitpunkt, der im Hauptsatz als Referenzpunkt genannt ist, als auch zum Sprechaktmoment zutrifft. Im

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folgenden Beispiel kann die Präsensform acompañan sowohl mit dem Zeitpunkt, zu dem Wilfredo seine Betrachtungen anstellte, in Beziehung gesetzt werden, als auch mit dem aktuellen Moment und sogar mit jedem beliebigen Zeitpunkt: (31) sp. Don Wilfredo la consideraba tan bonita como los ángeles que acompañan en su duelo a Nuestra Señora de las Angustías. (Galdós, Episodios)

Die panchronische Bedeutung ergibt sich bei dem generischen Präsens aus den verwendeten Nominalgruppen, zum Beispiel aus Fachwörtern in wissenschaftlichen Aussagen (les mammifères, les vertébrés) und aus dem Sprechakttyp (Definition, Sprichwort), während das Präsens selbst auch hier nur die Gleichzeitigkeit mit dem Sprechaktmoment bezeichnet. Die Tatsache, dass das Präsens ein imperfektives Tempus ist, ermöglicht seine Verwendung zur Kennzeichnung von Gleichzeitigkeit in verschiedenen Situationstypen. Zeitlich verallgemeinernd wirkt auch das Präsens in Beschreibungen (presente caracterizador, presente descriptivo, RAE 2009: 1712). In solchen Äußerungen werden nicht Gewohnheiten dargestellt, sondern Eigenschaften und Charakteristika einer Person, einer Sache oder einer Situation. Die Indikatoren derartiger Verallgemeinerungen liegen in erster Linie in der Verbbedeutung und in Adverbialen im Kontext: (32) sp. La ventana da a un patio casi negro. (Cortázar, Reunión) (33) sp. La tierra es fértil, al agua limpia, el aire da vida, el fuego purifica. (Hernández, L. Trovadores). (34) pt.

Moro num edifício moderno que tem seis andares.

Nicht deiktisch ist der Gebrauch des Präsens auch in Zusammenfassungen von Erzählungen, Regieanweisungen und Gebrauchstexten, wie Gebrauchsanweisungen. In solchen Textsorten interessiert nicht die Lokalisierung von Situationen in der Zeit, sondern die einfache Verkettung von Handlungen, die aus ihrer sequenziellen Anordnung erschließbar ist (vgl. Bertinetto 1991: 64). In dem folgenden Auszug aus einer Gebrauchsanweisung für eine Kochplatte werden fünf Präsensformen zu Beschreibung der normalerweise bei ihrer Benutzung ablaufenden Prozesse verwendet. Insofern hat die Beschreibung auch normativen Charakter, während für unmittelbare Handlungsanweisungen Infinitive (hier laisser) verwendet werden: (35) fr.

La cuisson des aliments s’effectue à une température comprise entre 180/190° (légumes), 200/220° (poisson et viande d’épaisseur réduite), 240/250° (viande d’épaisseur moyenne/haute). Un système pratique permet d’évaluer la température: laisser tomber quelques gouttes d’eau sur le plan, si ces dernières s’évaporent lentement, le plan n’est pas encore arrivé à température, si

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les gouttes deviennent immédiatement des micro-billes qui se déplacent sur le plan, la température est de 220-250° et il est possible de procéder à la cuisson. (http://planet-food.it/fr/instructions-dusage/)

In Abhängigkeit von der Verbbedeutung und dem Kontext kann das Präsens auch die Fähigkeit zur Durchführung einer bestimmten Handlung oder das Geeignet-Sein eines Gegenstands ausdrücken (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 299) In solchen Fällen lässt sich von einem erweiterten Gegenwartsbezug des Präsens sprechen: (36) it.

Paola parla il cinese.

(37) fr.

Ces lampes n’éclairent pas.

Beim Präsens mit erweitertem Gegenwartsbezug handelt es sich um eine nicht-deiktische Verwendung. Die Beziehungen zwischen dem Ereignismoment und dem Sprechaktmoment erscheint hier generisch. Während beim generischen Gebrauch des Präsens Aussagen über objektiv oder aus der Sicht des Sprechers ohne zeitliche Beschränkung zutreffende Eigenschaften oder Vorgänge getroffen werden, wird in den folgenden Beispielen das Präsens deiktisch gebraucht, d.h. es bezieht sich auf ein abgegrenztes Intervall unter Einschluss des Sprechaktmoments. Im folgenden Beispiel bezieht sich necesita auf einen episodischen Zustand, der durch bestimmte Bedingungen gekennzeichnet ist. Doch selbst in diesem Fall stimmt die bezeichnete Notwendigkeit nicht mit dem Sprechaktmoment überein, sondern erstreckt sich über einen weiteren Zeitraum, der den Sprechaktmoment beinhaltet. Für solche Verwendungen des Präsens wurden verschiedene Bezeichnungen geprägt (presente continuo, presente ampliado, presente extendido, vgl. RAE 2009: 1710): (38) sp. Pero claro, él necesita justificarse con este asunto de la madre (Martín Gaite, Fragmentos)

Ein solcher deiktischer, jedoch erweiterter Gebrauch des Präsens ist vor allem für atelische Verben charakteristisch (RAE 2009: 1710): (39) sp. Algo me hace falta, el café no me sabe a café, me estorban las enaguas y el pelo me lo quiero cortar (Freidel, Árbol) (40) sp. […] estas modas malditas que traen ahora trastornados a los pueblos (Galdós, Episodios) (41) sp.

[…] la misma casa donde Rosalinda ahora vive con la tía (Santiago, Sueño)

Trotz des deiktischen Gebrauchs des Präsens ist es außerhalb der Situation oder des Kontextes nicht möglich, die zeitliche Ausdehnung der beschriebenen Situationen zu bestimmen. Das Adverb ahora, das in Äußerungen mit einem generischen Gebrauch des Präsens (??El músculo necesita ahora que la insulina facilite el transporte de la glucosa) nur schwer akzeptabel

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wäre, tritt in den beiden letztgenannten Beispielen auf, verweist aber nicht auf den genauen Moment des Sprechens, sondern auf ein erweitertes aktuelles Zeitintervall. Durch adverbiale Bestimmungen kann ein mehr oder weniger großes Intervall bestimmt werden, in dem die mit dem Präsens ausgedrückte Situation zutrifft. Adverbiale können auch den Beginn des Zutreffens markieren; in den folgenden Sätzen wird dabei ein mehr oder weniger großer Zeitraum in der Vergangenheit eingeschlossen, der sich auch auf die Gegenwart erstreckt und möglicherweise auch zukünftig andauert. Während im ersten Satz ein andauernder Zustand beschrieben wird, ist die Handlung im adverbial abgegrenzten Zeitraum iterativ: (42) fr.

Il neige depuis vingt-quatre heures.

(43) fr.

Je me lève à cinq heures depuis vingt ans. (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 299)

Auch ohne Abgrenzung des Zeitraums kann das Präsens iterative Handlungen mit oder ohne adverbiale Bestimmungen ausdrücken. In diesen Fällen handelt es sich um ein Präsens der Gewohnheit (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 300), presente abituale nach Bertinetto (1991: 67, presente habitual nach RAE 209: 1711): (44) fr.

Elle regarde la télévision TOUS LES SOIRS.

(45) fr.

Claire joue au tennis.

(46) it.

Amedeo viaggia SEMPRE in prima classe.

(47) pt.

Nos días úteis, saio de casa às seis.

(48) sp. Se levanta muy temprano, medita, desayuna, lee los diarios, recibe a sus ministros, almuerza frugalmente, lee algún libro en francés quizá como homenaje a la institutriz francesa que le enseñó el idioma. (Legineche, Camino)

Derartige Gebrauchsweisen des Präsens stehen dem generischen Gebrauch nahe, unterscheiden sich jedoch von diesem durch die immer wieder stattfindende Unterbrechung der dann wieder aufgenommenen und wiederholten Handlungen. Das habituelle Präsens kann mit Adverbien (tous les soirs, sempre), aber auch ohne sie ausgedrückt werden. Das spanische Beispiel (48) von Legineche drückt zum Beispiel ohne adverbiale Bestimmungen aus, dass eine Reihe von Handlungen unbestimmt oft, aber wahrscheinlich häufig in einem längeren Intervall ausgeführt werden. In den folgenden Beispielen wird die habituelle Bedeutung des Präsens durch adverbiale Bestimmungen unterstrichen (RAE 2009: 1711): (49) sp. Poco vale la riqueza sin la sabiduría, y cián, Criticón II)

DE ORDINARIO

andan reñidas (Gra-

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(50) sp. GENERALMENTE, el chofer del Director de Gobierno es un asimilado a Investigaciones, don Cayo (Vargas Llosa, Conversación) (51) sp. TODOS LOS DÍAS DE LA SEMANA, por ejemplo, el matrimonio del noveno segunda se tira los trastos a la cabeza. Empiezan a discutir a las siete y media de la mañana, cuando se levantan y la mujer pone la cafetera en el fuego, y acaban una hora más tarde (Tomeo, La Mirada)

Bestimmte Verwendungsweisen des Präsens lassen sich auch als progressives Präsens bezeichnen (presente progresivo, RAE 2009: 1710). Dabei wird auf Situationen unterschiedlicher zeitlicher Ausdehnung Bezug genommen, die während des Sprechaktmoments im Verlauf sind: (52) sp. Bueno pero ¿qué pasa? – Es que Arturo se ha vuelto loco. (Ekaizer, Vendetta) (53) sp. ¡Suéltame, animal, me haces daño! (Parrado, Muerte)

Ein solcher Gebrauch des progressiven Präsens ist im Spanischen synonymisch zur Verbalperiphrase estar+Gerundium (me estás haciendo daño), die in den meisten solchen Fällen das Präsens ersetzt. Vorzugsweise prägt sich die Eigenschaft des Präsens, Gleichzeitigkeit auszudrücken, im Hinblick auf die Gegenwart aus. Wenn nicht bestimmte kontextuelle oder situative Elemente dagegen sprechen, ist es der aktuelle Moment, zu dem das Präsens eine Relation herstellt. Bertinetto (1991: 66) spricht in solchen Fällen vom Präsens der Aktualität (presente „di attualità“): (54) it.

Clara è malata.

Die Dauer der bezeichneten Situation wird durch das Präsens nicht markiert, so wird in dem Satz das Kranksein von Clara zwar für den Sprechaktmoment festgestellt, es kann jedoch bereits beträchtlich davor begonnen haben und auch danach noch lange anhalten. Ein unmittelbarer Bezug zum Sprechaktmoment kann durch die Semantik des Verbs angegeben werden. So kontrastieren die folgenden Sätze in der Dauer des benannten Vorgangs: während im ersten Satz ein kurzer Moment angegeben wird, erstreckt sich die im zweiten Satz genannte Situation über mehrere Jahre, im Normalfall über das gesamte Berufsleben: (55) fr.

La bombe explose.

(56) fr.

Elle est actrice.

Eine deiktische Verwendung des Präsens ist vor allem mit Adverbialen möglich, die auf den Sprechmoment Bezug nehmen: (57) it.

In questo preciso istante, Carlo dorme.

Es kann daher vermutet werden, dass der deiktische Charakter solcher Äußerungen eher durch die Adverbiale bewirkt wird, während sich der Beitrag des Präsens auf den Ausdruck von Gleichzeitigkeit, hier mit dem

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Sprechaktmoment, reduziert. Zudem haben vor allem Äußerungen mit durativen Verben deiktischen Charakter, während nicht-durative, wie im folgenden Beispiel, eher einen extemporalen Kommentar zu einer im Verlauf befindlichen Aktion geben, ähnlich wie es in Direktübertragungen im Radio oder Fernsehen geschieht (Bertinetto 1991: 62): (58) it.

In questo preciso istante, la gara ha inizio.

In Reportagen, bei Direktübertragungen sowie in Dialogen, die sich auf die unmittelbar erlebte Realität beziehen, ist die Relation zwischen dem Präsens und dem Sprechaktmoment jedoch sehr eng. Im folgenden Ausschnitt aus einer Reportage werden Verben im Präsens in der dritten Person hintereinander verwendet, was die Unmittelbarkeit der Wiedergabe des Geschehens verdeutlicht: (59) it.

Brambilla, dribbla sulla destra, crossa al centro, irrompe Sornioni, palla che si perde sul fondo.

Insbesondere wird in performativen Sprechakten, in denen der Sprechaktmoment mit der Zeit der ausgeführten Handlung zusammenfällt, das Präsens verwendet. Solche performativen Verben sind von unmittelbarer Effizienz, insofern mit der Realisierung des Sprechakts auch eine außersprachliche Handlung vollzogen wird. Im folgenden Satz findet die Gratulation in dem Moment statt, in dem die Äußerung ausgesprochen wird. Im darauffolgenden italienischen Satz erfolgt die Annahme eines Vorschlags mit dem Realisieren des Sprechakts, während im spanischen Satz der Befehl mit dem Aussprechen des Wortes mando erteilt wird: (60) fr.

Je vous félicite pour ce brillant résultat.

(61) it.

Accettiamo di cuore.

(62) sp. Mándote que vayas con ellas fata dentro en Carrión. (Cid)

Diese performative Funktion wird auch in einigen Passivsätzen beibehalten. Im folgenden spanischen Beispiel ist der Angesprochene mit dem Aussprechen der Äußerung entlassen: (63) sp. Estás despedido.

In passivischen Reflexivformen kann die performative Wirkung des Sprechakts auch über den Moment seiner Äußerung hinausgehen, insbesondere wenn es um schriftliche Mitteilungen geht: (64) sp. Se prohibe fumar.

Im Zusammenhang mit Adverbien, die auf die nahe Zukunft oder Vergangenheit verweisen, ist der deiktische Gebrauch des Präsens nicht mehr in strenger Form gegeben, insofern die dargestellte Handlung als unmit-

Tempora und Repräsentation von Zeit

99

telbar bevorstehend oder gerade abgeschlossen dargestellt wird. Ein Bezug zum Sprechaktmoment ist jedoch aufgrund der vorhandenen Nähe und der Kontinuität der Zeit noch immer gegeben: (65) sp. Vengo súbito. (66) it.

Arrivo adesso da casa; ho appena avuto il tempo di leggere il giornale.

(67) pt.

Amanhã a Rita corre no estádio universitário.

Während solche Verwendungen des Präsens bei Handlungsverben als normal empfunden werden, sind sie bei Beschreibungen von Zuständen eher ungewöhnlich (Oliveira 2004: 154): (68) pt.

Dentro de uma semana a Maria ?vive em Lisboa / ?é simpática com os colegas / *é alta.

Das Präsens ist jedoch auch allein durchaus in der Lage, Vorzeitigkeit oder Nachzeitigkeit in Bezug auf den Sprechaktmoment auszudrücken. Insbesondere Theorien, die das Merkmal der Aktualisierung in der Beschreibung des Tempussystems in den Mittelpunkt stellen, sprechen daher von semantischer Leere des Präsens in Bezug auf Zeitmerkmale; es sei „étranger à la notion d’actuel, et, en général à toute notion d’époque“ (Serbat 1988: 33). Ein Präsens kann im Zusammenwirken mit einem Zeitadverbial, dem Kontext oder der Gesprächssituation auch Situationen in der Vergangenheit oder Zukunft evozieren. Die Äußerung bleibt dabei mit dem Sprechaktmoment verbunden, die bezeichnete Handlung oder Situation wird jedoch in die Vergangenheit oder Zukunft verschoben. So drückt das Präsens im Zusammenwirken mit dem Zeitadverbial à l’instant und dem Bewegungsverb eine nahe, mit der Gegenwart des Sprechers verbundene Vergangenheit aus (vgl. z.B. Riegel, Pellat & Rioul 1994: 300): (69) fr.

Je sors à l’instant du lycée.

Man könnte sich diese Äußerung als in dem Moment getätigt vorstellen, als der Sprecher gerade aus der Tür des Gymnasiums hinausging, sich aber schon auf der Straße befindet. Die Überschneidung des Intervalls der nahen Vergangenheit und des Moments der Äußerung ist dabei größer als in dem Satz Je viens de sortir du lycée. In Satz (69) geht das Thema dem Relatum voraus und ist in dessen Region, grenzt aber an das Relatum: (------+++++)

Auch im Italienischen ist die Verwendung des Präsens für unmittelbar zurückliegende Situationen möglich. Bertinetto (1991: 68) nennt diese Art der Verwendung passato recente. Sie tritt vor allem mit Handlungsverben auf, ist aber nicht auf diese beschränkt. Im folgenden Satz (70) wird mit

100

Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

dem Präsens ausgedrückt, dass der Sprecher gerade eben angekommen ist, was seine Frage nach dem Geschehen rechtfertigt. In Satz (71) wird mit dice nicht auf eine im Sprechaktmoment getätigte Äußerung Bezug genommen, sondern auf eine nebensächliche Feststellung, die zeitlich nahe liegt, dem Gegenwartsmoment aber vorausgeht. Die Präsensform dice ist hier dem zusammengesetzten Perfekt äquivalent (Bertinetto 1991: 68): (70) it.

Arrivo proprio ora; mi vuoi spiegare cosa è successo.

(71) it.

Ugo dice que mi sono comportato male; devi però tener conto del mio stato d’animo del momento.

Eine semelfaktive Interpretation und ein Bezug auf die nahe Vergangenheit dieser Verwendung von dice ist nur beim Vorliegen entsprechender pragmatischer Informationen möglich. Ansonsten wäre der Hörer geneigt, hier eine habituelle Handlung unter Einschluss des Sprechaktmoments anzunehmen. Diese Tatsache spricht auch dafür, dass die prototypische Bedeutung des Präsens die Feststellung von Gleichzeitigkeit, vorzugsweise mit der Gegenwart, ist. In der RAE (2009: 1717) werden Verwendungen des Präsens für unmittelbar vergangene Situationen als presente de sucesos recientes oder pasado inmediato genannt. Häufig finden solche Verwendungen in Kontexten statt, in denen man Mitteilungen oder Dokumente wiedergibt. So ist das Präsens explica auf eine bestimmte vergangene Situation bezogen, die aber noch nicht weit zurückliegt. Der Brief kann einige Tage vor dem Aussprechen der Äußerung geschrieben worden seien, aber sicher nicht Monate davor. Von einer für das narrative Präsens typischen Verschiebung des Bezugspunkts der Gleichzeitigkeit vom Sprechaktmoment zu einem möglicherweise weit zurückliegenden Zeitpunkt in der Vergangenheit kann hier nicht ausgegangen werden. Es findet eher eine Art Erweiterung der Gegenwart unter Einschluss der unmittelbaren Vergangenheit statt: (72) sp. Mi hija me explica en su carta que tuvieron algunos problemas con la casa. (RAE 2009: 1717)

Ebenso können temporale Adverbien oder Gesprächssituationen bewirken, dass eine Äußerung im Präsens auf die Zukunft bezogen wird (vgl. z.B. Riegel, Pellat & Rioul 1994: 300). Das Präsens nimmt hier die zukünftige Handlung vorweg und verleiht ihr einen hohen Wahrscheinlichkeitswert: (73) fr.

Elle part demain pour le Pérou.

In der Erzählung zurückliegender Ereignisse verweist es auf die Gleichzeitigkeit zu einem Bezugsmoment in der Vergangenheit und wird in dieser Verwendungsweise auch historisches Präsens genannt (vgl. z.B. Riegel, Pellat

Tempora und Repräsentation von Zeit

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& Rioul 1994: 300–301; Rojo & Veiga 1999: 2892). Der Bezugsmoment des historischen Präsens kann dabei weit zurück in der Vergangenheit liegen und die dargestellte Situation (Thema) kann, wenn wir den Moment der Produktion der Äußerung als Relatum betrachten, lange vor der Region des Relatums liegen: ------ (+++++) (74) fr.

En 1503, le financier allemand Welser obtient du roi de Portugal un contrat de monopole pour le commerce avec les Indes.

(75) sp. En 1899, Romeu interviene, accidentalmente, como pianista en una fiesta habanera que amenizaba la orquesta Cervantes (Orovio, Música) (RAE 2009: 1715)

In Forschungen zum historischen Präsens wurde festgestellt, dass die Verschiebung des Redemoments eine Reorientierung der Tempora, die vom Sprechaktmoment abhängen, mit sich bringt. So wird in der Grammatik der RAE (2009: 1715) festgestellt, dass das historische Präsens mit dem pretérito perfecto compuesto alternieren kann. Im folgenden Satz ist die zusammengesetzte Perfektform ha sido enviado oder die in anderen hispanophonen Gebieten bevorzugte Form des einfachen Perfekts (fue enviado) nicht im Sprechaktmoment verankert, sondern in der Präsensform nace, d.h. in einem retrospektiv orientierten Präsens: (76) sp. Reyes nace en Monterrey porque su padre ha sido enviado por Díaz a pacificar esa región del norte. (Proceso [Méx.] 8/12/1996) (77) pt.

Naquele dia longínquo, os revoltosos proclaman a independência da ilha. (Oliveira 2004: 155)

Der Terminus historisches Präsens ist insofern irreführend, als es sich nicht immer – wie im vorangehenden Beispiel – um eine Darstellung historischer Ereignisse handeln muss. Bertinetto (1991: 67) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen dem dramatischen Präsens (presente drammatico) und dem narrativen Präsens (presente narrativo). Das dramatische Präsens wird in die Erzählung vergangener Ereignisse eingebunden, gestaltet diese lebendig und bringt möglicherweise ein überraschendes Ereignis ein. Es wird verwendet um einen Bruch mit der vorangehenden Erzählung herzustellen. In dem folgenden Satz von Manzoni werden mehrere Präsensformen des Verbs passare verwendet, um gewissermaßen verschiedene Bilder vorbeiziehen zu lassen. Die lineare Abfolge der Ereignisse wird dabei aufgehoben: (78) it.

Sopra tutto si cercava d’aver informazione, e si teneva il conto de’reggimenti che passavan di mano in mano il ponte di Lecco, perché quelli si potevano considerar come andati, e fuori veramente del paese. Passano i cavalli di Wallenstein, passano i fanti di Merode, passano i cavalli di Anhalt, passano in fanti

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di Brandeburgo, e poi i cavalli di Montecuccoli, e poi quelli di Ferrari; passa Altringer, passa Furstenberg, passa Colloredo; passano i Croati, passa Torquato Conti, passano altri e altri; quando piacque al cielo, passò anche Galasso, che fu l’ultimo. (Manzoni, http://www.grammatica-italiana.it/presente.html)

Im narrativen Präsens wird eine Abfolge von vergangenen Handlungen erzählt und unter metaphorischer Verwendung des Merkmals ‛Gleichzeitigkeit mit dem Sprechmoment’ als aktuell dargestellt. Der Textproduzent stellt mit dem narrativen Präsens die Ereignisse so dar, als wären sie aktuell und sinnlich erfahrbar. Erzählen im Präsens kommt in gesprochener Sprache sehr häufig vor, aber auch in bestimmten literarischen Gattungen, wie Fabeln, Biografien, Anekdoten, Witzen. Die beiden folgenden Beispiele aus Bertinetto (1991: 68) repräsentieren das narrative Präsens in der Alltagssprache und in einer Fabel: (79) it.

Ieri vado al cinema, e chi vedo? Cinzia e Marco, naturalmente.

(80) it.

[Il babbo] va di notte, arriva fin quasi sotto l’albero secco e si nasconde; e un altro suo figlio si nasconde dall’altra parte del monte, e con delle tavolette di legno batte facendo il rumore di due montoni che cozzano. (Fiabe italiane, raccolte e trascritte da I. Calvino, n. 193)

In der Literatur wird das narrative Präsens sehr häufig zur Gestaltung fingierter Mündlichkeit eingesetzt. Vergangene Ereignisse werden auf diese Weise lebhaft erzählt und so dargestellt, als wären sie aktuell. Das narrative Präsens konkurriert dabei mit anderen Verbformen der Vergangenheit und ragt unter ihnen durch größere Lebendigkeit heraus. Im folgenden Text wird die Erzählung mit der für die Darstellung vergangener Ereignisse regulären Form des pretérito perfecto simple begonnen, danach wird eine Folge von Situationen im Präsens vorgeführt. Zwei davon stehen in der ersten Person Singular und auch die dritte Präsensform bezeichnet ein Ereignis, das den fiktiven Erzähler unmittelbar betrifft: (81) sp. Ayer mismo me DIO un horroroso susto […]. Pues llego a casa, entro en el corral y me dice Eulogia que el señor Capitán SE HABÍA IDO por la parte de abajo (Galdós, Episodios, RAE 2009: 1719)

Noch deutlicher wird die lebendige Erzählform mit dem Präsens und der ersten Person Singular des Ich-Erzählers in der folgenden Textstelle: (82) sp. Me estaciono unos metros antes de la casa, del otro lado. Miro el reloj: son las ocho de la noche. Espero […] No dudo más. Avanzo con cautela hacia la puerta negra; fuerzo la cerradura con un gancho: no tarda en ceder. (Volpi, Días, RAE 2009: 1719)

Besonders nachvollziehbar ist der Gebrauch des narrativen Präsens, wenn zurückliegende Ereignisse anhand von Fotos oder anderen bildlichen

Tempora und Repräsentation von Zeit

103

Darstellungen erzählt werden. Die Beschreibung der auf den Fotos festgehaltenen Geschehnisse erfolgt dabei im Präsens: (83) sp. En la foto, Tito es recibido por Nixon. (RAE 2009: 1716) (84) fr.

Je suis donc dans la photo, aussi. Je suis là, invisible mais présente, sous la table, dans son ventre, et sans doute la cause même de cette réunion. (Frantext, R038 - DUPEREY Annie, Le voile noir, 1992: 167)

In dem französischen Beispiel wird anhand eines Fotos eine weit zurückliegende Situation im Präsens beschrieben, zu der die Erzählerin noch nicht geboren war, aber gewissermaßen im Bauch ihrer Mutter teilnahm. Das narrative Präsens ist auch in der Lage, zurückliegende habituelle Handlungen auszudrücken (Bertinetto 1991: 68): (85) it.

In quel periodo, Luigi, come si è detto, pranza ogni giorno alla mensa aziendale e rientra a casa non prima delle 18.

Als narratives Präsens könnte auch das folgende portugiesische Beispiel aufgefasst werden: (86) pt.

Os amigos chegam ao hotel, descem do autocarro e entram no hall.

Da in diesem Beispiel jedoch keine zeitliche Verankerung vorliegt, kann es sich aber auch um die Beschreibung einer Abfolge von Handlungen handeln, die sich gerade vollzieht oder die für die Zukunft geplant ist. Da das Ankommen am Hotel, das Aussteigen aus dem Bus und das Eintreten in die Hotelhalle jedoch nacheinander erfolgen, scheint eine Charakteristik der in diesem Satz verwendeten Formen als aktuelles Präsens (Gärtner 1998: 22) nicht ganz angemessen. Riegel, Pellat & Rioul (1994: 301) erwähnen auch das sogenannte prophetische Präsens, bei dem das deiktische Zentrum in die Zukunft verschoben erscheint und die vorausgesagten Ereignisse im présent beschrieben werden: (87) fr.

Quelle Jérusalem nouvelle / Sort du fond du désert brillante de clartés, / Et porte sur le front une marque immortelle? (Frantext. R411 - RACINE Jean, Athalie: tragédie tirée de l’Écriture sainte (1691), 1697: 669-670)

Eine solche Verschiebung des deiktischen Zentrums hat Auswirkungen auf die gesamte Tempusverwendung über das Präsens hinaus und führt zu einer vom Prototypischen abweichenden Orientierung der Tempora. In der folgenden Textstelle sind davon das presente, das pretérito perfecto compuesto, das futuro imperfecto und das futuro perfecto betroffen. Es erfolgt eine Verschiebung des gesamten in diesem Text realisierten Tempussystems vom aktuellen Sprechaktmoment auf den durch ein Adverbial (en 1523) bezeichneten Zeitpunkt als deiktisches Zentrum:

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

(88) sp. El poeta X.X. nace en 1523, cuando su país ha logrado la independencia y se respira un clima de exaltación patriótica; morirá en 1597 y a lo largo de su vida habrá compuesto más de dos mil poemas.

Ohne eine solche Verschiebung des deiktischen Zentrums würde die Textstelle das Ereignis mit dem pretérito perfecto simple einführen, die vorzeitige Situation mit dem pluscuamperfecto, die gleichzeitige mit dem imperfecto und die nachzeitige mit imperfektiven und perfektiven Formen des Konditionals: (89) sp. El poeta X.X. nació en 1523, cuando su país había logrado la independencia y se respiraba un clima de exaltación patriótica; moría en 1597 y a lo largo de su vida habría compuesto más de dos mil poemas.

Die Möglichkeit der deiktischen Umorientierung der auf den Sprechaktmoment bezogenen Tempora betrachten Rojo & Veiga (1999: 2892) als ein Argument gegen die Auffassung vom neutralen Wert des Präsens im Tempussystem. Diesen Formen kann nicht eine Eigenschaft zugewiesen werden, die ihren „historischen“ Gebrauch ermöglicht, wenn sie die Möglichkeit einer solchen Verwendung mit anderen Verbformen teilen. Auch in Gesprächssituationen der Alltagskommunikation ist es möglich, dass das deiktische Zentrum bei Verwendung des Präsens nicht der Sprechaktmoment ist. Ein Sprecher kann in der näheren oder ferneren Vergangenheit geschehene Ereignisse unter Verwendung von Verbformen der Vergangenheit erzählen, die dann mit ihrer prototypischen temporalen Bedeutung auftreten würden (Rojo & Veiga 1999: 2891): (93) sp. Te cuento: ayer iba yo tan tranquilo por la calle cuando apareció un chiflado en una moto que casi me atropelló.

Die Verwendung von Präsensformen anstelle der Vergangenheitsformen würde hier eine Verschiebung des deiktischen Zentrums in die Vergangenheit bewirken; die dargestellten Prozesse würden dadurch als gleichzeitig mit einem Referenzpunkt dargestellt, der nicht dem Sprechaktmoment entspricht und nicht mit der Situation der Gesprächspartner identisch ist. Dadurch würden die Geschehnisse lebhafter und dynamischer dargestellt. Eine andere Interpretation geht davon aus, dass die im Präsens dargestellten Ereignisse gewissermaßen an die Gegenwart herangeholt würden: (94) sp. Te cuento: ayer voy yo tan tranquilo por la calle cuando aparece un chiflado en una moto que casi me atropella.

Das Präsens kann auch für Situationen gebraucht werden, die vor der Herstellung des Gesprächskontakts stattgefunden haben, die sich aber von dem Gebrauch als historisches oder erzählendes Präsens unterscheiden. Es handelt sich dabei um Situationen, die mehr oder weniger direkt mit der eines Dritten verbunden sind (vgl. Rojo & Veiga 1999: 2903):

Tempora und Repräsentation von Zeit

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(95) sp. Tu mujer pregunta si comerás hoy en casa. (96) sp. Vuestro amigo os manda estos bonbones.

Im ersten dieser beiden Sätze ist zwar die Frage der Ehefrau, ob der Mann heute zu Hause essen wird, bereits geäußert, es ist jedoch vorstellbar, dass sie noch am Telefon oder in Hörweite ist. Insofern unterscheidet sich dieser Satz von seiner Umformung mit dem zusammengesetzten Perfekt, mit dem die einfache Abgeschlossenheit der Fragesituation ausgedrückt würde: (97) sp. Tu mujer ha preguntado si comerás hoy en casa.

In solchen Verwendungen des Präsens für die Wiedergabe von unmittelbar vorher stattgefundenen Mitteilungen liegt eine ähnliche Verschiebung des deiktischen Zentrums vor wie in Briefen, die Geschenke begleiten (vgl. Rojo & Veiga 1999: 2904): (98) sp. Queridos amigos: os mando estos bombones…

Hier ist es üblich, dass der Schreiber des Briefes die Verbformen ausgehend von seinem deiktischen Zentrum benutzt und das des Empfängers unberücksichtigt lässt. Das Präsens ist außerdem in der Lage, Situationen nach dem Sprechmoment auszudrücken. Diese als Präsens pro futuro bekannte Verwendungsweise ist in Äußerungen mit Zukünftigkeit ausdrückenden Adverbialen besonders häufig, jedoch nicht auf diese beschränkt (vgl. Rojo & Veiga 1999: 2904): (99) sp. Mañana salimos de viaje. (100) sp. La reunión empieza a las cuatro. (101) sp. En cuanto pueda, te lo devuelvo.

In diesen Sätzen wäre es möglich, die Zukünftigkeit der Situationen mit darauf spezialisierten Verbformen auszudrücken: (102) sp. Mañana saldremos de viaje. (103) sp. La reunión empezará a las cuatro. (104) sp. En cuanto pueda, te lo devolveré.

Der Gebrauch des Präsens wird vor allem in der gesprochenen Sprache in den romanischen Sprachen präferiert. Er wird dadurch ermöglicht, dass das Präsens Nachzeitigkeit ausdrücken kann, sobald der Kontext dies erlaubt. Die Opposition der Präsens- und der Futurformen im Hinblick auf die Nachzeitigkeit ist somit nicht mehr gegeben.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Insbesondere kann das Präsens zur Formulierung von Versprechen, geplanten Vorhaben und als sicher angenommenen zukünftigen Handlungen verwendet werden. (105) sp. Me voy dentro de dos meses. Se lo digo para tranquilizarla. (Canto, Ronda. RAE 2009: 1720) (106) pt. Este ano pasamos as férias em Portugal. (Gärtner 1998: 22)

Mit derartigen Äußerungen werden Voraussagen für die Zukunft getroffen, die vom Ankündigen für den Gesprächspartner positiver Ereignisse bis zu Drohungen reichen können. Da dabei die Gewissheit des Sprechers im Hinblick auf das Eintreten der genannten Situation dominiert, ist in solchen Gebrauchsweisen des Präsens auch eine modale Bedeutung gegeben: (107) sp. Pues te arrepientes. Por estas – Se besaba los dedos -. Me las pagas. Por mi madre que en paz descanse, fijate, por mi madre, que no vuelves a echar la vista encima. (Sanchez Ferlosio, Jarama. RAE 2009: 1720)

Modal geprägt ist auch das sogenannte deontische Präsens (presente deóntico, presente de mandato, RAE 2009: 1720), mit dem als Befehle, Instruktionen oder Anregungen zu verstehende Feststellungen getroffen werden. Das deontische Präsens steht in der zweiten Person oder in der als Höflichkeitsform verwendeten dritten Person. Die Einordnung in dem Spektrum der Intensität von Ratschlägen über Anregungen, Bitten, Weisungen bis hin zu autoritären Befehlen wird durch lexikalische Mittel und die Intonation vorgenommen: (108) sp. Tomás el ómnibus y decís que te avise en Villa Lugano (Cossa, Criado. RAE 2009: 1720) (109) sp. Tu te sientas, escuchas disimulando lo mejor que puedes. Le echas paciencia. (Mundo [Esp.] 15/1/1995. RAE 2009: 1720) (110) sp. “Usted se va de aquí ahora mismo”, le dije. (Martínez, Perón. RAE 2009: 1720) (111) pt. Sais do aeroporto e à tua direita encontras a paragem de autocarros. Apanhas o autocarro 34. (Oliveira 2004: 155)

Wie anhand der Beispiele aus Grammatiken und Korpora festgestellt werden konnte, weist das Präsens zahlreiche temporale Verwendungsmöglichkeiten auf, deren Bezugspunkte nicht mit dem Sprechaktmoment zusammenfallen. Der Sprechaktmoment bleibt jedoch eine wichtige Bezugsgröße in der Erklärung aller Okkurrenzen des Präsens, insofern er in das bezeichnete Intervall eingeschlossen ist oder eine Transposition auf einen Referenzpunkt in der Vergangenheit oder Zukunft vorgenommen wird. Außerdem drückt das Präsens Gleichzeitigkeit – vorzugsweise mit

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Tempora und Repräsentation von Zeit

dem Sprechaktmoment – aus; bei Verschiebung des Referenzpunktes kann es sich jedoch auch um Gleichzeitigkeit mit einem Moment in der Vergangenheit oder Zukunft handeln. Die Lokalisierung des deiktischen Referenzzentrums des Verbalsystems kann also variieren. Möglicherweise fällt dieses Zentrum mit der Sprechaktzeit zusammen, worauf die Deutung des Präsens als Verbform zum Ausdruck der Gegenwart und des Imperfekts als Verbform, die Gleichzeitigkeit gegenüber einem Referenzpunkt in der Vergangenheit ausdrückt, beruht. Als Referenzzentrum kann aber auch die Deixis ausgehend von einer anderen am Gespräch beteiligten Person gewählt werden, ebenso wie ein fiktiver Referenzpunkt in der Vergangenheit oder Zukunft möglich ist. 2.3.3. Temporale Möglichkeiten des Imperfekts Da das semantische Potenzial des Imperfekts in erster Linie aspektuell geprägt ist, wird diese Verbform detaillierter im Kapitel 3 behandelt werden. Hier soll es nur um einige temporale Merkmale gehen, die im Einzelnen schwer von der Aspektualität getrennt werden können. Wir erfassen mit dem Terminus Imperfekt die Verbformen, die in französischen Grammatiken imparfait, in italienischen imperfetto, in spanischen imperfecto, in portugiesischen imperfeito, in katalanischen imperfet und in rumänischen imperfect genannt werden. Es handelt sich also um eine panromanische Verbform, die in den einzelnen Sprachen große funktionale Übereinstimmungen, aber auch wichtige Unterschiede aufweist. Im Lateinischen war das Imperfekt als eine Neuentwicklung des Präsensstamms entstanden, die durch Anfügen des Suffixes -bā an den Verbalstamm gebildet wird, bei esse lautet die Tempusmarkierung lediglich ā (vgl. Meiser 1998: 197): esse

I.

II.

III. A

III. B

IV.

er-a-m

amā-bam

monē-bam

legē-bam

faciē-bam

veniē-bam

Dem Imperfekt als Ausdruck einer in der Vergangenheit andauernden Handlung schreibt Menge (2000: 184)17 bereits für das Lateinische eine Reihe von Funktionen zu, die in den heutigen romanischen Sprachen wiederzufinden sind. Das Imperfekt wird in erster Linie als Hintergrund_____________ 17

Es handelt sich um eine völlig neue Bearbeitung des Repetitoriums der lateinischen Syntax und Stilistik (Wolfenbüttel 1914, erstmals 1873 veröffentlicht) durch Thorsten Burkard und Markus Schauer.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

tempus bezogen auf ein anderes Vergangenheitstempus betrachtet und ihm wird die Eigenschaft zugewiesen, Gleichzeitigkeit auszudrücken: (112) lat. Cenabam, cum amicus venit. (Menge 2000: 185)

Die Bezeichnung von Gleichzeitigkeit ist die wichtigste prototypische Eigenschaft des Imperfekts auch in den romanischen Sprachen, womit zugleich gesagt ist, dass das Imperfekt keinen absoluten temporalen Wert hat, sondern ein relatives Tempus ist. Dies prägte sich bereits im Lateinischen in folgenden speziellen Funktionen aus. In der Erzählung wechselt das Imperfekt mit dem Perfekt als dem Erzähltempus ab, wobei das Perfekt die neuen Ereignisse berichtet, während das Imperfekt die begleitenden Nebenumstände schildert. Für den Fortgang der Handlung sind die im Imperfekt dargestellten Situationen meist von untergeordneter Bedeutung, sie werden lediglich beschrieben, wodurch der mit den Perfektformen bewirkte Fortgang der Handlung unterbrochen wird (Menge 2000: 185): (113) lat. Caesar Alesiam circumvallare instituit; erat autem oppidum in colle summo. (Gall. 7,68,3-69,1. Menge 2000: 185)

Das Imperfekt steht dabei aber keinesfalls immer in Bezug zu Referenzpunkten in der Vergangenheit. Es kann auch an die Stelle eines Präsens treten, wenn „nicht der (erreichte) Zustand, sondern das historische Ereignis betont werden soll“ (Menge 2000: 185): (114) lat. Manus [Rüssel] etiam data elephantis, quia propter magnitudinem corporis difficiles aditus habebant ad pastum. (de orat. 1,159)

Menge (2000: 185) bemerkt auch die aspektuelle Qualität des Imperfekts, wenn er ihm die Bezeichnung sich öfter wiederholender Handlungen (imperfectum iterativum), dauernder Zustände, bestehender Sitten, Gewohnheiten und Einrichtungen zuschreibt: (115) lat. Sophistae appellabantur ii, qui aut ostentationis aut quaestus causa philosophabantur. (ac. 2,73)

Außerdem stellt Menge (2000: 156) fest, dass das indikativische Imperfekt im Sinne eines Irrealis der Gegenwart stehen kann, und vermutet, dass dies unter dem Einfluss des Konjunktiv Imperfekt als Irrealis der Gegenwart geschieht: (116) lat. Nec mentiris; sed re succumbere non oportebat verbis gloriantem. (Tusc. 2,30) (117) lat. Quamquam multa verba Graeca Latine dici poterant, tamen, quonian usu percepta sunt, nostra ducimus. (‛Obwohl man viele griechische Wörter ins Lateinische übertragen könnte, betrachten wir sie als unser Eigentum, weil wir sie uns durch den Gebrauch angeeignet haben.’ Fin. 3,5)

Tempora und Repräsentation von Zeit

109

Ein solcher modalisierter Gebrauch des Imperfekts findet heute in den romanischen Sprachen ausgedehnt statt (vgl. Böhm 2016). Offensichtlich liegen die Wurzeln dafür bereits im Lateinischen. In der Feststellung eines modalisierten Imperfekts geht Menge (2000: 185–186) sogar noch weiter. Ohne hier von modalem Gebrauch zu sprechen und einfach auf bestimmte Okkurrenzen der Verba Dicendi und Sentiendi bezogen, stellt er fest, „dass diese zuweilen nicht im zu erwartenden Perfekt, sondern im Imperfekt [stehen], wobei natürlich auch das Perfekt möglich ist“: (118) lat. Paulum ante laudabas. (de orat. 2, 307) (119) lat. Dicebat melius quam scripsit Hortensius. (orat. 132) (120) lat. Deiotarus ipse hoc sentiebat, sicuti sensit. (div. 2,78)

Menge findet für diese Imperfektformen keine Erklärung und stellt nur fest, dass sie auch durch das Perfekt ersetzt werden könnten. In diesen Beispielen könnte es sich um eine in den romanischen Sprachen häufig auftretende Erscheinung handeln. Das Imperfekt wird für perfektive Verbformen gebraucht, wobei der Sprecher oder Textproduzent zurücktritt und implizit auf eine andere Quelle verweist. Mit dem Gebrauch des Imperfekts wird eine doppelte Deixis eröffnet, die des Textproduzenten und die der Quelle. Die Aussage wirkt daher zurückhaltend und in ihrer Geltung nicht festgelegt. Wir werden in Kapitel 4 dafür eine Erklärung darstellen, die auf den aspektuellen Eigenschaften des Imperfekts basiert. Eine Brücke zum modalen Gebrauch des Imperfekts bietet auch das imperfectum de conatu, das Menge (2000: 186) als der üblichen durativen Bedeutung widersprechend beschreibt. Eine Handlung in der Vergangenheit wird dabei nicht bis zum Ende geführt und kann schließlich sogar überhaupt in ihrer Geltung in Frage gestellt werden. Im folgenden Satz wird das Geben der Waffen als nicht abschließend vollzogen dargestellt: (121) lat. Mirabor te iis armis uti, quae tibi lex dabat, noluisse. (‛Ich würde mich wundern, wenn du nicht die Waffen, die dir das Gesetz geben wollte, zu benutzen bereit gewesen wärest.’ Planc. 45. Menge 2000: 186)

In solchen Sätzen tritt das Imperfekt ohne einen konkreten Zeitbezug auf, es kann auf Situationen in der Vergangenheit anspielen, jedoch auch auf die Gegenwart bezogen sein. In der folgenden Frage bezieht sich das Imperfekt eindeutig auf den Sprechaktmoment und kann auch die Zukunft mit einschließen: (122) lat. Num dubitas id imperante me facere, quod iam tua sponte faciebas? (‛Zögerst du etwa, das auf meinen Befehl hin zu tun, was du ohnehin freiwillig tun wolltest?’ Catil. 1,13. Menge 2000: 186)

110

Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Wie bereits an den lateinischen Beispielen deutlich wurde, ist das Imperfekt ein relatives Tempus, das in seinem Zeitbezug vom Kontext abhängt und in dessen Verwendung aspektuelle Merkmale dominieren, die auch Spielräume für modale Verwendungen eröffnen. Diese Feststellung trifft auch auf die romanischen Sprachen zu. Das Imperfekt in romanischen Sprachen ist vor allem durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet: (1) Es stellt Situationen im Verlauf dar, fokussiert dabei den internen Ablauf und nimmt weder auf den Anfang noch das Ende Bezug. Während im Beispielsatz (123) das einfache Perfekt aussagt, dass der Verwalter tatsächlich am unteren Ende der Treppe angekommen war, ist in Satz (124) mit dem Imperfekt nicht klar, ob er den Abstieg tatsächlich bewältigt hat (RAE 2009: 1743): (123) sp. El mayordomo bajó las escaleras. (124) sp. El mayordomo bajaba las escaleras.

Der Prozess des Hinuntersteigens wird hier in seiner Entwicklung dargestellt und es wird keine Information zu seiner Begrenzung gegeben. Diese Eigenschaft des Imperfekts ergibt sich aus seiner imperfektiven Aspektualität, die wir im Kapitel 3 näher betrachten werden. (2) Das Imperfekt kann selbst keine zeitliche Verankerung vornehmen und benötigt daher einen temporalen Bezugspunkt durch eine adverbiale Bestimmung, eine temporal eindeutige Verbform oder das Referieren auf den deiktischen Bezugspunkt. Im folgenden Beispiel wird eine temporale Verankerung durch ein Adverbial, das ein deiktisches Element enthält (ese), hergestellt. Die Handlung des Hinabsteigens wird dabei als in einem bestimmten Moment der Vergangenheit unternommen, jedoch nicht als abgeschlossen dargestellt: (125) sp. EN ESE PRECISO MOMENTO, el mayordomo bajaba las escaleras.

Wenn die Verankerung in der Vergangenheit durch eine Form des einfachen Perfekts erfolgt, ist es sogar möglich, dass die damit bezeichnete Handlung den Abschluss der im Imperfekt stehenden infrage stellt. So kann die folgende Äußerung bedeuten, dass der Verwalter die Treppe nicht hinuntergegangen ist, als das Telefon klingelte, sondern wieder umgekehrt ist, um den Hörer abzunehmen: (126) sp. Cuando SONÓ el teléfono, el mayordomo bajaba las escaleras. (127) pt. A Maria lia o jornal quando a Joana CHEGOU.

Während das Imperfekt somit zeitlich unbestimmt ist, verfügt es über eine starke aspektuelle Markiertheit (vgl. Kapitel 3).

Tempora und Repräsentation von Zeit

111

Die temporale und aspektuelle Bestimmbarkeit des Imperfekts hat zu langen Diskussionen unter Linguisten und Grammatikern geführt und ist noch nicht zu Ende. Die Real Academia Española unterscheidet darin drei unterschiedliche Positionen zur Bestimmung des spanischen imperfecto (RAE 2009: 1743–1744): (1) Das imperfecto verfügt über ein temporales Merkmal (‛Vergangenheit’) und ein aspektuelles Merkmal (‛imperfektiv’), die zusammen für seine Erklärung hinreichend seien. (2) Das aspektuelle Merkmal des imperfecto sei überflüssig, wenn das temporale als relatives und sekundäres Tempus erklärt wird. Damit verbindet sich auch die Akzeptanz des Begriffes des copretérito, der von Andrés Bello (1781–1865) eingeführt und mit der Tatsache begründet wurde, dass die entsprechenden Verbformen die Gleichzeitigkeit mit einer Handlung in der Vergangenheit ausdrücken. (3) Die Analyse des imperfecto als relatives und sekundäres Tempus ist mit der Annahme eines imperfektiven Aspekts kompatibel, der sich in dieser Verbform ausprägt. Ausgehend von den Positionen (2) und (3) bestimmt die Real Academia Española (2009: 1744) das imperfecto als eine Verbform, die eine Situation der Vergangenheit bezeichnet, aber nicht direkt vom Sprechaktmoment her bestimmbar ist. Die Schwierigkeiten in der Einbeziehung des Merkmals des Aspekts in die Beschreibung der spanischen Grammatik werden damit ebenso deutlich wie das Bestreben, an einer temporalen Bestimmtheit des imperfecto festzuhalten. Die Tatsache, dass das Imperfekt eine zeitliche Verankerung benötigt, ist auch als sein anaphorischer Charakter (naturaleza anafórica; RAE 2009: 1744) bekannt. Im folgenden Satz wird der für die Verankerung der Imperfektformen jugaba und canturreaba notwendige Vergangenheitsbezug durch die unmittelbar davor stehende Periphrase volvió a verlo vorgenommen, in der das Auxiliar im einfachen Perfekt steht. Durch den anaphorischen Bezug der Imperfektformen auf diese Perfektform wird die Interpretation abgeleitet, dass die Handlungen zeitlich teilweise übereinstimmen: (128) sp. VOLVIÓ a verlo al caer de la tarde, Carlitos jugaba con su tren eléctrico y Flora canturreaba bagualas en la planta baja. (Cortázar, Glenda. RAE 2009: 1745).

Als Referenzpunkt für das anaphorische Imperfekt kann auch eine konkrete adverbiale Zeitangabe auftreten. Die durch das Imperfekt bezeichnete Aktion wird dabei in zwei Teile geteilt, wobei der erste Teil die Vergangenheit bis zu dem adverbial ausgedrückten Bezugsmoment, der zweite Teil hingegen die danach stattfindende virtuelle Fortsetzung umfasst: (129) fr. Dans la nuit du 10 août, à une heure, il observait les étoiles. (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 305)

R- - - - - - - - - - S - - - - - - - -

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

In der Imperfektform observait ist hier auch eine modale Bedeutung enthalten, insofern das Beobachten zwar für einen unbestimmten Zeitraum der Vergangenheit unter Einschluss des Referenzmoments festgestellt wird, über die Fortsetzung danach, möglicherweise auch bis zum Sprechaktmoment und darüber hinaus jedoch keine Aussage getroffen wird. Es gibt jedoch Okkurrenzen des Imperfekts, in denen ihm keine adverbiale Bestimmung und auch keine zeitlich verankerte Verbform vorausgeht: (130) sp. Los mayas poseían conocimientos muy amplios de matemáticas. (RAE 2009: 1745)

In diesem Satz wird den Maya eine dauerhafte Eigenschaft zugewiesen. Aus dieser Dauerhaftigkeit erklärt sich die Verwendung einer imperfektiven Verbform, die hier auch keiner zeitlichen Verankerung bedarf, da mit dem Subjekt des Satzes über das Weltwissen bereits auf die in der Vergangenheit liegende Blütezeit der Maya Bezug genommen wird. Die Zuweisung dauerhafter Eigenschaften benötigt keine zeitliche Verankerung, während episodische Eigenschaften einen zeitlichen Referenzpunkt benötigen: (131) sp. Clara tenía los ojos verdes. (132) sp. Cuando LLEGAMOS al juzgado tenía los ojos vidriosos y me había dado hipo. (Alatriste, Vivir. RAE 2009: 1745)

Dauerhafte Eigenschaften können auch dann, wenn eine zeitliche Verankerung durch eine andere Vergangenheitsform erfolgt, als länger anhaltend interpretiert werden. So ist die Haarfarbe der Jungen im folgenden Satz nicht nur zum Zeitpunkt ihrer Vorstellung blond bzw. braun: (133) sp. A Luisa le PRESENTARON dos muchachos; uno de ellos era rubio, y el otro, moreno. (RAE 2009: 1745)

Zu derartigen Verwendungen des Imperfekts wurde festgestellt, dass sie als Zuschreibung einer Eigenschaft dem Präsens entsprechen. Ausgehend von diesem Standpunkt erscheint das imperfecto als presente en el pasado, was wiederum sein Merkmal, Gleichzeitigkeit auszudrücken, unterstreicht (RAE 2009: 1747). Die Eigenschaft, das Tempus der Gleichzeitigkeit in der Vergangenheit zu sein, schränkt die Verwendbarkeit des Imperfekts für die Darstellung progressiv betrachteter Situationen ein. So ist im ersten der beiden folgenden Sätze das Imperfekt fraglich, weil hier kein zeitlicher Bezugspunkt gegeben ist, zu dem das Kartenspiel gleichzeitig erfolgt sein könnte (Bertinetto 1991: 73). Im zweiten Satz ist mit dem Adverbial a quest’ora ein solcher Bezugspunkt vorhanden:

Tempora und Repräsentation von Zeit

(134) it.

?Ieri

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giocavo a carte.

(135) it. Ieri A QUEST’ORA giocavo a carte; come passa il tempo.

Das Fehlen von temporalen Verankerungen in Form eindeutig auf die Vergangenheit bezogener Verbformen oder adverbialer Bestimmungen schränkt die Akzeptabilität von Äußerungen mit Imperfektformen ein. Im folgenden Beispiel aus Bertinetto (1991: 73) wird das anhand der Frage nach dem eigentlichen Ereignis deutlich, während im vorangehenden Satz mit dem Imperfekt nur der Hintergrund dafür geliefert wurde: (136) it. Parlante A: L’anno scorso, facevo un viaggio. Parlante B: Ebbene, cos’è successo.

Das Imperfekt als duratives und Gleichzeitigkeit mit einem Bezugsmoment in der Vergangenheit ausdrückendes Tempus tritt vorzugsweise mit adverbialen Verankerungen in der Vergangenheit oder mit eindeutigen perfektiven Vergangenheitstempora auf: (137) pt. EM 1945, o meu pai trabalhava naquela empresa. (138) pt. NAQUELE ANO, eu era estudante. (139) pt. QUANDO A GUERRA ACABOU, o meu pai trabalhava naquela empresa.

Das Imperfekt kann jedoch auch ohne explizite zeitliche Verankerung auftreten. Sprachliche und situative Kontexte können für eine Interpretation der Imperfektformen als Ausdruck gleichzeitiger Situationen in der Vergangenheit ausreichen. So können die folgenden Äußerungen als Beschreibung einer vergangenen Lebenssituation verstanden werden, die aus mehreren gleichzeitig bestehenden Komponenten bestand: (140) pt. Eu morava num edifício antigo que tinha três andares. Ficava longe da empresa onde eu trabalhava.

Im folgenden Satz wird ein bestimmter Moment fokussiert und es wird eine Sicht auf die Handlung im Verlauf gegeben. Die aspektuelle Bedeutung des Imperfekts erlaubt es hier, Gleichzeitigkeit zu einem nicht explizit genannten Bezugspunkt anzunehmen: (141) it. Giovanni passeggiava avanti e indietro. (Bertinetto 1991: 74)

Dieser Satz wäre auch mit kontinuierlicher und habitueller Bedeutung des Imperfekts interpretierbar, was in den Sätzen (142) und (143) zusätzlich durch Adverbien unterstrichen wird (Bertinetto 1991: 74): (142) it. Giovanni passeggiava avanti e indietro ininterrottamente. (143) it. Giovanni passeggiava avanti e indietro ogni volta che doveva concentrarsi.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Die Gleichzeitigkeit in der Vergangenheit kann auch durch die Bedeutung statischer und Dauerhaftigkeit ausdrückender Verben nahegelegt werden, ohne dass eine explizite zeitliche Verankerung erfolgt. So fehlt in den beiden Sätzen eine explizite temporale Bestimmung, die das Imperfekt lokalisieren würde: (144) it. L’uomo di cui parli si chiamava Alberto. (145) it. Quel libro metteva a nudo i difetti dei pisani.

Mit dem Imperfekt in diesen Sätzen wird keine Parallele zu einer Handlung oder einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit dargestellt, sondern es wird ein deskriptiver Hintergrund gegeben. Im weiteren Sinne kann also auch diesen Imperfektformen das Merkmal der Gleichzeitigkeit in der Vergangenheit zugeschrieben werden. Die Nähe einer Perfektform garantiert außerdem nicht, dass eine Imperfektform diese als Punkt für ihre zeitliche Verankerung auswählt. Dies ist zum Beispiel bei metasprachlichen Kommentaren im einfachen Perfekt der Fall, die zeitlich unabhängig von der mitgeteilten Feststellung sein können. So hat die Tatsache, dass Luisa die Garnelen schmecken, nichts mit dem Zeitpunkt zu tun, in dem sie von jemandem festgestellt wurde. Es handelt sich vielmehr um eine Äußerung, die der Formulierung einer Eigenschaft nahe kommt: (146) sp. Mencionaron que a Luisa le gustaban los camarones. (RAE 2009: 1746)

Das Imperfekt tritt hier in einem subordinierten Satz auf, der als wiedergegebene Rede in die Vergangenheit transponiert wurde. Bei der Transposition von direkter in indirekte Rede gehen Beziehungen von Äußerungen zum Sprechaktmoment verloren und erhalten eine zeitliche Verankerung, die sich am Verb des Matrixsatzes orientiert. Der direkten Rede im folgenden Satz entsprechen zwei mögliche Versionen in der indirekten Rede: (147) sp. Mencionaron lo siguiente: “A Luisa le gustan los camarones”. (a) Mencionaron que a Luisa le gustan los camarones. (b) Mencionaron que a Luisa le gustaban los camarones.

Mit der Variante (a) wird ausgesagt, dass die Vorliebe von Luisa für Garnelen auch im Sprechaktmoment noch zutrifft, während in der Variante (b) dies nicht explizit festgestellt wird, sondern einfach auf den Moment der wiedergegebenen Aussage bezogen wird. Die Variante (b) kann außerdem eine Transformation der folgenden direkten Rede in indirekte sein, mit der die Eigenschaft von Luisa, Garnelen zu mögen, für ein unbestimmtes Zeitintervall in der Vergangenheit festgestellt wird: (148) sp. Mencionaron lo siguiente: “A Luisa le gustaban los camarones”

Tempora und Repräsentation von Zeit

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Grundsätzlich lässt also der Gebrauch des Imperfekts in der indirekten Rede sowohl eine aktualisierende Interpretation im Hinblick auf den Sprechaktmoment als auch eine vergangenheitsbezogene Interpretation zu. Dies trifft auf isolierte Sätze zu, während der Kontext und der Gebrauch in realen Kommunikationssituationen Eindeutigkeit herstellen können. So ist in der folgenden Äußerung aus einem literarischen Text die im Imperfekt stehende Verbalperiphrase estaba pensando eindeutig auf den Moment in der Vergangenheit bezogen, in dem Vicente etwas gestanden hat: (149) sp. Vicente casi CONFESÓ que estaba pensando dejar el Banco. (Cabrera Infante, Habana. RAE 2009: 1747)

Im folgenden Satz haben die Aussagen, dass der Sprecher Gregorio heißt, in einer Pension lebt und als Hilfskraft in einem Versicherungsbüro arbeitet, jedoch über den Moment ihrer Erklärung auch Gültigkeit bis zum fiktiven Gegenwartsmoment: (150) sp. Gregorio DECLARÓ que se llamaba Gregorio (aunque algunos le llamaban Gregor), que vivía de pensión y que trabajaba de auxiliar en una oficina de seguros (Landero, Juegos, RAE 2009: 1747)

Für das Italienische stellt Bertinetto (1991: 75) einen generalisierten Gebrauch des Imperfekts in der indirekten Rede bei einer Verbform der Vergangenheit im Matrixsatz fest. So könnte das Imperfekt in dem folgenden Satz auch dann verwendet werden, wenn der Zustand der Krankheit auch im Sprechaktmoment noch anhält: (151) it. Gigi mi ha detto ieri che Adriana era malata.

Außerdem lässt sich das in solchen Kontexten auch für Sachverhalte finden, die zeitlos sind und immer zutreffen (Bertinetto 1991: 75): (152) it. Fin dai tempi di Copernico e Galilei ci si accorse che la terra girava intorno al sole.

Das Imperfekt kann in abhängigen Sätzen auch mit futurischer Bedeutung verwendet werden. Häufig tritt es anstelle des Konditionals auf (Bertinetto 1991: 78): (153) it. Ha promesso che tornava / sarebbe tornato il giorno dopo.

Mit der Funktion des Ausdrucks der Gleichzeitigkeit in der Vergangenheit ist auch die Verwendung für den Ausdruck der Nachzeitigkeit gegenüber einem Bezugsmoment in der Vergangenheit verbunden. Es lässt sich eine Analogie zwischen der im Präsens ausgedrückten Nachzeitigkeit gegenüber dem Sprechaktmoment und der durch das Imperfekt ausgedrückten

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Nachzeitigkeit gegenüber dem Bezugsmoment in der Vergangenheit feststellen (Bertinetto 1991: 78–79): (154) it. Mi han detto che STASERA dormi da Fabricio. (155) it. Mi avevan detto che QUELLA SERA dormivi da Fabricio. (156) it. L’ospite è giunto nel pomeriggio di OGGI. Riparte fra due giorni. (157) it. L’ospite giunse nel pomeriggio del 15 GIUGNO. Ripartiva due giorni dopo.

Während in den Sätzen mit einem deiktisch-adverbial vorgenommenen Bezug zur Gegenwart (stasera, oggi) die Gleichzeitigkeit mit dem Präsens ausgedrückt wird, verschwindet in den Sätzen mit dem Plusquamperfekt bzw. dem einfachen Perfekt das Deiktikum zugunsten einer konkreten Zeitangabe, zu der die Gleichzeitigkeit durch das Imperfekt gekennzeichnet wird. Ebenso wie in diesen Fällen die Ersetzung des Imperfekts durch eine Form des zusammengesetzten Konditionals möglich wäre, wäre dies bei Äußerungen mit dem imparfait d’imminence möglich (Wagner & Pinchon (1991: 382–384) (158) fr. Un instant après le train déraillait. [= aurait déraillé] (159) fr. « Un peu plus il était mort », disait mon grand père. (Stendhal)

Mit dieser Verwendung des Imperfekts wird eine unmittelbar bevorstehende mögliche Situation gekennzeichnet, wobei das Merkmal der Gleichzeitigkeit gewissermaßen vorwegnehmend die nahe Zukunft erfasst. Auch hier liegt eine Analogie zur Verwendung des Präsens vor, mit dem in Zukunft gewiss eintretende, häufig unangenehme Situationen vorweggenommen werden können: (160) fr. N’avancez pas ! Un pas de plus et vous êtes mort.

Die prospektive Verwendung des Imperfekts hängt eher von pragmatischen Faktoren und vom Kontext ab, als dass sie durch die Bedeutung dieses Tempus selbst vorgegeben wäre. Aufgrund seiner prototypischen Bedeutung ist das Imperfekt insbesondere geeignet, die Gleichzeitigkeit zweier in der Vergangenheit verlaufender Handlungen zu bezeichnen. In der folgenden Textstelle wird keine zeitliche Abfolge ausgedrückt; die erwähnten Situationen werden als im Hinblick auf einen Bezugspunkt in der Vergangenheit gleichzeitig dargestellt: (161) fr. Les ténèbres étaient profondes. Je ne voyais rien devant moi, ni autour de moi, et toute la branchure des arbres entrechoqués emplissait la nuit d’une rumeur incessante. (Maupassant. Riegel, Pellat & Rioul 1994: 307)

Tempora und Repräsentation von Zeit

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Dass das Imperfekt unter den Tempora der Vergangenheit das einzige Tempus ist, das Gleichzeitigkeit ausdrücken kann und folglich auch für die Beschreibung von Hintergrundsituationen geeignet ist, verdeutlicht der Vergleich der folgenden Sätze. Während das einfache Perfekt zwei zueinander nicht in Beziehung stehende Situationen nahelegt und zu einem inkohärenten Text führt, ist dieselbe Textstelle mit dem Imperfekt als Gleichzeitigkeit implizierende Situationsbeschreibung akzeptabel (Maupassant; Riegel, Pellat & Rioul 1994: 307): (162) it.

??Fuori

piovve. Gina indossò un abito grigio. La stanza fu in disordine.

(163) it. Fuori pioveva. Gina indossava un abito grigio. La stanza era in disordine.

Mit Zustandsverben ist der Ausdruck von Gleichzeitigkeit mit einer in der Vergangenheit lokalisierten Handlung durch eine Perfektform ausgeschlossen (Bertinetto 1991: 76): (164) it. Quando arrivai, Franco era /*fu / *è stato a casa.

Dass das Imperfekt für den Ausdruck von Gleichzeitigkeit in der Vergangenheit prädestiniert ist, heißt jedoch nicht, dass es keine Kontexte gebe, in denen dies nicht auch Perfektformen leisten könnten. So ermöglicht die Gleichzeitigkeit ausdrückende Konjunktion im folgenden Satz eine Transformation ins perfetto composto (Bertinetto 1991: 75–76): (165) it. Quel giorno, mentre Vanna studiava inglese nella stanza accanto, Marina si esercitava al pianoforte. (166) it. Quel giorno, mentre Vanna HA STUDIATO inglese nella stanza accanto, Marina si È ESERCITATA al pianoforte.

Diese Sätze (165) und (166) drücken zwar beide Gleichzeitigkeit aus, unterscheiden sich jedoch in ihrer aspektuellen Bedeutung. Während das Imperfekt die Möglichkeit zulässt, dass einer der beiden Prozesse abgebrochen wurde, impliziert die perfektive Bedeutung des perfetto composto, dass sie beide wirklich abgeschlossen wurden. Die Gleichzeitigkeit als prototypisches Merkmal des Imperfekts schließt auch nicht eine Darstellung aufeinanderfolgender Situationen aus, was sich aus der Relation zwischen den Teilsätzen, den Verbbedeutungen und adverbialen Bestimmungen ergeben kann. In der folgenden Textstelle schließt die Gegensätzlichkeit der Verbbedeutungen Gleichzeitigkeit aus. Die im Imperfekt dargestellte Handlungsfolge wird hier als iterativ interpretiert: (167) fr. Il se couchait, puis se redressait, s’effaçait dans un coin de porte, puis bondissait, disparaissait, reparaissait, se sauvait, revenait, ripostait à la mitraille par des pieds de nez, et cependant pillait les cartouches, vidait les gibernes et remplissait son panier (Hugo. Riegel, Pellat & Rioul 1994: 307)

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Das Imperfekt kann auch das Habituelle einer Abfolge von Handlungen ausdrücken, die als solche nicht gleichzeitig stattfinden können: (168) it. Tutte le mattine, il professore si alzava alle 7 e un quarto, si rasava e scendeva al bar per fare colazione. (Bertinetto 1991: 77)

Wie anhand der diskutierten Beispiele deutlich wurde, kann dem Imperfekt nur der Ausdruck der Gleichzeitigkeit als stabile temporale Eigenschaft zugewiesen werden. Diese Gleichzeitigkeit ist zwar meist im Hinblick auf Bezugspunkte in der Vergangenheit ausgeprägt, kann jedoch auch auf Gegenwart und Zukunft bezogen sein. Von daher erscheint es problematisch, das Imperfekt ohne weiteres unter die Verbformen der Vergangenheit einzuordnen. Wichtiger für seine Verwendung sind seine aspektuellen Eigenschaften, die auch einige modale Verwendungen erklären. 2.3.4. Das einfache und das zusammengesetzte Perfekt Das einfache und das zusammengesetzte Perfekt sind durch das Merkmal der Vorzeitigkeit gekennzeichnet, d.h. sie referieren selbstständig auf ein Intervall der Vergangenheit. Außerdem verfügen sie über das Merkmal der Perfektivität, das im Kapitel 3 behandelt wird. Zeitreferenziell unterscheiden sich das einfache und das zusammengesetzte Perfekt und der zusammengesetzte Konditional nicht (Schwarze 1988: 617).18 Beide Tempora nehmen auf zwei Intervalle auf der Zeitachse Bezug: den Ereignismoment (E) und den Sprechaktmoment (S), wobei das Ende der Ereigniszeit vor dem Ende des Sprechakts liegt. Vereinfachend ließe sich dieses Verhältnis folgendermaßen darstellen, wobei der Abstand zwischen (E) und (S) nicht erfasst ist und auch der beim zusammengesetzten Perfekt mögliche Einschluss des Sprechmoments noch nicht berücksichtigt ist: E

S

Während im Spanischen und Portugiesischen das einfache und das zusammengesetzte Perfekt gleichermaßen in der gesprochenen und in der geschriebenen Sprache vorkommen, gibt es für das einfache Perfekt im Französischen und im Norditalienischen Einschränkungen. Durch das weitgehende Verschwinden des einfachen Perfekts im mündlichen _____________ 18

Schwarze (1988: 616–617) nimmt auch für das Imperfekt die gleiche Zeitreferenz an, worin wir ihm jedoch wegen der temporalen Unbestimmtheit dieses Tempus nicht folgen können.

Tempora und Repräsentation von Zeit

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Sprachgebrauch ging auch die funktionale Differenzierung zwischen diesen beiden Verbformen verloren. Im Norditalienischen und im Französischen wird das einfache Perfekt in der geschriebenen Sprache mit spezifischen textuellen Funktionen verwendet. Insbesondere dient es zur KennKennzeichnung der narrativen Ebene, auf der die Ereignisse lokalisiert sind. Nach der klassischen Definition gibt das zusammengesetzte Perfekt eine Situation in der Vergangenheit in Beziehung zur Gegenwart wieder, wobei diese Beziehung im Heranreichen der Situation an die Gegenwart oder im Fortbestehen der Ergebnisse einer dargestellten Handlung bestehen kann. Dies trifft natürlich nur dann zu, wenn in der betreffenden Varietät der Sprache eine Form für nicht in Bezug zur Gegenwart stehende Situationen vorhanden ist. Im gesprochenen Französischen und Norditalienischen wird das zusammengesetzte Perfekt auch für Ereignisse in der Vergangenheit benutzt, die nicht in Beziehung zur Gegenwart stehen. Die in älteren Grammatiken getroffene Unterscheidung zwischen dem einfachen und zusammengesetzten Perfekt nach dem zeitlichen Abstand zum Sprechaktmoment oder die Annahme einer 24-Stunden-Regel für das zusammengesetzte Perfekt (vgl. 2.4.) finden sich durch den realen Sprachgebrauch nicht bestätigt. Aus diesem Grunde schlägt auch Bertinetto (1991: 89) vor, auf die Bezeichnungen passato prossimo und passato remoto zu verzichten. Das zusammengesetzte Perfekt ist in den romanischen Sprachen aus einer resultativen Verbalperiphrase entstanden, die sich zur Bezeichnung der Vorzeitigkeit gegenüber dem Sprechaktmoment entwickelte. In dieser Bedeutung trat das zusammengesetzte Perfekt mit dem einfachen Perfekt in Konkurrenz. Eine Bedeutungsspezialisierung konnte dabei nur stabil bleiben, wenn beide Formen regelmäßig und in spezifischen Kontexten verwendet werden. Für das Spanische besteht heute Einigkeit im Hinblick darauf, dass die Form he cantado das Heranreichen einer vergangenen Situation oder von deren Ergebnissen an die Gegenwart ausdrückt, während canté Vorzeitigkeit ohne Beziehung zum Sprechaktmoment bezeichnet. Dieser temporale Unterschied zwischen dem einfachen und dem zusammengesetzten Perfekt trifft heute vor allem in Zentral- und Südspanien, an der peruanischen Küste, in Bolivien und Kolumbien, im Nordosten sowie in der Zentralregion Argentiniens und mit einigen Einschränkungen in Kuba und anderen Gebieten der Antillen zu. In anderen Ländern, insbesondere in Mexiko, Venezuela und mehreren mittelamerikanischen Ländern, ist die Opposition der Formen canté und he cantado eher aspektuell als temporal. Dabei wird das einfache Perfekt verwendet, um in der Vergangenheit abgeschlossene Handlungen zu bezeichnen, während das zusammengesetzte Perfekt für Situationen, die während des Sprechaktmoments

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

andauern, verwendet wird. Eine Äußerung wie Hoy estuvo más tranquilo (Excelsior 21.1.1997) ist daher trotz des Deiktikums hoy möglich, wenn der Zustand abgeschlossen ist. In einigen Ländern, wie zum Beispiel in Chile und großen Teilen Argentiniens, wird die Opposition des einfachen und des zusammengesetzten Perfekts zugunsten des pretérito perfecto simple neutralisiert, das dort das pretérito perfecto compuesto unabhängig von temporalen oder aspektuellen Eigenschaften ersetzt. Der umgekehrte Ersetzungsprozess findet an der peruanischen Küste und in Bolivien statt, wo sich das zusammengesetzte Perfekt ausbreitet (RAE 2009: 1722). Die Beschreibung der Funktionen der beiden Perfektformen ist somit auch für das Spanische sehr komplex und kann von einer vollen Differenzierung nur dort ausgehen, wo beide Funktionen regulär gebraucht werden. Beim zusammengesetzten Perfekt lassen sich deiktische und nichtdeiktische Gebrauchsweisen unterscheiden. Wenn das Resultat einer Situation oder einer Handlung im Sprechaktmoment gegeben ist, liegt eindeutig eine deiktische Verwendung des zusammengesetzten Perfekts vor und diese Verbform wird in allen Sprachen und Varietäten deutlich gegenüber dem einfachen Perfekt präferiert: (169) fr. Il est parti. (Resultat: er ist nicht mehr da) (170) fr. Nous avons emporté de quoi faire du thé. (Gide; Riegel, Pellat & Rioul 1994: 289) (171) it. Dove hai trovato questa roba? (Der Sprecher zeigt die Sache) (172) it. Scusami, ma non posso venire alla tua festa: mi sono preso l’influenza. (173) sp. Las elecciones no se han celebrado, pero no se demorarán muchos meses. (174) sp. Ha llegado hace un rato.

Wenn es sich um eine frische Nachricht handelt, wird also das zusammengesetzte Perfekt verwendet (Bertinetto 1991: 89): (175) it. Sai cos’è successo? È caduto il governo.

Der deiktische Gebrauch des zusammengesetzten Perfekts korreliert häufig auch mit deiktischen Ausdrücken. So wird im folgenden Satz das lokale Deiktikum der Nähe este verwendet während aquel als Deiktikum der Ferne ausgeschlossen ist (RAE 2009: 1723): (176) sp. En este siglo la ciencia ha experimentado grandes avances.

Die Kompatibilität oder die Konkordanz der deiktischen Eigenschaften zwischen dem Tempus und bestimmten Adjektiven oder Adverbien, die temporale oder lokale Nähe signalisieren, zeigt den Gegenwartsbezug des zusammengesetzten Perfekts und rechtfertigt für solche Okkurrenzen seine Bezeichnung als antepresente (RAE 2009: 1723):

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(177) sp. En su actual situación laboral ha sufrido no pocos sinsabores. (178) sp. La vicetiple ha tenido días mejores en la presente temporada.

Adverbiale, die schon und noch in der Bedeutung ‛bis jetzt’ entsprechen, induzieren ebenfalls meist das zusammengesetzte Perfekt. Diese Adverbien kennzeichnen Situationen, die in einem Intervall vor einem bestimmten Zeitpunkt gegeben sein müssen. Als Phasenadverbien können sie das Andauern der Situation über den Sprechaktmoment hinaus nahelegen. In den folgenden Sätzen mit Negation kann das Fehlen eines bestimmten Zustands nach dem Sprechaktmoment zutreffen oder nicht (RAE 2009: 1725): (179) sp. TODAVÍA NO me habéis nombrado ni uno solo de vuestros pecados. (Labarca, Butamalón) (180) sp. AÚN NO me has dicho nada de mi nuevo perfume. ¿Te gusta? (Quintero, E., Danza)

Deiktischer Gebrauch des zusammengesetzten Perfekts liegt auch vor, wenn der Sprecher seine Erfahrung anderen mitteilt oder über Erfahrungen anderer spricht. Dabei kann auch ein länger zurückliegender Bezugsmoment erfasst werden (Bertinetto 1991: 91). Wenn dabei kein Zeitraum erwähnt wird, wird dieser mit der gesamten Lebenszeit identifiziert, die häufig von den Gesprächspartnern geteilt wird (RAE 2009: 1725): (181) it. Sei mai stato in Francia? (182) it. Claudio ha letto la «Divina Commedia» almeno cinque volte. (183) sp. Ha sufrido mucho en la vida. (184) sp. Pocas veces te has sentido más feliz. (Fuentes, Artemío)

Zur Darstellung von Erfahrungen kann der Sprecher natürlich auch das einfache Perfekt verwenden. Damit würde das Zeitintervall dieser Erfahrung jedoch als abgeschlossen dargestellt, während mit dem zusammengesetzten Perfekt eine weitere Fortsetzung möglich wäre: (185) sp. (Tra il 1968 ed il 1973 / durante la sua vita) Luca fu tre volte in Francia. Luca è stato tre volte in Francia.

Das zusammengesetzte Tempus kann unter bestimmten Bedingungen sogar seine perfektive Bedeutung verlieren und die Gegenwart mit einschließen. Dies ist dann der Fall, wenn die berichtete Situation als nicht abgeschlossen angesehen wird und das Bezugsintervall bis an die Gegenwart und möglicherweise sogar darüber hinaus reicht. In diesem Fall sind nicht nur die Resultate eines Ereignisses, sondern die Situation selbst im Sprechaktmoment vorhanden (Bertinetto 1991: 91):

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(186) it. Le donne di questo posto hanno sempre portato [*portarono] gonne lunghissime, come vedi tuttora.

Das Tragen von langen Röcken wird in diesem Satz nicht nur der Vergangenheit zugewiesen, sondern es hält auch in der Gegenwart noch immer an, wofür auf die optische Nachweisbarkeit verwiesen wird. Insbesondere atelische Verben im zusammengesetzten Perfekt sind zum Ausdruck kontinuierlicher Situationen in der Lage. In dem folgenden Beispiel aus der Grammatik der Real Academia Española (RAE 2009: 1726) wird das Fehlen einer bestimmten Möglichkeit oder Fähigkeit beschrieben, was vom Sprechaktmoment aus eingeschätzt wird: (187) sp. Durante tres días no hemos podido cruzar palabra. (Cabrera, Infante)

Zusammengesetzte Perfektformen mit kontinuierlicher Bedeutung treten typischerweise mit Komplementen auf, die die Dauer der beschriebenen Situation messen. Das Ende dieser Messung ist der Sprechaktmoment, aber dieser Moment ist nicht notwendigerweise das Ende der Situation. So ist mit dem folgenden Beispiel nicht gesagt, dass die Angestellten ihre Beschäftigung nach dieser Feststellung aufgegeben hätten, nur die Einschätzung der Epoche, für die eine Feststellung getroffen wird, endet im Sprechaktmoment (RAE 2009: 1727): (188) sp. Al negocio pueden entrar 153 empleados y funcionarios que DURANTE AÑOS han estado dedicados a la fabricación y venta de alfombras. (Tiempo [Col.] 24.9.1996)

Obwohl solche Verwendungen des zusammengesetzten Perfekts auf den gesamten hispanophonen Sprachraum zutreffen, gibt es diatopische Variation in Hinblick auf das Fortdauern der bezeichneten Situation nach dem Sprechaktmoment. So kann die Äußerung He trabajado veinte años para él mit der Inferenz ‛ich arbeite weiter für ihn’ interpretiert oder auch als ‛ich arbeite nicht mehr für ihn’ verstanden werden. Beide Interpretationen sind im europäischen Spanisch, mit Ausnahme der kanarischen Inseln und des Nordostens Spaniens, auf den Antillen, in der Andenregion und im Nordosten Argentiniens möglich, während eine klare Präferenz für die kontinuierliche Bedeutung als antepresente in den übrigen spanischsprachigen Ländern Amerikas zu verzeichnen ist. So ist auch der Satz Así ha sido siempre hasta ahora trotz der deiktischen Angabe hasta ahora nicht eindeutig und kann sowohl mit einer implizierten Fortsetzung der Situation als auch mit deren Beendigung verstanden werden. Der Satz He vivido aquí durante veinte años würde in Spanien, auf den Antillen, in der Andenregion und im Nordosten Argentiniens als Aussage über eine Situation bis zum Sprechaktmoment verstanden, d.h. nach dieser Interpretation würde der Sprecher jetzt nicht mehr an dem Ort wohnen, während in den übrigen spa-

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nischsprachigen Ländern eine kontinuierliche Interpretation möglich wäre. Für die letztere wäre der angebrachte Ausdruck für eine Situation, die nicht fortbesteht, ein Satz im einfachen Perfekt (Viví aquí durante muchos años). Bei nicht-deiktischem Gebrauch bezieht sich das zusammengesetzte Perfekt nicht auf den Sprechaktmoment, sondern auf ein sprachlich bezeichnetes Intervall. Dies kann ein zukünftiger Moment sein, auf den mit dem einfachen Futur oder dem Präsens in futurischer Bedeutung verwiesen wird (Bertinetto 1991: 92): (189) it. Stai tranquilo: ti tengo/terró compagnia solo fino a quando ti è passata la paura di star solo.

Um die Idee der Vorzeitigkeit auszudrücken, kann das passé composé auch auf einen hypothetischen Bezugspunkt in der Zukunft bezogen sein: (190) fr. Si vous n’avez pas trouvé demain la solution à ce problème, je vous expliquerai. (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 289)

Das zusammengesetzte Perfekt kann außerdem in untergeordneten Sätzen verwendet werden, um die Vorzeitigkeit gegenüber einem Bezugspunkt in der Vergangenheit anzuzeigen. In dem folgenden Satz hängt das zusammengesetzte Perfekt von einem anderen zusammengesetzten Perfekt ab, das seinerseits in direkter Beziehung zum Sprechaktmoment steht (Bertinetto 1991: 93): (191) it. Sono venuti quando hanno finito.

Das zusammengesetzte Perfekt kann auch in Bezug zu einem atemporalen Präsens auftreten und auf einen beliebigen virtuellen Punkt auf der Zeitachse referieren (Bertinetto 1991: 93). Im folgenden italienischen Beispiel ist dieser Punkt unbestimmt, es wird jedoch eine Wertung abgegeben, die sich auf ein unmittelbar erlebtes Verhalten bezieht und auf die Zukunft abzielt. Im französischen Satz markiert die Perfektform a déjeuné die Vorzeitigkeit gegenüber dem Präsens fait la sieste, da dieses Präsens jedoch atemporal ist, kann der Bezug zu jedem beliebigen Zeitpunkt erfolgen, wenn man den Namen César nicht für die historische Person nimmt und die Aussage daher auf die Lebenszeit Caesars bezieht: (192) it. Una persona che ha studiato non deve comportarsi cosí. (193) fr. Quand il a déjeuné, César fait la sieste.

Wenn das zusammengesetzte Perfekt Handlungen ausdrückt, die habituell vollzogen werden, gewinnt es einen Teil des deiktischen Charakters durch das habituelle Präsens zurück, auf das es sich bezieht. Der Bezugspunkt ist

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dabei jedoch nicht der Sprechaktmoment, was bei einem wirklichen deiktischen zusammengesetzten Perfekt der Fall wäre (Bertinetto 1991: 94): (194) it. Tutte le volte che lo incontro, lui mi parla dell’ultimo libro che ha letto. (195) sp. Cada vez que hemos denunciado a esa mafia nos han llovido amenazas de muerte. (País 1.4.1984)

In generischen Konstruktionen ist das zusammengesetzte Perfekt in Konditionalsätzen mit dem Präsens austauschbar (RAE 2009: 1724): (196) sp. Un profesor universitario se puede jubilar en algunos países si ha cumplido / cumple los sesenta años.

In bestimmten Kontexten ist auch eine gnomische Verwendung des zusammengesetzten Perfekts möglich, mit der eine allgemeine, über den Sprechaktmoment hinausreichende Aussage getroffen wird: (197) fr. Hélas ! On voit de tous temps/ Les petits ont pâti des sottises des grands. (La Fontaine)

Das zusammengesetzte Perfekt kann allgemeingültige Wahrheiten ausdrücken, weil man Erfahrungen aus der Vergangenheit auf die Zukunft übertragen kann. Das zusammengesetzte Perfekt kann sich schließlich auch auf die Zukunft beziehen, ohne dass eine Subordination bezüglich einer anderen Proposition vorhanden sein müsste (Bertinetto 1991: 94). Die Zukünftigkeit wird in den folgenden Sätzen adverbial ausgedrückt: (198) fr. J’ai fini dans CINQ MINUTES. (199) it. PRIMA DI SERA siamo arrivati. (200) it. DOMANI ho finito.

Das zusammengesetzte Perfekt eines telischen Verbs stellt mit einem eine konkrete Zeitdauer bezeichnenden Adverbial eine Handlung als unvermeidbar und bald folgend dar (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 302). Nach Bertinetto (1991: 94) lässt sich dieser Gebrauch des zusammengesetzten Perfekts weniger mit einer direkten deiktischen Bezugnahme erklären als vielmehr mit einer Art temporaler Metapher, durch die eine zukünftige Handlung als bereits abgeschlossen dargestellt wird. Deutlich wird das auch in dem folgenden Satz, in dem der bevorstehende Abschluss einer Arbeit angekündigt wird, indem sie bereits als fertig dargestellt wird: (201) it. Ho finito, ho finito, abbi un po’ di pazienza!

In ähnlicher antizipierender Funktion kann im Spanischen das einfache Perfekt in der gesprochenen Sprache verwendet werden (RAE 2009: 1738). Die eigentlich eine abgeschlossene Handlung ganzheitlich darstellende Verbform wird in den folgenden Sätzen für eine auf die nahe Zu-

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kunft gerichtete Aufforderung (nos fuimos) bzw. auf das bevorstehende Sterben des Sprechers bezogen: (202) sp. Ya está, nos fuimos! – dijo el viejo. Los dos entraron al cuarto de don Juan. (Montenegro, E., Ventura) (203) sp. Trataron de curarlo pero ni el salvarsán podía salvarlo. “Me morí”, dijo él sencillamente […]. (Cabrera Infante, Habana)

Dass die antizipierende Funktion mit Blick auf unmittelbar bevorstehende Situationen im Französischen und Norditalienischen nicht von dem einfachen, sondern vom zusammengesetzten Perfekt übernommen wird, hängt mit dem Verschwinden des einfachen Tempus in der gesprochenen Sprache zusammen. Im Französischen wird das zusammengesetzte Perfekt ebenso wie im Italienischen jedoch häufig für Situationen in der Vergangenheit verwendet, die nicht auf den Sprechaktmoment bezogen sind. Der Bezugsmoment ist in diesen Fällen vor dem Sprechaktmoment und das zusammengesetzte Perfekt steht in denselben Oppositionsbeziehungen zum Imperfekt wie das einfache Perfekt, das es in der gesprochenen Sprache bereits weitgehend ersetzt hat. Das einfache Perfekt ist in der Lage, selbst eine temporale Bezugsebene zu schaffen, ohne sich auf explizite Zeitangaben stützen zu müssen. In einer Erzählung dient die lineare Abfolge einfacher Perfektformen der Markierung der chronologischen Folge von erzählten Fakten, auch ohne die Hilfe von temporalen Indikatoren (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 302– 304): (204) fr. La nuit était close. Je rangeai mes papiers. Je ne dînai point ; je sortis ; vers huit heures j’entrai chez Angèle. (Gide) (205) pt. A Maria entrou no gabinete, cumprimentou os colegas e sentou-se à secretária.

Im Spanischen ist das einfache Perfekt die reguläre Verbform zur Darstellung einer Handlungsfolge, die sie auf ikonische Weise repräsentiert (RAE 2009: 1737): (206) sp. Miró después a un lado y a otro. Se colocó junto a ellos, observó sus maletas, se quitó el sombrero y dijo […]. (Chacón, Voz)

Die Aufeinanderfolge mit dem einfachen Perfekt bezeichneter Handlungen kann eine kausale Beziehung zwischen diesen suggerieren (se cayó y se rompió la cadera). Der ikonische Effekt solcher Abfolgen hat auch eine gewisse diskursive Wirkung und wird gewöhnlich verwendet, um Erzählungen lebendig zu gestalten und sie voranzutreiben (RAE 2009: 1737).

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Das zusammengesetzte Perfekt ist inzwischen im Französischen das Tempus zur Darstellung von Ereignissen und ihrer Abfolge im Vordergrund von Erzählungen geworden (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 302–303): (207) fr. Mlle Daisy a vu un rhinocéros unicorne. (208) fr. Je n’étais pas seul quand j’ai vu le rhinocéros unicorne.

Dennoch sind die beiden Tempora auch im Französischen nicht vollständig austauschbar, denn mit dem zusammengesetzten Perfekt wird das Ereignis nicht vollständig von der Gegenwart getrennt. Es wird vom Sprecher ausgehend vom Sprechaktmoment mit einer gewissen „psychologischen Nähe“ (proximité psychologique; Imbs 1960: 97) betrachtet. Im Portugiesischen weist das zusammengesetzte Perfekt Besonderheiten in seiner Bildung und im Gebrauch auf. Es wird mit dem Hilfsverb ter gebildet (tenho cantado) und bezeichnet eindeutig Vorzeitigkeit, jedoch vor allem die Dauer einer in der Vergangenheit begonnenen Situation, die bis zum Sprechaktmoment anhält, wodurch auch eine iterative Lesart erreicht werden kann, die mitunter durch Adverbiale noch unterstützt wird (Oliveira 2004: 159): (209) pt. O Rui tem visitado a avó. (210) pt. O Rui tem ganho a maratona todos os anos.

Diese iterative Lesart geht verloren, wenn ein anderer Bezugspunkt als der Sprechaktmoment eingeführt wird: (211) pt. Quando a Rita chegar a casa da avó, já o Rui tem lido o jornal.

Das Gemeinsame bei allen Verwendungen des zusammengesetzten Präsens im Portugiesischen scheint die Markierung eines unbestimmten Beginns einer Situation vor dem Sprechaktmoment zu sein, wobei ein Fortdauern möglich ist. Wenn der Referenzpunkt nicht der Sprechaktmoment ist, besteht keine Möglichkeit der Kontinuität nach diesem Punkt. Die iterative Bedeutung scheint mit der Vagheit der Dauer zusammenzuhängen, die das zusammengesetzte Perfekt darstellt. Wenn Situationen, die eine Kulmination einschließen, diese nicht erreichen, kann durch Wiederholung ein neues Stadium erreicht werden. Im Fall von Prozessen erscheint das zusammengesetzte Perfekt ohne die Unterstützung quantifizierender Ausdrücke nur dann möglich, wenn es sich um teilbare Ereignisse handelt und wenn Grenzen eingeführt werden. So wäre der letztgenannte portugiesische Satz bei einer Aufhebung der Grenze, die durch den Aktanten o jornal (‛die bestimmte Zeitung’) gesetzt ist, nicht akzeptabel (Oliveira 2004: 160): (212) pt. Quando a Rita chegar a casa da avó, já o Rui tem lido o jornal *todos os dias.

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Bei Zuständen erscheint die iterative Lesart nicht natürlich, wenn es sich um nicht abgegrenzte und nicht durch Vollständigkeit oder Beendigung gekennzeichnete Situationen handelt. Es können jedoch Situationsbeschreibungen im zusammengesetzten Perfekt vorgenommen werden, wenn es sich um Phasen (z.B. estar doente)handelt. In diesem Fall bewirken Adverbien die Iterativität; sie sind jedoch mit allgemeinen Eigenschaftszuschreibungen (ser alto) nicht kompatibel: (213) pt. Ele tem estado doente todas as semanas. (214) pt. *Ele tem sido alto todas as semanas.

Das einfache Perfekt bezeichnet einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Prozess ohne Beziehungen zum Sprechaktmoment, der nicht aktualisierbar ist. Mit diesem Tempus stellt man einen Prozess als klar abgegrenzt und auf seinen Endpunkt hin orientiert dar. Solche Verwendungen des einfachen Perfekts liegen bei telischen Verben besonders nahe: llegaron, murió, leí la novela, visitaste al médico. Die zeitlich abgrenzende Bedeutung des einfachen Perfekts ist jedoch auch mit atelischen Verben möglich, deren äußere Begrenzung durch Adverbiale oder durch Objekte vorgenommen werden kann: (215) fr. Alors, PENDANT UNE HEURE, le chien hurla sans bouger. (216) sp. El cuadro estuvo HASTA HACE SOLO DIEZ AÑOS en manos de los descendientes de Berthe Morisot. (Clarín 6.11.2000) (217) sp. La venerable madre Teresa Gallifa Palmarola vivió en Barcelona DURANTE LA SEGUNDA MITAD DEL SIGLO XIX. (Roncaglolo, Jet Lag) (218) pt. A Maria escreveu UMA CARTA.

Die Länge des Abstands dieses Endpunkts vom Sprechaktmoment ist für die Wahl des einfachen Perfekts nicht ausschlaggebend: (219) fr. APRES SON ACCIDENT, Coupeau se mit à boire. (220) it. Venendo qui, vidi Gennaro che andava alla stazione: sarà stato MINUTI FA.

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(221) sp. Escribió versos durante TODA SU VIDA.

Wie das letztgenannte spanische Beispiel (221) zeigt, widerspricht die ganzheitliche Sicht des einfachen Perfekts nicht der Tatsache, dass es mit Adverbialen verbindbar ist, die eine Dauer bezeichnen. Ebenso kommt es mit durativen Verben vor, denen es durch seine aspektuelle Qualität Grenzen auferlegt, die ihrer Durativität nicht widersprechen. So kann es zum Beispiel den Beginn einer Situation kennzeichnen (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 304):

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(222) fr. Elle aima les romans de Walter Scott. (223) sp. Escribió la carta a las ocho.

In den vorangehenden beiden Sätzen fokussiert das einfache Perfekt den Beginn einer Situation mehr als diese Situation selbst. In dieser inchoativen Bedeutung ist das einfache Perfekt auf semelfaktive Handlungen spezialisiert, während das Imperfekt auch mit einer inchoativen Interpretation kompatibel ist, diese jedoch mit dem Merkmal der Iterativität verbunden ist (RAE 2009: 1738). In dem folgenden spanischen Satz wird eine Handlungsfolge erzählt, die sich jeden Abend vollzogen hat: (224) sp. A las diez y media, completamente agotado, entraba en su casa y leía el periódico.

Das einfache Perfekt kann auch mit Frequenzangaben auftreten, die eine Situation nicht lokalisieren, sondern die Häufigkeit, mit der sie in einem bestimmten Intervall auftritt, benennen (RAE 2009: 1738). Die Rolle des einfachen Perfekts ist in solchen Äußerungen die Abgrenzung des Intervalls: (225) sp. Revivió CON FRECUENCIA la escena del columpio. (Landero, Juegos)

Das einfache Perfekt ist ein Tempus, das sich aufgrund seiner Aspektualität vor allem für das Erzählen von Ereignissen eignet. Es gibt Prozesse kompakt und ganzheitlich wieder und liefert davon eine globale, undifferenzierte und nicht nach Abschnitten gegliederte Sicht (Martin 1971: 70). Im folgenden Satz wird die Eroberung Italiens als Ganzheit dargestellt, es gibt kein Ereignis, das dazwischenkommen könnte, und der Eroberungsprozess wird nicht im Verlauf betrachtet: (226) fr. César conquit la Gaule au Ier siècle avant Jésus-Christ. (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 303)

Dies unterscheidet das einfache Perfekt nicht nur vom Imperfekt, sondern auch vom zusammengesetzten Perfekt, das beim Vorhandensein beider Tempora eher die statische Beschreibung einer Szene übernimmt (Bertinetto 1991: 95). Das einfache Perfekt hat außerdem eine strikt deiktische Qualität. Wenn eine Situation mit dem einfachen Perfekt bezeichnet wird, besteht immer eine Beziehung der Anteriorität in Bezug auf den Sprechaktmoment. Diese Eigenschaft unterscheidet das einfache Perfekt vom zusammengesetzten, das auch futurischen Gebrauch für Situationen vor einem Bezugsmoment erlaubt, der sich nach dem Sprechakt befindet (Bertinetto 1991: 96): (227) it. Ti raggiungerò quando ho finito / *finii.

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Während also ein mit dem zusammengesetzten Perfekt bezeichneter Prozess unter bestimmten Bedingungen an beliebigen Punkten der Zeitachse verortet sein kann, gehen die mit dem einfachen Perfekt bezeichneten Prozesse immer dem Sprechaktmoment voraus. Dies bedingt auch, dass bestimmte enttemporalisierte Verwendungsweisen, die für das zusammengesetzte Perfekt möglich sind, für das einfache Perfekt ausgeschlossen sind. Im folgenden Satz (228) bringt die einfache Perfektform eine determinierte Interpretation mit sich, während bei der zusammengesetzten die indeterminierte Bedeutung überwiegt. Die Lesart von una madre mit dem Verb im zusammengesetzten Perfekt wäre ‛irgendeine Frau in einer nicht spezifizierten Zeit’, mit dem einfachen Perfekt wäre es eine identifizierbare Frau (Bertinetto 1991: 96): (228) it. Per consolarmi, cercai di pensare ad una madre che ha perso / perse il proprio figlio.

Mit dem einfachen Perfekt kann auch die Gegenwart nicht eingeschlossen werden, sondern die bezeichnete Situation ist immer vollkommen abgeschlossen. Das einfache Perfekt ebenso zum Ausdruck einer Situation vor einem Bezugspunkt in der Vergangenheit dienen und somit die Funktion des Plusquamperfekts übernehmen (Bertinetto 1991: 97): (229) it. Ritornando dal viaggio che feci / avevo fatto, trovai una montagna di posta. (230) pt. Quando a Maria voltar da viagem daqui a um mês, já Rui concluiu o curso há uma semana.

Derartige Verwendungen des einfachen Perfekts beruhen auf pragmatischen Informationen und hängen nicht von den temporalen Bezügen ab, die durch das Tempus selbst hergestellt werden können. Wie bereits dargestellt, hat das einfache Perfekt keinen Bezugspunkt. Im Altitalienischen waren solche Verwendungen jedoch sehr häufig, wofür Bertinetto (1991: 97) die folgenden Beispiele anführt: (231) it. Rimontò per la via onde discese. (Dante, Divina Commedia, Inferno, XIX, 126) (232) it. Perché, pensando, consumai la ’mpresa / che fu nel cominciar cotanto tosta. (Dante, Divina Commedia, Inferno, II, 41–42)

Im literarischen und archaisierenden Gebrauch kann das einfache Perfekt auch gnomisch, d.h. zur Formulierung allgemeiner Wahrheiten verwendet werden (Bertinetto 1991: 98). In der Regel wird dabei durch den Kontext, vor allem durch adverbiale Bestimmungen, die zeitlich allgemeine und tendenziell unbegrenzte Geltung der Aussage verdeutlicht: (233) it. Il motto degli antichi mai non mentì. (G. Verga, I Malavoglia) (234) it. Spesso i figli scontarono le colpe dei padri.

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Die meisten atelische Zustände benennenden Prädikate widersetzen sich jedoch dem einfachen Perfekt aufgrund dessen aspektueller Qualität. Diese Inkompatibilität ergibt sich als natürliche Konsequenz aus der Tatsache, dass sie stabile Eigenschaften von Personen oder Sachen ausdrücken, die über keine externen Grenzen verfügen. Da die Situationen in diesen Fällen weder in gesetzten temporalen Grenzen verlaufen noch in einem bestimmten Intervall, führt die Kombination mit dem einfachen Perfekt zu nicht interpretierbaren Sätzen, wie dem folgenden (RAE 2009: 1739): (235) sp. Carlos V *descendió de los Habsburgo.

Demgegenüber erlegt das Imperfekt der Interpretation der Situation keine Grenzen auf: (236) sp. Carlos V descendía de los Habsburgo.

Es gibt verschiedene sprachliche Mittel, die eine für den Gebrauch perfektiver Verbformen erforderliche Begrenzung einführen können (RAE 2009: 1739). Zustandsverben können zum Beispiel inchoative Bedeutung annehmen, wie das Verb saber, das in solchen Sätzen ‛erfahren’ und nicht ‛wissen’ bedeutet, oder conocer, das mit einer Begrenzung als ‛kennen lernen’ und nicht als ‛kennen’ interpretiert wird: (237) sp. Recién en la adolescencia supo la verdad. (238) sp. La conoció en Madrid.

Zustandsbeschreibungen können vorübergehenden Charakter haben; auf diese Weise sind selbst Beschreibungen von Gebäuden mit dem einfachen Perfekt akzeptabel (RAE 2009: 1740): (239) sp. La ventana principal del salón dio al mar. (240) sp. Las murallas rodearon la ciudad.

Als Grenze, die für die Anwendbarkeit des einfachen Perfekts notwendig ist, kommt auch die existenzielle Begrenzung des Lebens von Menschen Tieren oder Pflanzen in Betracht (RAE 2009: 1740): (241) sp. Fue amigo de Lorca, Falla, Ortega y Gasset y Andrés Segovia, entre otros. (Vanguardia 2.6.1995)

Deutlich wird die Unterscheidung im generischen Gebrauch des einfachen und des zusammengesetzten Perfekts im folgenden Satz (RAE 2009: 1742): (242) sp. El departamento de salud aconseja a cualquiera que estuvo en riesgo de contagio y no ha sido vacunado […] buscar un tratamiento preventivo lo más pronto posible (Tribuna [USA] 10.5.2008).

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Typischerweise führt das einfache Perfekt Handlungen, Prozesse oder Zustände ein, die Personen oder bestimmten Sachen in der Vergangenheit zugeschrieben werden. In vielen spanischsprachigen Ländern sind jedoch auch unspezifizierte und indeterminierte Nominalgruppen (cualquiera) mit diesem Tempus kompatibel. Der Gebrauch des pretérito perfecto simple in generischen Sätzen spielt nicht notwendigerweise auf ein bestimmtes Ereignis vor dem Sprechaktmoment an, sondern auf einen beliebigen Moment in der Vergangenheit. Fortgesetzt wird der Satz jedoch mit einer Form des pretérito perfecto compuesto (no ha sido vacunado), da der Zustand des ‛nicht geimpft Seins’ unmittelbare Auswirkungen für die Gegenwart und Zukunft hat. Im Katalanischen gibt es sogar drei perfektive Verbformen der Vergangenheit, wobei das einfache Perfekt (pretèrit perfet simple) auf die gehobene Schriftsprache und das valencianische Sprachgebiet eingeschränkt ist (Brumme 1997: 190): (243) kat. I digué Déu: sia llum, i la llum fou. (244) kat. Miró morí el 1983.

Die periphrastische Vergangenheit (pretèrit perfet perifràstic, passat perifràstic) ist mit dem einfachen Perfekt funktionsgleich und wird durchgehend in der Umgangssprache und sehr häufig auch in der Schriftsprache verwendet. Wie dieses bezeichnet es eine in der Vergangenheit abgeschlossene Situation, die nicht bis an die Gegenwart heranreicht: (245) kat. L’any passat vam visitar el museu Picasso. (246) kat. Quan era jove vaig passar un any a Barcelona.

Eine Reihe spezieller Bedeutungen, die wir für das einfache Perfekt im Französischen, Italienischen und Spanischen festgestellt haben, kommt auch beim periphrastischen Perfekt des Katalanischen vor. So bezeichnet es mit operativen Verben den Beginn einer Handlung: (247) kat. Es van conèixer a l’escola. ‛Sie lernten sich in der Schule kennen’

Der periphrastische Ausdruck der Vergangenheit erfolgt im Katalanischen mit dem Auxiliar anar ‛gehen’, dessen Entsprechungen in anderen romanischen Sprachen zur Bildung des periphrastischen Futurs verwendet werden (vgl. ‛ich werde besuchen’: frz. je vais visiter, port. vou visitar, span. voy a visitar). Daneben gibt es im Katalanischen eine weitere zusammengesetzte Perfektform (Pretèrit perfet compost oder Pretèrit indefinit), die mit Hilfe des Auxiliars aver gebildet wird und die in ihren Funktionen dem zusammengesetzten Perfekt in anderen romanischen Sprachen entspricht. Sie bezeichnet Handlungen und Vorgänge der unmittelbaren Vergangenheit, die

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einen Bezug zum Sprechaktmoment haben. So kann das zusammengesetzte Perfekt Handlungen und Vorgänge bezeichnen, die sich in einem noch andauernden Zeitraum ereignet haben (Brumme 1997: 189): (248) kat. AQUEST MATÍ ha nevat. (249) kat. EL NOSTRE SEGLE ha vist l’ensorrament del comunisme.

Dabei ist es unerheblich, ob es sich um einen kürzeren (aquest matí ‛heute morgen’) oder längeren Zeitraum (el nostre segle ‛unser Jahrhundert’) handelt. Auf eine erweiterte Gegenwart deuten deiktische Adverbien der zeitlichen Nähe hin. Mit dem zusammengesetzten Perfekt werden auch abgeschlossene Situationen bezeichnet, die kurz vor dem Sprechaktmoment abgeschlossen wurden oder in ihren Ergebnissen noch sichtbar sind (Brumme 1997: 190): (250) kat. Hemb arribat fa un quart. (251) kat. No puc jugar; m’he fet malbé el genoll.

Schließlich kann das zusammengesetzte Perfekt auch als relatives Tempus gebraucht werden und sich auf einen anderen Bezugsmoment als den Sprechaktmoment beziehen: (252) kat. Si demà encara no ha vingut és que està malalt. (Brumme 1997: 190)

Sowohl das zusammengesetzte als auch das periphrastische Perfekt können in den gleichen Kontexten verwendet werden und ohne weitere stützende Mittel semantische Unterschiede bewirken. Das zusammengesetzte Perfekt drückt aus, dass die Folgen eines Ereignisses in der Gegenwart spürbar sind, während bei Verwendung des periphrastischen Perfekts keine Folgen mehr vorhanden sind (vgl. Brumme 1997: 191): (253) kat. El seu discurs ha causat un gran impacte en l’auditori. (‘Seine Rede hat großen Eindruck auf die Zuhörer gemacht [der bis heute nachwirkt]’) (254) kat. El seu discurs va causar un gran impacte en l’auditori. (‘Seine Rede machte großen Eindruck auf die Zuhörer [der heute nicht mehr spürbar ist]’)

Außerdem wird durch das zusammengesetzte Perfekt ein subjektiver oder affektiver Bezug hergestellt, während das periphrastische Perfekt eher bei objektiver Berichterstattung auftritt: (255) kat. El meu amic i jo ens hem conegut a la guerra. (Mein [sehr guter] Freund und ich haben uns im Krieg kennengelernt) (256) kat. El meu amic i jo ens vam conèixer a la guerra. (Mein Freund und ich lernten uns im Krieg kennen. [objektiver Bericht])

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Eine funktionale Unterscheidung zwischen dem einfachen und dem zusammengesetzten Perfekt ist in Sprachen, in denen das einfache Perfekt auf bestimmte Formen des schriftlichen Gebrauchs beschränkt ist, im Schwinden begriffen. Das zusammengesetzte Perfekt übernimmt dort auch die ursprünglich dem einfachen Perfekt innewohnenden Funktionen und erfüllt sie gegebenenfalls im Zusammenwirken mit adverbialen und pragmatischen Mitteln. Dennoch nimmt zum Beispiel Bertinetto (1991: 99) eine solche Unterscheidung vor und schreibt dem zusammengesetzten Perfekt folgende Merkmale zu: - Das zusammengesetzte Perfekt drückt das aspektuelle Merkmal der Abgeschlossenheit aus, die bezeichnete Situation wird jedoch psychologisch als aktuell in ihren fortdauernden Auswirkungen betrachtet. - Der zeitliche Bezugspunkt des zusammengesetzten Perfekts ist nicht notwendigerweise deiktisch. Es kann sich auf ein Zeitintervall in der Vergangenheit oder der Zukunft beziehen, das normalerweise durch einen übergeordneten Satz vorgegeben wird. - Der Abschluss des bezeichneten Prozesses ist unbestimmt, was insbesondere in Äußerungen mit den Sprechaktmoment inkludierender Bedeutung festzustellen ist. Im Gegensatz dazu ist das einfache Perfekt nach Bertinetto (1991: 99) durch folgende Merkmale charakterisiert: - Der bezeichnete Prozess ist vor dem Sprechaktmoment abgeschlossen. - Die temporale Bedeutung ist deiktisch, d.h. auf den Sprechaktmoment bezogen. - Das einfache Perfekt drückt einen spezifischen temporalen Bezug aus; Interpretationen als habituell oder generisch sind daher ausgeschlossen. Weitere Unterschiede zwischen dem einfachen und dem zusammengesetzten Perfekt bestehen in der Kompatibilität mit bestimmten Adverbialen. Deiktisch auf den Sprechaktmoment bezogene Adverbiale, wie it. adesso, attualmente, in questo momento, finora, schließen das einfache Perfekt aus (Bertinetto 1991: 100): (257) it. Adesso finalmente ho appagato / *appagai ogni mio desiderio.

Eine Reihe von Adverbien (z.B. già, finalmente, spesso, sempre, fino a) ändert ihre Bedeutung je nachdem, ob sie mit dem einfachen oder dem zusammengesetzten Perfekt verwendet werden: (258) it. Giovanni ha già fatto parte di quella squadra. (‘schon mindestens einmal vor heute’) (259) it. Giovanni fece già parte di quella squadra. (‘schon zu einem früheren Moment’)

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Eine Unterscheidung zwischen dem einfachen und dem zusammengesetzten Perfekt ist im Französischen und im Norditalienischen eher im Hinblick auf die Zuordnung zu unterschiedlichen Äußerungssystemen sinnvoll. 2.3.5. Das Futur und der Ausdruck von Zukünftigkeit Nach dem Verlust des synthetischen Futurs wurde das romanische Futur durch Verschmelzen des Infinitivs mit den Formen des Verbs habere gebildet. Zunächst hatten diese Formen modale Bedeutung und bezeichneten eine Verpflichtung, wie noch in dem folgenden spanischen Beispiel aus dem 16. Jahrhundert erkennbar ist: (260) sp. Avisarle has que ando en su busca. (‛Du musst ihm mitteilen, dass ich ihn suchen gehe’. Rodríguez Florián, Florinea (1554). RAE 2009: 1768)

Die obligative Bedeutung ging früh zugunsten der temporalen verloren. Es gibt jedoch eine Reihe von Brückenkontexten, in denen sowohl die temporale als auch die modale Bedeutung nachweisbar sind. In einigen dieser Kontexte kommen im mittelalterlichen Spanisch enklitische Pronomen vor, die den Infinitiv vom nachgestellten Hilfsverb trennen (RAE 2009: 1768): (261) sp. E dezirte he que nunca rey fue en España que corona se pusiese en la cabeça en cuanto sus enemigos que no havía duda que no fuese bueno, e con todo esto no duravan mucho en ella (‘und ich werde/muss dir sagen […]. (Corral, Don Rodrigo, 1443) (262) sp. Et fazervos he algunos enxiemplos por que los entendedes mejor. (‘Und ich werde/muss euch einige Beispiele zeigen, damit ihr es besser versteht’. Juan Manuel, Lucanor, 1330-1335)

Obwohl dieser analytische Gebrauch der Futurformen mit eingeschobenem Pronomen im klassischen Spanisch bereits weitgehend überwunden war, gibt es noch einige Fälle, die einer archaisierenden Absicht entsprechen, wie das folgende Beispiel aus Cervantes: (263) sp. […] y si se fuere tal cual a mi fe se le debe, acabarse ha mi sandez y mi penitencia. (Cervantes, Quijote I. RAE 2009: 1768)

Im Portugiesischen hat sich diese Zwischenstellung des unbetonten Pronomens zwischen dem Verb und dem Futurmorphem bis heute erhalten (pô-lo-ei ‛ ich werde es legen’). Wie bereits dargestellt, wird in der gesprochenen Sprache Zukünftigkeit häufig durch das Präsens mit oder ohne adverbiale Bestimmungen

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ausgedrückt. Die Formen des einfachen Futurs werden ihrerseits für epistemische Modalität verwendet und schließen in dieser Funktion Zukünftigkeit aus. Diese Funktion tendiert im Deutschen sogar zur Prototypizität, insofern sie ohne weitere Kontextelemente beim Auftreten von einfachen und zusammengesetzten Futurformen als erste zugeordnet wird: (264) dt. Es geht niemand ans Telefon. Jana wird noch schlafen. (265) dt. Es geht niemand ans Telefon. Die Meiers werden verreist sein.

Auch in romanischen Sprachen sind solche epistemisch-modalen Verwendungen des einfachen und zusammengesetzten Futurs sehr häufig: (266) fr. J’ai trouvé ce beau livre sur le bureau : ce sera le cadeau d’une admiratrice. (267) fr. Elle revient déjà : elle aura manqué son train.

Das zusammengesetzte Futur entspricht dabei temporal dem zusammengesetzten Perfekt (elle a manqué son train) und projiziert eine wahrscheinliche Hypothese in die Zukunft. In dieser modalen Bedeutung ist das zusammengesetzte Futur häufiger als das einfache. Diese und andere modale Verwendungen von Futurformen werden im Kapitel 4 behandelt, während wir uns hier weitgehend auf die temporalen Funktionen des Futurs beschränken. Auch das einfache Futur kann deiktisch, d.h. mit Verankerung im Sprechaktmoment, und nicht-deiktisch verwendet werden. In nicht-modaler deiktischer Verwendung wird mit dem einfachen Futur auf ein Intervall nach dem Redemoment Bezug genommen. Die dargestellte Situation ist zwar nicht überprüfbar, der Sprecher drückt jedoch seine Gewissheit vom Eintreten der Situation aus. Auch völlig unwahrscheinliche Ereignisse in der Zukunft können vom Sprecher mit Gewissheit formuliert werden (Bertinetto 1991: II, 115): (268) it. Domani vincerò un terno al lotto.

Die Nachzeitigkeit gegenüber dem realen oder fiktiven Sprechaktmoment kann dabei durch das Futur allein ausgedrückt oder durch ein Adverbial unterstützt werden (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 312): (269) fr. Je partirai ! (Mallarmé) (270) fr. DEMAIN, (Hugo)

DES L’AUBE, A L’HEURE OU BLANCHIT LA CAMPAGNE,

je partirai.

Adverbiale Bestimmungen können die Distanz des zukünftigen Ereignisses zum Sprechaktmoment präzisieren: (271) fr. Je le ferai TOUT DE SUITE.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

(272) fr. DANS UN MOIS, DANS UN AN, comment souffrirons nous, /Seigneur, que tant de mers me séparent de vous. (Racine; nach Riegel, Pellat & Rioul 1994: 289)

In der gesprochenen Sprache wird in Äußerungen, in denen Adverbiale den Ausdruck der Zukunft übernehmen, in der Regel das Präsens verwendet: (273) fr. Je le fais TOUT DE SUITE.

Für das Portugiesische stellt Oliveira (2004: 158) sogar fest, dass das einfache Futur nur selten die Nachzeitigkeit in Bezug auf den Sprechaktmoment ausdrückt. Mit dem tendenziellen Verlust dieser temporalen Funktion ist das Annehmen modaler Bedeutungen verbunden. Während im ersten der folgenden Sätze (274) die Zukünftigkeit des Heiratens von Maria durch das Futur (casará) als wahrscheinlich dargestellt wird (wenn alles so läuft, wie vorgesehen), übernimmt diese Funktion in zweiten Satz (275) das Präsens (casa) zusammen mit dem Adverbial (daqui a duas semanas). Im dritten Satz (276) wird die Nachzeitigkeit gegenüber dem Sprechaktmoment durch die temporale Verbalperiphrase (ir+Infinitiv) und die adverbiale Bestimmung ausgedrückt: (274) pt. A Maria casará DAQUI A DUAS SEMANAS (se tudo correr como previsto). (275) pt. A Maria casa DAQUI A DUAS SEMANAS. (276) pt. A Maria vai casar DAQUI A DUAS SEMANAS.

Der Kontrast zwischen dem ersten und den beiden weiteren Sätzen verdeutlicht, dass das Futur verwendet wird, um die Sicherheit des Sprechers über das Stattfinden der dargestellten Handlung zu verdeutlichen. Das Präsens drückt die zukünftige Situation jedoch als mit Gewissheit eintretend aus, während das Futur sie eher als wahrscheinlich darstellt. Mit dem Futur wird keine Aussage über das tatsächliche Eintreten einer Handlung oder eines Prozesses ausgedrückt. Noch vordergründiger wird eine modale Bedeutung des Futurs im folgenden Satz, in dem eine Vermutung über eine gegenwärtige Situation geäußert wird. Der Bezug zum Sprechaktmoment wird hier unmittelbar durch die adverbiale Bestimmung neste momento hergestellt (Oliveira 2004: 158): (277) pt. NESTE MOMENTO, o ministro estará a ser recebido pelo presidente.

Auch im folgenden Satz wird mit dem Futur eine Schlussfolgerung über den gegenwärtigen Wissensstand des Gesprächspartners ausgedrückt: (278) sp. Como usted sabrá, ella hablaba de alfilerazo refiriéndose a las punzadas del mal. (Posse, Pasión; RAE 2009: 1771)

Tempora und Repräsentation von Zeit

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In Sätzen wie den letzten beiden hat das Futur seine temporale Funktion zugunsten der epistemisch-modalen verloren und bezieht sich auf eine wahrscheinliche Situation während des Sprechaktmoments. In der Nueva gramática de la lengua española wird festgestellt, dass das synthetische Futur als Ausdrucksmittel von Zukünftigkeit heute weniger frequent ist als analytische Ausdrucksmöglichkeiten, wie insbesondere die Verbalperiphrase ir+a+Infinitiv oder querer+Infinitiv und pensar+Infinitiv (RAE 2009: 1768). Obwohl insbesondere im amerikanischen Spanisch der Ersatz des einfachen Futurs durch die Periphrase ir+a+Infinitiv sehr verbreitet ist, kommt diese Verbform noch in allen Varietäten auch im mündlichen Sprachgebrauch vor: (279) sp. Mamá, esta noche saldré con Olga. (López Páez, Herlinda) (280) sp. Mucho me ayudó, le estaré siempre muy agradecida. (CREA oral, Paraguay)

Der Unterschied zwischen dem einfachen und dem periphrastischen Futur liegt im heutigen Spanischen vor allem im Register: die Verwendung des einfachen Futurs wird in einigen Kontexten als nicht natürlich und einer hohen Stilebene zugehörig empfunden (¿Cómo entraremos [höherer Stil] / vamos a entrar?). In einigen Varietäten des Spanischen drückt die Verbalperiphrase außerdem eine höhere Involviertheit des Sprechers in seine Aussage aus, d.h. die Voraussage über die zukünftige Situation kann höheren Verbindlichkeitsgrad erlangen (Algún día se arreglará / va a arreglar [höhere Verbindlichkeit]). Im Katalanischen ist das einfache Futur eine übliche Verbform, die nicht ganz so häufig durch das Präsens ersetzt wird, während in den deutschen Übersetzungen normalerweise das Präsens mit futurischer Bedeutung verwendet würde (Brumme 1997: 197): (281) kat. Demàn anirem a veure els avis. ‛Morgen gehen wir die Großeltern besuchen.’ (282) kat. Qué faràs aquestes vacances? ‛Was machst du in den Ferien?’

Der Ausdruck von Zukünftigkeit mit dem einfachen Futur kann mit vielfältigen modalen Nuancen verbunden sein und zur Realisierung verschiedener Sprechakte, z.B. Befehlen, Aufforderungen, Empfehlungen, Verboten, Versprechen, Verpflichtungen, dienen, in denen ein bestimmtes zukünftiges Verhalten des Gesprächspartners oder des Sprechers ausgedrückt wird. Die Auswahl der ersten oder der zweiten Person dient dabei im Zusammenhang mit der Verbbedeutung der näheren Kennzeichnung des Sprechakts. Versprechen und Selbstverpflichtungen werden in der ersten Person formuliert (z.B. Cumpliré mi palabra), während auf das zukünftige Handeln des Gesprächspartners gerichtete Äußerungen ein Verb in der zweiten Person oder der dritten als Höflichkeitsform beinhalten. Welcher Sprechakt realisiert wird, hängt jedoch weitgehend von der kom-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

munikativen Situation und vom Verhältnis der Gesprächspartner zueinander ab. So handelt es sich bei No matarás um ein absolutes Gebot, während mit den folgenden Sätzen Aufforderungen unterschiedlichen Verbindlichkeitsgrads formuliert werden (RAE 2009: 1769): (283) sp. Te disculparás mañana con él. (hohe Verbindlichkeit) (284) sp. Estas notas, Manolo, escritas por mí, que no estoy fuerte en ortografía, las pondrá usted en limpio (Galdós, Episodios) (geringe Verbindlichkeit)

Mit den folgenden Sätzen aus der Nueva gramática de la lengua española (RAE 2009: 1769) werden verschiedene Interpretationsmöglichkeiten des einfachen Futurs illustriert: Cumpliré mi palabra.

Versprechen

Te recuperás muy pronto.

Ermutigung

Todos moriremos algún día.

allgemeingültige Vorhersage

Te arrepentirás.

Drohung

Irás y le pedirás perdón.

Befehl

Un poco de limonada te sentará bien.

Rat

Te caerás al suelo y te harás daño.

Warnung

Me disculpará usted.

Bitte um Entschuldigung

Te esperaré durante diez minutos.

Verabredung

No te lo tendré en cuenta.

Entschuldigung

El acusado cumplirá diez años de prisión mayor.

Verurteilung

Alle genannten Sätze bringen Voraussagen über die Zukunft zum Ausdruck, vordergründig ist mit ihnen jedoch eine weitere Bedeutung verbunden. Insofern das Futur (noch) nicht reale Situationen ausdrückt, die mit unterschiedlichen Wertungen und Verbindlichkeiten verknüpft sind, lässt es sich als ein Ausdrucksmittel verschiedener Modalitäten betrachten. Die Verbindung des Futurs mit modalen Qualitäten hat in einigen Varietäten der spanischen Sprache, zum Beispiel in Ecuador und den kolumbianischen Anden, dazu geführt, dass diese Verbform für den Imperativ verwendet wird, was teilweise auf den Einfluss des Quechua zurückgeführt wird (RAE 2009: 1777). Die kognitive Grundlage für die Verwendung des Tempus Futur anstelle des Modus Imperativ ist jedoch auch aus dem Spanischen heraus erklärbar, denn es können in allen Varietäten der spanischen Sprache Futurformen zum Ausdruck von Befehlen und Anweisungen verwendet werden. In den erwähnten Gebieten werden Futur-

Tempora und Repräsentation von Zeit

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formen mit imperativer Bedeutung häufig mit enklitischen Pronomen verwendet: (285) sp. Harasme un favorcito. (286) sp. Darasme un poco de chicha.

Das Futur wird auch zur Einleitung von Sprechakten benutzt und besitzt in dieser Funktion keine temporale, sondern nur modale Bedeutung. Es alterniert in solchen Verwendungen mit dem Präsens und teilweise auch mit dem Konditional und drückt einen leicht höheren Grad an Höflichkeit aus (RAE 2009: 1770): (287) sp. ¿{Tendrá {Tiene / Tendría} usted la amabilidad de levantarse un momento? (288) sp. Te diré {digo} que aquí llegan unas noticias terroríficas sobre el frío que hace en Europa. (Piglia, Respiración)

Ähnlich wie das einfache Perfekt für die Vergangenheit ist das Futur für die Zukunft in der Lage, chronologische Abfolgen von Prozessen darzustellen. Da wir in der Regel davon ausgehen, dass die Reihenfolge des Erzählens auch der Abfolge der beschriebenen Situationen folgt, interpretieren wir die Reihenfolge der Futurformen pragmatisch als Aufeinanderfolge der dargestellten Handlungen und Prozesse (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 313): (289) fr. J’irai par la forêt, j’irai par la montagne (Hugo)

Dies trifft selbstverständlich nur dann zu, wenn die Bedeutung der beteiligten Verben und das Weltwissen über die dargestellten Situationen dem nicht widersprechen. So besteht im folgenden Beispiel eine starke Tendenz zur Interpretation der dargestellten Handlungen als simultan verlaufend: (290) fr. Nous regardons la télévision et nous mangerons des gâteaux. (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 313)

Unter bestimmten Bedingungen, insbesondere in Satzgefügen mit temporalen Nebensätzen, können Futurformen außerdem gleichzeitig verlaufende Situationen bezeichnen: (291) fr. Tant que le soleil brillera, il y aura de la vie sur Terre.

Neben der epistemischen Modalität kann das Futur auch Konzessivität ausdrücken (Bertinetto 1991: II, 115): (292) it. Tu riuscirai anche a batterlo, non lo nego; ma lui gioca decisamente meglio.

Ähnlich wie Tempora der Vergangenheit zur Schaffung einer Distanz des Sprechers zum mitgeteilten Sachverhalt gebraucht werden, kann auch die

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Verwendung des Futurs einen psychologischen Abstand zum Sprechaktmoment schaffen und dazu dienen, eine als unangenehm empfundene Mitteilung abzuschwächen oder auch Überraschung zu signalisieren (Bertinetto 1991: II, 115). (293) fr. Je vous dirai / ferai remarquer que … (294) it. Non dirò che fossi soddisfatto, però non protestai.

Im nicht-deiktischen Gebrauch tritt das Futur mit retrospektiver und omnitemporaler Bedeutung auf (Bertinetto 1991: II, 115) In omnitemporaler Bedeutung erscheint das Futur in dem 1897 erschienenen Gedicht von Stéphane Mallarmé, dessen Aussage sich natürlich auch auf die Zukunft, darüber hinaus aber auch auf alle Zeiten bezieht: (295) fr. Un coup de dés jamais n’abolira le hasard. (Mallarmé)

In narrativen und historiographischen Texten kann das einfache Futur verwendet werden, um eine Situation vor dem Sprechaktmoment, jedoch nach einem Bezugspunkt in der Vergangenheit einzuordnen. Diesem retrospektiven Futur entspricht in deutschen Erzählungen das Präteritum des Hilfsverbs sollen (Bertinetto 1991: II, 117): (296) it. Dunque, questa degli incendi fu una buona estate […]. Più tardi, Cosimo devrà capire che quando quel problema comune non c’è più, le associazioni non sono più buone come prima, e val meglio essere un uomo solo e non un capo. (I. Calvino, Il barone rampante) ‘[…] später sollte Cosimo verstehen […]’

Im folgenden Beispiel (297) wird mit dem 16. Jahrhundert (Cinquecento) ein Bezugsintervall eingeführt, das dem 17. und 18. Jahrhundert, in dem die im einfachen Futur erzählten Ereignisse stattfinden, vorausgeht (Bertinetto 1991: II, 117). Die danach folgende Aussage über die sich anschließenden Jahrhunderte wird ausgehend von diesem Bezugsintervall als Zukunft in der Vergangenheit formuliert: (297) it. Il Cinquecento ha distinto nettamente fra la civiltà e la primitività: fra il Seicento e il Settecento gli Scrittori distingueranno ulteriormente, nel senso della stessa civiltà […] dando così maggior precisione di contorni al volto dell’Europa. (F. Chabod, Storia dell’idea d’Europa, Bari: Laterza 1961: 90)

Für das Französische findet sich in Riegel, Pellat & Rioul (1994: 313) eine leicht abwertende Zensierung des prospektiven Gebrauchs des Futurs mit einem Referenzpunkt in der Vergangenheit, insofern deren überreichlicher Gebrauch in Schulaufsätzen festgestellt wird: (298) fr. Victor Hugo naquit à Besançon en 1802. Ce fils d’un général d’Empire deviendra un des plus grands écrivains français.

Tempora und Repräsentation von Zeit

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Gleichzeitig wird jedoch festgestellt, dass solche Okkurrenzen des Futurs in der audiovisuellen Presse häufig für retrospektive Darstellungen historischer Ereignisse verwendet werden. Dieser von Riegel, Pellat & Rioul (1994: 313) futur d’anticipation genannte Gebrauch des Futurs in Vergangenheitskontexten eröffnet eine Perspektive auf die Konsequenzen vergangener Situationen. Im Spanischen ist dieser Gebrauch des Futurs weniger üblich, alle befragten Informanten gaben an, es niemals in der gesprochenen oder der geschriebenen Sprache verwendet zu haben. Diese als historisches oder narratives Futur (futuro histórico, futuro narrativo) bezeichnete Verwendung des Futurs wird verwendet, um über zurückliegende Situationen zu berichten, die ausgehend von einem Bezugspunkt in der Vergangenheit prospektiv betrachtet werden: (299) sp. Lope de Vega nos ofrecerá en su dramaturgia un gran avance histórico. (http://eljuego.free.fr/Fichas_gramatica/FG_futuro_anterior.htm#22)

Auch das zusammengesetzte Futur ist mit prospektiver Bedeutung möglich, wobei ein weiterer Bezugspunkt in der Vergangenheit eingeführt wird, vor dem die bezeichnete Situation beendet ist, der aber nachzeitig zu dem Referenzpunkt ist: (300) sp. Y se puede decir que la llegada del hombre a la luna en junio de 1969 habrá sido el primer paso de la conquista del espacio. (http://verbo.palabrita.net/ Futuro-de-indicativo.html)

Obwohl das historische Futur im Spanischen dafür verwendet werden kann, um über vergangene Ereignisse so zu sprechen, als würden sie noch bevorstehen, sind solche Verwendungen äußerst selten und werden von den Sprechern als stilistisch markiert betrachtet. Auch derartige Okkurrenzen des einfachen Futurs implizieren Nachzeitigkeit, jedoch in Bezug auf ein im Kontext gegebenes und in der Vergangenheit verankertes Zeitintervall. Gleichzeitig werden in solchen Fällen Überschneidungen zwischen der Temporalität und der Modalität deutlich. Der Sprecher fingiert mit solchen Verwendungen des einfachen Futurs eine Rückwärtsverlagerung des Sprechaktmoments. In der Regel wird das retrospektive Futur nur in der dritten Person gebraucht. Die nichtdeiktische Natur des retrospektiven Futurs wird auch durch seine Inkompatibilität mit deiktischen Adverbialen unterstrichen: sobald das Futur deiktisch verwendet wird, kann es nicht mit retrospektiver Bedeutung, sondern nur als nachzeitig gegenüber dem Sprechaktmoment interpretiert werden (Bertinetto 1991: II, 117): (301) it. Il ragazzo partì all’improvviso. Tornerà solo dopo tre anni / *fra tre anni.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

In Formulierungen allgemeiner Prinzipien kann das einfache Futur auch omnitemporal (Bertinetto 1991: II, 118) oder gnomisch auftreten: (302) it. Le buone azioni non saranno mai dimenticate.

Das zusammengesetzte Futur wird zur Lokalisierung einer Situation vor einem in der Zukunft liegenden Bezugsmoment verwendet (Bertinetto 1991: II, 118). In Bezug auf ein einfaches Futur markiert das zusammengesetzte Futur Vorzeitigkeit: (303) it. Quando avrò visto come stanno le cose, ti dirò il mio parere. (304) fr. Tu ne seras content que quand tu auras cassé cette chaise. (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 315)

Gleiches trifft zu, wenn statt des einfachen Futurs das Präsens verwendet wird: (305) sp. Cuando el jefe regrese, habremos terminado el trabajo. (RAE 2009: 1792)

Der vom zusammengesetzten Futur angegebene Ereignismoment liegt in einem Intervall nach dem Sprechaktmoment. Die Adverbiale, die das zusammengesetzte Futur – mit Ausnahme terminativer Phasenverben – modifizieren, geben Bezugsmomente an und zeigen einen Moment oder ein Intervall, in dem das Resultat des vorangegangenen Prozesses im Hinblick auf seine Aktualität bewertet wird. Mit einem Adverbial, das die Verankerung in der Zukunft leistet (z.B. au XXIIe siècle), kann das zusammengesetzte Futur auch in unabhängigen Sätzen verwendet werden: (306) fr. AU XXIIE SIECLE, les hommes auront épuisé les ressources de la Terre. (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 315)

Auch für das zusammengesetzte Futur lassen sich häufige und vielfältige modale Verwendungen feststellen, in denen Hypothesen über bestimmte Situationen mit Bezug auf den Sprechaktmoment formuliert werden: (307) it. Giovanni sarà uscito, credo.

Mit dieser Äußerung wird eine Schlussfolgerung über eine Handlung ausgedrückt, die vor dem Sprechaktmoment stattgefunden hat. Adverbiale Bestimmungen können dabei den Abschluss der Handlung unmittelbar vor oder zeitgleich zum Sprechaktmoment situieren (Bertinetto 1991: II, 123): (308) it. Luca sarà uscito poco fa, credo. (309) it. Emilio avrà già mangiato, ormai.

Der Bezugspunkt in der Vergangenheit kann jedoch durch adverbiale Mittel noch weiter zurückversetzt werden, sodass das zusammengesetzte

Tempora und Repräsentation von Zeit

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Futur in seinem retrospektiven Charakter unterstrichen wird (Bertinetto 1991: II, 124): (310) it. Prima di lunedì scorso sarà sceso sì e no due volte dal letto; era ancora troppo debole.

Wenn auch weniger häufig als das einfache Futur, so kann auch das zusammengesetzte Futur in retrospektiver Bedeutung verwendet werden. Insbesondere in der Darstellung historischer Ereignisse und der Rekonstruktion ihres Ablaufs kommen Formen des zusammengesetzten Futurs vor. Im folgenden Beispiel dient dieses Tempus der zeitlichen Einordnung vor der durch ihren Bezug auf eine ganze Generation vagen Zeitangabe prima di morire ‛vor ihrem Tod’. Die Gesamtheit der komplexen temporalen Relationen wird auf den Punkt der Verankerung sul finire del secolo scorso ‛Ende des letzten Jahrhunderts’ bezogen und von daher als Zukunft in der Vergangenheit entwickelt. Die folgende Darstellung ist an Bertinetto (1991: II, 125) angelehnt: (311) it. Questa era dunque la situazione dei nostri montanari SUL FINIRE DEL SECOLO SCORSO. Ma in breve tempo, anche gli ultimi rappresentanti di quella generazione saranno dispersi: gente felice, che tuttavia PRIMA DI MORIRE avrà ancora assistito con sgomento al diffondersi dell’industrializzazione.

temporale Verankerung

Ereigniszeit

sul finire del secolo scorso

assistere al diffondersi dell’industrializzazione

Referenzzeit

Sprechaktzeit

prima di morire

Da sowohl das retrospektive als auch das epistemische Futur vergangene Handlungen bezeichnen, ist ihre Unterscheidung mitunter nicht möglich; literarische und historische Kontexte legen allerdings eher eine retrospektive Lesart nahe. Im Unterschied zum einfachen Futur wird das zusammengesetzte nicht im eigentlichen Sinne deiktisch verwendet, sondern es hängt immer von einem Referenzmoment ab. Ob die bezeichnete Situation nach dem Sprechaktmoment lokalisiert wird, hängt von Kontextelementen ab, die jedoch im engeren sprachlichen Kontext nicht immer eine vollständige Disambiguierung bewirken. So lässt das folgende Beispiel eine epistemische und eine nicht-epistemische, Nachzeitigkeit bezeichnende Lesart zu (Bertinetto 1991: II, 125–126): (312) it. Due pacchi di solfini avran ridotto la villa Cinquanta a villa zero. (C. Cantù, Portafoglio di un operato)

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Durch den folgenden Kontext wird die nicht-epistemische, auf die Zukunft bezogene Lesart ausgewählt: (313) it. Oh domani la vedremo con questo avvoltoio!

Für den Ausdruck der Zukunft in der Vergangenheit gibt es neben dem zusammengesetzten Futur und seinen komplexen Relationen auch weitere sprachliche Mittel, wie zum Beispiel den zusammengesetzten Konditional (314) oder das Imperfekt (315): (314) it. Le ha promesso che sarebbe tornato. (315) it. Mi ha giurato che partiva il giorno dopo.

Während der Konditional, der griechisch-lateinischen Grammatiktradition folgend, in Grammatiken häufig als Modus beschrieben wird, erscheint seine Einordnung als Ausdrucksmittel der Temporalität ebenfalls gerechtfertigt. Nicht alle Verwendungen des Konditionals hängen von einer expliziten oder impliziten Bedingung ab. Außerdem weist der Konditional einige funktionale Gemeinsamkeiten mit dem Futur auf. Dies betrifft nicht nur das zum Futur parallele Vorhandensein einer einfachen und einer zusammengesetzten Form (z.B. fr. il chanterait; il aurait chanté), sondern auch seine Verwendung mit temporalen und modalen Funktionen. Die Nueva gramática de la lengua española (RAE 2009: 1778) rechtfertigt die Betrachtung des Konditionals als Tempus mit seiner Distribution: der Konditional erscheint in syntaktischen Umgebungen, in denen der Indikativ ausgewählt wird (Prometió que iría) und er wird in Umgebungen ausgeschlossen, die den Subjunktiv fordern (Deseamos que *irían / fueran). Der Konditional hat jedoch auch eine prospektive Orientierung, was dazu führt, dass er nicht nur auf den Sprechaktmoment bezogene Situationen bezeichnen kann, sondern auch nicht-faktische Inhalte, die von hypothetischen Situationen abhängen. Der Wahrheitswert im Konditional formulierter Sätze kann aufgrund der Abhängigkeit von anderen Sätzen sogar höher sein als der von Sätzen mit dem einfachen Futur. Dies lässt sich an den folgenden beiden Beispielsätzen illustrieren (vgl. RAE 2009: 1778): (316) sp. En 2020 cumplirá 60 años. (317) sp. En 2020 cumpliría 60 años.

Der Satz (316) mit der Futurform wäre wahr, wenn das Jahr, in dem die betreffende Person geboren wurde, 1960 wäre. Der Sprecher drückt außerdem eine gewisse Überzeugung davon aus, dass die Situation des Vollendens der 60 Jahre eintreten wird. Die Verwendung des Konditionals im

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Tempora und Repräsentation von Zeit

zweiten Satz impliziert hingegen bestimmte Bedingungen, die das Eintreten der Situation fraglich machen könnten, zum Beispiel dass die Person im Sprechaktmoment nicht mehr lebt. Der Konditional kann Nachzeitigkeit in Bezug auf einen Moment der Vergangenheit ausdrücken, ebenso wie das Futur Nachzeitigkeit in Bezug auf den Sprechaktmoment ausdrückt (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 316; RAE 2009: 1778). Insofern sind die folgenden beiden Sätze parallel konstruiert und im zweiten Satz findet eine Verschiebung des Bezugsmoments in die Vergangenheit statt: (318) fr. Virginie PENSE que Paul viendra. Präsens

Futur

Referenzpunkt: Sprechaktmoment (319) fr. Virginie PENSAIT que Paul vendrait. Imperfekt

Konditional

Referenzpunkt: Intervall in der Vergangenheit

Die mit dem Konditional ausgedrückte Situation wird dabei nicht in Bezug zum Sprechaktmoment gesetzt, sondern sie bezieht sich auf einen zurückliegenden Bezugsmoment. Dieser Bezug zur Vergangenheit lässt jedoch durchaus die Verwendung des Konditionals auch für Situationen nach dem Sprechaktmoment zu (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 316): (320) fr. Je pensais que Paul viendrait DEMAIN.

Der Konditional in temporaler Lesart als Futur der Vergangenheit zeichnet sich durch die Verbindbarkeit mit Nachzeitigkeit bezeichnenden Adverbialen aus (Oliveira 2004: 158): (321) pt. ONTEM o Rui encontrou a Maria e esta convidá-lo-ia presidir ao encerramento da sessão.

POSTERIORMENTE

para

Im Gegensatz dazu lässt der Konditional in modaler Lesart keine solchen Adverbiale zu: (322) pt. O Rui e a Maria têm um encontro dentro de dias e esta convidá-lo-ia (*posteriormente) para presidir à sessão, se não soubesse já que ele recusava.

In diesem Satz wird das Einladen Ruis durch Maria als nicht real dargestellt, da sie wusste, dass er ablehnen würde. Im Satz mit modaler Lesart wird das Einladen als tatsächlich, und zwar nach dem Treffen der beiden, unternommen präsentiert. Die Interpretation als Futur in der Vergangenheit setzt die Fixierung eines Referenzpunkts in der Vergangenheit voraus, ausgehend von dem

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

eine Situation prospektiv bezeichnet wird. Diese Verankerung in der Vergangenheit wird häufig durch einen Hauptsatz mit einem Vergangenheitstempus vorgenommen, von dem ein Nebensatz mit Konditional abhängt. In der freien indirekten Rede, die im Deutschen auch erlebte Rede genannt wird, tritt der Konditional auch in unabhängigen Sätzen, die in eine Erzählung über vergangene Ereignisse eingebettet sind, auf (Riegel, Pellat & Rioul 1994: 317): (323) fr. D’avance, ils s’organisaient. Bouvard emporterait ses meubles, Pécuchet sa grande table noire ; on tirerait parti des rideaux et avec un peu de batterie de cuisine ce serait bien suffisant (Flaubert)

Auch bei dieser Markierung der freien indirekten Rede tritt der Konditional in der Funktion des Futurs in der Vergangenheit auf: der in der Vergangenheit verortete Prozess des Organisierens der folgenden Tätigkeiten stellt den Referenzpunkt für die genannten und für die Zukunft festgelegten Handlungen dar. Würden die in der freien indirekten Rede erwähnten Situationen parallel zum Referenzpunkt dargestellt, so wäre das Imperfekt als Tempus der Gleichzeitigkeit gewählt worden. Zukünftigkeit in der Vergangenheit, ob durch Futur oder Konditional ausgedrückt, bedeutet weder die Realisierung noch die Nichtrealisierung einer Handlung oder eines Prozesses und impliziert insofern immer eine modale Nuance, die in den modalen Verwendungen vordergründig wird. In seiner temporalen Bedeutung ist das Futur in den einzelnen romanischen Sprachen unterschiedlich häufig und konkurriert mit dem Präsens und periphrastischen Möglichkeiten des Ausdrucks der Zukünftigkeit. 2.3.6. Vorzeitigkeit in der Vergangenheit und Zukunft Bei Einführung eines weiteren Referenzpunkts in der Vergangenheit oder der Zukunft kann mit zusammengesetzten Tempora Vorzeitigkeit vor diesem ausgedrückt werden. Das Plusquamperfekt I (plus-que-parfait, pretérito pluscuamperfecto, piuccheperfetto, pretérito mais-que-perfeito) und das Plusquamperfekt II (passé antérieur, pretérito anterior, trapassato remoto oder piuccheperfetto II, pretérito mais-que-perfeito simples) beziehen sich auf eine Ereigniszeit (E), die vor dem Sprechaktmoment (S) und auch vor der Referenzzeit (R) liegt, wobei letztere auch in der Vergangenheit liegt (vgl. Schwarze 1988: 22):

E

R

S

Tempora und Repräsentation von Zeit

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(324) it. Avevo letto quel romanzo. (325) it. Ebbi letto quel romanzo.

Wie in den beiden italienischen Beispielen (324) und (325) ist die Verwendung des Plusquamperfekts I und II im unabhängigen Satz möglich. Es bezieht sich dann auf eine zurückliegende Zeit, wobei die dazwischenliegende, als lang empfundene Zeit als Referenzintervall (R) fungiert. Mit bestimmten Adverbialen kann das Plusquamperfekt II, das nur in der geschriebenen Sprache vorkommt, auch das schnelle Vollziehen einer Handlung bezeichnen: (326) fr. La vedette eut enfin fini de traverser le cadre de la fenêtre. (Margarite Duras, Wagner & Pinchon 1991 [11962]: 368) (327) fr. Et le drôle eut lapé le tout en un moment. (La Fontaine, Wagner & Pinchon 1991 [11962]: 368) (328) sp. Algunos invitados se marcharon apenas hubo terminado la cena.(RAE 2009: 1789) (329) pt. Então […] correu à casa do doutor Godinho. Já na véspera […] se lembrara do doutor Godinho. (Gärtner 1998: 27)

In Sätzen mit anderen Verbformen der Vergangenheit oder Adverbialen drückt das Plusquamperfekt Vorzeitigkeit gegenüber deren Referenzintervall aus: (330) fr. Je REVIS le musicien David qui qui m’avait rendu service dans ma détresse, à un de mes précédents voyages. (J.-J. Rousseau, Wagner & Pinchon 1991 [11962]: 388) (331) fr. Je dînais toujours chez mon grand-père, mais nous avions fini de dîner comme une heure un quart SONNAIT à Saint-André. (Stendhal, Wagner & Pinchon 1991 [11962]: 388) (332) sp. ERA un sábado y los mellizos, Jaime y Nicolás, habían salido del internado a pasar el fin de semana con su familia. (Allende, Casa. RAE 2009: 1788) (333) pt. DIAS DEPOIS o padre Amaro e o cónego Dias tinham ido jantar com o abade da Cortegraça. (Eça de Queirós, O Crime do Padre Amaro. Vgl. Gärtner 1998: 27)

An der Bedeutungskonstituierung des zusammengesetzten Futurs sind ebenfalls drei Intervalle auf der Zeitachse beteiligt. Die Ereigniszeit liegt nach dem Sprechaktmoment und vor dem sekundären Referenzmoment (vgl. Schwarze 1988: 23). Die bezeichnete Situation ist zu einem späteren Zeitpunkt oder beim Eintreten eines anderen Sachverhalts bereits abgeschlossen:

148

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S

E

R

(334) it. Avrò letto quel romanzo. (335) sp. Suponen que cuando LLEGUE el invierno, habrá terminado la guerra. (336) pt. Ele disse que ÀS DEZ já teria partido. (337) pt. Eu sabia que quando eu CHEGASSE a Lisboa ele jà teria partido.

Die genannten Verbformen zur Kennzeichnung der Vorzeitigkeit in der Vergangenheit und der Zukunft markieren jedoch nur Relationen und können keine Zeitintervalle direkt bezeichnen.

2.4. Bezeichnungen der Tempora in der französischen und spanischen Grammatikographie Die Betrachtung der Tempora als zentrales Ausdrucksmittel der Temporalität wurde bereits unter verschiedenen Gesichtspunkten problematisiert. Einerseits sind es nicht die Tempora, die einen genauen und eindeutigen Bezug zur Zeit ausdrücken, sondern temporale Adverbiale, mit denen sich Zeit in kleinste oder größere Abschnitte gliedern und benennen lässt. Andererseits ist der Bezug eines Tempus nicht einmal zu den drei großen Zeitintervallen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in jedem Fall problemlos möglich, da Tempora aufgrund kontextueller Gegebenheiten und pragmatischer Abhängigkeiten ihre prototypische Referenz ändern können. Schließlich lässt sich die vordergründig temporale Qualität einiger Tempora auch grundsätzlich infrage stellen. Bezeichnet das einfache Futur wirklich in erster Linie Zukünftigkeit oder ist es nicht vielmehr in der Formulierung von Vermutungen und Hypothesen bereits ein Mittel des Ausdrucks von Modalität? Ist eine Beschreibung des Imperfekts als Tempus der Vergangenheit adäquat oder steht bei seiner Verwendung nicht eher sein aspektueller Charakter im Vordergrund, der ihm zugleich modale Möglichkeiten eröffnet? Mit derartigen Fragen werden wir uns in den Kapiteln zur Aspektualität und zur Modalität befassen. Hier soll nicht in Frage gestellt werden, dass eine Beschreibung der temporalen Eigenschaften der Verbformen ein wichtiges Erfordernis ist. Im Vordergrund stehen dabei die prototypischen Eigenschaften der Tempora, die in Grammatiken jedoch häufig durch ihre Einordnung nach traditionellem Mustern und vor allem durch ihre Bezeichnungen verborgen werden. Am Beispiel der französischen und spanischen Grammatikographie soll die Bezeichnung der Verbformen betrachtet und mit der Realität ihres Funktionierens in Zusammenhang gebracht werden. Dabei soll auch auf einige

Bezeichnungen der Tempora

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Diskrepanzen hingewiesen werden, die sich schädlich auf das Erlernen dieser Sprachen als Fremdsprachen auswirken können. 2.4.1. Die griechisch-lateinische Tradition Die Grammatikographie aller romanischen Sprachen basiert auf der griechisch-lateinischen Tradition, wobei nicht nur die ersten Grammatiken der Vernakularsprachen diese imitierten und adaptierten, sondern auch spätere Grammatiken immer wieder neue Anleihen vornahmen. Dies führte gerade in der Benennung der Tempora zu Problemen, da die Gliederung der Verbformen in den romanischen Sprachen nicht deckungsgleich mit dem Lateinischen ist und Termini umgedeutet und ohne präzisen Bezug verwendet wurden. Für die ersten französischen Grammatiken war insbesondere die Grammatik des Priscian (um 500) ausschlaggebend, die in der Beschreibung der Tempora äußerst kurz ist (vgl. Fournier 2013: 14–15): Sunt igitur tempora tria, praesens, praeteritum et futurum, sed praeteritum rursus dividitur in tria, in praeteritum imperfectum, praeteritum perfectum, praeteritum plusquamperfectum. nec mirum tam late patere praeteritum tempus, cum in notitiam nostram nihil sic naturaliter a longo saeculorum spatio potest venire, quomodo actus praeteriti temporis. in praesenti enim et futuro pleraque incerta nobis sunt angustissimaque esteorum cognitio nobis et dubia plerumque. (Priscian, Institutiones grammaticae, liber VIII. 405.8–14)

Priscian nimmt hier eine Einteilung der Tempora ausgehend von der chronologischen Teilung der physischen Zeit in Gegenwart (praesens), Vergangenheit (praeteritum) und Zukunft (futurum) vor und rechtfertigt die weitere Untergliederung der Vergangenheit mit der Sicherheit unserer Kenntnisse über die zurückliegenden Ereignisse. Der Gegenwart und dem Futur schreibt er hingegen unsicheren Charakter zu, unsere Kenntnisse darüber seien sehr gering und meist zweifelhaft. Eine weitere Unterscheidung nimmt Priscian hinsichtlich der aspektuellen Qualität der Vergangenheitstempora vor. Er unterscheidet das praeteritum imperfectum, mit dem man begonnene, jedoch nicht abgeschlossene Handlungen bezeichne, vom praeteritum perfectum, das für abgeschlossene Handlungen stehe, und dem praeteritum plus quam perfectum, das schon länger abgeschlossenen Handlungen entspreche: Quod accidit rebus, quas agimus, nomen tempori ipsi imponimus, praeteritum imperfectum tempus nominantes, in quo res aliqua coepit geri necdum tamen est perfecta, praeteritum vero perfectum, in quo res perfecta monstratur, praeteritum plus quam perfectum, in quo jam pridem res perfecta ostenditur. (Priscian, Institutiones grammaticae, liber VIII. 406.1-6)

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Priscian schlägt somit fünf verschiedene Tempora vor, wobei er sich auf der ersten Unterscheidungsebene an der Stellung des Sprechers in der physischen Zeit orientiert. Für die Vergangenheit eröffnet er Subkategorien, die sich nach den Graden der Abgeschlossenheit (nicht abgeschlossen, abgeschlossen, schon länger abgeschlossen) unterscheiden. In den Benennungen ist die Wiederholung des Terminus praeteritum auffällig, ebenso wie das Erscheinen von perfectum in den drei Benennungen der Vergangenheitstempora (imperfectum, perfectum, plus quam perfectum) tempora praesens praeteritum imperfectum

praeteritum praeteritum perfectum

futurum praeteritum plus quam perfectum

Diese Kategorien stehen im Verhältnis des genus proximum und der differentia specifica zueinander und sie nehmen neben dem Moment des Sprechens implizit auch auf einen weiteren Referenzpunkt in der Vergangenheit Bezug. Mit diesem Vorgehen erweist sich Priscian bereits auf dem Wege moderner Beschreibungen temporaler Verhältnisse. Neben Priscian waren auch die Ars minor und die Ars maior des Aelius Donatus (ca. 320–380) wichtige Bezugstexte der frühen Grammatiken romanischer Sprachen (vgl. Schönberger 2008 und 2009). In seiner Ars minor verwendete er bereits die auch bei Priscian auftretenden Bezeichnungen und ordnete sie in einem Frage-Antwort-Schema an, dass sich zum Auswendiglernen eignete und das später häufig auf die Vernakularsprachen angewandt wurde: tempora uerborum quot sunt? tria. quae? praesens, ut lego, praeteritum, ut legi, futurum, ut legam. quot sunt tempora in declinatione uerborum? quinque. quae? praesens, ut lego, praeteritum imperfectum, ut legebam, praeteritum perfectum, ut legi, praeteritum plusquamperfectum, ut legeram, futurum, ut legam. (http://www.thelatinlibrary.com/don.html)

Auch hier wird der Terminus tempus aus der Chronologie der physischen Zeit abgeleitet und es werden fünf verschiedene Tempora in der Flexion der Verben unterschieden. Um die Bezeichnungen der Verbformen in der Grammatikographie der romanischen Sprachen verstehen zu können, ist es jedoch notwendig, auch auf die griechischen Grammatiken zurückzugreifen. Im Altgriechi-

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Bezeichnungen der Tempora

schen gibt es vier Verbstämme, die drei Aspekte repräsentieren und von denen synthetische Tempora abgeleitet sind: -

Präsensstamm (Präsens, Imperfekt) Aoriststamm (Aorist) Perfektstamm (Perfekt, Plusquamperfekt, Perfektfutur) Futurstamm (Futur)

Der Präsensstamm bezeichnet durative, iterative oder versuchte Handlungen und Situationen und steht für deren prozesshafte Darstellung. Vom Aoriststamm wird nur der Aorist gebildet, der ein punktuelles Ereignis, den Abschluss oder den Beginn einer Situation anzeigt. Der Perfektstamm bildet das Perfekt, das Perfektfutur und das Plusquamperfekt, die Zustände des Vollendetseins darstellen, nämlich die Vollendung in der Gegenwart (Perfekt), Zukunft (Perfektfutur) und Vergangenheit (Plusquamperfekt). Die Tempora unterscheiden sich nach temporalen und aspektuellen Merkmalen und lassen sich nach Bentein (2014: 379) in folgender Form darstellen: Das aspektuell-temporale System im klassischen Griechisch: Vergangenheit

Gegenwart

Zukunft

Imperfekt

Präsens

Futur

perfektiv

Aorist

Ø

Futur

perfekt

Plusquamperfekt

Perfekt

Perfektfutur

imperfektiv

Am meisten diskussionsbedürftig erscheint in dieser Gegenüberstellung die Differenz zwischen den Eigenschaften ʽperfektivʼ und ʽperfektʼ. Perfekt meint die Vollendung einer Situation in Bezug auf einen Zeitpunkt der Gegenwart, der Zukunft oder der Vergangenheit. In diesem Sinne sind auch in der aspektlosen deutschen Sprache die Formen von schreiben in den folgenden Sätzen perfekt: (1) dt.

Er hatte den Brief geschrieben, als seine Mutter nach Hause kam.

(2) dt.

Er hat den Brief geschrieben.

(3) dt.

Er wird den Brief heute Mittag geschrieben haben.

Die Charakteristik einer Verbform als perfektiv meint jedoch eine ausschließlich aspektuelle Qualität: eine Situation wird in ihrer Ganzheit, als punktuelles Ereignis oder durch einen Anfangs- und/oder Endpunkt begrenzt dargestellt. Das vom Aoriststamm abgeleitete Futur ging im Laufe der Entwicklung zum früheren byzantinischen Griechisch verloren (Bentein 2014), sodass nur der Aorist als im eigentlichen Sinne perfektive Verbform übrig blieb. Der Terminus Aorist wird abgeleitet von ἀόριστος ‛unbestimmte (Zeit), unabgegrenzt’ und meint ‛keine bestimmte zeitliche

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Ausdehnung’. Im Gegensatz zu anderen Vergangenheitstempora wie beispielsweise dem Imperfekt oder dem Perfekt beschreibt der Aorist Ereignisse in der Vergangenheit, die als individuelle, einmalig abgeschlossene Handlungen, also punktuell, betrachtet werden. Während die perfekten Verbformen Plusquamperfekt, Perfekt und Perfektfutur ihre ebenfalls perfektiven aspektuellen Merkmale stets mit temporalen verbinden, kann die Aspektbedeutung des Aorists in einigen Formen ohne zeitliche Merkmale fungieren. Man vermutet sogar, dass die indoeuropäische Ursprache nur den Aorist ohne zeitliche Merkmale ausdrückte. Die aspektuelle Bedeutung muss sich aber schon früh mit temporalen Merkmalen verbunden haben, so dass bereits im Altgriechischen und im Sanskrit der Aorist zu einer temporal-aspektuellen Kategorie wurde. In den Grammatiken des Altgriechischen wurde die Bezeichnung Aorist verwendet. Die Unterscheidung von Verbformen, die bestimmt bzw. unbestimmt sind, geht auf die Stoiker zurück und wurde uns von späteren Grammatikern überliefert. In der Stoa wurde erstmals eine systematische Tempuslehre aufgestellt, nach der die Tempora in bestimmte, die zum Ausdruck bringen, ob eine Handlung durativ oder abgeschlossen ist, und unbestimmte, bei denen dies nicht der Fall ist, unterschieden wurden. Nach diesem Gesichtspunkt nahmen die Stoiker folgende Einteilung der griechischen Tempora vor, in der die lateinischen Bezeichnungen ergänzt wurden (vgl. Pohlenz 1992 [1959]: 45–46): A. Bestimmte Tempora (χρόνοι ὡρισμένοι) I. durativ (παρατατιχοί) a) in der Gegenwart: Praesens (ἐνεστὼς παρατατιχός) b) in der Vergangenheit: Imperfectum (παρωχημένος παρατατιχός) II. abgeschlossen (συντελιχοί) a) Gegenwart: Perfectum (ἐνεστὼς συντελιχός) b) Vergangenheit: Plusquamperfectum (παρωχημένος συντελιχός) B. Unbestimmte Tempora (χρόνοι ἀόριστοι) a) Zukunft: Futurum (μέλλων ἀόριστος) b) Vergangenheit (παρωχημένος ἀόριστος)

Dieses Einteilungsschema folgt nicht den drei Zeitstufen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, sondern aspektuelle Kriterien werden zugrunde gelegt. Der Begründer der Stoa, Zenon von Kition (ca. 333/332 v. Chr. – 262/261 v. Chr.), war damit in Gegensatz zu Aristoteles (384 v. Chr. – 322 v. Chr.) getreten, der in seiner Poetik das Verb durch die Ei-

Bezeichnungen der Tempora

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genschaft, eine Zeitstufe (Gegenwart oder Vergangenheit) anzugeben, vom Substantiv unterschieden hatte. Zu dieser Unterscheidung waren die Stoiker wahrscheinlich auf der Basis der semitischen Sprachen gekommen, in denen die Grundformen des Verbs tatsächlich nur den abgeschlossenen oder durativen Charakter der Handlung bezeichnen, während sich die Zugehörigkeit zu Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft erst aus dem syntaktischen Zusammenhang ergibt (Pohlenz 1992 [1959]: 46). Schon Platon (428/427 v. Chr. – 348/347 v. Chr.) hatte festgestellt, dass die Zeit auf das ewig sich gleichbleibende Sein keine Anwendung findet, sondern an die Bewegung der Erscheinungswelt gebunden ist. Für ihn gliederte der Lauf der Himmelskörper die Zeit in das War, Ist und Wird sein, ebenso wie für Aristoteles die Zeit das Früher oder Später in der Bewegung der materiellen Welt bezeichnete. Diesen Ideen folgend, haben auch die Stoiker die Zeit mit Bewegung verknüpft und die Zeit als einen Strom betrachtet, von dem wir gleichmäßig dahin getragen werden. Zeit wurde als Ausdehnung der Bewegung definiert und als ein Kontinuum von unendlicher Teilbarkeit angesehen. Die drei Zeitstufen fließen ineinander und können nur als Dauer erlebt werden, ebenso wie ein Einschnitt nur gefühlt werden kann, wenn ein Vorgang oder eine Handlung zum Abschluss gelangt. Die Tempuslehre der Stoiker impliziert somit nicht nur ein anderes Sprachempfinden, sondern auch ein anderes Zeitgefühl (Pohlenz 1992 [1959]: 47), das nicht die Abfolge chronologischer Zeitabschnitte, sondern die Dauer und das Erleben der Abgeschlossenheit von Situationen in den Vordergrund rückt. Pohlenz sieht einen Zusammenhang dieses Zeitgefühls mit dem „innersten Wesen“ der Stoiker: „historischer Sinn geht Ihnen ebenso ab wie die Sorge für eine ferne Zukunft“ (Pohlenz 1992 [1959]: 47). Die stoische Sprachlehre hat die systematische Sprachtheorie nachhaltig beeinflusst. Der Grammatiker Dionysios Thrax (2. Jh. v. Chr.) entnahm aus dem Handbuch des Stoikers Diogenes von Babylon (ca. 240 – ca. 150 v. Chr.) neben dem Plan und dem Aufbau für seine Τέχνη γραμματική (‛grammatische Wissenschaft’) auch die Terminologie. Sein knappes Büchlein wurde zur Grundlage der späteren griechischen Grammatiken und auch der lateinischen Grammatikographie der Römer. Die griechischen Grammatiker, die ansonsten der Lehre der Stoiker folgten, wichen aber gerade in dem Punkt der Überordnung des Aspektgedankens über die Tempora von den Stoikern ab und etablierten die Einteilung nach Zeitstufen. Für die Vergangenheit unterscheidet der Grammatiker Dionysios Thrax (2. Jh. v. Chr.) zwischen parakeimenos ‛Perfekt’, hypersyntelikos ‛Plusquamperfekt’, aoristos ‛Aorist’ und paratatikos ‛Imperfekt’. Der mit dieser Einteilung und nicht zuletzt auch durch die in der Sprachentwicklung selbst eingetretene Verbindung zwischen temporalen

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

und aspektuellen Merkmalen der Verbformen eigentlich sinnlos gewordene Terminus Aorist wurde allerdings weitergeführt. Diese Kontinuität, die teilweise bis in die heutige Grammatikographie romanischer Sprachen feststellbar ist, ist mindestens aus zwei Gründen problematisch. Einerseits ist die im Altgriechischen gegebene Unterscheidung zwischen dem perfektiven und perfekten Aspekt inzwischen verschwunden. Es gibt in den heutigen romanischen Sprachen keine zeitlich unbestimmte Verbform des Aorists. Andererseits ging mit der wörtlichen Übersetzung des Terminus Aorist in romanische Sprachen (vgl. französisch indéfini, spanisch indefinido) der Bezug zum eigentlichen Inhalt ‛temporal unbestimmte Verbform’ verloren. Das einfache Perfekt, das ähnliche, jedoch nicht identische Funktionen wie der Aorist hat, verortet Situationen eindeutig in der Vergangenheit und weist auch eindeutige aspektuelle Merkmale der Perfektivität auf, ist also keineswegs unbestimmt. Das Bezeichnungselement indéfini/indefinido wurde somit frei für andere als unbestimmt empfundene Verbformen, wie das Imperfekt, das tatsächlich keinen selbstständigen Zeitbezug herstellen kann, oder das zusammengesetzte Perfekt, das in seiner resultativen Bedeutung immer auf den Sprechaktmoment bezogen ist. Bis 1973 wurde der an den griechischen Aorist angelehnte Terminus pretérito indefinido auch von der Real Academia Española für das pretérito perfecto simple verwendet, obwohl ihm sowohl die historische als auch die sprachpraktische Grundlage längst fehlte. Während die Grammatiken der romanischen Vernakularsprachen zunächst dem lateinischen Muster folgten, kam es in der Folgezeit immer wieder auch zu Entlehnungen aus griechischen Grammatiken, zu denen auch die Übernahme des Terminus Aorist/indéfini/indefinido gehört. Im Folgenden werden wir auf einige solche Entlehnungen und ihre Konsequenzen für die Darstellung des Tempussystems der beschriebenen Sprachen am Beispiel des Französischen und des Spanischen eingehen. 2.4.2. Die Darstellung der Tempora in frühen französischen Grammatiken In den ersten Grammatiken des Französischen war die Darstellung des Tempussystems knapp und meistens auf die Präsentation der Konjugationsformen beschränkt. Dies resultierte auch aus der Tatsache, dass diese Grammatiken nicht für Muttersprachler, sondern für Nicht-Muttersprachler gedacht waren, die die Konjugationen nicht beherrschten. Zu den ersten Grammatiken gehören Übersetzungen der Ars minor des Donat, in denen die für das Lateinische entwickelten Kategorien auf die Beschreibung der französischen Sprache angepasst wurden (Colombo Timelli 1996). Der Name des durch seine lateinische Grammatik berühmt gewor-

Bezeichnungen der Tempora

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denen Donat wurde dabei auch in den französischen Lehrwerken beibehalten. Als erster derartiger Text ist der ca. 1409 entstandene Donait François von John Barton überliefert (vgl. Swiggers 1985 und 1988; Städtler 1988). Die folgende Textstelle zu den Tempora folgt einer von Colombo Timelli (1996: 102) und Fournier (2013: 16) wiedergegebenen Version eines auf die Jahre 1460–1470 datierten Manuskripts (B.Qu. 66) der Universität Utrecht: Quans temps de verbe sunt? Iij. Quelx? Le present, comme lego, le preterit comme legi, le futur, comme legam. Quans temps sont formes en la declinaison des verbes ? v. Quellez ? Le present, comme lego, le preterit imparfaict, comme legebam, le preterit parfaict comme legi, le preterit plus que parfaict sicomme legeram, le futur sicome legam.

Ein Vergleich mit der oben zitierten Textstelle aus der Ars minor von Donat verdeutlicht, dass es sich tatsächlich um eine Übersetzung ins Französische handelt. Ebenso wie Donat zwischen den an der Chronologie orientierten tempora uerborum und deren sprachlicher Verarbeitung in den tempora in declinatione uerborum unterscheidet, nimmt der Autor des französischen Textes eine Differenzierung zwischen den temps de verbe und den formes en la declinaison des verbes vor. Die Leistung dieses Textes besteht in der Transposition der lateinischen Terminologie ins Französische, nicht jedoch in einer Beschreibung des französischen Tempussystems, denn die Beispiele sind aus der lateinischen Sprache übernommen. Es handelt sich also nicht um eine französische Grammatik, sondern um eine lateinische Grammatik in französischer Sprache. Der Donait françois von Barton (ca. 1409) geht einen Schritt weiter in Richtung auf eine Grammatik des Französischen, insofern er französische Beispiele nennt und latinisierende Ausdrücke vermeidet (z.B. Quans temps est il für Quans temps de verbe sunt). Außerdem erfolgt die Beschreibung zwar in der Reihenfolge des Donat, ist aber im Einzelnen eher an Priscian angelehnt, insofern die temporalen und aspektuellen Charakteristika der einzelnen Verbformen genannt werden: Quans temps est il? – Trois – Quels ? – Le temps qu’est maintenant et est appellé present, sicome « je ayme » ; le temps qu’est passé et est appellé le pretert, sicome « j’aymey » ; le temps qu’est a venir et est appelé le future, sicome « j’aymerey ». Quants maniers est il de temps passé ? – Trois. – Quels ? – Temps qu’est passé, mais toutes vois non pas tout fait, et est appellé le pretert inparfait, sicome « j’aimoie » ; temps qu’est passé et aussi tout fait, et est appellé pretert parfait, sicome « j’aymey » ; temps qu’est passé et aussi plus que tout fait, et est appellé pretert plus que parfait, sicome « j’avoie amé ». (Swiggers 1985 : 245)

In seiner 1531 erschienenen französischen Grammatik in lateinischer Sprache überträgt Sylvius (Jacques Dubois) die vorher nur auf das Präteritum angewandte Opposition perfekt/imperfekt auch auf das Futur. Diese Grammatik zielt vor allem auf die Vermittlung der Formen ab und bein-

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

haltet wenig semantische und funktionale Betrachtungen. Sylvius nimmt jedoch eine wichtige Unterscheidung der beiden Perfektformen vor und bedient sich hierfür der Termini modo und pridem, die von der Grammatiktradition nicht aufgenommen wurden und die Colette Demaizière (1998) mit naguère ‛unlängst, gerade eben’ und il y a déjà quelques temps ‛schon vor einiger Zeit’ übersetzt. Dem einfachen Perfekt wird somit die temporale Eigenschaft zugeschrieben, länger zurückliegende Ereignisse zu beschreiben, während das zusammengesetzte Perfekt erst vor kurzem abgeschlossene Situationen benennt. Diese Unterscheidung und die Aufnahme des zusammengesetzten Perfekts überhaupt sind gegenüber den lateinischen Grammatiken innovativ. Sylvius führt außerdem zwei weitere Verbformen an, die allerdings in seinen Konjugationstabellen fehlen und zu deren Bedeutung er sich nur kurz äußert: g’ay heu fait und g’heu fait. Die erste dieser beiden Formen drücke vor allem eine abgeschlossene Handlung aus (maxime omni ure significans), während die zweite anzeige, dass eine Sache vollkommen abgeschlossen ist, aber normalerweise vor langer Zeit stattgefunden habe (rem maxime perfectam, sed fere olim) (Dubois 1531: 124; vgl. Fournier 2013: 18). Die Tatsache, dass das Französische zwei verschiedene Perfektformen hat, war Mitte des 16. Jahrhunderts zum Gemeingut der Grammatiken geworden. Die nach dem lateinischen Muster vorgenommene Einteilung der Tempora wurde somit durch eine weitere Untergliederung des Präteritums ergänzt. Es entstand damit das Problem der funktionalen Differenzierung der beiden Perfektformen, aus dem sich auch das Benennungsproblem ableitete. Der Grammatiker Jean Pillot, der seine Grammatik für seinen Schüler, den Cousin des Herzogs von Bayern, geschrieben hat, wählte wahrscheinlich in Anlehnung an Priscian die Benennungen preteritum perfectum indefinitum und preteritum perfectum definitum (Pillot 1561; vgl. Fournier 2013: 19). Das preteritum perfectum indefinitum bezeichne eine unbestimmte Zeit, während das preteritum perfectum definitum eine stärker bestimmte Zeit (magis determinatum) ausdrücke. Ähnlich wie bei Sylvius scheint hier die größere Nähe des zusammengesetzten Perfekts zum Sprechaktmoment das funktionale Differenzierungskriterium zu liefern. Es handelt sich um ein temporales Kriterium, das eine Quantifizierung der Entfernung in der Vergangenheit beinhaltet. In der Ausgabe von 1550 nimmt Pillot mit seinen Beispielen für die Unterscheidung der beiden Perfektformen die 24-Stunden-Regel vorweg, insofern er eine Verbindungszeit des zusammengesetzten Perfekts mit dem Adverb aujourd’hui und des einfachen Perfekts mit dem Adverb hier feststellt. Man könne j’ai lu aujourd’hui l‘Évangile und je lus hier l’Évangile sagen, während Sätze wie je lus aujourd’hui l‘Évangile und j‘ai lu hier l’Évangile auszuschließen seien (Fournier 2013: 19). Die Formulierung des temporalen Kriteriums für die Unterscheidung der

Bezeichnungen der Tempora

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beiden Perfektformen verbindet sich somit von Anfang an mit einem normativen Anspruch. Louis Meigret (1510–1558) lehnt sich in seiner Beschreibung der Tempora im Le tretté de la grammére françoęze (1550) an Priscian an und stellt verschiedene Untergliederungen der Vergangenheit im Französischen fest. Mit einer stark an Priscian erinnernden Formulierung schreibt er dem Imperfekt die Eigenschaft zu, eine nicht zu Ende gebrachte Handlung oder einen in der Vergangenheit begonnenen, aber nicht abgeschlossenen Zustand zu beschreiben: […] il ne dénote pas un accomplissement ne perfection d’une action ou passion passée mais tant seulement avoir été commencée. (Meigret 1550: 69)

Ein anderes Präteritum bezeichne eine „etwas mehr abgeschlossene“ Handlung, deren Zeit jedoch nicht bestimmt sei, so dass sie von etwas Anderem abhinge. Die Argumentation von Meigret unterscheidet sich jedoch von Pillot, insofern für ihn die Bestimmung eine syntaktische Dimension erhält. Das einfache Perfekt ist eine determinierte Zeit, weil es weder syntaktisch noch referentiell autonom ist; die temporale Referenz eines Verbs im einfachen Perfekt entsteht also immer aus seiner Beziehung zu einer anderen temporalen Markierung. Er nennt hierfür einen Beispielsatz, in dem mit der Proposition des Nebensatzes eine solche Einordnung gegeben ist: […] un peu plus parfaite, duquel toutefois le temps n’est pas bien déterminé de sorte qu’il dépend de quelque autre comme je vis le Roi lorsqu’il fut couronné. (Meigret 1550: 69)

Das zusammengesetzte Perfekt betrachtet Meigret als eine Verbform, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, manchmal in absoluter Weise und ohne Folgen (sans suite; Meigret 1550: 69) über die Vergangenheit zu sprechen. Diese Form hat keine Entsprechung im Lateinischen und er vermerkt, dass das System der französischen Verbformen vom Lateinischen durch diese zusätzliche Form abweiche. In ähnlicher Weise äußern sich auch andere Grammatiker des 16. Jahrhunderts über die französischen Perfektformen (Robert Estienne 1557; Cauchie 1586; Serreius 1598). Das einfache Perfekt wird als prétérit défini beschrieben, da es nicht auf absolute Weise die Vergangenheit bezeichne, sondern von weiteren temporalen Bestimmungen im Kontext abhänge, durch diese also défini würde. So könne man nicht sagen je fis ceci, j’achetai cela, während Sätze wie j’ai fait ceci, j’ai acheté cela durchaus möglich seien. Mit einer Zeitangabe werden auch Sätze wie je fis avant hier ceci, j’achetai hier cela für richtig befunden (Fournier 2013: 21). Während in solchen Feststellungen die 24-Stunden-Regel bereits anklingt, findet sie sich das erste Mal bei Henri Estienne im Le Traité de la conformité du langage françois avec le grec (1596) explizit formuliert (Fournier

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

2013: 21), wenn er seine Gedanken zur Analogie zwischen dem einfachen Perfekt und dem griechischen Aorist äußert. Während wir das zusammengesetzte Perfekt nur für Ereignisse, die am selben Tag passiert sind, verwenden können, ist der Zeitraum für die Verwendung des einfachen Perfekts unbegrenzt: Nous auons aussi deux Preterits perfaicts : desquels il m’a semblé autrefois que l’vn se pouuait rapporter au Temps que les Grecs appellent Aoriste, c’est-à-dire Indéfini, & non limité. Car quand nous disons i’ai parlé à luy, & luy ay fait réponse, cela s’entend auoir esté faict ce jour là. Mais quand on dit I’e parlay à luy & luy fei responce, ceci ne s’entend auoir esté faict ce jour mesme, auquel on raconte ceci, mais au parauant : sans toutefois qu’on puisse juger combien de temps est passé depuis. Car soit que j’aye fait responce le jour de devant seulement, soit qu’il y ait ia cinquante ans passées, ou plus, ie dirai, ie lui fei responce, au Alors, adonc, je fei responce. Voilà comment par ce Preterit nous ne limitons point l’espace du temps passé. Ce qui autresfois m’a faict penser que (comme j’ay dict) il auoit accointance auec l’Aoriste Grec. (Henri Estienne 1569: 61)

Diese normativ wirkende Aussage wird von Estienne jedoch zugleich abgeschwächt, indem er seine Zweifel an dieser Regel äußert und mit dem Sprachgebrauch argumentiert, der ihr widerspricht (Henri Estienne 1569: 61). Diese Vorsicht gegenüber dem Aufstellen von Regeln für den Gebrauch des einfachen und des zusammengesetzten Perfekts hindert ihn jedoch nicht daran, dem falschen Gebrauch des einfachen Perfekts für am gleichen Tag stattgefundene Ereignisse bei Ausländern zu zensieren (Henri Estienne 1569: 62). Fournier (2013: 24) resümiert die Überlegungen der Grammatiker des 16. Jahrhunderts zur Unterscheidung des einfachen und des zusammengesetzten Perfekts unter Zugrundelegung von drei Hypothesen: 1. Mit der referentiellen Hypothese wird postuliert, dass die sprachliche Organisation der Zeit die Ordnung der Chronologie in der Welt reflektiert und dass daher zwei kalendarische Zeitzonen zu unterscheiden seien: der laufende Tag und der Rest der Vergangenheit. Die beiden perfektiven Präterita werden komplementär auf diese Zeitabschnitte verteilt. Auf diese Weise gelangt man unter Zugrundelegung einer unmittelbaren Zeitreferenz der Tempora zur Formulierung der 24-Stunden-Regel. 2. Die anaphorische Hypothese wurde von Meigret eingeführt. Nach ihr konstruiert das einfache Perfekt eine notwendigerweise unvollständige Referenz, die der Bestimmung bedarf. Auf diese Weise wird es zu einem (durch andere Zeitangaben) bestimmten Tempus. 3. Die in einigen Formulierungen ansatzweise skizzierte enunziative Hypothese trägt zwei Phänomenen Rechnung: der konstruierten

Bezeichnungen der Tempora

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und nicht realistischen Natur des Sprachbildes und der Intentionalität des Sprechers der Äußerung. Diese zentralen Ideen und Richtungen der Theoretisierung der Tempora schließen sich gegenseitig nicht aus und befinden sich auch nicht auf derselben Ebene. Die erste Hypothese setzt eine allgemeinere Annahme über die Sprache als unmittelbare und transparente Repräsentation der Welt voraus, die von der dritten Hypothese ausgeschlossen wird, gegenüber der sich aber die zweite Hypothese neutral verhält. Diese verschiedenen Hypothesen wurden in den folgenden Jahrhunderten weiter diskutiert und in neue Zusammenhänge eingeordnet. 2.4.3. Einige Gesichtspunkte der Beschreibung der französischen Tempora im 17. und 18. Jahrhundert und ihre terminologischen Konsequenzen Die französischen Grammatiker knüpften auch im 17. Jahrhundert an die lateinische Tradition an, insbesondere an Priscian, der für die Tempora der Vergangenheit zwischen einem Imperfekt, einem Perfekt und einem Plusquamperfekt unterschieden hatte. Das Kriterium der Abgeschlossenheit einer Handlung ist auch in den Grammatiken des Französischen zu finden, es wird jedoch stets dem Gesichtspunkt der Temporalität untergeordnet. Eine sehr frühe Grammatik, in der Überlegungen zur Aspektualität durchscheinen, ist die Grammaire et syntaxe françoise (1607) von Charles Maupas. Diese Grammatik ist in erster Linie für Nicht-Muttersprachler konzipiert; Maupas’ Bemerkungen zum schlechten Gebrauch des imparfait können sich durchaus an Deutsche gerichtet haben. Nicht-Franzosen, die durch ihre Muttersprachen nicht an eine Unterscheidung zwischen abgeschlossenen Handlungen und begonnenen, aber nicht beendeten gewohnt seien, könnten das französische imparfait nicht richtig verwenden: Et toutefois, parce que force estrangers abusent souvent de l’imparfait, il est besoin d’en dire; encor à grand difficulté peuvent-ils comprendre sa propriété & différence d’avec le prétérit parfait. Dont il y a assez pour s’esbahir, attendu la grand difference qu’il y a d’une action finie, achevée ou parfaite: & d’une bien commencee mais non encor finie ou parfaite. (Maupas [1607] 1632: 269-270)

Maupas definiert das imparfait als Tempus, das eine Dauer oder einen Fluss der Zeit angibt, die gleichzeitig mit einem Bezugsmoment liegen und noch nicht beendet sind: [temps qui] s’attache à une durée et flux de temps estendu en l’acte qui se faisoit lors dont on parle, & n’estoit encor parachevé. (Maupas [1607] 1632: 270)

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Im Gegensatz dazu definiert er das parfait genannte einfache Perfekt als Tempus, das eine abgeschlossene und einmalige Handlung bezeichnet, und zwar ohne dabei die Dauer und den Ablauf der Zeit in den Blick zu nehmen: [temps qui] s’arreste à l’acte fini & parfait, & ce une fois. Car il concerne la fin, perfection & final accomplissement de la chose un coup faite, sans avoir esgard à la duree ou course du temps pendant lequel elle se faisoit, et n’estoit encor faite. (Maupas [1607] 1632: 270)

In diesen Definitionen wird das bei Priscian zu findende Kriterium der Nichtvollendung für das Imperfekt und der Vollendung für das einfache Perfekt wieder aufgenommen. Maupas fügt jedoch mit der Dauer und der Subjektivität zwei weitere Kriterien hinzu. Er beschreibt das grammatische Tempus als subjektives Mittel zur Wiedergabe der realen Zeitverhältnisse. So kann der Vorgang, der mit dem Imperfekt ausgedrückt wird, durchaus schon abgeschlossen sein, der Sprecher kann ihn jedoch in den Redemoment zurückholen und als noch fern von seinem Abschluss darstellen: Prenez bien ce point: ja-soit qu’il puisse y avoir long-temps que la chose soit passee & accomplie, toutesfois ce temps imparf. ramene et remet l’entendement de l’auditeur à l’instant courant, lors que la chose se faisoit, et n’avoit encor atteint la fin et perfection. (Maupas [1607] 1632: 271)

Wie Grammatiker vor ihm, zum Beispiel Meigret, teilt Maupas die Verbformen der Vergangenheit in definite und indefinite ein. Das einfache Perfekt bezieht sich auf einen konkreten Zeitpunkt in der Vergangenheit und eine in der Vergangenheit abgeschlossene Handlung, wodurch es definit ist: Il faut observer que tous les Definis inferent tous-jours un temps piéça passé & si bien accompli qu’il n’en reste aucune partie à passer. Et à cette cause requiérent une prefixion et prenotation de temps auquel la chose dont on parle est advenuë, & c’est la raison pour quoy je les appelle Définis. (Maupas [1607] 1632: 273)

Dagegen reicht die mit dem zusammengesetzten Perfekt bezeichnete Handlung bis an die Gegenwart heran, was für Maupas seine Bezeichnung als indefinit rechtfertigt. Die Limitierung des Zeitraums, in dem die durch das zusammengesetzte Perfekt ausgedrückte Handlung abgeschlossen sein soll, auf 24 Stunden wird von Maupas aufgehoben: der aktuelle Zeitraum kann ein Tag, eine Woche oder ein Jahrhundert sein, entscheidend ist das Heranreichen des Ereignisses an die Gegenwart. Les indefinits signifient bien un acte du toutfait & passé, mais le temps non si esloingné qu’il n’en reste encor quelque portion à passer. Ou s’il est du tout passé & fini, il n’y a point eu de prefixion au propos, point de nomination de temps. Et c’est pour ce regard que je les appelle Indefinis.

Bezeichnungen der Tempora

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Pour mieux entendre cet usage, il faut considerer que les parties du temps sont. Siècle, an, mois, Semaine, jour, ou equivalans. Parlans donc d’une chose advenuë, ou on limite le temps par l’une de ces parties, ou on ne le limite point. (Maupas [1607] 1632: 273-274)

Maupas betrachtet also nicht das einfache Perfekt als indefinit, vielmehr wendet er diesen aus der griechischen Grammatik entlehnten Terminus auf das nach seiner Auffassung wirklich unbestimmte zusammengesetzte Perfekt an. Da es in seinen Ergebnissen bis in die Gegenwart hineinreicht und mit Bezeichnungen aktueller Zeitintervalle verbunden werden kann, komme ihm tatsächlich ein unbestimmter Charakter zu. Eine völlig andere Sichtweise der Tempora präsentiert die Grammatik von Port-Royal (1660). Dies drückt sich nicht nur im umgekehrten Gebrauch der Bezeichnungen aus, mit dem eine Anlehnung an die griechische Grammatik erfolgt, sondern auch in der Wiederinkraftsetzung der 24-Stunden-Regel: das zusammengesetzte Perfekt muss eine Handlung bezeichnen, die in den letzten 24 Stunden, also in einem definiten Zeitraum stattgefunden hat. Das einfache Perfekt bezeichnet abgeschlossene Handlungen, aber der Zeitpunkt des Abschlusses ist vor den letzten 24 Stunden und nicht bestimmt, was nach Arnauld und Lancelot die Bezeichnung prétérit indéfini rechtfertigt: Mais parce que dans le passé on peut marquer que la chose ne vient que d’être faite, ou indéfiniment qu’elle a été faite, de-là il est arrivé que dans la plupart des langues vulgaires il, y a deux sortes de prétérits; l’un qui marque la chose précisément faite, et que pour cela on nomme défini, comme j’ai écrit, j’ai dit, j’ai fait, j’ai dîné; et l’autre qui la marque indéterminément faite, et que pour cela on nomme indéfini ou aoriste, comme j’écrivis , je fis, j’allai y je dînai, etc. ce qui ne se dit proprement que d’un temps qui soit au moins éloigné d’un jour de celui auquel nous parlons: car on dit bien, par exemple, j’écrivis hier, mais non pas, j’écrivis ce matin, ni j’écrivis cette nuit; au lieu de quoi il faut dire, j’ai écrit ce matin, j’ai écrit cette nuit, etc. Notre langue est si exacte dans la propriété des expressions, qu’elle ne souffre aucune exception en ceci, quoique les Espagnols et les Italiens confondent quelquefois ces deux prétérits, les prenant l’un pour l’autre. (Arnauld & Lancelot 1803 [1660]: 344)

Die Unterschiede im Bezeichnungsgebrauch und der Bestimmung der Funktion der beiden Tempora lassen sich damit erklären, dass bei Maupas das aspektuelle Kriterium der Abgeschlossenheit der Handlung dominiert, während die Autoren von Port-Royal nur das temporale Kriterium gelten lassen und dabei die 24-Stunden-Regel anwenden. Das Imperfekt definieren sie als relatives Tempus, das nicht nur die Vergangenheit ausdrückt, sondern auch die Gleichzeitigkeit mit einem anderen Ereignis. Es ist damit eine Art Präsens in der Vergangenheit: Il [l’imparfait] ne marque pas la chose simplement et proprement faite, mais comme présente à l’égard d’une chose qui est déjà néanmoins passée. Ainsi, quand je dis, cùm intravit coenabam, je soupois lorsqu’il est entré, l’action est bien passée

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

au regard du temps auquel je parle, mais je la marque comme présente au regard de la chose dont je parle, qui est l’entrée d’un tel. (Arnauld & Lancelot [1660] 1803: 345)

Ein Schwanken im Gebrauch von definit und indefinit ist auch in der weiteren Geschichte der französischen Grammatiken festzustellen. Denis Vairasse d’Allais (1635–1700) charakterisiert in seiner Grammaire méthodique (1681) das Imperfekt als Tempus, das eine begonnene, aber nicht abgeschlossene Handlung ausdrückt: Le second Tems simple est nommé imparfait, parce qu’il signifie une action commencée, mais qui n’a pas été achevée. (Vairasse 1681: 194).

Das einfache Perfekt nennt er prétérit défini und das zusammengesetzte parfait oder auch composé. Zur Differenzierung führt er eine neue syntaktische Regel ein: das einfache Perfekt wird durch ein Temporaladverb verstärkt, wodurch der abgeschlossene, bestimmte Charakter noch verdeutlicht werde: Le troisième Tems simple, parce qu’il sert à marquer un tems précis & determiné qui signifie une unité d’action accompagnée de quelque circonstance particuliere. Ex. Je parlai hier à Monsieur vostre père, et je lui racontai toute mon aventure. Aprês cela nous parlâmes de vous, & nous conclûmes qu’il etoit necessaire de vous établir chez le roi. On peut voir par ces exemples, que ce Tems signifie une action parfaite & déjà passée, & qu’elle est déterminée par l’adverbe de temps hier. (Vairasse 1681: 198– 199)

Damit kehrt er auch zugleich die 24-Stunden-Regel um: das einfache Perfekt ist definit, weil es durch ein Temporaladverb präzisiert ist und weil es sich nicht auf einen unbestimmten Zeitraum von 24 Stunden bezieht. Erwähnt sei schließlich auch Gabriel Girard (1677–1748), der unter den Bezeichnungen Aoriste und Periode die Begriffe des ‛Ereignisses’ und der ‛Periode’ in die Unterscheidung des einfachen und des zusammengesetzten Perfekts einführte: Il ne faut donc pas confondre le temps de l’évènement avec celui du période: cela est de conséquence, ainsi qu’on va le voir: car on peut représenter de deux manieres le Passé. L’une en faisant simplement répondre l’évenement au temps où la production est finie; ce qui a pû arriver dans le période actuellement présent, comme dans cet exemple: j’ai fait ce matin de la bonne besogne. (Girard 1747: 21–22) L’autre manière est de le faire répondre à un temps où non seulement sa production est finie mais où est encore passée le période dans lequel cette production est arrivée; de façon que le tems présent où l’on parle apartienne à un autre période, qui ait succédé à celui qui a vû naitre & finir l’èvenement; comme quand on dit, je fis hier tout ce que je pus, & je perdis mes peines. (Girard 1747: 22)

Bezeichnungen der Tempora

163

Nicolas Beauzée (1717–1789) gibt schließlich den Etiketten definit und indefinit eine neue Bedeutung, indem er ihren Gebrauch bei den Grammatikern kritisiert und sie auf die Referenzzeiträume der Tempora bezieht: La soudivision la plus générale des Temps doit se prendre dans la manière d’envisager l’époque de comparaison, ou sous un point de vue général & indéterminé, ou sous un point de vue spécial & déterminé. Les noms d’indéfinis & de définis, employés ailleurs abusivement par le commun des grammairiens, me paroissent assez propres à caractériser ces deux différences de Temps. (Beauzée 1767: 430)

Er nennt das Imperfekt Présent antérieur simple und das einfache Perfekt Présent antérieur périodique, was sich aus der Erklärung als „Präsens“ in Bezug auf einen Referenzzeitraum vor – deshalb antérieur – dem Redemoment erklärt. Wie wir an den erwähnten Beispielen gesehen haben, gibt es in der französischen Grammatikographie bei der Beschreibung der Verbformen weder Einheitlichkeit im Hinblick auf die Terminologie noch auf die Berücksichtigung aspektueller Kriterien. Die ursprünglich aus dem griechischen Terminus Aorist mit zweifelhafter Referenz abgeleitete Bezeichnung indéfini hat ihren Bezug verloren und fand Anwendung auf verschiedene grammatische Sachverhalte. 2.4.4. Benennungen der Tempora der Vergangenheit in einigen Grammatiken des Französischen des 19. und 20. Jahrhunderts Für das Französische gibt es keine verbindliche Grammatik, hinter der eine Institution – wie beispielsweise die Académie française – stehen würde. Immerhin konnte Abel Hermant (1862–1950), der 1945 als Kollaborateur aus der Académie Française ausgeschlossen wurde und der Veränderungen der französischen Sprache leidenschaftlich bekämpft hatte, 1930 in einer öffentlichen Rede vor der Akademie verkünden, dass der beinahe drei Jahrhunderte vorher erteilte Auftrag, eine Grammatik zu schreiben, demnächst erfüllt werde. Doch nicht nur die Aktivitäten Hermants im Sinne des prodeutschen Propagandakurses während der Okkupationszeit, sondern bereits der wissenschaftliche Verriss seiner Grammatik, die 1932 erschienen war, durch Ferdinand Brunot (1860–1938) trugen dazu bei, dass dieser Grammatik kaum Beachtung geschenkt wurde. Im Folgenden sollen die Bezeichnungen der Tempora der Vergangenheit in einigen Grammatiken, die an französischen Schulen eine gewisse Rolle spielen oder gespielt haben, behandelt werden. Die von der Académie française preisgekrönte Grammaire du Français classique et moderne von Wagner & Pinchon (1991 [11962]) behandelt die

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Verbformen der Reihe nach in Form kurzer Regeln und gibt dazu Beispiele aus der Literatur des 17.–20. Jahrhunderts. Das zusammengesetzte Perfekt erscheint unter der Bezeichnung passé indéfini, womit offensichtlich auf seinen potenziell unabgeschlossenen, an die Gegenwart heranreichenden Charakter hingewiesen wird. J’ai vu entspreche in seiner Bedeutung je suis dans la situation de quelqu’un qui a vu. Es unterscheide sich vom Präsens lediglich dadurch, dass es einen Prozess unter dem Gesichtspunkt seines Abschlusses darstellt (Wagner & Pinchon 1991 [11962]: 368). Für die geschriebene Sprache wird ein Funktionsunterschied zum einfachen Perfekt (passé défini) darin gesehen, dass der mit dem zusammengesetzten Perfekt dargestellte Prozess in seinen Ergebnissen mit der Gegenwart verbunden ist. So lege der Satz César a conquis la Gaule nahe, dass die aktuelle Struktur des heutigen Frankreichs teilweise mit dieser Eroberung zusammenhänge. Wie das Beispiel zeigt, war die 24-Stunden-Regel längst aufgegeben. Für den Gebrauch des passé indéfini in der klassischen Sprache wird auf subtile Unterschiede zum passé défini hingewiesen. So erinnere der erste Teil des folgenden Satzes von La Rochefoucauld an die noch aktuellen schrecklichen Folgen der Freundschaft der Heldin zu M. de Lorraine, während der Autor im zweiten Teil zum passé défini zurückkehrt und seine Erzählung wieder aufnimmt: (4) fr.

Mais si l’amitié de Madame de Chevreuse a été dangereuse à M. de Lorraine, elle ne le fut pas moins à la Reine dans la suite.

Zum einfachen Perfekt wird zunächst festgestellt, dass dieses passé défini in der Sprache des discours,19 d.h. in der Alltagskonversation, in Dialogen und persönlichen sowie nicht historischen Berichten über die Vergangenheit nicht mehr vorkommt. Daraus solle man jedoch nicht den Schluss ziehen, dass diese Verbform tot sei. Das passé défini sei in der geschriebenen Sprache unerlässlich und könne auch im gesprochenen Französisch, etwa beim Erzählen historischer Fakten, verwendet werden. Statistisch gesehen komme es vor allem in der ersten und dritten Person des Singulars und des Plurals vor. Als Grund für den Rückgang des Gebrauchs des einfachen Perfekts wird Euphonie in Erwägung gezogen, meistens handle es sich jedoch um ein Nichtbeherrschen der Konjugation dieses Tempus. Daraus wird für die Französischlehrer die Aufgabe abgeleitet, die korrekten Formen des einfachen Perfekts zu vermitteln (Wagner & Pinchon 1991 [11962]: 370). Daran anschließend werden einige Funktionen des passé défini im klassischen und im modernen Französischen beschrieben, wobei auch auf die gnomische Funktion zur Formulierung zeitloser Aus_____________ 19 Die Autoren beziehen sich hier auf Benveniste, wahrscheinlich auf die Problèmes de linguistique générale (vgl. Benveniste 1966). Die Quellenangabe loc. cit. in Wagner & Pinchon (1991 [11962]: 370) ist nicht auflösbar.

Bezeichnungen der Tempora

165

sagen verwiesen wird (Qui ne sait se borner ne sut jamais écrire. Boileau) und ein Bezug zum griechischen Aorist hergestellt wird (Wagner & Pinchon 1991 [11962]: 372). Dennoch verwenden die Autoren die Bezeichnung passé défini unproblematisiert. Bemerkenswert ist außerdem, dass das Imperfekt zusammen mit dem Konditional behandelt wird. Hierfür spricht einerseits die Morphologie der Verbformen, andererseits aber auch ihre Funktion. Die Wahl der Bezeichnung passé indéfini für das zusammengesetzte Perfekt und passé défini für das einfache Perfekt scheint den temporalen und aspektuellen Funktionen zwar besser zu entsprechen als die umgekehrte, an die griechischen Bezeichnungen angelehnte Bezeichnungswahl, dennoch ist sie aufgrund ihrer historischen Belastung durch die wechselvolle Geschichte der Grammatikographie problematisch. Außerdem muss gerade für das Französische die weitgehende Ersetzung des einfachen durch das zusammengesetzte Perfekt in Betracht gezogen werden. Wenn eine Verbform in zahlreichen Varietäten eine andere ersetzt, kann sie nicht durch eine Opposition zu dieser in der Definitheit charakterisiert werden. Die Bezeichnung der Perfektformen auf der Basis des morphologischen Kriteriums der Einfachheit bzw. Zusammengesetztheit, die z.B. bei Grevisse (1980: 712) und Riegel, Pellat & Rioul (1994: 301–305) vorgenommen wird, scheint Missverständnissen besser vorzubeugen und erlaubt auch eine adäquate Beschreibung der aspektuellen Merkmale der Verbformen. Wilmet schlägt eine Reform der Bezeichnungen der Verbformen vor, in der er anstelle der traditionellen Terminologie folgende Innovationen der Benennungen der Verbformen vorsieht (Wilmet 1997: 301):

166

Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Verbformen

Traditionelle Bezeichnungen

Innovation Wilmet (1997)

marcher

Infinitif présent

Infinitif

marchant

Participe présent

Participe I

marché

Participe passé

Participe 2

marche, marchions

Subjonctif présent

Subjonctif I

marchasse

Subjonctif imparfait

Subjonctif 2

marche

Indicatif présent

Présent

marchai

Indicatif passé simple

Passé I

marchais

Indicatif imparfait

Passé 2

marcherai

Indicatif futur simple

Futur I

marcherais

Conditionnel présent

Futur 2

avoir marché

Infinitif passé

Infinitif composé

ayant marché

Participe passé

Participe I composé

eu marché

---

Participe 2 composé

aie marché

Subjonctif passé

Subjonctif I composé

eusse marché

Subjonctif plus-que-parfait

Subjonctif 2 composé

ai marché

Indicatif passé composé

Présent composé

eus marché

Indicatif passé antérieur

Passé I composé

avais marché

Indicatif plus-que-parfait

Passé 2 composé

aurai marché

Indicatif futur antérieur

Futur I composé

aurais marché

Conditionnel passé

Futur 2 composé

Die Reduzierung der Zahl der traditionellen Termini hätte zweifellos einen gewissen didaktischen Wert; außerdem werden einige der vorgeschlagenen neuen Bezeichnungen der Funktion der Verbformen besser gerecht (z.B. Futur 2 für Conditionnel présent). Die von Wilmet eingeführten neuen Termini sind als solche jedoch mindestens ebenso arbiträr. Auch die zugeordneten Zahlen weisen untereinander keine Analogie auf und wären von Lernenden ohne weitere Anhaltspunkte zu memorieren. Auf das größte Problem weist Wilmet selbst hin:

Bezeichnungen der Tempora

167

Qu’on n’objecte pas que présent composé opacifierait l’appartenance de cette forme au passé : c’est d’une part le cas d’imparfait et, d’autre part, passé composé – tout comme un éventuel passé 3 – fait l’impasse sur la valeur de présent extensif. (Wilmet 1997: 301)

Obwohl eine Beziehung des passé composé zur Gegenwart mehrfach festgestellt wurde, übernimmt gerade diese Verbform in der gesprochenen Sprache viele Funktionen des einfachen Perfekts zur Darstellung perfektiver Ereignisse in der Vergangenheit. Eine Bezeichnung als présent composé würde dieser Funktion kaum gerecht. Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Bezeichnungen der französischen Verbformen hat offensichtlich einerseits ihre Wurzeln in der Geschichte, ufert aber auch in der Gegenwart in der Folge der Entwicklung unterschiedlicher linguistischer Theorien aus. Eine Normierungsinstanz für die grammatische Terminologie gibt es nicht; die nach dem morphologischen Kriterium gebildete traditionelle Terminologie ist jedoch am weitesten verbreitet. 2.4.5. Die Benennung der Verbformen der Vergangenheit in frühen spanischen Grammatiken Auch die frühen spanischen Grammatiken gehen vor allem von lateinischen Vorbildern aus, wobei hier insbesondere die Ars minor von Donat zu erwähnen ist. Diese Lehre beeinflusste auch Antonio de Nebrija und seine Introductiones latinae (1481; 21485), die die erste humanistische Grammatik nach italienischem Vorbild in Spanien waren. Diese Introductiones latinae hatten Erfolg und ihr Autor brachte in späteren Ausgaben Änderungen an. So erhöhte er in der letzten Edition vor seinem Tod die Anzahl der Verbformen auf sechs (Baldischwieler 2004: 11). Schon vor seiner Gramática castellana (1492) übersetzte Nebrija seine lateinische Grammatik und er bemerkte in einer Randglosse, dass die durch das Lateinische bestimmte Metasprache der Beschreibung des Spanischen dazu führe, dass sprachliche Kategorien benannt würden, die im Spanischen nicht existierten (Nebrija 1996 [1488]; vgl. Baldischwieler 2004: 26): E regione, id est ‘ex opposito’; hoc est ut sermo hispaniensis sit positus contra latinum. Hispanienses vero dixit non hispanas, quia introductiones illae in hispanum sermonem non usque adeo migrare potuerunt ut non maximam latinitatis partem retinuerint. Nam hispanum est ‘quod in Hispania’ atque ‘ex Hispania est,’ hispaniense vero ‘quod non penitus hispanum’, sed aut ‘in Hispania ab externis geritur’, ut bellum hispaniense, quod ab Romanis in Hispania aut ‘extra Hispaniam ab Hispanis’, ut collegium hispaniense, quod est Bononiae ab immortalis memoriae viro Aegidio Albornozio S. R. C. cardinali hispano fundatum. (Nebrija, ILC, prólogo, f. 5vo-6ro)

168

Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Für die Übersetzung der Benennungen der Verbformen nutzte er vor allem Lehnübersetzungen: praeteritum imperfectum = passado & no acabado (f. 14ro et passim) praeteritum perfectum = passado & acabado (f. 14ro et passim) praeteritum plus quam perfectum = passado & mas que acabado (f. 14ro et passim)

In anderen Fällen nutzte er spanische Lexeme und gab ihnen die Bedeutung lateinischer Wörter: futurum = venidero (f. 7vo et passim) genus (verbi) = genero (f. 40ro et passim) modus = manera (f. 7ro et passim)

In seiner Definition des Verbs in der Gramática castellana scheint sich Nebrija auf die lateinische Tradition zu stützen, wie Baldischwieler (2004: 101) durch einen Vergleich mit Helias nachweist: Verbo es una de las diez partes de la oración, el cual se declina por modos & tiempos, sin casos. E llámase verbo, que en castellano quiere dezir palabra, no por que las otras partes de la oración no sean palabras, mas por que las otras sin ésta no hazen sentencia alguna, ésta, por ezcelencia, llamóse palabra. (Nebrija 1980 [1492]: 184) Ethimologizat deinde hoc nomen ‘verbum’ ut dicat ‘verbum’ dici a ‘verberatu aeris’ et hoc antonomasice, id est, per excellentiam. Licet enim quamlibet orationis partem proferendo verberemus aera lingua, frequentius tamen fit hoc in verbo quia frequentius utimur verbo et cum nomine et sine eo quam alia parte orationis. (Helias 1993: 450, 65–69)

Nebrija definiert die Modi des Verbs als eine Kategorie, die bestimmte Arten der Bedeutung des Verbs unterscheidet: El modo en el verbo, que Quintiliano llama calidad, es aquello por lo qual se distinguen ciertas maneras de significado en el verbo. (Nebrija 1980 [1492]: 185, 15–17)

Diese Definition ist sehr allgemein und sie unterscheidet sich von der lateinischen Tradition. Priscian hatte den Modus als “verschiedene Neigungen des Geistes, die verschiedene Emotionen anzeigen” (Priscian, Instit. gramm., VIII, 63; Keil 1855: 421, 17–18) definiert. In Nebrijas Grammatik sind die Modi die allgemeinste Kategorie, nach der die Tempora, die Numeri und die Personen in der Reihenfolge zunehmender Konkretheit folgen. Nach der Gramática castellana Nebrijas gibt es fünf Tempora des Indikativs und fünf des Subjunktivs. Für ihre Benennung nutzt er Entlehnungen aus dem Latein (tiempo presente, tiempo futuro o venidero) und Lehnübersetzungen (tiempo passado no acabado, tiempo passado acabado, tiempo passado mas que acabado). Nebrija konnte sich an zwei vorausgehenden Arbeiten orientieren, die Beschreibungen von Verbformen enthielten, das Compendium

Bezeichnungen der Tempora

169

grammaticae von Juan de Pastrana und eine Abhandlung von Andrés Gutiérrez de Cerezo (vgl. Ridruejo 1977: 56–58). Diese Autoren unterschieden drei Formen des Perfekts im Lateinischen: den Aorist, das zusammengesetzte Perfekt und das Plusquamperfekt. Nebrija passte sein System dem dieser Autoren an. Die Funktion der Verbformen leitete er aus ihren Bezeichnungen ab: Presente tiempo se llama aquél en el cual alguna cosa se haze agora, como diziendo io amo. Passado no acabado se llama en el cual alguna cosa se hazía, como diziendo io amava. Passado acabado es aquél en el cual alguna cosa se hizo, como diziendo io amé. Passado más que acabado es aquél en el cual alguna cosa se avía hecho, cuando algo se hizo, como io te avía amado, cuando tú me amaste. Venidero se llama en el cual alguna cosa se a de hazer, como diziendo io amaré. (Nebrija 1980 [1492]: 185, 31–39)

Für die am Lateinischen orientierten Grammatiken brachten die analytischen Verbformen des Spanischen das Problem ihrer Integration in das System mit sich. Nebrija entschied sich zur Beschreibung von fünf Verbformen (presente, passado no acabado, passado acabado, passado mas que acabado, venidero), berücksichtigte jedoch auch die Tempora, die es im Lateinischen gibt und die im Spanischen fehlen. Er beschreibt ihre Zusammensetzung ausgehend von den Formen des Verbs haber, denen eine nominale Verbform hinzugefügt wird. Diese nominale Verbform hat Nebrija (1492: 83– 84) unter der Bezeichnung nombre verbal infinito als neue Wortart hinzugefügt, die den Sinn der Verbalhandlung trägt. Nebrija beschreibt zum Beispiel ein passado acabado por rodeo, das in zwei Formen vorkommt: Assi dize el passado acabado por rodeo en dos maneras, una por el presente del indicativo; y otra por el mesmo passado acabado; diziendo io e amado, y ove amado. El passado mas que acabado dize por rodeo del passado no acabado diziendo: io avia amado. (Nebrija 1492: 79)

In den ersten Grammatiken wurde nicht zwischen der chronologischen Zeit und dem grammatischen Tempus unterschieden, deshalb wurde einfach der Terminus pasado ‛Vergangenheit’ benutzt. Seit Nebrija lässt sich aber die Unterscheidung zwischen vollendeten (acabado) und unvollendeten (no acabado) Verbformen feststellen. Eine solche Unterscheidung wurde jedoch von Villalón zurückgewiesen, der nur von drei Tempora ausging. Nebrija habe zwei Präterita hinzugefügt, aber diese seien nur nötig, um die Eleganz der lateinischen Sprache zu beschreiben. Für das Spanische müsse man die Zahl der Tempora nicht erhöhen. […] ay solas tres differēçias del tiempo por donde se varia el verbo por la lengua Castellana. Tiēpo presente, como yo amo. Y tiemto passado, como yo ame. Y tiempo futuro, que es el que esta por venir, como yo amare. Por solos estos tres tiēpos dizo toda su habla y cōtinua su conuersaçion el Castellano. Aunque

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Antonio de Nebrija en su Arte de Gramatica Latina añadió dos preteritos y dos futuros, perfecto e imperfecto y pluscuamperfecto. Pero esto fue porque ansi lo hallo en la elegancia latina: y ANSI lo puso el preçeptiuamēte, para que ofrecido el verbo en algun auctor lo entendiesse el que lo leya en su verdadera sinificaçion y intincion. Pero nuestra lēgua Castellana no tiene neçesidad desta multiplicaçion de tiempos. (Villalón 1558: 36)

Betrachten wir die Bezeichnungen der Verbformen der Vergangenheit in frühen spanischen Grammatiken, so ist auffällig, dass das zusammengesetzte Perfekt bei vielen Grammatkern zunächst nicht behandelt und allenfalls einfach unter der Konjugation des Hilfverbs haber erwähnt wurde. Die Grammatiken des 17. Jahrhunderts stimmen in der Bezeichnung des einfachen Perfekts und des Imperfekts überein: Verbformen

Nebrija 1492

Villalón 1558

Correas 1626

canté

pasado acabado

passado

pasado cumplido i acabado

cantaba

pasado no acabado

----------

pretérito perfecto pasado nocumplido ni acabado

Jiménez Patón 1614 preterito perfeto

Villar 1651

preterito imperfeto

preterito imperfeto

preterito perfeto

pretérito imperfecto he cantado

passado acabado ---------- ---------------------------por rodeo Correas (1626: 156) verfolgte eine andere Reihenfolge als Nebrija in der Beschreibung der Kategorien des Verbs. Er begann mit den Tempora, behandelte danach die Personen, die Numeri und die Modi; dabei ging er von fünf Tempora aus und benutzte die doppelte Charakteristik als cumplido i acabado: Presente, qe demuestra lo qe ahora se haze; pasado no-cumplido ni acabado, que muestra lo qe se hazía i no se acabó; pasado cumplido i acabado, qe muestra lo que se hizo i acabó; pasado mas que cumplido, qe muestra qe algo se hizo antes qe otra cosa, i antes qe otro hiziese; venidero, qe muestra lo qe se ha de hazer adelante. (Correas 1626: 156)

Bezeichnungen der Tempora

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Er erwähnte auch die lateinischen Bezeichnungen und rechtfertigte deren Gebrauch damit, dass sie durch das Studium der lateinischen Sprache bekannt seien: A estos cinco tiempos en la Gramática Latina llaman Presente, pretérito imperfecto, pretérito perfecto, pretérito pluscuamperfecto, futuro imperfecto, los cuales términos usaremos alguna vez como notorios á los qe estudian. (Correas 1626: 156)

Indem er die spanischen und die lateinischen Bezeichnungen als einander äquivalent gebrauchte, betrachtete Correas die Systeme beider Sprachen als ähnlich und problematisierte ihre Beschreibung mit denselben Termini nicht. Auch in für Nicht-Muttersprachler geschriebenen Grammatiken wurden die Tempora der spanischen und der lateinischen Sprache als gleichartig betrachtet. In diesem Zusammenhang ist die Beschreibung der zwei Perfektformen des Spanischen in der Einführung von John Sanford (1611) interessant, der sie folgendermaßen unterscheidet: der Aorist kennzeichne nur den Abschluss der Handlung und beinhalte kein temporales Merkmal, während das zusammengesetzte Perfekt den kürzlichen Abschluss eines Prozesses und ein zeitliches Merkmal ausdrücke: They have two Preterperfect tenses; one faith Bartholomeus Granius which aunswereth to the Greek Aorist, because it signifieth a thing done and past, without determining the time when, as yo ame, I loued a while agoe, yo andúve I went, yo vine I came: The other signifieth a thing lately past with determination of the time, as ya he comido oy venado, I have eaton venison to day. (Sanford 1611: 25)

Damit werden die ursprünglich im Griechischen gegebenen Verhältnisse auf das Spanische projiziert, dessen Realität jedoch davon entfernt war. 2.4.6. Die Benennung der Verbformen der Vergangenheit in spanischen Grammatiken des 18. Jahrhunderts Diese Bezeichnungstradition setzte sich im 18. Jahrhundert fort. Die zusammengesetzten Verbformen wurden langsam in die Beschreibung des Verbalparadigmas integriert. Martínez Gómez Gayoso unterschied nur sechs Tempora und bezog sie auf wenig präzisierte temporale Funktionen. Er benannte die Verbformen nach der Tradition der lateinischen Grammatiken: El Tiempo es la vária inflexión del Verbo, según el tiempo que denota. Los Tiempos son seis: Presente, Pretérito imperfecto, Pretérito perfecto, Pretérito plusquam perfecto, Futuro imperfecto, y Futuro perfecto. (Martínez Gómez Gayoso 1769: 124)

Neben den eigentlichen Tempora behandelte Gómez Gayoso auch die Hilfsverben, die bei der Konjugation der Verben helfen („ayudan à la conjugación de los demás Verbos“; Martínez Gómez Gayoso 1769: 126).

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Er integrierte die Formen des zusammengesetzten Perfekts (he consumido) und des pretérito anterior (hube consumido) in das Verbalparadigma, implementierte aber keine funktionalen Differenzen zwischen diesen Formen und dem einfachen Perfekt (consumí). Die drei Formen erscheinen unter der Bezeichnung pretérito perfecto (z.B. Martínez Gómez Gayoso 1769: 179). In der Grammatik des Padre Benito de San Pedro erscheinen die zusammengesetzten Verbformen in das Konjugationsparadigma integriert. Das zusammengesetzte Perfekt wird in dieser Grammatik als pretérito indefinido bezeichnet. San Pedro rechtfertigt seinen von der griechischen Tradition abweichenden Gebrauch des Terminus indefinido nicht, wahrscheinlich hat er ihn aber für das zusammengesetzte Perfekt verwendet, weil diese Verbform mit der Gegenwart in Beziehung steht und daher nur einen relativen temporalen Wert hat: El Pretérito indefinido [denota] una cosa passada en un tiempo del que dura algo todavía, o que es passado poco a, v.g. Yo e estado enfermo este año, oeste mes: E oido Missa esta mañana. (San Pedro 1769: II, 56)

Ähnlich wie in Frankreich wurde also der mit dem Terminus indefinido bezeichnete Begriff der ‛Unbestimmtheit̕ auch in Spanien bereits im 18. Jahrhundert auf unterschiedliche Verbformen angewandt. Der Bezug zum griechischen Aorist war verloren gegangen und die Grammatiker werteten aufgrund unterschiedlicher Kriterien verschiedene Verbformen als unbestimmt. Im 18. Jahrhundert wurde das zusammengesetzte Perfekt nicht mehr einfach als das Präsens von haber mit einem Partizip oder einem infiniten Verbalnomen (nombre verbal infinito) behandelt. Die königliche Sprachakademie führte für diese Verbform die Bezeichnung pretérito perfecto próximo ein und berücksichtigte damit etwas Ähnliches wie die 24-Stunden-Regel: die mit dem zusammengesetzten Perfekt bezeichneten Vorgänge sollten zeitlich nahe gegenüber dem Redemoment sein: Verbform

canté cantaba he cantado

Martínez Gómez Gayoso 1769 pretérito perfecto

San Pedro 1769

GRAE 1771

GRAE 1796

pretérito perfecto

pretérito imperfecto ----------

pretérito imperfecto pretérito indefinido

pretérito perfecto remoto pretérito imperfecto pretérito perfecto próximo

pretérito perfecto remoto pretérito imperfecto pretérito perfecto próximo

Bezeichnungen der Tempora

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Seit der ersten Ausgabe der Grammatik der Real Academia Española wurden die einfachen und eigentlichen Verbformen (simples o propios) von den zusammengesetzten und uneigentlichen (compuestos e impropios) unterschieden (RAE 1771: 74).20 Zur Rechtfertigung der Bezeichnung als impropios beriefen sich die Autoren auf die Unfähigkeit dieser Verbformen, eine temporale Bedeutung mit nur einem Wort auszudrücken. Dieses Kriterium, das die analytische Tendenz im Spanischen abwertete, ergab sich natürlich aus dem Vergleich mit dem Lateinischen. Dennoch wurde auch der morphologisch basierte Terminus compuesto eingeführt: Llámanse impropios, porque no tienen la propiedad de expresar el tiempo con solo una palabra, y son formados para traducir y suplir por algun rodeo otros tiempos semejantes, propios de la lengua latina. Llamanse también compuestos, porque se componen de dos, ó tres palabras. (RAE 1771: 74)

Die zögerliche Integration der zusammengesetzten Verbformen in die Beschreibung der Konjugation der spanischen Verben und Merkwürdigkeiten in der Benennung dieser Verbformen scheinen bis zum 18. Jahrhundert durch zwei Ursachen bedingt. Einerseits transponieren die Autoren der Grammatiken die lateinische Grammatik und ihre Termini auf die spanische Sprache. Trotz ihres hohen Grammatikalisierungsgrades passten die analytischen Formen nicht in dieses System. Andererseits betrachteten die Autoren die Termini lediglich semasiologisch, d.h. sie leiteten aus der Bedeutung der Bezeichnungen die Funktionen der Verbformen ab. Die semantischen Charakteristika und der Gebrauch dieser Formen standen kaum im Blickfeld und die onomasiologische Frage nach ihrer adäquaten Benennung wurde nicht gestellt. 2.4.7. Terminologische Variation und neue theoretische Ansätze im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert begannen einige Autoren – unabhängig von den traditionellen Beschreibungen und Benennungen – über die Funktionen und den Gebrauch der Verbformen nachzudenken. Diese Überlegungen führten zu unterschiedlichen Theorien und zu neuen Termini (vgl. Esparza Torres 2009). Juan Manuel Calleja,21 ein von den Ideologen beeinflusster Autor, unterschied in seinen Elementos de gramática castellana (1818) die grammati_____________ 20 Zu den Kategorien des Verbs in den Grammatiken dieser Zeit vgl. Gómez Asencio (1981) und (2011) 21

Vgl. Haßler (2009) und (2012b).

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

schen Tempora und die ontologische Zeit.22 Er bezeichnete beide zwar mit dem gleichen Terminus, benutzte aber für die unterschiedlichen ontologischen Zeiten spanische Wörter, während er die grammatischen Tempora mit Termini belegte, die aus dem Lateinischen abgeleitet waren: Los tiempos son tres: presente, pasado y venidero, que se subdividen en cada modo en otros varios. El modo indicativo admite ocho tiempos, que son: presente, pretérito imperfecto, pretérito perfecto remoto simple, pretérito remoto compuesto, pretérito próximo, pretérito pluscuamperfecto, futuro imperfecto y futuro perfecto. (Calleja 1818: 25)

In dieser Reihe von Bezeichnungen fällt der Terminus pretérito perfecto remoto simple auf, der aus vier Wörtern besteht, von denen jedes ein Merkmal der betreffenden Verbform bezeichnet: El pretérito perfecto remoto simple manifiesta ya pasada la significación del verbo, v.g. fui, estuve, escribí. Se llama simple, por que su terminación lo es, y remoto por que para usarle no basta que la cosa de que se habla haya pasado, sino que es menester que haya algun tiempo que pasó. (Calleja 1818: 26)

Calleja beschrieb auch den aspektuellen Wert des Imperfekts, den er als Darstellung einer Handlung im Verlauf oder deren gewohnheitsmäßigen Stattfindens beschreibt: El pretérito imperfecto manifiesta en su significacion que se estaba haciendo una cosa, cuando ocurriò otra, v. g. escribia, cuando llegaste. Se emplea para expresar acciones habituales en un tiempo pasado que no se determina […] (Calleja 1818: 26)

Der südamerikanische Philosoph, Völkerrechtler und Philologe Andrés Bello (1781–1865) hat eine eigene innovative Terminologie erfunden, in der er drei Basiszeiten annimmt und diese mit den Bezeichnungen presente, pretérito und futuro belegt, denen er dann für die Relationen der Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit die Präfixe ante-, co- und pos(t) hinzufügt. Dieses einfache und symmetrische System hat Fürsprecher gefunden, es reduziert allerdings die Beschreibung der Verbformen auf die von Bello angenommene temporale Bedeutung. Zum Beispiel betonte er mit der Bezeichnung copretérito das gleichzeitige Ablaufen eines Prozesses während eines anderen. Die Nachzeitigkeit in der Vergangenheit darstellende Verbform nennt er pospretérito (z.B. cantaría). Er nimmt fünf zusammengesetzte Formen des Indikativs an (he cantado, hube cantado, habré cantado, había cantado, habría cantado). Die Bezeichnung ante-presente für das zusammengesetzte Perfekt hebt die Beziehung der Form he cantado zum Präsens hervor: El indicativo tiene cinco formas compuestas, en que el participio sustantivo se combina con las cinco formas simples del indicativo de haber: he cantado, hube cantado, habré cantado, habia cantado, habría cantado. En ellas, como en todas las que se componen con el participio sustantivo, el tiempo significado por la forma

_____________ 22

Zum Ausdruck der Zeit vgl. auch Calero Vaquera (2011).

Bezeichnungen der Tempora

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compuesta es anterior al tiempo del auxiliar. Por consiguiente he cantado es un antepresente, hube cantado un ante-pretérito, habré cantado un ante-futuro, habia cantado un anteco-pretérito, i habria cantado un ante-pos-pretérito. (Bello 1859 § 289, 149)

Wie wir bereits im 18. Jahrhundert am Beispiel von San Pedro gesehen haben, führte diese Verbform zu den größten terminologischen Innovationen. Die Benennung des zusammengesetzten Perfekts als pretérito indefinido findet sich auch in der Grammatik von Andrés Martínez de Noboa (1839), für den diese Verbform einen unbestimmteren Zeitraum als die anderen Verbformen der Vergangenheit bezeichnet, der noch nicht zu Ende ist, sondern in die Gegenwart hineinreicht. Das einfache Perfekt nennt er unter Nutzung des Oppositionspaars ‛̕bestimmtʼ / ʽunbestimmtʼ pretérito definido und das Imperfekt pretérito actual: 1° Pretérito actual. Se llama pretérito porque espresa la significación como pasada respecto del presente, pero como presente ó coexistente con otra época anterior, v.g. yo entraba cuando tú salias. 2° Pretérito definido. Se llama definido este pretérito porque se refiere á una época fija, determinada, i enteramente concluida, haga poco ó mucho que se concluyó, sin embargo de que se le mire como mas remoto que el indefinido. 3° Pretérito indefinido. Se llama indefinido porque la época á que se refiere es mas indeterminada ó no ha acabado de pasar, sino que está pendiente ó relacionada con la presente; por cuya razon se le considera mas inmediato al presente, que el definido. Ejemplos de los dos: El año ó el siglo pasado hubo hambres, este año ó este siglo ha habido guerras. Ayer se marchó el criado, i no ha venido hasta ahora. (Noboa 1839: 84)

Eine andere Überlegung über die Natur der Verbformen wurde von Vicente Salvá (1786–1849) eingebracht, die zwischen dem pretérito coexistente, mit dem er den gleichzeitigen Ablauf von Prozessen betonte, und dem pretérito absoluto, mit dem er das einfache Perfekt meinte, unterscheidet. Im syntaktischen Teil seiner Grammatik stellt Salvá fest, dass für die Herstellung der Gleichzeitigkeit immer ein anderes Verb, ein Adverb oder ein Satz, der eine zweite Situation bezeichnet, notwendig ist („siempre se necesita otro miembro con verbo, ó un adverbio ó alguna frase que designen la segunda accion, para que se realize la coexistencia de los dos sucesos“; Salvá 1852: 172). In dieser aspektuellen Eigenschaft unterscheidet sich das Imperfekt (pretérito coexistente) grundsätzlich vom einfachen Perfekt (pretérito absoluto):23 _____________ 23 Salvá nutzt in diesem Teil seiner Grammatik auch den Terminus indefinido mit zwei Attributen: absoluto y condicional. Der indefinido condicional „tiene que ir siempre después de una partícula conjuntiva o después de un adjetivo relativo, que se reliera á algun nombre regido por otro verbo anterior, v. g. Aunque fuese tarde, determinó entrar en el teatro; No le daba cuidado que yo lo notase; […]“ (Salvá 1852: 183). Er führt eine Zweiteilung des pretérito indefinido ein, in Wirklichkeit nennt er aber das pretérito perfecto simple immer pretérito absoluto.

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

[…] á mas de limitar á una época precisa, si se señala, las acciones, no necesita la simultaneidad de otra para que se complete el sentido de la frase. Cuando digo, Juan llegó anteayer, la oración queda perfecta; pero si dijera, llegaba anteayer, preciso seria que añadiese, cuando nosotros le vimos apear, ó alguna cosa semejante. (Salvá 1852: 172)

Den Namen pretérito próximo für das zusammengesetzte Perfekt rechtfertigt er mit seinem Kontrast zum pretérito absoluto: dieses drückt einen vollständig vergangenen Prozess aus, während beim pretérito próximo der Vorgang zwar stattgefunden hat, wir uns aber immer noch im selben Zeitraum befinden oder dieser Vorgang jederzeit wieder aufgenommen werden kann.24 Die Termini pretérito absoluto und imperfecto wurden auch in der philosophischen Grammatik von Eduardo Benot (1822–1907) verwendet, der die Verbformen ansonsten nach dem morphologischen Kriterium in einfache und zusammengesetzte einteilte: Los tiempos, pues, se dividen en simples y compuestos. Se llaman SIMPLES á los DESINENCIALES y que constan de una palabra Amo, Tenías, Partirás Y COMPUESTOS á los constituidos por más de una palabra: He amado, Habías amado, Habrá amado (Benot 1910: 70) Verbformen

Calleja (1818)

Noboa (1839)

Bello (1847)

Salvá (1852)

Benot (1910)

canté

pretérito perfecto remoto simple

pretérito definido

pretérito

pretérito absoluto

cantaba

pretérito imperfecto

pretérito actual

copretérito

he cantado

pretérito próximo

pretérito indefinido

antepresente

pretérito absoluto (el perfecto de los gramáticos) pretérito coexistente (imperfecto de los gramáticos) pretérito próximo

imperfecto

pretérito compues to

Die königliche Sprachakademie kehrte zur Tradition zurück, indem sie die Perfektformen nach dem morphologischen Kriterium als einfach und zu_____________ 24 „[…] que ha sucedido ya la cosa; pero que esta ó la época á que aludimos, todavía duran, ó bien que no ha cesado la práctica, la esperanza, ó por lo menos la posibilidad de que vuelva á repetirse lo que la frase significa“ (Salvá 1852: 186).

Bezeichnungen der Tempora

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sammengesetzt einteilte und das strittige Kriterium der Nähe des pretérito perfecto próximo aufgab. 2.4.8. Probleme um die Benennungen des einfachen Perfekts im 20. Jahrhundert 1917 kommt es zu einer Veränderung in der Benennung der Verbform des einfachen Perfekts, das ohne nähere Erklärung von der Akademie pretérito indefinido genannt wird. Ein Rekurs auf die griechische Bezeichnungstradition des temporal unbestimmten Aorists ist möglich, angesichts der vorangegangen Diskussion erscheint dies jedoch wenig wahrscheinlich. Man könnte auch spekulieren, dass vielleicht ein Einfluss der Grammatik von Port-Royal vorliegen könnte, die diese Verbform auch als indefinit erklärt und dies mit der temporalen Unbestimmtheit jenseits der 24 Stunden begründet hatte. Dass dies Anfang des 20. Jahrhunderts in Spanien noch eine Rolle gespielt hatte, darf jedoch bezweifelt werden. Wahrscheinlicher erscheint die Wiederaufnahme dieser Bezeichnung vor allem im Zusammenhang mit der Verbreitung der Aspekttheorien zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa, die fast zeitgleich mit der Entwicklung strukturalistischer Sprachtheorien vor sich ging, die die Idee binärer Oppositionen einbrachten. In der spanischen Grammatik gab es keine Probleme, den Aspekt zu integrieren, hatte man doch schon seit geraumer Zeit Verbformen als vollendet oder unvollendet charakterisiert. In der folgenden Tabelle nach Rojo (1990: 20) sind die Verbformen entsprechend der Akademiegrammatik von 1917 dargestellt:

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Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Verbformen, die eine Handlung als nicht abgeschlossen darstellen

Verbformen, die eine Handlung als abgeschlossen darstellen

Modo Indicativo Presente Pretérito imperfecto Pretérito indefinido Futuro imperfecto

digo decía dije diré

Pretérito perfecto Pretérito pluscuamperfecto Pretérito anterior Futuro perfecto

he dicho había dicho hube dicho habré dicho

Modo Potencial Potencial simple o imperfecto

diría

Potencial compuesto o perfecto

habría dicho

Modo Subjuntivo Presente diga Pretérito imperfecto dijera dijese Futuro imperfecto dijere

Pretérito perfecto haya dicho Pretérito pluscuamperfecto hubiera dicho hubiese dicho Futuro perfecto hubiere dicho

Es fällt auf, dass die als Pretérito indefinido bezeichnete Verbform hier unter denen aufgeführt ist, die eine Handlung als nicht abgeschlossen darstellen, also unter den imperfektiven. Diese Einordnung wirkt schon deshalb befremdlich, weil jeder Sprecher des Spanischen das einfache Perfekt für einmalige und abgeschlossene Handlungen verwendet und weil es in einem deutlichen aspektuellen Kontrast zum imperfecto steht. Gili Gaya (1961: § 119), der diese Zuordnung und Bezeichnung korrigiert hat, gibt eine plausible und eine erstaunliche Erklärung dieser Einordnung. Offensichtlich hatte die Akademie das aspektuelle Merkmal der Perfektivität mit der Inchoativität und der Terminativität als deren Spezialbedeutungen verwechselt. Verben im einfachen Perfekt können sowohl den Anfang als auch das Ende einer Handlung bezeichnen, sind also in diesem Sinne tatsächlich indefinit: […] expresa unas veces el hecho o acción como incipientes, y otras como terminados, según la significación del verbo. (RAE 1931: § 294b)

Dennoch sind sie perfektiv, insofern sie die Handlung nicht im Verlauf, sondern ganzheitlich in den Blick nehmen. Es scheint also hier eine Verwechslung des Aspekts und möglicher spezifischer Bedeutungen des Aspekts vorzuliegen. Überraschend ist die andere Erklärung für die Einordnung des einfachen Perfekts unter die imperfektiven Verbformen: die Zuordnung einer einfachen Verbform auf die Seite der zusammengesetzten hätte die Systemsymmetrie gestört (Rojo 1990: 21). Dieser Irrtum wurde von Gili Gaya (1961 [1943]) korrigiert, wobei er zu einer globalen Sichtweise der Verbstruktur gelangte, die den meisten

179

Bezeichnungen der Tempora

späteren Darstellungen zugrunde liegt. Nach dieser Ansicht sind alle zusammengesetzten Verbformen und das einfache Perfekt perfektiv und alle einfachen Verbformen mit Ausnahme des einfachen Perfekts imperfektiv. Mit der Opposition der absoluten und der relativen Tempora wird dem Vorhandensein eines weiteren Referenzpunktes neben dem Sprechaktmoment Rechnung getragen:

Presente Pretérito Futuro

Imperfectos Absolutos Relativos leo leía leeré

Perfectos Absolutos Relativos

leería

leí he leído

había leído hube leído habré leído habría leído

Im Esbozo de una nueva gramática de la lengua española (1973) nahm auch die Akademie diese Korrektur vor und kehrte zur traditionellen morphologisch fundierten Bezeichnung pretérito perfecto simple zurück: Verbform

RAE (1931)

Esbozo (1973)

CANTÉ

pretérito indefinido Pretérito imperfecto pretérito perfecto

pretérito perfecto simple Pretérito imperfecto pretérito perfecto compuesto

CANTABA HE CANTADO

Nueva gramática (RAE 2009) pretérito perfecto simple Pretérito imperfecto pretérito perfecto compuesto

Obwohl die Bezeichnungen der Real Academia Española seit 1973 mit wenigen Modifikationen beibehalten und weit verbreitet wurden (vgl. RAE 2009), sind die früheren Bezeichnungsvarianten mitunter noch anzutreffen. Insbesondere die deutschen Lehrbücher des Spanischen folgen weitgehend der Terminologie von 1917, was für das Verständnis der Funktionen des einfachen Perfekts ungünstige Folgen hat. In der folgenden Tabelle werden die Bezeichnungsvarianten der spanischen Verbformen dargestellt (Rojo & Veiga 1999: 2883):

180

Temporalität und Tempus in romanischen Sprachen

Verbform

Bello (1847)

RAE (1917)

Gili Gaya (1943)

Canto Canté

presente pretérito

presente pretérito indefinido

Cantaba

co-pretérito

Cantaré Cantaría

futuro pos-pretérito

He cantado

ante-presente

pretérito imperfecto futuro simple potencial simple pretérito perfecto

presente pretérito perfecto absoluto pretérito imperfecto futuro absoluto futuro hipotético

Había cantado

ante-copretérito

Hube cantado Habré cantado Habría cantado

ante-pretérito ante-futuro ante-pospretérito

pretérito pluscuamperfecto pretérito anterior futuro perfecto potencial compuesto

pretérito perfecto actual pretérito pluscuamperfecto ante-pretérito antefuturo antefuturo hipotético

Esbozo (1973) presente pretérito perfecto simple pretérito imperfecto futuro condicional pretérito perfecto compuesto pretérito pluscuamper fecto pretérito anterior futuro perfecto condicional perfecto

Man könnte den Ablauf der Diskussion in Frankreich und Spanien einfach resümieren: Definites wird indefinit und Indefinites definit genannt, je nachdem, ob man den Standpunkt des Tempus, des Aspekts oder der einzelnen Bedeutungen des Aspekts bezieht. Schließlich handelt es sich auch heute noch um einen Gegenstand, dessen Erklärung keinesfalls unstrittig ist.

3. Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen Im Verbalsystem der romanischen Sprachen ist der Ausdruck von Aspektualität eng mit dem Ausdruck von Temporalität verbunden. Wie im ersten Kapitel bereits dargestellt, gibt es in diesen Sprachen keine Verbform, die nur aspektuelle Qualitäten ausdrücken würde und die Existenz des Aspekts als solchem wurde außerdem vielfach angezweifelt. Allerdings mussten wir für bestimmte Verbformen feststellen, dass ihnen eher aspektuelle Merkmale zukommen als temporale (vgl. 2.3.3.). Im Folgenden soll zunächst das Verhältnis der Kategorie der Aspektualität zum grammatischen Aspekt geklärt werden. Danach werden wir uns verschiedenen Ausdrucksmitteln der Aspektualität zuwenden und ihre Interaktion beschreiben.

3.1. Aspektualität und Aspekt 3.1.1. Gibt es Aspekt in den romanischen Sprachen? Der Aspekt ist eine grammatische Kategorie des Verbs, die eine ganzheitliche Darstellung einer Situation oder eine Darstellung im Verlauf ermöglicht. Mit dem Aspekt wird die zeitliche Lage der vom Verb beschriebenen Situation ausgedrückt. Der Aspekt unterscheidet sich von der benachbarten Kategorie Tempus dadurch, dass ihm keine deiktische Qualität zukommt, er also kein Verhältnis einer betrachteten Zeit zur Sprechaktzeit ausdrückt. In einem kurzen Aufsatz hat Pottier (2012: 141) versucht, eine terminologische Klärung der Aspektproblematik durch unterschiedliche Schreibweisen herzustellen. Die auf die morphologische Klasse des Verbs konzentrierte grammatische Kategorie des Aspekts nennt er aspect, die universelle konzeptuelle Kategorie der Aspektualität ASPECT und die unterschiedlichen sprachlichen Mittel, die zum Ausdruck letzterer beitragen, aspectualisations. In der Tat scheint es sinnvoll, zwischen der in einigen Sprachen grammatikalisierten und als Korrelation perfektiver und imperfektiver Verben ausgeprägten Kategorie des Aspekts, der onomasiologisch definierten Kategorie der Aspektualität und den einzelnen, semasiologisch zu untersuchenden sprachlichen Mitteln, die eine Aspektualisierung bewirken, zu unterscheiden.

182

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Wie bereits unter 2.2.5. festgestellt wurde, gibt es in den romanischen Sprachen keine Verbform, die – wie ansatzweise noch der altgriechische Aorist – nur aspektuelle Merkmale ohne Temporalität ausdrücken würde. Auch eine Korrelation von jeweils zwei Verben, die sich als imperfektiv bzw. perfektiv gegenüberstehen, wie sie in den slavischen Sprachen gegeben ist, ist in den romanischen Sprachen nicht vorhanden. Auch in den slavischen Sprachen handelt es sich bei den in Aspektkorrelation zueinander stehenden Verben meist nicht mehr wie in frühen indoeuropäischen Sprachstufen um unterschiedliche Stämme,25 sondern um morphologisch aufeinander bezogene Verben. Aus dem imperfektiven Verb entsteht zum Beispiel durch Präfigierung ein perfektives Verb: imperfektiv

perfektiv

jam (ям)

izjam (изям)

obersorbisch

jěsć

zjěsć

niedersorbisch

jěsć

zjěsć

polnisch

jeść

zjeść

russisch

jest’ (есть)

s”jest’ (съесть)

serbisch

jesti (јести)

pojesti (појести)

tschechisch

Jíst

pojíst

ukrainisch

jisty (їсти)

z”jisty (з’їсти)

bulgarisch

deutsch

essen

Andererseits können durch Suffigierung aus perfektiven Verben imperfektive gebildet werden. Ein Beispiel dafür ist das russische Suffix -ва-: сдать (‛ablegen’, perfektiv) → сдавать (‛ablegen’, imperfektiv)

Auch eine solche auf morphologischen Kriterien beruhende Aspektkorrelation ist in romanischen Sprachen nicht vorhanden. Da es keine systematischen Züge in den romanischen Sprachen gibt, die Aspekt ausdrücken würden, und die Verbformen mit aspektuellen Merkmalen gleichzeitig auch Temporalität ausdrücken, wurde von einigen Autoren der Aspekt als für romanische Sprachen relevante Kategorie negiert oder es wurde auf ihn in ihrer Beschreibung verzichtet. _____________ 25

Zum Verbalsystem mit drei Aspekten vgl. Hewson & Bubenik (1997: 25–66), zur Entwicklung der Aspektproblematik im Verbalsystem indoeuropäischer Sprachen vgl. Hewson & Bubenik (1997: 209–350).

Aspektualität und Aspekt

183

Ein Autor wie Weinrich verzichtet zum Beispiel auf den Gebrauch der Begriffe ‛Aspekt’ und ‛Aspektualität’, obwohl er mit der Reliefgebung in Texten Sachverhalte beschreibt, die durchaus mit Aspektualität zu tun haben. Nach Weinrich (2001 [1964], 1973, 1982) gibt es drei Bedeutungsdimensionen, nach denen das Tempus-System organisiert ist. Diese beruhen auf folgenden semantischen Oppositionen (Weinrich 1982: 157): -

Tempus-Perspektive: Rückschau vs. Vorausschau Tempus-Register: Besprechen vs. Erzählen Tempus-Relief: Vordergrund vs. Hintergrund

Mit der Tempus-Perspektive unterscheidet er die Zeit, in der ein Text produziert wird (Textzeit) von der Zeit, in der sich die dargestellten Handlungen abspielen. Dabei kann der Sprecher dem Rezipienten aus der Perspektive seines Jetzt mitteilen, ob die Handlungszeit vor der Textzeit oder nach der Textzeit liegt. Die daraus resultierenden Perspektiven nennt er Rück-Perspektive und Voraus-Perspektive. Der Voraus-Perspektive ordnet Weinrich das Futur und den Konditional, der Rück-Perspektive das zusammengesetzte Perfekt, das Plusquamperfekt sowie das als „RückAorist“ bezeichnete passé antérieur zu. Wenn der Sprecher der Meinung ist, dass der Rezipient nicht ausdrücklich auf eine mögliche Differenz zwischen Textzeit und Handlungszeit aufmerksam gemacht werden muss, weil diese entweder nicht besteht oder nicht relevant ist, kann er auch eine Neutral-Perspektive gebrauchen. Diese setze den Hörer davon in Kenntnis, dass zur Zeit weder eine Rückschau noch eine Vorausschau angezeigt ist. Dieser Neutral-Perspektive ordnet Weinrich das Präsens, das Imperfekt und das als Aorist bezeichnete passé simple zu (Weinrich 1982: 159). Tempus-Perspektive Neutral-Perspektive Präsens Imperfekt Aorist („Passé simple“)

Differenz-Perspektive Rück-Perspektive Voraus-Perspektive Perfekt Futur Plusquamperfekt Konditional Rück-Aorist (Passé antérieur)

Als zweite Bedeutungsdimension im Tempussystem betrachtet Weinrich das Tempus-Register, durch dessen Wahl der Sprecher dem Hörer zu verstehen gebe, welche Rezeptionshaltung er für angemessen hält. Er ordnet die wichtigsten Tempora nach den in binärer Opposition stehen-

184

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

den Merkmalen ʽbesprechenʼ und ʽerzählenʼ in zwei Gruppen ein (Weinrich 1982: 161): Tempus-Register besprechende Tempora Präsens Perfekt Futur

erzählende Tempora Imperfekt/Aorist (passé simple) Plusquamperfekt/Rück-Aorist Konditional

Mit den besprechenden Tempora weise der Sprecher den Hörer an „die Rezeptionshaltung gespannter Hinwendung zu wählen“ (Weinrich 1982: 161). Da diese Haltung gewöhnlich Handlungen gegenüber angenommen wird, werden besprechende Texte wie solche aufgenommen und auch mit Handlungen beantwortet. Durch erzählende Tempora bedeute der Sprecher dem Rezipienten hingegen, „dass der Text mit entspannter Gelassenheit aufgenommen werden darf“ (Weinrich 1982: 161). Eine unmittelbare Reaktion auf die Äußerung wird nicht erwartet, jedoch wird die Vorstellungskraft der Rezipienten stärker gefordert. Besprechende und erzählende Tempora können im Text gemischt auftreten, erscheinen jedoch nicht wahllos. Ein Sprecher kann sich ganz entweder für das eine oder das andere Tempusregister entscheiden, wodurch die Instruktionen dieser syntaktischen Signale besonders deutlich zu erkennen sind (Weinrich 1982: 162). Weinrichs Darlegungen zum Tempus-Register legen nahe, dass die Wahl der Verbformen allein für den Charakter des Textes bestimmend ist und rein subjektiv erfolgt. Ebenso wird auf der Seite der erzählenden Texte mit dem Tempus-Relief eine weitere binäre Opposition eröffnet, die die Vordergrund- und Hintergrund-Tempora betrifft und auf den Merkmalen ʽAuffälligkeitʼ und ʽUnauffälligkeitʼ beruht. Folgende Tempora der Vergangenheit ordnet Weinrich den Kategorien ʽVordergrundʼ (ʽAuffälligkeitʼ) und ʽHintergrundʼ (ʽUnauffälligkeitʼ) zu: Tempus-Relief Hintergrund Imperfekt Plusquamperfekt

Vordergrund Aorist (passé simple) Rück-Aorist (passé antérieur)

Aspektualität und Aspekt

185

Auch aspekttheoretisch wird das Imperfekt als Tempus des Hintergrunds eingeordnet, bei Weinrich erscheint dieses Merkmal jedoch nicht als Folge seiner aspektuellen Qualität als unbegrenzt und imperfektiv, sondern in erster Linie aus einer subjektiven Entscheidung des Textproduzenten. Semantisch sei das Imperfekt durch die Merkmale Erzählen und Unauffälligkeit charakterisiert (Weinrich 1982: 184). In Bezug auf die Tempusperspektive ist das Imperfekt für Weinrich neutral. In reliefgebender Funktion alterniere es in schriftlichen Texten mit dem „Aorist“ und im mündlichen Sprachgebrauch mit dem zusammengesetzten Perfekt oder mit dem Präsens. Diese Funktion stellt er auch in syntaktischen Kleinstrukturen, wie mit Konjunktionen verbundenen Satzgefügen, fest. So bildet im folgenden Beispiel die Imperfektform trouvait den Hintergrund, vor dem das Ausbrechen der Studentenrevolte mit dem passé simple als im Vordergrund stehend dargestellt wird (vgl. Weinrich 1982: 184): (1) fr.

Au mois de mai 1968, le général de Gaulle se trouvait en Roumanie, quand la révolte des étudiants éclata.

In der besprochenen Welt, zum Beispiel in Alltagsdialogen, werde der Unterschied zwischen Hintergrund und Vordergrund nicht mit der Tempussyntax hergestellt, sondern er ergebe sich aus der Situation oder dem Argumentationszusammenhang. Wenn ein zeitlicher Kontrast ausgedrückt werden soll, kann jedoch ein Imperfekt zur Hintergrundbildung verwendet werden: (2) fr.

Je vous avoue que pendant un certain temps j’étais partisan du centralisme politique, mais il m’arrive de plus en plus de penser qu’il faut s’orienter vers le régionalisme. (Weinrich 1982: 184–185)

In diesem Beispiel dient das imparfait als Darstellung des nicht mehr aktuellen Hintergrunds. Die Inaktualität des Imperfekts kann so weit gehen, dass die mit ihm bezeichnete Situation als unwirklich dargestellt wird (Weinrich 1982: 185): (3) fr.

Pendant toutes ces années il souffrait beaucoup, il mourait même de temps en temps, mais il n’a jamais fait à ses héritiers le plaisir de mourir pour de vrai.

Aus solchen inaktuellen Möglichkeiten des Imperfekts erklärt Weinrich auch seine Verwendungsweisen, die wir als modal-evidentiell kennzeichnen (vgl. Kapitel 4.4.3). In seiner Textgrammatik der französischen Sprache (1982) beschreibt Weinrich textuelle Verwendungen der Tempora, die auf deren aspektuelle Qualitäten zurückgehen, verwendet jedoch den Begriff des Aspekts nicht. Auch das semantische Potential der Tempora beschreibt er nicht systematisch, sondern er geht von deren Verwendungen in typischen Texten aus und beschreibt die Wahl der verwendeten Mittel als von der Absicht des Textproduzenten abhängig. Damit wird eine

186

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

pragmatische, den Gebrauch der Sprache in den Mittelpunkt stellende Darstellung erreicht, die auf systematische Beschreibungen des Aspekts verzichten kann. Bemerkenswert ist jedoch gerade vor diesem Hintergrund die Verwendung des Terminus Aorist, der ursprünglich auf eine Verbform angewendet wurde, die aspektuell markiert, aber zeitlich unbestimmt war (vgl. 2.2.5 und 2.4.1). Weinrich gibt keine Erklärung für die Verwendung dieses Terminus und gebraucht selbst die Bezeichnung passé simple gelegentlich dahinter in Klammern. Er erwähnt, dass diese Tempusform mit den Mitteln der einfachen Tempus-Konjugation gebildet wird und beschreibt ihre Bedeutung als durch die semantischen Merkmale ʽerzählenʼ und ʽAuffälligkeitʼ gekennzeichnet. Bei der stark pragmatisch geprägten Herangehensweise in seiner Textgrammatik ist es denkbar, dass er das Attribut einfach vermied, weil es der Herausgehobenheit mit dem passé simple bezeichneter Handlungen widersprechen würde. In der Tempus-Perspektive weist er ihm allerdings, ebenso wie dem Präsens und Imperfekt, Neutralität zu (Weinrich 1982: 188). Diese Einordnung mag zunächst verwundern, da das passé simple prototypisch ganzheitlich betrachtete Handlungen in der Vergangenheit bezeichnet. Wie bereits erwähnt, zählt für Weinrich jedoch nicht das semantische Potential der Tempora zur zeitlichen Lokalisierung von Situationen, sondern ausschließlich ihre Verwendung ausgehend vom Sprechaktmoment. Gegenüber der Tempus-Perspektive des Sprechers verhält sich das passé simple tatsächlich neutral und bezeichnet keine Handlungen, deren Konsequenzen an den Sprechaktmoment heranreichen würden. Zum Imperfekt stehe das passé simple nur durch sein Relief-Merkmal ʽAuffälligkeitʼ in Opposition. Erzählungen könnten also dadurch ihr Relief erhalten, dass der Erzähler zwischen dem Imperfekt und dem einfachen Perfekt wechselt (Weinrich 1982: 188). So könne man den Übergang von einer handlungsärmeren Umgebung zur Darstellung des Ereignisses durch einen Wechsel vom Imperfekt zum einfachen Perfekt gestalten (4), während bei der umgekehrten Reihenfolge zunächst das Ereignis durch das einfache Perfekt eingeführt würde und sich die Darstellung im Imperfekt für den Hintergrund anschließe (5). Ereignisse könnten auch gerafft mit dem einfachen Perfekt dargestellt werden (6), was auch für eine Darstellung rascher Ereignisabläufe möglich wäre (Weinrich 1982: 188): (4) fr.

Le ciel était livide quand soudain l’orage éclata.

(5) fr.

Finalement éclata l’orage qui nous enseignait le langage du tonnerre.

(6) fr.

Je le vis, je rougis, je pâlis à sa vue. (Racine, Phèdre)

Aspektualität und Aspekt

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In seinem Buch Tempus. Besprochene und erzählte Welt (Weinrich 2001 [1964] und 1973) erwähnt Weinrich im Zusammenhang mit dem Tempus-Relief auch den Aspekt und die Aktionsart und geht auf die Auffassungen einiger Autoren kurz ein, um fehlende Übereinstimmung im Terminologiegebrauch festzustellen und den Aspekt in andere Bereiche der Linguistik, insbesondere die Slavistik, zu verweisen. Für sein Anliegen der Entwicklung einer textbezogenen Grammatik erklärt er den Aspektbegriff aus folgenden Gründen für unbrauchbar. Die Aspekttheorie sei auf einen zu engen Rahmen beschränkt, nämlich den Satz und die Mikrosyntax. Außerdem sei es schwierig, sie auf die Textebene auszuweiten, da die Verlaufsqualitäten und Phasen von Prozessen von einem Verb zum anderen variieren würden. Schließlich setze die Aspekttheorie notwendigerweise eine referentielle Auffassung von der Syntax voraus, d.h. sie sei auf außersprachliche Objekte, auf Stadien, Prozesse und Ereignisse orientiert. Was das subjektive Element betrifft, so erkenne die Aspekttheorie allenfalls an, dass bestimmte Phasen im objektiven Verlauf von Prozessen, zum Beispiel der Anfang oder das Ende, außer Acht gelassen werden können (Weinrich 1973: 107–108). Aspekttheoretische Ansätze, die nach einigen Autoren sogar die Subjektivität der Sicht des Sprechers auf die dargestellten Situationen betonen, sind Weinrich also nicht subjektiv genug. Er stellt ihnen seinen Ansatz gegenüber, der die temporalen Funktionen auf den Text und auf die Äußerungssituation bezieht. Wie alle syntaktischen Morpheme, sieht er die Tempora als nur im Text und in der Kommunikation erklärbar an und nicht durch ihre Inbezugsetzung auf die Objektwelt. Den fundamentalen Unterschied zwischen seinem textlinguistischen Ansatz und einer auf den Satz bezogenen Aspekttheorie verdeutlicht er in der Diskussion der Positionen von Pollak (1960). Dieser hatte für die folgenden Sätze ein „Inzidenzschema“ angenommen, nach dem der im ersten Teil mit dem Imperfekt beschriebene Prozess im Verlauf war, als der zweite, mit dem passé simple dargestellte, gewissermaßen „hineinfiel“. Die folgenden Beispiele aus Pollak verwendet Weinrich in seiner kritischen Auseinandersetzung (Weinrich 1973: 109): (7) fr.

J’avais quinze ans lorsque j’eus ma première frayeur.26

(8) fr.

Un jour je voyageais en Calabre…, quand arriva l’aventure que je vais vous conter.

(9) fr.

Il se hâtait lorsqu’il rencontra un paysan.

_____________ 26

Die wegen ihrer aspektuellen Merkmale hervorgehobenen Verbformen kennzeichnen wir kursiv für das Merkmal ‛imperfektiv’ und fett für das Merkmal ‛perfektiv’.

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Weinrich bemängelt an Pollaks Interpretation dieser Sätze, dass er sie mit einer Referenz in Beziehung setze. Auch das Konzept der ʽInzidenzʼ sei deutlich referentiell geprägt: es wäre ein Prozess angenommen, der eine Art Einschnitt in einen anderen darstellt. Schon vor über 1000 Jahren habe Remigius von Auxerre (ca. 841–908), der Autor des Commentum Einsidlense in Donati artem minorem ein ähnliches Beispiel verwendet, um die Inzidenz im Lateinischen zu zeigen (Quid faciebas heri? – Legebam versum quando me vocasti.). In äußerst polemischer Form stellt Weinrich die Frage, ob sich die Linguistik seither nicht verändert habe. Er stellte Pollaks Ansatz seine textlinguistische Betrachtungsweise entgegen, in der er den Wechsel der Tempora in Texten quantitativ und qualitativ untersuchte. Weinrichs Hauptargument läuft darauf hinaus, die Betrachtung isolierter Satzfolgen wie im Inzidenzschema abzulehnen und dafür größere Textzusammenhänge in Betracht zu ziehen, in denen die Wahl der Verbformen Vorder- und Hintergrund angibt. Die Ablehnung des Aspektkonzepts ist dabei durch seine sprecherzentrierte und textbezogene Betrachtungsweise bedingt, die sich mit einem innovativen Gestus verbindet. Auch Rojo & Veiga (1999) liefern in ihrem Kapitel der Gramática descriptiva zu den einfachen Verbformen des Spanischen eine vollständig aspektfreie Darstellung. Sie erklären die spanischen Tempora anhand eines zeitlich-vektoriellen Modells und nehmen primäre Tempora (presente, pretérito perfecto simple, futuro), sekundäre (pretérito imperfecto, pretérito perfecto compuesto, pretérito pluscuamperfecto, condicional, futuro perfecto) und tertiäre Tempora (condicional perfecto) an. Die Einbeziehung des Aspekts in ihr Modell sehen sie als unökonomisch an. Auch Coseriu (1976) versteht das romanische Verbalsystem hauptsächlich als temporal, verwendet allerdings nicht eine rein vektorielle Darstellung in Anlehnung an Reichenbach, sondern entwickelt ein komplexes System, das er in drei Untersysteme einteilt: (1) die Gestaltung der Zeiträume, (2) die Bestimmung der Zeitpunkte innerhalb der Zeiträume, (3) die Bestimmung spezieller „aspektiver“ Werte für jeden Zeitpunkt. Die Annahme von dreigliedrigen Einteilungen sprachlicher Phänomene ist bei Coseriu keine Seltenheit und folgt einem an Aristoteles angelehnten Denkstil (vgl. Haßler 2015a und 2015d). Zum ersten Untersystem zählt er die Kategorien der Zeitebene und der primären Perspektive, denen die einfachen Tempusformen entsprechen. Das zweite Untersystem beinhaltet die zusammengesetzten Tempusformen, die er der sekundären Perspektive zuordnet. Dem dritten Untersystem ordnet er schließlich die Kategorien der Dauer, der Wiederholung, der Vollendung, des Resultats und schließlich die durch verschiedene Verbalperiphrasen ausgedrückte Schau und Phase zu. Mit dem Terminus aspektiv bezeichnet er die Betrachtungsweise der Verbalhandlung in der Zeit, während er das Tempus als die

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Aspektualität und Aspekt

Stellung der Verbalhandlung in der Zeit definiert. Die Verwendung von aspektiv anstelle von aspektuell oder Aspekt scheint das Subjektive der Betrachtungsweise zu unterstreichen, dem in der Behandlung der Verbalphrasen auch der Terminus Schau entspricht. Die Einteilung der Verbformen in primäre und sekundäre wird außerdem von zwei Zeitebenen überlagert, der aktuellen und der inaktuellen. Der Kern der aktuellen Ebene ist das Präsens, Coseriu rechnet ihr aber auch das zusammengesetzte Perfekt und das Futur zu. Als Zentrum der inaktuellen Ebene betrachtet er das Imperfekt, betrachtet jedoch auch das Plusquamperfekt, das perfektivische Futur und den Konditional als ihr zugehörig. Das Imperfekt erklärt er vor allem als durch Inaktualität gekennzeichnet und er lehnt seine Charakteristik als Tempus der Vergangenheit ab. Mit der Perspektive, die er als retrospektiv, parallel oder prospektiv bestimmt, führt Coseriu eine Kategorie ein, die die Stellung des Sprechers zur verbalen Handlung berücksichtigt. Mit ihr bestimmt er Zeiträume auf jeder Zeitebene, die er dann nochmals als primär und sekundär unterteilt. Das Imperfekt entspricht nach Coseriu der parallelen Perspektive und ist eine Art inaktuelle Gegenwart. Das im Einzelnen schwer nachvollziehbare Schema von Coseriu (1976: 33) stellt Dessì Schmid (2014: 33) in der folgenden reduzierten Form dar:

primär Aktuell sekundär primär

Vergangenheit Gegenwart retrospektiv parallel

Zukunft prospektiv

it. feci fr. je fis sp. hice it. ho fatto fr. j’ai fait sp. he hecho (sp. hiciera)

it. faccio fr. je fais sp. hago

it. farò fr. je ferai sp. haré fr. je vais faire sp. voy a hacer

it. facevo fr. je faisais sp. hacía

it. farei fr. je ferais sp. haría it. avrò fatto fr. j’allais faire sp. habré hecho

Inaktuell sekundär

it. avevo fatto fr. j’avais fait sp. había hecho

Das Schema verdeutlicht, dass es Coseriu um die Gestaltung zeitlicher Verhältnisse durch Verbformen geht, die er auf den Standpunkt des Sprechers bezieht. Die Einordnung des Imperfekts wird dem modalen Gebrauch des Imperfekts gerecht, der zwar häufiger vorliegt als es Grammatiken nahelegen, jedoch keinesfalls die einzige Bedeutung dieser Verbform

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

ist. Die aspektuellen Verhältnisse im System der romanischen Verben werden von Coseriu nicht erfasst. Auch unter den neueren Arbeiten gibt es einige, die die Betrachtung des romanischen Tempussystems unter dem Gesichtspunkt des Aspekts ausschließen. So ist zum Beispiel Gabilan (2011: 27–33) offensichtlich auf das „Nicht-abgeschlossen-Sein“ im Zusammenhang mit dem imperfektiven Aspekt fixiert und verwirft deshalb aspektbezogene Erklärungen, da das imparfait auch Handlungen bezeichnen kann, die abgeschlossen sind. Die Unterscheidung der beiden folgenden Sätze sieht er darin begründet, dass in Satz (10) der Sprecher den Bericht vorantreibt und den Rezipienten über den Erhalt des Briefes informiert, während in Satz (11) etwas Unausgesprochenes mitschwingt. In dem Moment, in dem die Äußerung produziert wird, gibt der Sprecher zu verstehen, dass der Gesprächspartner bereits geschlussfolgert haben sollte, dass der Brief erhalten wurde: (10) fr.

Le lendemain je reçus une lettre de mon frère.

(11) fr.

Le lendemain je recevais une lettre de mon frère.

Wir werden in Kapitel 4.4.3. sehen, dass eine Erklärung dieser modalevidentiellen Bedeutung des romanischen Imperfekts durchaus auf der Grundlage seiner aspektuellen Merkmale möglich ist. Diese von prominenten Vertretern der romanischen Sprachwissenschaft vorgenommene Ausklammerung des Aspekts als grammatischer Kategorie lässt sich für die romanischen Sprachen auf morphologischer Ebene rechtfertigen, wird jedoch dem Funktionieren dieser Sprachen beim Ausdruck von Situationen in ihrer Ganzheitlichkeit und in ihrem Verlauf nicht gerecht. Schon Bondarko (1967, 1984, 1987, 1996) und Comrie (1976) haben die funktionalen Charakteristika des Aspekts in Aspektsprachen als Vergleichskriterium für die typlogische Untersuchung in Sprachen ohne Aspektstämme und Aspektkorrelationen herangezogen.27 Dessì Schmid verweist auf die […] verbreitete Meinung, dass dem Aspekt verwandte Informationen in den Sprachen der Welt eindeutige semantische Ähnlichkeiten und Verbindungen untereinander zeigen und dabei mehr oder weniger evidente Regelmäßigkeiten aufweisen, auch wenn sie formal sehr unterschiedlich wiedergegeben werden und verschiedene sprachliche Ebenen betreffen. (Dessì Schmid 2014: 2–3)

Über die am Verb grammatikalisierte Kategorie des Aspekts hinaus haben wir also sprachliche Mittel unterschiedlicher Art in Betracht zu ziehen, die in den einzelnen Sprachen aspektuelle Funktionen übernehmen. Sie kön_____________ 27

Vergleiche hierzu auch die Beiträge in der Festschrift für Bondarko: Barentsen & Poupynin (2001).

Aspektualität und Aspekt

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nen mehr oder weniger spezialisiert auf diese Funktionen sein oder auch erst im Kontext als aspektuelle Mittel auffallen. Die Gesamtheit dieser Mittel zählen wir zur funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität. Dessì Schmid (2014: 3) betont den übereinzelsprachlichen und sogar universellen Charakter dieser Kategorie und kennzeichnet die Annäherung an sie als onomasiologisch. Dabei geht sie vor allem davon aus, dass der grammatische Aspekt und die lexikalische Aktionsart der Verben nicht als substantiell getrennte Ausdrucksmittel der Aspektualität fungieren, sondern dass sie auf konzeptueller Ebene bei der Versprachlichung aspektueller Inhalte ähnlich funktionieren. Mit dieser onomasiologischen Perspektive verbindet sich in der kognitiv-linguistischen Forschung eine Neukonzeption von Lexikon und Grammatik, nach der lexikalische und grammatische sprachliche Mittel „Pole einer als Kontinuum aufgefassten Ebene“ (Dessì Schmid 2014: 4) darstellen. Auch für Coseriu war die Unterscheidung von Grammatik und Lexik eine Differenz auf der status-relationalen Ebene und nicht der Semantik (Coseriu 1987: 125; vgl. Dessì Schmid 2014: 35). Für den Ausdruck der ganzheitlichen Darstellung einer Situation oder des Hineinversetzens in den Verlauf gibt es in Sprachen ohne grammatischen Aspekt andere Ausdrucksmittel. Wir fassen diese Ausdrucksmittel in der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität zusammen, die in Aspektsprachen um den Kern des Verbalaspekts gruppiert ist:

Aktionsarten nichtverbale lexikalische Mittel

satzsyntaktische Mittel Aspekt

Aktanten des Verbs

Adverbien Verbalperiphrasen textlinguistische Mittel Doch auch beim Fehlen der grammatischen Kategorie des Aspekts kann davon ausgegangen werden, dass die anderen Mittel der Aspektualität eine ganzheitliche Darstellung einer Situation ermöglichen oder in der Lage sind, sie im Verlauf und ihren Phasen darzustellen. Der Ausdruck von Aspektualität durch diese Mittel ist lediglich weniger systematisch, kann

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

aber gerade durch das Zusammenwirken unterschiedlicher sprachlicher Ebenen auch nuancenreicher und komplexer sein. Das oben dargestellte Schema wäre für die romanischen Sprachen insofern zu modifizieren, als der grammatische Kern der Aspektualität, der Aspekt, entfallen würde. An seine Stelle treten Verbformen, die Aspektualität grammatisch markieren und die zueinander in Opposition stehen, wie zum Beispiel das imparfait und das passé simple oder das passé composé im Französischen. Diese Verbformen haben jedoch zugleich temporale Qualitäten und sind nicht auf den Ausdruck von Aspektualität spezialisiert. Somit können sie nur bedingt als Kern der Kategorie der Aspektualität angesehen werden:

Aktionsarten nichtverbale lexikalische Mittel

satzsyntaktische Mittel aspektuell markierte Tempora

Aktanten des Verbs

Adverbien Verbalperiphrasen textlinguistische Mittel Böhm (2016: 19) ordnet die Ausdrucksmittel der Aspektualität einem Zentrum und einer Peripherie zu. Für das Spanische zählt sie folgende Aspektmarkierungen zum Zentrum: (a) die grammatische Opposition zwischen dem Imperfekt und dem einfachen Perfekt, (b) die zusammengesetzten Verbformen, (c) die progressive Verbalperiphrase estar+Gerundium. Da letztere im Spanischen einen hohen Grammatikalisierungsgrad erreicht hat und in einigen Kontexten sogar obligatorisch verwendet wird, erscheint für diese Sprache die Erweiterung des Zentrums um die progressive Periphrase angebracht. Zur Peripherie rechnet Böhm die lexikalischen aktionalen Typen der Verben (Aktionsarten), den Ablauf von Situationen kennzeichnende Adverbien (wie zum Beispiel siempre, de repente, durante), weitere Verbalperiphrasen (z.B. estar a punto de+Infinitiv; llevar+Gerundium, tener+Partizip) sowie weitere syntaktische und kontextuelle Mittel. Der Unterschied des Ausdrucks der Aspektualität durch aspektuelltemporal markierte Verbformen gegenüber Sprachen mit reinem Aspekt

Aspektualität und Aspekt

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lässt sich durch einen Vergleich eines Satzes in einer Aspektsprache mit einer romanischen Sprache verdeutlichen. Während das korrelativ verbundene Aspektpaar сдавать (‛abgeben, ablegenimpf’) / сдать (‛abgeben, ablegenpf’) im Russischen aufgrund der Aspektkorrelation allein im Stande ist, die Opposition von ‛Versuch’ und ‛Ergebnis’ zu tragen, reicht die Verwendung einer imperfektiven und einer perfektiven Verbform im französischen Satz dafür jedoch nicht aus. Die Zielgerichtetheit (Telizität) in der lexikalischen Bedeutung von passer würde hier die aspektuelle Bedeutung der Imperfektivität, die hier in ihrer konativen Spezialbedeutung auftritt, überlagern; ein sinnvolle Äußerung mit konativer Bedeutung von passait käme nicht zustande: (12) ru. Он сдавал экзамен, но не сдал er ablegen.3.S.IPFV Prüfung aber nicht ablegen.3.S.PFV ‛Er nahm an der Prüfung teil, hat sie aber nicht bestanden.’ (13) fr.

*Il passait l’examen, mais il ne l’a pas passé.

In Sprachen, die über eine Aspektkorrelation verfügen, scheint diese die lexikalische Bedeutung zu überlagern und nicht – wie hier im Französischen – umgekehrt. Allein das Vorhandensein lexikalischer und grammatischer Ausdrucksmittel der Aspektualität hat Anlass zu Verwirrungen und terminologischen Unsicherheiten gegeben. Es sei außerdem nochmals erwähnt, dass auch die slavischen Sprachen nicht den Prototyp des Aspekts repräsentieren, da die Aspektpartner in der Regel morphologisch auseinander abgeleitet sind. Schon Archaimbault (1999: 11–34) hat die Frage aufgeworfen, ob man nicht die Problematik des Aspekts entslavisieren sollte. In einer typischen Aspektsprache würden die unterschiedlichen aspektuellen Qualitäten durch unterschiedliche Stämme ausgedrückt. Die indoeuropäische Grundsprache war eine Aspektsprache, in der eine Verbalhandlung entweder als ganzheitlich und abgeschlossen (mit dem perfektiven Aspekt) oder als unabgeschlossen und im Verlauf befindlich (mit dem imperfektiven Aspekt) dargestellt wurde. Für den Ausdruck der Aspektkorrelation standen eigene Aspektstämme, die häufig fälschlicherweise Tempusstämme genannt werden (vgl. 2.2.5). Auf der Grundlage von Miguel (1999: 2993) lassen sich die verschiedenen Ausdrucksmittel der Aspektualität in romanischen Sprachen in folgender Tabelle zusammenstellen:

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Aspektualität verbal Opposition der Formen eines Verbs

Opposition Imperfekt / zusammengesetzte Verbformen; einfaches Perfekt

diskursiv

Derivations- Opposition bestimmte lexikalische morpheme von Kombinationen und funktio(z.B. re-) Verbklassen von Verben nale Marker

Aktionsarten Verbalperiphrasen

grammatischlexikalischer morphologischer Aspekt Aspekt

Adverbien, Negation

grammatische Charakteristika, Mitspieler der Äußerung semantische u. syntaktische Funktion, Determination, Quantifikation usw.

lexikalisch-syntaktischer Aspekt

Der Terminus Aspekt wird in dieser Darstellung von einer grammatischen Kategorie auf andere Ausdrucksmittel der Aspektualität übertragen. Dann wird zunächst zwischen Markierungen der Aspektualität am Verb (verbal) und Ausdrücken auf Satzebene (diskursiv) unterschieden. Zu den verbalen Ausdrucksmitteln werden auch diejenigen gerechnet, die oben als Ersatz für den Kern der Aspektualität hervorgehoben wurden, also die Opposition der zusammengesetzten Verbformen und des einfachen Perfekts zum Imperfekt. In dem Satz (14) kennzeichnet das imperfecto eine im Verlauf befindliche Handlung, während des pretérito perfecto simple eine einmalige, plötzlich eintretende Handlung bezeichnet. (14) sp. Mi hermano leía cuando llegué. (ʽMein Bruder lasimpf., als ich kampf.ʼ)

Mit den Derivationsaffixen sind zum Beispiel solche gemeint, die Wiederholungen von Handlungen kennzeichnen, zum Beispiel releer ʽetwas noch einmal lesenʼ (15) sp. Tienes que releer este libro. (‘Du musst das Buch noch einmal lesen.ʼ)

Ähnliche Effekte können auch mit Suffixen erzielt werden, fr. sautiller ʽhüpfenʼ, fr. feuilleter ʽblätternʼ. Die für die romanischen Sprachen häufig als lexikalischer Aspekt bezeichneten Aktionsarten sind lexikalische Eigenschaften der Verben, die eine bestimmte Aspektualität nahelegen. Zum Beispiel ist suchen ein durati-

Aspektualität und Aspekt

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ves Verb, das eine Nähe zur imperfektiven Aspektualität nahelegt, finden dagegen als Bezeichnung einer punktuellen Handlung zur perfektiven Aspektualität. Diese auch als Aktionsarten bezeichneten lexikalischen Eigenschaften der Verben bestimmen die Kombinierbarkeit mit Dauer oder Punktualität von Situationen bezeichnenden Adverbien. Durative Verben (z.B. suchen) sind mit Adverbien, die sich auf punktuelle Verläufe beziehen (z.B. plötzlich), durchaus verbindbar und nehmen in Sätzen wie (16) inchoative Bedeutung an. Bestimmte telische Verben (z.B. finden) schließen hingegen Adverbien, die eine lange Dauer von Situationen bezeichnen, wie in (17) aus: (16) dt.

Ich habe den Schlüssel plötzlich gesucht.

(17) dt.

*Ich habe den Schlüssel lange gefunden.

Dass jedoch auch deutlich durch ihre Aktionsart markierte Verben eine zusätzliche aspektuelle Markierung durch die Flexion erfahren können, zeigen die folgenden Beispiele: (18) sp. El avión llegó a las diez. (‘Das Flugzeug kampf. um 10 an.’) (19) sp. El avión llegaba cuando se produjo el accidente. (‘Das Flugzeug kamimpf. (gerade) an, als der Unfall passierte’)

Das telische Verb llegar kann sowohl im einfachen Perfekt gebraucht werden und eine abgeschlossene Handlung markieren als auch im Imperfekt einen im Verlauf befindlichen und vielleicht nie abgeschlossenen Prozess benennen. Die lexikalische Bedeutung als Aktionsart reicht also nicht aus, um die Aspektualität eines bestimmten Prädikats zu bestimmen. Bestimmte Verwendungen sind allerdings aufgrund der Aktionsartbedeutung ausgeschlossen, so zum Beispiel in (20) die Aussage, dass eine einmal abgeschlossene terminative Handlung danach noch fortgesetzt wird, was mit einem durativen Verb – wie in (21) – durchaus möglich wäre (vgl. Miguel 1999: 2982). (20) sp. *El avión ha llegado, pero seguirá llegando un rato más. (‘Das Flugzeug ist angekommen, es wird aber noch eine Weile länger ankommen.ʼ) (21) sp. Juan ha viajado por toda Europa, pero seguirá viajando un año más. (‘Juan ist durch ganz Europa gereist, er wird aber noch ein weiteres Jahr reisen.’)

Die Beispiele (20) und (21) legen nahe, dass Verben mit durativer Aktionsart eher Modifikationen ihrer aspektuellen Bedeutung zulassen als telische Verben. Diese Hypothese werden wir im Kapitel über das Zusammenwirken der Mittel der Aspektualität und den kompositionellen Charakter dieser Kategorie (3.4.2.) überprüfen. Wichtig für den Ausdruck von Aspektualität in den romanischen Sprachen sind die Verbalperiphrasen, die ein breites Spektrum von Aus-

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

drucksmöglichkeiten eröffnen (Yllera 1999). Verbalperiphrasen sind Verbindungen von zwei Verben, die eine einzige und semantisch einheitliche Prädikationseinheit bilden. Dabei wird ein Verb zum Hilfsverb (Auxiliar) und hat in der Periphrase nur noch die Funktion, bestimmte grammatische Kategorien wie Tempus, Aspekt oder Modus des Vollverbs anzuzeigen. Zum Beispiel drücken die folgenden Periphrasen Handlungen im Verlaufsstadium aus und dienen damit dem Ausdruck von Aspektualität: estar+Gerundium ‛gerade etwas tun’: (22) sp. Está haciendo mucho frío.

llevar+Gerundium

‛seit bestimmter Zeit bis jetzt etwas tun’

(23) sp. Lleva lloviendo cuatro semanas.

venir+Gerundium

‛immer wieder seit längerer Zeit etwas tun’

(24) sp. Me viene diciendo que tal cosa no se puede hacer.

ir+Gerundium

‛etwas allmählich/langsam tun’

(25) sp. Va anocheciendo.

seguir+Gerundium

‛etwas weiterhin tun’

(26) sp. Sigue cantando.

Die folgenden Verbalperiphrasen drücken dagegen den Beginn einer Handlung aus: comenzar/empezar a+Infinitiv ‛beginnen etwas zu tun’ (27) sp. Ya comienza a hacer calor.

ponerse a+Infinitiv

‛beginnen etwas zu tun’

(28) sp. ¡Ponte a estudiar!

meterse a+Infinitiv

‛anfangen etwas zu tun’

(29) sp. Te metes a hablar de arquitectura sin tener la mínima idea.

romper a+Infinitiv

‛anfangen etwas zu tun’

(30) sp. Su hijo rompió a andar a los diez meses.

echar(se) a+Infinitiv

‛(schnell) anfangen etwas zu tun’

(31) sp. Los estudiantes se echaron a reír.

Die Anzahl und Art der Aktanten des Verbs kann für die Aspektualität von maßgeblicher Bedeutung sein. So wird in (32) die Handlung des Schreibens durch die Hinzufügung des dabei entstehenden Produkts begrenzt, während sie in (33) unbegrenzt ist. In (34) wird die Begrenzung

Aspektualität und Aspekt

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durch die Determiniertheit des Objekts bewirkt, während in (35) keine Begrenzung vorliegt und einfach die Art der Tätigkeit näher spezifiziert wird: (32) sp. Juan escribe una novela. (‛Juan schreibt einen Roman’) (33) sp. Juan escribe. (‛Juan schreibt’) (34) sp. Su hermano compone una pieza de piano. (‛Sein Bruder komponiert ein Klavierstück’) (35) sp. Su hermano compone música japonesa. (‛Sein Bruder komponiert japanische Musik’)

Obwohl die romanischen Sprachen über den Aspekt im eigentlichen Sinne nicht verfügen, stehen ihnen also vielfältige Mittel des Ausdrucks der Aspektualität zur Verfügung. Aus folgenden Gründen erscheint die Zusammenfassung der genannten Ausdrucksmittel unter dem Dach einer funktionalen Kategorie als sinnvoll: Erstens wird dadurch ihre Funktionsähnlichkeit – unabhängig davon, ob Grammatikalisierung vorliegt und in welchem Stadium sie sich befindet – deutlich. Zweitens wird auch das Zusammenwirken der Mittel einer funktionalen Kategorie im Kontext damit fassbar. Es können sogar gegensätzliche aspektuelle Merkmale in einem Satz zusammenwirken, wie zum Beispiel in der imperfektiven spanischen Periphrase aus estar+Gerundium, in der das Auxiliar in perfektiver und in imperfektiver Form verwendet werden kann (Haßler 2002a): (36) sp. María estuvo hablando con Jorge durante dos horas. ‛Maria verbrachte zwei Stunden im Gespräch mit Jorge.’ (37) sp. María estaba hablando con Jorge durante dos horas. ‛Maria war dabei, zwei Stunden mit Jorge zu sprechen.’

Solche aspektuellen Cluster erlauben das Überkreuzen von zwei Sichtweisen auf die Situation durch doppelte aspektuelle Markierung. In (36) bringt die imperfektive Periphrase eine Sicht in das Innere der Situation, während die perfektive Auxiliarform die Handlung als abgeschlossen kennzeichnet. Letzteres ist in (37) mit dem Auxiliar im Imperfekt nicht der Fall. Drittens bringt die Arbeit mit funktionalen Kategorien auch noch einen weiteren Vorteil. Es lassen sich auch solche Kategorien untersuchen, für die es in den untersuchten Sprachen keinen grammatikalisierten Kern gibt. Über die Aspektualität hinaus lassen sich noch weitere derartige funktionale Kategorien annehmen. Von besonderem Interesse ist dabei die Evidentialität, für die es zwar in den europäischen Sprachen keinen Kern gibt,

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

deren Ausdrucksmittel aber in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit erhielten (vgl. 4.4.). 3.1.2. Theoretische Positionen zum Verhältnis von Aspektualität und Aspekt Der Weg einer Ausweitung aspekttheoretischer Betrachtungen über den Bereich des Verbs hinaus wurde zunächst ausgehend von slavischen Sprachen und deren Vergleich mit Sprachen ohne ausgeprägten grammatischen Aspekt begonnen. Maßgeblich hierfür waren die Arbeiten der Leningrader aspektologischen Schule, für die insbesondere die Werke von Jurij Sergeevič Maslov (vgl. z.B. 1962; 1965; 1978) die Grundlage waren, auf der Aleksandr V. Bondarko (1984) seine Aspekttheorie entwickelte. Bondarko (1984: 9) wirft die Frage nach der Natur der Bedeutung grammatischer Formen auf und formuliert sie vor allem unter dem Gesichtspunkt der Polysemie: handelt es sich um einheitliche allgemeine Bedeutungen, die alle besonderen Bedeutungen und Verwendungstypen der gegebenen Form umfassen oder liegen Komplexe einzelner Bedeutungen vor, die teilweise miteinander verbunden sind, teilweise aber auch isoliert voneinander existieren und die nicht auf eine einheitliche allgemeine Bedeutung rückführbar sind? Er entscheidet sich für eine sehr allgemeine Charakterisierung der aspektuellen Verhältnisse anhand von Merkmalen, die sich in der Sprachverwendung in spezielleren Bedeutungen ausprägen. Die Opposition des perfektiven und des imperfektiven Aspekts bestimmt er auf dieser Basis mit dem Merkmal ‛Ganzheitlichkeit’ vs. ‛Nichtganzheitlichkeit’. Ausgehend von dem allgemeinen Merkmal der Nichtganzheitlichkeit einer nicht begrenzten Handlung nimmt er für den imperfektiven Aspekt mehrere konkrete Spezialbedeutungen an, z.B. die konkret-prozesshafte, die nicht begrenzte einmalige, die verallgemeinernd faktische. Die verschiedenen Bedeutungen des Aspekts werden in der Rede realisiert und machen ihr semantisches Potential aus. Wenn es jedoch um die Erfassung der Bedeutung einer Form als Systemeigenschaft geht, ist es nach Bondarko (1984: 11–12) sinnvoll, die dominanten Merkmale, die das Zentrum des semantischen Potentials ausmachen, zu erfassen und mit dem Begriff der kategorialen Bedeutung zu arbeiten. Neben dem Merkmal der ‛Ganzheitlichkeit’ vs. ‛Nichtganzheitlichkeit’ wird dabei auch mit dem der ‛Begrenzung’ (предельность) gearbeitet, die insbesondere in Sprachen ohne ausgeprägten grammatischen Aspekt relevant wird. In Sprachen ohne spezielles grammatisches System von Aspektformen, die das gesamte Verbalsystem umfassen, ist die höchste Stufe der Grammatikalisierung der Aspektbeziehungen in aspektuell-temporalen

Aspektualität und Aspekt

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Formen gegeben. Die zeitliche Begrenzung/Nichtbegrenzung einer Situation spielt dabei die entscheidende Rolle. Der Status der lexikalischgrammatischen Opposition ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ ist im Feld der Aspektualität beim Fehlen einer das Verb umfassenden Aspektkategorie höher ausgeprägt. Gleichzeitig kann sich die dominierende Rolle der ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ bei der aspektuellen Charakteristik der Handlung in jeder konkreten Äußerung erhöhen (vgl. Bondarko 1984: 14– 15). Die Aspektualität bestimmen Bondarko und auch Schwall (1991: 3) als universale Kategorie, die sich in allen Sprachen finden lässt, die in ihnen jedoch unterschiedlich realisiert wird. Die Betrachtung der Mittel der Aspektualität in romanischen Sprachen reduziert sich damit nicht auf die Verbformen der Vergangenheit, sondern schließt z.B. auch Periphrasen, Adverbien, Präpositionalphrasen und lexikalische Bedeutungen der Verben ein. In diesem Sinne schreibt Schwall: Zu einer Beschränkung auf eine Deskription der Aspektualität der Vergangenheitsstufe sehen wir uns nicht mehr gezwungen […]. Bisher versuchte man, Aspektrelevanz der romanischen Vergangenheitstempora in der morphologisch differenzierten Opposition Imparfait / Passé simple (/composé) bzw. Imperfecto / Perfecto simple nachzuweisen und dann eine funktionale Solidarität im Aspektgebrauch zu belegen. (Schwall 1991: 198)

Neben Schwall (1991) folgen auch Guzmán Tirado & Herrador del Pino (2000a, 2000b, 2002) der von Bondarko entwickelten Theorie der universellen funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität, die sprachspezifische morphologische, syntaktische, lexikalische und (kon)textuelle Mittel einschließt. Die Aspektualität ist dabei keine Kategorie des Gedachten, sondern sie beruht auf sprachbezogener Semantik (vgl. Schwall 1991: 99). Guzmán Tirado und Herrador del Pino haben in die Untersuchung der Aspektualität den Feldbegriff eingeführt und sprechen von einem funktional-semantischen Feld, zu dem sie alle sprachlichen Mittel zählen, die die Form, in der eine Handlung in der Zeit abläuft, ausdrücken (vgl. Böhm 2016: 102): Al hablar de la aspectualidad como CSF (campo semántico-funcional), nos referimos a una unidad cuyo contenido está constituido por los medios lingüísticos (morfológicos, de formación de palabras, sintácticos, léxicos, etc.), relacionados con la expresión de ‘la forma en que transcurre la acción verbal en el tiempo’. (Guzmán Tirado & Herrador del Pino 2000b: 13)

In den romanischen Sprachen, die über keine selbstständige grammatische Kategorie des Aspekts verfügen, die in jeder beliebigen Verbform repräsentiert wäre, spielt die ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ die dominierende Rolle in der aspektuellen Charakteristik der Situationen, in welcher Verbform auch immer sie ausgedrückt werden. Damit wird eine breite

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und vielseitige Untersuchung des Problems der aspektuellen Beziehungen angestrebt, die über die Betrachtung der Aspektformen oder aspektuelltemporalen Formen hinausgeht. Dieses Herangehen besteht darin, den ganzen Komplex der miteinander interagierenden sprachlichen Mittel und Bedeutungen, die an der aspektuellen Charakteristik von Situationen teilhaben, zu erfassen. Aspektualität wird dabei als funktional-semantische Kategorie aufgefasst, deren Kern in einigen Sprachen der Aspekt als grammatische Kategorie ist. In den romanischen Sprachen fehlt dieser Kern, dennoch hält Bondarko die Arbeit mit der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität auch für diese Sprachen für sinnvoll, da sie auch die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Sprachen ermöglicht. Referovskaja (1984) hat diese Überlegungen von Bondarko mit der Theorie von Guillaume verknüpft und auf das Französische angewandt. Sie geht davon aus, dass sowohl die innere Zeit, die Dauer einer Handlung (=Aspekt) als auch die äußere Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (=Tempus) im Französischen mit ein und denselben flektierten Verbformen bezeichnet werden. Für die zusammengesetzten Verbformen, die zur Bezeichnung der Abgeschlossenheit von Situationen verwendet werden, ist die aspektuelle Bedeutung die primäre, die temporale hingegen historisch gesehen die sekundäre. Als aspektuelle Formen entstanden, wurden sie allmählich zu Ausdrucksformen temporaler Beziehungen. Sie bezeichneten nicht absolute Zeit, sondern zeitliche Relationen zu anderen Situationen, später wurden sie auch zu reinen Ausdrucksmitteln von Zeit (Referovskaja 1984: 92). Der begrenzte oder nicht begrenzte Charakter, über den ein Verb bereits durch seine lexikalische Bedeutung verfügen kann, tritt mit der grammatischen Bedeutung der Verbform in Interaktion. Referovskaja (1984: 94) verweist auf die unterschiedlichen Bezeichnungen der ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ bei verschiedenen Autoren (limitatif/alimitatif; verbe perfectif/imperfectif; limité/synthétisé; à terme fixe/sans terme fixe; déterminé/indéterminé) und betrachtet damit unterschiedliche lexikalische und grammatische Erscheinungsformen der Determination und situativen Begrenzung als gleichwertig. Die Begrenzung der Situation durch die lexikalische Bedeutung von Verben lässt sich anhand der folgenden Beispiele erklären. Das Verb sterben bezeichnet ein Überschreiten der Grenze zum Tod, bei einer mit dem Verb fallen bezeichneten Situation wird eine Grenze überschritten, wenn der Körper aufschlägt, hineingehen bedeutet das Überschreiten einer Grenze beim Eintritt. Nichtbegrenzte Verben bezeichnen dagegen Handlungen, Vorgänge und Zustände, deren Grenze außerhalb des von der Verbbedeutung Vermittelten liegt. Damit die Situation aufhört, muss sie durch etwas außerhalb des Verbs beendet werden. Mit den nichtbegrenzten Verben

Aspektualität und Aspekt

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treten somit andere Mittel der Aspektualität in Interaktion, um der Situationsdarstellung eine Begrenzung aufzuerlegen. ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ sind nach Referovskaja (1984: 98) keine grammatischen Kategorien, da es keine festen Bezeichnungen für sie gibt, obwohl sie Beziehungen ausdrücken, die für Grammatik typisch sind. In der Beschreibung der Funktionen des imparfait und des passé simple folgt Referovskaja (1984: 100) der Darstellung in Weinrichs Textgrammatik der französischen Sprache (1982), bringt sie aber im Gegensatz zu diesem mit dem aspektuellen Kriterium der ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ in Zusammenhang. Nichtbegrenzte Verben im imparfait stellen Handlungen dar, die schon früher begonnen haben und noch nicht abgeschlossen sind. Begrenzte Verben im passé simple bezeichnen hingegen ganzheitlich betrachtete Handlungen. Interessant ist dabei die Darstellung des Zusammenspiels der lexikalischen Bedeutung mit der grammatischen Bedeutung der Verbformen. Die Verbformen imparfait und passé simple tragen aspektuelle Merkmale auch dann, wenn die ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ in ihrer lexikalischen Bedeutung ihnen widerspricht. Wenn eine einfache Perfektform eines unbegrenzten Verbs verwendet wird, kommt es zum Zusammenstoß der Aspektbedeutung der Verbform, die Abgeschlossenheit ausdrücken will, und der lexikalischen Bedeutung, die die Handlung außerhalb zeitlicher Begrenzungen bezeichnet. Aus diesem Zusammentreffen resultieren spezielle aspektuelle Nuancen: die Verbform kann sich partiell dem lexikalischen Charakter des Verbs unterordnen und eine mehr oder weniger lange Dauer der Handlung ausdrücken; dennoch fordert die Verbform, dass der Moment der Beendigung der Handlung angegeben wird. Eine solche Angabe der Abgeschlossenheit, die die Verbform selbst nicht dem lexikalisch nicht begrenzten Verb auferlegen kann, muss im Text durch eine adverbiale Bestimmung ausgedrückt werden. In diesem Fall ist die Anwesenheit einer solchen adverbialen Bestimmung obligatorisch: (38) fr.

Il erra ENCORE DEUX JOURS dans les hauts pâturages désertiques des Franches-Montagnes. (Cendrars. Referovskaja 1984: 102)

Wenn ein lexikalisch begrenztes Verb in der imparfait-Form verwendet wird, so wird die Handlung als eine Zeit lang andauernd dargestellt, was aus der Bedeutung der Verbform folgt. Aber die Handlung selbst setzt sich aus einer Serie sich wiederholender und jedes Mal abgeschlossener Handlungen zusammen, was sich aus der Bedeutung des Verbs ergibt. Die sich wiederholenden gleichartigen Handlungen bilden eine Kette, die als etwas Ganzes wahrgenommen wird. Der Zeitraum, in dem diese Wiederholung stattfindet, kann beliebig lang sein:

202 (39) fr.

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Don Cesare passa cette nuit-là … comme il avait passé les nuits précédentes. Quand il ouvrait l’œil, Mariette tombait sous son regard. (Vailland. Referovskaja 1984: 103)

Am interessantesten und am erstaunlichsten ist nach Referovskaja (1984: 104) die Verwendung des Imperfekts für die Bezeichnung abgeschlossener, in einem Moment verlaufender Handlungen. Dies sei natürlich nur bei begrenzten Verben möglich, außerdem sei die Erfüllung einiger Kontextbedingungen erforderlich. Diese Verwendung beruhe darauf, dass selbst die noch so kürzeste und abgeschlossene Handlung eine gewisse Zeit zu ihrer Vollführung benötigt. Die Bedeutung der Verbform stellt die Handlung als im Prozess befindlich und nicht begrenzt dar. Wenn es sich um eine momenthafte Handlung handelt, kann der Moment gedehnt werden. Diese Verwendungsweisen werden als bildhafte Darstellungen von Handlungen betrachtet, die insbesondere von den Autoren des Realismus und Naturalismus des 19. und des Beginns des 20. Jahrhunderts genutzt wurden. Für die Verwendung dieses imparfait pittoresque gebe es jedoch eine grammatische Forderung, die von den Autoren immer beachtet werde. Bei der gedehnten Bezeichnung einer kurzen Handlung mit dem Imperfekt wird der Eindruck des Fehlens eines Gleichgewichts erweckt. Um der Aufhebung des abgeschlossenen Charakters der Handlung durch die aspektuelle Perspektivierung entgegenzuwirken, muss es im Text in irgendeiner Weise einen Hinweis auf den Moment des Abschlusses der Handlung geben, der deren Kürze unterstreicht. Damit wird der begrenzte Charakter des Verbs gewissermaßen gegen die ihm entgegengesetzte imperfektive Verbform verteidigt: (40) fr.

QUELQUES MINUTES PLUS TARD, un taxi s’arrêtait au bord du trottoir. M. Leloup, gras et important, payait le chauffeur et entrait dans le bistrot. (Simenon. Referovskaja 1984: 105)

(41) fr.

J’ai été projeté au-dehors, mais suis retourné dans l’avion pour te tirer de là, quand le Dacota a commencé à brûler, et j’ai réussi à te sortir. QUELQUES SECONDES DE PLUS et tu y restais. Je risquais gros, évidemment. (Gary. Referovskaja 1984: 106)

Die Ungenauigkeit der „zeitlichen“ Charakteristik der Handlung, das Fehlen eines zeitlichen Rahmens und einer Begrenzung in der Vergangenheit seien der Grund dafür gewesen, weshalb sich das Imperfekt zu einer Form der „Höflichkeit“ verwandelte. Der Unterschied zwischen je veux vous demander und je voulais vous demander liege im Grad der Affirmation, im Grad der Nachdrücklichkeit und der Bitte (Referovskaja 1984: 107). Obwohl in der französischen Sprache den Verbformen mehr oder weniger Aspektbedeutung zukomme, ist diese nicht unabhängig von der

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Aspektualität und Aspekt

lexikalischen Bedeutung des Verbs. Die aspektuelle Bedeutung im Text wird als abhängig von der ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ betrachtet, wobei letztere in erster Linie auf die Verbbedeutung zurückgeführt wird. Die Ausprägung der konkreten Verbbedeutungen bei begrenzten und unbegrenzten Verbformen lässt sich nach Referovskaja (1984: 107) folgendermaßen darstellen: Verbform

begrenztes Verb

nicht begrenztes Verb

passé simple Systembedeutung: Vollzug einer Handlung in der Vergangenheit (in einem bestimmten zeitlichen Rahmen)

1. abgeschlossene Handlung als Ganzes. Erzählform. Charakter der Verbform und des Verbs fallen zusammen.

1. abgeschlossene Handlung von begrenzter Dauer. Ein Adverbial zur Markierung des Zeitrahmens der Handlung ist notwendig. 2. inchoative Bedeutung. Der Beginn der Handlung wird durch die Verbform angegeben, das Ende wird unter dem Einfluss des perspektivischen Charakters der Handlung selbst nicht angegeben. 3. abgeschlossene Handlung in einer Reihe von Handlungen. 1. progressive Bedeutung außerhalb zeitlicher Begrenzungen in der Vergangenheit

imparfait Systembedeutung: Vollzug einer Handlung in der Vergangenheit (außerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens)

2. Handlung, die sich in einem bestimmten zeitlichen Rahmen als Reihe einzelner abgeschlossener Handlungen wiederholt. Die Anwesenheit eines Adverbials, das den zeitlichen Rahmen oder den iterativen Charakter der Handlung bekräftigt, ist notwendig.

1. progressive Bedeutung; im Unterschied zur durch die lexikalische Bedeutung des Verbs ausgedrückten Grenze. Dabei dominiert die Verbform. 2. wiederholte Handlung. Diese Bedeutung stützt sich auf einen Kontext, der auf ein Zeitintervall verweist, in dem die Handlung vollzogen wird. 3. gewohnheitsmäßige Handlung 4. „malerisches“ Imperfekt,

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

verlangsamte und gedehnte Darstellung einer abgeschlossenen Handlung 5. nicht vollzogene Handlung

Durch diese Darstellung wird deutlich, dass im Französischen nicht nur die grammatische Kategorie des Aspekts fehlt, sondern auch der aspektuelle Charakter der Verbformen, der eine Komponente ihrer Bedeutung ist, weit davon entfernt ist, konstant zu sein. Unter dem Einfluss der ‛Begrenztheit’/‛Nichtbegrenztheit’ äußert er sich unterschiedlich. Es besteht also eine Wechselwirkung mit der lexikalischen Bedeutung der Verben, der die entscheidende Rolle zukommt. Dies entspreche auch dem gesamten Charakter der französischen Sprache, in der die Morphologie nur in unbedeutendem Maße die Funktion des Ausdrucks grammatischer Charakteristika des Wortes trage. Auch die zusammengesetzten Verbformen, die zunächst scheinbar aspektuelle Formen waren, führten nicht zu ihrer Festigung als Ausdrucksformen von Aspekt. Allmählich gingen sie dazu über, zeitliche Relationen auszudrücken, zunächst als Mittel des Ausdrucks der Folge von Handlungen. Schließlich hat das zusammengesetzte Perfekt das einfache im alltäglichen Sprachgebrauch weitgehend ersetzt. Das Vorhandensein eines Aspekts im Französischen wird von Referovskaja (1984: 109) somit verneint. Der Aspekt stellt eine Art Mitbedeutung der Verbformen dar. In jedem konkreten Fall erweist sich die aspektuelle Charakteristik der Handlungsdarstellung nicht nur durch die Verbform bestimmt, sondern sie entsteht im Zusammenwirken dieser mit dem begrenzten oder unbegrenzten Charakter der Verbbedeutung. Diese Betrachtungsweise stellt die lexikalische Bedeutung der Verben in den Mittelpunkt und betrachtet die Charakteristik als ‛begrenzt’/ ‛nichtbegrenzt’ in erster Linie als auf diese beschränkt. Dabei kann Begrenztheit von Situationen jedoch auch durch adverbiale Bestimmungen (42) oder durch Aktanten von Verben (43) und nicht zuletzt durch die aspektuellen Merkmale der Verbformen (44) ausgedrückt werden: (42) fr.

[…] que toutes ces formes indécises de fantômes légers qui m' avaient poursuivie s’éclairaient, s’assemblaient SOUDAINEMENT, se dessinaient avec netteté, […] (Frantext. M348 – Soulié, Frédéric, Les Mémoires du diable, 1837: 265)

(43) fr.

Quelqu’un avait découvert qu’elle écrivait UN LIVRE.

(44) fr.

Il a lu ce livre de poche.

Die Komplexität der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität wird somit von Referovskaja (1984) nicht voll berücksichtigt. Ein Vorteil ihrer Darstellung ist jedoch, dass sie das Zusammentreffen der grammati-

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schen Bedeutung der Verbformen und der lexikalischen Bedeutung der Verben als Konfliktfall darstellt und anhand von Texten untersucht. Auf die Verbalmorphologie beschränkt ist der Ansatz von Schlegel (1999), der zwischen innerer und äußerer Begrenzung unterscheidet. Die innere Grenze reduziert er auf drei Grundtypen: 1. eine bestimmte (aktualisierte) räumliche Lage des Subjekts oder Objekts der Handlung (zum Beispiel aufstehen, hinausgehen); 2. eine bestimmte (aktualisierte) Quantität des Subjekts oder Objekts, auf das eine gegebene physische oder geistige Aktivität gerichtet ist (z.B. einen Brief schreiben, ein Haus bauen); 3. ein bestimmter (aktualisierter) qualitativer Zustand des Subjekts oder des Objekts (zum Beispiel erblassen, erkranken). Mit der inneren Begrenzung werden somit lexikalisch-semantische und syntaktische Begrenzungen der Situation genannt, die sich auch verlagern können und somit eine Übercharakterisierung entstehen lassen (Schlegel 1999: 28). Die Bedeutung der inneren Grenze kann dabei durch völlig unterschiedliche sprachliche Einheiten getragen werden. Für das Russische nennt Schlegel dabei Verbalstämme, Präfixe, Objekte, Lokalbestimmungen und Kombinationen aus räumlichem Präfix und grammatischem Objekt bzw. Lokalbestimmung. Obwohl er die Bedeutung der inneren Grenze lexikalischen, morphologischen und syntaktischen Mitteln in den verschiedensten Kombinationen zuweist, erachtet er vor allem das Verb als verantwortlich für die Setzung der inneren Grenze (Schlegel 1999: 30–31). Für die äußere Begrenzung nimmt Schlegel (1999: 28) ebenfalls drei Grundformen an: 1. ein bestimmter (aktualisierter) Zeitpunkt im Verlauf der Handlung (losfahren, verstummen); 2. eine bestimmte (aktualisierte) Quantität (Dauer, Anzahl, Intensität) der Handlung (zum Beispiel ein wenig weinen, einen Schrei ausstoßen); 3. eine bestimmte (aktualisierte) Qualität der Umstände der (zum Beispiel sich müde laufen, ins Träumen versinken). Auch für die äußere Begrenzung werden wieder Überschneidungen angenommen. Die Betrachtung einer inneren und einer äußeren Begrenzung ist für verschiedene Aspekttheorien wichtig und liefert vor allem einen Ansatz für die Erklärung des Zusammenwirkens der unterschiedlichen Ausdrucksmittel der Aspektualität. Dennoch ist eine über die Unterscheidung des inneren Verlaufs und der äußeren zeitlichen Abgrenzung hinausgehende Differenzierung schwierig und erfordert einen hohen kategorialen Aufwand (vgl. Dessì Schmid 2014: 165–196). Bertinetto (1986) beschränkt sich in seiner Darstellung vor allem auf die Abgrenzung des Aspekts beim italienischen Verb vom Tempus und den Aktionsarten. Die aspektuellen Merkmale des Verbs treten für ihn vor allem dann hervor, wenn wir einen bestimmten Prozess ausgehend von einem ihm immanenten Gesichtspunkt betrachten, also seine innere Kon-

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stitution und seine Verlaufsweise im Blick haben. Die Lokalisierung des Prozesses in der Zeit und im Netz der temporalen Beziehungen steht dabei eher im Hintergrund. Zum Beispiel können wir eine Situation in ihrer Ganzheit (globalità) als nicht weiter analysierbar betrachten oder wir können eine bestimmte Phase ihres Ablaufs hervorheben. Se […] consideriamo un determinato processo da un punto di vista (per così dire) immanente, ossia avendo di mira la sua intima constituzione e le sue specifiche modalità di svolgimento (piuttosto che la sua localizzazione nel tempo e la rete di rapporti temporali in cui è inserito), allora quelle che vengono portate in primo piano non sono le proprietà specificamente temporali del verbo, bensì le sue proprietà aspettuali. Ad es. noi possiamo considerare una situazione nella sua globalità, come un singolo processo non ulteriormente analizzabile; oppure la possiamo cogliere in una certa fase del suo svolgimento; […] (Bertinetto 1986: 76)

Bertinetto folgt der Zweiteilung des Aspekts in einen perfektiven und einen imperfektiven und ordnet den beiden Aspekten dann Spezialbedeutungen zu, in denen sich auch einige der von Referovskaja (1984) angenommenen Bedeutungen der französischen Verbformen wiederfinden. Interessant ist dabei das Aufgreifen des Terminus aoristico, mit dem er offensichtlich unterstreichen will, dass mit perfektiven Verbformen bezeichnete Handlungen nicht abgeschlossen sein müssen. Die inchoative (ingressive) Bedeutung ist dabei für Bertinetto ein Spezialfall des Aorists. Die folgende grafische Darstellung gibt das Aspektsystem nach Bertinetto in Anlehnung an Bertinetto (1986: 119) und Dessì Schmid (2014: 28) wieder: Aspekt (aspetto) Imperfekt (imperfettivo) habituell abituale

progressiv progresivo

kontinuierlich continuo

Perfekt (perfettico) vollendet compiuto

punktuell, einmalig aoristico

inchoativ (ingressivo)

Die Aspekte und ihre speziellen Bedeutungen lassen sich durch folgende Beispiele illustrieren (Dessì Schmid 2014: 29): (45) it.

Di solito Leo a colazione mangiava un cornetto al cioccolato. (imperfektiv, habituell)

(46) it.

Leo mangiava il suo cornetto al cioccolato in cucina, quando Giulia entrò. (imperfektiv, progressiv)

(47) it.

Mentre Leo mangiava il suo cornetto al cioccolato, Giulia lo guardava interessata. (imperfektiv, kontinuierlich)

Aspektualität und Aspekt

207

(48) it.

Avrei voluto un morso di quel bel cornetto al cioccolato che aveva comprato Giulia, ma l’ha mangiato Leo. (perfektiv und vollendet)

(49) it.

Leo mangiò il cornetto al cioccolato sporcandosi tutta la faccia. (perfektiv und einmalig)

Eine herausragende Rolle spielt in der Darstellung des Aspekts bei Bertinetto (1986: 345–348) das Merkmal der ‛Bestimmtheit’/‛Unbestimmtheit’ (determinatezza/indeterminatezza) oder der ‛Delimitation’/‛Nicht-Delimitation’ (delimitazione/non-delimitazione), mit der er – ähnlich wie bei Referovskaja (1984)28 – das aspektuelle Merkmal der Begrenztheit ins Spiel bringt. Die Unbestimmtheit liegt in den einzelnen Werten des imperfektiven Aspekts in unterschiedlichen Bedeutungskomponenten. Der habituelle Wert drückt vor allem eine unbestimmte Häufigkeit aus, denn natürlich muss eine Situation abgeschlossen sein, um wiederholt werden zu können und dadurch habituellen Charakter anzunehmen. Beim progressiven und beim kontinuativen Wert des imperfektiven Aspekts liegt die Unbestimmtheit in der Unabgeschlossenheit der Situation, die progressiv in ihrem Verlauf und aus einem besonderen Punkt heraus betrachtet wird bzw. kontinuativ weder in ihrem Verlauf beschrieben noch als eine Gewohnheit dargestellt wird (Bertinetto 1986: 120–190). Dessì Schmid (2014: 29) merkt hierzu zu Recht kritisch an, dass Bertinetto damit sehr unterschiedliche Arten von Unbestimmtheit erfasst, die den gemeinsamen Nenner des Aspekt-Typs Imperfektiv darstellen sollen. Zu erwähnen wäre hier allerdings, dass die Beschreibung der Funktion des imperfektiven Aspekts mit positiven Merkmalen in allen bisherigen Arbeiten Schwierigkeiten bereitet. So ist es eigentlich auch nicht verwunderlich, dass Bertinetto (1986: 162–190; zur Kritik vgl. Dessì Schmid 2014: 29) die kontinuative Bedeutung, die als prototypische Verwendung des Imperfektivs gilt, per negationem als nicht habituell und nicht progressiv erklärt. In all seinen Arbeiten vertritt Bertinetto (z.B. 1986, 1991, 1997, Bertinetto & Lenci 2012) die Auffassung, dass Aspekt und Aktionsart nicht vermischt werden dürfen (Dessì Schmid 2014: 30, 34). Eine sehr weite Auffassung von Aspektualität wird unter dem Terminus aspecto in dem von Bosque (1990) herausgegebenen Band vertreten. Der Herausgeber selbst bezieht auch Betrachtungen zu den Adjektiven und den Partizipien ein. Während Adjektive wie bueno, alto, inteligente sich auf Eigenschaften von Subjekten beziehen und daher mit der Kopula ser verbunden werden, bezeichnen die Adjektive lleno, suelto, limpio keine Eigenschaften, sondern Zustände, die als Resultate einer Handlung oder _____________ 28

Auch Douay & Roulland (2012) gehen in ihrer Aspekttheorie von dem Konzept der Determiniertheit/Indeterminiertheit und damit implizit auch von Begrenzung/NichtBegrenzung aus.

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

eines Prozesses interpretiert werden (Bosque 1990a: 178). Im selben Band liefert López García (1990: 160–175) eine Aspekttheorie, in der er von einem Begriff der ‛Aspektualität’ ausgeht. In der spanischen Gramática Descriptiva (Bosque & Demonte 1999), in der der grammatische Aspekt des Verbs im Kapitel zu den Verbformen von Rojo & Veiga (1999) nicht behandelt wird, findet sich ein bemerkenswertes Kapitel unter der Überschrift El aspecto léxico von Miguel (1999), das eine onomasiologische Darstellung der Aspektualität präsentiert. Obwohl Miguel in ihrem Beitrag den „lexikalischen Aspekt“, d.h. nach klassischem spanischem Verständnis die Aktionsarten, behandelt, geht sie jedoch weit darüber hinaus und gerät in einer für die Gramática Descriptiva nicht untypischen Weise in Widerspruch zum eigentlich für die Behandlung der Aspektproblematik prädestinierten Artikel von Rojo & Veiga. Während einige Autoren – implizit oder explizit – von einer übergeordneten Kategorie der Aspektualität ausgehen, nehmen andere zwei vollständig getrennte Komponenten an, die aspektuelle Informationen vermitteln. Smith (1991), die in ihrer Theorie dem Principles-and-Parametersbasierten Grammatikmodell folgt und für die formale Darstellung ihrer Analyse das Modell der Discourse Representation Theory verwendet, nennt diese beiden Komponenten situation type und viewpoint.. Unter situation type versteht sie die traditionell als Aktionsarten bezeichneten lexikalischen Ausprägungen der Aspektualität, die die grundsätzliche zeitliche Struktur einer Situation herstellen. Die mit dem traditionellen Aspekt vergleichbaren viewpoint aspects stellen eine Situation hingegen mit einer bestimmten Ausdehnung oder einem bestimmten Fokus dar, ähnlich wie eine Kamera Teile des Bildes fokussieren kann: Sentences present aspectual information about situation type and viewpoint. Although they co-occur, the two types of information are independent. […] situation type is signalled by the verb and its arguments, viewpoint signalled by a grammatical morpheme, usually part of the verb or verb phrase. Tense and adverbials may give additional temporal information. […] The viewpoint of a sentence presents an event with a particular extent and focus, rather as a camera lens may focus. In framing a sentence the speaker chooses situation type and viewpoint, subject to the pattern of the language. (Smith 1991: 5–6)

Smith betont die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten des Menschen als Basis der Aspektualität, die sich entsprechend dem Muster (pattern) der jeweiligen Sprache ausprägen. Letztendlich schreibt sie aber dem Sprecher die Auswahl des situation type und des viewpoint zu, womit die Aspektualität zu einer pragmatischen Kategorie würde. Den viewpoint unterteilt Smith in drei Unterkategorien und folgt dabei dem Kriterium des Fokussierens des Anfangs- und des Endpunkts der

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Situation. Der perfective viewpoint nimmt sowohl den Anfangs- als auch den Endpunkt in den Blick, während der imperfective viewpoint weder den Anfangs-noch den Endpunkt betrachtet, sondern nur eine Phase der Situation. Die von ihr eingeführte dritte Unterkategorie, der neutral viewpoint ist ein default viewpoint, der eine Phase des Sachverhalts fokussiert und den Anfangspunkt einschließen kann und in Sätzen ohne ausdrückliche morphologische aspektuelle Markierung verwendet wird. Diese dritte Unterkategorie leitet Smith aus dem Postulat ab, das alle Sätze einen viewpoint haben müssen. Beim Fehlen morphologischer Markierungen des Aspekts nimmt sie daher den neutral viewpoint an: The two component theory requires that all sentences have a viewpoint, since situation type information is not visible without one. This theoretical requirement has the interesting consequence that sentences with no explicit aspectual morpheme must have an aspectual viewpoint. I posit the Neutral viewpoint as a default for such sentences. The default viewpoint gives partial information, which allows for the interpretations that speakers make of such sentences. (Smith 1991: 93)

Dessì Schmid (2014: 47) betont an Smiths Theorie vor allem die „Unterteilung des allgemeinen – universal-semantisch, kognitiv aufgefassten – aspektualen Bereichs in zwei Komponenten, die sich auch semantisch voneinander unterscheiden“ und stellt dieser Auffassung ihre Theorie eines monodimensionalen Ansatzes der Aspektualität entgegen. Das Konzept der Begrenzung spielt auch in Dessì Schmids Beschreibungs- und Klassifikationsmodell der aspektualen Informationen eine entscheidende Rolle, „das im Einklang mit der gewählten onomasiologischen Perspektive auf einer sehr allgemeinen sprachlichen Ebene angesiedelt ist und durch ein auf einer grundlegenden kognitiven Fähigkeit des Menschen basierendes Prinzip strukturiert ist: das Delimitationsprinzip“ (Dessì Schmid 2014: 4). Dessì Schmid (2014: 18) schreibt dem Aspekt folgende Eigenschaften zu: - Er ist grammatikalisch, flexiv, aber nicht-deiktisch. - Aufgrund seines grammatikalischen Charakters und seines Ausdrucks durch die Verbflexion ist er obligatorisch und wird von der Satz-Syntax verlangt. - Der Aspekt sei subjektiv, weil er „die vom Sprecher frei gewählte Perspektive ausdrückt, durch welche er die interne zeitliche Strukturierung des Sachverhalts darstellt“ (Dessì Schmid 2014: 18). Die subjektive Eigenschaft des Aspekts steht allerdings im Widerspruch zur zweiten genannten Eigenschaft, seinem obligatorischen Charakter. In vielen Fällen wird der Aspekt syntaktisch verlangt und es steht nicht im

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Benehmen des Sprechers, ihn nach seiner subjektiven Sichtweise auszuwählen. Auf diese Problematik werden wir unter 3.1.3. näher eingehen. Dessì Schmid fasst die Aspektualität als onomasiologisch gewonnene Inhaltskategorie auf, der sie ähnlich wie Bondarko den Aspekt im engeren Sinne und die Aktionsarten unterordnet. In der Aspektforschung stellt sie einen mehr oder weniger breiten Konsens im Hinblick auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen den einzelsprachlichen aspektuellen Kategorien und der universellen konzeptuellen Aspektualität fest. Auch in der Meinung, dass „der Inhalt der Aspektualität sich vor allem als die Delimitation oder Abgrenzung definieren lässt, d.h. sehr allgemein als Setzung von zeitlichen Grenzen in der Strukturierung von Sachverhalten und dass daher eine der fundamentalen Unterscheidungen zwischen den unterschiedlichen Typen von Sachverhalten gerade die zwischen abgegrenzten und nicht abgegrenzten sei“ stellt sie Übereinstimmungen zwischen den vorhandenen Ansätzen fest (Dessì Schmid 2014: 48). In Bezug auf die Beziehung zwischen Aspekt und Aktionsart als kategoriale Dimensionen der Aspektualität bemerkt sie jedoch zwei entgegengesetzte Ansätze, die sie als bidimensional und monodimensional bezeichnet. Die Vertreter des bidimensionalen Ansatzes gehen vom Vorhandensein eines fundamentalen Unterschieds von Aspekt und Aktionsart im formalen und semantischen Bereich aus (z.B. Bache 1982, 1995; Bertinetto 1986; Smith 1991). Ausgehend von einem monodimensionalen Ansatz werden dagegen auf einer allgemeinen kognitiven Ebene keine Unterschiede zwischen Aspekt und Aktionsart angenommen. Es wird davon ausgegangen, dass alle Phänomene der Aspektualität auf lexikalischer, morphologischer, syntaktischer und textueller Ebene anhand einer einzigen begrifflichen Dimension oder als kompakte Gruppe von elementaren Bedeutungen zu analysieren sind (Dessì Schmid 2014: 49). Neben Dessì Schmid vertritt vor allem Verkuyl (1972, 1993) einen monodimensionalen Ansatz. Die Grenzen des bidimensionalen Ansatzes werden deutlich, sobald man versucht, der Bestimmung der Aktionsart als rein lexikalische Kategorie zu folgen, denn die Zuordnung eines bestimmten Verbs zu einer bestimmten Aktionsart ist häufig nur im Kontext möglich. So wird die Aktionsart des durativen Verbs suchen durch das Zusammentreffen mit dem Adverb plötzlich inchoativ (plötzlich suchte er den Schlüssel). Das Hinzufügen eines Verbarguments kann zur Begrenzung der dargestellten Situation führen (er schrieb → er schrieb einen Brief). Zur Aspektualität in der Prädikation tragen also auch solche Phänomene bei, die eher der grammatischen Sphäre zuzuordnen sind, aber nicht an Verbmorpheme gebunden sind, wie zum Beispiel adverbiale Bestimmungen, die Präsenz oder die Absenz von Verbargumenten und der Grad ihrer Determination bzw. Definitheit,

Aspektualität und Aspekt

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die Satzstellung, die Negation und weitere Elemente, die nicht notwendigerweise aspektuelle Inhalte haben. Auch für eine Integration der Verbalperiphrasen in die Kategorie der Aspektualität bereitet der bidimensionale Ansatz Schwierigkeiten, da schwer zu entscheiden ist, ob es sich im Einzelfall um grammatische oder lexikalische Phänomene handelt, ob sie daher dem Aspekt oder der Aktionsart zuzurechnen sind (Dessì Schmid 2014: 53). Dessì Schmid entwickelt eine frame-basierte Interpretation der Aspektualität und geht dabei von einem Verständnis des Frames als eines strukturierten und zusammenhängenden Wissenskontexts aus, „der allgemein konzeptueller oder kulturspezifischer Natur sein kann, mittels dessen der Mensch verschiedene Alltagssituationen angeht“ (Dessì Schmid 2014: 70). Für die Untersuchung der Aspektualität stützt sie sich auf die Resultate der kognitiv orientierten Semantik, insofern sie die Sachverhalte, in denen sich Aspektualität ausdrückt, als Situationsframes auffasst und zu folgender Definition gelangt: Aspektualität ist die universale Inhaltskategorie, durch die die Sprecher die Art des Ablaufs und der Distribution eines Sachverhalts in der Zeit sprachlich strukturieren; sie beinhaltet jenen Komplex von Informationen, die sich auf die einem betrachteten Sachverhalt eigene, also vom Bezug zum Sprechzeitpunkt unabhängige, zeitliche Strukturierung beziehen. (Dessì Schmid 2014: 79)

Dabei wird von semantischer Homogenität des aspektualen Bereichs ausgegangen und es wird nach einem Kriterium gesucht, das die „– traditionell in Aspekt und Aktionsart unterteilten – Informationen in ihrem gleichartigen semantischen Inhalt begründen und gleichzeitig zu einer Subklassifizierung dieser Arten von Informationen dienen“ (Dessì Schmid 2014: 84) kann. Ausgehend von der Annahme, dass Frames als Wahrnehmungs- oder Konzeptualisierungsgestalten aufgefasst werden können, erklärt Dessì Schmid aspektuale29 Inhalte, die in den als Situationsframes aufgefassten Sachverhalten dargestellt sind, als Figur-Grund-Konstellationen. Mit der Anwendung des Delimitationsprinzips ist das Setzen von Anfangs-, End- und Unterteilungsgrenzen im zeitlichen Ablauf einer Situation gemeint. Durch die aspektuale Delimitation wird die komplexe interne zeitliche Strukturierung eines Sachverhalts bestimmt. Die folgende Darstellung zeigt das Intervall, das sich zwischen zwei voneinander unterschiedlich gesetzten zeitlichen Grenzen tX und tY ergibt. Dieses Intervall wird als Differenz der Zeitpunkte dargestellt: I= │tY – tX│(Dessì Schmid 2014: 108). _____________ 29

Dessì Schmid verwendet das Adjektiv aspektual in Relation zu dem weiten Begriff der ‛Aspektualität’ und vermeidet das üblichere aspektuell, das sie als von Aspekt abgeleitet auffasst.

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

tX

tY

Aspektuale Ebene I=│tY – tX│

Temporale Ebene E

In dieser Skizze wird auf der aspektualen Ebene ein Intervall dargestellt, das sich zwischen den beiden gesetzten zeitlichen Grenzen ergibt. Auf der temporalen Ebene wird der Sachverhalt lediglich global situiert und es wird von seiner Ausdehnung sowie der Relation zum Sprechaktmoment und zu einem möglichen Referenzpunkt abstrahiert. Auf dieser Basis sieht Dessì Schmid (2014: 108) dieses Schema in den folgenden Sätzen realisiert, in denen die aspektuale Abgrenzung durch das zusammengesetzte Perfekt (50), durch das einfache Perfekt (51 und 52) und durch das periphrastische Perfekt (53) vorgenommen wird. Zusätzlich wird in (51) und (53) die Abgrenzung des Intervalls durch die determinierten Aktanten des Verbs unterstützt, während die Quantifizierung in (50) und (52) nicht zu einer Abgrenzung des Intervalls beiträgt: (50) it.

Leo ha magiato tutte le ciliegie.

(51) fr.

Julie parla de ta mésavanture avec Marie.

(52) sp. Carlos comió muchos caracoles. (53) kat. Rosina va escriure una novel.la molt maca.

Das dargestellte Schema trifft sowohl auf Sätze mit telischen Verben als auch auf kontinuative Verben zu. Der Prozess der Delimitation erfolgt jedoch in einer komplexen Einheit verschiedener sich in Kontinuität zueinander befindlicher zeitlicher Einheiten. Dessì Schmid (2014: 111) unterscheidet zwischen drei Arten von Aspektualität. Die externe Aspektualität betrifft die Abgrenzung oder Nichtabgrenzung eines Sachverhalts zwischen einem Anfangspunkt tX und einem Endpunkt tY, während die umgebungsbezogene Aspektualität eines Sachverhalts angibt, ob dieser die nachkommende oder vorherige Umgebung in irgendeiner Art bestimmt oder beeinflusst, ihr zum Beispiel den Anfang oder das Ende vorgibt. Die interne Aspektualität schließlich betrifft die Frage, ob der Sachverhalt weiter in Phasen unterteilt ist. Aus der Kombinatorik der drei Dimensionen der Aspektualität leitet Dessì Schmid verschiedene Typen der aspektualen Determination ab, die sie als onomasiologische Grundlage für die Zuordnung sprachlicher Repräsentationen

Aspektualität und Aspekt

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von Situationen im Französischen, Italienischen, Spanischen und Katalanischen nutzt. Sie stellt dabei auch fest, dass es „keine unausweichliche Korrespondenz zwischen den hier vorgestellten Ausformungen der Aspektualität und den semasiologisch gewonnenen einzelsprachlichen Kategorien von Aspekt und Aktionsart“ (Dessì Schmid 2014: 162) gibt. Sie betrachtet in diesem Zusammenhang die sprachlichen Elemente nicht als einfachen und unmittelbaren Ausdruck von Konzepten, sondern als Werkzeuge, mit denen Sprecher und Hörer bestimmte Bereiche ihres Weltwissens aktivieren. Hierbei werden in unterschiedlichen Gebrauchskontexten jeweils unterschiedliche Bereiche aktiviert. Auf dieser Grundlage nimmt Dessì Schmid Aspektualitäts-Frames an, die aus in Kontiguität zueinander stehenden Elementen bestehen. Diese Elemente können jeweils unterschiedlich fokussiert und perspektiviert werden (Dessì Schmid 2014: 226). Als Beschreibungs- und Klassifikationsprinzip aspektualer Inhalte wählt sie das auf dem Figur-Grund-Prinzip und daher auf dem grundlegenden kognitiven Assoziationsprinzip der Kontiguität basierende Delimitationsprinzip, unter dem sie die „Setzung zeitlicher Anfangs-, End- und Unterteilungsgrenzen im zeitlichen Ablauf eines Sachverhalts“ (Dessì Schmid 2014: 226) versteht. Die am Delimitationsprozess teilhabenden Elemente – also die Grenzen selbst, die Umgebung vor und nach den gesetzten Grenzen und das Intervall, das von zwei gesetzten Grenzen umschlossen wird – werden nach drei verschiedenen Perspektiven (externe, umgebungsbezogene und interne Aspektualität) fokussiert. Die Ausformungen, die in jeder dieser als Figur im Verhältnis zu den beiden anderen wahrgenommenen Dimensionen zu finden sind, stellt Dessì Schmid (2014: 138–163) als aspektuale Basiskonzeptualisierungen dar, die sie dann auf ihre Repräsentation in verschiedenen Sachverhalten anwendet (Dessì Schmid 2014: 164–196). In der folgenden Darstellung geben wir lediglich die obere Ebene ihres Modells, in denen sie die drei Perspektiven der Aspektualität darstellt, wieder (Dessì Schmid 2014: 112):

Externe Aspektualität Umgebungsbezogene Interne Aspektualität (Abgrenzung eines Aspektualität (Unterteilung eines Sachverhalts) (Umgebungsrelevanz Sachverhalts) eines Sachverhalts)

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Die aspektualen Basiskonzeptualisierungen sind auf der Ebene des gesamten Sachverhalts kombinierbar und ergeben die Gesamtbedeutung eines Situationsframes. Dessì Schmid (2014: 227) erstellt auch ein Inventar der möglichen und unmöglichen Kombinationsmuster der aspektualen Basiskonzeptualisierungen. Das monodimensionale und onomasiologische Modell von Dessì Schmid ist gerade für den Vergleich der Ausformungen der Aspektualität in unterschiedlichen Sprachen sehr fruchtbar. Auch wir nehmen mit der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität einen onomasiologischen Ausgangspunkt für die Betrachtung der Aspektualität an (vgl. 3.1.1.), der sich jedoch in zwei Punkten von dem Dessì Schmids unterscheidet. Unter den Ausdrucksmitteln der als konzeptuelle Kategorie bestimmten Aspektualität erkennen wir den systematischen, auf grammatikalisierten Formen beruhenden, d.h. dem Aspekt im engeren Sinne in Aspektsprachen und den zueinander in Opposition stehenden Verbformen der „Vergangenheit“ in den romanischen Sprachen, einen besonderen Stellenwert zu. Das heißt nicht, dass lexikalische und syntaktische Ausdrucksmöglichkeiten des Aspekts deren Funktion nicht übernehmen könnten. In der Sprachverwendung sind sie jedoch optional, während die grammatikalisierten Mittel der Aspektualität in der Regel gebraucht werden müssen. Dem Sprecher steht es zwar in bestimmten Kontexten frei, zum Beispiel im Spanischen ein pretérito perfecto simple oder ein imperfecto zu verwenden und damit seine persönliche Sichtweise zu verdeutlichen, für den Ausdruck bestimmter typischer Bedeutungen ist aber die Verwendung einer der beiden Verbformen obligatorisch. So kann eine im Verlauf befindliche Handlung (descansábamos ‛wir erholten uns’) nicht durch das pretérito perfecto simple ausgedrückt werden, ebenso wie Verbformen, die das plötzliche Eintreten (conocimos ‛wir lernten kennen’) oder die Ganzheitlichkeit einer über eine bestimmte Zeitspanne erstreckten Situation (acompañó ‛begleitete uns’) nicht durch das imperfecto ersetzt werden können (55): (54) sp. Mientras descansábamos en una posada conocimos a un pastor que nos acompañó durante el último tramo del viaje. (55) sp. *Mientras descansamos en una posada conocíamos a un pastor que nos acompañaba durante el último tramo del viaje.

Zwar wirken in den ersten beiden Verbformen in Satz (54) die imperfektive Verbform und die durative Aktionsart des Verbs (descansabamos) bzw. die perfektive Verbform und die inchoative Aktionsart des Verbs (conocimos) zusammen, für den Ausdruck der entsprechenden Aspektualität reicht jedoch die Aktionsart der Verben nicht aus, was am Beispiel (55) nachweisbar ist. Die Durativität eines Verbs kann sich sogar einer perfektiven Verbform unterordnen (acompañó) und von dieser gemeinsam mit

Aspektualität und Aspekt

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einer adverbialen Bestimmung (durante el último tramo del viaje) delimitiert werden. Die Verwendung der Verbformen ist hier also obligatorisch und nicht durch subjektive Entscheidungen des Sprechers motiviert. In der Einschränkung der Freiheit, mit der durch den Aspekt eine bestimmte Perspektive ausgedrückt werden kann, liegt der zweite Unterschied zum Modell von Dessì Schmid, die argumentiert, dass der Sprecher genauso eine Verblexie wählen muss, wie eine flektive Markierung gewählt werden müsse, damit die Syntax funktioniert. Natürlich ist eine Verblexie „ebenso mit einer Aktionsart (also einem lexikalischen aspektualen Inhalt) verbunden wie eine flektive Markierung mit Aspekt“ (Dessì Schmid 2014: 55). Obwohl der Sprecher zur Realisierung seiner kommunikativen Absicht beides, das Verb mit einer bestimmten Aktionsart und die Flexionsendung mit temporal-aspektuellen Merkmalen verwenden muss, ist die Verwendung eines bestimmten Verbs nicht obligatorisch, er könnte auch Synonyme verwenden, auf ein Verb ohne diese Aktionsart zurückgreifen oder seine Äußerungen ganz anders formulieren. Bei den Flexionsendungen hat der Sprecher, wie wir am Beispiel (55) gesehen haben, jedoch keine Wahl. Wir operieren bei der Unterscheidung des Aspekts und der anderen Ausdrucksmittel der Aspektualität nicht mit diskreten semantischen Kategorien und gehen durchaus von Kontinua in der diachronen Entwicklung und kognitiven Gemeinsamkeiten der Elemente einer funktional-semantischen Kategorie in der Sprachverwendung, also von derselben „semantischen Gussform“ (Dessì Schmid 2014: 221) aus. Wir ordnen den Unterschied zwischen dem grammatischen Aspekt und den Aktionsarten auch nicht einfach in die Polarität von Grammatischem und Lexikalischem ein. Natürlich ist die Hinzufügung von Adverbien, Aktanten des Verbs oder deren Determinanten auch ein grammatisches Phänomen, diese sprachlichen Mittel tragen aber zur Markierung von Aspektualität bei und sind nicht auf deren Ausdruck spezialisiert. Insofern könnte man unseren Ansatz multidimensional nennen, da wir nicht wie in bidimensionalen Theorien von zwei die Aspektualität ausmachenden Phänomenen, einerseits dem Aspekt oder den aspektuell-temporal markierten Verbformen und andererseits den Aktionsarten, ausgehen, sondern alle zum Ausdruck von Aspektualität beitragenden sprachlichen Mittel in Betracht ziehen und ihren Beitrag als unterschiedlich analysieren. Im Ensemble dieser sprachlichen Phänomene räumen wir allerdings für Sprachen mit Aspektkorrelation dem Aspekt und für die romanischen Sprachen den aspektuell-temporal markierten Verbformen eine zentrale Stellung ein, da sie in der Regel den aspektuellen Charakter der Prädikation bestimmen. Abstrahiert man jedoch von der Spezifität der verschiedenen Ausdrucksmittel der Aspektualität und bezieht man einen universellen Standpunkt, der auch den Vergleich mit aspektlosen Sprachen ermöglicht, stellen sich lexikalische wie

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

grammatische Markierungen der Aspektualität als gleichartig dar, was eine monodimensionale Betrachtung ermöglicht. Die Frage, ob der Aspekt wirklich bis zu einem gewissen Grad subjektiv ist, bedarf der weiteren Erörterung. Ihr ist das folgende Unterkapitel gewidmet. 3.1.3. Ist der Aspekt subjektiv? Dem Aspekt bzw. aspektuell-temporal markierten Verbformen wird häufig die Eigenschaft zugeschrieben, ausgehend vom subjektiven Standpunkt des Sprechers wählbar zu sein. So bezeichnet García Fernández (1998: 10) die Aktionsarten als aspecto objetivo und den grammatischen Aspekt als aspecto subjetivo, weil letzterer dem Sprecher erlauben würde, seinen Standpunkt in die Prädikation einzubringen: „permite al hablante, en términos generales, adoptar un punto de vista u otro con respecto a los predicados“ (García Fernández 1998: 10). Tatsächlich unterscheiden sich die beiden folgenden Sätze lediglich durch die Verbform und der Sprecher bringt in Satz (56) zum Ausdruck, dass der Aufenthalt im vergangenen Jahr sowohl begonnen als auch geendet hat, während er in Beispiel (57) bereits vorher begonnen haben kann und noch nicht beendet sein muss: (56) sp. El año pasado estuvo en Nueva York. (57) sp. El año pasado estaba en Nueva York.

Mit dem pretérito perfecto simple wird also eine zeitliche Begrenzung der Dauer markiert, die in Beispiel (56) zusätzlich durch die adverbiale Bestimmung präzisiert wird. Mit der Verwendung des imperfecto in Beispiel (57) limitiert der Sprecher die Dauer der Situation nicht; auch das Adverbial vermag hier keine Grenze zu bestimmen, es gibt lediglich eine temporale Einordnung einer Zeitspanne während der bezeichneten Situation an. Die Wahl der Verbformen in diesen beiden Sätzen ist jedoch nicht subjektiv, denn der Sprecher gibt Informationen über die ihm bekannte Dauer des Aufenthalts, die sich durchaus kalendarisch einordnen ließen und der zeitlichen Struktur des Sachverhalts entsprechen. In (56) wird die Situation des Aufenthalts ganzheitlich dargestellt, während in (57) nur eine Information über eine Zeitspanne in ihrem Verlauf gegeben wird. Für einen der beiden objektiv bestimmbaren Inhalte ist eine Verbform obligatorisch. Auch die Aufeinanderfolge von Handlungen in der Vergangenheit sowie die Parallelität von Situationen sind objektive Gegebenheiten der Realität, für deren sprachliche Darstellung der Sprecher nicht beliebig

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Aspektualität und Aspekt

Verbformen auswählen kann. So steht in den romanischen Sprachen das zusammengesetzte oder das einfache Perfekt für nacheinander ablaufende Handlungen, während das Imperfekt deren gleichzeitigen Verlauf angibt: (58) fr.

D’abord il a téléphoné, PUIS il a lu le journal et ENSUITE il est sorti de la maison.

(59) fr.

Nous étions à la maison. Papa lisait le journal, maman tricotait et nous regardions la télé.

Die Wahl des Imperfekts zu einer Subjektivierung der Darstellung in Satz (58) würde zu der absurden Annahme führen, dass jemand gleichzeitig telefonierte, die Zeitung las und aus dem Haus ging, abgesehen davon, dass sie mit den eine Abfolge markierenden Adverbien nicht kompatibel wäre. Gegen die Subjektivität des Aspekts und der aspektuell-temporalen Verbformen spricht auch die Tatsache, dass die Wahl der Verbform häufig durch den Kontext oder das Verb selbst vorgegeben ist. In Aspektsprachen kann der Aspekt sogar in den meisten Fällen nicht vom Sprecher gewählt werden, um subjektive Nuancen über Ablauf oder die Begrenzung einer Situation auszudrücken. Auch in den romanischen Sprachen ist die Wahl der aspektuell-temporal markierten Verbformen nicht immer beliebig möglich. So sind zum Beispiel Adverbien, die das plötzliche Einsetzen einer Handlung bezeichnen, im Französischen Auslöser für das passé composé (oder in der geschriebenen Sprache für das passé simple) und können nicht ohne Weiteres mit dem imparfait verbunden werden, ebenso wie Gewohnheiten bezeichnende Adverbien das imparfait fordern. Das passé composé würde den Zeitraum, in dem eine Handlung gewohnheitsgemäß stattfand, limitieren: (60) fr.

TOUT A COUP il a vu un accident. ?TOUT A COUP il voyait un accident.

(61) fr.

Il prenait TOUJOURS le petit déjeuner très tôt le matin. ?Il a pris TOUJOURS le petit déjeuner très tôt le matin.

(62) fr.

Nous regardions la télé soirs.

TOUS

les soirs. ?Nous avons regardé la télé

TOUS

les

Dennoch sei bereits hier auf bestimmte Möglichkeiten der Subjektivierung unter Nutzung einzelner Verbformen in sekundärer, nicht prototypischer Bedeutung verwiesen. In den folgenden beiden Beispielen erscheint das spanische imperfecto im unabhängigen Satz, ohne dass es Gleichzeitigkeit zu einer anderen Situation in der Vergangenheit oder den Verlauf einer Handlung ausdrücken würde. Es stellt vielmehr ganzheitlich betrachtete Handlungen dar, die auch zeitlich begrenzt sind. In dieser gerade in der Pressesprache sehr häufigen Verwendungsweise des Imperfekts kennzeichnet es den Verweis auf eine nicht näher benannte Quelle und nimmt

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

damit modalisierende und zugleich evidentielle Funktionen an, vgl. Böhm (2013), (2015) und (2016): (63) sp. El Papa Francisco recibía el lunes en el Palacio Apostólico a la última tanda de prelados de las provincias eclesiásticas del sur de España, incluidas las Islas Canarias, Ceuta y Melilla. (GlossaNet, ABC, 13/03/2014) (64) sp. Wall Street abrió hoy sin tendencia definida y el Dow Jones de Industriales bajaba un 0,07 %, con los mercados cautelosos a la espera del inicio de la temporada de resultados trimestrales. (GlossaNet, El País, 10/04/2014)

Diese Verwendungen des Imperfekts lassen sich zu Recht als subjektiv kennzeichnen. Der Sachverhalt als solcher hätte auch mit dem pretérito perfecto simple dargestellt werden können. Mit dem Imperfekt nimmt der Journalist Distanz zum mitgeteilten Sachverhalt und kennzeichnet ihn als aus fremder Quelle erhalten. Obwohl diese subjektivierende Darstellungsweise in der spanischen Presse sehr häufig anzutreffen ist, gibt es auch vergleichbare Darstellungen von Sachverhalten mit dem objektiveren pretérito perfecto simple: (65) sp. Este lunes, Bachelet recibió a los presidentes de los partidos de la Nueva Mayoría, que la felicitaron por el triunfo y manifestaron su compromiso para trabajar en su programa de gobierno. (GlossaNet, El Mundo, 19/12/2013) (66) sp. Así, a nivel nacional, la compraventa de viviendas bajó un 15,9% el pasado mes de noviembre respecto al mismo mes de 2012, hasta un total de 21.847 operaciones, registrando así la segunda cifra más baja del año tras la de marzo (22.100 transacciones) y una de las menores de toda la serie, iniciada en 2007. (GlossaNet, El Mundo, 16/01/2014)

Während der Sprecher in den genannten Beispielen also die Wahl zwischen zwei Verbformen hat und durch das imperfecto sich selbst als Übermittler der Nachricht einbringen kann, steht in vielen Fällen nur eine aspektuell-temporale Verbform zur Realisierung seiner Kommunikationsabsicht zur Verfügung. Die obligatorische Verwendung entsprechender aspektuell-temporaler Verbformen zur Darstellung bestimmter Situationen beruht auf objektiven Kriterien und lässt dem Sprecher häufig keine Wahl für subjektive Nuancen. Wir argumentierten nicht gegen den subjektiven Charakter der aspektuell-temporalen Verbformen, um daraus den Schluss zu ziehen, dass sie in der Objektivität den Aktionsarten nahe kämen und deshalb genau wie diese zu behandeln seien. Vielmehr spricht der weitgehend objektive und obligatorische Charakter des Aspekts für seine Systematizität und legt seine Behandlung als zentrales Ausdrucksmittel der Aspektualität nahe.

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3.1.4. Aktionsarten als Ausdrucksmittel von Aspektualität Aktionsarten sind nach ihrer lexikalischen Bedeutung zu unterscheidende Verbklassen, die nach der Art des zeitlichen Ablaufs und der Begrenzung des vom Verb ausgedrückten Sachverhalts eingeteilt werden. Es handelt sich somit um eine semantische Kategorie des Verbs, die den verbalen Vorgang in seinem Verlauf charakterisiert und daher der Kategorie des Aspekts nahe steht, aber im Gegensatz zu diesem auf lexikalisch-semantischer Ebene verbleibt und keine Paradigmen ausgebildet hat. Aktionsarten sind nicht systematisch ausgeprägt und sie benennen die dargestellten Situationen nicht unter Bezugnahme auf die Stellung des Textproduzenten in Raum, Zeit und Ort. Gerade in aspektlosen Sprachen wie dem Deutschen spielen Aktionsarten eine wichtige Rolle beim Ausdruck der Aspektualität (vgl. Nicolay 2007).30 Während bei der Aspektkorrelation die gleiche Situation perfektiv oder imperfektiv bezeichnet wird, gliedern Aktionsarten die Verben nach semantischen Kriterien und bedeuten unterschiedliche Handlungen und Vorgänge. Pollak (1988) sieht keine wesentlichen Unterschiede zwischen dem Aspekt in slavischen und den Aktionsarten in germanischen und romanischen Sprachen. Er verkennt dabei jedoch, dass beim Aspekt der Ausdruck von ‛Begrenzung’/‛Nichtbegrenzung’ systematisch und unabhängig von der speziellen lexikalischen Bedeutung vorgenommen wird. Die Zahl und Benennung der Aktionsarten wechselt in der Literatur; geläufig sind zum Beispiel die folgenden: definitiv, determiniert, diminutiv (attenuativ), durativ, egressiv (finitiv), faktitiv, imperfektiv, inchoativ (ingressiv), indefinitiv, indeterminiert, iterativ, kausativ, konativ, perfektiv, progressiv, punktuell, repetitiv, resultativ (effektiv), semelfaktiv, terminativ. Nicht alle Aktionsarten treten dabei in allen Sprachen auf. So kommt die Eigenschaft, determiniert oder indeterminiert zu sein, russischen Verben der Fortbewegung zu: determiniert indeterminiert gehen идти ходить fahren ехать ездить laufen бежать бегать fliegen лететь летать tragen нести носить Dieser Unterschied zwischen determinierten und indeterminierten Verben ist nicht etwa mit der Opposition zwischen fr. aller und venir zu vergleichen, die auf den Merkmalen ‛Entfernung vom’ bzw. ‛Annäherung an den _____________ 30

Zum Verhältnis von Aspekt und Aktionsart im deutschen Verbalsystem vgl. Abraham (1991).

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

lokalen Bezugspunkt’ beruht. Mit den determinierten Verben kann eine einmalige Bewegung in einer Richtung (Мы едем домой. ‛Wir fahren nach Hause’) oder eine mehrmalige Bewegung in einer Richtung (Утром я обычно иду пешком в университет. ‛Morgens gehe ich gewöhnlich zu Fuß zur Universität’) ausgedrückt werden. Die indeterminierten Verben der Bewegung lassen vier spezielle Bedeutungen zu: die mehrmalige Bewegung hin und zurück (Он часто летает в Москву. ‛Er fliegt oft nach Moskau’), die einmalige Bewegung hin und zurück (Вчера мы ходили в кино. ‛Gestern sind wir ins Kino gegangen’), die Bewegung in keine bestimmte Richtung (Дети бегают по двору. ‛Die Kinder laufen auf dem Hof herum’), die Bewegung als Eigenschaft, Fähigkeit, Gewohnheit (Ребёнок уже ходит. ‛Das Kind läuft schon’). Mit dem Ausdruck von Aspektualität haben die determinierten und indeterminierten Verben auch insofern zu tun, als die determinierten die Basis für die Präfigierung zu perfektiven Verben bilden, während von den indeterminierten Bewegungsverben imperfektive Verben gebildet werden, z.B. ‛vorbeigehen’: pf. пройдти, impf. проходить; ‛wegfliegen’: pf. улететь, impf. улетать. Wie das Beispiel der determinierten und indeterminierten Verben des Russischen zeigt, sind Aktionsarten nicht einfach ein Ausgleich für das Fehlen des Aspekts in aspektlosen Sprachen, wie dem Deutschen, sondern sie sind auch in Sprachen mit einer Aspektkorrelation ausgeprägt. Aktionsarten sind in den einzelnen Sprachen offensichtlich unterschiedlich verteilt und folgen keinem typologischen Kriterium. Als lexikalische Mittel kann der Sprecher sie frei zur Realisierung seiner kommunikativen Absicht nutzen und zum Beispiel für Hans hustete unter Verwendung der attenuativen Aktionsart sagen Hans hüstelte. Auch im Lateinischen und in romanischen Sprachen gibt es Aktionsarten, die das Deutsche nicht kennt. So drücken einige Verben, wenn sie im Imperfekt gebraucht werden, den Versuch einer Handlung aus (konative Aktionsart): (67) lat. Flumen transibant. ‛sie versuchten, den Fluss zu überqueren’ (68) sp. La cogía, pero no la cogió. ‛er versuchte, sie zu fangen, erreichte sie aber nicht’

Für das Zustandekommen der konativen Bedeutung ist hier allerdings nicht allein die lexikalische Bedeutung des Verbs mit dem Merkmal ‛Erreichen eines Ziels’ maßgeblich, sondern auch die imperfektive Bedeutung der Verbform. Insbesondere im Deutschen sind Aktionsarten häufig an der morphologischen Struktur der Verben zu erkennen. So dient das Präfix er- zur Bildung inchoativer Verben, die den Beginn einer Situation kennzeichnen (erblühen, erblassen, erröten), während das Ende einer Situation durch mit

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dem Präfix ver- gebildete egressive Verben gekennzeichnet werden kann (verblühen). Faktitive oder kausative Verben werden häufig mit einem Umlaut (ä, ö, ü) gebildet (schärfen ‛scharf machen’, tränken ‛trinken machen’, füllen ‛voll machen’; lösen ‛los machen’) und iterative oder auch attenuative Verben sind mitunter am Suffix –eln zu erkennen (sticheln ‛wiederholt stechen’, kränkeln ‛häufig krank sein’, hüsteln ‛ein bisschen husten’). Auch in romanischen Sprachen sind Aktionsarten bei einigen Verben morphologisch erkennbar, so zum Beispiel die inchoative Aktionsart von sp. enrojecer ‛rot werden, erröten’ am Präfix en- und am Suffix -ecer und der französischen Entsprechung rougir am Ausgang des Infinitivs auf -ir. Die iterative Aktionsart erkennt man in sp. golpear ‛klopfen, pochen’ am Suffix -ear, sowie in fr. sautiller ‛hüpfen’ und feuilleter ‛blättern’ am Suffix -iller bzw. -eter. Dennoch ist keines dieser Affixe so produktiv, dass es eine von den Verbalstämmen unabhängige und mit einer bestimmten Aktionsart verbundene morphologische Reihe bilden würde. Auch morphologisch betrachtet durchziehen Aktionsarten somit nicht das gesamte Verbalsystem, sondern sind lexikalische Ausdrucksmittel der Aspektualität. Die mangelnde Systemhaftigkeit der Aktionsarten hat zu verschiedenen Klassifizierungen und Einteilungen geführt, die jedoch aufgrund fehlender Kriterien fragwürdig sind. Eine auf den ersten Blick brauchbare Klassifizierung der Verben nach den Kriterien ‛Dauer’, ‛Telizität’ und ‛Dynamis’ hat Vendler in seiner Studie Verbs and Times (1957; vgl. auch Vendler 1967) vorgeschlagen. Die genannten Kriterien werden dabei nach dem Vorbild der strukturellen Linguistik als binäre Oppositionen gehandhabt: durative Situationen setzen sich aus mehreren aufeinanderfolgenden Zeitpunkten zusammen, während nicht-durative nur auf einen Zeitpunkt bezogen sind. Telische Sachverhalte neigen sich einem dem Sachverhalt eigenen Ziel zu, nach dessen Erreichen sie definitiv abgeschlossen sind, während nicht-telische Sachverhalte kein solches Ziel aufweisen. Dynamische Situationen weisen jeweils qualitativ verschiedene Phasen auf, nichtdynamische hingegen nicht. In Anlehnung an Vendler gelangt Dessì Schmid (2014: 21) zu folgender Darstellung der aktionalen Klassen:

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

achievements (Ergebnisse, Zustandswechsel ohne zeitlichen Verlauf) + telisch - durativ + dynamisch accomplishments (Zustandswechsel mit zeitlichem Verlauf, Ausführungen) + telisch + durativ + dynamisch activities (Vorgänge, Tätigkeiten) - telisch + durativ + dynamisch states (Zustände) - telisch + durativ - dynamisch

Italienisch tagliare il traguardo

Französisch trouver

Spanisch arribar

Deutsch ankommen

mangiare una mela

traverser la rue

envejecer

von Rom nach Paris fahren

camminare

fumer

correr

schlafen

sapere

être grand(e)

habitar

wissen

Achievements bezeichnen dabei Ereignisse, die nur zu einem Zeitpunkt stattfinden oder Zustandswechsel ohne zeitlichen Verlauf, während accomplishments Zustandswechsel mit zeitlichem Verlauf oder Handlungen und Ereignisse sind, die für mehrere aufeinanderfolgende Phasen feststellbar sind, die aber nicht weitergeführt werden können, wenn sie ihr Ziel erreicht haben. Activities sind Situationen, die in ihrem Verlauf qualitativ verschiedene Zeitpunkte einschließen, während bei states der Zustand zu jedem Zeitpunkt der gleiche ist (Dessì Schmid 2014: 22). Die Klassifizierung der Aktionsarten nach Vendler hat allerdings den Nachteil, dass sie allein die lexikalische Bedeutung des isolierten Verbs zugrunde legt. Auf diese Weise lassen sich dt. essen, fr. manger, sp. comer, it. mangiare ohne Weiteres als activities und damit als atelisch charakterisieren, während sie jedoch in Kombination mit einem direkten Objekt (dt. einen

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Apfel essen, fr. manger une pomme, sp. comer una manzana, it. mangiare una mela) zu telischen Verben würden und als accomplishments einzuordnen wären. Auf diese Tatsache hat zuerst Verkuyl (1972) hingewiesen und vorgeschlagen, die aspektuelle Interpretation einer Prädikation auf den gesamten morpho-syntaktischen Komplex aus dem Verb und seinen Argumenten zu beziehen (vgl. Dessì Schmid 2014: 25). Eine Klassifizierung wie die von Vendler erlaubt es, nicht nur morphologisch abgeleitete Verben, wie zum Beispiel rougir oder enrojecer, als Aktionsarten zu betrachten, sondern auch andere Verben im Hinblick auf ihren Beitrag zur Aspektualität zu untersuchen. Dies ist zum Beispiel in der Liste der Aktionsarten (modes d’action), die Grevisse in seinem Bon Usage gibt, eindeutig der Fall. Grevisse geht von einem umfassenden Aspektualitätsbegriff aus, den er aspect nennt und mit Beispielen belegt, in denen die lexikalischen Aktionsarten eine besondere Rolle spielen. Dennoch definiert er den aspect folgendermaßen: L’aspect du verbe est le caractère de l’action considérée dans son développement, l’angle particulier sous lequel le déroulement (le « procès ») de cette action est envisagé, l’indication de la phase à laquelle ce « procès » en est dans son déroulement ; c’est donc, en somme, la manière dont l’action se situe dans la durée ou dans les parties de la durée. (Grevisse 1980: 702)

Damit wird als Verbalaspekt der spezifische Blickwinkel bestimmt, unter dem eine Handlung betrachtet wird, oder auch die Phase, in der sich der dargestellte Prozess befindet. Grevisse folgt dabei Guillaume (1965 [1929]), der unter Aspekt die Art und Weise der Situierung einer Handlung im Ablauf der Zeit verstand. Als wichtigste Aspekte nennt Grevisse (1980: 702) die folgenden: l’instantanéité (‛momentaner Aspekt’): La bombe éclate. la durée (‛durativer Aspekt’): Je suis en train de lire. Je le pourchasse. l’entrée dans l’action (‛inchoativer oder ingressiver Aspekt’): Il se met à rire. Il s’endort. la répétition (‛iterativer Aspekt’): Je relis la lettre. Il buvote son vin. la continuité, la progression (‛progressiver Aspekt’): Il ne fait que rire. Le mal va croissant. l’achèvement (‛perfektiver Aspekt’): Elle a vécu, Myrto. J’ai trouvé. l’inachèvement (‛imperfektiver Aspekt’): Je cherche une solution. la proximité dans le futur (‛nahe Zukunft’): Il va lire. Il est sur le point de lire. La proximité dans le passé (‛nahe Vergangenheit’): Je viens de le voir.

Binnick (1991: 146) vermerkt als positiv zu dieser Auffassung, dass sie über das Verb hinaus syntaktische Kollokationen einbezieht und dadurch der Beschreibung der dargestellten Situationen mit dem Aspektbegriff näherkommt als die Darstellung von Vendler, nach der das Verb schwimmen als Tätigkeit (activity) einzuordnen wäre, wobei aber durch den Fluss

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

schwimmen ein Zustandswechsel mit zeitlichem Verlauf (accomplishment) wäre. Er bemängelt an diesen Kategorien von Grevisse jedoch das Fehlen formaler und kategorialer Ähnlichkeit. Offensichtlich spielen für Grevisse die aspektuell markierten Verbformen hier keine große Rolle. Die letzten beiden Kategorien ordneten wir bereits als Ausdrucksmittel der Temporalität ein, wobei für Grevisse die ‛Nähe’ ein Grund gewesen sein mag, hier von Phasen und damit von Aspektualität auszugehen. In den angeführten Beispielen wird Aspektualität durch Verbalperiphrasen und/oder die lexikalische Aktionsartsbedeutung der Verben ausgedrückt. In der Tat sind diese beiden Mittel des Ausdrucks von Aspektualität in besonderem Maße geeignet, eine Situation als äußerlich begrenzt oder nicht begrenzt darzustellen. Wir verstehen unter Aktionsart eine Kategorisierung, die bereits in der Verbbedeutung angelegt ist und nach dem Kompositionalitätsprinzip in die aspektuelle Bedeutung einer Äußerung eingeht. Das Verb in dem Satz La bombe éclate setzt bereits eine auf einen Zeitpunkt begrenzte Grenze und lässt keine Erweiterung zu (*La bombe éclate pendant dix minutes). Dagegen ist im folgenden Satz eine Begrenzung durch das Adverbial pendant une heure und durch die perfektive Verbform (ai cherché), die für die ganzheitliche Sicht der Situation steht, ausgedrückt, nicht jedoch durch die Aktionsart des durativen Verbs chercher: (69) fr.

J’ai cherché ma clé pendant une heure.

Dass die Aktionsart der Verben in romanischen Sprachen einen wichtigen Beitrag zur Aspektualität leistet und der aspektuellen Bedeutung von Verbformen nicht nachgeordnet sein muss, lässt sich anhand von Einschränkungen in bestimmten Verbalparadigmen erkennen. So haben die italienischen Verben splendere (‛glänzen’) und stare (in der Bedeutung ‛bleiben’) kein Perfektpartizip und können nicht in zusammengesetzten Tempora konjugiert werden. Auch einige, wenn auch nicht sehr häufige französische Verben sind „unvollständig“, so haben die Verben gésir ‛(begraben) liegen’, messeoir ‛sich nicht ziemen, unangemessen sein’ und paître (‛abgrasen’) kein Perfektpartizip und können auch nicht in zusammengesetzten Verbformen verwendet werden. Andererseits kann das Verb déchoir ‛verfallen, verwahrlosen’ nicht im imparfait konjugiert werden. Wie Begioni (2012: 11–27) nachgewiesen hat, hängt diese „Defizienz“ der Verben mit ihrer Aktionsartbedeutung zusammen. In seiner Erklärung geht Begioni im Anschluss an Guillaume von drei Merkmalen der Aktionsarten aus: erstens, das Sem [+durativ] als grundlegende und obligatorische Konstituente; zweitens, die semantischen Merkmale der Opposition [+begrenzend/-begrenzend], die festlegen, ob die Grenze der Handlung betrachtet wird und in der Bedeutung verankert ist;

Aspektualität und Aspekt

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drittens, die semantischen Merkmale, die die Phase des Prozesses in Bezug auf seinen Ablauf charakterisieren (Begioni 2012: 13). Während die imperfektiven Verben keine ihrer Bedeutung innewohnende Grenze besitzen, weisen die perfektiven Verben – unabhängig von weiteren Einflüssen in der Äußerung – eine Begrenzung auf. Ein von ihnen bezeichneter Prozess wird notwendigerweise bis an sein Ende geführt. In diesem Sinne sind die Verben naître und mourir perfektiv, da der Prozess des Geborenwerdens und des Sterbens nach seinem Abschluss nicht mehr fortgeführt werden kann. Die der lexikalischen Bedeutung innewohnende Perfektivität liegt also in dem Konzept einer globalen Aktion begründet, die konzentriert und kondensiert dargestellt wird. Die folgenden französischen und italienischen Verben sind nach dieser Begründung perfektiv: fr. abbattre, aboutir, arracher, arriver, atteindre, assommer, casser, couper, dire, entrer, fermer, mourir, naître, tomber, trouver, tuer, etc.; it. abbattere, arrivare, cadere, chiudere, dire, entrare, nascere, preparare, raggiungere, rompere, strappare, tagliare, trovare, uccidere, etc. (Begioni 2012: 14). Im Gegensatz dazu bringen die imperfektiven Verben Äußerungen über Situationen hervor, die ohne Begrenzung fortgeführt werden können. Bei der Verwendung dieser Verben im Diskurs können gegenüber den Verben äußere Bedingungen zu Begrenzungen führen. So haben die Verben manger und travailler in ihrer Bedeutung keine Begrenzung der von ihnen bezeichneten Handlungen des ‛Essens’ und des ‛ Arbeitens’; das Hinzufügen eines direkten Objekts oder einer adverbialen Bestimmung kann aber zu einem perfektiven Charakter der Äußerung führen. Folgende imperfektive Verben nennt Begioni (2012: 15): fr. admirer, adorer, aimer, briller, conserver, chercher, courir, dormir, durer, exister, habiter, manger, marcher, méditer, parler, régner, songer, travailler, venir, vivre, voyager; it. abitare, adorare, amare, ammirare, brillare, camminare, cercare, conservare, correre, dormire, durare, esistere, lavorare, mangiare, meditare, parlare, regnare, sognare, venire, viaggiare. Die Verwendung der Bezeichnungen perfektiv und imperfektiv für Aktionsartbedeutungen von Verben bezieht sich jedoch auf ihre lexikalische Eigenschaft, Begrenzungen einer Situation vorzunehmen oder nicht. Sie darf nicht mit der Aspektkorrelation in Aspektsprachen verwechselt werden, die auf jeden Fall die dominante Komponente der Aspektualität darstellt. So lassen sich zwar unter den genannten Verben einige Verbpaare ausmachen, die in aspektueller Opposition zueinander stehen, jedoch nur punktuelle Erscheinungen und keine systematische Korrelation darstellen (fr. venir/arriver, it. cercare/trovare). Bei einigen Verben ist das Konzept der Begrenzung sowohl auf semantischer als auch auf diskursiver Ebene ausgeschlossen. Diese bereits erwähnten Verben it. splendere ‛glänzen’, it. stare in der Bedeutung ‛bleiben, existieren’, it. bisognare ‛benötigen’, fr. gésir ‛(begraben) liegen’, fr. messeoir

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

‛sich nicht ziemen, unangemessen sein’ und fr. paître ‛abgrasen’ sind vollkommen durativ und können nur in imperfektiven Kontexten verwendet werden. Das geht sogar so weit, dass keine zusammengesetzten perfektiven Verbformen von ihnen gebildet werden können und ihr Konjugationsparadigma im Indikativ auf drei Tempora reduziert ist (Begioni 2012: 25): (70) it.

Il sole splende.

(71) it.

Il sole splendeva.

(72) it.

Il sole splenderà.

(73) it.

Il sole *ha / è ??splenduto / ??spleso.

Als sehr dominierend erweist sich die Aktionsart auch bei einigen Verben mit stark ausgeprägter Begrenzung. Die Verwendung von Verben wie tomber/cadere, naître/nascere, trouver/trovare im Imperfekt und mit einer Dauer bezeichnenden adverbialen Bestimmung führt in den folgenden Konstruktionen zu nicht akzeptablen Sätzen (vgl. Begioni 2012: 25): (74) fr.

*/?? Il tombait pendant des heures.

(75) fr.

*/?? Il naissait pendant des années.

(76) fr.

*/?? Je trouve pendant des années.

(77) it.

*/?? Cadeva per ore.

(78) it.

*/?? Nasceva per anni.

(79) it.

*/?? Trovo per anni.

Mit einem Subjekt, das die Iterativität des benannten Vorgangs bewirkt, würde sich jedoch ein durchaus möglicher Satz ergeben: (80) fr.

La neige tombait pendant des heures.

Unter den perfektiven Verben gibt es einige, die eine Situation nahe an der Grenze bezeichnen, die nur einen kurzen Augenblick dauert. Nach dem Abschluss der Handlung, die imminent ist, dauert der aus ihr resultierende Zustand an. Aus diesem Grunde bilden diese Verben die zusammengesetzten Verbformen mit dem Auxiliar être: tomber, mourir, naître, partir (vgl. je suis tombé, je suis parti, il est mort). Solche Verben mit einer nahen Grenze neigen auch eher als andere dazu, mit ihren Präsensformen die nahe Zukunft zu bezeichnen. Mit der Konstruktion tu tombes wird der unmittelbar bevorstehende Vorgang des Hinfallens benannt, vor dem gewarnt wird. Verben mit einer starken Begrenzung stehen damit – wenn auch nicht sprachsystematisch – den perfektiven Verben in Sprachen mit Aspektkorrelation nahe, die nicht ge-

Aspektualität und Aspekt

227

genwärtige Situationen bezeichnen können und deren Konjugationsformen in der Zukunft abgeschlossene Handlungen und Prozesse benennen (vgl. ru. Упадёшь. ‛du wirst fallen’). Das Lateinische verfügte über ein inchoatives Infix -sc- (amo ‛ich liebe’ > ama-sc-o ‛ich verliebe mich’), das sich in seiner Form in den französischen Verben auf -ir und den italienischen auf -ire wiederfindet. Im Französischen kommt es in den Konjugationsformen des Plurals im Indikativ Präsens, im imparfait und in den einfachen Formen des subjonctif vor: nous rempli-ss-ons, je rougi-ss-ais, qu’ils jauni-ss-ent. Im Italienischen findet man Reste dieses Infixes im Indikativ bei den Singularformen des Präsens und der 3. Person Plural sowie im Subjunktiv: fini-sc-o, fini-sc-i, che io fini-sc-a (Begioni 2012: 29). Obwohl das Suffix seine ursprüngliche Bedeutung weitgehend verloren hat, ist die inchoative Bedeutung in einigen Verwendungen noch spürbar: nous rougissons (‛wir erröten, beginnen rot zu werden’). Inchoative Bedeutungen können Verben auch durch Präfigierung erhalten: fr. s’endormir, it. addormentarsi, fr. s’enfuir. Durch Präfigierung können neben inchoativen Verben auch Verben weiterer Aktionsarten entstehen: progressive Verben (fr. pourchasser, fr. poursuivre, it. perseguire), Verben mit iterativer Aktionsart (fr. refaire, fr. recommencer, it. rileggere), terminative Verben (it. svuotare). Das vor allem in der spanischen Linguistik gebräuchliche Konzept des ‛lexikalischen Aspekts’ (aspecto léxico) ist nicht mit dem der Aktionsart identisch. Insbesondere bei Miguel (1999: 2982) schließt es alle aspektuellen Informationen ein, die in lexikalischen Einheiten der Prädikation enthalten sind. Die Art dieser aspektuellen Information wird vor allem in der Begrenzung/Nichtbegrenzung der Prädikate gesehen. Diese Bestimmung geht streng genommen über die Aktionsartklassen der Verben hinaus und schließt alle lexikalischen Bestandteile eines Satzes ein. So drücken die Adjektive inteligente und madrileño eine dem Bezugswort inhärente Eigenschaft aus, die unabhängig von der unmittelbaren Erfahrung und von einem Vorgang ist. Sie werden daher mit der Kopula ser verbunden, die aspektuell imperfektiv markiert ist, und sind inkompatibel mit der Kopula estar, die eine Begrenzung beinhaltet, also perfektiv ist (Miguel 1999: 2983): (81) sp. Juan es madrileño. / *Juan está madrileño.

Dagegen bezeichnen Adjektive vom Typ desnudo oder enfermo Zustände des Subjekts, die aus unmittelbarer Erfahrung wahrgenommen werden können und in Beziehung zu einem Ereignis, in das das Subjekt involviert ist, stehen. Sie ergeben daher nur mit Bezug auf ein begrenztes zeitliches Intervall wahre Aussagen. Desnudo und enfermo beschreiben Zustände von Subjekten, die im Ergebnis der Vorgänge des Sich-Ausziehens und des

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Krank-Werdens entstanden sind. Sie können daher als aspektuell begrenzt betrachtet werden, weshalb sie mit der perfektiven Kopula estar verbindbar sind und die Konstruktion mit ser ausschließen (Miguel 1999: 2983): (82) sp. Juan está desnudo. / *Juan es desnudo.

Die Verwendbarkeit der begrenzenden (estar) oder nicht begrenzenden (ser) Kopula hängt davon ab, ob eine Eigenschaft des Subjekts oder ein Zustand, in dem das Objekt sich befindet, bezeichnet wird. Die Länge des abgegrenzten Intervalls spielt dabei keine Rolle. Ein so dauerhafter Zustand wie ‛tot sein’ wird mit estar verbunden (está muerto) und eine vorübergehende Eigenschaft, wie ‛Student des ersten Semesters sein’ wählt im Gegensatz dazu die Kopula ser aus (Elena es estudiante de primer curso). Außerdem gibt es Adjektive wie desagradable und joven, die beide Kopulaverben zulassen, je nach dem, ob sie einen Zustand (83) oder eine Eigenschaft (84) ausdrücken: (83) sp. El tiempo está desagradable. (84) sp. Su marido es muy desagradable.

Auch deverbal abgeleitete Substantive tragen durch ihre Bedeutung zur Aspektualität der Prädikation bei. In Abhängigkeit von der Wurzel können zum Beispiel mit dem Suffix -dor gebildete Substantive die Bezeichnung einer Funktion oder einer habituellen Tätigkeit des Ausführenden ergeben. Die Substantive nadador und corredor drücken zum Beispiel Eigenschaften des Subjekts aus, die zeitlich nicht begrenzt sind (Miguel 1999: 2984): (85) sp. Martin López Zubero es nadador y Roberto Parra es corredor.

Andere Substantive auf -dor werden von begrenzenden Verben abgeleitet, die keine habituelle Tätigkeit bezeichnen. In diesem Fall bezieht sich das Substantiv auf einen isolierten Vorgang und bezeichnet daher eine Eigenschaft, die nur in einem abgeschlossenen Intervall gilt. So ist zum Beispiel libertador keine Bezeichnung einer Eigenschaft eines Individuums, sondern es bezeichnet eine infolge von Ereignissen entstandene Eigenschaft. Daher ist eine nicht determinierte Verwendung dieses Substantivs nicht möglich (Miguel 1999: 2984): (86) sp. San Martín es el libertador del Perú. (87) sp. *Juan es libertador.

Nach Miguel (1999: 2984) ist die Aspektualität auch für die Ambiguität bestimmter Substantive des Spanischen verantwortlich. Zum Beispiel kann das Substantiv auf eine Handlung mit einer bestimmten limitierten

Aspektualität und Aspekt

229

Dauer bezogen sein (88) und andererseits das Resultat einer vorangegangenen Handlung bezeichnen (89): (88) sp. La construcción de este edificio fue muy lenta. (89) sp. La construcción fue demolida.

Mit dem Konzept des lexikalischen Aspekts wird somit die Grenze zwischen lexikalischen und grammatischen Ausdrucksmitteln der Aspektualität aufgehoben und es wird die Basis dafür geschaffen, ihre Zusammenwirkung ins Blickfeld zu rücken. 3.1.5. Einige Anmerkungen zur Terminologiegeschichte des Aspekts Bis heute bereitet die Definition und Abgrenzung der Begriffe ‛Aspekt’ und ‛Aktionsart’ in Grammatiken romanischer Sprachen Schwierigkeiten. Da diese häufig mit Bezeichnung und Darstellungstraditionen zusammenhängen, soll hier ein Überblick über die Geschichte des Aspektbegriffs und des Begriffs der ‛Aktionsarten’ sowie der entsprechenden Bezeichnungen gegeben werden. Wenn wir die Aufnahme des Begriffs ‛Aspekt’ in die Beschreibung europäischer Einzelsprachen betrachten, so scheint es naheliegend, mit den Sprachen zu beginnen, die eine ausgeprägte Aspektkorrelation besitzen. Auch die Grammatiken dieser Sprachen folgten jedoch dem lateinischen Vorbild oder dem anderer, gut beschriebener europäischer Sprachen, die von der Erkenntnis des Aspekts als Verbalkategorie wegführten. Pollak (1988: 20–21) sieht den Ursprung der Berücksichtigung des Aspekts in der Beschreibung der modernen europäischen Sprachen bei dem Prager Gelehrten Benedikt Vavrinec von Nedožier (1555–1615), der 1603 in seiner in lateinischer Sprache verfassten Grammatik des Tschechischen Grammaticæ Bohemicæ ad leges naturalis methodi conformatae et notis numerisque illustratæ ac distinctæ libri duo erstmals das Verbalsystem einer slavischen Sprache umfassend dargestellt hatte. Wenige Jahre später verwendete Meletij Smotrickij (ca. 1578–1633), der in seiner Grammatiki Slavenskaja Pravilnoe Syntagma (1619) das noch heute in der russisch-orthodoxen Kirche gültige Neukirchenslavische kodifizierte, das Wort видь für den Aspekt. Es handelt sich um eine Lehnübersetzung, die auf das Wort εἶδος (‛Bild, Ansicht, äußere Form’) aus der altgriechischen Grammatik des Dionysios Thrax aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. zurückgeht. Für Smotrickij war видь jedoch ein morphologischer Begriff, der das Verhältnis von Grundform und abgeleiteter Form eines Verbs erfasste. Die Betrachtung der morphologischen Ableitung der beiden Aspekte auseinander durch

230

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Präfigierung bzw. Suffigierung spielte auch in späteren russischen Grammatiken eine wichtige Rolle.31 Die erste Grammatik des Russischen (1696) von Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1710) erwähnt unter der klassischen Verbklasse der abgeleiteten Verben das Suffix -ва und beschreibt es als frequentativ, nimmt allerdings nur drei Tempora des Russischen an (Präsens, Präteritum und Futur). Ludolf führt jedoch perfektive und imperfektive Verben paarweise in Listen an und konstatiert sogar Zusammenhänge zwischen Aspektpaaren, die von Verben mit unterschiedlichen Stämmen gebildet werden (брать – взать ‘nehmen’). Das Korrelieren von Aspektpaaren scheint bei Ludolf auf seiner genauen Beobachtung des Sprachgebrauchs zu beruhen, aus der er jedoch keine Konsequenzen für den Aspektbegriff zieht. Die Präfigierung der Verben, die in der Regel den Aspekt verändert (нести ‘(in einer bestimmten Richtung) tragen, imperfektiv’, принести ‘herbeitragen, perfektiv’), ist ihm in dieser Funktion nicht bewusst. In der Grammatik des königlichen Dolmetschers für slavische Sprachen Jean Sohier (1724) finden sich vier Tempora, das Präsens, das Imperfekt, das Perfekt und das Futur, wobei er das Perfekt als von präfigierten Verben gebildete Formen annimmt (z.B. я оценил ‘ich habe geschätzt’) und das Imperfekt als eine frequentative Form, die vom Perfekt mit Hilfe eines Infixes (une syllabe au milieu du mot) gebildet wird, definiert (z. B. вставал von встал ‘ich bin aufgestanden’). Auch beim Futur unterscheidet er drei Formen: die vom präfigierten Verb gebildete (сделаю ‘ich werde tun’) und die mit den Hilfsverben буду und стану und imperfektiven Verben gebildeten (буду читать, стану читать ‘ich werde lesen’). Die Darstellung der Tempora mit der Gegenüberstellung perfektiver und imperfektiver Formen und dem synthetischen ebenso wie den im 17. Jahrhundert zur Norm gewordenen analytischen Formen stellt zwar eine beachtliche Innovation dar, bewegt sich jedoch noch ausschließlich in temporalen Kategorien. In der Rossijskaja grammatika (1755) von Michail Vasil’evič Lomonosov nimmt das Verb mit 62 Seiten einen gewichtigen Platz ein, der vor allem seiner reichen Morphologie geschuldet ist. Lomonosov behandelt die Präfigierung und Suffigierung der Verben ausführlich, verwendet dabei jedoch keine Kategorien des Verbs, sondern betrachtet sie ausschließlich als lexikalische Angelegenheit. Für die von ihm ausführlich behandelten Modi hatte er zunächst zwei konkurrierende Termini verwendet: вид ‘Sichtweise, später grammatischer Aspekt’ und наклонение ‘Modus’. Of_____________ 31

Zur Entwicklung des Aspektbegriffs in der russischen Grammatikographie vgl. Archaimbault (1999).

Aspektualität und Aspekt

231

fensichtlich hielt er die Modi für Möglichkeiten des Ausdrucks eines Standpunkts zum Inhalt der Aussage. In den frühen Fassungen seiner Grammatik findet sich eine Liste solcher vom Verb durch seine morphologische Gestalt ausgedrückten Standpunkte, die sich nach moderner Terminologie teilweise als Aktionsarten erweisen: учашчательный ‘frequentativ’, начинательный ‘inchoativ’, величивательный ‘augmentativ’, умалительный ‘diminutiv’, кончательный ‘terminativ’, удовольственый ‘saturativ’ (vgl. Archaimbault 1999: 125). In einer weiteren Liste, die zehn Tempora mit Beispielen enthält, nimmt er unter den Begriffen ‘bestimmt vs. unbestimmt’ eine aspektuelle Differenzierung vor: 1. настоящее ‘Präsens’ пишу ‘ich schreibe’ 2. прoшедшее неопределенное ‘unbestimmte Vergangenheit’ писал ‘ich schrieb (imperfektiv)’ 3. прoшедшее определенное ‘bestimmte Vergangenheit’ написал ‘ich schrieb (perfektiv)’ 4. давно прoшедшее I ‘entfernte Vergangenheit I’ писывал ‘ich schrieb/hatte geschrieben (imperfektiv)’ 5. прoшедшее щчетное ‘unerfüllte Vergangenheit’ я было написал ‘ich wollte gerade schreiben’ 6. давно прoшедшее II ‘entfernte Vergangenheit’ я бывало писал ‘ich pflegte zu schreiben’ 7. начинательное прoшедшее ‘inchoative Vergangenheit’ я стал писать ‘ich begann zu schreiben’ 8. давно прoшедшее II составленное ‘zusammengesetztes Plusquamperfekt’ 9. будущее неопределенное ‘unbestimmte Zukunft’ буду писать ‘ich werde schreiben (imperfektiv)’ 10. будущее определенное ‘bestimmte Zukunft’ напишу ‘ich werde schreiben (perfektiv)’. (Archaimbault 1999: 128–129)

Obwohl Tempora, für die Lomonosov keinen Namen gefunden hatte (z.B. мне будет писать ‘ich werde schreiben müssen’) oder die, wie die ‘unerfüllte Vergangenheit’ oder die ‘inchoative Vergangenheit’, völlig aus dem Rahmen der lateinischen Grammatik fielen, letztlich nicht in die Grammatik aufgenommen wurden, ist hier ein deutlicher Schritt in Richtung der Berücksichtigung des Aspekts sichtbar. Die Charakteristik des perfektiven Aspekts als ‛bestimmt’ und des imperfektiven als ‛unbestimmt’ wird auf die entsprechenden Formen sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft bezogen. Interessant ist, dass er auch die periphrastische inchoative Vergangenheit einbezieht und mit der unerfüllten bzw. entfernten Vergangenheit Formen aufnimmt, die mit einer Art temporal-aspektu-

232

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

ellen Partikeln gebildet werden und die auch zur funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität zu rechnen wären. Die zwischen 1783 und 1788 redigierte Rossijskaja Grammatika (Barsov 1981) von Anton Aleksejevič Barsov (1730–1791) war als Schulgrammatik in Auftrag gegeben worden und berücksichtigt Lomonosovs zehn Tempora. Barsov nimmt folgende Eigenschaften (принадлежности) des Verbs an: (1) вид ‘Aspekt’, (2) начертание ‘Bildung der Verben’, (3) знаменование или залог ‘Diathese’, (4) качество ‘Qualität’, (5) лицо ‘Person’, (6) число ‘Numerus’, (7) время ‘Tempus’, (8) род ‘Genus’, (9) наклонение ‘Modus’, (10) спряжение ‘Konjugation’. Die Erwähnung des Genus als eigene Kategorie trägt hier den Gegebenheiten der russischen Sprache Rechnung, die in der Vergangenheit maskuline, feminine und neutrale Formen unterscheidet (писал vs. писала vs. писалo). Mit der Kategorie der ‘Qualität’ wird die Unterscheidung in Verba Substantiva (существительныя, ‛Kopula’) und Verba Adjectiva (прилагательныя) aufgenommen, wobei im Normalfall im Russischen keine Kopula verwendet wird, die Verben also alle zu den Verba Adjectiva gehören. Während Lomonosov den Terminus вид ‘Aspekt’ nur in seinen Skizzen und eher mit der Bedeutung ‘Modus’ verwendete, greift Barsov auf die slavische Tradition zurück und gibt dem Terminus die Bedeutung, die er bereits bei Smotrickij hatte, der in seiner Grammatiki Slavenskaja Pravilnoe Syntagma (1619) der Wortbildung der Verben große Aufmerksamkeit geschenkt hatte und einen ursprünglichen oder vollendeten (первообразный или совершенный) und einen abgeleiteten (производный) Aspekt unterschieden hatte. Letzteren hatte er in den inchoativen und den iterativen Aspekt eingeteilt. Barsov führt nun den Aspekt nicht als solchen, sondern als Klassifikationsmerkmal ein. Die ursprünglichen (первообразные) Verben könnten auch als vollendete gekennzeichnet werden, die abgeleiteten Verben werden wie bei Smotrickij in inchoative und frequentative eingeteilt. Für beide gibt Barsov morphologische Kennzeichen: die inchoativen Verben enden auf -jeju, die frequentativen haben die Suffixe -a, -ja, -va. Im Hinblick auf die Tempora wirft Barsov Lomonosov vor, die Unterscheidung zu weit getrieben zu haben und das Tempusschema der antiken Grammatiken aufgegeben zu haben. Er selbst nimmt lediglich sechs Tempora an (vgl. Archaimbault 1999: 153): 1. Präsens (настоящее, z.B. двигаю ‘ich bewege’) 2. Imperfekt (проходящее ‛wörtl. das Vorübergehende’, z.B. двигал ‘ich bewegte’) 3. Präteritum (прошедшее ‛wörtl. das Vorübergegangene’, z.B. двинул ‘ich bewegte einmal’)

Aspektualität und Aspekt

233

4. Plusquamperfekt (давнопрошедшее, z.B. двигивал ‘ich hatte bewegt’) 5. Futur (будущее, z.B. двину ‘ich werde einmal bewegen’) 6. Futurum indefinitum (будущее неопределенное, z.B. я стану двигать ‘ich werde bewegen’).

Barsov zählt hier Formen des perfektiven und des imperfektiven Verbs zu einem Verbalparadigma und vermischt somit die Flexion mit der Wortbildung. Bei aller Erkenntnis aspektueller Werte der Verben erscheint die Kategorie des Aspekts in den russischen Grammatiken des 18. Jahrhunderts noch von untergeordneter Bedeutung zu sein. Entweder werden aspektuelle Bedeutungen aus der Wortbildung abgeleitet (Barsov) oder den Tempora untergeordnet (Lomonosov). Als entscheidende Kategorie des Verbs erscheint somit auch in den russischen Grammatiken das Tempus. Erst 1827 verwandte Nikolaj Ivanovič Greč (1787–1867) den ‛Aspekt’ als autonomen Begriff in der russischen Grammatik. Für die Entwicklung des Aspektbegriffs ist es auch bemerkenswert, dass die griechische Grammatik dafür nicht den auf die Morphologie festgelegten Terminus eidos entsprechend umdeutete, sondern zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit opsi, das klar einen Gesichtspunkt bezeichnet, einen neuen Terminus einführte. Wie wir gesehen haben, verfügen die romanischen Sprachen nicht über eine eigene Aspektkorrelation, und so taucht der Begriff des ‛Aspekts’ im Sinne einer eigenständigen grammatischen Kategorie auch erst spät in deren Beschreibungen auf. Allerdings wurden aspektuelle Merkmale in Grammatiken des Französischen (vgl. 2.4.3 und Fournier 1991; 2013) schon im 17. Jahrhundert in der Beschreibung des Tempussystems verwendet. Ähnlich konnten wir in spanischen Grammatiken feststellen, dass aspektuelle Merkmale seit den frühen Grammatiken immer wieder in die Beschreibung der Tempora einflossen und zu mehr oder weniger geglückten Benennungen und Beschreibungen führten (vgl. 2.4.5.–2.4.7. und Haßler 2012a; 2015c). Die „Entdeckung“ des Aspekts als selbständige Kategorie, die insbesondere seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts verwendet wurde, führte dazu, dass selbst für das Spanische, das zwar aspektuelle Merkmale in den Verbformen der Vergangenheit, aber keine vollständige Aspektkorrelation aufweist, in der grammatischen Beschreibung zeitweise der Aspekt den Tempora übergeordnet wurde. Nach Auroux (1991: 80) findet man den ausgeprägten Aspektbegriff erstmalig in einem französischen Text 1818 bei Michel de Neuville, der den Terminus aspect mit Bezug auf die vom Verb bezeichnete Zeitspanne verwendet hat. 1829 erscheint der Aspektbegriff elaborierter in der französischen Übersetzung der russischen Grammatik von Greč. Der Übersetzer Charles-Philippe Reiff (1796–1876?) bezeichnet ihn mit branches, gibt jedoch in Klammern das russische Wort (виды) an, und kennzeichnet

234

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

diese ‛Zweige’ als unterschiedliche Gesichtspunkte, die sich in den Verbformen ausprägen: Ces modes et ces points présentent plusieurs points de vue sous lesquels leur signification peut être envisagée ; de là dans les verbes russes les branches (виды), qui sont les différentes formes qui caractérisent ces différents points de vue. (Reiff 1829: 110)

Der unbestimmte Zweig (branche indéfinie, неопределенный) drücke nur die Tatsache der Handlung aus, ohne dabei einen Bezug zu einem bestimmten Zeitraum herzustellen. Als Beispiele werden Konjugationsformen typischer Verben des imperfektiven Aspekts genannt (я буду писать ‛ich werde schreiben’, хожу ‛ ich gehe’). Als bestimmte (branche définie, определенный) werden jedoch nicht perfektive, sondern in ihrer zeitlichen Einordnung bestimmte Verbformen genannt, wobei das Bestimmte eher in im Kontext auftretenden Adverbien liegen kann: я идуimpf. теперь в театр ‛ich gehe jetzt ins Theater’. Das Verb идти bezeichnet eine gerichtete Bewegung des Gehens und steht als solches dem ungerichteten ходить gegenüber, beide Verben gehören jedoch zum imperfektiven Aspekt. Neben dem bestimmten und dem unbestimmten Zweig werden auch semelfaktive und iterative Bedeutungen genannt (Reiff 1829: 111): (90) ru. молния блеснула ‛es hat geblitzt’

semelfaktiv

(91) ru. я хаживал ‛ich ging mehrfach’

iterativ

Außer diesen Aktionsarten, die typischerweise mit den Aspekten vermischt dargestellt werden, führt Reiff jedoch im Französischen das Oppositionspaar parfait/imparfait ein und belegt es mit Verben aus der Aspektkorrelation: La branche imparfaite (несовершеный), qui exprime une action non consommée ; ex. я сказывал, je disais; я буду переписывать до семи часов, je m’occuperai à copier jusqu’à sept heures. La branche parfaite (совершеный), qui exprime une action entièrement accomplie ; ex. я сказал, j’ai dit, j’ai fini de dire ; я перепишу всё это до семи часов, à sept heures j’aurai achevé de copier tout cela. (Reiff 1829: 111)

Eine solche Vermischung der Betrachtung des Aspekts mit den Tempora und den Aktionsarten, die hier erstmals in französischer Sprache am Beispiel einer slavischen Sprache vorgenommen wird, sollte für beinahe zwei Jahrhunderte auch die Grammatikographie der romanischen Sprachen bestimmen. Es sollte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dauern, bis der wissenschaftliche Aspektbegriff in einem Werk von Franz Miklošič (1813–1891, Vergleichende Grammatik der slavischen Sprachen, 1852–1875) verwendet wurde. Bis zum Erscheinen von Roman Jakobsons (1896–1982) Arbeit Zur Struktur des Russischen Verbums (1932; vgl. Jakobson 1971) war der Begriff

Aspektualität und Aspekt

235

jedoch nicht voll etabliert. Der Terminus Aspekt und seine Entsprechungen in romanischen Sprachen (fr. aspect, it. aspetto, sp. aspecto, pt. aspecto, rum. aspect) weist – nicht zuletzt auch wegen des umgangssprachlichen Gebrauchs dieses Wortes – Probleme auf, weshalb auch Alternativen eingebracht und diskutiert wurden. So schlug Georg Curtius (1846) den Terminus Zeitart vor, mit dem er die enge Verbindung zum Ausdruck von Temporalität verdeutlichte, den er jedoch von der Zeitstufe unterschied. Wilhelm Meyer-Lübke (1861–1936) verwendet in seiner Grammatik der romanischen Sprachen den Terminus Aktionsart im Anschluss an Karl Brugmann (1849–1919), der durch diesen 1885 Zeitart ersetzt hatte (vgl. Dessì Schmid 2014: 19). Der Terminus der Aktionsarten wird auch in romanischen Ländern sehr häufig mit dem in der deutschen Linguistik des 19. Jahrhunderts entstandenen Begriff assoziiert, so dass man ihn mitunter für die Benennungen modes d’action, modos de acción oder tipo dell’azione findet, die sich offensichtlich nicht vollständig durchgesetzt haben. Darauf weist die Bezeichnungsvielfalt hin: fr. ordre de procès, caractère de l’action, mode d’action oder modalité d’action; it. azione, azionalità, qualità dell’azione, tipo dell’azione oder modo dell’azione; sp. modo de acción, aspecto léxico, carácter de la acción). Neben Uneinigkeit in der Frage, ob Aspekt und Aktionsart überhaupt grundsätzlich zu trennen seien – die spanische Bezeichnung aspecto léxico deutet auf eine Geringschätzung dieser Trennung hin – könnte auch das Wort mode, modo zur Ersetzung der romanischen Termini durch das deutsche Aktionsarten beigetragen haben. Mode, modo legt eine Beziehung zum Modus nahe, die bei der Betrachtung der Aktionsarten in der Regel vermieden wurde. Es greift jedoch zu kurz, wenn man den Beginn der Aktionsartforschung erst mit der Einführung des Terminus durch Brugmann ansetzen würde. Schon Aristoteles hatte zwischen kineseis und energeiai unterschieden (Aristoteles, Metaphysik, 1048a, 25–1048b, 18–35; vgl. Dessì Schmid 2014: 20) und war damit unserer heutigen Unterscheidung zwischen telischen und atelischen Prädikaten nahe gekommen. Bei der Betrachtung der Geschichte der Behandlung der Tempora in französischen und spanischen Grammatiken (Kapitel 2.4) haben wir mehrfach festgestellt, dass inchoative und terminative Darstellungen von Handlungen schon früher an die Verbbedeutung gebunden worden waren. Streitberg (1891) gebrauchte den Terminus Aktionsarten unspezifisch für vom Verb ausgedrückte aspektuelle Bedeutungen, wie zum Beispiel die inchoative (erblassen) und die resultative (erschlagen), die imperfektive oder durative, die iterative, aber auch die intensivierenden Verben betrachtet er unter den Aktionsarten. Zu letzteren zählt er zum Beispiel das Verb schnitzen, dessen Bedeutung er mit ‛kräftig schneiden’ erklärt. Wie Binnick (1991: 145) feststellt, hat die Kategorie der Intensität kaum etwas mit As-

236

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

pektualität zu tun, es ist aber schwierig, sie von den anderen Aktionsarten zu trennen. In vielen Sprachen unterscheiden sich Intensitätsmarkierungen weder morphologisch noch syntaktisch von Kategorien wie der Perfektivität. Streitberg wandte den Terminus Aktionsart jedoch auf solche deutsche Verbpaare, wie lieben und liebeln, lachen und lächeln an, die sich tatsächlich in der Intensität, jedoch nicht in der Verlaufsqualität unterscheiden. Mit dem Titel von Agrells Aspektänderung und Aktionsartbildung beim polnischen Zeitwort (1908) wurde bereits eine Differenzierung von Aspekt und Aktionsart nahegelegt. Er betrachtet den Aspekt als eine Kategorie, die im slavischen Verbalsystem die unvollendete und die vollendete Handlungsform ausdrückt. Als Aktionsarten sieht er hingegen die Bedeutungsfunktionen der Verbalkomposita, die genauer ausdrücken, wie die Handlung vollbracht wird (Agrell 1908: 78–85; vgl. Dessì Schmid 2014: 19–20).

3.2. Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen 3.2.1. infectum und perfectum im Lateinischen In der lateinischen Verbalmorphologie steht ein infectum einem perfectum gegenüber, wobei sich diese Opposition darin manifestiert, dass für das infectum die Wurzel ohne Infix verwendet wird und im Verlauf befindliche Situationen bezeichnet (ama-t ‛er liebt’) und für das perfectum eine Wurzel mit dem Infix -v- die an ihrem Ende angekommene Situation benennt (ama-v-i ‛ich habe geliebt’) (vgl. Rocchetti 2012: 39). Holt (1943: 4) stellt die Symmetrie des lateinischen Verbalsystems im Hinblick auf dem infectum und dem perfectum zugeordneten Verbformen anhand des Verbs pungere (‛stechen’) folgendermaßen dar:

Vergangenheit

Gegenwart Zukunft

infectum

perfectum

pungēbam (Imperfekt) pungō (Päsens) pungam (Futur)

pupugeram (Plusquamperfekt) pupugī (Perfektpräsens) pupugerō (Perfektfutur)

Bereits im Lateinischen gab es jedoch Verbformen, die im Hinblick auf die tatsächliche Abgeschlossenheit einer Situation ambivalent waren. So

Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen

237

konnte die Form fuerat ‛er ist gewesen’ oder ‛er wäre gewesen’ bedeuten. Die zweite dieser Bedeutungen, die sich als perfectum der Virtualität bezeichnen ließe, kommt in folgenden Sätzen von Cicero vor (Rocchetti 2012: 39): (1) lat.

Volumnia id potuit diligentius facere. ‛Volumnia hätte das mit mehr Sorgfalt machen können.’

(2) lat.

Melius fuit perisse quam hoc videre. ‛Es wäre besser gewesen, tot zu sein, als das zu sehen.’

(3) lat.

Lucullus tardius quam debuerat triumphauit. ‛Lucullus triumphierte später als er es hätte tun sollen.’

Die als infectum/perfectum zueinander in Opposition stehenden Paare von Verbformen erat/fuerat, potebat/potuerat, debebat/debuerat sind durch folgende Beziehungen miteinander verbunden. Das infectum erweckt den Eindruck von im Verlauf befindlichen Handlungen, die noch nicht an ihrem Zielpunkt angelangt sind, während das perfectum Handlungen bezeichnet, die ihren Endpunkt erreicht haben. Im Moment des infectum profiliert sich das perfectum als Perspektive des erwarteten Abschlusses einer Handlung. Wenn das perfectum erreicht ist, so ist das infectum notwendigerweise bereits präsent, denn es wurde nur verlängert und an seinen Endpunkt gebracht. Das perfectum beruht somit auf dem Mechanismus des infectum. Dieser ist nun seinerseits nicht homogen; da die ausgedrückte Handlung im Verlauf ist, beinhaltet er einen realisierten, aber auch einen noch zu realisierenden Teil. Mit dem infectum wird der Berührungspunkt der beiden Teile erfasst (Rocchetti 2012: 44): erat infectum realisierter Teil

zu realisierender Teil

Da das infectum aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen besteht, kann der Sprecher mit dem perfectum, dessen Funktion in der Angabe des Erreichens des Zielpunktes des infectum besteht, sowohl den Abschluss des realisierten Teils als auch den nicht realisierten Teil erfassen. In letzterem Fall bleibt der ausgedrückte Prozess vollkommen virtuell und es wird nur der Anfangspunkt erfasst. Nach Rocchetti (2012: 44–45) ließe sich diese doppelte Funktion des perfectum folgendermaßen darstellen: fuerat (‛er war gewesen’) Endpunkt

fuerat (‛er wäre gewesen’) Anfangspunkt

238

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

In den romanischen Sprachen ist die Fähigkeit, ein virtuelles perfectum auszudrücken, verloren gegangen. Während im Lateinischen das perfectum innerhalb des Verbalprozesses bleibt, referiert das Plusquamperfekt der romanischen Sprachen auf einen Punkt außerhalb des vom Verb bezeichneten Prozesses. Das neue, romanische System beruht auf der Opposition zwischen einer einfachen Form und einer Verbform, die mit einem Auxiliar gebildet wird. Das Plusquamperfekt befindet sich somit auf der Zeitachse jenseits vom Imperfekt und ist kein internes perfectum mehr. Damit ist auch die Möglichkeit des perfectum der Virtualität verloren gegangen. 3.2.2. Verbformen als Ausprägung der Opposition imperfektiv/perfektiv Sofern sie mit dem Begriff des Aspekts arbeiten, besteht Konsens unter den Linguisten, dass durch einfache und zusammengesetzte Verbformen ein aspektueller Unterschied vermittelt wird. Während in den folgenden Sätzen die kursiv hervorgehobenen einfachen Verbformen keine Grenzen setzen und die Situationen daher imperfektiv darstellen, erfolgt mit den zusammengesetzten, hier fett markierten Verbformen eine Begrenzung und damit eine perfektive Darstellung: (4) it.

Sara è a Milano.

(5) fr.

Il marchait tranquillement dans la rue.

(6) sp.

Pepe leía muchos tebeos cuando era pequeño.

(7) it.

Ieri sono andato alla stazione.

(8) fr.

Ils avaient suivi les routes du ciel entre les vagues des dunes.

(9) sp.

Yo saldré al escenario y tu ya habrás subido el telón.

Die in Satz (4) mit dem Präsens und in Satz (5) mit dem Imperfekt vorgenommene Situationsdarstellung ist unbegrenzt und erstreckt sich entsprechend der temporalen Markierung auf eine erweiterte Gegenwart (4) bzw. auf die Vergangenheit (5). In Satz (6) erfolgt mit dem Nebensatz eine zeitliche Einschränkung, die jedoch die durch das Imperfekt ausgedrückte Situation nicht weiter limitiert. Die Handlung des Lesens von Comics wird als im Zeitraum der Kindheit immer wieder vollzogen dargestellt. Die mit den zusammengesetzten Verbformen gebildeten Prädikationen im Perfekt (7), im Plusquamperfekt (8) und im Perfektfutur (9) begrenzen die dargestellten Situationen in unterschiedlichen Zeiträumen und stellen sie als ganzheitlich und abgeschlossen dar.

Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen

239

Darüber hinaus ist das einfache Perfekt eine perfektive Verbform, über deren Verwendung im Unterschied zum Imperfekt und zu den zusammengesetzten Verbformen bereits in Kapitel 2.3.4. geschrieben wurde.32 Wenn ein Prozess aus einer Innensicht dargestellt werden soll, also seine innere Konstituierung und die Art und Weise seines Ablaufs und nicht seine zeitliche Verankerung fokussiert wird, treten die aspektuellen Merkmale der Verbformen in den Vordergrund. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Opposition zwischen dem Imperfekt und dem einfachen Perfekt. Im ersten der beiden folgenden Sätze (10) wird der Vorgang des zur Schule Gehens aus einer Innensicht beschrieben, in Satz (11) wird dieselbe Situation jedoch aus einer ganzheitlichen Sicht dargestellt (vgl. Bertinetto 1991: 24): (10) it.

Quel mattino, Giovanni andava a scuola.

(11) it.

Quel mattino, Giovanni andò a scuola.

Insbesondere im Spanischen hat die grammatische Kategorie der aspektuellen Markiertheit der Flexionsformen des Verbs unterschiedliche Bezeichnungen erhalten. Beginnend mit dem einfachen aspecto über die präzisierenden Benennungen aspecto flexivo, aspecto gramatical, aspecto morfológico, aspecto verbal bis hin zur einschränkenden Bezeichnung als aspecto stricto sensu im Unterschied zu aspecto lato sensu, wobei zu letzterem alle Ausdrucksmittel der Aspektualität gezählt werden (vgl. Miguel 1999: 2987). Verbformen können durch ihre Flexionsmorpheme unabhängig von ihrer lexikalischen Bedeutung angeben, ob eine Situation begrenzt oder nicht begrenzt ist. In den Beispielen (12) und (13) wird durch das zusammengesetzte bzw. das einfache Perfekt die Situation des Ankommens als begrenzt dargestellt, während in Beispiel (14) eine Darstellung als unbegrenzte Situation erfolgt, d.h. das Flugzeug hatte die Landung noch nicht abgeschlossen, als der Unfall eintrat: (12) fr.

L’avion est arrivé.

(13) sp. El avión llegó a las diez. (14) sp. El avión llegaba cuando se produjo el accidente.

Mit wenigen Ausnahmen (vgl. 3.1.4.) werden die Verben unabhängig von ihrer aktionalen Bedeutung in den aspektuell markierten Tempora konjugiert. Schon Bello (1847: § 626) hat interessante Effekte der Überlagerung der aspektuellen Markierung durch die Verbformen und die Aktionsartbedeutung der Verben festgestellt. Für ihn ist ver ein nicht begrenzendes Verb, das im pretérito perfecto simple zwei Interpretationen ermöglicht: _____________ 32

Vgl. hierzu auch García Fernández (2004) und (2007).

240

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

(15) sp. Luego que vimos la costa nos dirigimos a ella.

Einerseits kann die Situation mit der Verbform vimos ingressiv dargestellt werden, womit der Satz (15) folgendermaßen zu verstehen wäre: ‛ wir haben begonnen, die Küste zu sehen, die danach auch noch sichtbar war, aber nur dieser erste Moment des Sehens geht dem Richtungswechsel in Richtung der Küste voran’. Andererseits kann aber die aspektuelle Bedeutung der Verbform die durative Bedeutung des Verbs ver vollkommen überlagern und die Handlung des Sehens als abgeschlossen darstellen, bevor der Richtungswechsel eingeleitet wurde. Aspektuelle und temporale Bedeutungen sind in den romanischen Sprachen immer eng miteinander verbunden, obwohl sie einen unterschiedlichen Zugriff auf das reale Phänomen der Zeit haben. Tempora lokalisieren Situationen auf der Zeitachse und orientieren sich dabei am Sprechaktmoment, zu dem sie die Ereigniszeit in Bezug setzen (vgl. 2.3.). Mit dem Aspekt wird hingegen die Zeit als eine der Situation innewohnende Eigenschaft erfasst; ihr Ablauf oder ihre Verteilung wird in der Zeit gezeigt, ohne dass ein Bezug zum Sprechaktmoment erfolgen muss. In der spanischen Grammatikographie war die aspektuelle Differenz zwischen dem pretérito perfecto simple und dem imperfecto ein lange diskutierter Gegenstand des Streits (vgl. 2.4.8.). In der Nueva gramática de la lengua española wird schließlich das imperfecto als imperfektive Verbform aufgefasst, mit der eine Situation im Verlauf und ohne Bezug auf ihren Anfangs- oder Endpunkt dargestellt wird. Dagegen wird das pretérito perfecto simple als perfektive Verbform betrachtet, die eine Situation in ihrer Gesamtheit ausdrückt und damit auch bedeutet, dass sie zu einem Ende gekommen ist (RAE 2009: 1688). Zur Veranschaulichung des aspektuellen Unterschieds zwischen diesen beiden Verbformen sei das folgende Beispiel angeführt (vgl. Miguel 1999: 2991): (16) sp. Cuando volvíamos en tren, {veíamos / vimos} los almendros en flor.

Unabhängig davon, ob das Prädikat im Hauptsatz im imperfecto oder im pretérito perfecto simple steht, bleibt die Bedeutung der Gleichzeitigkeit, die durch die temporale Konjunktion cuando und die Imperfektform im Nebensatz bewirkt wird, erhalten. Mit der Verwendung des imperfecto oder des pretérito perfecto simple ändert sich jedoch die Art und Weise, in der das ‛Sehen’ konzipiert wird: mit dem imperfecto erscheint es als eine wiederholte oder gewohnheitsmäßige Handlung, mit dem pretérito perfecto simple als abgegrenztes und einmaliges Sehen. Diese aspektuelle Information, die von den beiden Verbformen gegeben wird, ist vollkommen unabhängig von ihrem temporalen Wert, der in beiden Fällen gleich ist.

Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen

241

Auch die Nichtakzeptabilität des folgenden Satzes spricht dafür, dass die Wahl des imperfecto oder des pretérito perfecto simple aspektuell motiviert ist (Miguel 1999: 2992): (17) sp. *Le dolió la cabeza hasta que tomaba una aspirina.

Die Imperfektform tomaba signalisiert, dass die Situation der Aspirineinnahme nicht abgeschlossen ist, was Inkompatibilität mit der Konstruktion hasta que bewirkt, die den Referenzpunkt für den Abschluss einer Situation und den Beginn einer neuen fixiert. In diesem Kontext ist dagegen die Form des einfachen Perfekts durchaus möglich, da sie das Ende der Situation markiert: (18) sp. Le dolió la cabeza hasta que tomó una aspirina.

Wenn die Situation als ‛wiederholt in der Vergangenheit stattgefunden’ konzipiert wird, ist die Imperfektform durchaus akzeptabel. Sie gewinnt dabei distributive Bedeutung und spielt auf die Wiederholung aufeinanderfolgender Ereignisse an. Die Flexionsmorpheme mit aspektueller Bedeutung können mit beliebigen Verbstämmen verbunden werden. Auch im Spanischen gibt es dabei einige Einschränkungen durch aktionale Bedeutungen, ähnlich wie wir sie unter 3.1.4. für das Französische und das Italienische bereits erwähnt haben (vgl. Miguel 1999: 3046–3047). So schließt zum Beispiel ein statisches Prädikat, das eine Eigenschaft eines Individuums angibt, Perfektformen aus, z.B.: (19) sp. *El portero del equipo fue chileno.

Anhand des Beginns der folgenden Textstelle hatte sich Weinrich (1973: 111) gegen die Integration des Aspektbegriffs in eine textlinguistische Betrachtungsweise gewandt und ihre Deutung anhand seines TempusReliefs begründet: (20) fr.

Une mouche maigre tournait, depuis un moment, dans l’autocar aux glaces pourtant relevées. Insolite, elle allait et venait sans bruit, d’un vol exténué. Janine la perdit de vue, puis la vit atterrir sur la main immobile de son mari. Il faisait froid. La mouche frissonnait à chaque rafale du vent sableux qui crissait contre les vitres. Dans la lumière rare du matin d’hiver, à grand bruit de tôles et d’essieux, le véhicule roulait, tanguait, avançait à peine. Janine regarda son mari. Des épis de cheveux grisonnants plantés bas sur un front serré, le nez large, la bouche irrégulière, Marcel avait l’air d’un faune boudeur. à chaque défoncement de la chaussée, elle le sentait sursauter contre elle. (Frantext, K344 – Albert Camus, “La femme adultère”. L’Exil et le royaume, 1957: 1557)

Im Folgenden soll verdeutlicht werden, dass das Konzept der Aspektualität durchaus über den eng begrenzten Rahmen des Satzes Erklärungsmög-

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

lichkeiten liefert, und dies umso mehr als über die aspektuell markierten Verbformen hinaus alle Marker der Aspektualität berücksichtigt werden können. Tatsächlich beginnt diese Textstelle mit der Beschreibung des Flugs einer Fliege, die zweifellos einen Hintergrund für dann beschriebene Ereignisse darstellt und in der Imperfektformen verwendet werden (tournait, allait, venait). Der Wechsel der Blickrichtung auf die Hauptpersonen der Novelle, Janine, die femme adultère, wird dann von Verben im passé simple begleitet (perdit, vit), die die damit beschriebenen Handlungen vordergründig werden lassen. Danach werden weitere Hintergrundsituationen beschrieben, die das Wetter, das Verhalten der Fliege, die Bewegung des Autobusses und den Ehemann von Janine betreffen. Die Gliederung in Vordergrund und Hintergrund in diesem Text wird zwar durch die Verbformen vollzogen, aber auch durch die Semantik der Verben unterstützt. Mehr als die Hälfte der Hintergrund-Verben sind Bewegungsverben, was eine Isotopie eröffnet und auf den Hintergrund festlegt. Weinrich erhebt den Einwand gegen das auf dem Aspektbegriff basierende Inzidenzschema, dass bei isolierter Betrachtung eines Satzes das Einfallen der Handlung durch ein den Bruch markierendes Temporaladverb oder eine Konjunktion (vgl. Il se hâtait lorsqu’il rencontra un paysan) angezeigt werde und weniger durch die Verbformen. Dieser Einwand erscheint dadurch geschwächt, dass die Vordergrund- und Hintergrundgestaltung durchaus auch in Texten durch andere sprachliche Mittel als die Verbformen gestützt wird, wie hier durch die Festlegung einer semantischen Hintergrundisotopie. Außerdem kommen in literarischen Texten mit klassischer Vordergrund- und Hintergrundgestaltung auch Inzidenzschemata vor, die in diese eingebettet sind. Ein Beispiel dafür ist der erste Satz von Flauberts Madame Bovary: (21) fr.

Nous étions à l’étude, quand le proviseur entra, suivi d’un nouveau habillé en bourgeois et d’un garçon de classe qui portait un grand pupitre. (Frantext M734 – Flaubert, Gustave, Madame Bovary, 1857: 1)

Tatsächlich scheint in romanischen Sprachen im Vergleich zu den lateinischen Verbformen der Aspekt hinter der temporalen Relation der Anteriorität zurückgetreten zu sein. In der doppelten Strukturierung der Verbalsysteme der romanischen Sprachen überlagern sich die Oppositionen einfache/zusammengesetzte Formen und imperfektiv/perfektiv. Nur das einfache Perfekt (fr. passé simple, it. passato remoto, sp. pretérito perfecto simple, pt. pretérito perfeito simples) durchbricht die Parallelität dieser beiden Oppositionsreihen. Das Verschwinden des einfachen Perfekts im gesprochenen Französischen und Norditalienischen zeigt die Kraft der systematischen Kohäsion, die mit dem Gleichgewicht zwischen den einfachen und zu-

Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen

243

sammengesetzten Formen verbunden ist (Begioni 2012: 22). In den zusammengesetzten Formen trägt das Partizip zwar die lexikalische Bedeutung, aber es hat seinen Verbalcharakter verloren und an das Auxiliar abgegeben. 3.2.3. Infinite Verbformen und der Ausdruck von Aspektualität Aus den bisherigen Ausführungen könnte der Eindruck entstehen, dass lediglich die Flexionsformen von Verben Aspektualität ausdrücken können und dass der Beitrag der Nominalformen der Verben (Partizip, Gerundium, Infinitiv) sich auf die Aktionsartbedeutung beschränkt. Im Folgenden sollen einige Beispiele dafür genannt werden, dass dies nicht der Fall ist. Schon Schwarze (1988: 177) hat festgestellt, dass aus dem Fehlen der morphologischen Information zu Tempus, Modus, Person und Numerus nicht folgt, dass die infiniten Formen notwendigerweise Sachverhalte bezeichnen, die semantisch infinitiv wären. Aus dem Kontext können die Merkmale, die normalerweise von finiten Verbformen getragen werden, ergänzt werden. Das Partizip Präsens kommt heute nur noch in wenigen Wendungen mit Eigenschaften des Verbs vor und tendiert durch die Bezeichnung von Gleichzeitigkeit zur imperfektiven Aspektualität: (22) it.

vivente il padre

Einige transitive Verben erscheinen im bürokratisch-offiziellen Stil noch als echte Präsens-Partizipien: (23) it.

Il documento riportante le generalità del candidato deve essere compilato e spedito entro il 30 giugno.

Auch das Partizip Perfekt hat mit dem Verb gemeinsam, dass es aspektuell und zeitreferenziell gedeutet wird. Im Italienischen ist dabei die Verwendung absoluter Konstruktionen mit Partizipien möglich wie im Lateinischen (Begioni 2012: 23): (24) lat. Cæsar paulum a castris progressusPart.perf. aciem instruxit. (‛Nachdem Cäsar vom Lager aus ein kleines Stück vorgerückt war, brachte er die Schlachtreihe in Stellung’) (25) it.

Finite le vacanze, gli alunni sono tornati a scuola.

(26) it.

Arrivato il treno, i passeggeri scendono.

(27) it.

Mangiato il formaggio, siamo passati al dessert.

244

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Der letzte Satz wäre im Französischen inakzeptabel, da manger ein nichttelisches Verb ist und trotz der durch das Objekt le fromage auferlegten Begrenzung eine perfektive Verbform braucht, um den Inhalt des italienischen Satzes ausdrücken zu können (Begioni 2012: 23): (28) fr.

*Mangé le fromage, nous sommes passés au dessert.

(29) fr.

?Le fromage mangé, nous sommes passés au dessert.

(30) fr.

Après avoir mangé (ayant mangé) le fromage, nous sommes passés au dessert.

Nur einige telische Verben, die durch ihre Aktionsart bereits deutlich perfektiv markiert sind, können die perfektive aspektuelle Bedeutung ohne die obligatorische Anwesenheit einer zusammengesetzten Verbform ausdrücken (Begioni 2012: 23): (31) fr.

Le moment venu, il sortit son cadeau.

(32) fr.

Les vacances finies (finies les vacances), les élèves ont repris l’école.

Im Deutschen ist eine Verwendung des Perfektpartizips in solchen absoluten Konstruktionen auf eine geringe Zahl von Verben beschränkt, die vor allem sachverhaltskommentierende Bedeutung haben (z.B. abgesehen von, offen gestanden, ehrlich gesagt, anders gesagt, einmal angenommen, den günstigsten Fall vorausgesetzt). Als „periphere Partizipialkonstruktionen ohne Orientierung“ (Habermann 2007: 305) stehen sie in syntaktischer Hinsicht relativ unabhängig zur Restinformation des Satzes. Im toskanischen (literarischen) Italienisch besteht eine abweichende Tendenz im Gebrauch des zusammengesetzten Perfekts, die eher dem Lateinischen nahesteht als dem heutigen Französischen. Das italienische Partizip hat hier seine „Verbalität“ nicht vollständig verloren und funktioniert noch häufig wie das lateinische Partizip. In diesem Sinne unterscheidet Begioni (2012: 23) die folgenden Äußerungen, in denen caricato das Resultat der Handlung des Beladens ausdrückt, während carico als Verbaladjektiv einen dauerhaften Zustand benennt: (33) it.

Il camion è caricato.

(34) it.

Il camion è carico.

Das Gerundium hat als adverbiale Form des Verbs mit dem Verb die Valenzverhältnisse gemeinsam und drückt Gleichzeitigkeit mit der vom Verb bezeichneten Situation aus. Daher erlegt es keine Grenzen auf und fungiert als Mittel imperfektiver Aspektualität, das eine HintergrundSituation oder eine begleitende Handlung angibt: (35) fr.

L'écrivain hausse les épaules en souriant. (Frantext. R968 – Bienne, Gisèle, Les Jouets de la nuit, 1990: 80)

Ausprägungen des Aspekts in der Verwendung von Verbformen

245

Häufig werden Gerundialkonstruktionen konsekutiv als vom Bezugssachverhalt verursacht (36) oder kausal als Ursache des Bezugssachverhalts (37) interpretiert (vgl. Schwarze 1988: 190): (36) it.

L’albero cadde, trascinando con sé arbusti e alberi più piccoli.

(37) it.

Non avendo la chiave, non poté aprire.

Die Grundlage für diese Deutungen scheint in der Bedeutung der Gleichzeitigkeit mit der vom Verb bezeichneten Situation zu liegen, die entsprechend dem Weltwissen als Folge oder als Ursache interpretiert wird. Im Rumänischen ist das Gerundium eine häufig absolut verwendete Konstruktion, die nicht die Gesamtheit der Situation umfasst, sondern nur den Moment des Übergangs vom Unvollendeten zum Vollendeten. Nach einer an Guillaume angelehnten Darstellung von Timoc-Bardy (2012: 55) ließe sich dies folgendermaßen veranschaulichen: făcând Der im Verlauf befindliche Prozess wird vom Gerundium nicht als gegenwärtig dargestellt, sondern als partiell gleichzeitig mit einem temporalen Referenzpunkt, der durch eine andere Verbform oder ein Adverbial angegeben wird: (38) rum. Îl văd plecând. ‛Ich sehe ihn weggehen.’ (39) rum. Îl voi vedea plecând. ‛Ich werde ihn weggehen sehen.’ (40) rum. Îl vedeam plecând. ‛Ich sah ihn weggehen.’

Eine aspektuelle Besonderheit des rumänischen Gerundiums besteht darin, dass es nicht in zusammengesetzten Formen verwendet werden kann, was zum Beispiel im Französischen möglich ist (ayant travaillé, ayant vu): (41) rum. A venit azi, ieri fiind ocupé. (wörtlich: ‛Er ist heute gekommen, gestern beschäftigt seiend.’

Die Nominalformen des Verbs tragen somit auch unabhängig von ihrer lexikalischen Bedeutung zu Aspektualität der Prädikation bei. Als solche treten sie auch in den aspektuellen Verbalperiphrasen auf, die eine wichtige Komponente der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität darstellen.

246

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

3.3. Aspektuelle Verbalperiphrasen 3.3.1. Definition der Verbalperiphrasen in romanischen Sprachen und ihres Beitrags zur Aspektualität Besondere Beachtung sollen im Folgenden diejenigen Verbalperiphrasen finden, die nach der Terminologie von Dessì Schmid (2014) Aspektualität eines nicht extern abgegrenzten, sondern intern unterteilten Sachverhalts ausdrücken, also eines der konstitutiven Momente der Situation hervorheben und weiter fokussieren. Nach der traditionellen Terminologie werden diese Periphrasen auch progressive genannt. Es handelt sich dabei vor allem um die Periphrasen sp. estar+Gerundium, it. stare+Gerundium und frz. être en train de+Infinitiv, die in sehr unterschiedlichem Grade grammatikalisiert sind und auch unterschiedliche Verwendungsbeschränkungen aufweisen. Aspektuelle Verbalperiphrasen drücken Inhalte aus, die sich auf die zeitliche Strukturierung von Sachverhalten beziehen. Obwohl es bereits im Lateinischen Ansätze von Verbalperiphrasen gab, stellen diese Konstruktionen in ihrer Analytizität und Häufigkeit ein wichtiges typologisches Unterscheidungsmerkmal der romanischen Sprachen vom Lateinischen dar (vgl. Haspelmath 2000). Die Untersuchung romanischer Verbalperiphrasen hat eine lange, bis Friedrich Diez (1794–1876) zurückgehende Forschungstradition, die hier nicht aufgearbeitet werden kann.33 Hervorgehoben sei lediglich der Beitrag der Schrift von Coseriu Das romanische Verbalsystem (1976), in der der typisch romanische Charakter der durch Periphrasen ausgedrückten aspektuellen Kategorien betont wird. Coseriu nähert sich dem Aspektproblem unter Nutzung der beiden als Schau und Phase bezeichneten Kategorien an. Unter Schau versteht er die Betrachtung der Handlung in ihrer Gesamtheit oder in ihrem Ablauf. Die Phase ist hingegen eine Kategorie, die das Verhältnis zwischen dem Augenblick der Betrachtung und dem Entwicklungsgrad des betrachteten Vorgangs in Betracht zieht. Für die Verbalperiphrase gibt Coseriu eine stark vereinfachende Definition: Eine „Periphrase“ ist nämlich im eigentlichen Sinn ein sprachliches materielles mehrgliedriges Zeichen, das eine einheitliche, eingliedrige Bedeutung hat, d.h. ein gegliedertes „Signifiant“, dem aber ein einfaches „Signifié“ entspricht. (Coseriu 1976: 201)

_____________ 33

Vgl. Diez (1836–1844), Bertinetto (1991, 1995, 1995b, 1996 1998). Böckle (1979, 1984), Coseriu (1976), Dietrich (1973, 1985, 1996), Gavarrò & Laca (2002), Giacalone Ramat (1995), Fernández de Castro (1999), Gómez Torrego (1999), Gougenheim (1929), Haspelmath (2000), Laca (1995, 1998, 2002, 2004, 2004b), Mitko (1999, 2000), Pusch (2003a, 2003b), Roca Pons (1958), Olbertz (1998), Schlieben-Lange (1971), Squartini (1990, 1998), Veyrat Rigat (1993), Werner (1980).

Aspektuelle Verbalperiphrasen

247

Coseriu definiert hier den Begriff der Periphrase sowohl für lexikalische als auch grammatische mehrgliedrige Elemente. Bei den lexikalischen mehrgliedrigen Bezeichnungen handelt es sich um Bedeutungen, die nicht direkt aus ihren konstitutiven Elementen abgeleitet werden können: eine fr. belle-sœur ‛Schwägerin’ ist keine schöne Schwester und eine it. tavola calda ‛Mittagstisch, kleines Restaurant’ ist kein Tisch, der heiß ist. Unter den grammatischen Periphrasen fasst Coseriu solche wie fr. j’ai parlé, sp. voy a leer, kat. vaig partir, pt. vou fazer oder it. stiamo facendo. Er stellt darin den Verlust der Bedeutung der ersten Konstituente fest, die nicht mehr ‛besitzen’, ‛gehen’ oder ‛stehen’ bedeutet, sondern lediglich als Hilfsverb fungiert und die allgemeinen Verbalkategorien trägt, während die nominale Komponente (das Partizip, der Infinitiv oder das Gerundium) ihre lexikalische Bedeutung behält. Coseriu unterscheidet dabei nicht zwischen vollständig grammatikalisierten periphrastischen Konstruktionen, die als Tempora fest in das Verbalparadigma eingebunden sind (fr. j’ai parlé, kat. vaig partir) und solchen Verbalperiphrasen, die sich auf unterschiedlichen Stationen des Weges der Grammatikalisierung befinden und synthetische Formen nur teilweise in bestimmten Varietäten der jeweiligen Sprache ersetzt haben (sp. voy a leer, pt. vou fazer) bzw. das Merkmal der Aspektualität ergänzend ausdrücken it. stiamo facendo). Die Postulierung eines „einfachen Signifiés“ in Coserius Definition ist auch schon deshalb problematisch, weil die mit Verbalperiphrasen ausgedrückten Inhalte sich durchaus als zusammengesetzt erweisen können, was auch Dessì Schmids Delimitationsmodell berücksichtigt. So gibt es in dem folgenden Satz sechs Elemente, die zur Aspektualität der Prädikation beitragen: (1) sp.

Estuve escribiendo la novela durante los tres últimos años.

(a) Mit der Verbalperiphrase estar+Gerundium wird keine Begrenzung der Situation vorgenommen und es wird der Verlauf der Handlung fokussiert. (b) Das Gerundium als solches trägt ebenfalls zur Darstellung der Situation im Verlauf bei und nimmt keine Begrenzung vor. (c) Auch die lexikalische Bedeutung des Verbs escribir legt – für sich betrachtet – Durativität nahe. (d) Die Verbform des Auxiliars (pretérito perfecto simple) setzt eine aspektuelle Begrenzung und gibt die Betrachtung der Situation als Ganzes vor. (e) Der determinierte Aktant la novela begrenzt das Intervall des Schreibens auf den für einen Roman notwendigen Zeitraum. (f) Schließlich wird dieser Zeitraum mit durante los tres últimos años auch noch genau benannt und damit begrenzt. In diesem Satz wird also eine begrenzte, damit perfektive Situation ausgedrückt, zu der die imperfektive Verbalperiphrase zugleich eine Innenperspektive beiträgt. Ob dabei die perfektive oder die imperfektive Sicht dominiert, kann ohne Kenntnis des weite-

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

ren Kontextes und/oder der Absicht des Sprechers nicht entschieden werden. Sowohl die Begrenztheit der Situation als auch die Darstellung ihres Verlaufs können als Hintergrund betrachtet werden, ebenso wie sie fokussiert werden können. Selbst wenn wir die Betrachtung auf die Verbalperiphrase reduzieren und den Rest des Satzes außer Acht lassen würden, wäre das diskutierte Beispiel aufgrund der Bedeutungskomponenten (a), (b), (c) und (d) kaum als semantisch einheitlich und „einfaches Signifié“ zu betrachten. Um das Konzept der Phase von Situationen in die Verbalperiphrasen integrieren zu können, muss man außerdem berücksichtigen, dass der lexikalische Bedeutungsverlust bei den konjugierten Verben nicht vollständig sein muss. In den folgenden Beispielen haben die Verben sp. salir und it. cominciare die Bedeutungsmerkmale ‛Bewegung (herauskommen)’ bzw. ‛anfangen’ durchaus beibehalten (Dessì Schmid 2014: 203): (2) sp.

En aquel momento, saliò diciendo que era la mujer de su vida.

(3) it.

Cominciò a raccontare a tutti che voleva andare a vivere a Londra.

Der Nachweis des Vorliegens einer Periphrase ist in diesen beiden Sätzen durch die Auflösung der Konstruktion Auxiliar (+Präposition) +Nominalform des Verbs in zwei konjugierte Verben möglich, die in diesen Fällen zu keinem akzeptablen Ergebnis führen würde: (2’) sp.

*En aquel momento, saliò y dijo que era la mujer de su vida.

(3’) it.

*Cominciò e raccontò a tutti che voleva andare a vivere a Londra.

Wenn die in ihrer Form gleichen Konstruktionen mit den konjugierten Verben als Vollverben verwendet werden, liegen keine Verbalperiphrasen vor und die Auflösung in ein zweigliedriges Prädikat ist möglich: (4) sp.

Antonio salió corriendo de su despacho.

(4’) sp.

Antonio salió de su despacho y corrió.

(5) it.

Maria comminciò la lezione parlando di Cesare.

(5’) it.

Maria comminciò la lezione e parlò di Cesare.

Die semantische Komplexität der Verbalperiphrasen, die sich einerseits aus dem differenzierten Beitrag der einzelnen Komponenten zur aspektuellen Begrenzung bzw. Nichtbegrenzung und andererseits aus dem nicht vollständigen semantischen Verblassen des Auxiliars ergibt, hat zu verschiedenen Modifikationen von Coserius Definition der Verbalperiphrasen geführt. So definieren Pusch & Wesch Verbalperiphrasen als

Aspektuelle Verbalperiphrasen

249

[…] eine Verbindung von zwei (oder, in Ausnahmefällen, mehr) Verbalformen, die eine einzige und semantisch einheitliche (nicht-kompositionelle) Prädikationseinheit bilden und deren Auxiliarelement bei sehr stark abgeschwächtem semantischen Gehalt als Träger der flexiv markierten Verbalkategorien dient, während ein zweites nicht finites Verbalelement, das also (in den romanischen Sprachen) als Infinitiv, Gerund bzw. Partizip vorliegen kann, die semantische Hauptinformation der Prädikationseinheit beisteuert. (Pusch & Wesch 2003: 2–3)

Dessì Schmid hat diese Definition unter Einbeziehung des auf Squartini (1990; 1998) zurückgehenden definitorischen Kriteriums der skalaren Periphrastizität folgendermaßen präzisiert: Aus der synchronen Perspektive soll unter Verbalperiphrase eine semantisch zusammenhängende Konstruktion verstanden werden, die als Prädikationseinheit fungiert und formal aus zwei (oder mehreren) Verbalformen besteht. Deren eine erscheint in finiter Form, übt die Funktion eines Hilfsverbs aus und steuert die grammatikalischen und – indirekt proportional abhängig vom Grad ihrer Auxiliarisierung – auch einen Teil der lexikalischen Informationen der gesamten Konstruktion bei. Die andere, die in der Regel in einer nicht-finiten Form erscheint (in den romanischen Sprachen insbesondere in den Varianten Infinitiv, Partizip und Gerundium), übt die Funktion des Hauptverbs der gesamten Konstruktion aus und steuert – direkt proportional abhängig vom Grad der Auxiliarisierung des ersten Glieds der Periphrase – einen mehr oder weniger großen Teil der lexikalischen Information der Prädikationseinheit bei. (Dessì Schmid 2014: 206)

Wir schließen uns dieser Begriffsbestimmung der Verbalperiphrasen an, verweisen jedoch auf die potentielle semantische Selbständigkeit des „Auxiliars“, das in einigen Fällen weit noch nicht vollständig als Träger der Verbalmerkmale grammatikalisiert ist. 3.3.2. Aspektuelle Verbalperiphrasen und ihre Struktur In Kapitel 2.2.4. haben wir bereits gesehen, dass einige mit ursprünglichen Bewegungsverben gebildete temporale Verbalperiphrasen einen hohen Grad der Grammatikalisierung erreicht haben und in einigen Varietäten romanischer Sprachen sogar die synthetischen Verbformen der Zukünftigkeit bereits ersetzt haben. Da der Aspekt in romanischen Sprachen generell nicht vollständig grammatikalisiert vorliegt, erscheint es nicht verwunderlich, dass die aspektuellen Periphrasen diesen Stand der Grammatikalisierung nicht erreicht haben. Insbesondere die Phasen von Situationen bezeichnenden Verbalperiphrasen erfüllen diese Funktion aufgrund der Bedeutung des flektierten Verbs, das nicht nur die Konjugationsmerkmale trägt.

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Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

(6) it

Leo finsice di mangiare la pasta.

(7) fr.

Marie-Rose se met à chanter.

(8) sp.

Termino de trabajar a las tres.

(9) kat.

Acabo de parlar amb el president de la república italiana.

In diesen von Dessì Schmid (2014: 207) übernommenen Beispielen trägt die lexikalische Bedeutung des jeweils ersten Glieds der Konstruktion zur Semantik der Prädikationseinheit bei. Die Bedeutungselemente ‛beenden’ in (6), (8) und (9) und ‛anfangen’ in (7) bleiben in der Gesamtbedeutung der Periphrase erhalten. Das konjugierte Verb übernimmt insofern die Funktion eines Auxiliars, als es der gesamten Konstruktion dazu verhilft, prädikationsgründend zu wirken. Die eigentliche Handlung wird von einem nominalen Element, hier von Infinitiven, bezeichnet. Am weitesten fortgeschritten ist in den romanischen Sprachen die Grammatikalisierung der Periphrasen vom Typ STARE+Gerundium, die imperfektive Aspektualität ausdrücken und Situationen im Verlauf darstellen. Wie wir bereits gesehen haben, können durch Verbbedeutungen, Flexionsformen des Auxiliars und Aktanten weitere aspektuelle Merkmale hinzukommen. In den iberoromanischen Sprachen ist der Grammatikalisierungsprozess des periphrastischen Ausdrucks der imperfektiven Aspektualität durch eine deutliche Präferenz des STARE+Gerundium-Typs gegenüber Verbalperiphrasen mit Bewegungsverben gekennzeichnet. Letztere Konstruktionen verschwinden dabei nicht, sie werden aber auf den Ausdruck spezieller Aktionsarten und modale Bedeutungen eingeschränkt. Dieser Prozess wird in den iberoromanischen Sprachen durch die Existenz eines doppelten Kopulasystems begünstigt, in dem die STARE-Kopula bereits einen Stand der Angelegenheiten ausdrückt, während die ESSEKopula mit allgemeinen Eigenschaften verbunden wird, vgl. Juan está cansado/María es inteligente. Bybee & Dahl (1989) und Bybee, Perkins & Pagliuca (1994) haben nachgewiesen, dass progressive Verbalperiphrasen meist von lokativen Konstruktionen abgeleitet werden und dazu tendieren, zu Markierungen der Imperfektivität zu werden. Im Italienischen und Französischen sind Periphrasen vom STARE-Typ ( [Auxiliar Durativität > imperfektive Progressivität > ? [+Aktionalität]37 > [-Aktionalität] [-Aspekt] > [+Aspekt] Squartini sieht den Pfad der Grammatikalisierung der italienischen STARE+Gerundium-Periphrase also ausgehend von einem Lokalisierung vornehmenden Vollverb (stare) über eine die Aktionsart der Durativität ausdrückende zu einer den imperfektiven Aspekt bezeichnenden Periphrase. Während in früheren Entwicklungsstadien die Periphrase nur mit nichttelischen Verben, aber sowohl mit imperfektiven als auch perfektiven Formen des Auxiliars kombinierbar war, ist sie heute mit fast allen Aktionsarten kompatibel, aber nur mit einem imperfektiven Auxiliar. Deutlich wird die Wirkung des imperfektiven Auxiliars insbesondere in Beispielen wie dem folgenden, in denen sowohl der telische Charakter des Verbs finire als auch das Argument una lettera eine aspektuelle Begrenzung nahelegen könnten. Das Fertigschreiben des Briefes wird jedoch durch die mit einem imperfektiven Auxiliar verbundene Periphrase als nicht erreicht dargestellt:38 (26) it.

Francesca stava[impf.] giusto finendo di scrivere una lettera, quando ha telefonato Giulia.

_____________ 37 38

Aktionalität (actionality) wird hier im Sinne des Aktionsartcharakters verwendet. Wie Dessì Schmid (2014: 218) feststellt, setzt diese Analyse „natürlich die Annahme voraus, dass man das Verb an sich betrachtet, das heißt unabhängig vom konkreten Sachverhalt, in dem es erscheint, also von der besonderen Kombination mit anderen Elementen und von der Bedeutung, die es dort dadurch annimmt“.

Aspektuelle Verbalperiphrasen

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Im Italienischen ist der Wandel in der semantischen Funktion der STARE+Gerundium-Periphrase von einer klaren Tendenz zur Erhöhung der absoluten Frequenz begleitet. Dietrich (1985: 204–206) stellt fest, dass von den ersten italienischen Texten bis ins 19. Jahrhundert die STARE+Gerundium-Periphrase immer weniger frequent als die ANDARE+GerundiumPeriphrase war. Die Erhöhung ihrer Frequenz war möglicherweise mit dem Wandel im aspektuellen Wert der Periphrase und mit ihrer Spezialisierung zu einer imperfektiven Form verbunden (Squartini 1998: 87). Wie Hopper & Traugott (1993: 110) gezeigt haben, ist Frequenz ein Zeichen für den Grammatikalisierungsgrad: „sheer textual frequency is prima facie evidence of degree of grammaticalization“. Wenn die STARE+GerundiumPeriphrase ein spezialisierter Marker des imperfektiven Aspekts geworden war, stärkte sie ihre Position im Verbsystem, erreichte einen höheren Grammatikalisierungsgrad und erhöhte daher ihre Frequenz im Vergleich zu anderen gerundialen Periphrasen. Das Spanische und das Italienische unterscheiden sich auch in der Kompatibilität der Periphrase mit dem Infinitiv des Auxiliars. Im Italienischen wird die STARE+Gerundium-Periphrase nur selten mit dem Infinitiv gebildet. Mit Modalverben wie dovere ‛müssen’ und potere ‛können’, die sowohl deontische als auch epistemische Bedeutung haben können, fordert die italienische Verbalperiphrase notwendigerweise die epistemische Interpretation. Die epistemische Lesart erlaubt eine Sicht der Situation als zu einer bestimmten Zeit imVerlauf befindlich: (27) it.

A quest’ora Paolo deve star viaggiando verso Madrid. (epistemisch: ‛Zu dieser Zeit muss Paolo gerade unterwegs nach Madrid sein.’

Im Spanischen sind deontische und epistemische Modalverben mit der STARE+Gerundium-Periphrase ohne irgendwelche Einschränkungen im Hinblick auf den Charakter der Situation akzeptabel: (28) sp. es un hombre que siempre tiene que estar haciendo algo, algo fuera de lo común (Lima Habla Culta Corpus 158)

Auch im Imperativ kann im Spanischen das Auxiliar verwendet werden. Dies ist im Italienischen nicht möglich, da dort die Situation nicht als in einem bestimmten Zeitpunkt vollzogen konzeptualisiert wird, sondern einfach als durativ: (29) sp. No estés creyendo otra cosa (J.A. Ramos, Tembladera, 79)

Im Hinblick auf die Kompatibilität mit ‛immer’ bezeichnenden Adverbien verhalten sich das Spanische und das Italienische unterschiedlich. Während eine solche Verbindung im Italienischen nur sehr eingeschränkt möglich ist, ist sie im Spanischen durchaus anzutreffen (vgl. Yllera 1980: 25):

258

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

(30) sp. ¡Siempre te estás quejando!

Die Grammatikalisierung der STARE+Gerundium-Periphrase zeigt, dass die Beziehung von Aktionsart und Aspekt als diachronischer Prozess interpretiert werden muss. Die progressive Bedeutung entstand diachron betrachtet aus einer Aktionsart. Squartini erkennt eine semantische Ähnlichkeit zwischen Aspekt und Aktionsart an, da der Aspekt und die Aktionsart aus dem gleichen kognitiven Konzept entstehen. Dennoch sind die beiden Kategorien nach Squartini (1998: 18) zu trennen. Da sich verschiedene imperfektive Formen aus stativen Standortkonstruktionen entwickelten, hat diese stative Bedeutung offensichtlich Einfluss auf die progressive Bedeutung. Das Hauptargument Squartinis (1998: 37–40) in der Diskussion der Beziehung zwischen Aspekt und Aktionsart besteht darin, dass die STARE+Gerundium-Periphrase zu häufigem gemeinsamem Auftreten mit Adverbien der Dauer tendiert, die eine Begrenzung des Zeitraums der Situation auferlegen. Auch wenn es verlockend erscheint, diese lineare diachrone Entwicklung der STARE+Gerundium-Periphrase von der Aktionsart zum Aspekt anzunehmen, erscheint sie uns zu selektiv und zielorientiert. Wenn die italienische STARE+Gerundium-Periphrase einen hohen Grammatikalisierungsgrad erreicht hat, weil sie auf den Ausdruck von Imperfektivität spezialisiert ist und nicht mit einem perfektiven Auxiliar verwendet werden kann, könnte das auch auf die französische Periphrase être en train de+Infinitiv zutreffen, die auch hochspezialisiert ist. Wie wir im Folgenden noch zeigen werden, schließt jedoch die lexikalische Bedeutung der Elemente der französischen Periphrase einen hohen Grammatikalisierungsgrad aus. Außerdem zeigen Sprachen mit Aspektkorrelation durchaus auch aspektuelle Clusterbildungen, die den iberoromanischen STARE+ Gerundium-Periphrasen ähneln. Wie Bondarko (1971: 14–16) festgestellt hat, ist der imperfektive Aspekt im Russischen kompatibel mit Markern, die der zeitlichen Lokalisierung und sogar der Darstellung von Abfolgen von Situationen dienen: (31) ru. Прихожу я вчера домой, ужинaю и принимаюсь за работу. kommeimperf ich gestern nach Hause, esseimperf, und macheimperf mich an Arbeit ʽgestern bin nach Hause gekommen, habe zu Abend gegessen und mich an die Arbeit gemacht.ʼ

Während der perfektive Aspekt den Prozess als Ganzheit fokussiert, besitzt der imperfektive Aspekt nicht das Merkmal der Ganzheit und stellt daher eine innere Sicht des Prozesses dar. Die Funktion der spanischen STARE+Gerundium-Periphrase scheint dem imperfektiven Teil der As-

Aspektuelle Verbalperiphrasen

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pektkorrelation im Russischen sehr nahe zu kommen. Es kann sogar als ein Zeichen eines hohen Grammatikalisierungsgrades angesehen werden, dass Konstruktionen mit jeder beliebigen Form des Auxiliars auftreten können: María hablaba / María estaba hablando; María habló / María estuvo hablando etc. Es gibt keinen Grund, diese Paare von Sätzen als nicht durch aspektuelle Oppositionen markiert zurückzuweisen. Es scheint möglich, dem Auxiliar die Funktion einer Art Aktionsart zuzuweisen, zum Beispiel die repetitive, die inchoative oder Phasen eines Prozesses. Dies stimmt auch mit dem Verhalten von Aspekt und Aktionsart in Sprachen mit voll grammatikalisierten Aspektkorrelationen überein. So kann eine geringe Intensität einer Handlung ausdrückendes Präfix mit einem Stamm verbunden werden, der dadurch perfektiv wird (греть ʽaufwärmenimpfʼ > подогреть ʽaufwärmenpfʼ); dieses perfektive Verb kann dann seinerseits durch ein Suffix zu einem imperfektiven werden und Iterativität ausdrücken (подогреть ʽaufwärmenpfʼ> подогревать ʽaufwärmenimpfʼ): (32) ru

Мне это надоело. Три раза подогревала тебе обед. (Bondarko 1971: 31) ʽMir reicht’s. Dreimal habe ich Dir das Mittagessen aufgewärmt.ʼ

Es scheint sinnvoll, an Coserius (1976: 109) und Dietrichs (1973) Erklärung der progressiven Verbalperiphrasen zu erinnern, die mit einer funktionalen Beschreibung einer Form wie estuve haciendo beginnen und dieser Form dann neben dem Ausdruck einer bestimmten Schau einen doppelten aspektuellen Wert zuweisen: Sie charakterisieren sie als komplexiv und kursiv. Das Problem der Kompatibilität der STARE+Gerundium-Periphrase mit perfektiven Formen des Auxiliars kann durch die Annahme einer teilweise grammatikalisierten aspektuellen Periphrase gelöst werden, der die Möglichkeit der Markierung von Aktionsart, insbesondere von Phasen eines Prozesses, zugestanden wird. Ein weiterer Faktor, den Squartini (1998: 87) nur kurz erwähnt, scheint für die Erklärung des unterschiedlichen Verhaltens der STARE+Gerundium-Periphrasen im Italienischen und in den iberoromanischen Sprachen wichtig zu sein: die Funktion des Auxiliars ist in diesen Sprachen sehr unterschiedlich. Im Italienischen wird stare außer in der progressiven Periphrase sehr eingeschränkt gebraucht. Meistens findet man es in Konstruktionen wie sto bene ʽmir geht es gutʼ. Das Verb, das mit prädikativen Adjektiven gebraucht wird, ist essere (Maria è malata. ʽMaria ist krankʼ). Im Spanischen ist die Distribution von estar viel breiter: dieses Verb wird in lokalisierenden Prädikaten (Pilar está en casa ʽPilar ist zu Hauseʼ) und vor allem in Zustandsprädikaten (Pilar está enferma. ʽPilar ist krankʼ) verwendet. Zur Angabe von dauerhaften Eigenschaften oder der Herkunft wird das Verb ser verwendet (Pilar es madrileña. ʽPilar ist aus Madridʼ). Aus dieser Distribution ergibt sich, dass die progressive Periphrase

260

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

mit demselben Verb gebildet wird, mit dem auch ein prädikatives Adjektiv oder Partizip verbunden wird. Im Italienischen ist das als Auxiliar verwendete Verb nicht dasselbe, das zur Einführung eines prädikativen Adjektivs genutzt wird: (33) sp. María estaba hablando. (34) it.

Maria stava parlando.

(35) sp. María estaba enferma. (36) it.

Maria era malata.

Im Spanischen ist das Verb, das in einer perfektiven Form zur Angabe der Dauer eines Zustands verwendet wird, dasselbe, das als perfektives Auxiliar in progressiven Periphrasen Verwendung findet: (37) sp. María estuvo enferma durante dos días. (38) sp. María estuvo hablando durante dos horas.

Im heutigen Italienischen sind progressive Konstruktionen, wie auch Dessì Schmid (2014: 213–214) feststellt, auf die sogenannte fokussierte Progressivität spezialisiert und nicht für den Ausdruck abgegrenzter externer Aspektualität verfügbar. Insofern steht die italienische stare+GerundiumPeriphrase funktional der französischen Periphrase être en train de+Infinitiv nahe. Dies lässt sich anhand der folgenden von Dessì Schmid (2014: 214) angeführten Beispiele zeigen: (39a) it. Leo sta[pres] mangiando con Giulia. (39b) it. *Leo è stato[perf. comp.] mangiando con Giulia. (39c) it. Leo stava[impf.] mangiando con Giulia. (39d) it. *Leo stette[perf. sempl.] mangiando con Giulia. (40a) fr. Léo est[prés.] en train de manger avec Julie. (40b) fr. *Léo a été[pass. comp.] en train de manger avec Julie. (40a) fr. Léo était[impf.] en train de manger avec Julie. (40a) fr. *Léo fut[pass. simpl.] en train de manger avec Julie.

Im Italienischen und Französischen ist es also nicht möglich, die von den imperfektiven Periphrasen stare+Gerundium bzw. être en train de+Infinitiv ausgedrückte Aspektualität zusätzlich durch eine perfektive Verbform zu begrenzen.

Aspektuelle Verbalperiphrasen

261

3.3.4. Diachronische Entwicklung der Periphrasen vom STARE-Typ im Spanischen und Französischen Der Ausgangspunkt der Entwicklung von estar als Auxiliar ist sein Gebrauch als Vollverb, das die Existenz oder das Dasein von etwas in der Zeit ausdrückt. Wie wir am Beispiel des Spanischen gesehen haben, war das binäre Kopulasystem ein wichtiger Faktor im nachfolgenden Grammatikalisierungsprozess im iberoromanischen Verbalsystem. Die Kopula vom STARE-Typ drückt immer einen Zustand aus, im Gegensatz zum ESSE-Typ, der für den Ausdruck allgemeiner Eigenschaften verwendet wird. In Beispiel (41) ist die Eigenschaft des krank Seins nur ein vorübergehender Zustand, während in (42) die Fußballleidenschaft als dauerhafte Eigenschaft zugeordnet wird: (41) sp. Juan está enfermo. ʽJuan ist krankʼ (42) sp. Juan es un enfermo del futbol. ʽJuan ist ein Fußballfan (wörtlich: krank nach Fußball)ʼ

Im Cantar de mi Cid erscheint estar schon neun Mal als Ortsangabe, während es nur eine Okkurrenz von ser in dieser Funktion gibt. In einigen Äußerungen nimmt estar eine Lokalisierung vor und beschreibt eine Handlung, die am angegebenen Ort stattfindet. Diese Gebrauchsweisen können die erste Stufe der Grammatikalisierung der Konstruktion als Periphrase gewesen sein: (43) sp. Mio Cid don Rodrigo en Valencia está folgando (Cid, 1243) ʽMein Cid Rodrigo erholt sich gerade in Valencia.’

Die durch die im Spanischen vorhandene Opposition zwischen ser und estar gegebenen Bedingungen beeinflussen sowohl die Integration der STARE+Gerundium-Periphrase in das Verbalsystem als auch die Festigung des lexikalisch-semantischen Wertes periphrastischer Konstruktionen mit Bewegungsverben. Dies kann leicht durch einen Vergleich des Französischen und des Spanischen veranschaulicht werden. Wie Frequenzuntersuchungen gezeigt haben, ist die spanische Periphrase estar+Gerundium ebenso wie ihre Entsprechungen in anderen iberoromanischen Sprachen häufiger als die französische Periphrase être en train de+Infinitiv, die eine komplexere Konstruktion vor dem Infinitiv benutzt. Außerdem ist der Infinitiv nicht für den Ausdruck von Aspektualität als solcher spezialisiert. Neben den synchronen Daten gibt es einen interessanten diachronen Nachweis für den unterschiedlichen Grammatikalisierungsgrad der periphrastischen Aspektualität im Französischen und in den iberoromanischen Sprachen. Der Gebrauch der STARE+Gerundium-Periphrase ist im Spanischen bereits im 16. Jahrhundert üblich:

262

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

(44) sp. Eso me parece – respondió el galeote – como quien tiene dineros en mitad del golfo y se está muriendo de hambre, sin tener adonde comprar lo que ha menester. (Cervantes I, Cap 22, 0238.27)

Die Frequenz dieser Konstruktion in der direkten Rede könnte darauf hindeuten, dass sie als typisches Merkmal gesprochener Sprache galt. Es gibt aber auch einige Okkurrenzen in narrativen Passagen, wie die folgende, in der der Gebrauch von drei Nominalformen hintereinander besonders interessant ist: (45) sp. Todo lo cual se me representa a mí ahora en la memoria de manera que me está diciendo, persuadiendo y aun forzando que muestre con vosotros el efecto para que el cielo me arrojó al mundo y me hizo profesar en él la orden de caballería que profeso [...] (Cervantes I, Cap 22, 024420)

Die französische Periphrase être en train de+Infinitiv ist ihrerseits stärker kontextabhängig.39 In den Beispielen aus Frantext ist eine Dominanz der Konstruktion mettre en train de im 16. und 17. Jahrhundert feststellbar: (46) fr.

Voici, ma chère bonne, qui est un peu long et ennuyeux, je le sens, mais il est dangereux de me mettre en train de parler. (Sévigné. Mme de, Correspondance, 1680–1696 p. 730 (1689))

Die Okkurrenzen der Konstruktion mettre en train de, die in Texten des 17. Jahrhunderts zu finden sind, können als Beschreibungen von Resultaten von Handlungen betrachtet werden. Das Verb mettre tritt häufig in perfektiven Konjugationsformen auf und der Infinitiv kann auch durch ein Substantiv, das Handlungen bezeichnet, ersetzt werden: (47) fr.

Je vous diray, en verité, que cela n’est point beau, de veoir un homme d’eglise ou de justice mis en train de friponnerie. (Frantext, Q753 – François Béroalde de Verville, Le Moyen de parvenir, 1610: 315)

Die Konstruktion en train de+Infinitiv findet sich auch ohne Auxiliar zur Bezeichnung einer im Verlauf befindlichen Handlung. So wird mit ihr in Satz (48) ein Objektsprädikativum eingeleitet, das vom Verb trouver abhängt. Häufig werden solche Konstruktionen als Objektsprädikativa auch von dem Verb voir regiert (49 und 50). Schließlich findet sich die Konstruktion en train de+Verb ohne Auxiliar auch als attributive Ergänzung zu Substantiven (51): (48) fr.

Il revient de la promenade et trouve le roi déjà en train de dîner (Frantext, E049 - Jean Héroard, Histoire particulière de Louis XIII (1605-1610), 16051610: 429)

_____________ 39

Zum Verhältnis der être en train de-Konstruktion zum imparfait vgl. Lebas-Fraczak (2010).

Aspektuelle Verbalperiphrasen

263

(49) fr.

Bristol voyait les choses en train de lui donner bonne opinion de son projet; (Frantext, S532 - Antoine Hamilton, Mémoires de la vie du comte de Gramont, 1713: 135)

(50) fr.

Tu montres de l’esprit, et je te vois en train de trancher avec moi de l’homme d’importance. (Frantext, R383 - Molière, Amphitryon, 1668: 374)

(51) fr.

Quel travail de fermer la bouche à une femme en train de parler ! (Frantext, N888 - Alexis Piron, Arlequin-Deucalion, 1722: 335)

Es gibt jedoch auch frühe Belege für das Funktionieren der Konstruktion être en train de+Infinitiv, die in ihnen eindeutig imperfektive Aspektualität ausdrückt und die Handlung als im Verlauf befindlich darstellt: (52) fr.

Outre les trafics susdits que nous avons perdus, ou que nous sommes en train de perdre, il en reste encor deux que nous prenons de dehors. (Frantext, S591 - Antoine de Montchrestien, Traicté de l’oeconomie politique, 1615: 367)

(53) fr.

Il mit la compagnie ou elle estoit en train de danser aux chansons (Frantext, Q737 - Charles Sorel, Les Nouvelles françaises où se trouvent divers effets de l’amour et de la fortune, 1623: 276)

(53) fr.

Il était bien en train de discourir aujourd’hui. (Frantext, R224 - Madame de Sévigné, Correspondance: t. 1: 1646-1675, 1675: 728)

In Beispiel (52) wird mit der resultativen Verbform des passé composé das verloren-Haben eingeführt und dann mit dem im-Begriff-Sein zu verlieren kontrastiert. Die perfektive und die imperfektive Perspektive werden hier deutlich gegenübergestellt. In den Beispielen (52) und (53) wird auch der Verlauf der Handlung betont, wobei in (52) das Tanzen schon im Gange war, bevor die Gesellschaft eintraf und möglicherweise auch nach ihrem Weggehen noch andauerte. In (53) ist die absolute und bestätigende Aussage, die mit der Periphrase getroffen wird, bemerkenswert. Im 18. Jahrhundert trat die Periphrase être en train de+Infinitiv noch häufiger auf; es besteht aber weiterhin eine Beziehung zur resultativen Bedeutung der Konstruktion mit dem Verb mettre, das in vielen Kontexten mit en train de vorkommt: (54) fr.

On étoit en train de déchirer un honnête homme de notre connoissance [...] (Frantext, Denis Diderot, Lettres à Sophie Volland,T.1, 1762: 231)

(55) fr.

Savez-vous qu’il n’est pas bien de mettre les gens en train de nous aimer et de les planter là ? (Frantext, M437 - Gabriel Sénac de Meilhan, L’Émigré, 1797: 1713)

Der Charakter der Periphrase être en train de+Infinitiv als von einer transitiven Konstruktion mit dem Verb mettre herrührend wird auch durch Konstruktionen wie die folgende bestätigt, in denen en train de die Beschreibung eines Prozesses einleitet, der dem Objekt des Satzes (le) als Handlungsträger zugeordnet wird:

264

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

(56) fr.

Je le crois en train de faire une petite fortune, car les manufactures vont très bien. (Frantext, Voltaire, Correspondance, T.90–92, 1775: 188)

In diesem Beispiel wird die Periphrase être en train de+Infinitiv durch eine prädikative Konstruktion mit einem Verb des Glaubens ersetzt. Das Agens, das das Subjekt der Periphrase wäre, wird zu einem direkten Objekt dieses Verbs und die en train de faire-Konstruktion wird zu seiner Prädikatsphrase. In diesem Beispiel kann man auch die Beziehung zwischen der Periphrase vom STARE-Typ und dem Gebrauch des Verbs mettre sehen. Der Zustand, der von der mit diesem Verb bezeichneten Handlung geschaffen wird (on le met en train de faire qc. → Il est en train de faire qc.), wird zur lexikalischen Basis der Periphrase, die erst spät in einen Grammatikalisierungsprozess eingetreten ist.

3.4. Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität In diesem Kapitel (vgl. insbesondere 3.1.4. und 3.3.3.) wurde bereits dargestellt, dass für die Beurteilung der Akzeptabilität von Kombinationen mehrerer, auch widersprüchlicher Markierungen der Aspektualität der Kontext maßgeblich ist. Die Gesamtheit der aspektuellen Bedeutung kommt durch das Zusammenwirken dieser Markierungen zustande, wobei eine Komponente dominieren oder auch andere ausschließen kann. 3.4.1. Verkuyls kompositionelle Erklärung der Aspektualität Die Absicht, die Aspektualität als morpho-syntaktischen Komplex zu erklären, führt Verkuyl zu einem kompositionellen Ansatz, der im Folgenden dargestellt werden soll.40 Auf der Basis semantischer Informationen, die um spezifische syntaktische Elemente ergänzt werden, lässt sich der aspektuelle Charakter einer Prädikation bestimmen. Verkuyl interessiert dabei in erster Linie der Ausdruck von Begrenztheit (boundedness), den er mit terminativer Aspektualität (terminative aspect) verbindet und dem Ausdruck von Unbegrenztheit durch durative Aspektualität (durative aspect) gegenüberstellt. Den englischen Terminus aspect benutzt er dabei im Sinne einer übergreifenden Kategorie der ʽAspektualitätʼ und nicht im engeren _____________ 40

Zu diesem Ansatz vgl. Verkuyl (1972, 1993, 1999, 2005, 2008) und Verkuyl, Swart & Hout (2005).

Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität

265

Sinne von ‛Aspekt’, weshalb wir bei der Wiedergabe seiner Darstellungen auch den Terminus Aspektualität verwenden. Vendlers Klassifizierung der Verben nach Aktionsarten betrachtet Verkuyl als nicht linguistisch, da sie von Situationstypen ausgeht und keine linguistischen Kriterien zur Unterscheidung der einzelnen Klassen verwendet. Die Bestimmung der Aspektualität anhand lexikalischer Kriterien weist er eindeutig zurück: wenn der Ausdruck von Aspektualität ein Prozess auf struktureller Ebene ist, könne eine lexikalische Einteilung nicht aufrechterhalten werden. Im Unterschied dazu weist Verkuyl der Interaktion von temporalen und atemporalen Strukturen einen zentralen Platz zu. Atemporale Quantifizierer werden in die Aspekttheorie einbezogen und erklären den perfektiven (terminativen) Charakter von Sätzen wie Judith ate three sandwiches. Setzt man diesen Satz in die Verlaufsform (Judith was eating three sandwiches), so falle der aspektuelle Unterschied zwischen diesen beiden Sätzen mit der Opposition des ʽObjektivenʼ und des ʽSubjektivenʼ zusammen. Mit der Auswahl von was …-ing stellt der Sprecher den Hörer mitten in das beschriebene Ereignis hinein, während er im Satz Judith ate three sandwiches den Vorgang von außen und daher als begrenzt betrachtet. Dieser Satz wäre „objektiv“ perfektiv (terminativ), weil das Essen von drei Sandwiches durch eine Person inhärent zeitlich begrenzt ist. Dagegen wäre ein Satz wie Judith ate sandwiches inhärent und objektiv unbegrenzt (Verkuyl 1993: 10). Der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Formen der Aspektualität werde häufig durch die terminologische Unterscheidung zwischen Aspekt und Aktionsart abgebildet. Trotz des Unterschieds der Sätze mit und ohne Verlaufsform verwirft Verkuyl eine Unterscheidung zwischen Aspekt und Aktionsart, die nur auf den Kriterien der Subjektivität und der Objektivität beruhen würde. Damit werde ein ontologisches Kriterium linguistisch verkleidet eingeführt (Verkuyl 1993: 11: „an ontological wolf in linguistic sheepʼs clothing“). Dass der Aspekt keinesfalls immer subjektiv wählbar ist, wurde unter 3.1.3. bereits dargestellt. Aufgrund seines sprachsystematischen Charakters ist er auch keine lexikalische Kategorie, die in Beziehung zu ontologischen Sachverhalten stehen würde. Verkuyl (1993: 11) spricht sich nicht gegen eine praktische Unterscheidung zwischen Aspekt und Aktionsart aus, auf theoretischer Ebene sei dieser Unterschied jedoch irrelevant. Verkuyl unterscheidet zwischen innerer und äußerer Aspektualität, was er an den folgenden Beispielsätzen erläutert: (1) en.

Judith ate a sandwich.

(2) en.

Judith ate sandwiches.

(3) en.

Judith ate bread.

266 (4) en.

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Judith ate no sandwich.

Der Satz (1) ist terminativ (perfektiv), da die Situation durch das Argument a sandwich begrenzt ist. Die Sätze (2) bis (4) sind imperfektiv, da ihre Argumente entweder nicht determiniert oder negiert sind. In den folgenden Sätzen sind adverbiale Bestimmungen hinzugekommen, die den aspektuellen Charakter des Satzes verändern. In (5) bleibt die Begrenzung, die das Prädikat durch das Argument a sandwich erhält, bestehen, es kommt jedoch eine Innenperspektive hinzu, durch die die Dauer des Essens fokussiert wird (in an hour). Auch in den Sätzen (6) bis (8) haben sich die aspektuellen Bedeutungen geändert. Zwar begrenzen der Plural in (6) und die unbestimmte Mengenangabe in (7) die Handlung des Essens nicht, durch die adverbiale Bestimmung wird jedoch der Zeitraum determiniert. In (8) wird der Zeitraum, in dem Judith keine Sandwiches isst, abgegrenzt, nach einer Stunde beginnt sie wieder, welche zu essen. (5) en.

Judith ate a sandwich in an hour.

(6) en.

Judith ate sandwiches for an hour.

(7) en.

Judith ate bread for an hour.

(8) en.

Judith ate no sandwiches for an hour.

Ziel von Verkuyl (1993; vgl. auch Verkuyl 1999; 2005) ist es, ein formales aspekttheoretisches Modell für das Zusammenwirken der durch das Verb eingebrachten kategoriellen Knoten (categorial nodes, [+ADD TO]), wie zum Beispiel ʽBewegungʼ, ʽNehmenʼ, ʽHinzufügenʼ, und der komplexen Kategorie der spezifizierten Quantität (Specified Quantity [+SQA]) zu entwickeln. Das Zusammenwirken der verschiedenen Komponenten der Aspektualität lässt sich an dem folgenden Schema nach Verkuyl (1993: 18) verdeutlichen: a. [-ADD TO] und [±SQA] (ʽkeine Bewegungʼ) (9) en.

→ Durativität

Judith wants to eat a sandwich.

b. [+ADD TO] und [-SQA] (ʽBewegung mit Unbestimmtheitenʼ) → Durativität (10) en. John gave badges to a congress-goer.

Thema unbestimmt

(11) en. Nobody gave a badge to a congress-goer.

Quelle unbestimmt

(12) en. John gave a badge to congress-goers.

Ziel unbestimmt

c. [+ADD TO] und [+SQA] (ʽbegrenzte Bewegungʼ) (13) en. Judith ate three sandwiches.

→ Terminativität

Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität

267

3.4.2. Kompositionelle Konstituierung der Aspektualität von Prädikationen Auch ohne eine formale Darstellung der Aspektualität anzustreben, lässt sich der kompositionale Charakter der aspektuellen Bedeutung von Äußerungen anhand der folgenden Beispiele veranschaulichen. In den beiden Beispielen (14) und (15) aus Begioni (2012: 23) verfügt das Verb fr. délibérer; it. deliberare ‛diskutieren’ über keine Begrenzung und würde nach seiner Aktionsart damit eher imperfektive Aspektualität ausdrücken. Das zusammengesetzte Perfekt als perfektive Verbform bewirkt jedoch eine Begrenzung und die Betrachtung der Handlung in ihrer Ganzheit. Eine zusätzliche Präzisierung der Dauer wird durch das Adverbial (fr. pendant quatre heures; it. per quattro ore) bewirkt; schließlich erfolgt noch eine kalendarische Einordnung auf der Zeitachse: (14) fr.

Le parlement a délibéré pendant quatre heures, le 5 février 1999.

(15) it.

Il parlamento ha deliberato per quattro ore, il 5 febbraio 1999.

Würde man in diesen Sätzen die Verbform durch das imparfait/imperfetto ersetzen, wäre die Handlung nicht vollendet und würde sich über die durch das Adverbial gesetzte Grenze hinaus erstrecken. Die beiden folgenden Äußerungen würden also bedeuten, dass das Parlament an dem benannten Tag vier Stunden debattiert hat, aber keine Lösung gefunden hat, was die Fortsetzung der Diskussion nahelegt: (16) fr.

Le parlement délibérait pendant quatre heures, le 5 février 1999.

(17) it.

Il parlamento deliberava per quattro ore, il 5 febbraio 1999.

Wie durative Verben durch perfektive Verbformen eine Grenze auferlegt bekommen können, kann auch bei telischen und sogar punktuelle Handlungen bezeichnenden Verben durch imperfektive Verbformen diese Grenze in den Hintergrund treten und die Dauer der beschriebenen Situation kann fokussiert werden. Die ‛fallen’ bezeichnenden Verben in den beiden folgenden Sätzen beschreiben eine begrenzte Situation von kurzer Dauer mit einer nahen Grenze; dennoch ist die Darstellung des Fallens durch die Verwendung des imperfetto/imparfait durativ, wodurch die dargestellte Situation in ihrem Verlauf fokussiert wird: (18) it.

Cadeva rovinosamente a terra.

(19) fr.

Il y a 27 ans, le mur de Berlin tombait.

Die Kombination der Aktionsartbedeutung der Verben und der aspektuellen Bedeutung der Verbalformen erlaubt in den romanischen Sprachen eine große Flexibilität der Kombinationen und mitunter subtile Nuancen.

268

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

So befindet sich in den beiden folgenden Sätzen die Aktionsartbedeutung des eine punktuelle, begrenzte Situation bezeichnenden Verbs naître/nascere in Übereinstimmung mit der perfektiven Verbform, dem passé simple (Begioni 2012: 23): (20) fr.

En 1802, naquit Victor Hugo.

(21) it.

Nel 1802 nacque Victor Hugo.

Während in diesen Sätzen die Situation in ihrer Gesamtheit erfasst wird und das Ereignis als punktuell begrenzt dargestellt wird, erfolgt in den Sätzen mit dem imparfait/imperfetto eine Aufhebung der Begrenzung: (22) fr.

En 1802, naissait Victor Hugo.

(23) it.

Nel 1802 nasceva Victor Hugo.

Die Aktionsart tritt in diesen Beispielen in Konflikt mit der aspektuellen Bedeutung der Verbform, die in gewissem Sinne eine Ausweitung der Situation bewirkt. Die Kombination eines begrenzten Verbs mit einer imperfektiven Verbform öffnet die Grenzen des beschriebenen Prozesses, indem sie außerhalb des propositionalen Gehalts weitere Möglichkeiten der Mitteilung gibt. In den genannten Beispielsätzen könnte es sich um ein Unterstreichen der Bedeutung, die die Geburt Victor Hugos für die kommende Zeit hatte, handeln. Die Verwendung des Imperfekts für die Darstellung begrenzter Situationen gibt die Möglichkeit vielfältiger Subjektivierungen, die bis zur Übernahme modaler Funktionen gehen können (vgl. 4.4.3). Die Akzeptabilität der Kombinierbarkeit von bestimmten Aktionsarten mit aspektuell markierten Verbformen war Gegenstand umfangreicher Diskussionen und führte in formal orientierten Arbeiten zu einer Unterscheidung der Zustände (states) in Stadienprädikate und Individuenprädikate (vgl. Carlson 1977). Beide lassen sich durch die Hinzufügung situationsbezogener lokaler Modifikationen unterscheiden, die nur bei Stadienprädikaten möglich ist, nicht jedoch bei Individuenprädikaten. Durch diese Modifikationen wird ein Rahmen gesetzt, der in Widerspruch zu den Individuenprädikaten tritt (vgl. Dessì Schmid 2014: 23): (24) fr.

Julie fut fâchée. – Julie est fachée dans la cuisine. (Stadienprädikat)

(25) fr.

Julie fut intelligente/belle. – *Julie est intelligente/belle dans le bus. (Individuenprädikat)

Die Eigenschaft, verärgert zu sein, lässt sich leicht als auf ein bestimmtes Stadium begrenzt begreifen, was eine Kombinierbarkeit mit einem abgrenzenden Element wie dem passé simple ermöglicht. Auch die Eigenschaften ‛intelligent’ und ‛schön’ können für einen abgegrenzten Zeitraum

Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität

269

zugewiesen werden, möglicherweise für die Dauer eines ganzen Lebens. Allerdings variiert die Akzeptabilität der Kombinierbarkeit mit perfektiven Tempora auch innerhalb der Individuenprädikate, wie Dessì Schmid (2014: 23) an folgenden Beispielen zeigt: (26) fr.

Julie fut fâchée.

(27) fr.

?Julie fut blonde.

(28) fr.

?Le soleil fut lumineux.

Der Unterschied dieser Sätze liegt nicht in ihrer grammatischen Wohlgeformtheit, sondern in ihrer unterschiedlichen Bewertung auf der Basis des Weltwissens der Sprecher und Hörer. Dass verschiedene essenzielle Eigenschaften, die durch Individuenprädikate ausgedrückt werden, als unterschiedlich permanent wahrgenommen werden, ist ein pragmatischer Sachverhalt, der sich in den Sätzen (27) und (28) als pragmatische Anomalie auswirkt. Offensichtlich wird die Eigenschaft eines Individuums, blond zu sein, als sehr dauerhaft empfunden; ebenso wird das Leuchten der Sonne permanent zugeschrieben, was in diesen Sätzen die Kombinierbarkeit mit dem passé simple fragwürdig macht. Auch für die Verwendung von Verbalperiphrasen mit semantisch sehr durch ihre Aktionsart geprägten Verben gibt es Restriktionen. Verbalperiphrasen, die das Einsetzen, den Verlauf oder den Abschluss einer Handlung bezeichnen, setzen voraus, dass die in ihnen verwendete Nominalform des Verbs eine Konzipierung von Phasen der Situation zulässt. Stark begrenzte Verben sind zum Beispiel in Periphrasen, die den Handlungsanfang markieren, problematisch: (29) it.

?Incomincia a cadere.

(30) fr.

?Il commence à tomber.

Die Periphrasen être sur le point de+Infinitiv und stare per+Infinitiv bezeichnen das unmittelbare Bevorstehen einer Handlung. Das italienische stare lässt dabei jedoch nur ein Auftreten in imperfektiven Verbformen zu: (31) it.

Stavo per partire.

(32) it.

*Sono stato per partire.

Die Nichtakzeptabilität des Satzes (32) ergibt sich bereits daraus, dass das Partizip stato nicht zum Verb stare, sondern zu essere gehört (Begioni 2012: 29). Im Rahmen einer statistischen Untersuchung konnte Mitko (2000) eine Affinität bestimmter Situationstypen mit bestimmten aspektuell markierten Verbformen nachweisen. So zeigen Zustände „natürliche Affinität zum imperfektiven Verbalaspekt, der sich bezüglich möglicher Grenzen

270

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

des Geschehens analog verhält: Auch er blendet Anfangs- und Endpunkt des Geschehens aus der Betrachtung aus“ (Mitko 2000: 112). Wie bereits Weinrich mit der Zuordnung des Imperfekts zu den Hintergrundtempora festgestellt hatte (vgl. 3.1.1.), entstehen mit statischen Verben im Imperfekt Situationsbeschreibungen, die außerhalb des Haupterzählstrangs stehen und nicht zum Fortschritt des Handlungsverlaufs beitragen. Folgendes Beispiel aus der Analyse von Mitko (2000: 113) zu Balzacs Le Père Goriot belegt dies anhand von drei Verbformen: (33) fr.

Elle était coiffée avec des fleurs de pêcher, elle avait au côté le plus beau bouquet de fleurs, des fleurs naturelles qui embaumaient. (Goriot, nach Mitko 2000: 113)

Erwartungsgemäß wird die Funktion des Anzeigens von Fortschritten der Handlung und Situationsänderungen von perfektiven Verbformen erfüllt. Im folgenden Beispiel wird mit dem passé simple eine Folge von Handlungen dargestellt: (34) fr.

La comtesse pâlit d’abord en voyant l’impatience de son mari, puis elle rougit, et fut évidemment embarassée ; elle répondit d’une voix qu’elle voulut rendre naturelle, et d’un air faussement dégagé : « […] » Elle s’interrompit, regarda son piano, […], et dit : […] (Goriot 74, nach Mitko 2000: 117)

In der direkten Rede werden dynamische Situationstypen mit dem passé composé verbunden, was der Übernahme der Vordergrundgestaltung in Erzählungen in gesprochener Sprache entspricht: (35)

fr. Oui, j’ai rencontré il y a quelques jours un monsieur dans la rue, qui m’a dit : […] Moi j’ai dit : […] J’ai donc dit ça à monsieur Vautrin, qui m’a répondu : « tu as bien fait, mon garçon ! Réponds toujours comme ça […] » (Goriot 74, nach Mitko 2000: 117)

Nach den Untersuchungen von Mitko entsprechen über 70% der Vorkommen des imparfait und sogar über 90% der Okkurrenzen des passé simple und des passé composé in dem von ihr untersuchten Text Le père Goriot diesen prototypischen Verwendungen der Verbformen. Dennoch gibt es Fälle, in denen Situationstypen und aspektuell markierte Verbformen in Konflikt zueinander treten. So führen Äußerungen mit dem Imperfekt häufig auch neue Informationen ein. Mitko (2000: 115) sieht eine Erklärung dafür in der kataphorischen Funktion des Imperfekts. Die imperfektive Aspektualität bereitet den Boden für einsetzende perfektive Handlungen und verweist auf diese in kataphorischer Richtung auf das „Nachher“ im Text. Das Imperfekt erweckt den Eindruck, dass Informationen unvollständig sind und ergänzt werden müssen. So würde ein Satz wie (36) die Rückfrage (37) hervorrufen:

Ein kompositioneller Ansatz zur Erklärung der Aspektualität

(36) fr.

L’année dernière, je passais mes vacances en Suisse.

(37) fr.

Et qu’est-ce qui s’est passé alors ?

271

Das Imperfekt eröffnet gerade durch seine Unbegrenztheit eine Vielfalt von Verwendungsmöglichkeiten, in denen seine prototypische Bedeutung des Bezeichnens einer im Verlauf befindlichen, nicht begrenzten Situation in den Hintergrund tritt. So kann eine aus einem Subjekt und einer Imperfektform von leer (X leía) bestehende Konstruktion durch Kontextelemente unterschiedliche Bedeutungen erhalten. In den Sätzen (38) und (39) werden das imperfecto und das pretérito perfecto simple in ihren prototypischen Bedeutungen verwendet und stehen in aspektueller Opposition zueinander. In Satz (38) wird die Handlung des Lesens zeitlich unbegrenzt und in der Vergangenheit situiert dargestellt, während in Satz (39) das Lesen eines langen und überladenen deutschen Textes ganzheitlich und als erfolgreich abgeschlossen präsentiert wird, wobei eine Begrenzung sowohl durch die Verbform als auch durch das Objekt vorgenommen wird: (38) sp. […] Monika Zgustová leía fragmentos a sus amigos. (CREA, La Vanguardia, Literatura, 03/04/1995) (39) sp. López leyó con grandes dificultades -pero con buena voluntad- un largo y farragoso texto en alemán. (CREA, La Vanguardia, Empresa, 02/06/1995)

Die Situationsdarstellung mit dem Imperfekt ermöglicht es, eine Handlung als nur begonnen oder versucht darzustellen. So würde das Hinzufügen weiterer Kontextelemente, wie in (40) und (41) den Vollzug der Handlung des Lesens ausschließen (vgl. Böhm 2016: 21): (40) sp. Monika Zgustová leía fragmentos a sus amigos, MAMÁ Y TUVO QUE SALIR DE EMERGENCIA.

CUANDO LA LLAMÓ SU

(41) sp. Monika Zgustová leía fragmentos a sus amigos, PERO LE DIO UN ATAQUE DE TOS Y TUVO QUE IR AL DOCTOR.

Eine solche Interpretation wäre mit diesen Zusätzen zu einem Satz im einfachen Perfekt nicht möglich. Hier würde die Handlung des Lesens als zuerst abgeschlossen interpretiert und die nachfolgenden Handlungen würden sich daran anschließen: (42) sp. Monika Zgustová leyó fragmentos a sus amigos, cuando la llamó su mamá y tuvo que salir de emergencia.

Neben dieser in den Bereich der Modalität gehörenden Verwendung des Imperfekts lässt der nicht begrenzende und die Durativität der Situation fokussierende Charakter dieser Verbform auch den Ausdruck von Wiederholung und Kontinuität (43) sowie gewohnheitsmäßiger Handlungen (44) zu (vgl. Böhm 2016: 20–21):

272

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

(43) sp. Su padre, Webster Todd, fue un contratista millonario que construía edificios para los Rockefeller. […] (CREA, El Mundo, Política, 31/03/1995) (44) sp. Asunción se levantaba a las 6,30 de la mañana; a partir de las 7 leía la Prensa, y a las 8,30, fresco como una rosa, estaba listo para recibir la llamada diaria de Belloch […] (CREA, El Mundo, Gobierno, 15/01/1996)

Der kompositionelle Charakter der Aspektualität zeigt sich auch an einer Erscheinung, die narratives Imperfekt (imparfait narratif, Bres 1998, 1999, 2000a, 2000b, 2005: imperfecto narrativo, Böhm 2016) genannt wird. In den folgenden Beispielen hat das Imperfekt seine Rolle als Hintergrundtempus verloren und bezeichnet Situationen, die durchaus begrenzt sind und ganzheitlich betrachtet werden: (45) fr.

Je… dit-il tout contre son oreille, et, à ce moment, comme par erreur, elle tourna la tête et Collin lui embrassait les lèvres. Ça ne dura pas très longtemps. (Boris Vian, L’Écume des jours, nach Bres 2005: 7)

(46) sp. A la hora que indicó Novaliches, más bien un poquito antes, paraba el coche de Beramendi en la Puerta del Príncipe (Pérez Galdós, La de los tristes destinos).

Bres erklärt den Gebrauch des narrativen Imperfekts anstelle einer perfektiven Verbform durch die Interaktion mit einem Kontext, der eine perfektive Verbform nahelegen würde. Das Imperfekt behalte dabei seine Merkmale bei und trete in Konflikt mit diesem Kontext. In Beispiel (45) reiht sich das mit dem imparfait (embrassait) bezeichnete Küssen in eine Abfolge von Handlungen ein, die ansonsten alle mit dem passé simple bezeichnet sind. Außerdem wird noch auf die Kürze des Augenblicks hingewiesen, was die ganzheitliche und begrenzte Erfassung der Situation zusätzlich nahelegt. Mit der auffälligen Verwendung des Imperfekts wird jedoch gerade der Verlauf dieser einen Handlung fokussiert. Ebenso ist das Abstellen des Wagens an einem bestimmten Ort in dem spanischen Beispiel (46) natürlich eine ganzheitliche, begrenzte und abgeschlossene Handlung, die aber durch die Benennung mit dem Imperfekt gewissermaßen „angehalten“ und dadurch zusätzlich in ihrem Ablauf betrachtet wird. Als der Erwartungshaltung des Rezipienten entsprechend hätte sich für (45) folgende Formulierung angeboten, mit der die Ganzheitlichkeit und Abgegrenztheit aller aufeinanderfolgenden Handlungen konventionell ausgedrückt würde: (47) fr.

Je… dit-il tout contre son oreille, et, à ce moment, comme par erreur, elle tourna la tête et Collin lui embrassa les lèvres.

Der Kontext der Handlungsfolge erlaubt jedoch den Effekt der Dehnung einer Handlung, ohne dass der Zusammenhang verloren gehen oder das Imperfekt womöglich in den Hintergrund eingeordnet würde. Bres argu-

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

273

mentiert in diesem Zusammenhang nicht ausgehend von der Annahme einer Polysemie der Verbform. Er geht vielmehr davon aus, dass sie ihre Merkmale einbringt und durch die weiteren Kontextelemente ergänzt wird. Die Bedeutung des narrativen Imperfekts, das ganzheitlich betrachtete und abgegrenzte Situationen darstellt, dabei aber seine Durativität und Unbegrenztheit markierenden Eigenschaften behält, lässt sich somit kompositionell erklären. Auch das Zusammenwirken der aktionalen Bedeutungen der Verben mit Aktanten, der Verbalperiphrasen mit den Auxiliaren sowie der aspektuell markierten Verbformen mit begrenzenden oder Begrenzungen öffnenden Adverbien lässt sich kompositionell erklären. Besonders relevant wird dieses Zusammenwirken der aspektuellen Mittel bei der Übersetzung zwischen Sprachen, die eine grundsätzlich unterschiedliche Architektur der funktional-semantischen Kategorie der Aspektualität aufweisen.

3.5. Aspektualität in deutsch-romanischen und romanischdeutschen literarischen Übersetzungen 3.5.1. Problemstellung Seinen Eröffnungsbeitrag auf dem französischen Colloque d’Agrégation hat der schwedische Germanist Sven Gunnar Andersson 2003 mit der Frage „gibt es Aspekt im Deutschen?“ eröffnet. Dieselbe Frage hatten wir zu Beginn dieses Kapitels mit Blick auf die romanischen Sprachen gestellt und eine doppelte Antwort darauf gefunden. Während es eine grammatikalisierte Aspektkorrelation in den romanischen Sprachen nicht gibt, lässt sich onomasiologisch eine Kategorie der Aspektualität bestimmen, die unterschiedliche grammatische, lexikalische und syntaktische Mittel umfasst, die geeignet sind, eine Situation als begrenzt oder unbegrenzt darzustellen, Prozesse als ganzheitlich oder in ihrem Verlauf zu betrachten, Anfangs- und Endpunkte zu fokussieren oder die Handlungen lediglich als versucht darzustellen. In dieser Betrachtungsweise waren wir von Funktionen ausgegangen, die wir als onomasiologisches Kriterium für die Zuordnung einzelner sprachlicher Mittel zur Kategorie der Aspektualität verwendet haben. Dabei wurde auch die Frage betrachtet, welche dieser sprachlichen Ausdrucksmittel systematisch auftreten, d.h. aspektuelle Bedeutungen in abstrakter, von konkreten lexikalischen Einzelbedeutungen unterschiedlicher Weise ausdrücken. Wir konnten feststellen, dass die Verbformen der „Vergangenheit“ und nach der Maßgabe ihres Vorhandenseins auch die Opposition zwischen dem Futur und dem Perfektfutur

274

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

solche Ausdrucksmittel von Aspektualität sind, obwohl sie mit Ausnahme des Imperfekts nicht darauf spezialisiert sind. Bei der Betrachtung des Deutschen als Objektsprache stellte sich die Frage, ob es Aspekt gibt, für Andersson jedoch ganz anders. Hinzu kommt, dass er die ontologische Frage nach dem Aspekt gleich noch komplizierter formuliert, indem er nach systematischen Manifestationen des Aspekts im Deutschen sucht. Mit dem Wort „systematisch“ möchte er verhindern, dass die Fragestellung ins Außersprachliche verlegt wird, und erreichen, dass „die Sprachbeschreibung von dem Sprachsystem auszugehen habe und nicht von dem, was mit ihm alles gesagt werden kann“ (Andersson 2011: 2). Er beruft sich dabei auf eine von Bierwisch schon 1961 geäußerte Kritik an der Untersuchung von Sprachmitteln, die einen bestimmten Zweck – hier die Vorgangsgliederung – erfüllen: Wenn man in die Linguistik einmal die Frage einbezieht von der Art: welche Mittel stehen einem Sprecher zur Bezeichnung der Vorgangsgliederung zur Verfügung? – Dann ist nicht einzusehen, warum man auch nicht fragen soll nach den Mitteln für die Geschwindigkeit oder der Einzahl und käme stets zu Gruppierungen, die nur mit dem Sprachsystem nichts mehr zu tun haben. (Bierwisch 1961: 147; vgl. Andersson 2011: 2)

Bierwisch lehnt damit die onomasiologische Frage nach den Mitteln zur Bezeichnung der Vorgangsgliederung, also modern formuliert die Untersuchungsrichtung vom Begriff der ʽAspektualitätʼ zu den Ausdrucksformen, ab. Doch auch wenn Andersson, Bierwischs Aussage entsprechend, von der Form zum Inhalt geht, stößt er im deutschen Verbalsystem auf „Erscheinungen, die mit der ʽArt und Weiseʼ zu tun haben, ʽwie die Handlung des Verbums vor sich gehtʼ, und sei es als verdeckte Kategorien, die inhaltliche Subvarianten oder Sub-Subvarianten bei den Partizipien und bei Periphrasen mit dem Partizip II bedingen, z.B. bei dem Zustandspassiv und bei den Perfekttempora“ (Andersson 2011: 2). Andersson räumt dabei ein, dass es im Deutschen kombinatorische Erscheinungen auf Satzund Textebene gibt, durch die die aspektuellen Inhalte ʽHandlung in ihrem Verlaufʼ/ʽHandlung in ihrer Totalitätʼ mehr oder weniger eindeutig festgelegt werden können. Hierzu gehören Konjunktion, Adverbien, Periphrasen, Definitheit/Indefinitheit von Nominalphrasen, aktionale Klassenzugehörigkeit der Verbalphrase, semantisch oder pragmatisch begründete Taxisbeziehungen zwischen Satzinhalten, wie zum Beispiel Parallelität, Aufeinanderfolge, Inzidenzschema (Andersson 2011: 2–3). Der Komplex dieser Ausdrucksmittel berechtigt nach Anderssons Auffassung jedoch nicht dazu, die Frage nach der Existenz von Aspekt im Deutschen zu bejahen.

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

275

Andersson begründet die Schwierigkeiten, dem Deutschen Aspekt zuzugestehen mit der Mehrdeutigkeit der zur Aspektualität gehörenden Mittel. Eindeutig aspektuell seien lediglich Periphrasen, wie am/beim+Infinitiv+sein. Konjunktionen (während) und Adverbien (gerade) sind mehrdeutig; Perfekt, Plusquamperfekt und Zustandspassiv sind zwar aspektuelle Ausdrucksmittel, sie sind jedoch von der Semantik der Verbalphrase abhängig. Die Opposition ʽHandlung in ihrem Verlaufʼ/ ʽHandlung in ihrer Totalitätʼ sei eine onomasiologische begriffliche Opposition, die weniger in sprachlichen Elementen des Komplexes der Aspektualität verankert sei, sondern „zumeist und letztendlich über nichtsprachliche Wissenssysteme wie Ereignislogik und Weltwissen kognitiv festgelegt wird“ (Andersson 2011: 3). Die Bezeichnung des deutschen Tempus Perfekt legt irrtümlicherweise Perfektivität nahe. Das deutsche Perfektsystem verfügt zwar über die Merkmale [+abgeschlossen] bzw. [+vollzogen], jedoch im temporalen Sinne. Temporal ist eine Situation abgeschlossen oder vollzogen, wenn sie vor einem Punkt auf der Zeitachse liegt. Dabei ist es unerheblich, ob der Sachverhalt als im Verlauf befindlich oder als zusammengefasste Totalität gesehen wird, ob die dargestellte Situation begrenzt oder nicht begrenzt ist. Das Perfekt setzt eine Situation zu einem außerhalb ihres Zeitverlaufs liegenden Punkt auf der Zeitachse in Beziehung. Zu diesem später liegenden Referenzpunkt steht die mit dem Perfekt ausgedrückte Situation im Verhältnis der Anteriorität, also in einer temporalen Beziehung zwischen dem Sachverhalt und dem späteren Bezugspunkt. Perfektiv im aspektuellen Sinn wäre eine Situation, die als solche begrenzt ist und als Totalität gesehen wird. Dies ist jedoch im Deutschen nicht einmal bei transformativen Verben möglich (vgl. Andersson 2011: 7): (1) dt.

Während sie das Haus abgerissen haben/hatten, haben/hatten sie die ganze Zeit auf Spuren der ursprünglichen Bauweise geachtet. (vgl. Andersson 2011: 7)

Wie das Beispiel zeigt, ist das Taxisschema Parallelität im Deutschen mit dem Perfektsystem realisierbar. Beim Erzählen in der Retrospektive kann Parallelität sogar durch das Plusquamperfekt ausgedrückt werden, wobei der Nachzustand nicht obligatorisch realisiert wird. Entscheidend dafür, ob eine Situation als perfektiv oder imperfektiv, abgegrenzt oder nicht abgegrenzt verstanden wird, ist also der Kontext: Perfektiver Aspekt ist in dem Subsystem des Perfekts und Plusquamperfekts also nicht einmal in dem Sub-Subsystem ʽPerfekt und Plusquamperfekt bei transformativer Propositionʼ festgelegt. (Andersson 2011: 8)

Auch eine Aufteilung des Verbparadigmas des Deutschen in „Verlaufsstufe“ (Präsens und Präteritum) und „Vollzugsstufe“ (Perfekt und Plus-

276

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

quamperfekt)41 hat laut Andersson (2011: 8–9) trotz der aspektträchtig anmutenden Benennungen nichts mit dem Aspekt zu tun. Da das Merkmal der sogenannten „Vollzugsstufe“ ʽfrüher liegend im Verhältnis zu einem Zeitpunktʼ ist, müsste sie eigentlich dementsprechend Vorzeitigkeitsstufe genannt werden. Wenn sich das Präteritum wirklich einer „Verlaufsstufe“ zurechnen ließe, müsste zum Beispiel er öffnete die Tür immer die Handlung in ihrem Verlauf bezeichnen, ähnlich wie en. he was opening the door (vgl. Andersson 2011: 9). Mit dem Präteritum können jedoch auch begrenzte und ganzheitlich betrachtete Situationen ausgedrückt werden, zum Beispiel auch aufeinanderfolgende Handlungen: (2) dt.

Er öffnete die Tür und trat hinaus.

Auf die Frage nach dem Aspekt im Deutschen gibt Andersson eine Antwort, die unserer für die romanischen Sprachen gegebenen sehr ähnelt: Im Deutschen gibt es keinen Aspekt als grammatische Kategorie, wohl aber Aspektualität als funktional-semantische, konzeptuelle Kategorie, die sich auch im grammatischen System als verdeckte Kategorie, wenn auch peripher, auswirkt. (Andersson 2011: 10)

Noch weniger als in den romanischen Sprachen ist also im Deutschen der Aspekt als vordergründige, systematische Kategorie ausgeprägt. Der onomasiologische und textuelle Aspektansatz, den Andersson im Anschluss an Bierwisch als nicht linguistisch genug dargestellt hatte, eignet sich allerdings vorzüglich zur kontrastiven und translationslinguistischen Zwecken. Man könnte auf diese Weise untersuchen, wie im Deutschen das in einer Aspektsprache durch die grammatische Aspektkategorie Ausgedrückte vermittelt wird. Es wären also Mittel für die Realisierung der zentralen Opposition der onomasiologischen Kategorie der Aspektualität ʽHandlung im Verlaufʼ/ʽHandlung in ihrer Totalitätʼ zu betrachten und im Hinblick auf ihre Systematizität und innere Strukturiertheit zu untersuchen (Andersson 2011: 3). Dem Übersetzungsvergleich als Verfahren innerhalb der synchron vergleichenden Sprachwissenschaft ist vorgeworfen worden, dass er weder die Zufälligkeit der ihm zugrundeliegenden Korpora noch die Transferenz ausgangssprachlicher Verbalisierungen in die Zielsprachen ausschließen kann. In gewissem Sinne lassen sich die Gefahren, die sich aus diesen beiden Ausgangsbedingungen ergeben, jedoch ins Positive wenden. Gerade weil der Übersetzer (zumindest eines literarischen Textes) das Ziel hat, einen in der Zielsprache eigenständig rezipierbaren und ästhetisch wertvollen Text zu schaffen, muss er kategorial bedingte Verbalisierungspräferenzen der Ausgangssprache auflösen und dabei möglicherweise andere _____________ 41

Diese Aufteilung des deutschen Verbparadigmas in eine „Verlaufsstufe“ und eine „Vollzugsstufe“ ist von Brinkmann (1971) und Flämig (1971) übernommen.

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

277

Regularitäten herstellen. Gerade darin liegt das Interessante des Übersetzungsvergleichs für linguistische Zielstellungen, und nur um diese soll es im Folgenden gehen. Die Fülle der kulturhistorischen und kulturvergleichenden Bezüge, die in Mario Wandruszkas Arbeiten (1959, 1969, 1976, 1984, 1991, 1998) deutlich werden, können dabei nur partiell berücksichtigt werden. Wir wollen dabei nicht einfach – wie Andersson (2011: 3) es nahelegt – untersuchen, wie das in einer Aspektsprache durch die grammatische Aspektkategorie Ausgedrückte in Sprachen mit schwächerer Präsenz des grammatischen Aspekts vermittelt wird, sondern wir gehen von einem onomasiologischen tertium comparationis aus, das wir an alle verglichenen Sprachen anlegen. Als ein solches tertium comparationis betrachten wir die Funktion, die eine durch das Verb ausgedrückte Handlung durch Endpunkte begrenzt oder in einer Innensicht darstellt (Verkuyl 1993: XI). Die verschiedensten Spezialbedeutungen, die bei der Verarbeitung dieser Funktion in den einzelnen Sprachen durchaus im Vordergrund stehen mögen (z.B. Bondarko 1971, Coseriu 1976: 81–89), eignen sich schlecht als Ausgangspunkt für einen vergleichenden Ansatz. Coseriu (1976: 13) hat darauf hingewiesen, dass aspektuelle Bedeutungen nicht unbedingt auf derselben Ebene des Verbalsystems erscheinen. Sie können bereits an den Verbalbegriff als solchen gebunden sein, beim Erscheinen von Tempus obligatorisch auftreten, in einer zweiten Perspektive als periphrastisches System erscheinen oder noch weiteren Perspektiven vorbehalten sein. Auch der Terminus „funktionale Kategorie“ ist in diesem Zusammenhang möglicherweise erklärungsbedürftig. Es soll damit der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Funktionen, die in bestimmten Sprachen Kategorien42 darstellen, auch als sekundäre Nebenbedeutungen anderer Kategorien oder als Kombinationen von lexikalischer und grammatischer Bedeutung gegeben sein können. Die Komplexität der funktionalen Kategorien des Verbs erweist sich beim Übersetzen aus romanischen Sprachen ins Deutsche immer wieder als Problem.43 Kommentare und Übersichten dazu fehlen in guten Einführungen in die Übersetzungswissenschaft nicht, es ist jedoch nicht möglich, direkte Korrespondenzen zwischen den Verbalsystemen des Deutschen, Englischen, Französischen und Spanischen herzustellen, wie die Übersichtstabelle in García Yebra (1997: 147) es nahelegt: _____________ 42

43

Coseriu (1976: 71): „Die grammatischen Kategorien sind Typen oder Arten von Funktionen, in bezug auf welche die in einer Sprache funktionierenden Oppositionen eintreten, die allgemeinen Begriffe, die die Oppositionen betreffen, also die Arten der Unterschiede, die die Oppositionen der Wortformen (und Wortkonstruktionen) darstellen.“ Eine kontrastive Untersuchung zum Deutschen und zum Französischen liefert Confais (2002 [1990]).

278

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

deutsch Präsens

englisch Present

französisch Présent

Präteritum

Present continuous Simple Past

spanisch Presente (Presente continuo)

Imparfait

Imperfecto (Imperfecto continuo) Pret. perf. simple (Pret. perf. simple cont.) Pret. perf. compuesto (Pret. perf. comp. contin.) Pluscuamperfecto Pluscuamperf. continuo Pretérito anterior

Past continuous Passé simple

Perfekt

Present perfect

Passé composé

Plusquamperfekt

Past perfect Past perfect continuous

Plus-que-parfait

Passé antérieur

Wenn ein Übersetzer diesem Schema vertraute, würde er unter anderem die Folgen des Fehlens grammatisch-systematischer Züge des Aspekts im Deutschen verkennen. Das Präteritum und das Perfekt stehen nicht in aspektueller Opposition zueinander, in der Mehrzahl ihrer Verwendungen unterscheiden sie sich vielmehr durch stilistische und diatopische Merkmale. Dementsprechend würde die mechanische Übersetzung des Präteritums mit dem imparfait bzw. dem imperfecto und des Perfekts mit dem passé composé oder dem pretérito perfecto compuesto nicht nur die gewünschte Reliefgebung verfehlen, sondern wahrscheinlich auch zu grammatisch falschen Sätzen führen. Zwischen dem passé simple und dem pretérito perfecto simple besteht zwar aspektuelle und temporale Korrespondenz, aber ein Verkennen ihrer grundlegenden diaphasischen Differenz und der Einschränkungen im Gebrauch des passé simple würde zu nicht akzeptablen Äußerungen führen. Die mit dieser Tabelle schematisch veranschaulichten Verhältnisse einer stärkeren Differenzierung auf der Seite der romanischen Sprachen legen nahe, dass beim Übersetzen aus der aspektuell wenig differenzierten deutschen Sprache in eine romanische Angaben über Handlungsverläufe hinzuerfunden werden, wenn sie obligatorisch ausgedrückt werden müssen. Betrachten wir diese notwendige aspektuelle Überspezifizierung zunächst am Beispiel einer französischen Übersetzung von Franz Kafkas Verwandlung (1912).

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

279

3.5.2. Thematisch erwartungsgesteuerter Vergleich Original-Übersetzung Warum gerade dieser Text einen idealen Ausgangspunkt für einen textbasierten Vergleich zur Aspektualität bildet, liegt auf der Hand. Von der Erzählung der alltäglichen, realen Welt des Kleinbürgermilieus hebt sich ein einziges, ganzheitlich erlebtes und zur Voraussetzung des weiteren Geschehens werdendes Ereignis ab: die Metamorphose Gregor Samsas zum Insekt. Es schließt sich eine langsame Verwandlung der Familie an, in deren Ergebnis Gregor schließlich ausgestoßen wird. Mir erscheint es gerechtfertigt, bei der Betrachtung solcher Texte mit vorher feststehenden Zielen von thematisch erwartungsgesteuertem Textvergleich zu sprechen. Die Hypothese einer notwendigen Überspezifizierung der Aspektualität beim Übersetzen vom Deutschen ins Französische findet sich gleich im ersten Abschnitt der Verwandlung/Métamorphose bestätigt: (3) dt.

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, einen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. (Kafka 1983: 112)

(3) fr.

En se réveillant un matin après des rêves agités, Gregor Samsa se retrouva, dans son lit, métamorphosé en un monstrueux insecte. Il était sur le dos, un dos aussi dur qu’une carapace, et, en relevant un peu la tête, il vit, bombé, brun, cloisonné par des arceaux plus rigides, son abdomen sur le haut duquel la couverture, prête à glisser tout à fait, ne tenait plus qu’à peine. Ses nombreuses pattes, lamentablement grêles par comparaison avec la corpulence qu’il avait par ailleur, grouillaient désespérément sous ses yeux. (Kafka/Lortholary 1988: 23)

Die resultative Konstruktion, die bei Kafka zur Bezeichnung des Schlüsselereignisses steht, findet sich in der Übersetzung als se retrouva métamorphosé en un monstrueux insecte wieder. Der Gemeinsamkeit in der aus der lexikalischen Bedeutung des Verbs finden/retrouver ersichtlichen Aktionsart steht jedoch bereits hier ein aspektueller Unterschied gegenüber. Während bei Kafka die Möglichkeit eines allmählichen Sich-Findens zumindest offenbleibt, steht in der Übersetzung der Prozess als Ganzes mit seinem Endpunkt vor Augen. Noch deutlicher wird die Überspezifizierung bei der aspektuellen Differenzierung der im Deutschen gleichermaßen im Präteritum verwendeten Verben lag und sah in der französischen Übersetzung: Il était sur le dos kennzeichnet einen anhaltenden Zustand, während mit il vit nicht ein ebenso anhaltendes betrachtendes Sehen, sondern ein plötzliches

280

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Erkennen der physischen Veränderung in ihrer ganzen Tragweite nahegelegt wird. Gerade der variationslose Gebrauch der Präteritumformen semantisch wenig komplexer Verben ist ein Charakteristikum der Erzählweise Kafkas, das in der französischen Übersetzung nicht beibehalten werden kann. In Beispiel (4) wird der Gleichklang von drei Präteritumformen aufgelöst in zwei passé-simple-Formen, zwischen denen ein imparfait steht. Diese Imperfektform unterstreicht den iterativen Charakter des Aufschlagens der Regentropfen, der natürlich auch dem deutschen Leser aufgrund seines Weltwissens zugänglich ist: (4) dt.

Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. (Kafka 1983: 112)

(4) fr.

Le regard de Gregor se tourna ensuite vers la fenêtre, et le temps maussade – on entendait les gouttes de pluie frapper le rebord de zinc – le rendit tout mélancolique. (Kafka/Lortholary 1988: 23)

Dabei handelt es sich zweifellos nicht um eine zufällige Entscheidung des Übersetzers. Die durchgängige Verwendung des imparfait würde in diesem Fall eine iterative Handlungsfolge nahelegen, die Verwendung des passé simple auch im eingeschobenen Satz ein plötzliches Wahrnehmen des Regens, der jedoch die Situation dauerhaft als Hintergrund begleiten soll. Offensichtlich genügen für eine angemessene Darstellung des Handlungsverlaufs im Deutschen kontextuelle Bezüge, auf Weltwissen basierte Verstehenspräferenzen und einige lexikalische Anhaltspunkte, wie dann für die Kennzeichnung der Aufeinanderfolge von Handlungen. Die größere Differenzierung der Verbformen im aspektuellen Bereich fordert dagegen im Französischen die Verwendung der spezifischen Form, die mit anderen kontrastiert. Beispiele einer im Originaltext nicht vorhandenen aspektuellen Kontrastierung, die durch die sprachlichen Voraussetzungen im Französischen erzwungen wird, finden sich in der Kafka-Übersetzung erwartungsgemäß gehäuft. Besonders interessant an Beispiel (5) erscheint, dass der lexikalische Ausdruck der Iterativität in Er versuchte es wohl hundertmal im Französischen zwar beibehalten wird, durch die Verwendung der passé simple-Form des Modalverbs aber zugleich die Abgeschlossenheit der Handlungsfolge unterstrichen wird: (5) dt.

Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloß die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann. (Kafka 1983: 113)

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

(5) fr.

281

Quelque énergie qu’il mît à se jeter sur le côté droit, il tanguait et retombait à chaque fois sur le dos. Il dut bien l’essayer cent fois, fermant les yeux pour ne pas s’imposer le spectacle de ses pattes en train de gigoter. et il ne renonça que lorsqu’il commença à sentir sur le flanc une petite douleur sourde qu’il n’avait jamais éprouvée. (Kafka/Lortholary 1988: 24)

Die epistemische Modalität als solche war im Deutschen auch nicht wie in der Übersetzung durch eine Periphrase (Il dut bien l’essayer cent fois), sondern adverbial durch wohl ausgedrückt worden. Auf verstärkte Differenzierungsnotwendigkeiten im Französischen verweist auch die formal analog gebildete inchoative Periphrase zu fühlen begann/commença à sentir. Während die lexikalische Benennung der Handlung gleichermaßen mit dem Infinitiv (fühlen/sentir) erfolgt und das finite Verb ebenso analog die Anfangsphase dieser Handlung bezeichnet, besteht in der aspektuellen Sicht im Französischen durch die Verwendung des passé simple Eindeutigkeit. Das Beispiel deutet darauf hin, dass es sinnvoll sein kann, gerade im periphrastischen Bereich zwischen Aspekt und Aktionsart zu unterscheiden. In Beispiel (6) lässt die Häufung von adverbialen Benennungen des langsamen und vorsichtigen Handlungsverlaufs auf dem Hintergrund der aspektuellen Indifferenz durchaus eine prozessuale Lesart zu, die in der Übersetzung, bedingt durch den klaren Ausdruck der Handlungsfolge, mit der Wahl des passé simple jedoch aufgegeben wird: (6) dt.

Er versuchte es daher, ZUERST den Oberkörper aus dem Bett zu bekommen, und drehte VORSICHTIG den Kopf dem Bettrand zu. Dies gelang auch leicht, und trotz ihrer Breite und Schwere folgte SCHLIEßLICH die Körpermasse LANGSAM der Wendung des Kopfes. (Kafka 1983: 116)

(6) fr.

Il essaya donc de commencer par extraire du lit le haut de son corps, et il tourna PRUDEMMENT la tête vers le bord. Cela marcha d’ailleurs sans difficulté, et FINALEMENT la masse de son corps, en dépit de sa largeur et de son poids, suivit LENTEMENT la rotation de la tête. (Kafka/Lortholary 1988: 2829)

Die Bestimmung der Reihenfolge, die im deutschen Text adverbial erfolgte (zuerst, schließlich), bedient sich im Französischen auch der gegebenen periphrastischen Möglichkeiten (commencer par extraire). Als Ergebnis des thematisch erwartungsgesteuerten Übersetzungsvergleichs ließe sich festhalten, dass bei einem Differenzierungsanstieg von der Ausgangssprache zur Zielsprache Überspezifizierung erfolgt, die ihrerseits eine Einschränkung der möglichen Lesarten zur Folge haben kann. Letztere Aussage ist selbstverständlich dahingehend zu überprüfen, ob nicht schon im Ausgangstext eine entsprechende Einschränkung durch andere Mittel als verbale Kategorien, also etwa durch Adverbien vorgegeben ist.

282

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Differenzierungsanstieg Folge für Text der Übersetzung Ø Überspezifizierung Ø möglicherweise Einschränkung der Lesarten

Ausgangssprache Präteritum

Zielsprache Imparfait vs. passé simple, p. composé Periphrasen

Dass sich der umgekehrte Fall bei einem Differenzierungsgefälle zwischen Ausgangs- und Zielsprache im aspektuellen Bereich durchaus feststellen lässt, soll zunächst am Beispiel des Anfangs einer deutschen Übersetzung der Misterios de Madrid von Antonio Muñoz Molina gezeigt werden: (7) sp.

Daban las once de la noche en el reloj de la plaza del General Orduña, ahora de Andalucía, cuando Lorencito Quesada, corresponsal en nuestra ciudad de Singladura, el diario de la provincia, se detuvo ante la puerta de la sacristía del Salvador, en un callejón a espaldas de la plaza Vázquez de Molina, sin atreverse a golpear el llamador, aunque había luz dentro y sabía que lo estaban esperando. (Muñoz Molina 1992: 7)

(7) sp.

Genau elf Uhr schlug es gerade an der Plaza del General Orduña, der heutigen Plaza de Andalucía, als Lorencito Quesada, der in unserer Stadt ansässige Korrespondent des Provinzblatts Singladura., in einer Gasse hinter der Plaza Vázquez de Molina vor der Tür der Sakristei der Erlöserkirche stehenblieb und sich nicht traute, den Türklopfer zu betätigen, obwohl drinnen Licht war und er wußte, daß man ihn erwartete. (Muñoz Molina/ Hofmann 1995: 9)

Im Spanischen finden wir hier den in Grammatiken dargestellten typischen Fall eines Inzidenzschemas: eine Verbalhandlung wird im Verlauf dargestellt, d.h. Spanisch im imperfecto (daban), eine zweite, punktuell und perfektiv betrachtete kommt hinzu und steht im pretérito perfecto simple (se detuvo). Im Deutschen fehlt diese Differenzierung im Verbalbereich, das im Verlauf befindlich-Sein der Handlung wird lexikalisch ausgedrückt. Dennoch ergibt sich gerade durch die durchgängige Verwendung des Präteritums im Deutschen zu Beginn der Eindruck einer gewissen aspektuellen und temporalen Unschärfe. Schlug die Uhr noch, als Quesada stehenblieb, traute er sich erst dann nicht, zu klopfen, als er stehengeblie-

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Aspektualität in literarischen Übersetzungen

ben war, hatte das Licht schon vorher gebrannt? Betrachten wir nur die Entsprechungen der Verbformen im spanischen und im deutschen Text, so ergibt sich für die ersten Zeilen folgendes Bild: dabanimpf (las once) se detuvopps sin atreverseinf. a golpear habíaimpf. luz sabíaimpf. estabanimpf. esperandoGerund

schlug es stehenblieb sich nicht traute, den Türklopfer zu betätigen Licht war wußte erwartete

Vier verschiedenartigen Verbformen im Spanischen (imperfecto, perfecto simple, Infinitiv mit Präposition und schließlich aspektuelle Verbalperiphrase) steht hier im Deutschen eine einzige, das Präteritum, gegenüber. Die extreme Reduzierung der aspektuellen und temporalen Möglichkeiten im Verbalbereich im Deutschen wird teilweise durch lexikalische ausgeglichen: das Adverb gerade, die Aktionsartbedeutung von erwarten gegenüber warten (die allerdings zu einer anderen Bedeutung führt als die durative Periphrase estaban esperando), den Türklopfer betätigen statt einfach klopfen. Auch die Wortstellung kann dazu beitragen, von den Verbformen nicht vermitteltes auszugleichen: Genau elf Uhr schlug es gerade (nicht: Es schlug gerade elf Uhr). Differenzierungsgefälle

Ausgangssprache

Zielsprache

imperfecto, perfecto simple, Infinitiv + Präp. , aspektuelle Verbalperiphrase

Präteritum

Folge für Text der Übersetzung Ø

aspektuelle und temporale Unschärfe

Ø

lexikalischer und syntaktischer Ausgleich

Im Folgenden soll der Umgang mit Markierungen der Aspektualität bei einem Differenzierungsgefälle von der Ausgangssprache Französisch zur Zielsprache Deutsch an der Novelle Sarrasine (1831) von Balzac, an Le grand voyage (1963; dt. Die große Reise, 1964) von Jorge Semprún und Les mains sales (1948; dt. Die schmutzigen Hände) von Jean-Paul Sartre gezeigt

284

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

werden. Auf quantitative Auswertungen wird dabei verzichtet werden, es sollen jedoch Tendenzen in der Nutzung der zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel aufgezeigt werden. Bei der Übersetzung ins Deutsche, das weniger Ausdrucksmittel im Bereich des Verbalaspekts hat, stehen dem Übersetzer neben den Aktionsarten vor allem Adverbien zur Vermittlung aspektueller Markierungen der Ausgangssprache zur Verfügung. Betrachten wir zunächst die Übersetzung von Sätzen mit den Verbformen imparfait, passé simple und passé composé in Balzacs Sarrasine ins Deutsche. Der Übersetzer hat sich hier offensichtlich ausschließlich von der äußeren Form der einfachen oder zusammengesetzten Verbformen leiten lassen. So hat er das imparfait fast durchweg mit dem Präteritum wiedergegeben (8 bis 10) und auch für das passé simple diese aspektuell unmarkierte Verbform gewählt (11 bis 13). Für das passé composé steht hingegen fast durchweg das zusammengesetzte Perfekt (14 bis 16), das aspektuell ebenso unmarkiert ist, jedoch dem nähesprachlichen Charakter der bei Balzac auftretenden Sätze mit dem passé composé besser entspricht. Die aspektuelle Markiertheit durch Verbformen geht im deutschen Text damit verloren. Natürlich kann der Übersetzer auf das Weltwissen der zielsprachlichen Leser bauen, das es ihnen zum Beispiel erlaubt zu erkennen, dass das schwache Sich-Abheben der Bäume ein dauerhafter Zustand ist oder das Lächeln und das Sich-Trennen aufeinanderfolgende abgeschlossene Handlungen sind: Honoré de Balzac, Sarrasine (1830): (8) fr. Les arbres, […] se détachaient faiblement... (Balzac: 35) (9) fr. Assis dans l’embrasure d’une fenêtre, […] je pouvais contempler à mon aise le jardin de l’hôtel où je passais le soirée. (Balzac: 35) (10) fr. […] ils ressemblaient vaguement à des spectres[...] (Balzac: 35) (11) fr. Elle sourit, et nous nous sépa râmes [...] (Balzac: 52) (12) fr. Un peu! Dit la marquise. (Bal zac: 64) (13) fr. Bientôt l’exagération naturelle aux gens de la haute société fit naître et accumuler les idées les plus plaisantes […] (Balzac: 40).

(8) dt. Die […] Bäume hoben sich schwach von dem graugetönten Hin tergrund ab. (Balzac/Hoch: 217). (9) dt. In einer Fensternische sitzend, [...] konnte ich nach Belieben der Garten der Villa betrachten, in deren Räumen ich den Abend verbrachte. (Balzac/Hoch: 217). (10) dt. In dieser phantastischen Umge bung schienen sie irgendwie... (Balzac/Hoch: 217) (11) dt. Sie lächelte und wir trennten uns, […] (Balzac/Hoch: 229) (12) dt. Ein wenig nur! Sagte die Mar quise. (Balzac/Hoch: 238) (13) dt. Bald ließ die bei Leuten aus ferner Gesellschaft so verbreitete Übertrei bungssucht die amüsantesten Ideen, […] aufkommen. (Balzac/Hoch: 220).

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

(14) fr. Je n‘ai consenti à vous tromper que pour faire plaisir à mes camarades, […] (Balzac: 75) (15) fr. […] tu m’as dépeuplé la terre de toutes ses femmes. (Balzac: 76) (16) fr. J’ai conçu trop de respect pour ton caractère pour me livrer ainsi. (Balzac: 67)

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(14) dt. Ich habe mich zu dieser Täuschung nur meinen Freunden zuliebe hergegeben, […] (Balzac/Hoch: 247) (15) dt. […] du hast für mich die Erde von allen Frauen entvölkert. (Balzac/Hoch: 247) (16) dt. Ich habe zu viel Achtung vor deinem Charakter gewonnen, als dass ich mich so preisgeben könnte. (Balzac/Hoch: 240)

Eine von dieser schematischen Übersetzung abweichende Lösung hat der Übersetzer in einigen Fällen gewählt. So übersetzt er zum Beispiel il n’a jamais voulu in Satz (17) mit daß noch nicht einmal seine Aufwartung in meinem Hause machen wollte und trägt damit den Charakter des narrativen Textes Rechnung, in dem im Deutschen das Präteritum vorherrscht: (17) fr.

Eh bien, il a si peu de reconnaissance du service que je lui ai rendu, qu’il n’a jamais voulu remettre les pieds chez moi. (Balzac 1995 [1830]: 74)

(17) dt.

Wohlan, er zeigt sich für den Dienst, den ich ihm erwiesen habe, so wenig erkenntlich, daß er noch nicht einmal seine Aufwartung in meinem Hause machen wollte. (Balzac/Hoch: 245)

Auch in verblosen Satzteilen wird gelegentlich das Präteritum in der deutschen Übersetzung eingefügt: (18) fr. (18) dt.

Moi, sur la frontière de ces deux tableaux si disparates, […] (Balzac 1995 [1830]: 36). Ich selbst, der ich mich auf der Grenze zwischen zwei so ungleichen Bildern

befand, […] (Balzac/Hoch: 217).

Für die Übersetzung von Verbalperiphrasen treten auch Adverbien auf: (19) fr.

Minuit venait de sonner à l'horloge... (Balzac 1995 [1830]: 35)

(19) dt.

Die Uhr des Elysée-Bourbon hatte (Balzac/Hoch: 217)

GERADE

Mitternacht geschlagen.

In Les mains sales von Jean-Paul Sartre dominiert dagegen deutlich das passé composé und wird auch zumeist mit dem deutschen Perfekt übersetzt: (20) fr.

J’ai lutté, je me suis humilié, j’ai tout fait pour qu’ils oublient, je leur ai répété que je les aimais, que je les enviais, que je les admirais. (Sartre 2005 [1948]): 284)

(20) dt.

Ich habe gekämpft, ich habe mich demütigen lassen, ich habe alles getan, damit sie es vergessen, immer wieder habe ich ihnen gesagt, ich liebe euch, ich bewundere euch, ich beneide euch. (Sartre/Baerlocher: 56)

286

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Das Präteritum wird jedoch nicht schematisch für die Wiedergabe des imparfait genutzt. So findet sich das Perfekt, wenn es sich um nähesprachliche Äußerungen handelt: (21) fr.

Et vous disiez: il s’en est bien tiré, il a fait sa besogne proprement et sans compromettre personne. (Sartre 2005 [1948]): 250)

(21) dt.

Und dann habt ihr gesagt: Gut hat er seine Sache gemacht, den Auftrag sauber erledigt, keinen verpfiffen. (Sartre/Baerlocher: 15)

Für die Wiedergabe des narrativen imparfait verwendet die Übersetzerin durchweg das Präteritum: (22) fr.

Ils arrivaient la nuit sur leurs vélos, […] ils s’asseyaient autour de la table, Louis bourrait sa pipe et quelqu’un disait : [...] (Sartre 2005 [1948]): 250)

(22) dt.

Sie kamen nachts auf ihren Fahrrädern an, […] setzen sich um den Tisch, Louis stopfte seine Pfeife, und einer sagte dann: [...] (Sartre/Baerlocher: 14)

In der Übertragung imperfektiver Aspektualität werden in der deutschen Übersetzung auch präpositionale Wortgruppen verwendet, die das Andauern einer Handlung kennzeichnen: (23) fr.

En principe, elles traversaient pour aller en Hongrie. (Sartre 2005 [1948]): 250)

(23) dt.

Eigentlich waren sie 14)

AUF

DURCHMARSCH nach Ungarn. (Sartre/Baerlocher:

Verbalperiphrasen werden in der deutschen Übersetzung durchweg mit Adverbien wiedergegeben: (24) fr.

As-tu fini par comprendre ? (Sartre 2005 [1948]): 257)

(24) fr.

Hast du es SCHLIEßLICH begriffen? (Sartre/Baerlocher: 23)

(25) fr.

Hugo finit par lui arracher le revolver pendant que le rideau tombe et qu’elle crie. (Sartre 2005 [1948]): 293)

(25) fr.

Hugo entwindet ihr SCHLIEßLICH den Revolver, während der Vorhang fällt und sie schreit. (Sartre/Baerlocher: 67)

(26) fr.

[…] que les troupes allemandes sont en train de perdre la guerre ? (Sartre 2005 [1948]): 307)

(26) dt.

[...] und die deutschen Truppen (Sartre/Baerlocher: 84)

(27) fr.

il a bien failli me prendre à son piège. (Sartre 2005 [1948]): 345)

(27) dt.

Aber er, er hätte mich 132)

BEINAHE

DABEI

sind, den Krieg zu verlieren?

in seine Falle gelockt. (Sartre/Baerlocher:

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

287

Insgesamt ist die Wiedergabe der Aspektualität in der deutschen Übersetzung von Les mains sales sehr systematisch vorgenommen worden, wobei auf alle Ebenen des Ausdrucks von aspektuellen Merkmalen im Deutschen zurückgegriffen wurde. Es liegt nahe, hier von einer Bewusstheit der Gestaltung der aspektuellen Verhältnisse im Zieltext auszugehen. In der Übersetzung von Le grand voyage von Semprún fällt auf, dass die imparfait-Formen weitgehend mit dem Präteritum wiedergegeben wurden: (28) fr.

Nous vivions toutes choses à travers les livres. (Semprún 1999 [1963]: 36)

(28) dt.

Alles erlebten wir nur durch Bücher. (Semprún/Christaller: 34)

Jedoch auch im passé composé erscheinende Verbformen werden im Deutschen häufig mit dem Präteritum übersetzt. Diese Entscheidung des Übersetzers scheint aus stilistischen Erwägungen erklärbar. Eine Häufung von Perfektformen im deutschen Text könnte diesem einen umgangssprachlichen Charakter geben: (29) fr.

Il a été pris dans une raffle générale, quand les allemands ont voulu nettoyer la région. (Semprún 1999 [1963]: 31)

(29) dt.

Bei einer Razzia, als die Deutschen die Gegend säubern wollten, wurde er festgenommen. (Semprún/Christaller: 28)

(30) fr.

Il a essuyé le sang sur son visage et son visage était celui de la haine. (Semprún 1999 [1963]: 33)

(30) dt.

Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht, und auf diesem Gesicht lag Haß. (Semprún/Christaller: 30)

(31) fr.

L’évasion a raté. (Semprún 1999 [1963]: 33)

(31) dt.

Aus der Flucht wurde nichts. (Semprún/Christaller: 30)

Auffällig ist außerdem, dass im deutschen Text an einigen Stellen das Plusquamperfekt erscheint, womit eine weiter zurückliegende temporale Ebene eingeführt wird: (32) fr.

Le gars de Semur m’a regardé et je lui ai fait oui de la tête. (Semprún 1999 [1963]: 32)

(32) dt.

Der junge aus Semur hatte mich angeschaut, und ich hatte ihm zugenickt. (Semprún/Christaller: 29)

(33) fr.

Mais cette phrase-là a soulevé un concert de protestations. (Semprún 1999 [1963]: 32)

(33) dt.

Aber da hatte sich ein Sturm der Entrüstung erhoben. (Semprún/Christaller: 29)

Mit der Nutzung des Plusquamperfekts wird zugleich verdeutlicht, dass die bezeichneten Handlungen vor einem Referenzpunkt in der Vergan-

288

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

genheit abgeschlossen sein mussten. Damit wird bis zu einem gewissen Grade auch die Aspektualität der Verbform passé composé beibehalten. Wie wir gesehen haben, waren die Strategien der Übersetzer im Umgang mit der Aspektualität in den drei französischen Texten sehr unterschiedlich. Während bei der Übersetzung des Balzac-Textes lediglich formale Kriterien eine Rolle spielten, nutzte die Übersetzerin des Textes von Sartre die aspektuellen Möglichkeiten des Deutschen systematisch. In der Übersetzung des Textes von Semprún spielte offensichtlich die Wahrung der stilistischen Invarianz eine übergeordnete Rolle. Diese Analyse beabsichtigte keine Übersetzungskritik, sondern lediglich einen Überblick über Möglichkeiten des Umgangs mit mehr oder weniger stark grammatikalisierten Mitteln der Aspektualität. Es wurde deutlich, dass in allen Sprachen Möglichkeiten des Ausdrucks von Aspektualität bestehen. Wenn wir unsere Analyse auf die Verben beschränken würden, wäre bei der Übersetzung ins Deutsche in jedem Fall ein Differenzierungsgefälle beim Ausdruck der Aspektualität festzustellen. 3.5.3. Vergleich mehrerer Übersetzungen eines Textes in dieselbe Zielsprache Wenn in den bisherigen Beispielen der erwartungsgesteuerte bilaterale Übersetzungsvergleich jeweils nur an einem Textpaar durchgeführt wurde, so bietet der Vergleich mit mehreren Übersetzungen desselben Textes in eine Zielsprache Korrekturmöglichkeiten. Versuchen wir also individuelle Entscheidungen des einzelnen Übersetzers weitgehend auszuschließen und überprüfen wir die Hypothese der Notwendigkeit aspektueller Überspezifizierungen beim Übersetzen vom Deutschen ins Französische anhand mehrerer französischer Übersetzungen von Goethes Die Leiden des jungen Werther. Ziel einer solchen Untersuchung könnten durchaus quantitative Aussagen zur Verwendung einzelner Verbformen als Entsprechungen des deutschen Präteritums in spezifischen Kontexten sein. Wir beschränken uns hier jedoch auf die Betrachtung einiger Beispiele, die gerade die Wege der textuell-semantischen Spezifizierung illustrieren sollen. Beispiel (34) stellt einen gesamten Brief dar, in dem im ersten Abschnitt gewohnheitsgemäße und wiederholte Verhaltensweisen dargestellt werden, im letzten Abschnitt dagegen ein konkretes Ereignis: Werther trifft ein Dienstmädchen am Brunnen und hilft ihm. In beiden Fällen wird das Präteritum verwendet, das im deutschen Text mit einer Perfektform kontrastiert (was ich schon oft bemerkt habe), die ganz dem klassischen Gebrauch entsprechend eine abgeschlossene und an die Gegenwart heranreichende Folge von Handlungen bezeichnet.

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

(34) dt.

289

Die geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich, besonders die Kinder. Wie ich im Anfange mich zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte über dies und das, glaubten einige, ich wollte ihrer spotten, und fertigten mich wohl gar grob ab. Ich ließ mich das nicht verdrießen; nur fühlte ich, was ich schon oft bemerkt habe, auf das lebhafteste: Leute von einigem Stande werden sich immer in kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten sie, durch Annäherung zu verlieren; und dann gibt’s Flüchtlinge und üble Spaßvögel, die sich herabzulassen scheinen, um ihren Übermut dem armen Volke desto empfindlicher zu machen. Ich weiß wohl, daß wir nicht gleich sind, noch sein können; aber ich halte dafür, daß der, der nötig zu haben glaubt, vom sogenannten Pöbel sich zu entfernen, um den Respekt zu erhalten, ebenso tadelhaft ist als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde verbirgt, weil er zu unterliegen fürchtet. Letzthin kam ich zum Brunnen und fand ein junges Dienstmädchen, das ihr Gefäß auf die unterste Treppe gesetzt hatte und sich umsah, ob keine Kamarädin kommen wollte, ihr es auf den Kopf zu helfen. Ich stieg hinunter und sah sie an. „Soll ich Ihr helfen, Jungfer?“ sagte ich. Sie ward rot über und über. „O nein, Herr!“ sagte sie. „Ohne Umstände.“ Sie legte ihren Kringen zurecht, und ich half ihr. Sie dankte und stieg hinauf. (Goethe 1966 [1774]: 10–11)

Die französischen Übersetzer verwenden erwartungsgemäß übereinstimmend im ersten Absatz überwiegend das imparfait und im letzten das passé simple. Sie folgen damit der Vereinbarkeit mit den kontextuell markierten Merkmalen ‛gewohnheitsmäßiges Verhalten’ bzw. ‛einmalige und als herausragend beschriebene Ereignisfolge’. Die Ereignisdarstellung gewinnt außerdem im letzten Abschnitt durch die Kontrastierung der Imperfektform cherchait des yeux une compagne gegen die im passé simple ausgedrückte Handlungsfolge an Relief. Die Übereinstimmung aller drei Übersetzungen in diesen Merkmalen kann sicher als deutlicher Hinweis auf systemhafte Regularitäten und Normen der Textgestaltung betrachtet werden. In anderen, insbesondere lexikalischen Merkmalen weichen die Übersetzungen durchaus erheblich voneinander ab, wobei der Übersetzung 3 offensichtlich die Übersetzung 2 als Hintergrund diente, dem jedoch weit nicht überall gefolgt wird: (34/1) fr. Les bonnes gens du pays me connaissent déjà et ils m’aiment bien, en particulier les enfants. Au début, lorsque je me joignais à eux et leur posais d’amicales questions sur tel ou tel sujet, quelques-uns croyaient que je voulais me moquer d’eux et il leur arrivait de m’éconduire fort grossièrement. Je ne me laissais [!] point rebuter, mais je sentais [!] de la façon la plus vive ce que j’ai déjà souvent remarqué [!]: les personnes d’un certain rang se tiennent toujours avec froideur à distance des gens du commun, comme s’ils croyaient perdre à leur contact ; et puis il est des êtres sans cervelle et de mauvais plaisants qui feignent la condescendance pour que leur arrogance ne soit ensuite que plus sensible aux pauvres gens.

290

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Je sais bien que nous ne sommes pas égaux, que nous ne pouvons pas l’être ; mais je soutiens que celui qui, pour maintenir le respect, croit nécessaire de s’éloigner de ce qu’on appelle le peuple, est tout aussi blâmable que le poltron qui devant l’ennemi se cache de peur d’avoir le dessous. Récemment, quand j’arrivai à la fontaine, je trouvai une jeune servante qui, sa cruche posée sur la dernière marche, cherchait des yeux une compagne capable de l’aider à la mettre sur sa tête. Je descendis et la regardai: « Puis-je vous être utile, mademoiselle? » demandai-je. Elle rougit jusqu’aux oreilles. « Oh! non, monsieur, dit-elle. – Sans façons » Elle arrangea son coussinet et je lui vins en aide. Elle me remercia, puis remonta les marches. (= Goethe/ Angelloz: 50/51) (34/2) fr. Les bonnes gens du hameau me connaissent déjà ; ils m’aiment beaucoup, surtout les enfants. Il y a peu de jours encore, quand je m’approchais d’eux, et que, d’un ton amical, je leur adressais quelque question, ils s’imaginaient que je voulais me moquer d’eux et me quittaient brusquement. Je ne m’en offensai [!] point, mais je sentis [!] plus vivement la vérité d’une observation que j’avais déjà faite [!]. Les hommes d’un certain rang se tiennent toujours à une froide distance de leurs inférieurs, comme s’ils craignaient de perdre beaucoup en se laissant approcher ; et il se trouve des étourdis et de mauvais plaisants qui n’ont l’air de descendre jusqu’au pauvre peuple qu’afin de le blesser encore davantage. Je sais bien que nous ne sommes pas égaux, que nous ne pouvons l’être ; mais j’estime que celui qui se croit obligé de se tenir éloigné de ce qu’on nomme la populace, pour s’en faire respecter, ne vaut pas mieux que le poltron qui, de peur de succomber, se cache devant son ennemi. Dernièrement je me rendis à la fontaine, j’y trouvai une jeune servante qui avait posé sa cruche sur la dernière marche de l‘escalier, elle cherchait des yeux une compagne qui l’aidât à mettre le vase sur sa tête. Je descendis, et je la regardai : « Voulez-vous que je vous aide, mademoiselle? » lui dis-je. Elle devint rouge comme le feu. « Oh! monsieur, répondit-elle... – Allons, sans façons ». Elle arrangea son coussinet et j’y posai la cruche. Elle me remercia, et remonta les marches. (= Goethe/Groethuysen: 37) (34/3) fr. Les gens modestes du pays me connaissent déjà ; ils m’aiment beaucoup, surtout les enfants. Il y a peu de jours encore, quand je m’approchais d‘eux et que d’un ton amical je leur adressais quelque question, ils s’imaginaient que je voulais me moquer d’eux, et me quittaient brusquement. Je ne m’en offensai [!] point, mais je sentis [!] plus vivement la vérité d’une observation que j’avais déjà faite [!]. Les hommes d’un certain rang se tiennent toujours à une froide distance de leurs inférieurs, comme s’ils craignaient de perdre beaucoup en approchant d’eux; et il se trouve des étourdis et des mauvais plaisants qui n’ont l’air de descendre jusqu’au pauvre peuple qu’afin de le blesser encore davantage. Je sais bien que nous ne sommes pas tous égaux, que nous ne pouvons l’être ; mais je soutiens que celui qui se croit obligé de se tenir éloigné de ce qu’on nomme le peuple, pour s’en faire respecter, ne vaut pas mieux que le poltron qui, de peur de succomber, se cache devant son ennemi. Dernièrement je me rendis à la fontaine, j‘y trouvai une jeune servante

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

291

qui avait posé sa cruche sur la dernière marche de l‘escalier, elle cherchait des yeux une compagne qui l’aidât à mettre le vase sur sa tête. Je descendis, et je la regardai : « Voulez-vous que je vous aide, mademoiselle? » lui dis-je. Elle devint rouge comme le feu. « Oh! monsieur, répondit-elle... – Allons, sans façons ». Elle arrangea son coussinet et j’y posai la cruche. Elle me remercia, et partit aussitôt. (= Goethe/Leroux: 46–47)

Interessant sind in unserem Zusammenhang die in den Texten mit Ausrufezeichen gekennzeichneten Fälle, in denen die Übersetzer den durch die aspektuelle Unspezifik des deutschen Präteritums eröffneten Deutungsspielraum unterschiedlich nutzten und zu gegensätzlichen Lösungen in der im Französischen notwendigen Überspezifizierung kamen. Dies betrifft die Übersetzung des Satzes Ich ließ mich das nicht verdrießen; nur fühlte ich, was ich schon oft bemerkt habe, auf das lebhafteste. Während die Übersetzung 1 das Präteritum von ließ und fühlte im Französischen ins Imperfekt transponiert und somit in die Reihe der wiederholt auftretenden Verhaltensweisen einordnet, wählen die Übersetzungen 2 und 3 das passé simple, das zumindest eine ganzheitliche, wenn nicht gar eine semelfaktive Deutung vorgibt. Im gleichen Satz wird das deutsche Perfekt vom ersten Übersetzer einfach in das französische passé composé transkodiert (j’ai déjà souvent remarqué), während es in der 2. und 3. Übersetzung allein schon aufgrund der Relation zum passé simple im Satz nicht passen würde. Auch der funktional ausgedehnte Gebrauch des passé composé im heutigen Französischen entspricht nicht dem bei Goethe vorauszusetzenden Sinn. Der genaue Ausdruck der Vorzeitigkeit erfordert hier des plus-que-parfait; außerdem wird der einfache Komplementierer was nicht zu ce que, sondern als Objekt von sentis erscheint eine komplexe Nominalgruppe mit zweifacher syntaktischer Unterordnung und erheblicher semantischer Überspezifizierung gegenüber dem deutschen Original: la vérité d’une observation que j’avais déjà faite. Als Entsprechung des Perfekts im deutschen Original wird das passé composé in den französischen Übersetzungen vor allem verwendet, um die Realität und Lebendigkeit einer vergangenen Handlung zu unterstreichen. Kontextuell tritt dabei ein Kontrast zum passé simple als der neutralen Erzählform von ganzheitlich dargestellten Handlungen auf. Aber auch in der Nutzung dieses Kontrasts verfahren die Übersetzer unterschiedlich, was mit Anlehnungen an den heutigen französischen Sprachgebrauch zusammenhängen mag, jedoch in der Verwendung des passé composé anstelle des passé simple gerade nicht typisch für neuere Goethe-Übersetzungen ist: (35) dt.

Aber ich habe sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte. [...] Vor wenigen Tagen traf ich einen jungen V. an, einen offenen Jungen mit einer gar glücklichen Gesichtsbildung. (Goethe 1966 [1774]: 12)

292

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

(35/1) fr. Mais je l’ai connue, j’ai senti ce cœur, cette âme noble, en présence de laquelle j’avais le sentiment d’être plus que dans la réalité, parce que j’étais tout ce que je pouvais être. [...] Il y a peu de jours, j’ai rencontré (!) un jeune homme du nom de V..., adolescent d’esprit ouvert et doté d’une très heureuse physionomie. (Goethe/Angelloz, 51/52) (35/2) fr. Mais je l’ai possédée, cette amie; j’ai senti ce cœur, cette grande âme, en présence de laquelle je croyais être plus que je n’étais, parce que j’étais tout ce que je pouvais être. [...] Je rencontrai (!), il y a quelques jours, le jeune V...Il a l’air franc et ouvert; sa physionomie est fort heureuse. (Goethe/ Groethuysen, 38/39), identisch in (Goethe/Leroux, 47/48).

Wenn der Vergleich mehrerer Übersetzungen in eine Zielsprache mit höherer Differenzierung innerhalb der betrachteten Kategorie Notwendigkeiten und Spielräume der Spezifizierung verdeutlichen kann, müsste im umgekehrten Fall eines Differenzierungsgefälles die im Ausgangstext enthaltene Verstehensvorgabe reduziert oder ein Ausgleich des Informationsverlustes mit anderen Mitteln erwartet werden. Wir werden diese Stufe für den bilateralen Vergleich überspringen und gleich Übersetzungen aus einer Sprache mit hoher und systematisch zwingender aspektueller Differenzierung in mehrere romanische Sprachen und ins Deutsche betrachten. 3.5.4. Vergleich der Übersetzungen eines Textes in mehrere Zielsprachen Als Ausgangstext soll für diesen Zweck Lev Tolstois Anna Karenina (1878) gewählt werden. Bei den Übersetzungen beschränken wir uns auf jeweils eine französische, eine spanische und eine deutsche. Eine häufige Korrespondenz zwischen dem Imperfekt in den romanischen Sprachen und dem imperfektiven Verb, das im Russischen in systematischer Aspektkorrelation steht, bestätigt sich erwartungsgemäß im Vergleich der Texte und soll hier nur durch die Beispiele unter (36) illustriert werden.44 In der deutschen Übersetzung wird das Präteritum verwendet, was durch den Kontext der Beschreibung einer familiären Situation unproblematisch ist: (36) ru. Жена не выходилаimpf. из своих комнат мужа третий день не было impf дома. (Tolstoj 1958 [1878]: 7) (36) fr.

La maîtresse de maison ne sortait plus de sa chambre ; le mari était absent depuis trois jours; (Tolstoj/Maurois: 17)

(36) sp. La esposa no salía de sus habitaciones. El marido no entraba allí en todo el día. (Tolstoj/Sureda: 9)

_____________ 44

Zur Wiedergabe russischer Verbkategorien im Französischen vgl. Kunert (1984).

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

293

(36) dt.

Die Frau des Hauses verließ ihre Zimmer nicht, der Hausherr war seit zwei Tagen nicht zu Hause gewesen. (Tolstoj/Asemissen: 5)

(36) dt.

Die Frau des Hauses kam nicht aus ihren Räumen, ihr Mann war den dritten Tag nie daheim. (Tolstoj/Tietze: 7)

Während Asemissen die zweite Handlung in diesem Beispiel durch die Verwendung des Plusquamperfekts sogar als zurückliegend markiert, verwendet Tietze in einer moderneren (war seit zwei Tagen nicht zu Hause gewesen) Übersetzung die Konstruktion war den dritten Tag nie daheim, die ein Andauern der Situation nahelegt. Ebenso regelmäßig findet sich die Wiedergabe perfektiver russischer Verbformen mit dem einfachen Perfekt in den romanischen Sprachen, während in beiden deutschen Übersetzungen das Präteritum verwendet wird: (37) ru. «Там видно будет, сказалpf. себе Степан Аркадьич и, вставpf.Adverbialpartizip, наделpf. серый халат на голубой шёлковой подкладке, закинулpf. кисти узлом и, вдоволь забравpf.Adverbialpartizip воздуха в свой широкий грудной ящик, привычным бодрым шагом вывернутых ног, так легко носивших его полное тело, подошёлpf. к окну, поднялpf. стору и громко позвонилpf.. (Tolstoj 1958 [1878]: 10) (37) fr.

« Plus tard, je verrai! » se dit Stépan Arkadevitch. Se levant, il endossa une robe de chambre grise doublée de soie bleu clair, noua la ceinture, et faisant provision d’air dans sa large poitrine, de son pas habituel, ferme sur les jarrets musclés, malgré le poids de son corps puissant, il s’approcha de la fenêtre, souleva le store et sonna très fort. (Tolstoj/Maurois: 21)

(37) sp. «Ya veremos – murmuró, levantándose –. El tiempo todo le resuelve.»45 Se puso la bata gris con forros de seda azul y ató los cordones, respiró hondo hasta llenar de aire los pulmones con lo que se dilató aún más su ancha caja torácica; y, andando con aquel paso firme y ligero que quitaba a su recio cuerpo toda aparencia de falta de agilidad, llegóse a la ventana, separó las cortinas y tiró con fuerza del cordón de la campanilla. (Tolstoj/Sureda: 12) (37) dt.

Dann werden wir weitersehen, sagte Stepan Arkadjitsch, während er seinen grauen, mit blauer Seide gefütterten Schlafrock anzog und den an den Enden mit Troddeln versehenen Gürtel zu einer Schleife zusammenband; dann sog er die Luft mit Behagen in seinen breiten Brustkorb, ging mit seinen nach außen gekehrten Füßen, die seinen Körper so elastisch trugen, forschen Schrittes ans Fenster, zog den Vorhang zurück und setzte energisch die Klingel in Bewegung. (Tolstoj/Asemissen: 9)

_____________ 45

Der in der spanischen Übersetzung auffällige Zusatz El tiempo todo le resuelve ist schwer erklärbar und im Grunde redundant. Möglicherweise erschien dem Übersetzer die konventionelle Verbalisierung mit Ya veremos nicht expressiv genug.

294 (37) dt.

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

›Wird sich schon weisen‹, sagte sich Stepan Arkadjitsch, stand auf, schlüpfte in den grauen Morgenrock mit dem himmelblauen Seidenfutter, band den Quastengürtel zur Schleife, sog tief die Luft in seinen breiten Brustkasten, und auf den ausgestellten Füßen, die so leicht seinen fülligen Leib trugen, ging er gewohnten, munteren Schrittes zum Fenster, zog den Vorhang auf und läutete laut. (Tolstoj/Tietze: 11–12).

Auf größere systematische Schwierigkeiten trifft offensichtlich die Wiedergabe der Adverbialpartizipien der Vorzeitigkeit, die im Russischen genauso Perfektivität ausdrücken und die Aufeinanderfolge der Handlungen unterstreichen. Weder in der französischen noch in der spanischen Übersetzung findet sich jedoch diese Funktion berücksichtigt, die Übersetzer behalten vielmehr das formal-syntaktische Kriterium bei. Da es ein analoges Adverbialpartizip nicht gibt, wird das Partizip Präsens verwendet, das gerade nicht Abgeschlossenheit und Vorzeitigkeit, sondern Gleichzeitigkeit mit der vom finiten Verb bezeichneten Handlung ausdrückt. In den deutschen Übersetzungen trifft man auf die bereits bekannte Unspezifik des Präteritums, die punktuell durch die Setzung von Akzenten im Bereich der Aktionsarten aufgelockert wird. 3.5.5. Ein Beispiel für Schlussfolgerungen aus dem Übersetzungsvergleich: Aspektcluster Für die begriffliche Basis eines Übersetzungsvergleichs von Aspektclustern aus Verbalperiphrasen und möglicherweise konfligierenden Formen des Auxiliars sei an Coserius Arbeit zum romanischen Verbalsystem erinnert. Coseriu (1976: 115) war von einem dreistufigen Verbalsystem der romanischen Sprachen ausgegangen, in dem die Bestimmung spezieller aspektueller Werte für jeden Zeitpunkt lediglich einem tertiären System zugeschrieben wird. Dabei hatte er zwischen der kursiven Betrachtung einer Handlung als parallel zu einer anderen und ihrer komplexiven Darstellung außerhalb ihres Ablaufs als Ganzes unterschieden (Coseriu 1976: 94). Mit der Einführung dieser Kategorie der Schau in die Aspektproblematik wird so der subjektiven Wählbarkeit in Abhängigkeit von der Sprecherintention Rechnung getragen, die in Sprachen mit morphologischer Aspektkorrelation nicht gleichermaßen gegeben ist. Eine Auflösung der Betrachtung der Handlung zwischen den zwei Punkten A und B ihres Ablaufs in verschiedene Möglichkeiten erlaubt außerdem eine sinnvolle Ordnung der verschiedenen Verbalperiphrasen, wie sie in der folgenden Übersicht im Anschluss an Coseriu (1976: 100) für das Spanische gegeben wird:

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

295

estar haciendo (Winkelschau: Handlung zwischen zwei Punkten A und B, die in C zusammenfallen können)

venir haciendo (retrospektive Schau)

ir haciendo (prospektive Schau) andar haciendo (komitative Schau: Begleitung der Verbalhandlung zu verschiedenen Momenten ihres Ablaufs)

seguir haciendo (kontinuative Schau) A

C

B

Das Problem besteht nun darin, dass Verbalperiphrasen in den iberoromanischen Sprachen eine Kombination aus partialisierender Innensicht und Markierung der Begrenztheit der Handlung zulassen: sp. Estuve trabajando todo el día, pt. estive a trabalhar o dia inteiro. Dagegen sagt man nicht *Hier j’étais en train de lire toute la journée. Wollte man dies wie Squartini als zurückgebliebene Grammatikalisierung von imperfektiver Aspektualität deuten, so müsste man diese auch dem derivativen Ausdruck des Verbalaspekts im Russischen zuschreiben (vgl. oben 3.3.3.). Für die textuelle Ausprägung der Funktionen der STARE+GerundiumPeriphrase im Spanischen gibt es im Anna-Karenina Korpus durchaus interessante Hinweise. Im Russischen ist allein schon aufgrund des morphologischen Ausdrucks der Aspektkorrelation kein entsprechendes Auftreten von Periphrasen zu erwarten: (38) ru. Когда Анна вошлаpf. в комнату, Долли сиделаimpf. в маленькой гостиной с белоголовым пухлым мальчиком, уж теперь похожим на отца, и слушалаimpf. его урок из французского чтения (Tolstoj 1958 [1878]: 10) (38) fr.

Quand Anna sonna, Dolly était assise, dans le petit salon, en compagnie d’un gros bébé qui avec sa chevelure blonde ressemblait déjà à son père. Elle lui donnait une leçon de français. (Tolstoj/Maurois: 96)

(38) sp. Cuando Ana entró en el saloncito, Dolly estaba tomando la lección de Francés a un niño gordito, con la cabeza rubia, el vivo retrato de su padre. (Tolstoj/ Sureda: 90)

296 (38) dt.

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

Anna traf Dolly in einem kleinen Wohnzimmer an, wo sie ihrem semmelblonden, pausbäckigen Söhnchen, das schon jetzt dem Vater sehr ähnlich war, seine französische Leseübung abhörte. (Tolstoj/Asemissen: 94)

Die Imperfektivität wird in der spanischen Übersetzung durch die estar+Gerundium-Periphrase noch unterstrichen, wobei das Auxiliar im Imperfekt zusätzlich die Innensicht verstärkt. Der französische Übersetzer bedient sich des Wechselspiels von imparfait und passé simple und löst dabei den Satz auf. Im Deutschen wird die Handlung des Hineingehens nur noch präsupponiert und als Antreffen verbalisiert, ein telisches Verb, das die mangelnden Ausdrucksmöglichkeiten perfektiver Aspektualität zumindest im Hinblick auf den resultativen Charakter kompensiert. Analoges ließe sich zum folgenden Beispiel sagen. Das im Ausgangstext auftretende Verb ждать, das sowohl ein ungerichtetes als auch ein etwas erhoffendes Warten meinen kann, wird im Spanischen durch desear vereindeutigt, das als Gerundium in der Periphrase mit einem imperfektiven Auxiliar auftritt. In der deutschen Übersetzung wird das Fehlen einer imperfektiven Verbform durch ein Adverbial (nur noch) kompensiert: (39) ru. Левин не слушалimpf. больше и ждалimpf. когда уедетpf. профессор. (Tolstoj 1958 [1878]: 34) (39) fr.

Lévine n’écoutait plus. Il attendait le départ du professeur. (Tolstoj/Maurois: 46)

(39) sp. Levin ya no escuchaba. Estaba deseando que se fuese. (Tolstoj/Sureda: 40) (39) dt.

Lewin hörte nicht mehr zu und wartete nur noch darauf, daß der Professor sich verabschiedete. (Tolstoj/Asemissen: 32)

Für eine analytische Betrachtung der estar+Gerundium-Periphrase im Spanischen scheint es uns im Unterschied zu Squartinis Interpretation sinnvoller, der Nominalform des Verbs zunächst die lexikalische Primärbedeutung für die Bezeichnung der Handlung, der periphrastischen Konstruktion als solcher eine partikularisierende Öffnung des Blicks auf das Innere der Handlung und der finiten Form des Auxiliars die Möglichkeit einer komplexiven oder nicht kontinuativen Sicht zuzuschreiben. Gerade die Tatsache, dass die Periphrase sowohl mit perfektiven als auch imperfektiven Auxiliarformen verwendet werden kann, spricht für einen hohen Grad der Integration in das grammatische System. Die Ausdrucksmöglichkeiten der Aspektualität stellen sich zum Beispiel im russischen Ausgangstext (AT) und im spanischen Zieltext (ZT) folgendermaßen dar:

297

Aspektualität in literarischen Übersetzungen

Träger

Bedeutung

Funktion

lexikalische Primär- AT: Verbalstamm (брать: беру,

Bezeichnung der

bedeutung

Handlung

берёшь)

ZT: Nominalform des Verbs sp. estaba tomando vgl. dagegen: fr. donnait

imperfektive As-

AT: Aspektkorrelation (брать

Öffnung des Blicks

pektualität

vs. взять)

auf das Innere der

ZT: periphrastische Konstruktion als Handlung

solche estaba tomando

kursiv oder global

AT: Möglichkeiten der Derivation:

Möglichkeit einer

(брать vs. убрать/убирать)

komplexiven oder

ZT: finite Form des Auxiliars

nicht komplexiven

estaba tomando : estuvo tomando

Sicht

Dass in den Übersetzungen unseres Beispieltextes insbesondere im Spanischen periphrastische Ausdrucksmöglichkeiten gewählt werden, lässt sich auch anhand von Periphrasen dokumentieren, die mit ursprünglichen Verben der Bewegung gebildet sind. Im folgenden Beispiel akzentuiert das Imperfekt in iba a ser das epistemische Merkmal der inneren Reflexion. Die in der französischen Übersetzung auftretenden Konstruktionen arrivait à peine à élever und voulait aller drücken ebenso wie die Häufung des imperfektiven Aspekts im Russischen eine Art Schwebezustand der Handlung aus. Dieselbe Funktion erfüllt im Spanischen die Konstruktion pensaba llevarlos. In der deutschen Übersetzung verdeutlicht die Verwendung des Konjunktivs, dass es sich um eine innere Reflexion handelt: (40) ru. Кроме того, она чувствовалаimpf., что если здесь, в своём доме, она едва успевалаimpf. ухаживатьimpf. за своими пятью детьми, то им будет ещё хуже там, куда она поедетpf. со всеми ими. (Tolstoj 1958 [1878]: 17) (40) fr.

En outre, elle sentait que si chez elle, dans sa maison, elle arrivait à peine à élever convenablement ses cinq enfants, cela lui serait encore plus difficile là où elle voulait aller. (Tolstoj/Maurois: 28)

298

Aspektualität und ihre Ausdrucksmittel in romanischen Sprachen

(40) sp. Por otra parte, reconocía que, si en su propia casa le costaba tanto atender a sus hijos, peor iba a ser esto en la casa donde pensaba llevarlos. (Tolstoj/Sureda: 20) (40) dt.

Zudem dachte sie daran, daß es ihr schon hier im eigenen Hause schwergefallen war, mit ihren fünf Kindern allen Anforderungen gerecht zu werden, und daß es damit an jedem andern Ort, wenn sie mit der ganzen Kinderschar hinkäme, noch schlechter bestellt sein würde. (Tolstoj/Asemissen: 16)

Der Übersetzungsvergleich vermag einer Tendenz innerhalb der funktionalen Sprachbetrachtung entgegenzuwirken, nach der Kategorisierungen rein begrifflich-formal und ohne Rücksicht auf die gegebenen einzelsprachlichen Bedeutungsverhältnisse vorgenommen werden. Als produktiv erweist sich dabei sowohl ein Ausloten der gegebenen Spielräume bei einem Differenzierungsanstieg zwischen Ausgangs- und Zielsprache als auch der Vergleich einer ausgangssprachlich hoch spezifizierten und morphologisch ausgeprägten Kategorie mit Übersetzungen in Zielsprachen, in denen weniger obligatorische Differenzierungen vorliegen.

4. Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität 4.1. Modalität als Kategorie Analog zu den Ausführungen zur Temporalität und zur Aspektualität liegt es nahe, den Modus als Zentrum der Modalität zu betrachten. In ihrem programmatischen Artikel zu einem Modalitätsbegriff für das 21. Jahrhundert betrachtet Kratzer (2013) die Modalität jedoch als ein umfassenderes Phänomen, das Mikrovariation in allen Bereichen der Semantik hervorbringt: Modality with its many different flavors is everywhere in the verbal projection spine – sublexically, with voice, aspect, tense, mood, and complementizers. It’s at the core of the typology of sentential complementation, and it provides crucial parameters of variation for indefinites. (2013: 179)

Unter Mikrovariation verstehen wir dabei nicht einfach die Variation einzelner sprachlicher Formen zwischen verschiedenen Varietäten einer Sprache, sondern freie Variation innerhalb einer Konstruktion, z.B. die Verwendung oder Nichtverwendung eines bestimmten Modus oder einer lexikalischen modalen Markierung. Solche Mikrovariation kann durch die Absicht des Sprechers ausgelöst sein, zur Art und Weise des Bestehens der in der Proposition ausgedrückten Situation Stellung zu nehmen. Dabei kann reflektiert werden, dass eine bestimmte Sachlage notwendig, möglich oder unmöglich ist, dass sie vom Sprecher als gewünscht, gefordert oder als auszuschließen dargestellt wird. Im gegebenen Rahmen werden wir die Modalität nur teilweise behandeln können. Dabei werden auch Ausdrucksmittel betrachtet werden, die eher an der Peripherie angesiedelt sind und bisher wenig betrachtet wurden. Für den Kern der Modalitätsausdrücke, den Modus, liegt mit der Monographie von Becker (2014) eine umfassende, die Entwicklung der Kategorie ‛Modus’ untersuchende Darstellung vor, die auch den Forschungsstand zum Modus in den romanischen Sprachen aufarbeitet. Hier wird der Modus nur insofern Berücksichtigung finden, als er Gegenstand der durch Modalität hervorgerufenen Mikrovariation ist. 4.1.1. Begriffsbestimmungen in der Modalitätsforschung In den natürlichen Sprachen ist keine genaue Trennlinie zwischen wirklichen und möglichen Situationen gezogen. Wie Portner (2011) nachweist, wird mit dem Indikativ mehr als nur die Wirklichkeit abgedeckt. Für ein Erzählen über eine mögliche Welt gibt es keinen Modus oder andere obli-

300

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

gatorische modale Marker. Der folgende Anfang einer bretonischen Sage beinhaltet zum Beispiel keinerlei Modalitätsmarker, obwohl bereits im ersten Satz deutlich wird, dass es sich um ein irreales Geschehen handelt: (1) fr.

Le roi des Morgans, ébloui par la beauté de Mona Kerbili, saisit l’adolescente et l’emporta au fond de l’eau. Dans le palais, au milieu des richesses abyssales, Mona, resplendissait. Le vieux roi en était fou amoureux. Son fils aussi... Le vieux Morgan refusa l’alliance des deux jeunes gens. Il força son fils à se marier avec l’enfant unique d’un des grands de sa cour. La noce fut belle: on mangea, on but abondamment. (http://www.bretagne .com/fr/culture_bretonne/contes_et_legendes/mona_kerbili)

Kratzer (2013) relativiert bis zu einem gewissen Grade die Aussagen von Kratzer (1978), wo sie auf der Grundlage der klassischen logisch-formalen Semantik Operatoren wie must, may und propositionale Operatoren wie believe, want als quantifizierende Angaben über mögliche Welten annimmt. Sie nimmt nun verschiedene Arten des Projizierens, Einschränkens und Festlegens modaler Domänen an. Sie geht dabei von Ankerpunkten in der evaluierenden Welt aus, von denen ausgehend modale Domänen festgelegt werden. Ein weiteres formales Modell wurde von Martin (1983, 1987) entwickelt, der aufbauend auf der aristotelischen Modalitätenlehre einen wahrheitsrelationalen Ansatz verfolgt. Die Rückführung der Modalitäten auf Evaluationsmodelle wird von Quer (1998) und Fabricius-Hansen (1999) unter Nutzung modellrelevanter Parameter, wie bei letzterer der Personenperspektive, dem Weltparameter und dem Zeitparameter, begründet (vgl. Becker 2014: 52–53). Während enge Modalitätskonzeptionen, die trotz der jüngeren Entwicklungen in der Modallogik vor allem an die aristotelische Tradition anknüpfen, vor allem auf die Notwendigkeit und die Möglichkeit des Zutreffens von Prädikationen bezogen sind, betrachten Vertreter eines weiteren Modalitätskonzepts die gesamte Breite der Haltungen, die ein Sprecher zum propositionalen Gehalt einer Äußerung einnehmen kann. Von einer solchen weiten Modalitätsauffassung ausgehend sind die folgenden Äußerungen nach Bally (1932) alle modalisiert, wobei die Modalisierung neben dem Modus ((3), (5)–(7)) auch durch Adverbien ((2) und (6)), epistemische Verben ((3), (4)), Ausdrücke des Fürchtens (5), der Notwendigkeit (6) und des Wollens (7) vorgenommen wird: (2) fr.

Peut-être que Pierre viendra.

(3) fr.

Je doute que Pierre vienne.

(4) fr.

Je sais que Pierre viendra.

(5) fr.

Il est à craindre que Pierre vienne.

Modalität als Kategorie

(6) fr.

Il faut absolument que Pierre vienne.

(7) fr.

Je ne veux pas que Pierre vienne.

301

Für die Identifizierung der sprachlichen Mittel der Modalisierung und ihre Abgrenzung von der Proposition war die von Bally eingeführte Unterscheidung zwischen dem dictum und dem modus von grundlegender Bedeutung. Unter Modalität versteht Bally dabei die Verbindung aus einem Modalverb und einem Subjekt, die gemeinsam den modus ergeben. Den formal untergeordneten Satz betrachtet er als Repräsentation (représentation), die durch den Modus zu einer an eine subjektive Instanz gebundenen Behauptung, Wertung oder Willensäußerung wird: La phrase est la forme la plus simple possible de la communication d’une pensée. Penser, c’est réagir à une représentation en la constatant, en l’appréciant ou en la désirant. C’est donc juger qu’une chose est ou n’est pas, ou estimer qu’elle est désirable ou indésirable, ou enfin désirer qu’elle soit ou qu’elle ne soit pas. On croit qu’il pleut ou qu’il ne pleuve pas, ou on en doute, on se réjouit qu’il pleuve ou on le regrette, on souhaite qu’il pleuve ou qu’il ne pleuve pas. Dans le premier cas, on énonce un jugement de fait, dans le second un jugement de valeur, dans le troisième une volition. (Bally 1932: 35)

Bally führt damit die drei in heutiger Terminologie als epistemische, evaluative und volitive Modalität bezeichneten sehr unterschiedlichen Ebenen ein, die aber in Modalverben gemeinsame Ausdrucksmittel haben. Mit der Konstruktion aus Pronomen und Modalverb äußert der Sprecher eine Einstellung in Bezug auf die nachfolgende Proposition, die als mehr oder weniger faktisch, positiv oder negativ gewertet, gewollt oder nicht gewollt dargestellt wird. Andere Ausdrucksformen von Modalität, wie der Modus des Verbs und modale Adverbien, sind in diesen Ansatz schwer zu integrieren. Ballys psychologistische Konzeption, nach der die Modalität die „Seele des Satzes“ (l’âme de la phrase, Bally 1932: 34) ist, und auf deren Basis keine homogene grammatische Kategorie beschreibbar ist, hat bei den Vertretern der strukturellen, der generativen und der formalen Linguistik keine Resonanz gefunden (vgl. Ludwig 1988: 26). Sie betrachten als Modalität eine Untermenge der Erscheinungen, die Bally als modal ansieht. Vor dem Hintergrund der Entwicklung der kognitiven Linguistik greift Gosselin (2010) ein breites Modalitätskonzept auf (vgl. Becker 2014: 56–57), ersetzt jedoch den Terminus modus durch den Begriff der Validierung (validation) und ordnet ihr unter anderem die positive oder negative Validierung, die subjektive und die wertende Validierung zu. In seiner Modalitäten-Typologie orientiert er sich an dem philosophischen Modalitätsbegriff, der auf Aristoteles zurückgeht und von der angelsächsischen Sprachphilosophie weiterentwickelt wurde. Wichtig ist dabei, dass er die philosophisch relevante Frage der Validität der Repräsentation ausklam-

302

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

mert und nur die Validierung des in der Prädikation mitgeteilten Sachverhalts betrachtet. Die Richtungen und Dimensionen, in denen diese Validierung durch unterschiedliche linguistische Modalitäten vorgenommen wird, führen ihn zu einer modularen Theorie der Modalität. Dem Ansatz Saussures folgend, nimmt er auch für die Ausdrucksmittel der Modalität einen espace sémantique global an, in dem jedem einzelnen Mittel ein eigener und unverwechselbarer Platz zukommt (Gosselin 2010: 2). Ausgehend von dieser Position legt Gosselin (2010: 11) eine streng linguistische Definition der Modalität vor, die weder von der Analyse des Seins (aristotelische Position) noch von einer erkenntnistheoretischen Position abhängen darf. Für eine Trennung des Sprachlichen vom Außersprachlichen wurde bis vor kurzem die Annahme eines morphologischen Kriteriums vorgeschlagen: das Vorhandensein einer bestimmten Ausdrucksform für eine semantische Kategorie wie die Modalität spricht für deren Existenz. Ein solches Vorgehen resultiert aus einer vereinfachten Anwendung des Prinzips der Zuordnung eines Signifié und eines Signifiant und reduziert die Kategorie der Modalität auf wenige Ausdrucksformen, wie die Modalverben oder die Adverbien. Modalität unterscheidet sich von Temporalität und Aspektualität bereits dadurch, dass sie sich nicht auf ein Merkmal einer Situation bezieht, sondern den Status der Proposition angibt. Es handelt sich um eine umfassende Kategorie, die sich zunächst in die Unterkategorien von assertiv/nicht-assertiv unterteilen ließe, wobei nicht-assertive Äußerungen sowohl Zweifel am Wahrheitscharakter der Aussage anzeigen als auch die Realisierung des Inhalts der Äußerung sowie ihren präsuppositionellen Charakter vermitteln können (vgl. Palmer 1986: 3; Becker 2014: 57–58). Der klassische, von Aristoteles geprägte Modalitätsbegriff betraf lediglich die alethische Modalität, die logische Schlussfolgerungen über die Wahrheit von Beziehungen betrifft, die zwischen allen möglichen Welten bestehen. Aristoteles unterscheidet dabei vier verschiedene Seinsstrukturen. Sachverhalte können 1. notwendigerweise der Fall sein, also gar nicht anders als wahr sein (Notwendigkeit), 2. unmöglich der Fall sein, also nie wahr sein (Unmöglichkeit), 3. eintreten, weil das Potenzial zu ihrer Realisierung in den Dingen oder Umständen liegt (reine Möglichkeit), 4. eintreten, aber auch nicht eintreten, weil es keine Notwendigkeit für sie gibt (kontingente Möglichkeit) (vgl. Becker 2014: 60). Die Beziehungen zwischen den vier alethischen Modalitäten lassen sich durch das logische Quadrat nach Martin (1983: 111; vgl. auch Becker

303

Modalität als Kategorie

2014: 61), veranschaulichen, in dem alle modalen Werte durch Relationen mithilfe des Möglichkeitsoperators (◊), des Notwendigkeitsoperators (□) und der Negation (¬) dargestellt werden: □ p, ¬ ◊ ¬ p notwendig

konträr

subaltern

kontradiktorisch

◊ p, ¬ □ ¬ p möglich

subkonträr

□ ¬ p, ¬ ◊ p unmöglich

subaltern

◊ ¬ p, ¬ □ p fakultativ

Die kontradiktorische Opposition zwischen der Möglichkeit und der Unmöglichkeit sowie zwischen der Notwendigkeit und der Fakultativität bedeutet, dass nur das eine oder das andere zutreffen kann. Die Beziehung zwischen der Notwendigkeit und der Unmöglichkeit eines Sachverhalts ist konträr, denn hier sind mit der reinen Möglichkeit und der kontingenten Möglichkeit Alternativen gegeben. Das Verhältnis zwischen der reinen Möglichkeit und der Notwendigkeit besteht in einer subalternen Relation, da sich aus dem notwendigerweise Zutreffen eines Sachverhalts ableiten lässt, dass der Sachverhalt möglich sein kann. Ebenso lässt sich aus der Unmöglichkeit ableiten, dass ein Sachverhalt fakultativ nicht auftreten kann (vgl. Becker 2014: 62). Schon bei Aristoteles und noch mehr in seiner Rezeption wurden jedoch weitere Modalitäten, die über die genannten logischen hinausgehen, hinzugefügt. Diese ergeben sich aus nicht strikt wissenschaftlich-logischen Bereichen der menschlichen Rationalität, die sich auch als subjektiv charakterisieren lassen. Diese als Doxa bezeichneten Erkenntnisformen wurden als auf sinnlicher Wahrnehmung beruhende subjektive Meinung dem wahren, auf das Sein gerichteten Wissen gegenübergestellt. Schon bei Parmenides (ca. 520/515 – ca. 460/455) wurde die Doxa als dem Schein nachgehende Betrachtung der Welt gegenüber der wahren Erkenntnis (ἐπιστήμη, Episteme) abgewertet, was sich bei Platon noch weiter fortsetzte. Zu den Gegenständen der Doxa erklärt auch Aristoteles das, was zwar wahr sein kann, aber nicht notwendig wahr ist. Aus dieser Erkenntnisform leitete die aristotelische Tradition Modalitäten ab: die auf dem Glauben an

304

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

den Schein und auf Überzeugung beruhende doxastische Modalität, die auf dem Wissen und seiner Evidenz beruhende epistemische Modalität, die auf Wertnormen und eine Einteilung in gut und schlecht zurückgehende axiologische Modalität und eine evaluative, auf persönlicher Bewertung beruhende Modalität (vgl. Becker 2014: 62). In der Nikomachischen Ethik, der bedeutendsten der drei unter dem Namen des Aristoteles überlieferten ethischen Schriften, werden auch Modalitäten behandelt, die weder logisch bestimmt noch subjektiv sind. Mit der deontischen Modalität wird das moralisch Gebotene bezeichnet und die buletische Modalität ist das Wünschenswerte. Der Modalitätsbegriff wurde durch die Einführung des Konzepts der möglichen Welten, die als Alternativen zur realen Welt zu verstehen sind, weiter entwickelt. Die Geltung eines Sachverhalts kann durch eine Quantifizierung über mögliche Welten erfasst werden. So ist eine Proposition dann und nur dann notwendig, wenn sie in allen Welten wahr ist. Eine Proposition ist dann und nur dann möglich, wenn sie in mindestens einer Welt wahr ist. Unmöglich ist der Inhalt einer Proposition, wenn sie in allen Welten falsch ist. Eine Proposition ist dann und nur dann kontingent, wenn sie in der realen Welt wahr ist, aber in mindestens einer möglichen Welt falsch. Auf dieser Grundlage erklärt Becker die Modalität nach Portner (2009) als „eine linguistische Grund-Kategorie (in Analogie zu Temporalität und Aspektualität) […], die Alternativen (alternative Situationen bzw. mögliche Welten) im Verhältnis zu unserer Bezugswelt, der realen Welt eröffnet und den Sprechern erlaubt, über solche Alternativen (alternative Situationen bzw. mögliche Welten) zu sprechen“ (Becker 2014: 64). Die Modalsemantik steht vor der Aufgabe, die thematisierten Alternativen zur realen Welt zu beschreiben und Verfahren zu ihrer sprachlichen Umsetzung zuzuordnen. Das bei den einzelnen Autoren sehr unterschiedliche Inventar an Modalitäten ist in den letzten Jahren erweitert und verfeinert worden (vgl. Gosselin 2005, 2010; Portner 2009). Es lässt sich vereinfacht als eine Art onomasiologisches Raster auffassen, dem sich Ausdrucksmittel zuordnen lassen. Die Darstellung der ontologisch-alethischen Modalitäten nach Martin (1983: 111) ließe sich zum Beispiel auf die deontische Modalität anwenden (Becker 2014: 65):

305

Modalität als Kategorie

□ p, ¬ ◊ ¬ p obligatorisch

subaltern

◊ p, ¬ □ ¬ p erlaubt

konträr

□ ¬ p, ¬ ◊ p verboten

kontradiktorisch subaltern

subkonträr

◊ ¬ p, ¬ □ p fakultativ

Den vier grundlegenden Ausprägungen der deontischen Modalität lassen sich die folgenden Beispiele zuordnen: (8) sp.

obligatorisch: Para mirar atrás de esta forma tienes que haberlo pensado antes y tener un proyecto de vida. (CREA, La Vanguardia, 02/11/1995)

(9) fr.

verboten: Défense de toucher !

(10) fr.

erlaubt: Tous les espoirs étaient encore permis. (Frantext - E266. Jonquet, Thierry, Le Rouge c’est la vie, 1998: 171)

(11) pt.

fakultativ: Se achas que não podes deixar de viver com essa moça, vai viver com ela. (CdP, Montello, Josué, O Silêncio da Confissão, 1980)

Die beiden letzten Sätze verdeutlichen den Unterschied zwischen reiner Möglichkeit und kontingenter Möglichkeit. Während in Satz (10) eine positive Berechtigung zu Hoffnungen ausgedrückt wird, ist in Satz (11) die Möglichkeit gegeben, auch nicht mit dieser Frau zu leben. Die buletische Modalität ist auf Wunschwelten bezogen und umfasst Versprachlichungen von Wünschen von Personen: (12) it.

E adesso Berlato vuole introdurre il reato di “disturbo alla caccia”. (http:// www.ilgazzettino.it/vicenza_bassano/vicenza/caccia_veneto_sergio_berlato _introdurre_reato_disturbo_caccia_pesca_regione_veneto-1619360.html)

(13) fr.

Pierre veut que Anne vienne le voir.

Mit der buletischen Modalität verwandt ist die teleologische Modalität, die auf Zielwelten verweist, „die den Intentionen der planenden Individuen entsprechen“ (Becker 2014: 66): (14) fr.

Pierre court pour rattraper le bus. (Becker 2014: 66)

(15) sp. El hombre quiere ser pescado y pájaro (CREA, Si yo fuera presidente, 08/ 11/83, TVE 2)

306

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Die axiologische und die evaluative Modalität drücken Bewertungen von Sachverhalten aus. Mit der evaluativen Modalität wird eine emotive Wertung eines Sachverhalts vorgenommen, der seinerseits als gegeben vorausgesetzt wird. Im folgenden portugiesischen Beispiel wird mit dem Verb lamentar Bedauern darüber ausgedrückt, dass ein bestimmter Änderungsantrag durchgegangen ist. Der Fakt der Annahme dieses Änderungsantrags wird dadurch aber nicht in Frage gestellt, sondern negativ bewertet: (16) pt.

Eu lamento que essa emenda tenha passado. (CdP, Paes de Andrade, 05-241997)

Die axiologische Modalität ordnet Situationen auf Werteskalen, zum Beispiel zwischen ‛gut’ und ‛schlecht’, ‛passend’ und ‛unpassend’, ein. Die Werteskala wird dabei nur präsupponiert und es werden nicht wie bei der deontischen Modalität Prädikate in Bezug zu einer normgebenden Quelle gesetzt. Im folgenden Beispiel wird das Vorhandensein unterschiedlicher Vorgehensweisen in der Immigrationspolitik in der Europäischen Gemeinschaft auf der Grundlage eines nicht explizit genannten Wertekanons als nicht tragbar gekennzeichnet: (17) fr.

De plus, il est insupportable qu’existent des [...] politiques d’immigration différentes au sein d’une Union qui maintient ses frontières ouvertes. (http:// www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT +CRE +20010704+ITEMS+DOC+XML+V0//FR&language=FR)

Mit der dynamischen Modalität werden Dispositionen von Dingen, Personen und Umständen erfasst, die bestimmte Situationen hervorbringen können. Dabei können die Eigenschaften betrachtet werden, zu denen eine Person durch ihre Anlagen fähig ist (abilitiv, (18)), aber auch die Eignung eines Dings gemäß seiner Beschaffenheit (disponentiell, (19)) oder die Gegebenheit natürlicher Umstände (zirkumstantiell, (20)) (vgl. Becker 2014: 69). (18) fr.

L’enfant parle le chinois.

(19) sp. Pruebas científicas demuestran que la aspirina puede prevenir un ataque cardiaco o un derrame cerebral. (http://www.fda.gov/ForConsumers/ ConsumerUpdates/ConsumerUpdatesEnEspanol/ucm395951.htm) (20) pt.

As pessoas com diabetes podem consumir chocolate diet, mas com moderação. (http://www.bonde.com.br/?id_bonde=1-27--256-20130326)

In Satz (18) werden zum Ausdruck der Fähigkeit des Kindes, chinesisch zu sprechen, keine speziellen Markierungen der dynamischen Modalität verwendet. Ihr Ausdruck ist hier im Präsens des Verbs parler „versteckt“, das die Funktion des Ausdrucks der Fähigkeit zur Vollführung der durch das Verb bezeichneten Handlung übernehmen kann.

Modalität als Kategorie

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Die doxastische Modalität bezieht sich auf Glaubenswelten von Individuen und Gemeinschaften. Becker (2014: 66–67) unterscheidet innerhalb der doxastischen Modalität zwei Dimensionen, die Dimension der Subjektivität/Intersubjektivität und die Dimension der epistemischen Modalität. Subjektiv ist eine Äußerung dann, wenn der Sprecher sie ausschließlich auf sein eigenes Bewusstsein bezieht und dadurch relativiert. In intersubjektiven Äußerungen bezieht der Sprecher die Überzeugungen mehrerer Personen, mindestens aber die des Gesprächspartners, ein. Dies findet sich in der Definition von Subjektivität/Intersubjektivität bei Nuyts wieder: An evaluation is subjective if the issuer presents it as being strictly his/her own responsibility; it is intersubjective if (s)he indicates that (s)he shares it with a wider group of people, possibly including the hearer (not to be confused with a descriptive use of modal forms). In other words, it might be a matter of whether the modal judgment is common ground between the speaker and the hearer or others. (Nuyts 2006: 14)

Mit der epistemischen Modalität werden Einschätzungen des Sprechers über die Wahrscheinlichkeit des Zutreffens seiner Aussage bzw. des Gewissheitsgrads und möglicher Alternativen auf einer Probabilitätsskala erfasst. Diese Einschätzungen werden jeweils subjektiv getroffen, was eine Trennung der epistemischen und der doxastischen Modalität erschwert. Überhaupt variiert die Verwendung der Termini Subjektivität, epistemische Modalität und Evidentialität bei den einzelnen Autoren sehr stark, so spricht zum Beispiel Nuyts von der Subjektivität als einer evidentiellen Dimension innerhalb der epistemischen Modalität (Subjectivity as an evidential dimension in epistemic modal expressions, Nuyts 2001). Becker (2014: 67) identifiziert offensichtlich aufgrund der Tatsache, dass epistemische Einschätzungen auf der Grundlage eines immer unvollständigen Wissensstands gegeben werden, die epistemische Modalität mit der Evidentialität, der Markierung der Herkunft des Sprecherwissens. Wie wir im Folgenden noch sehen werden, sind diese beiden Kategorien mit Blick auf konkrete sprachliche Erscheinungen der romanischen Sprachen tatsächlich nicht immer abgrenzbar, wir wollen sie jedoch im Interesse einer Systematik der Beschreibung zunächst trennen (vgl. 4.4.1.). Eindeutig der epistemischen Modalität zuzuordnen sind die folgenden Beispiele: (21) sp. […] si se hubiesen salvado estas consideraciones quizás los datos podrían haberse inclinado más a favor de la confirmación de la relación entre ansiedad y respuestas psicofisiológicas. (90-PSI-3: Fernández Sanmartín 2009: 581) (22) fr.

Il est, je crois, le meilleur chanteur du pays.

308

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Ein Versuch, die onomasiologisch bestimmten Modalitätskategorien auf die Analyse konkreter sprachlicher Mittel zu beziehen, trifft jedoch auf größere Schwierigkeiten. Zunächst seien die Ausdrucksvarianten innerhalb der einzelnen Kategorien genannt, die in der Sprachverwendung auftreten. So wird innerhalb der deontischen Modalität ein Verbot im Französischen selten mit der oben genannten rigiden Variante (9) Défense de toucher formuliert; viel häufiger erscheinen, etwa in Ausstellungen, deren Gegenstände nicht berührt werden dürfen, die folgenden Konstruktionen: (23) fr.

Ne touchez pas les objets exposés, s’il vous plaît.

(24) fr.

Merci de ne pas toucher les objets exposés.

Rein formal könnte man den Satz (23) einer Wunschwelt zuordnen, d.h., ob das Berühren der Objekte tatsächlich unterlassen wird, hinge dann von der als ‛Bitte’ verstandenen Kondition, dass es dem Angesprochenen beliebt, ab. Bei Zuwiderhandlungen würde er aber von dem Aufsichtspersonal garantiert auf sein Fehlverhalten hingewiesen und das Verbot würde – möglicherweise mit einer anderen Formulierung – bekräftigt. In Satz (24) wird das richtige Verhalten präsupponiert und es wird dafür gedankt. Dennoch handelt es sich auch hier nicht um eine Feststellung oder um einen kommunikativen Akt des Dankens, sondern eindeutig um ein Verbot. Es trat also keine Verschiebung von der deontischen Kategorie ‛verbieten’ zur Kategorie ‛fakultativ’ ein. In der Sprachverwendung treten neben den dargestellten logischen Unterscheidungen auch pragmatische Bedingungen in Aktion, die zu einer Variation der Formulierungen führen können, wobei insbesondere das Verhältnis zwischen dem Produzenten der Äußerung und dem Adressaten zu berücksichtigen ist. In der Sprechakttheorie wurde hierfür der Begriff des illokutiven Aktes eingeführt, mit dem nicht einfach ein sinnvoller Bezug zu Gegenständen und Ereignissen der Welt hergestellt wird, sondern auch eine Sprechhandlung vollzogen wird. Da dies aus einer sozialen Interaktion heraus geschieht, fließt in den illokutiven Akt mehr als nur die Satzbedeutung ein. Auf diese Weise konnte die Konstruktion merci de ne pas+Verb zu einer konventionellen Realisierung von Verboten der mit dem Verb bezeichneten Handlung im Französischen werden. Ein weiteres Problem bei der Zuordnung sprachlicher Realisierungen zu den modalen Kategorien ergibt sich aus der Polysemie der beteiligten sprachlichen Mittel. So kann der Satz (18) L’enfant parle le chinois durchaus dem Ausdruck dynamischer Modalität dienen und die Disposition des Kindes, Chinesisch zu sprechen, bezeichnen, aber auch die gegenwärtige, mit dem Sprechaktmoment zusammenfallende Handlung des Kindes ausdrücken (vgl. 2.3.2). Die Interpretation hängt hier also offensichtlich vom Kontext ab.

Modalität als Kategorie

309

Schließlich können eindeutige Zuordnungen von in Äußerungen auftretenden modalen Mitteln zu klar abgegrenzten Kategorien der Modalität auch wegen ihrer Interaktion und Überlagerung nur schwer vorgenommen werden. Dabei scheint nicht wie bei der Aspektualität das Phänomen der Kompositionalität zu dominieren, sondern eine modale Bedeutung prägt die Prädikation, bleibt aber von den weiteren im Satz auftretenden modalen Mitteln nicht unbeeinflusst. Die Aussage des folgenden Satzes ist zum Beispiel keinesfalls in der Wunschwelt des Sagen-Könnens verankert, sondern die Proposition, dass Europa ein Widerspruch ist, wird als notwendig zutreffend formuliert. Dazu trägt vor allem die Wiederholung der Konstruktion aus contradicción und dem variierten Adjektiv (pura/dramática) bei. Das Verb des Wollens (quiero) leitet ein und verleiht der Aussage durch die Konstruktion (quiero decir que) mehr Gewicht, hat aber keine Auswirkungen auf die Modalität der Prädikation. Die als geltend vorausgesetzte Aussage wird zusätzlich mit evaluativer Modalität als ‛unglücklich’ dargestellt: (25) sp. Quiero decir que Europa, infelizmente, es una pura contradicción, una dramática contradicción. (CREA, El País, 27/08/1997)

Ausgehend von diesen Überlegungen betrachten wir die Modalität als eine nicht nur logische, sondern auch pragmatische Kategorie, mit der die Einstellung des Sprechers oder des Textproduzenten zur logischen, wissensbegründeten oder in den Eigenschaften der bezeichneten Dinge, Personen und Umstände liegenden Wahrscheinlichkeit sowie Wünsche und subjektiv-emotive oder an Normensystemen orientierte Wertungen ausgedrückt werden. 4.1.2. Modus und Modalität Analog zum Aspekt und zur Aspektualität würde es sich anbieten, die Kategorie des Modus als grammatikalisiertes flexionsmorphologisches Mittel zum Ausdruck von Modalität zu betrachten. In Analogie zum Verhältnis von Tempus und Temporalität nimmt zum Beispiel de Haan eine solche Begriffsbestimmung des Modus vor: The category of mood is here defined as a morphological verbal category which expresses the modal value of the sentence. Mood is therefore the grammaticalized expression of modality, just as, say, tense is the grammaticalized expression of time. Mood is therefore an obligatory category in those languages that have it. (de Haan 2006: 33)

Dieser Einschätzung können wir nur mit Einschränkungen folgen. Schon bei der Behandlung des Tempus als Ausdruck von Temporalität mussten

310

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

wir feststellen, dass Tempora allenfalls Relationen der Vor-, Gleich- und Nachzeitigkeit gegenüber Bezugspunkten ausdrücken können und dass eindeutige temporale Zuordnungen über Adverbiale vorgenommen werden. Für den Ausdruck von Modalität gibt es neben dem Modus mindestens ein weiteres Zentrum, die Modalverben, denen einige Forscher zum Beispiel für die germanischen Sprachen sogar die wichtigste Rolle einräumen (vgl. Abraham & Leiss 2009). Für den Ausdruck von Vermutungen über zukünftige Situationen ist außerdem in vielen Sprachen, wie auch in den romanischen, das einfache Futur des Indikativs das maßgebliche Ausdrucksmittel. Es tritt als epistemisches Futur zum Beispiel in den folgenden spanischen Sätzen auf, die eine Präsenz des Futurs in dieser Funktion in der Literatur seit mehreren Jahrhunderten nachweisen (RAE 2009: 1771): (26) sp. Su Merced tendrá frío. (Donoso, Casa) (27) sp. Le extrañará sobremanera tener noticias de mi después de tanto tiempo (Vega, Crónicas) (28) sp. Recorderás que yo estudié economía, no leyes. De eso no sé nada (Victoria Zepeda, Casta)

Auch das Perfektfutur wird häufig zur Kennzeichnung von Vermutungen und Schlussfolgerungen verwendet: (29) fr.

Comment, ma femme a déjà pris son bain ? Oh ! Elle aura changé d’idée. (Feydeau, Un bain de ménage, Acte I, scène VIII)

Das Futur wird in diesen Äußerungen für aus den gegebenen Wissensbeständen und Bedingungen abgeleitete Schlussfolgerungen über eine gegenwärtige Situation verwendet. Diese Funktion des Futurs ist naheliegend und ergibt sich aus seiner ursprünglichen temporalen Bedeutung. Die Bezeichnung zukünftiger Ereignisse ist immer mit einer mehr oder weniger sicheren Annahme verbunden und beinhaltet die Möglichkeit, dass diese Ereignisse nicht eintreten können. Wenn einerseits eine Form des Indikativs wie das Futur eine deutlich modale Funktion angenommen hat, so ist andererseits feststellbar, dass in bestimmten Varietäten in einigen Kontexten der Subjunktiv durch den Indikativ ersetzt wird. So wird in der gesprochenen Sprache in informellen Situationen nach einer verneinten Form des epistemischen Verbs ‛glauben’ auch der Indikativ verwendet: (30) sp. No cree que es inteligente. für: No cree que sea inteligente. (31) fr.

Je ne crois pas qu’elle était à la maison quand j’ai téléphoné. für: Je ne crois pas qu’elle ait été à la maison quand j’ai téléphoné.

Modalität als Kategorie

311

Die Zuordnung eines Modus zu einer bestimmten Modalität ist somit nicht eindeutig und legt eine differenziertere Betrachtung nahe. Becker (2014: 73) erwähnt die Auffassung von Palmer, der den Modus als eine Realisierungsweise von Modalitäten ansieht, diese Kategorie jedoch neben andere Verfahren zur Kennzeichnung von Modalität einordnet: Basically there are two ways in which languages deal grammatically with the overall category of modality. These are to be distinguished in terms of (i) modal systems and (ii) mood. Both may occur within a single language. (Palmer 1986: 4)

Zu diesen modal systems sind neben den Modalverben auch Modaladverbien und auch Tempus- und Aspektformen, wie das Futur und das Imperfekt46 zu rechnen. Eine davon grundsätzlich verschiedene Position bezieht Hummel (vgl. Becker 2014: 74), der den Modus auf einer höheren Abstraktionsstufe angesiedelt sieht als „die vielfach durch lexikalische Bedeutung explizit ausgedrückten Modalitäten“ (Hummel 2001: 144). Für ihn sind die Modi eine Art modale Grundrepräsentationsform, die einen Gesichtspunkt festlegt, unter dem „der Sprecher die Existenz von Ereignissen fokussiert“ (Hummel 2001: 145). Er betrachtet den jeweiligen Grundwert eines bestimmten Modus als autonome Größe des Sprachsystems, die völlig unabhängig von konkreten Modalitäten existiert. Die Modalität betrachtet er „als eine in einem bestimmten Satz aktualisierte Nuance eines Modus“ (Hummel 2001: 146). Außerdem nimmt Hummel ein Vorrangprinzip expliziter lexikalischer Information gegenüber abstrakten grammatisch-morphologischen Markierungen an. Damit gelingt ihm auch eine Erklärung der Substituierbarkeit des Modus in bestimmten Kontexten, etwa bei dem spanischen Modaladverb tal vez, das laut der normativen Grammatik mit dem Subjunktiv zu verbinden wäre, aber selbst eine kontextuelle Bedingung schafft, durch die die Substitution durch eine Indikativform ermöglicht wird: „der Modus kann also durch eine spezifische Modalität substituiert werden, wenn eine spezifische Modalität explizit ausgewiesen ist“ (Hummel 2001: 105). Im folgenden Satz (32) wird der subjuntivo verwendet, während er in den Sätzen (33) und (34) durch den Indikativ ersetzt wird und tal vez die Markierung der Modalität der Möglichkeit vornimmt: (32) sp. Y TAL VEZ que seasubj. una moneda de cambio, que sirva para especular (CREA, Tiempo, 17/12/1990) (33) sp. Y por eso, TAL VEZ, podemosind. comprender la actitud que ha promovido ese libro (CREA, Triunfo, 09/07/1977)

_____________ 46

Zum modalen Gebrauch des Imperfekts vgl. Böhm (2016); Haßler (2012c; 2015e).

312

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

(34) sp. En un café de cómicos, donde (CREA, Triunfo, 02/07/1977)

TAL VEZ

hablamosind. hace muchos años

Aus der Diskussion von Hummels Modusverständnis leitet Becker (2014: 75) Schlussfolgerungen für das Verhältnis von Modus und Modalitäten ab. Da der Modus im Verhältnis zu anderen Ausdrucksmitteln der Modalität über eine wesentlich abstraktere Semantik verfügt, kann er nicht einfach eine klar konturierte Modalität kodieren. Im Kontext des Wirkens anderer modaler Elemente erfolgt eine Konkretisierung; diese Elemente realisieren zusammen mit dem Modus eine bestimmte Modalität. Dabei kann der Modus unter bestimmten Voraussetzungen auch durch explizitere Verfahren der Kennzeichnung von Modalität ersetzt werden. Dieses potenziell substitutive Verhältnis der expliziten Markierungen von Modalitäten zum Modus erklärt nach Becker auch die im Laufe der Geschichte der romanischen Sprachen erkennbar werdende Verschiebung. Der konjunktivische Modus zeigte im Lateinischen mögliche Alternativen zur aktuellen Welt an, wobei die spezifischen Modalitäten aus dem sprachlichen und außersprachlich-enzyklopädischen Kontext abzuleiten waren. Die Distanz zur aktuellen Welt wurde durch die Modusform angegeben. Die Angabe einer möglichen Alternative zur aktuellen Welt erfolgte durch den Konjunktiv Präsens (35), während der Konjunktiv Imperfekt eine kontrafaktische Alternative (36) angab. In Fragekontexten (37) drückt der lateinische Konjunktiv hingegen deontische Modalität aus (Becker 2014: 76): (35) lat. Iam absolutos censeas quom incedunt infectores. (‛Du denkst möglicherweise, dass sie schon ausbezahlt wurden, wenn sie hereinkommen, die Färber’) (36) lat. Sine duce errares. (‛ohne Führer würdest Du irren’) (37) lat. Quid igitur faciam? Non eam? (‛Was soll ich also machen? Soll ich nicht gehen?’) (Beispiele aus Becker 2014: 76).

Sogar im klassischen Latein konkurrierte der konjunktivische Modus jedoch bereits mit Modalverben (38), die im Verlauf der Entwicklung zu den romanischen Sprachen die Funktion der Modalisierung im Fragesatz exklusiv übernahmen (39) (vgl. Becker 2014: 76): (38) lat. Quid enim, pontifices, DEBEO dicere? (‛Was, Priester, soll ich denn sagen?’) (Cicero, pt. dom., 95, Becker 2014: 76) (39) afr. Ce que je veuil, nel DOIS amer ? (Frantext - A004. Anonyme, Le roman d'Eneas, c.1160, p. 526)

Aus der Tatsache, dass bereits im Lateinischen der Konjunktiv zwar das Vorliegen von modalen Lesarten anzeigte, die Art der Modalität jedoch aus kontextuellen Faktoren erschlossen werden musste, lässt sich der un-

Modalität als Kategorie

313

terspezifische Charakter der Kategorie Modus schließen (vgl. Becker 2014: 77). Als Modus der ‛Irrealität’ kann der Konjunktiv in verschiedenen Konstruktionen auftreten und unterschiedliche konkrete Modalitäten ausdrücken. In den heutigen romanischen Sprachen tritt der Subjunktiv nur noch äußerst selten als alleiniges markierendes Element der Modalität auf. In einigen fixierten Konstruktionen ordnet er Aussagen einer Wunschwelt zu: (40) fr.

Vive la France !

(41) fr.

Dieu vous bénisse !

(42) sp. ¡Viva la libertad de expresión!

In der Regel tritt der Subjunktiv in romanischen Sprachen heute in syntaktisch untergeordneten Sätzen auf, worauf auch seine Bezeichnung Subjunktiv – fr. subjonctif, sp. und pt. subjuntivo, teilweise auch noch it. soggiuntivo im Unterschied zum deutschen Konjunktiv – zurückzuführen ist. Diese syntaktische Funktion des Subjunktivs lässt sich als Resultat seiner pragmatisch-modalisierenden Funktion des Ausdrucks der Sprecherhaltung auffassen: mit dem Subjunktiv nimmt sich der Sprecher zurück und gibt die Verantwortung für die Verazität der abhängigen Proposition ab. Im folgenden Satz wird eine Aussage wiedergegeben nach der jemand zu etwas nicht fähig sein soll, der Sprecher enthält sich jedoch durch die Verwendung des Subjunktivs einer eigenen Stellungnahme zu diesem Faktum: (43) fr.

Il ne croit pas qu’il en soit capable.

Relikte des untergeordneten Charakters des Subjunktivs finden sich auch in Sätzen, die mit que/che eingeleitet werden und unterschiedliche Grade des Wünschens oder Befehlens ausdrücken können. Das folgende Beispiel kann als Komplementsatz aufgefasst werden, dem der Matrixsatz aufgrund seiner Redundanz verloren gegangen ist: (44) sp. [Quiero] ¡Que venga Juan!

Ansonsten tritt der Subjunktiv in den heutigen romanischen Sprachen im Zusammenhang mit lexikalischen Markierungen der Modalität auf. Während Verben der Sinneswahrnehmung über das Merkmal ‛Aktualität’ verfügen und damit auch zur Auswahl des Indikativs prädestiniert sind, fordern Verben des Befehlens oder des Wünschens einen Modus, der die Situation in einer inaktuellen Welt situiert. Die Wahl des jeweils entgegengesetzten Modus im untergeordneten Satz ist beim Vorhandensein solcher Verben im Matrixsatz ausgeschlossen (Ridruejo 1999: 3220): (45) sp. Veo que viene.

314

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

(46) sp. *Veo que venga. (47) sp. Mando que venga. (48) sp. *Mando que viene.

Bestimmte lexikalische Elemente, wie zum Beispiel Verben des Wollens oder einige Konjunktionen, selegieren immer einen bestimmten Modus: (49) sp. Quiere que te acerques. (50) fr.

Je resterai ici jusqu’à ce que vous reveniez.

(51) fr.

Orphée chante pour que le soleil paraisse.

(52) it.

Ieri voleva che me ne andassi, oggi vorrebbe che rimanessi.

Durch die Wahl einer anderen Form als das Präsens des Subjunktivs kann ein größerer Abstand von der Aktualität markiert werden, wie zum Beispiel in Satz (52) durch das Imperfekt des Subjunktivs. In weniger deutlich durch das Merkmal des ‛Wollens’ oder der ‛Zielgerichtetheit’ markierten Kontexten ist die Wahl des Indikativs oder des Subjunktivs möglich. In diesen Fällen werden durch die Modi die relevanten Welten differenziert. Der Modus kann zum Beispiel im Skopus der Negation von Verben des Glaubens alternieren: (53) fr.

Jean ne croit pas que Pierre est intelligent.

(54) fr.

Jean ne croit pas que Pierre soit intelligent.

Dieses durch Modalität bewirkte Phänomen der Mikrovariation lässt sich folgendermaßen erklären. In Satz (53) trifft die Proposition, dass Pierre intelligent ist, in der Welt von Jean nicht zu, möglicherweise aber in der Welt des Produzenten der Äußerung. In Satz (54) trifft diese Proposition in keiner der beiden Welten zu bzw. der aktuelle Äußerungsproduzent enthält sich einer Stellungnahme. Nach Ridruejo (1999: 3220) ist bei der Alternanz der Modi in den folgenden Sätzen kein funktionaler Unterschied feststellbar: (55) sp. QUIZÁ venga mañana Pedro. (56) sp. QUIZÁ vendrá mañana Pedro.

Das Modaladverb quizá geht auf die Lokution qui sabe (quiçab ‛wer weiß’) zurück und eröffnet als solches bereits einen Kontext, in dem die Prädikation als möglich modalisiert wird. Daher ist die Ersetzung des Subjunktivs (55) durch das indikativische Futur (56) hier ohne weiteres möglich. Der Modus als grammatische Kategorie des Verbs ist somit ein vielfach redundantes Ausdrucksmittel der Modalität, das auf die Realität oder die Realisierungsmöglichkeit des in der Proposition versprachlichten

Modalität als Kategorie

315

Sachverhalts Bezug nimmt. Wie wir gesehen haben, kann der Subjunktiv in vielen Fällen durch den Indikativ ersetzt werden, ohne dass die modale Bedeutung beeinträchtigt würde, da sie durch andere Kontextelemente ausgedrückt wird (vgl. (56)). In Verbindung mit Verben oder Konjunktionen, die den Subjunktiv selegieren, ist er redundant, da diese Elemente selbst bereits über modale Merkmale verfügen, die das Verhältnis der Proposition zur Realität ausdrücken: (57) Jean VEUT que tu viennes.

Im Fall des Imperativs wird ein Sachverhalt als erwünscht oder notwendig dargestellt. Die Verwendung des Imperativs in Aufforderungen wie (58) und (59) wird oftmals jedoch als sehr direkt betrachtet und daher vermieden. In Beispiel (60) wird das performative Verb pedir ‛bitten’ verwendet, während die formal als Frage formulierte Äußerung (61) illokutiv als Aufforderung zum Öffnen des Fensters verstanden werden kann: (58) sp. Finis ton travail! (59) fr.

¡Hable con ella!

(60) pt.

Por isso mesmo, Senhor Presidente da Comissão, pedimos-lhe que apresente propostas concretas a fim de exercer pressão sobre os Estados-Membros (Parlamento Europeu, Terça-feira, 14 de Dezembro de 2004)

(61) it.

Fa molto caldo qui, vero?

Zur Realisierung der satzmodalen Funktion der Aufforderung, einen gewünschten Zustand herzustellen oder eine bestimmte Handlung auszuführen, gibt es somit neben dem Imperativ andere, explizitere oder unterschiedliche Grade an Höflichkeit erlaubende sprachliche Mittel. 4.1.3. Modalverben und Modalität Forschungen zu den Modalverben stehen in einer langen Forschungstradition, deren Gegenstand für viele Wissenschaftler der Kern der Modalität überhaupt ist.47 Selbst bei der minimalistischen Auffassung von Modalität, die sich auf den Ausdruck der Notwendigkeit und der Möglichkeit beschränkt, lassen sich mit deontischen und epistemischen Verben entsprechende Ausdrucksformen finden. In der Grammatiktradition werden Modalverben als eine kleine, abgeschlossene Klasse behandelt, deren wichtigstes syntaktisches Merkmal darin besteht, einen reinen Infinitiv als Er_____________ 47

Einige neuere Darstellungen zu den Modalverben romanischer Sprachen und des Deutschen liefern z.B. Fritz (1997), Diewald (1999), Milan (2001), Müller (2001), Goldschmitt (2007), van der Auwera & Dendale (2000).

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Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

gänzung zu nehmen (Eisenberg 2006: 90). Zweifellos gehören deontisch markierte Situationen beschreibende Verben, wie müssen, dürfen, sollen, können, wollen und mögen und ihre Entsprechungen in den romanischen Sprachen zu den Modalverben. Eisenberg (2006: 90) führt jedoch eine weitere Gruppe von Verben auf, die manchmal zu den Modalverben, manchmal aber auch zu den Hilfs- oder Vollverben gerechnet werden: brauchen, möchten, nicht brauchen, lassen, werden. Die deutschen Modalverben sind Präteritopräsentia, d.h. sie bilden das Präsens wie andere Verben das Präteritum (vgl. Eisenberg 2006: 92): ich will/lief, du willst/liefst, er will/lief, wir wollen/liefen, ihr wollt/lieft, sie wollen/liefen). Die Präsensformen der Modalverben sind durch Reanalyse entstanden: bei wollen wurde ein Konjunktiv zum Indikativ umgedeutet, bei den anderen ein Präteritum zu einem Präsens. Die Isolierung der deutschen Modalverben ist darauf zurückzuführen, dass sie bestimmte allgemein wirksame Veränderungen im Konjugationssystem nicht mitgemacht haben (Eisenberg 2006: 92). Auch in den romanischen Sprachen konservieren Modalverben einige alte Formen, zum Beispiel die französische Form puis von pouvoir, die allerdings heute nur noch in einigen Konstruktionen auftritt (z.B. Puis-je vous demander…?). Im Allgemeinen unterscheiden sich die romanischen Modalverben morphologisch nicht von anderen Verben, womit möglicherweise auch die Tatsache zusammenhängt, dass sie nicht in der gleichen Weise polyfunktional sind wie im Deutschen. Eine Eigenart der Modalverben des Deutschen, über die nicht alle romanischen Modalverben verfügen, ist die Möglichkeit, sowohl deontische als auch epistemische Modalität ausdrücken zu können. Das jeweils erste Beispiel in den folgenden von Eisenberg (2006: 93) übernommenen Satzpaaren bezeichnet epistemische, das zweite deontische Modalität: (62) a. dt. Er soll über den Ärmelkanal geschwommen sein. (62) b. dt. Er soll die Kirche im Dorf lassen. (63) a. dt. Sie müssten es eingesehen haben. (63) b. dt. Sie mussten es nachmachen. (64) a. dt. Sie könnte in Freiburg wohnen. (64) b. dt. Sie konnte in Freiburg nicht gewinnen.

Mit den Sätzen unter (62a), (63a) und (64a) drückt der Sprecher aus, dass er Gründe zur in der Proposition ausgedrückten Annahme hat, ohne diese zu nennen. Gleichzeitig legt er dem Gesprächspartner nahe, dieser Annahme auch zu folgen. Die Modalverben übernehmen hier also die Funktion der Markierung einer Inferenz und sind subjektiv auf den Sprecher bezogen. In den Sätzen unter (62b), (63b) und (64b) werden die Modalverben hingegen mit objektiver Bedeutung verwendet und drücken eine Verpflichtung, Notwendigkeit oder Möglichkeit aus. Vielfach sind sowohl

Modalität als Kategorie

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die inferentielle als auch die objektive Lesart möglich, so lässt der Satz Ihr müsst das gesehen haben sowohl die deontische Interpretation ‛ihr müsst unbedingt alles tun, damit ihr das seht’ als auch die subjektiv-inferentielle Interpretation ‛es kann doch gar nicht sein, dass ihr das übersehen habt’ zu. Obwohl es in den romanischen Sprachen keine Modalverben gibt, die sowohl eine Obligation bzw. einen Wunsch und indirekte Evidentialität ausdrücken (sollen, wollen, vgl. 4.4.5.), ist bei den vorhandenen Modalverben gleichfalls hochgradige Polysemie gegeben. In ihrem Buch Typologie des modalités hat Le Querler (1996) zum Beispiel die Polysemie von pouvoir auf der Basis eines unterdeterminierten Wertes dieses Modalverbs erklärt, während lexikalisch orientierte Darstellungen meist von unterschiedlichen Verben ausgehen. Auch in den romanischen Sprachen wird die deontische Bedeutung der ‛können’ und ‛müssen’ bezeichnenden Verben grundsätzlich unterschieden. So können die folgenden drei Sätze folgende unterschiedliche Bedeutungen haben: (a) ‛er hat die Erlaubnis und die physische und materielle Möglichkeit zu kommen’ und (b) ‛vielleicht kommt er’: (65) fr.

Il peut venir.

(66) it.

Può venire.

(67) sp. Puede venir.

Auch die Verwendungen von fr. devoir, it. dovere, sp. deber lassen sich der deontischen Lesart der obligatorischen Notwendigkeit (‛er ist verpflichtet zu kommen’) und der epistemischen Verwendung zum Ausdruck einer Vermutung oder Schlussfolgerung (‛es gibt vernünftige Gründe für die Annahme, dass er kommen wird’) zuordnen: (68) fr.

Elle doit venir.

(69) it.

Deve venire.

(70) ap. Debe venir.

Zu dem Modalverb devoir hat Dendale (1994) die Vielfalt der unterschiedlichen epistemischen Bedeutungen unter einer einheitlichen evidentiellen Lesart zusammengefasst (vgl. 4.4.4.1.).48 Für pouvoir verweist Le Querler (2001: 17–18) auf fünf Bedeutungen, die sie zugleich dem deontischen und dem epistemischen Bereich zuordnet. Als deontisch charakterisiert sie den Ausdruck einer Erlaubnis, einer physischen Fähigkeit und einer durch die äußeren Bedingungen gegebenen Möglichkeit, während sie die aus einer Überlegung resultierende Möglichkeit als epistemisch betrachtet. In der fünften, als sporadisch bezeichneten Bedeutung von pouvoir kenn_____________ 48

Zu devoir vgl. auch Kronning (2003: 141).

318

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

zeichnet das Modalverb eine Situation als manchmal eintretend. Das Sporadische kann sich dabei referenziell auf das Subjekt beziehen und die Aussage auf nur einige Repräsentanten der bezeichneten Klasse einschränken ((75) ‛einige Elsässer sind dick’) oder das nicht kontinuierliche, temporal eingeschränkte Auftreten einer Situation bezeichnen ((76) ‛Jean ist manchmal widerlich’) (Le Querler 2001: 19–20): (71) fr.

Il peut venir au cinéma, ses parents l’y autorisent.

‛Erlaubnis’

(72) fr.

Il peut venir à pied, sa jambe est déplâtrée.

‛physische Fähigkeit’

(73) fr.

Il peut venir, puisque la route est déneigée.

‛durch äußere Bedingungen gegebene Möglichkeit’

(74) fr.

Il peut pleuvoir en Angleterre en ce moment.

‛aus Überlegung resultierende Möglichkeit’

(75) fr.

Les Alsaciens peuvent être obèses.

‛sporadisch, referentiell eingeschränkt’

(76) fr.

Jean peut être odieux.

‛sporadisch, temporal eingeschränkt’

All diese verschiedenen Bedeutungen von pouvoir führt Le Querler (2001: 20–21; vgl. auch Le Querler 1996) auf die interdeterminierte Basisbedeutung der abstrakten Möglichkeit (possibilité abstraite) zurück. Die speziellen modalen Bedeutungen ergeben sich auf dieser Basis aus dem Kontext. Es gibt jedoch Verwendungen von pouvoir, in denen sich die Bedeutung der abstrakten Möglichkeit direkt manifestiert. Le Querler (2001: 20) führt hierfür folgenden Satz an: (77) fr.

On a pu voir hier le premier ministre au Salon de l’Agriculture.

In den Medien wird ein solcher Satz in der Regel dazu verwendet, folgende Bedeutung wiederzugeben: ‛der Minister hat gestern die Landwirtschaftsmesse besucht’. Pouvoir kann hier keiner der genannten Etiketten zugeordnet werden, solange man das Subjekt (on) als generisch interpretiert. Sobald man on als Pronomen interpretiert, das sich auf eine den Sprecher einschließenden Personengruppe bezieht, würden die Bedeutungen ‛Erlaubnis’ und ‛durch äußere Bedingungen gegebene Möglichkeit’ aktualisiert. Damit wird die konkrete Art der Modalität nicht durch das Modalverb selbst, sondern durch den Kontext bestimmt. Modalität ergibt sich daher – ebenso wie wir es bei der Temporalität und der Aspektualität gesehen haben – aus einem Zusammenwirken verschiedener sprachlicher Mittel. Es gibt jedoch auch Autoren, die Verben zu Modalverben rechnen, wenn sie in einer ihrer Verwendungen Modalität ausdrücken. So zählt

Modalität als Kategorie

319

Schrott das Wort aller in der Periphrase aller faire qc. ebenso zu den Modalverben, da mit dieser Verbalperiphrase in bestimmten Kontexten Überraschung, eine allure extraordinaire, ausgedrückt werden kann (Schrott 2001: 159). Als Beispiel für eine solche Verwendung der Periphrase führt sie an: (78) fr.

Je parie que vous allez jusqu’aux Accates ? - Plus loin. - Alors aux Camoins ? - Plus loin. - Bouzigue ouvrit des yeux énormes: Vous n’allez pas dire que vous allez à la Treille ? (Château, 136; aus Schrott 2001: 159)

Allerdings bemerkt Schrott hierzu selbst, dass sich der modale Wert der Periphrase in solchen Fällen aus der Interaktion der temporalen Basisbedeutung mit dem Kontext ergibt. Für die Beschreibungs- und Erklärungsadäquatheit erscheint es uns daher sinnvoll, hier die temporale Bedeutung der Periphrase in den Mittelpunkt zu stellen. Eine Reihe Verben bringt Wertungen und Einstellungen in ihrer Bedeutung zum Ausdruck. Nach Pottier ist ein Verb ein Modalverb, wenn es in seiner Semstruktur mindestens ein modales Merkmal hat. Daher ist für ihn zum Beispiel das Verb renoncer, das die modalen Merkmale ‛gewollt haben’ und ‛nicht mehr wollen’ beinhaltet, gleichfalls ein Modalverb (vgl. Pottier 1980). Wir betrachten jedoch Verben, die Einstellungen zu einer Situation in der Prädikation ausdrücken, nicht als Modalverben, womit wir der im Anschluss an Eisenberg (2006 [11986]) vorgenommenen engen Bestimmung der Klasse der Modalverben folgen. 4.1.4. Dimensionen der Modalität Die in der Forschungsliteratur bei der Definition von Modalität häufig genannten Kriterien der Faktivität des dargestellten Sachverhalts und der Einstellungsbekundungen des Sprechers zum dargestellten Sachverhalt sind leicht miteinander zu verwechseln, da sie kombiniert auftreten, gemeinsam in einer Äußerung vorkommen können und oft durch dieselben oder ähnliche sprachliche Mittel ausgedrückt werden. Nachfolgend soll daher von den folgenden sechs Dimensionen der Modalität ausgegangen werden und dann eine Konzentration auf die im Zusammenhang mit der epistemischen Modalität wichtigsten Ausdrucksmittel erfolgen.49

_____________ 49

Ich folge dabei der in Volkmann (2005) und Haßler (2013) dargelegten Einteilung. Vgl. auch Volkmann (1997).

320

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

4.1.4.1. Die offene Geltung des dargestellten Sachverhalts bzw. Nicht-Assertion eines Sachverhalts

Die Dimension der offenen Geltung des dargestellten Sachverhalts bzw. der Nicht-Assertion eines Sachverhalts betrifft die Faktivität oder NichtFaktivität des dargestellten Sachverhalts, bei der es folgende drei Möglichkeiten gibt: der Sprecher kann einen Sachverhalt geltend (faktiv), nichtgeltend (kontrafaktiv) oder mit offener Geltung (nichtfaktiv) darstellen: (79) sp. Ana está en casa.

faktiv

(80) sp. Ana no está en casa.

kontrafaktiv

(81) sp. Pepe dice que Ana está en casa.

nichtfaktiv

In Satz (79) wird die Proposition, dass Ana zu Hause ist, als zutreffend dargestellt, während sie in Satz (80) negiert, also als nicht zutreffend vermittelt wird. Wenn ein Sprecher dagegen einen Sachverhalt mit offener Geltung darstellt, dann behauptet er weder, dass dieser Sachverhalt in der jeweiligen Bezugswelt existiert, noch, dass er nicht existiert, sondern lässt beide Möglichkeiten offen. Das kann verschiedene Gründe haben, etwa dass der Sprecher nicht weiß oder nicht sagen will, ob der beschriebene Sachverhalt gilt oder dass es sich, wie in (81), um Informationen aus zweiter Hand handelt, für deren Richtigkeit er keine Verantwortung übernehmen will. Bei der Darstellung eines Sachverhalts mit offener Geltung wird dieser nicht-assertiert, die Regresspflicht50 dafür nicht übernommen; der Sprecher legt sich weder auf die Wahrheit noch auf die Falschheit der darin enthaltenen Proposition fest. Die Entscheidung, ob eine Proposition assertiert oder nicht-assertiert wird, ist auch an syntaktischen Konstruktionen ablesbar; so werden alle Propositionen, die in eine höhere Proposition eingebettet sind, wie beispielsweise Nebensätze oder Infinitivkonstruktionen, nicht-assertiert (Stutterheim 1993: 7). Ein weiteres Erkennungsmerkmal für nicht-assertierte Propositionen ist, dass ihnen nicht mit der Replik das stimmt nicht widersprochen werden kann. Zu den mit offener Geltung dargestellten Sachverhalten bzw. nicht-assertierten Propositionen gehören damit auch die Präsuppositionen, wie in Beispiel (82): (82) sp. Me alegro que Ana haya venido.

Hier wird die Proposition, dass Anna gekommen ist, nicht assertiert, sondern präsupponiert. Wir werden später der Frage nachgehen, inwieweit bei eingebetteten Propositionen auch Polyphonie wirksam werden kann. _____________ 50

Zu den Modalkategorien der ‛Assertion’ und der ‛kommunikativen Regresspflicht’ von Heger (1977) und Raible (1983) vgl. Ludwig (1988: 34–60).

Modalität als Kategorie

321

4.1.4.2. Einstellungsbekundungen des Sprechers

Ein zweiter, zentraler Aspekt der Modalität sind die Einstellungsbekundungen des Sprechers. Dabei unterscheidet man zwischen der validativen Einstellung, d.h. einer Aussage des Sprechers darüber, wie er die Realität des dargestellten Sachverhalts einschätzt, und der evaluativen Einstellung, einer Aussage über seine emotionale Stellung zu dem dargestellten Sachverhalt, d.h. wie er ihn in positiv- oder negativ-Termini bewertet. Validative Einstellungen werden in der Regel zu Sachverhalten bekundet, die mit offener Geltung dargestellt werden, wie z.B. (83) sp. Creo que Ana está en casa.

Ob es validative Einstellungsbekundungen zu faktiv oder kontrafaktiv dargestellten Sachverhalten gibt, ist fraglich. Eventuell wären Äußerungen wie (84) hierzu zu zählen: (84) sp. No me lo creo, ¡me ha tocado la lotería!

Evaluative Einstellungen können zu Sachverhalten bekundet werden, von denen der Sprecher weiß, dass sie existieren oder nicht existieren oder zu Sachverhalten, von denen der Sprecher nicht weiß, ob sie existieren oder nicht: (85) sp. Me alegro de que hayas encontrado alojamiento. (86) sp. Que pena que todavía no hayas encontrado alojamiento. (87) sp. Espero/Ojalá que hayas encontrado alojamiento.

4.1.4.3. Grad der Wahrscheinlichkeit und Gewissheit

Unter dem Grad der Wahrscheinlichkeit und Gewissheit werden die Abstufungen verstanden, mit denen die objektive Wahrscheinlichkeit oder subjektive Gewissheit über die Existenz eines Sachverhalts angegeben werden kann. Dietrich (1992: 38–40) und Stutterheim (1993: 8) verdeutlichen den Unterschied zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit an den beiden hierfür prototypischen Modalverben des Deutschen: müssen und können. In den beiden Beispielsätzen (88) und (89) wird jeweils der Sachverhalt p ʽPeter machte gestern das Examenʼ mit offener Geltung dargestellt: (88) dt.

Peter musste gestern das Examen machen.

(89) dt.

Peter konnte gestern das Examen machen.

322

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Die beiden Äußerungen stimmen insofern überein, als in beiden Fällen angedeutet wird, dass es bestimmte Umstände (q) gibt, deren Konsequenz p ist, ohne dass q näher spezifiziert wird. Der Unterschied zwischen ihnen liegt im Verhältnis zwischen q und p. Während mit müssen ausgedrückt wird, dass zwischen q und p eine starke Folgebeziehung besteht (z.B. q: Es war der letztmögliche Termin), verweist können auf eine bloße Verträglichkeitsbeziehung (z.B. q: Er hatte sich rechtzeitig zur Prüfung gemeldet). 4.1.4.4. Grundlagen und Hintergründe der Geltung oder Einstellung

Auch bei der in der Modalitätsforschung oft getroffenen Unterscheidung zwischen epistemischer und deontischer Modalität geht es um die Voraussetzungen der Geltung, jedoch nicht – wie beim Unterschied zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit – um die Art der Beziehung zwischen dem vorausgesetzten Sachverhalt und dem mit offener Geltung dargestellten Sachverhalt, sondern um die Art dieser Voraussetzungen. Bei epistemischer Modalität sind dies Umstände des Glaubens und des Wissens, bei deontischer Modalität Umstände der Verpflichtung, des Erlaubt- bzw. Verbotenseins. Dass jedoch eine Unterscheidung von epistemischer und deontischer Modalität ohne Berücksichtigung des Kontextes häufig nicht möglich ist, kann der Satz (90) leicht veranschaulichen: (90) fr.

Il doit rentrer à la maison.

Mit diesem Satz lässt sich sowohl eine Schlussfolgerung des Sprechers (epistemische Modalität) als auch eine Verpflichtung der als Subjekt benannten Person (deontische Modalität) ausdrücken. Monosemierend wirkt in der Verwendung des Satzes als Äußerung der Kontext. 4.1.4.5. Einschränkung des Geltungsbereiches: Zeitbezug, Weltbezug, Deixis

Weitere Gesichtspunkte, die eine Äußerung relativieren können, indem sie den Geltungsbereich einschränken, sind der Weltbezug und der Zeitbezug sowie der Bezug der Äußerung auf ein bestimmtes deiktisches Zentrum. Ob ein Sachverhalt gilt, hängt davon ab, in welcher Situation er geäußert wird und wie die Welt gestaltet ist, der die Äußerungssituation angehört. Der Sprecher kann die Bezugswelt thematisieren und seine Aussage dahingehend relativieren, dass er für den dargestellten Sachverhalt nur Anspruch auf Gültigkeit in einem bestimmten Weltausschnitt erhebt. So

Modalität als Kategorie

323

nennt Sandhöfer-Sixel (1988: 19–21) Unterschiede im Verhältnis der dargestellten Gegenstände zur Realität und unterscheidet zwischen dem Bezug zur realen Welt in (91), zur nicht-realen, potentialen Welt in (92) und zur nicht-realen, irrealen Welt (93). (91) dt.

Anna kommt.

(92) dt.

Anna käme, wenn wir sie einladen würden.

(93) dt.

Anna wäre gekommen, wenn wir sie eingeladen hätten.

Auch der Zeitbezug stellt eine der Modalitätsdimensionen dar. Von Bedeutung ist dabei der Zeitbezug zwischen aktueller Äußerung und der in Frage stehenden modalisierten Proposition. Für die modale Einordnung einer Äußerung ist es nicht unerheblich, ob man über etwas spricht, das schon stattgefunden hat oder erst noch stattfinden wird, oder über etwas, das zeitlich gar nicht begrenzt ist (allgemeine Wahrheiten). In einem sehr allgemeinen Sinne ließe sich also feststellen, dass mit Modalität der sprachliche Ausdruck der Sprechereinstellung zur Proposition gemeint ist. Der Sprecher kann in verschiedenen Formen auf fremde, bereits produzierte Äußerungen Bezug nehmen und den Inhalt der Proposition auf ein anderes deiktisches Zentrum beziehen. Die Anwesenheit zweier (oder mehrerer) oft nur minimal markierter Sprechagentia in einem Text wurde zunächst in der Literaturwissenschaft ausgehend von Bachtin (1970 [1929]) und daran anschließend auch in der Sprachwissenschaft (Ducrot 1972; 1984; Ducrot & Bourcier 1980; Reyes 1984; Gévaudan, Atayan & Detges 2013) mit dem Terminus der Polyphonie bezeichnet.51 Reyes (1984: 64) unterscheidet in Anlehnung an Ducrot zwischen locutor und enunciador. Der locutor „zitiert“ einen Enunziator52, gibt dessen Rede wieder und überträgt ihm die Regresspflicht für die Richtigkeit der Aussage. Der Sprechaktpartner ist die zweite an der Äußerungssituation beteiligte Person. Traditionell spricht man auch von Empfänger, Hörer oder Adressat. Während der Terminus Hörer auf eine nicht in jedem Fall gegebene akustische Übermittlung verweist und beim Terminus Adressat eine Intention des Sprechagens mitschwingt, soll Sprechaktpartner in einem neutralen Sinne verstanden werden und sich auf die Person beziehen, welche die Sachverhaltsdarstellung wahrgenommen hat, unabhängig von deren materieller Form und von einer direkten Anrede (Volkmann 2005: 33–34). _____________ 51

52

Zur Polyphonie vgl. auch Atayan (2009), Gévaudan (2008), Gévaudan, Atayan & Detges (2013), Haßler (1997a), (1997b) und (2012d), Nølke (1993/2001) und (2004), Reyes (1990b) und (1994); zu epistemischen Fragen der Narrativität Parret (1983), Ricoeur (2002). Bei Ducrot wird der Begriff énonciateur für die Person verwendet, der die Verantwortung für den illokutiven Akt der Äußerung zugeschrieben wird.

324

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

4.1.4.6. Verhältnis von Modalität und Illokution

Eine weitere wichtige Dimension der Modalität ist ihre Unterscheidung von der Illokution und die damit verbundene Bestimmung des Verhältnisses von Modalität und Illokution. Da beide sprecherzentrierte pragmatische Kategorien sind, wurde in der Vergangenheit häufig von einer Unterscheidung abgesehen. Während wir Modalität im allgemeinen Sinne jedoch als Ausdruck der Einstellung des Sprechers zum Inhalt der Proposition gekennzeichnet haben, ist mit der Illokution der eigentliche Zweck eines Sprechaktes gemeint, also die dem Sprechakt zugrunde liegende Absicht des Sprechers. Nach Searle hat jede Äußerung neben einem propositionalen Gehalt auch eine „illokutive Kraft“, die der Sprecher explizit ausdrücken, die aber auch indirekt wirken kann. Im folgenden Beispiel (94) wird die Absicht des Sprechers durch das performative Verb bitten direkt ausgedrückt, während in Beispiel (95) die Illokution ‛Bitte, das Fenster zu schließen’ durch eine einfache Feststellung übernommen wird: (94) dt.

Ich bitte dich, das Fenster zu schließen.

(95) dt.

Es zieht.

Ausdrucksmittel der Modalität können zwar zu einer bestimmten Illokution beitragen, sie können jedoch nicht allein die Illokution bestimmen. In der Vergangenheit wurden die Illokution einer Äußerung und die Modalität eines Satzes nicht immer voneinander getrennt. Gosselin (2010: 10) verweist in diesem Zusammenhang auf Brunot, der die illokutive Funktion der Imperative als ‛Befehl’ und ‛Ratschlag’ als Modalitäten betrachtet: Les propositions isolées ont leur modalité ! Sortez est dans la modalité de l’ordre, prenez patience dans celle du conseil. (Brunot 1936: 509)

Im Gegensatz zu solchen Vermischungen der Illokution und des Satzmodus betrachtet es Gosselin als wichtig, zwischen der semantischen Erscheinung der Modalität und der zum Bereich der Pragmatik gehörenden Illokution zu unterscheiden. Man kann aus einem Aussagesatz mit Markierungen der epistemischen (96), deontischen (97), buletischen (98) und axiologischen (99) Modalität Illokutionen ableiten. Die illokutiven Bedeutungen stehen in den folgenden Beispielen in Klammern dahinter (vgl. Gosselin 2010: 20): (96) fr.

Peut-être qu’il a fumé.

(Assertion)

(97) fr.

Il est interdit de fumer.

(Verbot)

(98) fr.

Je voudrais fumer.

(Wunsch)

(99) fr.

Il est regrettable que tu aies fumé.

(Vorwurf)

Modalität und Polyphonie

325

Dennoch ist es nicht weniger möglich, unterschiedliche Satzmodalitäten ein und dieselbe illokutive Funktion übernehmen zu lassen. Für den Ausdruck direktiver Sprechakte hat der Sprecher zum Beispiel die Wahl zwischen der buletischen Modalität (100), der deontischen Modalität (101, 102), der axiologischen oder evaluativen Modalität in Verbindung mit einem Konditionalsatz (103, 104, 105) oder der buletischen Modalität im Fragesatz (106) (vgl. Gosselin 2010: 20): (100) fr. Je veux/désire/souhaite que vous complétiez ce dossier. (101) fr. Il faut/est obligatoire que vous complétiez ce dossier. (102) fr. Vous devez compléter ce dossier. (103) fr. Je serais heureux/satisfait si vous complétiez ce dossier. (104) fr. Je serais déçu/mécontent si vous ne complétiez pas ce dossier. (105) fr. Ce serait bien que vous complétiez ce dossier. (106) fr. Voulez-vous compléter ce dossier ?

Obwohl all diese modalen Mittel für den Ausdruck direktiver Sprechakte verwendet werden können, ist die Auswahl eines davon immer mit pragmatischen, illokutiven und perlokutiven Folgen verbunden.

4.2. Modalität und Polyphonie Untersuchungen zur Modalität gehen meist davon aus, dass der Sprecher in seiner Äußerung eine validative Einschätzung des Verhältnisses der Proposition zur Realität vornimmt oder evaluativ zu einem als geltend vorausgesetzten Sachverhalt Stellung nimmt. In der realen Kommunikation treten jedoch sowohl in monologischen als auch dialogischen Texten mehrere „Stimmen“ auf, die zur Komplexität der Modalität führen (Haßler 2012d, Gévaudan, Atayan & Detges 2013). Insbesondere bei nichtfaktischen Äußerungen fällt eine mögliche Beziehung der Modalität zur Polyphonie auf. In Beispiel (1) trifft der aktuelle Sprecher eine faktische Aussage über das Sprechen von Pepe, nicht über dessen Inhalt. Er stellt somit neben seiner eigenen Perspektive die einer anderen Person, Pepes, dar. Auch bei den Einstellungsbekundungen ist in Abhängigkeit vom eingebetteten Satz eine polyphone Gestaltung möglich: (1) sp.

Pepe dice que Ana está en casa.

Wenn man davon ausgeht, dass „sich die Struktur des Dialogs auch innerhalb einzelner Äußerungen“ (Gévaudan 2008: 1) spiegelt und wenn die Suche nach Spuren der Polyphonie in der sprachlichen Form der Äuße-

326

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

rungen Erfolg versprechend erscheint, müsste sie auch auf grammatischer Ebene nachweisbar sein. Markierungen der Polyphonie wurden im Zusammenhang mit der Modalität vor allem für das Französische untersucht, wofür insbesondere der von Anscombre, Oppermann-Marsaux & Rodríguez Somolinos (2014) herausgegebene Sammelband zu erwähnen ist. Die Fokussierung auf einzelne sprachliche Formen, wie das Futur und den Konditional (Bres 2014; Dendale 2014) oder die Konstruktionen on va dire (Steuckardt 2014), les gens disent que (Marque-Pucheu 2014), verdeutlicht die Komplexität der Konstituierung modaler Bedeutungen in polyphonen Kontexten. Solchen Erscheinungsformen komplexer Modalität wenden wir uns im Folgenden am Beispiel indikativischer und subjunktivischer Verbformen in eingebetteten Sätzen zu, um dann zu weiteren Erscheinungsformen der Polyphonie und ihren Auswirkungen auf die Modalität überzugehen. Wir nähern uns dabei bereits dem Bereich der Evidentialität, werden die betrachteten sprachlichen Mittel jedoch zunächst als modale Ausdrücke behandeln. 4.2.1. Verbformen in eingebundenen Sätzen und Polyphonie Betrachten wir den Satz (2), der als Überschrift einer Internetnachricht auftritt,53 so wird auf der Ebene der syntaktischen Struktur deutlich, dass eine Proposition (que Renault a triché) aus der Perspektive von Bernie als nicht glaubhaft dargestellt ist. Der aktuelle Textproduzent gibt den Sachverhalt dieser Relativierung wieder: (2) fr.

Bernie ne croit pas que Renault a triché.

Einen Hinweis auf die eigene Perspektive des aktuellen Textproduzenten zum Inhalt der Proposition erhalten wir durch den Vergleich mit dem folgenden Satz, in dem der Indikativ durch den subjonctif ersetzt wurde: (3) fr.

Bernie ne croit pas que Renault ait triché.

Während der aktuelle Textproduzent die Tatsache des Betrugs in Satz (2) mit der Verwendung des Indikativs nicht in Zweifel zieht und sich damit nicht der Skepsis des referierten Bernie Ecclestone anschließt, lässt er das Zutreffen dieser Proposition in (3) offen. Eine Polyphonie im Sinne Bachtins, bei der es um im Dialog geäußerte unterschiedliche Meinungen zu einem Gegenstand geht, wird hier erst durch die Verbform eingebracht: während der aktuelle Textproduzent in Satz (3) lediglich als Be_____________ 53

http://www.f1-action.net/infos/article12497.html (20.12.2011).

327

Modalität und Polyphonie

richtender auftritt, bringt er in Satz (2) seine nicht mit dem Enunziator übereinstimmende Meinung zum Ausdruck. In solchen Äußerungen liegt eine doppelte Deixis vor, die des aktuellen Sprechers und die des Enunziators. In der Annahme einer unterscheidenden Funktion des Indikativs und des Subjunktivs im Hinblick auf die Realität der eingebundenen Proposition sind sich die Grammatiken einig (vgl. Riegel, Pellat & Rioul 1994: 325; Ridruejo 1999: 3222–3244). Sobald der aktuelle Sprecher sich selbst als Subjekt des verneinten Matrixsatzes setzt, ist eine Verwendung des Indikativs nach verneintem croire nicht möglich, da der Sprecher sich damit selbst widersprechen würde: (4) fr.

Je ne crois pas qu’il en fasse trop.

(5) fr.

*Je ne crois pas qu’il en fait trop.

In gleicher Weise verhalten sich auch die Verbformen nach verneinten Verben des Sprechens und Meinens im Spanischen (vgl. Ridruejo 1999: 3223): (6) sp.

No cree que es inteligente.

(7) sp.

No cree que sea inteligente.

(8) sp.

No dice que es inteligente.

(9) sp.

No dice que sea inteligente.

Während der aktuelle Produzent der Äußerung in Satz (6) und (8) die Proposition im eingebetteten Satz nicht modalisiert und sie damit im Gegensatz zum Enunziator als potentiell wahr darstellt, lässt er mit der Verwendung des subjuntivo die Geltung der Proposition offen. Diese Verhältnisse werden in der folgenden Übersicht dargestellt: Neg.+ Verb des Meinens/Sagens + que + INDIKATIV + Prädikativum ENUNZIATOR AKTUELLER SPRECHER

Proposition A modalisiert Proposition A nicht

Neg.+ Verb des Meinens/Sagens + que + SUBJUNKTIV + Prädikativum ENUNZIATOR AKTUELLER SPRECHER

Proposition A modalisiert Proposition A

328

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Auch hier ist eine Verwendung des Indikativs nach einem verneinten Verb des Sprechens oder Meinens in der ersten Person nicht möglich. Bei Verwendung des Indikativs würde die eingebundene Proposition als faktisch zutreffend dargestellt. Da aber in diesem Fall der zitierte Enunziator mit dem aktuellen Sprecher identisch wäre, würde dieser zugleich etwas behaupten, das er negiert: Neg.+ Verb des Meinens/Sagens + que + INDIKATIV + Prädikativum ENUNZIATOR (=AKTUELLER SPRECHER) Proposition A AKTUELLER SPRECHER

modalisiert Proposition A nicht

Während in Grammatiken von einem solchen unterscheidenden Potential der Modi bei der Gestaltung der Modalität in eingebundenen Sätzen ausgegangen wird, scheint in der sprachlichen Realität dieser Unterschied jedoch zunehmend zugunsten einer generalisierten Verwendung des Indikativs zurückzutreten. So lassen sich im Französischen durchaus auch verneinte Matrixsätze mit Verben des Glaubens und Sagens in der ersten Person finden, nach denen die Verbform im eingebundenen Satz im Indikativ steht: (10) fr.

Je ne crois pas que le changement de société se fera sans violence. (29 avril 2016 / Entretien avec Xavier Mathieu, http://reporterre.net/Je-ne-croispas-que-le-changement-de-societe-se-fera-sans-violence)

(11) fr.

Je ne dis pas que je suis Batman. (https://www.google.fr/#q=je+ne+dis+ pas+que+je+suis+batman)

Im Corpus del Español del Siglo XXI (CORPES) überwiegt auch im mündlichen Teil des Korpus nach der Konstruktion no creo eindeutig der Subjunktiv. Es wird somit der Tatsache Rechnung getragen, dass bei Identität des aktuellen Sprechers und des wiedergegebenen Meinungsträgers die Darstellung der Proposition als nicht zutreffend problematisch wäre: (12) sp. Yo no creo que el amor termine, siempre que termina es porque uno ha empezado a amar nuevamente. (CORPES, Elmundo.es. Encuentro digital con Laura Esquivel. www.elmundo.es: elmundo.es, 2001-10-04) (13) sp. No creo que vaya a caer bien. (CORPES, Hoy es domingo, 16/02/03, Onda Cero) (14) sp. Hombre, digo yo, no creo que me dejes tirado por ahí. (CORPES, Final de la última etapa de la Vuelta Ciclista a España, 28/09/03, Onda Cero)

Im gleichen Korpus finden sich jedoch bereits einzelne Beispiele gesprochener Sprache, in denen im eingebundenen Satz nach no creo der Indikativ

Modalität und Polyphonie

329

steht. Der Sprecher stellt damit die Proposition als nicht glaubwürdig dar, relativiert sie aber im untergeordneten Satz nicht durch den Subjunktiv: (15) sp. Entonces no creo que no se le da la profundidad del y se toma el tema tan en serio, porque Ceuta y Melilla pues es un tema muy preocupante. (CORPES. Protagonistas: El quinto tertuliano, 29/10/01, Onda Cero) (16) sp. No, yo no creo que los los demás se entregan perfectamente. (CORPES. Plaza de toros, 11/11/02, Onda Cero)

Dies deutet darauf hin, dass die unterscheidende Funktion des Indikativs und des Subjunktivs im Hinblick auf die Modalität eingebundener Propositionen auch im Spanischen im Schwinden begriffen ist. 4.2.2. Polyphonie und unterschiedliche Kategorien von Modaladverbien Auch modale Adverbien können zu komplexen Strukturen der Modalität in Äußerungen beitragen und dabei auch Polyphonie kennzeichnen. Der Aufgabe, Sachverhalte entweder zu modalisieren oder sie zu bewerten, entsprechen semantisch zwei Hauptklassen von Adverbien bzw. adverbialen Wortgruppen (vgl. Eisenberg 2006: 218): (a) ungewiss-p: z.B. vielleicht, möglicherweise, vermutlich, wahrscheinlich, hoffentlich, sicher(lich), zweifellos, wirklich, angeblich, bekanntlich, offenbar (b) p vorausgesetzt und bewertet: z.B. leider, klugerweise, leichtsinnigerweise, richtigerweise, erstaunlicherweise, bedauerlicherweise, ausnahmsweise, unnötigerweise, erfahrungsgemäß, wunschgemäß, naturgemäß. Die Adverbien der Gruppe (a) werden epistemische Adverbien genannt. Sie thematisieren die Geltung von Sachverhalten, wobei die Skala von hoher Sicherheit bis zu großer Unwahrscheinlichkeit reicht. Sobald ein solches Adverb auftritt, wird die Geltung des Sachverhalts eingeschränkt (ungewiss-p), auch wenn die lexikalische Bedeutung Sicherheit ausdrückt. Der Satz (17) drückt daher den Sachverhalt als geltend aus, während (18) die Geltung mit dem Adverb sicher relativiert: (17) dt.

Maria ist jetzt in Berlin.

(18) dt.

Maria ist jetzt sicher in Berlin.

Mit der Verwendung eines epistemischen Adverbs ordnet der Textproduzent seine Aussage einer unterschiedlichen Anzahl von möglichen Welten zu. Der Grad der Gewissheit ist dabei nur bedingt von der lexikalischen Bedeutung des Adverbs abhängig. So markiert vielleicht lexikalisch zwar eine geringere Anzahl von möglichen Welten als sicher, beide können in

330

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Abhängigkeit von der Sprecherabsicht aber auch synonym verwendet werden: (19) dt.

Wollen wir nicht Maria zu unserem Treffen einladen? Maria ist jetzt sicher/vielleicht in Berlin.

Mit einem Adverb aus der Gruppe (b) wird dagegen eine Wertung vorgenommen; die Geltung des Sachverhalts wird vorausgesetzt.54 In dem folgenden Satz wird die Proposition p, ‛dass Karl immer zu spät kommt’ vorausgesetzt und mit leider als negativ bewertet: (20) dt.

Leider kommt Karl immer zu spät.

Durch solche Bewertungen, die die Proposition präsupponieren, wird deren Assertivität nicht verringert, sondern sogar zu einer Selbstverständlichkeit erklärt. Solche evaluativen Adverbien fungieren immer als Satzadverbien, während das Auftreten epistemischer Adverbien auch unterhalb der Satzebene nicht ausgeschlossen ist: (21) dt.

Wie alt? Er ist jetzt achtundsiebzig oder neunundsiebzig, vielleicht schon achtzig. (DWDS. – Degenhardt, Franz Josef, Für ewig und drei Tage, Berlin: Aufbau-Verl. 1999: 166)

Wenn die Adverbien der Gruppe (a) die Geltung eines Sachverhalts relativieren, die der Gruppe (b) sie aber voraussetzen, so scheint eine Verbindbarkeit von Adverbien aus beiden Gruppen auf gleicher Ebene im Satz ausgeschlossen. Dennoch gibt es Äußerungen wie die folgende, die dieser auf den ersten Blick plausiblen Annahme zu widersprechen scheinen: (22) dt.

Wahrscheinlich hat er es wieder einmal leider vergessen.

Rezipienten ordnen dieser Äußerung offene Geltung zu; insofern ist die Semantik von wahrscheinlich übergeordnet für die Sinngebung. Daneben verstehen wir jedoch das Geltung verlangende leider dann nicht als inkompatibel mit ungewiss-p Ausdrücken, wenn es als Bestandteil vorangegangener bzw. habitueller Äußerungen aufgefasst wird. Jemand entschuldigt sich also immer mit Äußerungen vom Typ „Leider habe ich es vergessen“. Leider bewertet hier den Sachverhalt des Vergessens und setzt ihn zugleich als geltend voraus. In Satz (22) liegen also gewissermaßen zwei Stufen von Propositionen vor, die unterschiedlich modalisiert werden: -

Die Vermutung über die zu erwartende Äußerung wird mit wahrscheinlich markiert und damit als in der Geltung offen modalisiert.

_____________ 54

Eisenberg (2006: 218) verweist im Zusammenhang mit diesen beiden grundsätzlich verschiedenen Gruppen von Adverbien auf die terminologische Unschärfe in der Behandlung der Modalität. Die Geltung voraussetzenden Adverbien der Gruppe (b) heißen bei Lang (1979: 201) faktiv.

Modalität und Polyphonie

-

331

Die darin eingebettete Proposition, dass er es vergessen hat, wird auf einer darunterliegenden Ebene als geltend vorausgesetzt und kann deshalb auch problemlos mit leider bewertet werden.

Auch in den romanischen Sprachen kommen solche Kombinationen epistemischer und evaluativer Adverbien vor und stellen eine Erscheinungsform komplexer Modalität dar. In Beispiel (23) wird die durch peut-être mit offener Geltung eingeführte Proposition, dass diese Herren gelehrt sind, weil sie dumm und verrückt sind, ironisch aus einer anderen Sprecherperspektive übernommen und dann aus der Perspektive der Textproduzentin, George Sand, als bedauerlich gewertet. Es handelt sich somit um einen typischen Fall von zwei Stimmen in einer Äußerung, die hier durch die Modaladverbien verdeutlicht werden: (23) fr.

Malheureusement ces messieurs sont peut-être savants puisqu’ils sont bêtes et fous, et s’ils comprennent, s’ils savent par hasard ce que c’est qu’Antiscyre […]. (Frantext R475 R475 – Sand, George, Correspondance 1828, 1828: 493)

In den beiden folgenden Beispielen beziehen sich die evaluativen (fr. malheureusement, sp. lamentablemente) und die epistemischen (fr. peut-être, sp. probablemente) Adverbien auf die gleiche Proposition, ohne dass die Perspektive eines anderen Textproduzenten eingeführt würde. In Beispiel (24) wird die Proposition p ‛dass ein System selten ist’ mit peut-être als mit offener Geltung dargestellt. Es handelt sich hier um die Mitteilung des Ergebnisses von Überlegungen und die Öffnung der Geltung erscheint als eine Art Zugeständnis an die Gegenposition. Durch malheureusement wird die Proposition als bedauerlich gewertet; zugleich wird damit die Relativierung der Aussage jedoch aufgehoben. Auch hier liegen somit zwei „Stimmen“ vor, die zwar beide dem Textproduzenten gehören, aber unterschiedliche Reflexionsstufen und Aussageabsichten repräsentieren: (24) fr.

il faut être possédé de la maladie du xviiie siècle, fils du xvie, pour attribuer au sacerdoce l’invention d’un système, malheureusement peut-être aussi rare, mais certainement encore aussi ancien que le bon sens. (Frantext – M782 Maistre Joseph, comte de, Les Soirées de Saint-Pétersbourg ou Entretiens sur le gouvernement temporel de la Providence, 1821: 527)

Die Textstelle (25) ist stark von konzeptueller Mündlichkeit geprägt, was auch das Aufeinanderfolgen der beiden Adverbien ermöglicht. Die Tatsache, dass die Schaffung von 500.000 Arbeitsplätzen in der beginnenden Regierungszeit nicht möglich sein wird, stellt der Sprecher zunächst als geltend dar und wertet sie als bedauerlich, danach öffnet er jedoch die Geltung mit probablemente, was die optimistische Möglichkeit des Nichtzutreffens nahelegt. Auch hier lässt sich die Verwendung eigentlich inkompatibler Adverbien, die die Geltung der Proposition präsupponieren bzw.

332

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

öffnen, als ein Fortschreiten des Diskurses, in dem sich die kommunikativen Absichten weiterentwickeln, erklären: (25) sp. Yo digo, personalmente, que con la capitalización vamos a cumplir con los 500.000 empleos, lamentablemente, probablemente, no lo vamos a cumplir hasta fines de mi gobierno. (CdE, Bolivia:ERBOL:05/06/96)

In den Beispielen (26) und (27) werden die sich eigentlich ausschießenden Adverbien malheureusement und probablement auf unterschiedlichen syntaktischen Ebenen verwendet, wodurch sie nicht in Widerspruch zueinander treten. In (26) wird das Fortdauern einer Situation als wahrscheinlich eingeführt, die als solche dann als unglücklich charakterisiert wird. In (27) wird die Tatsache, dass jemand unter Zeitdruck steht, als geltend vorausgesetzt und mit malheureusement gewertet; danach erfolgt eine Mutmaßung über die Gründe dieses Zustands, die durch probablement mit offener Geltung dargestellt werden: (26) fr.

Cela forma bientôt entre nous des liaisons plus intimes, qui ont duré quinze ans, et qui probablement dureraient encore si malheureusement, et bien par sa faute, je n’eusse été jeté dans son même métier. (Frantext S360 – Rousseau, Jean-Jacques, Les Confessions, 1778, p. 359)

(27) fr.

Malheureusement vous êtes pressé, pressé probablement d’aller faire des choses que vous feriez mieux de ne pas faire. (Frantext K526 – Proust, Marcel, À la recherche du temps perdu. 15. La Prisonnière, 1922, p. 287)

Obwohl in diesen beiden Fällen keine Polyphonie vorliegt, trägt das Spiel mit offener Geltung und dem Präsupponieren der Proposition zur Wirkung des Textes bei. 4.2.3. Imperfekt und Konditional als Markierung von Polyphonie In einigen Textsorten ist der Verweis der Regresspflicht für den Inhalt der Äußerung auf ein anderes, außerhalb der Sprecherdeixis liegendes Zentrum besonders wichtig. Schon 1983 hat Raible am Beispiel des überdimensionalen Gebrauchs des französischen Conditionnel in der Pressesprache gezeigt, dass der Sprecher damit die Regresspflicht ablehnen und rechtliche Konsequenzen vermeiden kann (Raible 1983: 276, vgl. auch Vatrican 2010). Aus der Verwendung des Conditionnel zum Hinweis auf eine Informationsquelle darf nun nicht der Schluss gezogen werden, dass sich Entwicklungen in diesem Bereich immer als Verfeinerung in der Abgrenzung der einzelnen evidentiellen Bedeutungen darstellen müssen. Die häufige Verwendung gerade in Pressetexten stellt sich als Vereinfachung zweier Konstruktionen dar, die als solche in der vereinfachten Form nicht mehr unterscheidbar sind. In den folgenden Beispielen bleibt offen, ob

Modalität und Polyphonie

333

mit dem Conditionnel eine Schlussfolgerung des Journalisten oder eine Wiedergabe der fremden Rede ausgedrückt wird, ob inferentielle oder quotative Evidentialität vorliegt (vgl. Guentchéva 1994: 17–18): (28) fr.

Les jeunes préféreraient que l’employeur se sente responsable de l’avenir qu’il leur prépare. (Glossanet, 2000-12-02)

(29) fr.

Pour l’UCI le contrôle anti-dopage du Tour de France 2000 est terminé. Les Jeux de 2008 à Paris coûteraient 7 milliards de francs aux collectivités publiques. (Glossanet, 2000-12-02)

In ähnlicher Funktion tritt heute bereits das Imperfekt in romanischen Sprachen auf.55 Das Imperfekt ermöglicht die Eröffnung einer weiteren Sprecherdeixis, ohne dass dafür das andere deiktische Zentrum genannt werden müsste. Für die intertextuelle Verweisfunktion des spanischen imperfecto hat Reyes die Bezeichnung valor citativo gewählt. Mir erscheint es angemessener, von evidentiellem Wert des Imperfekts zu sprechen, da nicht klar ist, ob wirklich eine Äußerung zitiert wird oder ob das wiedergegebene Wissen des Sprechers einfach aus einer unsicheren oder nicht hinreichend erinnerten Quelle kommt. Die Äußerung (30) ließe sich unter Nutzung dieser Verweisfunktion des imperfecto als (31) reformulieren: (30) sp. Juan viene mañana, según me anunciaron. (31) sp. Juan venía mañana.

Venía würde dabei nicht als Bezug auf ein bereits vergangenes Kommen verstanden, was durch die Verwendung des Zeitadverbs mañana eindeutig ist. Vielmehr bezieht sich venía auf eine frühere sprachliche Äußerung, in der das Kommen von Juan angekündigt wurde. Das Imperfekt präsupponiert diese Äußerung und verweist damit auf sie. Es hat dabei seine prototypische Referenz in temporaler und zeitlicher Hinsicht, nämlich eine Handlung in der Vergangenheit in ihrem Verlauf darzustellen, partiell verloren und eine epistemisch-evidentielle Bedeutung angenommen. Einige weitere Beispiele sollen diese Funktion des Imperfekts belegen. In Satz (32) aus einem Dialog zwischen zwei Freunden bezieht sich llegabas nicht auf ein zurückliegendes Treffen, sondern auf ein zukünftiges Kommen der Sprechaktpartnerin, dessen Termin der Sprecher bereits wusste, an den er sich aber nicht genau erinnert: (32) sp. Amiga, necesito saber cuándo llegabas. Dime día y horarios.

_____________ 55

Vgl. auch Labeau & Larrivée (2005), Labeau, Vetters & Caudal (2007).

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Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Seit den Untersuchungen von Reyes (1990b; 1994) zum evidentiellen Wert des imperfecto im Spanischen ist nachgewiesen, dass in Sätzen wie (33) der Hinweis auf die Herkunft des Sprecherwissens aus fremder, unsicherer Mitteilung allein durch die Verbform möglich ist: (33) sp. El tren llegaba a las ocho.

Äußerungen wie (33), (34) und (35) werden als Mitteilungen über vergangene oder zukünftige Sachverhalte verstanden, die der Sprecher über das Zeugnis anderer oder aus eigenen Überlegungen kennt: (34) sp. No voy a buscar al niño a la escuela porque hoy iba su padre a buscarlo. (35) sp. ¿Viste al novio? Venía ayer… a ver Lolita.

Der Grad der Unsicherheit des Sprechers über das Eintreten der genannten Situationen kann dabei unterschiedlich sein. Während er in (34) als niedrig angenommen werden kann (schließlich hätte die Sprecherin das Abholen des Kindes nicht dem Vater überlassen, wenn sie nicht wüsste, dass er es tut), ist in (35) ein hoher Unsicherheitsgrad möglich. Mit expliziter lexikalischer und syntaktischer Markierung der Evidentialität als Verweis der Verantwortung für den Inhalt des mitgeteilten Sachverhalts an andere könnten diese Äußerungen etwa folgendermaßen erscheinen: (33a) sp. Anunciaron que el tren llegaba a las ocho, ¿verdad? (34a) sp. No voy a buscar al niño porque hoy su padre, según está programado, iba a buscarlo. (Oder: Su padre dijo que lo iba a buscar hoy.) (35a) sp. ¿Viste al novio? Me dijeron que venía ayer…a ver Lolita.

Die Beziehung der Äußerungen (33) bis (35) zu ihren Varianten mit expliziter lexikalischer und syntaktischer Markierung als Redewiedergabe ((33a) bis (35a)) oder als Meinung lässt sich als Übergabe der verweisenden Funktion der weggefallenen Elemente an die immer wieder und regelmäßig in ihrer Umgebung stehende Verbform ansehen. Die Möglichkeit, Sätze wie (33) bis (35) als möglicherweise Unsicherheit ausdrückenden Verweis auf eine Wissensquelle aufzufassen, scheint vor allem durch die aspektuelle Bedeutung des Imperfekts vorzuliegen (vgl. 4.3. sowie bereits Bertinetto 1986; Vetters 1996; Böhm 2016). Ebenso wie in einer Äußerung wie (36) die Handlung des Hinausgehens als nur versucht und nicht wirklich vollzogen verstanden wird, lässt die imperfektive Aspektualität leicht offene Geltung überhaupt entstehen. Eine Handlung, die in ihrem Verlauf vorgestellt wird, kann auch so konzipiert werden, dass ihr Ergebnis und letztlich die Handlung selbst als offen erscheinen:

Modalität und Polyphonie

335

(36) Sp. Ana salía cuando sonó el teléfono.

Als weitere Erklärung für die Möglichkeit, Relativierung mithilfe von temporaler Deixis zu markieren, lassen sich die relativ strengen Zeitenfolgeregeln in den romanischen Sprachen anführen, die auch für die kanonischen Formen der indirekten Rede gelten. Bei einer Redewiedergabe in der kanonischen Form der indirekten Rede wird der Redekontext in Beziehung zum aktuellen Sprechzeitpunkt verortet, also in absoluten Tempora beschrieben, während für den Redegegenstand geeignete relative Tempora verwendet werden müssen, die das zeitliche Verhältnis zwischen wiedergegebenem Sachverhalt und inaktuellem Äußerungsakt widerspiegeln. Im Spanischen können imperfecto und condicional als relative Tempora bei der Markierung von fremder Rede mitwirken. Dabei kommt es unter Umständen zu einer für Redewiedergaben spezifischen Mischung von Zeitangaben, einer Überlagerung der Perspektiven, so z.B. in (37). Die deiktische adverbiale Tempusangabe esta noche, die das Verhältnis der Nachzeitigkeit zum aktuellen Sprechzeitpunkt ausdrückt, bezeichnet außerdem den Zeitpunkt der mit veía beschriebenen Handlung. Hier wird also mit Hilfe des „Vergangenheitstempus“ imperfecto ein zum aktuellen Sprechzeitpunkt nachzeitiger Zeitpunkt beschrieben. Dieser Widerspruch ist nur zu lösen, indem man alle Verbaltempora im Redegegenstand nicht als relativ zum aktuellen Sprechzeitpunkt, sondern als relativ zu dem nicht explizit benannten Zeitpunkt der inaktuellen Äußerung versteht, also zu einem impliziten me dijeron: (37) sp. A: –¿Qué tal sigue Ana? B: –Mejor, me parece. No la vi, porque cuando llegué dormía. Pero había comido algo, y tenía menos fiebre. Esta noche la veía el médico de nuevo. (Reyes 1990b: 34)

Diese Form der Redekennzeichnung ist im Spanischen häufig und funktioniert auch, ohne dass adverbiale Zeitangaben verwendet werden, wie in der Replik von Sprecher B in (38). Er geht davon aus, dass der besagte Film noch läuft, und markiert mit dem Gebrauch des imperfecto diesen Sachverhalt als Redegegenstand eines früheren Gespräches mit A. In seiner Antwort tut dies auch Sprecher A und ergänzt dabei die B entfallene und deswegen erfragte Zeitangabe (Volkmann 2005). (38) sp. A: –¿Viste ya la nueva película de Almodóvar? B: –No, todavía no, ¿hasta cuándo la daban en el cine Alhambra? A: –La daban hasta el próximo miércoles.

Während das imperfecto als relatives Tempus die Gleichzeitigkeit zu einem vergangenen Zeitpunkt ausdrückt, verweist der condicional als relatives Tempus auf einen Zeitpunkt der nachzeitig zu einem vergangenen Zeitpunkt liegt. In (39) werden mit era und iba Sachverhalte beschrieben, die

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Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

gleichzeitig zum inaktuellen Sprechzeitpunkt liegen, der durch das Tempus perfecto simple von aseguró und prometió als vorzeitig zum aktuellen Sprechzeitpunkt beschrieben wird. Der Konditional sería beschreibt dagegen einen Zeitpunkt, der nachzeitig zum inaktuellen Sprechzeitpunkt liegt, also aus der Sicht der Figuren noch zukünftig ist. Sowohl beim imperfecto als auch beim condicional als relative Tempora kann der Bezugszeitpunkt der gedachte oder – wie hier im Redekontext – der genannte Zeitpunkt der inaktuellen Äußerung sein, wodurch diese Verbformen als Fortsetzungssignale einer einmal eingeführten Rede fungieren: (39) sp. Tao Chi’en le aseguró que se acostumbraría al olor y al encierro, porque a casi todo se habitúa el cuerpo en tiempos de necesidad, agregó que el viaje sería largo y no podría asomarse al aire libre nunca, así es que más le valía no pensar para no volverse loca. Tendría agua y comida, le prometió, de eso se encargaría él cuando pudiera bajar a la bodega sin levantar sospecha. El bergantín era pequeño, pero iba atestado de gente y sería facil escabulirse con diversos pretextos. (/874/Fortuna 217–218, nach Volkmann 2005: 239.)

In (40) hat der Konditional von se habría trasladado ebenfalls die Funktion, die Fortsetzung der Redewiedergabe zu markieren, denn es geht eine Redewiedergabe mit explizitem Redekontext voraus. (40) sp. Los rumores indicaban que […] el general Díaz Alegría se habría trasladado a París […] (C16, N°931, 02.10.89: 72, nach Volkmann 2005: 239).

Die deiktischen Werte der Tempora, die für die Markierung einer doppelten oder multiplen Deixis und damit polyphoner Verhältnisse genutzt werden, sind in erster Linie Merkmale einer Deixis am Phantasma (Bühler 1978 [11934]), wobei das „Phantasma“ die Person des Enunziators bzw. der inaktuelle Äußerungszeitpunkt ist. Während für das Spanische bereits festgestellt wurde, dass die Verweisfunktion des imperfecto in der Umgangssprache auch ohne weitere Stützung durch Adverbien oder explizite Markierungen der Evidentialität funktionieren kann – erwähnt seien hierfür lediglich die frühen Arbeiten von Reyes (1984, 1990a, 1990b und 1994) sowie die neueste Arbeit von Böhm (2016) zu diesem Gegenstand – steht ein systematischer Vergleich dieser Möglichkeit des spanischen Imperfekts mit anderen Sprachen nach wie vor aus. Bereits in den fünfziger Jahren lieferte Käte Hamburger (1957) mit ihrer These vom „epischen Präteritum“ einen Ausgangspunkt dafür, in der in fiktionalen narrativen Texten vorkommenden Kombination von präteritalen Tempusformen mit temporalen deiktischen Adverbien der Gegenwart einen Grund dafür zu sehen, dem Präteritum der epischen und erzählenden Dichtung eine Vergangenheitsaussage abzusprechen. Dies wäre in unserem Kontext umso bemerkenswerter, als das deutsche Präteritum

Modalität und Polyphonie

337

über keine Aspektqualität verfügt und somit als solches keine offene Geltung signalisieren kann. In einem historischen Bericht liege ein redendes Subjekt mit einer IchOrigo vor, auf deren Ort in der Zeit oder im historischen Raum sich die Aussage bezieht. Das hier verwendete Präteritum treffe eine Vergangenheitsaussage in Bezug auf die Zeit in einer echten Ich-Origo. Sobald jedoch fiktive Subjekte auftreten, verliere das Präteritum seine Vergangenheit aussagende Funktion und bezeichne eine fiktive Zeit, die nur an die fiktive Geschichte der Gestalten gebunden und ohne Bezug auf die wirkliche Existenz des Autors oder Lesers sei. Diese These Hamburgers ist inzwischen vielfältig diskutiert und korrigiert worden (vgl. Rauh 1978: 9–28). Tatsächlich vermag jedoch das deutsche Präteritum außerhalb narrativer Texte und ohne weitere lexikalische Zusätze, wie zum Beispiel die epistemische Partikel doch, die mit dem spanischen imperfecto gegebene Verweisfunktion auf eine Wissensquelle des Textproduzenten nicht auszudrücken. Ein Satz wie (41) oder gar ein Satz mit dem in der Alltagssprache häufig das Präteritum ersetzenden Perfekt (42) würde als Feststellung ohne Kennzeichnung von Evidentialität oder Polyphonie verstanden: (41) dt.

Heue hielt Maria eine Vorlesung.

(42) dt.

Heute hat Maria eine Vorlesung gehalten.

Dass es im Deutschen keine Verbform gibt, der eine wie dem Spanischen Imperfekt mögliche modale und verweisende Funktion zukäme, verdeutlichen die Beispiele (43)–(45): (43) dt.

Der Zug kam um 8 Uhr an.

(44) dt.

Der Zug kam doch um 8 Uhr an.

(45) dt.

Der Zug kommt doch um 8 Uhr an.

Der Verweis auf eine Wissensquelle kann nur explizit lexikalisch (doch, wohl, wie ich hörte, wie X sagte) ausgedrückt werden. Soll auf ein Ankommen des Zuges in der Zukunft verwiesen werden, ist sogar der Gebrauch des Präsens wahrscheinlich. Die Präteritumsform erlaubt es nicht, einen Prozess als im Verlauf befindlich und damit in seiner Geltung offen darzustellen. Ohne deutlichen situativen Bezug wäre (43) aufgrund der Aktionsartbedeutung eher als perfektiv und vor dem Redemoment liegend zu interpretieren, ohne doch sogar nicht einmal mit eingeschränkter Geltung. Im Portugiesischen und Italienischen ist eine evidentiell verweisende Funktion des Imperfekts in kontextuell gebundener und pragmatisch gestützter Form möglich. Solche Äußerungen ließen sich als abgeleitet und verkürzt aus der indirekten Rede auffassen. In pragmatisch eindeutigen

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Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Kommunikationssituationen können auch Äußerungsformen wie (46) oder (47) den Ausdruck der Unsicherheit übernehmen und dabei auf eine situativ und gedanklich präsente, jedoch nicht explizit ausgedrückte Informationsquelle verweisen, etwa nachdem man gesehen hat, wie jemand im Fahrplan nachsieht: (46) pt.

O comboio chegava às oito. [Li no horário, que] o comboio chegava às oito.

(47) it.

A: Sai dov’è Franco? B: Andava a casa.

Bisherige Vergleiche zwischen gesprochenen Äußerungen in den romanischen Sprachen lassen unterschiedliche Ausprägungen der Tendenz einer Anlagerung der Evidentialität an das Imperfekt erkennen, bedürfen jedoch einer weiteren Absicherung. Vorläufig kann nur festgestellt werden, dass sich eine Kombination aus modaler und auf andere textuelle Perspektiven verweisender Funktion unterschiedlich auf Kommunikationsbereiche und Textsorten verteilt. Im Französischen erscheint sie auf narrative Texte in geschriebener Sprache beschränkt und findet dort im so genannten style indirect libre eine prototypische Erscheinungsform: (48) fr.

Mais comme Madame Maloir allait prendre elle-même les cartes dans un tiroir du buffet, Nana dit qu’avant de se mettre au jeu, elle serait bien gentille de lui faire une lettre. Ça l’ennuyait d'écrire, puis elle n’était pas sûre de son orthographe, tandis que sa vieille amie tournait des lettres pleines de cœur. Elle courut chercher du beau papier dans sa chambre. Un encrier, une bouteille d’encre de trois sous, traînait sur un meuble, avec une plume empâtée de rouille. La lettre était pour Daguenet. Madame Maloir, d’elle même, mit de sa belle anglaise: « Mon petit homme chéri »; et elle l’avertissait ensuite de ne pas venir le lendemain, parce que « ça ne se pouvait pas »; mais « de loin comme de près, à tous les moments, elle était avec lui en pensée » [...] Nana fit entrer cet homme, qu’elle chargea de porter la lettre chez Daguenet, en s’en retournant. Puis elle lui posa des questions. Oh! M. Bordenave était bien content; il y avait de la location pour huit jours; madame ne s’imaginait pas le nombre de personnes qui demandaient son adresse depuis le matin. (Zola, Nana, chapitre II)

Am deutlichsten überschreitet die Tendenz zur Anlagerung evidentieller Merkmale an das Imperfekt die Grenze zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Spanischen.

Indikativische Verbformen als Ausdruck von Modalität und Evidentialität

339

4.3. Indikativische Verbformen als Ausdruck von Modalität und Evidentialität in romanischen Sprachen Die romanischen Sprachen verfügen durchaus neben dem Verbalmodus über zentrale Wortarten wie Modalverben, Modalpartikeln, Modaladverbien sowie Koordinatoren und Subordinatoren, die dem Ausdruck von Modalität dienen. Dennoch gibt es auch verdeckte Formen von Modalität, das heißt nicht auf den Ausdruck dieser Funktion spezialisierte sprachliche Mittel, in denen Modalität nicht offensichtlich morphologisch repräsentiert ist (vgl. Abraham 2009: 251; Abraham & Leiss 2012). Bisher wurde covert modality vor allem am Beispiel der Infinitiveinbettungen im Englischen untersucht (Bhatt 2006). Im Folgenden soll das romanische Imperfekt als mögliche Ausdrucksform verdeckter Modalität untersucht werden. Dabei soll auch betrachtet werden, ob das Imperfekt ohne kontextuelle Unterstützung Modalität ausdrücken kann oder dafür auf das Zusammenwirken mit anderen Mitteln (z.B. syntaktischen Konstruktionen, Adverbien, Diskursmarkern) angewiesen ist. Außerdem soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die Markierung der Modalität in den einzelnen romanischen Sprachen auf Verbformen und andere sprachliche Mittel verteilt und ob es charakteristische Veränderungen in der Verwendung bestimmter Verbformen gibt, die auf eine Anlagerung des Ausdrucks der Sprecherperspektive schließen lassen. Um auf einige dieser Fragen im Hinblick auf das Imperfekt antworten zu können, sollen zunächst der modale Gebrauch dargestellt und Erklärungsansätze dafür gegeben werden, um dann auf textuelle Ausprägungen modal verwendeter Imperfektformen einzugehen. 4.3.1. Modaler Gebrauch des Imperfekts in romanischen Sprachen García Fernandez spricht wie bereits Fernández Ramírez (1986) von imperfectos modalizados und versteht darunter „una serie de usos del imperfecto etiquetados de diferentes maneras cuyo denominador común es el de la modalización” (García Fernández 2004: 90). Tatsächlich kann das Imperfekt in seiner „nichttypischen“ Verwendung nichtfaktische und kontrafaktische Äußerungen tragen. In dem folgenden Beispiel wird der Handel keinesfalls abgeschlossen, vielmehr wird der Abschluss für aufgrund der fehlenden Bedingung unmöglich erklärt:

340 (1) sp.

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Si yo pudiera, mocito, este trato se cerraba. (García Lorca, Poesía Española, Antología por Gerardo Diego, 313)

In diesem Fall liefert das Konditionalgefüge einen Kontext zur Interpretation des Imperfekts als Irrealis. Anders sieht es mit dem Imperfekt in folgendem Satz aus der Pressesprache aus: (2) sp.

Peres reconocía ayer que el presidente sirio, Hafez El Assad, será el gran ausente de la cumbre, si bien ha sido informado por Mubarak de todos los detalles. (La Vanguardia, 02/02/1995, Política)

Der Gebrauch des Imperfekts scheint hier allen prototypischen Merkmalen zu widersprechen: es handelt sich um eine einmalige, zeitlich lokalisierte und abgeschlossene Äußerung von Peres, über die hier berichtet wird und die den Gebrauch des einfachen Perfekts nahe legen würde, etwa wie im folgenden Beispiel: (3) sp.

Juppé reconoció ayer que los ingresos fiscales “están en una auténtica situación de siniestro”, al no haberse cumplido las previsiones de crecimiento. (La Vanguardia, 30/09/1995, Economía y Hacienda)

Warum folgt Beispiel (2) also nicht den Erwartungen im Hinblick auf den „prototypischen“ Gebrauch des Verbs? Wir werden später noch sehen, dass die Verwendung des Imperfekts in journalistischen Texten mit der Reduzierung der Regresspflicht des Journalisten, also mit Modalität im weiteren Sinne, zu tun hat. Kontextuelle Elemente stehen dafür nicht zur Verfügung, die Modalität ist hier also im wahrsten Sinne des Wortes versteckt. Zunächst liegt es nahe, die sogenannten prototypischen Eigenschaften des Imperfekts in Zweifel zu ziehen. Dass temporale Eigenschaften des Imperfekts in den romanischen Sprachen nur in einem sehr weiten Sinne angenommen werden können, hat bereits Bertinetto (1986: 353–356) klargestellt. Wie in Kapitel 2.3.1. dargestellt wurde, kann das Imperfekt sowohl für vergangene als auch für gegenwärtige und zukünftige Situationen verwendet werden. In älteren Texten hat das Imperfekt überwiegend aspektuelle Funktion. Bertinetto beschreibt die temporal-aspektuelle Funktion des Imperfekts als absolut unbestimmte Form zum Ausdruck eines Prozesses („an absolutely undetermined manner by means of which process is expressed“; Bertinetto 1986: 346). Diese semantische Indeterminiertheit bewirkt, dass der bezeichnete Prozess als nicht abgeschlossen dargestellt wird und dass er zum Texthintergrund wird. Im folgenden von Bertinetto (1986: 346; vgl. auch Dessì Schmid 2010: 43) verwendeten Beispiel wird das einfache Perfekt zur Einführung einer neuen Eigenschaft und zur Kennzeichnung des zeitlichen Abstands vom Sprechmoment verwendet, wäh-

Indikativische Verbformen als Ausdruck von Modalität und Evidentialität

341

rend das Imperfekt rein aspektuell zur Kennzeichnung der Dauerhaftigkeit und Gleichzeitigkeit dient: (4) it.

Agamemnon era bello huomo e di bello tempo, molto fiero e molto savio, e fue il più riccho e poderoso d’avere e d’amici che fosse in tutta la Grecia.

Ähnlich verhält es sich im Spanischen, wo das Imperfekt auch in der Aspektopposition auftritt, andererseits aber auch als absolutes Erzähltempus (tiempo narrativo absoluto; Cano Aguilar 1988: 160) verwendet wird. Analog zum italienischen Beispiel (4) wird im folgenden Satz eine neue Eigenschaft mit dem einfachen Perfekt eingeführt, während die in der Folge erwähnten, im Hintergrund stehenden Kennzeichnungen mit dem Imperfekt verbunden werden (vgl. Dessì Schmid 2010: 44): (5) sp.

E sabet que fue Gayo omne muy grand de cuerpo, et de color amariello; pero el cuerpo era feo e auie la ceruiz et las piernas muy delgadas […] (Prom. Crón. Gral. Menéndez Pidal 1977: 116/a/6-9)

Die Möglichkeit der Kombination unterschiedlicher aspektueller Werte wurde im Zuge der Generalisierung des absoluten Imperfekts reduziert, was auch zu einer Zunahme der Imperfektformen überhaupt führte (Dessì Schmid 2010: 45; vgl. Weinrich 2001 [1964]: 159). Die subjektive Variation perfektiver und imperfektiver Verbformen nach der Vorder- oder Hintergründigkeit der mitgeteilten Information – wie in dem altitalienischen und altspanischen Beispiel – wäre heute nicht mehr möglich. Das Imperfekt hat sich also zu einer Verbform entwickelt, die sich als indeterminiert, unabgeschlossen und regelmäßig den textuellen Hintergrund kennzeichnend beschreiben lässt. Für seine modale Verwendung gibt es verschiedene Erklärungsansätze, von denen ich zwei darstellen und einen weiteren entwickeln möchte. 4.3.2. Erklärungen der modalen Verwendung des Imperfekts 4.3.2.1. Temporal-modale Hypothese

Die von Coseriu (1976), Grevisse (1988 [1969]), Heger (1963), James (1982), Darbord (1986), Weinrich (1985), Gutiérrez Aráus (1995a, 1996), Detges (2001) und weiteren Autoren gegebenen Erklärungen für die nichtprototypische Verwendung des Imperfekts fasst Böhm (2016: 304) unter der Bezeichnung temporal-modale Hypothese zusammen. Coseriu (1976: 92–93), Heger (1963: 164–165) und Darbord (1986: 75) sehen modale Werte des Imperfekts in dessen Merkmal der ‛Inaktualität’ begründet. Wenn sich Inaktualität jedoch in „Tempora der Vergangenheit“ (temps du passé, Darbord 1986: 73) ausdrückt, so ergibt sich beim Ansetzen

342

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

dieses temporalen onomasiologischen Ausgangspunkts jedoch das Problem, dass derartige Inaktualität ebenso durch das einfache Perfekt und das Präsens ausgedrückt werden kann. In dem folgenden Beispiel beschreiben sowohl das einfache Perfekt (finalizó, intentó), das Präsens (detona, fallece) als auch das Imperfekt (daban) punktuelle Handlungen und Situationen, die in der Vergangenheit situiert sind: (6) sp.

La conversación espacial con el transbordador Discovery, realizada por medio del espacio WorldNet, finalizó a las 10:35 a. m. /// Noticias de El Mundo: Colorados vencen en Paraguay [.] Aviones Boeing 737 con problemas India detona conflicto [.] […] F político dominicano Festejo. […] Los cómputos oficiales de las elecciones generales, realizadas el domingo pasado, daban ayer una arrolladora victoria al oficialismo, y la oposición, que al principio intentó desconocer los resultados […] (CdE, CR: PrLibre, 12/05/98)

Führt die onomasiologische Frage nach den Ausdrucksmöglichkeiten der Vergangenheit zu mehreren Verbformen, die nicht wie das Imperfekt modalisiert verwendet werden können, so liefert auch die semasiologische Betrachtung des Imperfekts keine vollständige Erklärung für sein Verhalten. Das Imperfekt kann durchaus nicht nur für in der Vergangenheit verortete Situationen verwendet werden, sondern – wie im folgenden Beispiel eines Wunsches – auch für gegenwärtige (7) und sogar für zukünftige Situationen (8) benutzt werden. Das asymmetrische Verhältnis der Tempora und des Ausdrucks physischer Zeit hatten wir bereits in 2.3.1. behandelt. (7) sp.

¡Como deseaba estar ya en el continente, lejos de todo este conflicto! (CORPES, Biggs, Jorge: En torno a la casa de Madame Lorraine. Santiago de Chile: Editorial Cuarto Propio, 2001)

(8) sp.

Finalizado el trabajo en la próxima semana, nos íbamos [= iremos] a la playa. (Gutiérrez Aráus 1995b: 182)

Die temporal-modale Hypothese kann also offensichtlich die modalisierende Funktion des Imperfekts nicht erklären. Dennoch hat sie zu einigen Einsichten in bestimmte Verwendungen des Imperfekts geführt. Weinrich (1985: 57–58) bringt die narrative Funktion des Imperfekts mit dessen Inaktualität in Verbindung und Benveniste (1966: 237-250) unterscheidet zwischen der inaktuellen (histoire) und der aktuellen Äußerungsebene (discours). Das Imperfekt hat jedoch an beiden Anteil. In der inaktuellen erzählten Welt dient es prototypisch zur Kennzeichnung des Hintergrunds, kann aber auch als narratives Präsens der Darstellung des Fortgangs der Handlung dienen. In der erlebten Rede (Weinrich) oder im discours (Benveniste) kann das Imperfekt als inaktuelles Tempus auftreten

Indikativische Verbformen als Ausdruck von Modalität und Evidentialität

343

und die Absicht des Sprechers aus Höflichkeitsgründen in den Hintergrund stellen: (9) sp.

[…] venía a charlar con vos […] (CdE, Habla Culta: Buenos Aires [M31 B])

(10) it.

Je voulais vous informer que vous recevrez sous peu une lettre vous avisant que nous ne pouvons rendre une décision concernant votre demande pour l’instant et vous expliquant pourquoi. (http://unesdoc.unesco.org/images/ 0016/001625/162538f.pdf)

Die in der linguistischen Forschung wiederholt getroffene Feststellung der Neigung von Vergangenheitsformen zu modalen Verwendungsweisen ließe sich treffend mit den Worten von James wiedergeben: „There is clearly a universal semantic link between the notion of past tense and the notion of remoteness from reality“ (James 1982: 396). Es ist jedoch noch nicht plausibel nachgewiesen worden, wie diese Verknüpfung von Vergangenheit und Modalität aussehen soll. Außerdem hatten wir für das Imperfekt, auf das wir uns beschränken wollen, bereits festgestellt, dass es nicht primär auf den Ausdruck von Vergangenheit spezialisiert ist. Es scheint also angemessener, nach einer Beziehung von Aspektualität und Modalität zu fragen. 4.3.2.2. Aspektuelle Kodierung der Modalität

Abraham geht von einer aspektuellen Kodierung der Modalität in Sprachen ohne ausreichend Modalverben aus und formuliert: Typologisch ist interessant, dass sich wohl in einer Reihe von Sprachen Modalität in Abhängigkeit vom Aspekt des eingebetteten Infinitivs ausgelöst findet, in anderen Sprachen hingegen versteckt bleibt, jedoch trotzdem klar, nämlich aspektuell kodiert ist. (Abraham 2009: 252; vgl. auch Abraham 2008)

Davon ausgehend entwickelten Abraham und Leiss einige Thesen, die insgesamt darauf hinauslaufen, dass in Sprachen, die die Kategorie des verbalen Aspekts verlieren, deutliche Spuren eines „funktionalen“ Aspekts erhalten bleiben, welche in einer aspektuellen bzw. „aspektähnlichen“ Markiertheit zum Ausdruck kommen (z.B. in Abraham 1991; 1998; Abraham & Leiss 2008: XII-XIII; Leiss 2008; 2009). Zentral ist dabei die These von der universell-prototypischen Funktionsgeltung der Aspektkategorie überhaupt und ihrer nachhaltigen Wirkung beim grammatischen Wandel im Besonderen (Kotin 2008: 116). Die allgemeinen logischen Beziehungen zwischen Modalität und Aspektualität konnte auch Kotin (2008) anhand des slavisch-germanischen Kontrastkorpus Buch der Psalmen nachweisen. Die Tatsache, dass das Deutsche in dem Korpus eine mit keiner slavischen Sprache vergleichbare

344

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Anzahl an Modalverben aufweist, zeugt davon, dass die durch die Modalverbkonstruktionen kodierten kategorialgrammatischen Funktionen des Deutschen in der Slavia durch andere Mittel kodiert werden. Kotin findet durch seine Untersuchungen folgende Hypothesen bestätigt: - das Postulat eines Zusammenhangs zwischen perfektivem Aspekt und „Wurzelmodalität“ einerseits und imperfektivem Aspekt und epistemischer Modalität von Modalverben andererseits; - die Hypothese, dass der Abbau der Aspektkategorie in der Germania zum Ausbau des Systems von Modalverben geführt hat, die in ihrer deontischen Bedeutung die Kodierung der perfektiven Aspektfunktion übernehmen, während epistemische Bedeutungen generell Imperfektivität indizieren; - die schwache Repräsentation der Modalverben in den Aspektsprachen wie der Slavia und deren rasche Entwicklung in aspektlosen germanischen Sprachen.56 Abraham und Leiss begründen die Plausibilität ihrer typologischen These „In the absence of modal verbs, aspect fills the expressive gap” (Abraham & Leiss 2008: XIV) mit der Tatsache, dass Modalverben ursprünglich Perfektformen mit Präsensbedeutung waren, also projective words sind. Für sie stellen die Modalverben etwas Spezifisches der germanischen Sprachen dar „despite the fact that there are solitary modal verbs in Romance and non-IE languages“ (Abraham & Leiss 2008: XIII). Zu den romanischen Sprachen geben sie nur eine kurze Einschätzung: Notice that the aspectual Romance languages (Passé simple vs. Imparfait as in French) have at most two modal verbs none of which shares the accompanying systematic properties (systematic root plus epistemic readings; origo shifting properties in the Piercian and Jakobsonian sense; true evidentiality quite outside of modal epistemicity) of the German(ic) ones. (Abraham & Leiss 2008: XVI)

In Kapitel 2 haben wir bereits dargestellt, dass sich die romanischen Sprachen nicht wirklich als Aspektsprachen auffassen lassen. Zudem muss festgestellt werden, dass es durchaus polyseme Modalverben gibt, die zum Beispiel eine deontische und eine epistemische Lesart haben: _____________ 56

Deontisch verwendete Modalverben in Verbindung mit dem Infinitiv des Grundverbs kodieren in der absoluten Mehrheit der Belege die perfektive Aspektualität. In den slavischen Versionen des Psalters entsprechen sie dem im perfektiven Aspekt verwendeten Grundverb, wobei das Modalverb fast immer fehlt. Steht in der slavischen Sprache das entsprechende Grundverb im imperfektiven Aspekt, handelt es sich in den meisten Fällen um markierte Verwendungen, die von einer evtl. zusätzlichen Imperfektivierung herrühren. In den Fällen, in denen der deutsche Text Modalverben in Verbindung mit Infinitiven von Verben imperfektiver Aktionsart (Durativa, Iterativa...) enthält, werden sie in den slavischen Versionen meist durch die Verben im perfektiven Aspekt wiedergegeben, oft selbst dann, wenn die Perfektivierung in der slavischen Sprache normalerweise relativ selten ist (vgl. Kotin 2008).

Indikativische Verbformen als Ausdruck von Modalität und Evidentialität

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(11) fr. Il doit rentrer à la maison. (12) sp. Debe ir a casa.

Diese beiden Äußerungen können sowohl eine deontische Lesart (‛Er muss nach Hause gehen [, weil er dort erwartet wird.]’) als auch eine epistemische Lesart (‛Er muss nach Hause gehen [,weil ich ihn nicht mehr im Büro sehe und er nicht woanders sein kann.]’) haben. Der Ausdruck der Obligation und der Schlussfolgerung wird in diesen Sätzen durch die Modalverben devoir/deber vorgenommen. Während die Sätze (11) und (12) – in Abhängigkeit vom sprachlichen und situativen Kontext – sowohl eine Schlussfolgerung des Sprechers (epistemische Modalität, inferentielle Evidentialität57) als auch eine Verpflichtung der als Subjekt benannten Person (deontische Modalität) ausdrücken können, löst die Verwendung einer perfektiven Verbform – ähnlich wie Abraham es für das Deutsche festgestellt hat – epistemische Lesart aus: (13) fr. Il doit être rentré à la maison. (ʻEr muss nach Hause gegangen sein.ʼ)

Es scheint also nicht uneingeschränkt möglich, das modale Verhalten des romanischen Imperfekts mit dem typologischen Kriterium der Aspektsprache und dem Fehlen polysemer Modalverben zu begründen. Da uns die Verbindung von Aspektualität und Modalität jedoch als ausschlaggebend erscheint, führen wir im Folgenden ein weiteres Argument dafür an. 4.3.2.3. Metonymische Brücke zwischen Aspektualität und Modalität

Eine weitere Erklärung für die modalisierende Funktion des Imperfekts romanischer Sprachen liefert Dessì Schmid (2010: 58–61), die unter Verweis auf Detges (2001)58 die Verwendung modalisierter Imperfektformen als metonymischen Vorgang ausgehend von der aspektuellen Bedeutung erklärt. Die Indeterminiertheit, der unabgeschlossene Charakter des dargestellten Prozesses und sein Stehen im textuellen Hintergrund – also Merkmale der Ausprägung der imperfektiven Aspektualität – bilden die Brücke zur Modalität des Irrealen. Indem der Sprecher das Imperfekt benutzt, trifft er eine sehr ökonomische Entscheidung (Dessì Schmid 2010: 60). Das enzyklopädische Wissen des Sprechers um die Tatsache, dass etwas im Hinblick auf Anfang und Ende Unbestimmtes einen geringeren Grad an Assertivität hat oder nur unter bestimmten Bedingungen zutrifft, ermöglicht die Übertragung _____________ 57 58

Zur evidentiellen Bedeutung von frz. devoir vgl. Dendale (1994). Vgl. auch Detges & Waltereit (2008).

346

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

auf zu modalisierende Sachverhalte. So wird im folgenden Satz das Imperfekt (podías) in der Irrealiskonstruktion für den Konditional eingesetzt: (14) sp. Si hubiese otra taberna abierta a estas horas, te podías despedir de mi como cliente. (I. Aldecoa, En el kilómetro 400, en Libro de Lecturas, 37)

Dass die Brücke von der Aspektualität zur Modalität als metonymisch gekennzeichnet wird, liegt an der Kontiguität der beiden Funktionen: imperfektive Aspektualität leitet aufgrund ihrer Indeterminiertheit zur Modalität über. Ebenso wie in einer Äußerung wie (15) die Handlung des Hinausgehens als nur versucht und nicht wirklich vollzogen verstanden wird, lässt die imperfektive Aspektualität leicht offene Geltung überhaupt entstehen. Eine Handlung, die in ihrem Verlauf dargestellt wird, kann auch so konzipiert werden, dass ihr Ergebnis und letztlich die Handlung selbst als offen erscheinen. (15) Ana salía cuando sonó el teléfono.

Die Erklärung der modalen Bedeutung des Imperfekts mit der metonymischen Brücke scheint uns nicht im Widerspruch zur typologischen Erklärung zu stehen, sondern diese aufgrund der für die romanischen Sprachen nicht nachweisbaren Komplementarität von Aspekt und Modalität sinnvoll zu ergänzen. Der imperfektive Charakter der Verbform und die semantische Unbestimmtheit im Hinblick auf die Begrenzung einer Situation erlauben es, auch die Geltung dieser Situation als offen darzustellen. Aus dem folgenden Textausschnitt geht zum Beispiel nicht hervor, ob der Sprecher es tatsächlich geschafft hat, ein Stück Brot zu essen und ein Glas Milch zu trinken (vgl. Böhm 2016: 308): (16) sp. Siempre me ha gustado el pan untado con mantequilla y espolvoreado de azúcar, y aquella tarde, al regresar del colegio, me dispuse a comer un trozo y a beber un vaso de leche. En ello estaba cuando sonaron en la puerta de calle tres fuertes golpes. (CdE, Hijo de ladrón, Manuel Rojas)

Die imperfektive Aspektualität des italienischen imperfetto dehnte bereits Bertinetto auf dessen absolute Unbestimmtheit aus: Il fatto che l’IPF si presenti come un Tempo fondamentalmente imperfettivo significa, […] che esso si caratterizza per la maniera assolutamente indeterminata attraverso cui il processo viene esibito. (Bertinetto 1986: 346)

Auch Bazzanella betrachtet die semantische Indeterminiertheit als Grund für modale Verwendungen des Imperfekts:

Indikativische Verbformen als Ausdruck von Modalität und Evidentialität

347

Since the imperfective aspect does not allow the speaker either to define the event temporally or to define the conclusion, indeterminacy will result as the main feature […], and therefore motivate the ‘modal’ uses of IPF. (Bazzanella 1990: 448)

Dessì Schmid betrachtet die semantische Unbestimmtheit des Imperfekts als Fehlen spatio-temporaler Begrenzungen der beschriebenen Situation oder zumindest als deren Nichtfokussierung: ‘Semantic indeterminacy’ means that there are no cognitive spatiotemporal limitations on the state of affairs expressed in the imperfect, or at least that these limitations are not focused. This absence of any kind of limitation on the one hand makes the process seem non-concluded, and on the other hand makes it appear as the background (on the text level). (Dessì Schmid 2010: 42)

Die Entscheidung zur Verwendung des Imperfekts trifft der Sprecher offensichtlich auf der Basis seines Weltwissens. Er interpretiert eine Situation als unbestimmt und nicht abgeschlossen, weshalb er ihr einen geringen Grad an Assertivität zuweist. Nichtabgeschlossenheit, Markierung des Hintergrunds und offene Geltung bzw. Ungewissheit sind eng miteinander verbunden. Die metonymische Brücke zwischen dem aspektuellen Charakter des Imperfekts und seinen modalen Verwendungen lässt sich in Anlehnung an Böhm (2016: 321) folgendermaßen darstellen: metonymische Brücke imperfektive Aspektualität

modale Bedeutungen

semantische Unbestimmtheit:

Imperfekt der

- keine Begrenzung der Situation (kein Anfang und Ende markiert) - Hintergrund (Begleitumstände einer Situation)

- Höflichkeit - Hypothese - der Traumwelt ludisches, epistemisches, evidentielles Imperfekt

SITUATION IST INDETERMINIERT

SITUATION HAT OFFENE GELTUNG

348

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

4.3.2.4. Verdopplung der Perspektive und Deixis

In bestimmten Verwendungen verweist das Imperfekt außerdem auf eine Informationsquelle, die sich als eine erinnerte Äußerung einer anderen Person, Hörensagen oder kognitive Vorgänge beim Sprecher selbst erweisen kann. Unter 4.2.3. haben wir bereits dargestellt, wie sich eine Äußerung mit einer overten Angabe der Quelle unter Nutzung dieser Verweisfunktion des imperfecto reformulieren ließe. Die doppelte Deixis, die in dem Satz Su padre dijo que lo iba a buscar hoy vorliegt, wird auch in dem einfachen Satz deutlich, und zwar durch das Imperfekt, ohne das eine Einbettung der wiedergegebenen Äußerung oder eine explizite Nennung ihres Produzenten erfolgen müsste: (17) sp. Su padre dijo que lo iba a buscar hoy. à Hoy iba su padre a buscarlo.

Deixis 1: deiktisches Zentrum = aktueller Sprecher Deixis 2: deiktisches Zentrum = su padre Während sich in einigen Kontexten die Eröffnung einer zweiten Deixis durch das Imperfekt nachweisen und rekonstruieren lässt, ist die generelle Kennzeichnung derartiger Verwendungen des Imperfekts als evidentiell allerdings problematisch. Vielfach drückt das Imperfekt einfach eine Unsicherheit des Sprechers über den mitgeteilten Sachverhalt aus und könnte auch von einer rückversichernden Frage gefolgt werden. Der Verweis auf eine tatsächliche Quelle des Wissens kann dabei in den Hintergrund treten: (18) sp. El tren llegaba a las ocho, ¿verdad? (‛Der Zug kommt doch um acht an, stimmt’s?’) (19) sp. Un soldado croata disparaba ayer con antiaéreos contra posiciones terrestres serbias situadas a 200 metros. (La Vanguardia, Ciencia Militar, 02/05/1995) (20) sp. Ese mismo día moría el genio del idioma castellano con Miguel de Cervantes Saavedra. (El Tiempo, Literatura, 01/06/1990)

In ähnlicher Weise finden sich in anderen romanischen Sprachen Verwendungen des Imperfekts, in denen nicht der Ablauf eines Prozesses ohne Determination und Limitierung bezeichnet wird, sondern ein zeitlich begrenzter und abgeschlossener Vorgang im Fokus steht. Auch hier reduziert das Imperfekt die Verantwortung des Sprechers, in diesem Fall des Journalisten, und verweist auf eine unbestimmte Quelle: (21) fr.

On y disait que le directeur du corps de ballet ne lui avait vraiment pas laissé de passe-droit, la considérant comme un membre à part entière de sa troupe plutôt que comme une actrice. (http://www.voir.ca/cinema/fichefilm.aspx ?iIDFilm=5045)

Indikativische Verbformen als Ausdruck von Modalität und Evidentialität

(22) pt.

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Há já algum tempo alguém evidenciava num artigo do Jornal Terras da Beira, as qualidades da equipa candidata à Câmara Municipal da Guarda liderada por Carlos Andrade apelidando-a de “Dream Team” (CdP, 18 Set 97, A voz que vai morrer em directo)

Besonders auffällig ist die systematische Verwendung des Imperfekts in Börsenberichten, wo zwar konkrete Zahlen und Vorgänge dargestellt werden, der Autor sich aber nicht dafür verbürgen will und ohne deren Nennung auf eine fremde Quelle verweist: (23) fr.

La Bourse de New York prenait pour sa part 3,78% peu après son ouverture. (http://www.laliberte.ch/?depeche=27112)

(24) fr.

L’action d’Isacsoft perdait 1,5 cent à 35,50 cents mardi après-midi à la Bourse de croissance TSX. (http://www.lapresseaffaires.com/article /20070327/LAINFORMER/70327146/5891/LAINFORMER01)

(25) sp. Repsol, que ayer pagaba dividendo movió 23.984 millones de pesetas, y Fecsa, que lo paga hoy 6.310 millones de pesetas. (El Mundo, 09/01/1996, Negocios) (26) sp. El presupuesto de estas obras complementarias ascendía a 35 millones de pesetas. (La Vanguardia, 02/07/1995, Política)

Das Imperfekt eröffnet somit auch in solchen Texten eine doppelte Deixis: die des Autors und die der Quelle. In ähnlicher Funktion ist das Imperfekt seit langem als die typische Verbform in freier indirekter Rede in literarischen Texten bekannt (vgl. Bres 2005; Haßler & Volkmann 2005). Wie wir gesehen haben, ist der Gebrauch des Indikativs für einmalige, abgeschlossene und nicht durativ betrachtete Handlungen in den romanischen Sprachen durchaus etabliert. In solchen Verwendungen kommen modale und evidentielle Momente ins Spiel. Dieser nachgewiesene Gebrauch bestätigt die Affinität der Imperfektivität zur epistemischen Modalität und kann mit einer metonymischen Brücke zwischen Aspekt und Modalität erklärt werden. Die Verwendung des Imperfekts erlaubt das Etablieren einer doppelten Deixis im Text, was dem Textproduzenten ermöglicht, auf eine Quelle des mitgeteilten Wissens zu verweisen, diese jedoch nicht zu benennen. 4.3.3. Narratives Imperfekt in romanischen Sprachen Den besonderen Gebrauch der als narratives Imperfekt bezeichneten Verbformen führt Bres (2005) anhand des folgenden Beispiels vor: (27) fr.

- Je…dit-il tout contre son oreille, et, à ce moment, comme par erreur, elle tourna la tête et Colin lui embrassait les lèvres. Ça ne dura pas très longtemps. (Vian, L’Écume des jours; Bres 2005: 7)

350

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Bres stellt sich die Frage, warum in diesem Satz nicht das passé simple verwendet wurde, wie es in Satz (28) geschieht und was nach der Aspektualität der Verbform, die durch die nachfolgende Erwähnung der Kürze des Augenblicks noch unterstrichen wird, nahe liegt: (28) fr.

- Je…dit-il tout contre son oreille, et, à ce moment, comme par erreur, elle tourna la tête et Colin lui embrassa les lèvres.

Schließlich kontrastiert er die ungewöhnliche Verwendung des imparfait in Beispiel (27) mit der typischen, die Durativität einer Situation unterstreichenden in Beispiel (29): (29) fr.

Nous étions tous trois dans ton petit salon, et, comme vous ne vous gêniez guère devant moi, ton mari te tenait sur ses genoux et t’embrassait longuement la nuque, sa bouche perdue dans les cheveux frisés du cou. (Maupassant, Le Baiser; Bres 2005: 8)

Bres vertritt die Ansicht, dass die Bedeutung des Imperfekts in allen Verwendungen gleich sei und nur durch verschiedene Kontextelemente modifiziert werde. Er setzt sich mit der Interpretation des Imperfekts in Beispiel (27) als Kennzeichen eines neuen Zustands auseinander, verwirft diese jedoch sogleich als den sprachlichen Gegebenheiten nicht gerecht werdend. Das Imperfekt fokussiere viel stärker die Handlung selbst als den neuen Zustand, den der Prozess einführt. Eine Inbezugsetzung des narrativen Imperfekts mit der Modalität erscheint uns insofern angebracht, als der Textproduzent mit seiner Verwendung nicht nur einen Sachverhalt mitteilt, sondern auch seine Haltung zu erkennen gibt (vgl. Böhm 2016: 419). Die mit dem narrativen Imperfekt dargestellten Situationen sind abgeschlossen und fanden zu einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit statt. Der Textproduzent reproduziert dabei jedoch Informationen, die er aus der Mitteilung anderer oder eigener Beobachtung hat und bringt durch die Verwendung des Imperfekts eine erzählerische Distanz zum Ausdruck. Das Imperfekt kann dabei von adverbialen Elementen begleitet sein, durch die Textprogression hergestellt wird. Es kann daher die Eröffnung einer Situation markieren oder auch einen Bruch in der Folge von Handlungen darstellen. Im folgenden Beispiel wird mit dem Imperfekt recibía die Situation des Besitzens des Büchleins eröffnet, bevor danach auf seine Wirkung und Bedeutung eingegangen wird:

Indikativische Verbformen als Ausdruck von Modalität und Evidentialität

351

(30) sp. UNOS DÍAS MÁS TARDE recibía el libreto de Felice Romani. La obra tuvo un papel muy señalado en la vida de Donizetti, en el momento en el que el título se consolidó en Milán y, por ende, en el resto de Italia. La única misión que ha debido tener el arte ha sido la de superación personal del hombre; ella es la que lleva a los descubrimientos de utilidad para los demás hombres, y, por lo tanto, a caer de lleno en la abstracción, que es lo que empieza. (CdE, España: ABC)

In der folgenden Textstelle werden zwei historische Momente benannt und die nachfolgenden Situationen als Bruch in der Geschichte mit dem imperfecto dargestellt: (31) sp. Su ceguera moral y mezquinos cálculos estratégicos –apaciguar a Hitler DESPUÉS DE LA VERGONZOSA CAPITULACIÓN DE MÚNICH Y LA ENTREGA EN BANDEJA DE CHECOSLOVAQUIA- se revelaron tan inútiles como desastrosas: seis meses después de la victoria de Franco estallaba la II Guerra Mundial y en junio de 1940 los alemanes entraban en París. En Bosnia, TRAS LA IMPLOSIÓN DE LA FEDERACIÓN YUGOSLAVA, los ultranacionalistas serbios contaban con las simpatías de Rusia y la complicidad encubierta de Mitterrand. (GlossaNet, El País, 07/05/2013)

Diese narrative Funktion des Imperfekts widerspricht jedoch nicht seiner modalen Interpretation. Der Textproduzent markiert damit gleichermaßen, dass er nicht der Schöpfer der gegebenen Information ist; er tritt vielmehr als Erzähler zurück und stellt sie als erzählt und wiedergegeben dar (vgl Böhm 2016: 421). Deutlich wird dies insbesondere bei Verben des Sprechens im Kontext von temporalen Adverbialen (Böhm 2016: 423): (32) sp. Pocas semanas más tarde, Hoover añadía más papeles en su carpeta. EL 23 DE MARZO se fijaba por escrito que “se comunica que el Senador Kennedy ha sido visto en situación comprometida con una mujer en Las Vegas, Nevada”. En el mismo informe se explicaba que “el cuñado del senador Kennedy, Peter Lawford, está en estrecho contacto con Frank Sinatra”. El FBI acababa de descubrir la pólvora sin saberlo. (CREA, La Razón, Política, 21/01/2002)

Aber auch in unabhängigen Kontexten kann das Imperfekt diese narrativen und zugleich modalen Funktionen übernehmen. Verine (2007) weist sein Vorkommen sogar in der gesprochenen Sprache nach. Das Imperfekt eröffnet dabei eine doppelte Deixis, insofern auf eine externe Informationsquelle referiert wird und der Textproduzent selbst die Information mitteilt, ohne die Quelle explizit zu nennen (Böhm 2016: 423):

352

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

(33) sp. A pesar de su modestia, Brañas reconocía el valor de sus escritos: “Mañana, cuando algún lector por ellos me recordará, experimentará una vaga curiosidad matizada por un adarme de simpatía hacia el hombre que fui, hacia el cautivo que fui”. (CdE, Gerencia, Guatemala, 28/05/98)

Derartige Verwendungen des narrativen Imperfekts stehen der Evidentialität nahe, die Gegenstand des folgenden Kapitels ist.

4.4. Evidentialität in romanischen Sprachen 4.4.1. Evidentialität und Modalität Mit einigen nichtprototypischen Gebrauchsweisen des Imperfekts ist bereits ein Gegenstand pragmatischer Forschung berührt, der seit einiger Zeit als Evidentialität bezeichnet wird. Begrifflich-deduktiv lässt sich der Unterschied zwischen epistemischer Modalität und Evidentialität recht leicht formulieren: Während Evidentialität im engeren Sinne auf die Quelle der mitgeteilten Information hinweist, bezieht sich epistemische Modalität auf die Sicherheit des Sprecherwissens. Bereits der reale kognitive Zusammenhang zwischen diesen beiden Kategorien legt jedoch nahe, dass es Berührungspunkte und Überschneidungsbereiche geben wird, die umso wesentlicher sein werden, je mehr wir den in diesem Fall metonymischen Gebrauch der sprachlichen Mittel der einen Kategorie für die andere ernst nehmen. Offensichtlich thematisiert nach seiner lexikalischen Ausgangsbedeutung die Herkunft des Wissens aus dem Gesichtssinn, wird aber überwiegend auch als Einschränkung der Sicherheit gebraucht. Ich bin mir nicht sicher, dass p drückt performativ Unsicherheit aus, thematisiert aber auch die kognitiven Grundlagen des Sprechers. Wir werden also umso weniger mit einer klaren Grenze zu rechnen haben, je weniger sprachliche Funktionen spezialisiert sind und je mehr sie sich auf die Nutzung von Mitteln aus Nachbarbereichen stützen müssen (vgl. auch Haßler 2015c). Das Verhältnis von Sprache und Evidenz stellt sich von vornherein als spannungsvoll dar, insofern nach üblichem Verständnis das Evidente keiner sprachlichen Darstellung bedarf und Sprache den Blick auf unmittelbar Einleuchtendes eher verstellt. Als evident gilt das aufgrund seiner unmittelbaren sinnlichen, meist visuell wahrnehmbaren Präsenz Gegebene und sein Wesen auf dieser Basis Offenbarende bzw., bei skeptischer Hinterfragung der Verlässlichkeit der Sinne, das dem Verstand als Elementarkonzept Eingeborene, durch Wiederholung Gefestigte oder Selbstverständliche. In diesem Sinne eröffnet der Evidenzbegriff selbst eine Spannbreite von Deutungen. In diesem Zusammenhang stehen auch terminologische Probleme, die der linguistische Begriff der Evidentialität

Evidentialität in romanischen Sprachen

353

aufweist. Wir können uns dem Gebrauch des Terminus Evidentialität insofern anschließen, als er eine mindestens skalare Eigenschaft voraussetzt, an deren Endpunkt die Evidenz steht, von der jegliche sprachliche Markierung eine Entfernung bedeutet. Unter Evidentialität verstehen wir also die sprachliche Markierung der Herkunft des Sprecherwissens, entweder aus anderer Quelle als unmittelbarer Anschauung, d.h. aus fremder Mitteilung oder Schlussfolgerung, oder die explizite Kennzeichnung der Herkunft aus eigener Wahrnehmung. Der Terminus Evidentialität wurde mehrfach zu Recht problematisiert. Er geht auf eine 1947 postum veröffentlichte Grammatik des Kwakiutl von Franz Boas zurück, wurde vor allem durch Roman Jakobsons 1957 veröffentlichte Arbeit Shifters, verbal categories, and the Russian verb verbreitet und fand insbesondere Akzeptanz durch eine 1981 in Berkeley durchgeführte sprachvergleichende Konferenz, deren Ergebnisse von Chafe und Nichols (1986) in einem Sammelband veröffentlicht wurden. Guentchéva (1994: 8) benennt dieselbe Kategorie médiatif, weil es um eine Distanznahme aufgrund vermittelter Wahrnehmung gehe.59 Die Bezeichnung Evidentialität lege dagegen eigentlich das genaue Gegenteil, nämlich das Vorhandensein von Evidenz für eine Information nahe. Die Bezeichnung médiatif wurde erstmals 1956 von Lazard in einem Artikel über das Tadschikische verwendet und hat sich im französischen Sprachraum eher durchgesetzt. Beide Bezeichnungen sind jedoch nicht völlig austauschbar und führen zu unterschiedlichen Konsequenzen. Während Evidentialität die Art der Wissensquellen thematisiert, die dem Sprecher zur Verfügung stehen, wird mit Mediativität der besondere Charakter der Äußerungen, die durch Bezugnahme auf diese Wissensquellen entstehen, ins Blickfeld gerückt, also die Distanz zwischen dem Sprecher und dem Gesagten betrachtet (Dendale & Tasmowski 2001: 341). Das Konzept der Evidentialität kommt aus Forschungen zu Sprachen, in denen diese Kategorie grammatikalisiert ist.60 Sprachen tendieren dazu, allgemeine Arten der Evidenz zu unterscheiden. Nach Willett (1988: 57) handelt es sich dabei um (eigene) Erfahrung, Mitteilung und Schlussfolgerung: _____________ 59 60

Guentchéva (1994: 8): „les différents degrés de distance qu’il prend à l’égard des situations décrites puisqu’il les a perçues de façon médiate“. (Vgl. auch Guentchéva (2014)). Aikhenvald (2004) und Aikhenvald & Dixon (2003) untersuchen den Ausdruck von Evidentialität in Sprachen mit grammatikalisierten Evidentials. Boye (2012) führt eine sprachvergleichende und funktional-kognitive Untersuchung zu epistemischen Ausdrücken durch und setzt evidentielle Markierungen in Relation zu diesen. Die Anwendbarkeit des Evidentialitätskonzepts auf Sprachen ohne grammatikalisierte Evidentials wurde von Diewald & Smirnova (2010a) und (2010b) nachgewiesen.

354

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Typen der Evidenz

{ (eigene) { Direkt - Erfahrung { { { { { { Mitteilung { { { Indirekt { { { Schlussfol{ { gerung

{ Visuell { Gehör { andere Sinne { aus zweiter Hand} (Hörensagen) { aus dritter Hand } “ { Folklore, Überlieferung { Ergebnisse von { Überlegungen

Gerade in neueren Arbeiten wird jedoch betont, dass die Art der Grenzziehung zwischen Typen der Evidentialität sprachspezifisch ist. Der semantische Raum der Evidentialität kann so aufgeteilt sein, dass die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Zugang zur Wahrnehmung des mitgeteilten Sachverhalts im Vordergrund steht, wie etwa in den Balkansprachen und kaukasischen Sprachen, wo quotative Verwendungen nur eine pragmatische, kontextuelle Variante innerhalb einer größeren Gruppe von Markierungen indirekter Evidenz sind. Im Quechua und im Lettischen wird dagegen die Unterscheidung zwischen quotativen und nicht-quotativen Formen systematisch vorgenommen.61 Für das in Kolumbien und Brasilien gesprochene Tuyuca wurden von Palmer (1986) verschiedene Ausdrucksformen der Evidentialität festgestellt, die sich für unsere Gewohnheiten als eine Art Suffixe darstellen und auf die genannten Evidentialitätstypen beziehen lassen: (1) a.

díiga apé-wi Fußball spielen-3.PERS.PRET.VISUELL ‘Er spielte Fußball [ich habe es gesehen]’

b.

díiga apé-ti Fußball spielen -3.PERS.PRET.NICHT-VISUELL ‘Er spielte Fußball [ich habe es gehört, aber nicht gesehen]’

c.

díiga apé-yi Fußball spielen-3.PERS.PRET.INFERENZ ‘Ich habe Anzeichen dafür, dass er Fußball spielte, Ich habe es aber nicht gesehen.’

d.

díiga apé-yigi Fußball spielen-3.PERS.PRET.MITGETEILT ‘Mir wurde gesagt, dass er Fußball spielte.’

e.

díiga apé-hĩyi Fußball spielen-3.pers.PRET.CONCLUSION ‘Es ist logisch anzunehmen, dass er Fußball spielte.’

_____________ 61

Plungian (2001: 353) spricht von „different possibilities of clustering evidential values“.

Evidentialität in romanischen Sprachen

355

Die Proposition p=dass er Fußball gespielt hat ist in dieser Sprache nicht ohne Angabe der Quelle, aus der ein Sprecher diese Information hat, ausdrückbar. Indem der Rezipient einen Hinweis auf die Quelle des Sprecherwissens erhält, verfügt er auch über eine Möglichkeit, selbst über die Zuverlässigkeit der erhaltenen Information zu entscheiden. Als Evidentials werden von Typologen sprachliche Mittel mit dem primären Merkmal ‘Quelle des Wissens’ angenommen, ohne dass ein unmittelbarer Bezug auf die Sicherheit und die Verantwortung des Sprechers oder auf den Wahrheitsgehalt seiner Aussage impliziert ist. Mit dieser Einschränkung wäre jedoch die Kategorie der Evidentialität nicht nur für europäische Sprachen nicht anwendbar, sondern sie wird für alles, was über die Feststellung von Elementen mit evidentieller Kernbedeutung hinausgeht, problematisch.62 Evidentialität weist aber auch in Sprachen mit Evidentials Berührungspunkte mit der Modalität auf, insofern ihr Ausdruck ebenso die Vorsicht, mit der ein Sprecher mit der Information umgeht, kennzeichnet. Hierfür lassen sich folgende Maximen aufstellen, die pragmatischen Charakter haben: 1. (Nur) die eigene Erfahrung ist zuverlässig. 2. Unnötige Risiken sind zu vermeiden, zum Beispiel die Übernahme von Verantwortung für Information, über deren Inhalt man nicht absolut sicher ist. 3. Man darf nicht leichtgläubig sein. 4. Verantwortung ist nur für etwas zu übernehmen, was sicher ist. Ein Beleg dafür, dass evidentielle Markierungen auch in Sprachen mit reinen Evidentials die pragmatische Funktion der Kennzeichnung der Unsicherheit des Sprechers übernehmen, ist der Gebrauch der Suffixe mi/-shi/-chi im Huallaga-Dialekt des Quechua, der dem Sprecher erlaubt, Verantwortung für den Inhalt des Gesagten zu übernehmen oder zurückzuweisen. Mit –mi übernimmt der Sprecher Verantwortung, mit –shi verweist er sie an jemanden anderen, mit –chi zeigt er an, dass es sich um Inhalte handelt, für die keine Übernahme der Verantwortung möglich ist. Nach Weber (1989: 421) bringt der Sprecher mit (2) seine Gewissheit zum Ausdruck, mit (3) verweist er auf eine fremde Mitteilung und mit (4) auf eine Möglichkeit: (2) quechua Wañu-nqa-paq-mi. ̒[Ich behaupte] er wird sterben.̕ _____________ 62

Zu weiteren Studien zur Evidentialität vgl. Aikhenvald (2004), Aikhenwald & Dixon (2003), Chafe & Nichols (1986), Dendale & Tasmowski (1994), Dendale & Tasmowski (2001), Hoff (1986), Ifantidou (2001), Lazard (2001), Mushin (2001), Nuyts (2001), Plungian (2001), Willett (1988), Bybee, Perkins & Pagliuca (1994), Haßler (2001), (2003); sowie mit einer bewusst davon abgehobenen Bezeichnung (médiatisation) Guentchéva (1996).

356

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

(3) quechua

Wañu-nqa-paq-shi. ̒[Mir wurde gesagt], dass er sterben wird.̕

(4) quechua

Wañu-nqa-paq-chi. ̒[Vielleicht] wird er sterben.̕

Der Wiedergabe signalisierende Evidentialitätsmarkierer -shi geht dabei weit über den Ausdruck von Informationen aus zweiter Hand hinaus. Er wird auch in der so genannten erzählten Vergangenheit verwendet, für die man die Verantwortung nicht übernehmen möchte. Die Quechua-Kultur legt großen Wert auf die Vermeidung von Leichtgläubigkeit, was sich durchaus in der Verwendung dieser evidentiellen Markierung wiederfindet. Eine Vermischung der morphologisch aufgefassten Evidentials mit pragmatischen Sachverhalten scheint also auf der Hand zu liegen, sobald man über typologische Fragestellungen hinaus die Verwendung dieser Elemente betrachtet. Die Kategorie der Evidentialität ist dabei hierarchisch im Sinne von typologischer Voraussagbarkeit, d.h. wenn eine Sprache spezifische morphologische Mittel für den Ausdruck von Schlussfolgerungen hat, hat sie auch Mittel für die Kennzeichnung der Wissensquelle als nichtvisuelle Wahrnehmung und erst recht als visuelle Wahrnehmung: (direkte) visuelle > nichtvisuelle > Hörensagen > Schlussfolgerung Wahrnehmung Wahrnehmung Erfolgversprechend erscheint für die Beschreibung dieser Kategorie ein Konzept sprachlicher Universalien, das Funktionen in den Mittelpunkt stellt und zulässt, dass nicht alle Sprachen grammatische Mittel für die Realisierung der entsprechenden Funktion haben.63 Unter Zugrundelegung kommunikativ-pragmatischer und kognitiver Zwänge könnte man die für das Tuyuca beschriebenen Evidentials als e i n e Lösung, nämlich eine grammatische, zur Bewältigung des Problems der Markierung der Herkunft des Sprecherwissens ansehen.64 _____________ 63

64

Für die Temporalität stellt Comrie (1985: 231) in diesem Sinne fest: „One need which speakers of a language seem to feel is to be able to locate events chronologically – whether in ‘absolute time’ (more accurately, relative to the present moment) or relative to one another. Not all languages have grammatical devices to carry out this function, [...] but all languages make use of some devices, whether grammatical or lexical, in order to locate events in time.“ Als strukturelle Antwort auf kommunikativen Druck werden grammatische Lösungen auch von Paul J. Hopper betrachtet. Er betont dabei, dass die kategorialen Konzepte nicht von vornherein fest umrissen sind: „[..] grammar must be viewed as a structural response to communicative pressures. Yet the communicative dimensions involved, and therefore the grammatical correlates, were clearly not fixed categorial concepts, but almost always were found upon investigation to be graded, and to have indistinct rather than clearly definable limits.” (Hopper 1985: 238). Andererseits ist ihm jedoch die Vorstellung eines Kontinuums zu undeutlich und er nimmt kategoriale Ordnungen um prototypische Formen an, die als Zentrum der Kategorie gelten und in Richtung der Peripherie unspezifischer werden.

Evidentialität in romanischen Sprachen

357

Es darf jedoch angenommen werden, dass es auch in der Verwendung von Sprachen, die in diesem Bereich nicht über spezialisierte Mittel verfügen, Situationen gibt, in denen die fremde Herkunft des Sprecherwissens oder der Ausdruck von Unsicherheit aufgrund von Inferenz obligatorisch markiert werden müssen und in denen diese Markierung auch als solche erkannt wird. Betrachten wir die Verhältnisse in romanischen Sprachen, so wirft die Abgrenzung von epistemischer Modalität und Evidentialität schwer lösbare Probleme auf.65 Selbst wenn wir von sprachlichen Elementen mit der ursprünglichen Funktion der Markierung der Herkunft des Sprecherwissens ausgehen, ist diese kontingent mit der Bezeichnung epistemischer Modalität. 4.4.2. Spezifik nichtgrammatikalisierter Ausdrucksformen von Evidentialität Wenn wir uns nun der Evidentialität in den romanischen Sprachen zuwenden, so haben wir natürlich nicht mit einer grammatikalisierten Evidentialität zu rechnen.66 Zur Verdeutlichung der Problematik der Evidentialität soll zunächst ein französisches Beispiel auf die ausgehend vom Tuyuca aufgestellte Evidentialitätshierarchie bezogen werden. Ich beziehe mich dabei auf ein Beispiel, das Dendale & Tasmowski (1994: 5) bereits verwendet haben. Vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Aussage über den Sachverhalt p können auch im Französischen sprachliche Mittel kontrastiert werden, die auf die Quelle hinweisen, aus der die Information gewonnen wurde: (5) fr.

Monsieur Leclerc est à l’université.

p

(6) fr.

Monsieur Leclerc doit être à l’université, car j’ai vu sa voiture au parking.

p aus q→p

(7) fr.

Monsieur Leclerc serait à l’université.

p aus fremder Äußerung q’

(8) fr.

Monsieur Leclerc est à l’université, j’ai vu.

p aus eigener Wahrnehmung

_____________ 65 66

Einen Versuch der Abgrenzung von Evidentialität und epistemischer Modalität in romanischen Sprachen unternimmt Squartini (2004). Auch zu den romanischen Sprachen wurden in den letzten Jahren zahlreiche Studien vorgelegt, vgl. z.B. Cornillie (2007), (2008), (2009), (2010), (2015); Cornillie, Marín-Arese & Wiemer (2015), Hennemann (2013a), (2014a), (2014b), Böhm & Hennemann (2016); Marín Arese (2015); Zamorano & Carretero (2009), Saussure (2012), Squartini (2005), (2008), (2012).

358

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Der Sprecher stellt in der unter dem Gesichtspunkt der Evidentialität unmarkierten Äußerung (5) einfach den Sachverhalt fest, ohne zu erwähnen, woher er sein Wissen hat. Dem entspricht auch die Verbform im Indikativ, während offensichtlich der Konditional in Beispiel (7) evidentiell stärker markiert ist. Er findet sich in (7) weder durch ein modales Hilfsverb noch durch ein Satzadverb oder ein anderes Mittel gestützt. Die Äußerungen (6) und (8) unterscheiden sich insofern von (5), als der Sprecher in ihnen die Quelle seines Wissens explizit mitteilt. Die Markierung der Herkunft des Sprecherwissens ist in den romanischen Sprachen weder obligatorisch, noch stehen dafür spezialisierte Mittel zur Verfügung. Als Ausdrucksmittel werden explizite lexikalische Angaben (j’ai vu), Modalverben (devoir) oder grammatische Formen (Konditional serait) verwendet, die teilweise die Funktion der Markierung von Evidentialität übernommen haben. Adverbien, die durch ihre lexikalische Bedeutung eine bestimmte Herkunft der mitgeteilten Information bezeichnen, können auch als Markierungen von Evidentialität verwendet werden. So bezeichnet ovviamente in Beispiel (9) aus der italienischen Pressesprache nicht die unmittelbare Anschauung durch den Autor, sondern eine persönliche Schlussfolgerung aus dem Gehörten, zu der mit eppure gleich noch ein mögliches Gegenargument erwogen wird: (9) it.

Ciampi, ovviamente, non fa riferimenti diretti alle polemiche scatenate dalle dichiarazioni del premier, eppure nelle sue parole si legge un appello all’indipendenza dell'informazione rispetto all’esecutivo. (19. April 2002 in La Repubblica)

Ohne ovviamente wäre der Satz zweifellos bestimmter als mit dem Adverb, das von seiner ursprünglichen lexikalischen Bedeutung her die Offensichtlichkeit der Schlussfolgerung unterstreichen müsste. Noch größere Unbestimmtheit wird in Satz (10) ausgedrückt, wo eine auf die Zukunft gerichtete Schlussfolgerung formuliert wird: (10) it.

Un argomento di cui, ovviamente, si parlerà in studio.

Die lexikalische Bedeutung von ovviamente muss Veränderungen erfahren haben, damit es als Modalisierung eines zukünftigen, hier sogar nur hypothetisch betrachteten Ereignisses verwendbar wird. In seiner Bedeutung ist das Adverb nur noch bedingt auf ovvio (Devoto & Oli 1990: 1313: „che risulta di un’evidenza immediata e senza possibilità di equivoci sul piano dell’interpretazione o del giudizo“) rückführbar, insofern die Merkmale ‛unmittelbare Sichtbarkeit des Nachweises’ und ‛Ausschluss von Irrtümern’ zurückgetreten sind. Ovviamente ist ein Satzadverb, das in den beiden Beispielen parenthetisch verwendet wird. Es steht vor der konjugierten Verbform und wird

Evidentialität in romanischen Sprachen

359

durch Pausen vom Rest des Satzes getrennt. Im Grunde enthält das so verwendete Adverb eine zusätzliche Prädikation und ließe sich in einen Hauptsatz transformieren, der den Satz, in dem es steht, als Argument enthält: (9a) it.

È ovvio che Ciampi non fa riferimenti diretti alle polemiche scatenate dalle dichiarazioni del premier.

(10a) it. È ovvio che è un argomento di cui si parlerà in studio.

Während bei der Explizierung der Prädikation jedoch der Autor des Textes eine deutliche Aussage über die Vordergründigkeit und das Einleuchtende seiner Schlussfolgerung trifft, nimmt er mit dem Adverb lediglich eine Markierung der Schlussfolgerung als solcher vor. Auf Anhaltspunkte oder auf die Basis, die zu ihr führten, wird nicht explizit referiert. Die Verwendung des Adverbs ovviamente erlaubt es, Quellen des mitgeteilten Wissens auszublenden, jedoch als gegeben zu kennzeichnen. Insofern wird damit eine gewisse Vagheit der Aussage erreicht, mit der sich der Textproduzent nicht festlegen muss. Die Einschränkung der Regresspflicht erfolgt jedoch gerade durch die evidentielle Markierung als Aussage, die aus nicht näher bestimmten Grundlagen und Wissensquellen geschlussfolgert ist. Ähnlich verhält es sich mit den spanischen Adverbien visiblemente, aparentemente und evidentemente, die in ihrer direkten Bedeutung den visuellen Zugang zum Inhalt der Proposition bezeichnen. Während dieser Zugang bei visiblemente jedoch explizit ist, können aparentemente und evidentemente auch Schlussfolgerungen, die nicht auf optischer Anschauung beruhen, bezeichnen (vgl. Haßler 2004): (11) sp. La suma de estos quebrantos – que se hizo evidente cuando el gobierno debió renegociar su gigantesca deuda externa – ya obligó al Presidente Figueiredo a someterse a una delicada operación de by-pass y lo ha afectado visiblemente en lo físico. Pero, sobre todo, ha desdibujado la firme imagen que llevó a la Presidencia en 1979, cuando juró “hacer de este país una democracia”. (CREA, Hoy, 25/04-01/05/1984) (12) sp. Esta confianza estaba evidentemente fundada en la disposición general de todos los españoles, que guiados por el instinto de la felicidad, que el autor de la naturaleza puso en el corazón de los hombres, sabían que no había otro camino para que se mejorase la suerte de la España, que el de cambiar las instituciones, ni otro medio de conseguirlo que por un alzamiento militar. (CREA, El Imparcial, 1 de febrero de 1822) (13) sp. Y, de igual manera que en el Estado jurídico se destacan lazos legislativos que descubren y ordenan las relaciones en todo el ámbito nacional, porque a todos protegen y a todos obligan las relaciones aparentemente invisibles de la colectividad, de la misma manera en el ámbito económico nacional hay que descubrir también las interrelaciones económicas entre los distintos sectores,

360

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

buscando sus puntos de tangencia -esas poéticas y románticas “curvas osculatrices” donde los matemáticos descubrieron, hace muchos años, el beso amoroso que se dan las cónicas cuando se encuentran en un plano propicio. (CREA, Contabilidad Nacional, ABC, 11 de julio de 1958)

Während visiblemente in Beispiel (11) auf den physischen Eindruck einer Person Bezug nimmt und somit direkte Evidentialität und Herkunft der Information aus unmitttelbarer visueller Wahrnehmung ausdrückt, markiert evidentemente in (12) eine Schlussfolgerung des Textproduzenten. Wie Beispiel (13) zeigt, ist aparentemente ohne Weiteres mit Elementen verbindbar, die die Sichtbarkeit negieren (aparentemente invisibles). In Beispiel (14) wird aparentemente in einem mündlichen Interview autonymisch gebraucht und deutet das Bewusstwerden seiner Verwendung an. Die Sprecherin verwendet es zunächst automatisch (David es un niño supernormal, aparentemente) und wird sich danach bewusst, dass ihr Sprechakt keine Schlussfolgerung, sondern eine einfache Feststellung ist. Aus diesem Grund korrigiert sie sich mit den Worten bueno, aparentemente y sin aparentemente, es supernormal: (14) sp. El segundo se llama David. David es un niño supernormal, aparentemente, bueno, aparentemente y sin aparentemente, es supernormal y tiene ahora pues yo creo que veintiséis veinticinco, bueno, nunca me aclaro con estos dos. (CREA,1998, Entrevista CSC008, mujer, 20 años)

Es erscheint möglich, in diesen Fällen von einer Pragmatikalisierung ausgehend von einer lexikalischen Bedeutung zu sprechen, die letztlich darauf beruht, dass immer dann, wenn sich der Sprecher zu einer Explizierung von Evidenz veranlasst sieht, auch eine Minderung des Evidentialitätsgrades vorliegt. Nicht das offensichtliche Vor-Augen-Liegen des Inhalts der Äußerung, sondern gerade das Nichtvorhandensein oder Nichterwähnen der Informationsquelle, sind für die Verwendung der Adverbien ausschlaggebend. Analog lässt sich beim italienischen si dice feststellen, dass in allen syntaktischen Verwendungsweisen die Erwähnung eines Sprechakts in den Hintergrund treten kann. Im folgenden Beispiel wird die aus dem Hörensagen übernommene Aussage unmittelbar hinterfragt und mit einer in wörtlicher Rede zitierten Position kontrastiert: (15) it.

Si dice che la quotazione in Italia sia propedeutica a nuove acquisizioni. È vero? “Noi ci guardiamo sempre attorno. Luxottica continua a crescere per vie interne, ma a volte ci sono delle occasioni sul mercato che possono consentire di fare dei grandi salti in avanti. Noi vogliamo essere pronti”. (La Repubblica, 02.12.2000)

Evidentialität in romanischen Sprachen

361

Die Bedeutungen dieser Elemente sind nicht referentiell beschreibbar, vielmehr haben sie eher prozeduralen Charakter67 und sind somit für die Verarbeitung der Äußerung im Sprachverstehen bestimmend. Die Instruktion, die aus der Verwendung von Markierungen der vagen Herkunft des Sprecherwissens hervorgeht, problematisiert das Verhältnis zwischen dem Inhalt der Proposition und ihrem Wahrheitswert. Wenn eine Proposition wirklich evident ist, bedarf sie in den romanischen Sprachen keiner Kennzeichnung als evident. Schließlich kann die Verwendung bestimmter Mittel, die auch evidentielle Markierungen vornehmen, sogar zur Verwischung der verschiedenen Arten von Evidentialität beitragen. So kann der französische conditionnel Redewiedergabe, aber auch eine Schlussfolgerung ausdrücken. In dem folgenden, bereits von Guentchéva (1994: 17–18) verwendeten Beispiel ist es unmöglich zu unterscheiden, ob die Feststellung der Todesursache aus der vorher gegebenen Diagnose geschlussfolgert wurde oder ob sie eine Wiedergabe der Äußerung der Ärzte ist: (16) fr.

Les résultats des examens réalisés, notamment à l’hôpital neurocardiologique de Lyon, par le docteur T., neuro-cardiologue, et par le professeur V., toxicologue, font état de la présence dans le sang, où le taux d’alcoolémie atteignait 1,8 gramme, d’opiacés, de la morphine en particulier. La cause de la mort serait ainsi une crise cardiaque déclenchée dans un contexte de prise d’opiacés par voie buccale qui ne semble pas devoir être assimilé à une « surdose ». Ces constatations des experts donnent lieu à l’ouverture d’une instruction pour infraction à la législation sur les stupéfiants qui va tenter de retrouver le fournisseur d’éventuels produits prohibés. (Le Monde, 17 juin 1993)

Zweifelsfrei lässt sich in diesem Beispiel lediglich feststellen, dass es sich nicht um eine Äußerung handelt, die auf der eigenen Erfahrung des Textproduzenten und seiner Einsicht in den Gegenstand beruht. Wie wir gesehen haben, bestehen in den romanischen Sprachen sowohl Abgrenzungsprobleme zwischen epistemischer Modalität und Evidentialität als auch Überschneidungen zwischen unterschiedlichen Arten der Evidentialität. Mit der Bestimmung der Kategorie der Evidentialität als Markierung der Herkunft des Sprecherwissens liegt eine auf den Sprecher zentrierte Kategorie vor. Von daher liegt es nahe, die Deixis in die Bestimmung der Evidentialität einzubeziehen.

_____________ 67

Ifantidou (2001: 87), Sperber & Wilson (1995): procedural meaning.

362

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

4.4.3. Modalität, Evidentialität und Deixis Evidentialität ist eng mit zwei Momenten verbunden: einerseits mit der Referenz auf die Informationsquelle und andererseits mit der epistemischen Haltung des Sprechers. In diesem Sinne erscheint es gerechtfertigt, Evidentialität als ein deiktisches Phänomen zu betrachten, insofern die Evidentialitätsmarkierer auf Elemente des außersprachlichen Kontextes verweisen, nämlich auf die Informationsquelle und auf den Sprecher, der Zugang zu ihr hat. Bereits in früheren Arbeiten (z.B. Jakobson 1957; Schlichter 1986; Frawley 1992; Volkmann 2005, Haßler & Volkmann 2009, Haßler 2010) wurde auf den deiktischen Charakter der Evidentialität hingewiesen. Unter Deixis wird ein spezifischer Mechanismus der Referentialisierung verstanden, der auf den Kontext der Äußerung verweist und eine Beziehung zum ego-hic-nunc herstellt. Setzt man die von Frawley (1992) vorgeschlagenen Kategorien einer deiktischen Klassifizierung des epistemischen Bereichs an (deiktisches Zentrum: ego oder alter, Direktionalität: von ego/alter ausgehend, auf ego/alter zugehend), so ergeben sich vier Unterkategorien: (1) von ego ausgehend (Inferenz), (2) auf ego zugehend (Wahrnehmungsskala visuell, auditiv, andere Sinne), (3) von alter ausgehend (Zitat, Mitteilung, Gerücht), (4) auf alter zugehend (ein bis alle möglichen Gesprächspartner) (vgl. Wachtmeister Bermúdez 2006: 25–26). Quelle der Information Ego ausgehend ankommend Alter ausgehend ankommend

Stärke der Information Grade der Inferenz notwendig > möglich Grade der Wahrnehmung visuell > auditiv > andere Sinneswahrnehmungen Grade der äußeren Information Zitat > Bericht > Gerücht > andere Grade der Teilnehmer der Andere > die Übrigen

Den deiktischen Charakter der Evidentialität anzuerkennen und sie als deiktische Erscheinung zu beschreiben, hilft den Platz der Evidentialität in der Sprache zu bestimmen und gibt eine Basis für ihre Unterscheidung von der epistemischen Modalität.68 Die Deixis impliziert eine Perspektivierung vom Standpunkt des Sprechers aus, die der Hörer ausgehend von _____________ 68

Zur Unterscheidung von Evidentialität und epistemischer Modalität vgl. auch De Haan (1999), Squartini (2004).

363

Evidentialität in romanischen Sprachen

seiner eigenen diskursiven Position reinterpretieren muss. Dieser Begriff der impliziten Perspektivierung im Deixiskonzept erlaubt eine Unterscheidung von epistemischer Modalität und Evidentialität. Während unter Modalität monologisch die epistemische Haltung des Sprechers oder des Autors gefasst wird, beziehen wir unter Evidentialität auch die Herstellung einer Referenz des Hörers oder Lesers zur Informationsquelle ein, was eine notwendige Angleichung im Hinblick auf seine Identität, Individualität und epistemische Haltung zu den Quellen bedeutet. Auch in letzterer kann er sich vom Produzenten der Äußerung unterscheiden. Zur Veranschaulichung soll zunächst ein Modell für temporale Verhältnisse dienen, dass wir dann auf die Evidentialität übertragen werden. Die temporale Deixis lässt sich als ein Schema mit drei Größen darstellen, in dem die Bezugspunkte Momente wären, das deiktische Zentrum ist prototypisch der Redemoment, die Richtungen auf der Zeitachse wären in die Zukunft oder die Vergangenheit orientiert, außerdem gäbe es einen Abstand zwischen dem deiktischen Bezugspunkt und dem Referenzpunkt der Ereigniszeit. Das spanische Adverb después ließe sich als eine Verlängerung der Zeitachse über den Bezugspunkt hinaus darstellen (vgl. Wachtmeister Bermúdez 2006: 29): después

Deiktisches Zentrum Redemoment

Referenzpunkt X Ereigniszeit

después

Eine Anwendung dieses Schemas auf die Evidentialität muss den nicht diskreten Charakter evidentieller Größen und den Zugang zur Informationsquelle berücksichtigen. Außerdem müssen für eine adäquate Beschreibung und Klassifizierung evidentieller Werte rein modale Bedeutungen ausgeschlossen werden. Zu berücksichtigen wären hier die Teilnehmer am Kommunikationsakt mit oder ohne Zugang zur Informationsquelle, die Distanz zur Informationsquelle würde durch das Kontinuum zwischen persönlicher und fremder Information ausgemacht und die Art und Weise des Zugangs zur Information würde als Zugangsrichtung berücksichtigt:

364

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Referenzpunkte Teilnehmer am Kommunikationsakt

Distanz zur Zugangsrichtung Informationsquelle sinnlich↔kognitiv Kontinuum zwischen persönlicher und fremder Information

Betrachten wir als Beispiel die Verwendung des Imperfekts im Spanischen mit evidentiellem Wert. Dass die Temporalität des Imperfekts und auch des deutschen Präteritums auch von Deiktika abhängen kann, ist seit langem bekannt. Betrachten wir dazu die spanische Übersetzung des bereits 1957 von Käte Hamburger genutzten Beispiels: (16) sp. Pero por la MAÑANA tenían que adornar el árbol. Mañana era navidad.

Eine Möglichkeit der Erklärung des Imperfekts in diesem Satz geht vom anaphorischen Charakter einiger Verbformen aus (García Fernández & Camus Bergareche 2004: 54). In Bezug auf ihre Temporalität sind die Verbformen tenían und era mit dem Deiktikum mañana koreferentiell, was durch ihren anaphorischen Charakter bedingt ist. Deiktische Elemente haben die Tendenz, einer Verbform einen anderen als ihren prototypischen Wert zuzuordnen. Vielfach handelt es sich dabei um die Kennzeichnung potentieller oder zumindest nicht realer Vorgänge. Die Verwendung des imperfecto mit evidentieller Bedeutung setzt eine Entwicklung voraus, die hier nur kurz skizziert werden kann. Im mittelalterlichen Spanischen finden wir Sätze wie (17), in denen die Form castigaua ein dynamisches Imperfekt ist: (17) sp. abrio su boca e castigaua los (Evangelio de San Mateo, s. XIII, Ms. I.I.6 El Escorial)

In diesem Satz drückt das Imperfekt nicht eine in der Vergangenheit abgelaufene, aber nicht abgeschlossene Handlung aus und auch nicht das zeitliche Zusammenfallen mit einer anderen Handlung in der Vergangenheit wie in (18): (18) sp. Llegó mi hermano cuando yo le escribía.

Im Mittelalter konnte das Imperfekt noch ähnliche Funktionen wie im Lateinischen erfüllen, in Beispiel (17) drückt es die Durativität aus. Zur prototypischen Funktion des Imperfekts wurde jedoch die Darstellung einer Handlung im Verlauf ohne Anfangs- und Endpunkt. Diese Funktion öffnete den Weg für den Gebrauch des Imperfekts mit evidentieller Bedeutung (Reyes 1990b; Reyes 1994; Haßler 1998; Haßler 2002b). In Satz

Evidentialität in romanischen Sprachen

365

(18) bleibt die Handlung des Schreibens offen: der Bruder kommt und der an ihn adressierte Brief wird nicht abgeschlossen. Der aspektuelle Wert der Imperfektivität nähert sich dem der Ungewissheit. Mit der Verwendung des Imperfekts kann der Sprecher ausdrücken, dass er über nicht sichere, z.B. aus zweiter Hand erfahrene Informationen zum Sachverhalt verfügt, wie z.B. im folgenden Satz: (19) sp. Juan venía mañana.

Mit der Verwendung des Imperfekts venía bezieht sich der Sprecher nicht auf die Vergangenheit des Kommens von Juan, sondern auf eine vorher gehörte, gelesene oder erinnerte Äußerung, in der das Kommen angekündigt wurde. In solchen Fällen, die im gesprochenen Spanisch relativ häufig sind, zeigt der Sprecher, dass er nicht die gesamte Verantwortung für den Inhalt der Äußerung übernehmen kann und er nimmt die Fähigkeit des Hörers vorweg, die Information als aus fremder Quelle erhalten einzuordnen. Es lässt sich also feststellen, dass Evidentialität nicht einfach eine Kuriosität einer typologisch weit von den europäischen Sprachen befindlichen Sprachgruppe ist, sondern ein grundlegendes Merkmal von Sprachen, das seinen Platz eher in der Perspektivierung als in der epistemischen Modalität findet. Evidentialität ist nicht nur eine Referenz auf eine Informationsquelle, sondern auch ein deiktisches Phänomen, das sich auf den Sprecher, der die Äußerung konzipiert hat, und auf seine komplexe Beziehung zur Information und ihren Quellen bezieht. Während die epistemische Modalität die Einstellung des Textproduzenten hinzufügt, setzt die Evidentialität die Herstellung eines Bezugs zur Quelle des Wissens durch den Rezipienten und damit eine Beurteilung der Glaubwürdigkeit voraus. 4.4.4. Möglichkeiten der Evidentialität in der Beschreibung romanischer Sprachen Im Folgenden soll an vier Problembereichen dargestellt werden, aus welchen Gründen es sinnvoll erscheint, eine solche Kategorie wie die Evidentialität in der Beschreibung von romanischen Sprachen zu nutzen, in denen sie nicht morphologisch ausgedrückt wird.

366

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

4.4.4.1. Ökonomie der Strukturbeschreibung: das Modalverb fr. devoir

Selbstverständlich könnte man sich fragen, warum es etwa bei den Verben devoir und pouvoir in epistemischer Bedeutung nicht genügen soll, sie als Modalverben zu charakterisieren (vgl. 4.1.3.). Dendale (1994) hat darauf eine Antwort gegeben, in der er für die Einführung einer Kategorie der Evidentialität vor allem auf struktureller Basis argumentiert. Er geht dabei von einer großen Spannweite der modalen Werte von devoir aus, dessen Eigenschaft jedoch darin bestehe, dass es nur e i n e der aus einem Sachverhalt möglichen Schlussfolgerungen auswählt. Devoir kennzeichnet somit nicht primär die epistemische Qualität einer Information, sondern die Bezugnahme auf eine epistemische Operation des Informationsschaffens selbst. Als Kennzeichen der Evidentialität steht es zunächst dem Fehlen evidentieller Markierung gegenüber, wie im folgenden Beispiel: (20) fr.

Caroline n’est pas au travail aujourd’hui. Elle est malade.

(21) fr.

Caroline n’est pas au travail aujourd’hui. Elle doit être malade.

Als Kennzeichen eines informationsschaffenden Prozesses steht devoir in Opposition zu anderen Kennzeichnungen der Evidentialität, wie etwa zum epistemischen Konditional in Beispiel (22) oder auch dem Bedingungssatz in Beispiel (23), der in diesem Fall nicht wirklich eine Bedingung für die Proposition des Hauptsatzes, sondern eine Basis für die ausgedrückte Schlussfolgerung beinhaltet: (22) fr.

Tiens on sonne à la porte. Ce serait le facteur. / Ça doit être le facteur.

(23) fr.

Si on sonne à la porte à midi, c’est le facteur.

Auch die Beispiele (24) und (25) stehen sich in ähnlicher Weise gegenüber. Während in (24) das Futur aufgrund seiner Inaktualität zulässt, die Äußerung als Vermutung zu verstehen, unterstreicht devoir in der Verbalperiphrase in (25) wiederum den informationsschaffenden Prozess. Aus den vielen Möglichkeiten, die eine bestimmte Handlungsweise erklären könnten, wird eine als die ausgewählte genannt, andere werden als erwogen präsupponiert: (24) fr.

Il l’aura fait par pitié.

(25) fr.

Il doit l’avoir fait par pitié.

Schließlich steht devoir auch in Opposition zu Ausdrücken der eigenen Wahrnehmung des Sprechers, die eine Bezugnahme auf Schlussfolgerungen und fremde Quellen für die Gewinnung der mitgeteilten Information überflüssig machen. Aus diesem Grund erscheint die Kombination der beiden Sätze unter (26) merkwürdig und vielleicht sogar inakzeptabel:

Evidentialität in romanischen Sprachen

(26) fr.

367

Ça doit être ma mère. ?*Je l’avais immédiatement vue et reconnue.

Aus der Tatsache, dass die modalen Werte von devoir sehr instabil sind und von Notwendigkeit bis zu großer Unsicherheit reichen, lässt sich nach Dendale schlussfolgern, dass es sich primär um ein Kennzeichen der Evidentialität handelt. Tatsächlich weist devoir immer darauf hin, dass ein Sachverhalt aus Prämissen abgeleitet und bewertet wurde, während seine modalen Werte nicht mit der gleichen Klarheit bestimmt werden können. Ausgangspunkt für die Einführung des Konzepts der Evidentialität ist somit eine Art Ökonomie der Grammatikschreibung, ein Prinzip, das sich in der Rückführung zunächst nur auflistbarer Vielfalt auf eine einheitliche Funktion wiederfindet. 4.4.4.2. Kategorielle Verallgemeinerung: der Conditionnel im Französischen

Im Zusammenhang mit der Markierung von Polyphonie (vgl. 4.2.3.) hatten wir bereits darauf hingewiesen, dass sich die häufige Verwendung des Konditionals gerade in Pressetexten als Vereinfachung zweier Konstruktionen darstellt, die als solche in der vereinfachten Form nicht mehr unterscheidbar sind. Zwar wird mit dem Konditional eine evidentielle Markierung der mitgeteilten Information als nicht aus unmittelbarer Anschauung resultierend vorgenommen, es bleibt jedoch offen, ob inferentielle oder quotative Evidentialität vorliegt: (27) fr.

Elle apporte des éléments nouveaux ou méconnus. Elle nourrit une analyse qui ne serait plus seulement celle des avant-gardes, mais celle des tendances qui en découlent, qui n’inventent pas mais qui diffusent. (Glossanet, 200012-01)

In solchen nicht mehr eindeutig diesen Funktionen zuordenbaren Conditionnel-Verwendungen wird die Quelle des Sprecherwissens als ‛nicht aus eigener Wahrnehmung’ gekennzeichnet, also in der Evidentialitätshierarchie gewissermaßen eine Verallgemeinerung vorgenommen. Freilich wird dabei auch kommunikative Regresspflicht vermieden; diese Vermeidung geschieht jedoch mit größerer Vagheit und auf einer allgemeineren Ebene. Das eigene kognitive Dazutun, die Schlussfolgerung, wird ebenso wenig ausgeschossen wie die Wiedergabe der Äußerung dritter Personen. Offensichtlich muss also nicht nur der Bedarf an immer stärkerer Differenzierung, sondern auch an immer stärkerer Vagheit als Faktor in Rechnung gestellt werden, der zu bestimmten diskursiven Veränderungen führt, die dann zum Ansatzpunkt für Veränderungen in Syntax und Morphologie werden können.

368

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

4.4.4.3. Evidentielle Verwendungen als Sekundärfunktion: das Imperfecto

Andere Verhältnisse liegen beim Imperfekt vor, das vor allem im Spanischen häufig die Funktion übernimmt, auf inaktuelle Äußerungen als Wissensquelle zu verweisen. Zunächst wollen wir von einer in bestimmten Kontexten auch beim deutschen Präteritum gegebenen Funktion ausgehen: (28) dt.

Wie war Ihr Name?

(29) dt.

Heute war der Abgabetermin.

(30) dt.

Morgen war Weihnachten und sie hatte noch kein Geschenk.

In diesen Äußerungen drückt das Präteritum nicht zwingend eine temporale Verortung der Handlung in der Vergangenheit aus, sondern es lässt aufgrund seiner Inaktualität den Bezug auf eine Äußerung oder einen Wissenszusammenhang zu, die nicht präsent sind. Voraussetzung für eine solche Verwendung ist jedoch im Deutschen, dass die Sachverhaltsdarstellung als solche als offen modalisiert ist, wie es in der Frage ohnehin der Fall ist, aber auch durch den Situationskontext oder durch Zeitadverbiale (morgen) erfolgen kann. Äußerungen wie (31) und (32) würden eher als faktisch und temporal vorzeitig gegenüber dem Moment des Sprechens interpretiert: (31) dt.

Der Zug kam um 8 Uhr an.

(32) dt.

Maria hielt heute eine Vorlesung.

Dagegen ließe sich im Spanischen die Äußerung (33), wie in 4.2.3. bereits dargestellt, unter Nutzung der Verweisfunktion des imperfecto als (34) reformulieren: (33) sp. Juan viene mañana, según me anunciaron. (34) sp.

Juan venía mañana.

In den folgenden Beispielen aus Zeitungstexten (35, 36, 37) treten Imperfektformen auf, die eine modifizierte Darstellung der Situation im Vergleich zur Verwendung des einfachen Perfekts (35a, 36a, 37a) bewirken (vgl. Böhm 2016: 301–302): (35) sp. En la Bolsa de Wall Street, a media sesión, las acciones de Texaco subían un 1,30% y alcanzaban los 68,125 dólares y las de Chevron aumentaban un 0,92% y se situaban en 97,750 dólares. (CREA, Diario de Navarra, 12/05/1999, Negocios)

Evidentialität in romanischen Sprachen

369

(35a) sp. En la Bolsa de Wall Street, a media sesión, las acciones de Texaco subieron un 1,30% y alcanzaron los 68,125 dólares y las de Chevron aumentaron un 0,92% y se situaron en 97,750 dólares. (36) sp. Sólo siete horas después de haberse declarado la independencia, los Spitfire egipcios bombardeaban Tel-Aviv y Jaffa y se iniciaba una ofensiva general de los árabes sobre las recién establecidas fronteras. (CREA, El País, 18/09/1977, Sociología) (36a) sp. Sólo siete horas después de haberse declarado la independencia, los Spitfire egipcios bombardearon Tel-Aviv y Jaffa y se inició una ofensiva general de los árabes sobre las recién establecidas fronteras. (37) sp. Ante este silencio, los comerciantes decidieron plantear un ultimátum a los responsables del Instituto, cuyo plazo terminaba ayer miércoles, pero que ha sido ampliado. (CREA, El Mundo, Comercio, 15/02/1996) (37a) sp. Ante este silencio, los comerciantes decidieron plantear un ultimátum a los responsables del Instituto, cuyo plazo terminó ayer miércoles, pero que ha sido ampliado.

Das Imperfekt hat in solchen Verwendungen seine prototypische Bedeutung, im Verlauf befindliche Situationen zu bezeichnen, partiell verloren und es lässt die bezeichneten Prozesse auch nicht in den Hintergrund treten. Die im Imperfekt verwendeten Verben können außerdem auch von ihrer Aktionsartbedeutung her begrenzt und zielgerichtet sein (vgl. alcanzar, terminar), was aspektuelle Merkmale zusätzlich in den Hintergrund treten lässt. In Satz (37) wird zudem der genaue Zeitpunkt (ayer miércoles) angegeben, zu dem ein Ultimatum endete; zugleich wird die Realität des Endens jedoch mit der Verwendung des Imperfekts aufgehoben und es wird danach auf die Verlängerung hingewiesen (pero que ha sido ampliado). Die Imperfektform terminaba in (37) bezeichnet also nicht die im Verlauf befindliche Handlung des Endens eines Termins, sondern sie weist darauf hin, dass dieser Termin durch eine Instanz (hier: los comerciantes) gesetzt wurde, seine Einhaltung jedoch irreal ist. Es erfüllt somit sowohl eine modalisierende als auch eine evidentielle Funktion. Auch im folgenden Beispiel wird auf das Enden eines Termins hingewiesen, der vorher in nicht genannten Quellen bekannt gegeben worden war, ohne diese Proposition zu validieren: (38) sp. Ayer se cerraba el plazo de presentación de candidaturas para las primarias internas que decidirán el candidato del PSF, tras un pronunciamiento de la militancia el próximo 3 de febrero. (CREA, El Mundo, Política, 26/01/1995)

Mit dem einfachen Perfekt würde die Situation als geschlossen dargestellt und als faktisch mitgeteilt:

370

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

(38a) sp. Ayer se cerró el plazo de presentación de candidaturas para las primarias internas que decidirán el candidato del PSF, tras un pronunciamiento de la militancia el próximo 3 de febrero.

4.4.4.4. Funktionalisierung von Variation

In einigen Fällen lassen sich auch Daten der Sprachvariation und des Sprachkontakts vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses von Evidenz und Sprache darstellen. Zunächst sind Evidentialitätsmarkierungen bei zweisprachigen Sprechern nicht selten mit Phänomenen des CodeSwitchings verbunden. Große (2011) hat zum Beispiel die Verwendung des modalen bzw. evidentiellen Markers ndaje des Guaraní in Varietäten des Spanischen untersucht, die in Paraguay gesprochen werden. King & Nadasdi (1999) nennen Beispiele aus einem Korpus von Interviews, die sie in dem ehemaligen französischen Kolonialgebiet Akadien aufgenommen haben: (39) fr.

I guess qu’on est pas mal tout pareil. (19.2A.255, Abram-Village)

(40) fr.

I think j’ai plus peur des chenilles qu’une serpent. (30.2A.47, Saint-Louis)

(41) fr.

Ils avont pas mal de la misère, I guess. (01.1B.407, Abram-Village)

(42) fr.

C’est sept ou huit heures, je sais pas, huit heures, I imagine. (33.1B.810, SaintSouis)

I guess, I think, I imagine werden hier als Markierungen epistemischer Unsicherheit in ansonsten französische Äußerungen eingefügt. Für ihr Funktionieren als Evidentialitätsmarkierungen spricht, dass nur englische Ausdrücke in der ersten Person Singular in dieser Weise umfunktioniert werden, also niemals We guess oder He thinks. Weiterhin ist auffällig, dass die englischen Verben, die als Ausgangsformeln in solchen Evidentialitätsmarkierungen dienen, das Wortfeld des Denkens, Meinens und Glaubens keinesfalls ausschöpfen und semantisch relativ unspezifisch sind. Ein Erklärungspotential des Evidentialitätsbegriffs wurde auch für Erscheinungen der Variation im Bereich des Spanischen angenommen. So wurde versucht, die Phänomene des queismo und dequeismo, einer Verwendung der Konjunktion que anstelle von de que bzw. de que anstelle von que mit Bezug auf eine stärker evidentialisierende Funktion von de que zu erklären.69 (43) sp. Me acuerdo QUE no pudo venir. (queismo, Standard: DE QUE) (44) sp. El oficial comentó DE QUE comenzará pronto. (dequeismo, Standard: QUE)

_____________ 69

Vgl. Schwenter (1999), García (1986), Cornillie & Delbecque (2008), Hennemann (2013b).

Evidentialität in romanischen Sprachen

371

Die Distribution dieser Formen zeigt, dass die dritte Person im Matrixsatz stark zur Selektion der Variante de que tendiert, während die erste Person häufiger mit que auftritt. Dies wurde damit erklärt, dass die Form mit de eher dann verwendet wird, wenn der aktuelle Sprecher und die Informationsquelle nicht übereinstimmen, die einfache Form mit que wird dagegen dort präferiert, wo der Sprecher in der ersten Person über seine eigenen kommunikativen und kognitiven Handlungen spricht. 4.4.5. Unterschiedliche Architektur der Kategorie der Evidentialität in den romanischen Sprachen und im Deutschen Eine aspektuell als imperfektiv geprägte Verbform, die auf subtile Weise den Ausdruck von Evidentialität übernehmen könnte, ist im Deutschen nicht vorhanden. Dafür gibt es jedoch zahlreiche Modalpartikeln, z.B. ja, eigentlich, ruhig, die durch unterschiedliche sprachliche Mittel in romanischen Sprachen wiedergegeben werden können (vgl. Waltereit 2001). Außerdem sind Modalverben vorhanden, die in ihrer ursprünglichen Bedeutung deontische bzw. buletische Modalität ausdrücken, die aber in bestimmten Kontexten typischerweise zu Ausdrucksmitteln der Evidentialität werden. Die Modalverben sollen und wollen treten nicht nur als Ausdruck von deontischer und buletischer Modalität auf, sondern sie können auch mit evidentiellen Werten verwendet werden, vgl. Mortelmans (2000), Diewald (2010a): (45) dt.

Peter soll seine Hausaufgaben machen.

deontisch

(46) dt.

Eva will ein Bier trinken.

buletisch

(47) dt.

Peter soll seine Hausaufgaben gemacht haben.

evidentiell

(Information: 3. Person)

(48) dt.

Eva will ein Bier getrunken haben.

evidentiell

(Information: Subjekt)

In Satz (47) wird die Tatsache, dass Peter seine Hausaufgaben gemacht hat als von einer dritten Person erfahren und mit mittlerer Wahrscheinlichkeit zutreffend dargestellt, während der Sprecher in Satz (48) die Information von der als Subjekt auftretenden Person selbst hat, sie aber als nur wenig wahrscheinlich darstellt. Auslöser für die eindeutig evidentielle Lesart ist in beiden Sätzen die Perfektform des Vollverbs. Bei sollen wird im Zusammenhang mit der Präsensform (vgl. 45) die deontische Lesart präferiert, die epistemische ist jedoch nicht ausgeschlossen, während bei wollen im Kontext des Präsens nur die buletische Bedeutung möglich ist (46).

372

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Betrachten wir nun die evidentielle Bedeutung von wollen und sollen und ihre Ausdrucksmöglichkeiten in romanischen Sprachen in einem Parallelkorpus aus Pressetexten, das wir mit Hilfe der Suchmaschine Glossanet (http://glossa.fltr.ucl.ac.be/) erstellt haben. Dafür, dass die Form will problemlos die Herkunft des mitgeteilten Wissens aus fremder Quelle, nämlich von der Person, über die gesprochen wird, markieren kann, sei der folgende Beleg genannt: (47) dt.

Anders Behring Breivik hatte am Samstag die Täterschaft bei beiden Anschlägen zugegeben. Er will sie allein ausgeführt haben. Am Freitag hatte er im Osloer Zentrum erst eine Autobombe explodieren lassen, die mindestens sieben Menschen tötete. (http://www.sueddeutsche.de/politik/bluttat-innorwegen-attentaeter-nennt-anschlaege-grausam-aber-notwendig-1.1123955)

Zugleich wird damit eine Distanz des Produzenten der Äußerung ausgedrückt, die deren Inhalt als eher unwahrscheinlich erscheinen lässt. Auch mit sollen, das auf eine fremde, jedoch nicht mit dem Subjekt identische Quelle verweist, wird die Regresspflicht des Textproduzenten relativiert, die Aussage nähert sich jedoch der Wahrscheinlichkeit an: (48) dt.

Behring Breivik soll ausdrücklich versichert haben, allein gehandelt zu haben. Doch stößt diese Darstellung bei den Behörden auf Skepsis. Die Ermittler gingen eigenen Angaben zufolge unter Hochdruck Hinweisen auf einen zweiten Schützen nach, der an dem Blutbad auf der Insel beteiligt gewesen sein könnte. (http://www.stern.de/panorama/doppelanschlag-in-norwegen -attentaeter-streitet-strafbare-handlung-ab-1709391.html)

In den romanischen Sprachen steht kein entsprechendes polyfunktionales Modalverb zur Verfügung, das in entsprechenden Kontexten, wie etwa mit dem Vollverb im Perfekt, evidentielle Bedeutung annehmen könnte. Der Ausdruck der Herkunft des Wissens des Textproduzenten von einem erwähnten Subjekt muss hier expliziter erfolgen, wie in dem folgenden französischen Beispiel durch die performative Formel a reconnu les faits und durch direkte Zitate markierende Anführungszeichen: (49) dt.

[…] depuis son arrestation vendredi, Behring Breivik a reconnu les faits, estimant que les attaques étaient « cruelles » mais « nécessaires ». Il a également affirmé avoir « agi seul » (http://tempsreel.nouvelobs.com/actualite/monde /20110723.OBS7523/norvege-anders-behring-breivik-profil-d-un-tueurpresume.html)

In Beispiel (50) wird die Informationsquelle, l‘agence de presse norvégienne, explizit genannt:

Evidentialität in romanischen Sprachen

(50) fr.

373

Les enquêteurs penchent donc pour le moment pour un acte isolé, mais ils n’excluent pas des complicités. Selon l’agence de presse norvégienne, ils seraient d’ailleurs à la recherche d’un 2e tireur potentiel. (http://www.lefigaro.fr/international/2011/07/23/01003-20110723ARTFIG00418-un-hommeobsede-par-le-multiculturalisme.php)

Im folgenden spanischen Beispiel wird eine dem deutschen sollen entsprechende evidentielle Markierung mit oficialmente se dice vorgenommen: (51) sp. Aunque oficialmente se dice que Anders Behring Breivik actuó en solitario, las investigaciones policiales van dirigidas a destapar qué hay o quien está detrás de estos dos atentados, y a no dejar el menor rastro de duda sobre si el detenido ha contado con la ayuda de más manos ejecutoras. De momento nada ha trascendido sobre el móvil y los cómplices. (http://www.lne.es/ internacional/2011/07/24/detenido-anders-behring-breivik-ultra-pertenecio -segundo-partido-pais/1106842.html

Auch die Verwendung von performativen Verben (reconocer) im Zusammenhang mit der unmittelbaren Bezeichnung der Quelle der Information enthält evidentielle Information und trägt zugleich zur Reduzierung der Regresspflicht des aktuellen Sprechers oder Schreibers bei: (52) sp. Los investigadores consideran a este hombre como el autor de los dos ataques, la explosión de una bomba en el centro de Oslo y la masacre cometida luego en la isla de Utoya, cerca de la capital, indicó Andresen en una rueda de prensa. El sospechoso reconoció que disparó en la isla, declaró el comisario Sveinung Sponheim. “El sospechoso se entregó nada más llegar la Policía sin oponer resistencia. No se tuvo que efectuar ningún disparo”, declaró el oficial. (http://www.latribuna.hn/2011/07/24/sospechoso-de-ataques-deoslo-admitio-responsabilidad/)

Während im Deutschen die gleichzeitig vorgenommene Evidentialisierung und Modalisierung als wenig oder in mittlerem Grade wahrscheinlich über die Verben sollen und wollen erfolgt, muss diese Information in den romanischen Sprachen expliziter über lexikalische Elemente ausgedrückt werden. Bei der Markierung eines hohen Grades an Wahrscheinlichkeit und gleichzeitiger Angabe der Herkunft des Wissens aus Schlussfolgerung stehen hingegen in den romanischen Sprachen – wie im Deutschen – entsprechende Modalverben zur Verfügung. In den folgenden Beispielen drücken die entsprechenden Formen von dt. müssen, fr. devoir, sp. deber, pt. dever, it. dovere evidentiell Schlussfolgerungen aus, denen modal ein hoher Wahrscheinlichkeitswert zugesprochen wird: (53) dt.

An einem einzigen Tag hat Anders Behring Breivik 77 Menschen kaltblütig ermordet. Allein die Monstrosität seiner Verbrechen mag manchen zu der Überzeugung bringen, dass der 33-Jährige geisteskrank sein muss. (http:// www.sueddeutsche.de/panorama/urteilsbegruendung-im-fall-breivik-ein-ter rorist-mit-extremistischem-weltbild-1.1449230)

374 (54) fr.

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

Dans ce cas subsidiaire, il n’y a aucun doute que Breivik doit recevoir la peine la plus sévère, 21 ans de rétention de sûreté (http://www.charentelibre.fr /2012/06/21/tuerie-d-oslo-le-parquet-requiert-l-internement-psychiatriquede-breivik,1101669.php)

(55) sp. Noruegos , es una verguenza su justicia. 77 vidas perdidas entre 21 años. No sean ridiculos reformen sus leyes. Este asesino debe estar planificando su segundo golpe cuando salga. (http://es-us.noticias.yahoo.com/breivik-declara do-responsable-actos-condenado-21-a%C3%B1os-c%C3%A1rcel-0818351 28.html) (56) pt.

O veredicto de Anders Behring Breivik, o autor ataque no verão passado na Noruega, deve ser conhecido ou a 20 de julho ou a 24 de agosto, anunciou, hoje, o Tribunal de Oslo. (http://www.aeiou.pt/quiosque/policia-diz-quebreivik-nao-teve-cumplices)

(57) it.

Se un individuo può arrivare a considerare di nessun valore la vita di un altro essere umano, tanto da premeditarne la morte per propria mano, allora deve esserci qualche cosa che non va nella sua mente. (http://www.giornalettism o.com/archives/463821/cosa-insegna-il-caso-breivik/)

Das Fehlen der evidentiellen Bedeutung bei bestimmten Modalverben wird in den romanischen Sprachen auf vielfältige Weise kompensiert, unter anderem durch einen coverten Ausdruck von Modalität durch indikativische imperfektive Verbformen. Wir haben bereits gesehen, dass sie die Eröffnung einer weiteren Sprecherdeixis ermöglichen, ohne dass dafür das andere deiktische Zentrum genannt werden müsste. Die imperfectoFormen in den folgenden drei Beispielen werden für die Darstellung einmaliger, abgeschlossener und zeitlich determinierter Handlungen verwendet. Während sich hier also durchaus perfektive Verbformen erwarten ließen, wird hier das imperfecto verwendet, das erlaubt, nicht die Verantwortung für den Inhalt zu übernehmen und anzudeuten, dass das Mitgeteilte aus Beobachtung, fremder Mitteilung oder eigener Reflexion gewonnen wurde, ohne jedoch eine genaue Quelle mitzuteilen: (58) sp. Al día siguiente de aparecer en las páginas de este diario un artículo suyo sobre la situación de la Universidad, el director del Colegio Mayor Diego de Covarrubias, Diego Mateo del Peral, recibía un oficio del rector de la Universidad Complutense de Madrid en el cual le comunicaba que había propuesto su cese inmediato a la junta de gobierno de la referida universidad. (CREA, El País, Educación, 04/08/1997) (59) sp. El pasado mes de noviembre, un coche bomba explosionaba junto a la Embajada egipcia. El resultado fue de 17 muertos y 60 heridos; el 1 de diciembre, otra bomba estallaba en un autobús y mataba a tres personas más; ese mismo mes, el día 21, 45 personas fallecían al ser activado un explosivo dentro de un automóvil en Peshawar […] (CREA, El Mundo, Política, 29/04/1996)

Evidentialität in romanischen Sprachen

375

(60) sp. Los expertos en artillería de La Habana ayudaron a los rebeldes a desarrollar el Tepesquintle, un mortero casero, notoriamente impreciso, que disparaba un tanque de propano lleno de TNT. Uno de esos tanques mató a media docena de niños cuando cayó corto en un ataque contra un cuartel del ejército. (Corpus del Español, US:Herald, 16/11/97)

In ähnlicher Weise finden sich in anderen romanischen Sprachen Verwendungen des Imperfekts, in denen nicht der Ablauf eines Prozesses ohne Determination und Limitierung bezeichnet wird, sondern ein zeitlich begrenzter und abgeschlossener Vorgang im Blickfeld steht. Auch hier reduziert das Imperfekt die Verantwortung des Sprechers, in diesem Fall des Journalisten, und verweist auf eine unbestimmte Quelle: (61) fr.

On y disait que le directeur du corps de ballet ne lui avait vraiment pas laissé de passe-droit, la considérant comme un membre à part entière de sa troupe plutôt que comme une actrice. (source: http://www.voir.ca/cinema/fiche film.aspx?iIDFilm=5045)

(62) pt.

Há já algum tempo alguém evidenciava num artigo do Jornal Terras da Beira, as qualidades da equipa candidata à Câmara Municipal da Guarda liderada por Carlos Andrade apelidando-a de “Dream Team” (CdP, 18 Set 97, A voz que vai morrer em directo)

Imperfektformen des Indikativs, die traditionell als nicht modalisierend betrachtet werden, können also durchaus auf eine komplexe Weise versteckt modalisieren und Evidentialität ausdrücken. Sie können neben der Deixis des aktuellen Textproduzenten eine weitere Deixis, die der Informationsquelle, kennzeichnen. Da das Deutsche über keine aspektuell markierten Verbformen verfügt, muss es andere Formen der verdeckten Modalität, etwa polyfunktionale Modalverben,70 oder overte Modalisierungen mit dem Konjunktiv oder Modalpartikeln nutzen, wie in den Übersetzungen des Satzes (63): (63) sp. Diego Mateo del Peral, recibía un oficio del rector de la Universidad. (64) dt.

Diego Mateo del Peral habe einen Brief des Rektors der Universität erhalten.

(65) dt.

Diego Mateo del Peral erhielt wohl einen Brief des Rektors der Universität.

Da overte Modalisierungen jedoch expliziter und weniger subtil sind, werden sie in Übersetzungen nicht selten auch weggelassen: (66) dt.

Diego Mateo del Peral erhielt einen Brief des Rektors der Universität.

_____________ 70

Zu polyfunktionalen Modalverben in germanischen Sprachen vgl. Abraham (1991; 2009), Abraham & Leiss (2009).

376

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

4.4.6. Zum Erklärungspotential des Evidentialitätsbegriffs In Auswertung des bisher untersuchten Materials sollen im Folgenden zwei Erkenntnisse dargestellt und zugleich gezeigt werden, dass sich aus ihnen ein Erklärungspotential des Evidentialitätsbegriffs für die romanischen Sprachen ergibt: 1. Evidentialitätsausdrücke, die auf lexematische Benennungen der Wissensquelle des Sprechers zurückgehen, unterliegen einem mit semantischen Veränderungen verbundenen Prozess der Pragmatikalisierung. 2. Unspezifische grammatische Formen können ohne weitere „Stützen“ als Evidentialisierungen verwendet werden, wobei ihre prototypische Bedeutung zurücktritt. 4.4.6.1. Evidentialität und Pragmatikalisierung

Die erste Erkenntnis trifft sich mit der von Traugott (1982) aufgestellten und dann insbesondere in Traugott & König (1991) präzisierten Annahme eines Wandels, der von referentiell identifizierbaren Bedeutungen ausgeht, über Bedeutungen in der Textmarkierung (zum Beispiel Konnektiva, anaphorische Markierungen usw.), bis schließlich zu Bedeutungen, die in der Sprecherhaltung, der Emphase oder der subjektiven Sachverhaltsbewertung begründet sind. Ein solcher Wandel von der propositionalen über die textuelle zur expressiven Komponente lässt sich auch bei Evidentialitätsmarkierungen nachvollziehen. Der Entstehung solcher Markierungen liegen Konventionalisierungen von Metaphern und/oder über Konversationsmaximen gegebene Implikaturen von Evidentialitätsmarkierungen zugrunde. Erscheinungsformen von Pragmatikalisierung lassen sich im Zusammenhang mit der Funktion evidentieller Markierung vor allem im lexikalischen Bereich nachweisen. Solche Entwicklungen betreffen zum Beispiel Adjektive und Adverbiale wie evident, offensichtlich, offenbar, zweifellos, wie jedem klar ist. Eine Aussage wie (67) ist durch die im Deutschen sicher weit im Plusbereich der Evidentialitätsskala stehende und morphologisch sogar mit ‛Offenbarung’ korrelierbare Ausgangsbedeutung von offenbar/offensichtlich keinesfalls evidenter als (68). (67) dt.

Offenbar regnet es. Offensichtlich regnet es.

(68) dt.

Es regnet.

Während (68) als Konstatieren eines aktuellen und unmittelbar gegebenen Sachverhalts interpretierbar ist, liegt es bei (67) nahe, andere, weniger

Evidentialität in romanischen Sprachen

377

sichere Ausgangspunkte als die unmittelbare optische Wahrnehmung anzunehmen, etwa ein Hören von Regentropfen, die Tatsache, dass jemand auf seinen gewohnten Spaziergang verzichtet usw., die den Sprecher zum Äußern einer epistemisch markierten Schlussfolgerung veranlassen. In der Sprachverwendung kommt es zum Phänomen der Pragmatikalisierung, durch die Elemente gerade in Umkehrung ihrer semantischen Primärmerkmale Funktionen übernehmen können. Wenn eine Proposition wirklich evident ist, bedarf sie keiner Kennzeichnung als evident. Aus dieser einfachen Tatsache ergibt sich im Zusammenhang mit den Grice’schen Konversationsmaximen und der Annahme einer ̒Stärke der Affirmation̕ nach Sperber & Wilson71 die Schlussfolgerung, dass Evidentialitätsmarkierungen insofern als relevant gedeutet werden, als ihnen stets eine einschränkende Wirkung im Hinblick auf die tatsächliche Evidenz zugeschrieben wird. Dies trifft auch dann zu, wenn die betreffenden Wörter aufgrund ihrer lexikalischen Ausgangsbedeutung einen maximalen Grad an Evidenz bezeichnen würden: (69) fr.

Le rapport du Conseil des impôts consacré à l’imposition des revenus pourrait évidemment susciter quelque scepticisme. (Le Monde, 2000-06-28)

(70) it.

Il primo ingrediente è dato dall’acquisto di un titolo obbligazionario del tipo zero coupon (si pensi a un BoT o a un CTz) che, evidentemente, garantisce interessi certi – e almeno fino ad oggi esigui – alla scadenza. E fin qui non vi è nulla di nuovo. (Ilsole24ore, 2000-06-30)

(71) pt.

E a este trabalho acresceu o interesse de ter ao lado a versão de Alice Gomes, à qual sou, evidentemente, devedora. (Publico, 2000-06-29)

(72) sp. El libro, prologado por el citado edil, que evidentemente no lo había leído, incluía una carta del bueno de Machado donde decía de Baeza cosas aún más duras que las del trasero. (La Vanguardia, 02/09/1995)

In der Äußerung (69) würde zwar auch der Conditionnel allein Evidentialität ausdrücken, er würde jedoch – wie bereits dargestellt – zwei Lesarten ermöglichen, nämlich die Interpretation als wiedergegebene Rede oder als Inferenz, während das Hinzufügen des Adverbs évidemment letztere Lesart auswählt. Es erscheint möglich, von einer Pragmatikalisierung ausgehend, in diesen Fällen von einer lexikalischen Bedeutung zu sprechen, die letztlich _____________ 71

Die Relevanztheorie von Sperber und Wilson hat diese Überlegungen durch die Annahme einer ̒Stärke der Affirmation̕ weiter päzisiert: „We take for granted that there is a good match between the strength of our assumptions and the likelihood that they are true. That is, we trust our cognitive mechanisms to strengthen or weaken our assumptions in a way that is epistemologically sound: we trust our representation of the world to be adequate in this respect, as in others. As a result, intuitions about the strength of our assumptions are expressed as intuitions about the degree of confirmation. Such intuitions are assumptions about assumptions, and can be processed as such“ (Sperber & Wilson 1995: 78).

378

Modalität: Zentrum, Peripherie und Evidentialität

darauf beruht, dass immer dann, wenn sich der Sprecher zu einer Explizierung von Evidenz veranlasst sieht, auch eine Minderung des Evidentialitätsgrades vorliegt. 4.4.6.2. Evidentialität und Änderung prototypischer grammatischer Funktionen

Als Beleg für die Beziehung der Regelmäßigkeit, mit der grammatische Formen ohne weitere „Stützen“ als Evidentialisierungen verwendet werden können, wobei die prototypischen (primären) grammatischen Funktion zurücktreten, sei nochmals auf das spanische Imperfekt verwiesen, das in evidentieller Funktion weit freier in der Verwendung ist: (73) sp. En ese partido, Riquelme daba un pase largo que terminaba en gol, creo que de Delgado. Nos han hecho lo mismo. (El País, 2000-11-29) (74) sp. Desde hacía días, miles de pescadores robaban el combustible que salía de la tubería. (El País, 2000-12-01) (75) sp. En vez de acometer a los engaños rebrincaban sobre ellos, pegaban arreones, reculaban, salían sueltos y, a la hora del castigo, se escupían descaradamente en el encuentro con el peto. (El País, 2000-12-02)

Im Vergleich zum Deutschen mag dafür zur Erklärung die Aspektualität ausreichen, die das Deutsche im Bereich der Verbalkategorien nicht hat, während das spanische imperfecto einen Schwebezustand der Handlung nahelegen kann. Wie bereits festgestellt, sind aber auch in den anderen romanischen Sprachen die Möglichkeiten für selbständige evidentielle Verwendungen des Imperfekts eingeschränkter als im Spanischen. Als mögliche Erklärung für die besondere Verbreitung evidentieller Verwendungsweisen des Imperfekts im Spanischen ließe sich der Ausdruck der imperfektiven Aspektualität durch eine besonders verbreitete, auf dem Weg der Grammatikalisierung bereits fortgeschrittene Periphrase (estar+Gerundium) annehmen, die das imperfecto in seiner ursprünglichen Funktion entlastet und für Sekundärfunktionen zur Verfügung stellt. Als Argument für die weit fortgeschrittene Grammatikalisierung dieser Periphrase im Spanischen ließe sich neben der Frequenz im Vergleich zu anderen aspektuellen Periphrasen auch vor allem der Grad der Integration in das System betrachten. Gerade weil sich die Periphrase mit allen Formen des Auxiliars bilden lässt, ist sie als Periphrase im aspektuellen Gebrauch spezialisiert: (76) sp. María estaba hablando con Jorge durante dos horas. (Imperf.+Gerundium)

Evidentialität in romanischen Sprachen

379

(77) sp. María estuvo hablando con Jorge durante dos horas. (Perf. simple+Gerundium)

4.4.6.3. Ausblick und Schlussfolgerungen

Die Erklärung von Vorgängen beim Verstehen von Äußerungen zieht sich oft auf pragmatisch leicht deutbare, weil in ihrer Sprechaktfunktion eindeutig durch die Situation bestimmte, Äußerungen zurück. Insofern ist die seit längerer Zeit nicht zu überhörende Forderung berechtigt, die Sprachwissenschaft solle sich an schwierige Texte erinnern und einen Beitrag zur Modellierung ihres Verstehens leisten. Die Markierung der Herkunft des Sprecherwissens sowohl im schriftlichen als auch im mündlichen Sprachgebrauch gehört zweifellos zu den Faktoren, die zur Komplexität von Texten beitragen. Zunächst findet sich bestätigt, dass es sich bei der Markierung der Herkunft von Sprecherwissen um einen sowohl kognitiv als auch kommunikativ relevanten Funktionsbereich handelt, der jedoch nur in wenigen Sprachen grammatikalisiert ist. Diese Feststellung schließt nicht aus, dass grammatische Formen, die in bestimmten Umgebungen und Textsorten redundant geworden sind, auch in Sprachen ohne spezifische Mittel der Evidentialität eine deutliche Tendenz aufweisen, für den Ausdruck dieser Funktion genutzt zu werden. Die dabei ablaufenden Entwicklungen können als ein Wirken des Ökonomieprinzips in der Sprache vor dem Hintergrund hoher Komplexität der Funktionen betrachtet werden. Unter sprachtheoretischem Gesichtspunkt bestätigt es sich als sinnvoll, für die Evidentialität eine Definition vorzunehmen, wie sie vielfach in der heutigen Universalienforschung anzutreffen ist, die definitorische Eigenschaften nicht gemäß der klassischen Logik als notwendige und hinreichende Bedingungen auffasst, sondern als skalare Werte, die auf das gegebene Phänomen jeweils mehr oder weniger zutreffen können. Unter historischem Aspekt wäre zu betrachten, wie sich Formen und Funktionen der Evidentialität gewandelt haben. Dabei sind sowohl Parallelentwicklungen als auch Differenzen zwischen verschiedenen romanischen Sprachen feststellbar. Einem Wandel unterliegen auch textsortenspezifische Verfahren der Markierung von Evidentialität. Dabei wäre auch zu betrachten, ob das Zusammenwirken von Modalität und Evidentialität in unterschiedlichen Texttypen Differenzen aufweist, und ob möglicherweise die Art dieser Differenzen aufgrund unterschiedlicher Diskurstraditionen sprachspezifisch ist.

Schlussbemerkungen In den Kapiteln 2 bis 4 wurden die Temporalität, die Aspektualität und die Modalität als onomasiologisch bestimmte Kategorien behandelt. Es erwies sich dabei als schwierig, die grammatischen Kategorien Tempus, Aspekt und Modus als Ausgangspunkt für die Definition dieser außereinzelsprachlichen onomasiologischen Kategorien zu verwenden. Temporalität, Aspektualität und Modalität wurden daher als außersprachliche Systeme von Konzepten verstanden, die in den romanischen Sprachen teilweise grammatisch verarbeitet sind, für die es aber auch unterschiedliche Kodierungen und Ausdrucksmittel auf verschiedenen Ebenen der Sprache gibt. Die Affinität der kognitiven Kategorien der Temporalität, der Aspektualität und der Modalität, die wir als onomasiologischen Ausgangspunkt unserer Untersuchungen wählten, führt offensichtlich auch zu kategorialen Überschreitungen auf der Ebene der zugeordneten sprachlichen Mittel. Es konnten Tempora festgestellt werden, die dem Indikativ zugeordnet sind und Situationen in der Vergangenheit oder Zukunft beschreiben können, aber auch zur Modalisierung von Äußerungen genutzt werden. Obwohl die Modi des Verbs, Modalverben, Modalpartikeln, Modaladverbien sowie Koordinatoren und Subordinatoren in den romanischen Sprachen als zentrale Kategorien für den Ausdruck von Modalität zur Verfügung stehen, übernehmen vielfach indikativische Verbformen die Funktion, Propositionen in der Virtualität zu verankern oder Unsicherheit des Sprechers zu signalisieren. Aspektuelle Bedeutungen von Verbformen können in den Hintergrund treten, zu einer Brücke zur Modalität werden und im Zusammenhang mit anderen aspektuellen Markierungen entgegengesetzte Aspektualität zulassen. Insbesondere bei grammatikalisierten Ausdrucksmitteln der Tempora erlaubt die Abstraktheit der Bedeutungen einen breiten Verwendungsspielraum, der durch metonymische Übertragungen zusätzlich erweitert werden kann. Doch auch die lexikalischen Markierungen der Temporalität, Aspektualität und Modalität lassen sich nicht eindeutig bestimmten Subkategorien zuordnen. Insbesondere trifft dies auf Modaladverbien zu, die einer Pragmatikalisierung unterliegen. Durch ihre lexikalische Bedeutung ‛Sicherheit’ signalisierende Adverbien können durch ihre Verwendung die Validität der Proposition einschränken. Ebenso können Evidentialitätsmarker die Herkunft des mitgeteilten Wissens signalisieren, gleichzeitig jedoch auch die Sicherheit des Sprechers im Hinblick auf die Inhalte von Propositionen relativieren. Die untersuchten sprachlichen Mittel sind in der Obligatorik ihrer Verwendung sehr unterschiedlich. Während Äußerungen in romanischen

382

Schlussbemerkungen

Sprachen in der Regel nicht enttemporalisiert werden können, sind aspektuell markierte Verbformen nur in bestimmten Kontexten obligatorisch, was auch zu der Meinung beigetragen hat, mit Aspektualität werde eine subjektive Sicht des Sprechers in die Äußerung eingebracht. Dies trifft jedoch nur dann zu, wenn die aspektuell markierte Form nicht durch grammatische Zwänge vorgegeben ist. Größere Spielräume für den Ausdruck von Subjektivität eröffnet die Modalität. Die Wahl des Subjunktivs zur Kennzeichnung der Modalität geht offensichtlich im Sprachgebrauch zurück und ist nur für bestimmte Konstruktionen obligatorisch. Bei nicht grammatikalisierten Formen, wie lexikalischen Markern, steht es dem Sprecher frei, damit eine temporale Verortung, eine aspektuelle Perspektivierung oder eine Modalisierung vorzunehmen. Diese Gebundenheit lexikalischer Ausdrucksmittel der drei funktionalen Kategorien an die Entscheidung des Sprechers war für uns neben ihrer weniger tiefen Verankerung im System der Sprache ausschlaggebend für eine unterschiedliche Behandlung grammatischer und lexikalischer Ausdrucksmittel. Dies ändert nichts daran, dass lexikalische Ausdrucksmittel temporale Markierungen vornehmen können und dies sogar präziser und eindeutiger bewirken als Tempora. Sie können ebenso Situationen begrenzen oder entgrenzen und damit Aspektualität ausdrücken. Aspektualität stellt sich somit in den romanischen Sprachen als eine kompositionelle Kategorie dar, in der äußere Begrenzungen und innere Verlaufsdarstellungen zusammenwirken können. Auch modale Markierungen werden vielfach lexikalisch vorgenommen. Auf die zahlreichen Untersuchungen, die in den letzten Jahren zu Markern der epistemischen Modalität und Evidentialität vorgenommen wurden, konnten wir im Rahmen dieser Arbeit nicht detailliert eingehen. Hierzu werden weitere Untersuchungen notwendig sein, die auch einen übergreifenden Rahmen benötigen. Aufschlüsse sind schließlich auch im Bereich der Pragmatikalisierung, eines relativ jungen Bereichs sprachhistorischer Forschungen, zu erwarten. Dabei bieten sich insbesondere korpusbasierte lexikalische Untersuchungen von evidentialisierenden Adjektiven und Adverbien an. Mit der Evidentialität wurde bereits eine weitere Kategorie einbezogen, die inzwischen in der Beschreibung des romanischen TAM-Systems Verwendung findet und diese ergänzt und präzisiert. Für die Untersuchung von Sprachen mit nicht grammatikalisierten Evidentials erscheint es dabei wichtig, die Polyfunktionalität der Evidentialitätsmarker zu berücksichtigen und Überschneidungen mit der epistemischen Modalität und anderen Bereichen der Subjektivierung von Äußerungen zu beachten.

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Index à terme fixe ....................................... 200 Abfolge ..... 13, 23, 34, 36, 37, 52, 75, 79, 80, 86, 101–103, 116, 117, 125, 126, 139, 153, 217, 258, 272 abituale ............................................. 206 absolute Zeit .................................. 200 accomplishments ........................222, 223 achievements ...................................... 222 activities ............................................ 222 Adressat .......................................... 323 Adverbial .... 8, 15, 21, 24, 26, 29–33, 88, 90, 96, 97, 103, 112, 121, 124, 126, 127, 133, 135, 136, 141, 142, 145, 147, 148, 203, 216, 224, 245, 267, 296, 310, 351, 376 Adverb ..... 14, 23, 24, 27, 32–36, 40, 43, 44, 67, 78, 83, 85, 89, 95, 96, 98, 100, 113, 120, 121, 127, 132, 133, 156, 175, 191, 194, 195, 199, 210, 215, 217, 234, 257, 258, 273, 275, 281, 283–286, 300–302, 329–332, 336, 339, 358, 359, 360, 363, 377, 381, 382 Aktant(en) ...126, 191, 192, 196, 204, 212, 215, 247, 250, 273 aktionale Klassenzugehörigkeit .. 274 Aktionalität ................................ 1, 256 Aktionsart(en) .... 4, 9, 24, 69, 74, 78, 187, 191, 192, 194, 195, 205, 207, 208, 210, 211, 213–216, 218–224, 226, 227, 229, 231, 234, 235, 236, 244, 250, 255, 256, 258, 259, 265, 267–269, 279, 281, 294, 345 Aktionsartbedeutung . 224, 243, 267, 268, 283, 337, 369 alethisch ..................................302, 304 alimitatif ........................................... 200 alter .................................................. 362 Analogie . 28, 54, 115, 116, 158, 166, 253, 304, 309 Anaphorische Relata ...................... 22

antepresente ............. 120, 122, 174, 176 Anteriorität ................... 128, 242, 275 Aorist ...... 76, 77, 151–154, 158, 162, 163, 165, 169, 171, 172, 177, 182–186, 206 aoristico ............................................. 206 Argument ....... 34, 51, 104, 210, 256, 266, 345, 359, 378 aspect.............. 181, 223, 233, 235, 264 aspecto ....207, 208, 216, 227, 235, 239 aspecto flexivo .................................... 239 aspecto gramatical .............................. 239 aspecto lato sensu ............................... 239 aspecto léxico .................... 208, 227, 235 aspecto morfológico ............................. 239 aspecto objetivo .................................. 216 aspecto stricto sensu............................ 239 aspecto subjetivo ................................. 216 aspecto verbal..................................... 239 aspectualisations. ............................... 181 Aspekt 1–6, 9, 24, 29, 34, 74, 75–78, 80, 84, 153, 177, 181–183, 187, 189–194, 196–198, 200, 204, 206–217, 219, 223, 229, 230, 232–236, 240, 242, 249, 255, 256, 258, 265, 273–276, 281, 309, 321, 343, 344, 346, 349, 379, 381 Aspektcluster ........................ 252, 294 aspektiv ........................................... 188 Aspektkorrelation ....... 6, 75, 76, 182, 190, 193, 215, 219, 220, 225, 226, 229, 233, 234, 258, 259, 273, 292, 294, 295, 297 Aspektopposition ..................... 7, 341 Aspektsprachen .. 3, 6, 191, 214, 225, 344 Aspektsystem ................ 1, 74, 77, 206 Aspekttheorie ..... 177, 187, 198, 205, 207, 208, 265 Aspektualisierung.......................... 181

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Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen

Aspektualität ...1–5, 7–10, 69, 74, 78, 107, 110, 128, 148, 159, 181, 183, 191–201, 204, 205, 207–215, 218–221, 223–225, 228, 229, 232, 236, 239, 241, 243–247, 250, 253–255, 260, 261, 263–267, 270, 272, 273, 275, 276, 279, 283, 286–288, 295–297, 299, 302, 304, 309, 318, 334, 343– 347, 350, 378, 381, 382 aspetto .......................................206, 235 assertiert ......................................... 320 Assertivität .................... 330, 345, 347 Asymmetrie......................... 85, 86, 87 atelisch ... 95, 122, 127, 130, 222, 235 Atelizität ......................................... 252 atemporal ........................ 71, 123, 265 attenuativ ................................219, 221 Aufeinanderfolge 3, 126, 216, 274, 280, 294 Ausdrücke des Fürchtens ............ 300 Ausdrucksform(en) ....... 2, 4, 5, 200, 204, 302, 315, 354, 357 Ausdrucksmittel 1, 2, 8–11, 24, 25, 27, 28, 54, 65, 73, 77, 78, 80, 137, 138, 144, 148, 181, 191–194, 197, 198, 200, 205, 214, 215, 218, 219, 221, 224, 229, 239, 254, 255, 273, 274, 275, 284, 299, 301, 302, 304, 310, 312, 314, 319, 324, 358, 371, 381, 382 äußere Begrenzung ..... 127, 205, 206, 382 Äußerungsakt ................................ 335 Äußerungsebene ........................... 342 Äußerungszeitpunkt ............... 21, 336 Auxiliar 5, 53–55, 57–63, 65–68, 70, 72, 74, 111, 131, 196, 197, 226, 243, 247–262, 273, 294, 296, 297, 378 axiologisch ........... 304, 306, 324, 325 Begrenztheit ....... 1, 3, 199, 200-203, 204, 207, 248, 264, 295 Behauptung.................................... 301 Besprechen ....................... 3, 183, 184

Bestimmtheit ........................ 111, 207 Bezugswelt .................... 304, 320, 322 Bezugszeitpunkt ............................ 336 boundedness ....................................... 264 branche définie ................................... 234 branche indéfinie ................................ 234 branches ................................... 233, 234 Brückenkontext .... 38, 39, 54, 55, 63, 64, 65, 72, 134 buletisch ............... 304, 305, 324, 371 categorial nodes ......................... 266, 356 Chronologie ....... 2, 86, 150, 155, 158 compiuto ............................................ 206 composé. .......................... 162, 166, 167, condicional ........88, 175, 180, 188, 335, 336, condicional perfecto.................... 180, 188 continuo .............................. 95, 206, 278 copretérito ......................... 111, 174, 176 covert modality / coverte Modalität .. 4, 339, 374 Dauer ..12, 15, 29, 31–32, 33, 39, 76, 78, 97, 122, 126, 127, 153, 159, 160, 188, 195, 200, 201, 203, 205, 216, 221, 226, 229, 254, 258, 260, 266, 267, 269 default viewpoint ................................ 209 definit .................... 160, 162, 163, 180 definitiv.................................. 219, 221 Deiktika ......................21, 22, 88, 364, deiktische Kategorie ......................... 2 deiktisches Zentrum ..... 8, 15, 16, 25, 27, 29, 30, 83–85, 90, 103–105, 322, 323, 333, 348, 362, 363, 375, Deixis ...... 3, 107, 109, 322, 327, 335, 336, 348, 349, 351, 361–363, 375 Deixis am Phantasma ................... 336 Delimitation ......... 207, 210, 211, 212 delimitazione ..................................... 207 deontisch 57, 67, 106, 257, 304, 305, 308, 312, 315–317, 322, 324, 325, 344, 345, 371 determinatezza .................................. 207 déterminé ................. 157, 162, 163, 200

Index

determiniert ....... 157, 197, 207, 219, 220, 247, 266, 374 Diathese ......................................... 232 dictum ............................................... 301 differentia specifica ............................. 150 diminutiv ................................219, 231 discours ................................ 2, 164, 342 Diskursmarker .................. 34–37, 339 Diskursprinzipien .................8, 24, 78 Diskurstraditionen ........................ 379 Domänen ....................................... 300 Doxa ............................................... 303 doxastisch ..............................304, 307 durativ... 32, 70, 76, 78, 98, 109, 113, 127, 151–153, 195, 210, 214, 219, 221–224, 226, 236, 240, 251, 254, 256–258, 264, 267, 283, 349 durative aspect ................................... 264 Durativität ...127, 214, 247, 252, 256, 266, 271, 273, 350, 364 effektiv............................................ 219 ego-hic-nunc ....................................... 362 egressiv ........................................... 219 eidos .................................................. 233 Einstellung ..301, 309, 319, 321, 322, 324, 365 Einstellungsbekundungen ..319, 321, 325 emotiv .....................................306, 309 Empfänger ...................... 84, 105, 323 énonciateur ........................................ 323 enunciador ......................................... 323 Enunziator ........... 323, 327, 328, 336 Episteme ........................................ 303 epistemisch ..... 59, 63, 134, 135, 137, 139, 143, 257, 281, 297, 300, 301, 304, 307, 310, 315–317, 319, 322, 324, 329–331, 333, 337, 344, 345, 347, 349, 352, 353, 357, 361–363, 365, 366, 370, 371, 377, 382, epistemisches Futur..............143, 310 epistemisch-evidentielle Bedeutung ..................................................... 333 Ereignis .. 6, 7, 11, 13, 14, 16, 17, 20, 21, 22, 25, 28, , 37, 43–45, 75,

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79–81, 85, 100–104, 106, 108, 113, 119, 120, 126, 128, 131, 132, 135, 140, 141, 143, 146, 149, 151, 156, 158, 160–162, 167, 186, 187, 222, 227, 228, 241, 265, 268, 279, 288, 308, 311, 358, Ereignislogik .................................. 275 Ereigniszeit .....16–18, 118, 143, 146, 147, 227, 240, 363 Erfahrung ......... 12–15, 24, 121, 124, 353–355, 361 Erkenntnis............ 229, 233, 303, 376 erlebte Rede .......................... 146, 343 Erzählen .......3, 23, 34, 79, 102, 128, 139, 164, 183–186, 275, 300 Erzähltempus ................. 76, 341, 184 estar+a+Infinitiv ............................ 251 estar+Gerundium ......5, 97, 192, 196, 197, 246, 247, 251–254, 261, 296, 378 evaluativ....... 41, 301, 304, 306, 309, 325, 330, 331, Evaluative Einstellungen ............. 321 Evidentialisierung ........ 373, 376, 378 Evidentialität 1, 4, 7, 8, 10, 197, 299, 307, 317, 326, 333, 334, 336–339, 345, 352–358, 360,–363, 365– 367, 371, 375–379, 382 Evidentialitätshierarchie ..... 357, 367 Evidentialitätsmarker .. 370, 381, 382 Evidentials............ 353, 355, 356, 382 Evidenz....... 304, 352–354, 360, 370, 377, 378 externe Aspektualität.. 212, 213, 253, 260 faktisch 198, 301, 325, 328, 368, 369 faktiv .............................. 320, 321, 330 Faktivität................................ 319, 320 fakultativ ........................ 303, 305, 308 Fakultativität .................................. 303 Feld.............................................. 7, 199 finitiv ............................................... 219 Flexion ............4, 5, 25, 150, 195, 233 Formel ............................... 59, 89, 372 freie indirekte Rede ............. 146, 349

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Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen

funktional .....1, 3–5, 7, 8, 20, 29, 34, 76, 78, 107, 119, 133, 144, 156, 172, 190, 197, 199, 215, 260, 277, 291, 314, 343, 353, 382 funktional-semantische Kategorie .7, 191, 199, 200, 204, 232, 245, 273, 276, 277 Fusion ............................................... 36 Futur .... 6, 15, 30, 53, 54, 56– 59, 61, 64, 65, 66, 75, 82, 83, 85, 123, 131, 134–151, 156, 183, 184, 189, 230, 233, 273, 310, 311, 326, 366 futur d’anticipation ............................ 141 futuro ....... 30, 88, 103, 168,–171, 174, 175, 178–180, 188, 236 futuro histórico .................................. 141 futuro inmediato .................................. 56 futuro narrativo .........................101, 141 futuro perfecto 103, 171, 174, 178, 180, 188 futurum ...........149, 150, 152, 168, 233 ganzheitlich ... 6, 7, 76, 124, 127, 128, 178, 187, 191, 193, 201, 216, 217, 224, 238, 239, 271– 273, 276, 279, 291 Ganzheitlichkeit .. 190, 198, 214, 272 Gegenwart.....2, 6, 11–13, 15, 17, 18, 20, 28, 30, 53, 75–77, 80–83, 85, 87, 91, 96, 97, 99, 100, 104, 107– 109, 116, 118, 119, 121, 122, 126, 129, 131, 132, 148, 149, 151–153, 160, 161, 164, 167, 172, 175, 189, 200, 236, 238, 288, Gegenwartsbezug ................... 95, 120 Gehalt, propositionaler .......268, 300, 324 geltend 309, 320, 325, 329, 330, 331, 332 Geltung 10, 109, 129, 304, 320–322, 327, 329, 330–332, 334, 337, 346, 347, generisch 92–96, 124, 130, 131, 133, 318 Genus ............................................. 232 genus proximum ................................ 150

Gerundium......53, 56, 67, 68, 71–73, 243–247, 249–261, 295, 296, 378 Gewissheit ....... 6, 106, 135, 136, 321, 329, 355 Gleichzeitigkeit..... 13, 18, 27, 85, 88, 91, 92, 94, 97, 100, 102, 106–108, 111– 118, 146, 161, 175, 217, 240, 243, 244, 335, 341 globalità ............................................ 206 gnomisch ................ 93, 129, 142, 164 gnomische Verwendung ..... 124, 164 gnomisches Präsens........................ 93 grammatikalisierter Kern ... 7, 8, 192, 197, Grammatikalisierung .. 25, 27, 35, 53, 54, 60, 62, 65, 66, 68, 71–74, 197, 198, 247, 249, 250, 252, 256, 258, 261, 295, 378 Grammatikalisierungsgrad 173, 192, 257, 259, 261 grammatische Kategorie ..... 5–8, 14, 17, 24, 27, 74, 86, 90, 181, 190, 191, 194, 196, 199, 204, 233, 239, 276, 277, 301, 314 Gültigkeit......................... 92, 115, 322 habituell ....... 96, 100, 103, 113, 118, 123, 133, 206, 207, 228, 330 Haltung(en) ...64, 300, 350, 362, 363, Handlung(en).... 2, 3, 6, 7, 11, 13, 14, 16, 22, 23, 27, 30, 32, 34, 37, 38, 44–46, 53, 54, 59, 62, 64, 66, 67, 69, 70, 75, 76, 78, 84, 85, 87, 94– 96, 98, 99, 100, 102, 103, 107, 108, 109–111, 113, 114, 116–120, 123, 124, 128, 131, 132, 136, 139, 142, 143, 146, 147, 152, 153, 156, 157, 159–162, 171, 174, 178, 184, 186, 189, 190, 194–207, 214, 216, 217, 219, 220, 222–229, 234, 236, 237, 238, 240, 242, 244, 246, 247, 250, 251, 254, 259, 262–264, 266, 267, 269, 270–277, 280, 281, 282, 284, 286–288, 291, 293– 297, 306, 308, 315, 330, 333–335, 342,

Index

346, 349, 350, 364, 365, 368, 369, 371, Handlungszeit ............................... 183 Hintergrund ....... 107, 113, 114, 183, 184, 185, 186, 188, 206, 242, 244, 248, 267, 271, 272, 280, 281, 284, 289, 341, 342, 345, 347, 348, 360, 369 histoire .......................................... 2, 342 Hörer ...... 22, 84, 100, 110, 183, 184, 213, 265, 269, 323, 362, 363, 365 Ich-Origo ....................................... 337 ikonischer Effekt .......................... 125 Illokution........................................ 324 illokutiv .........308, 315, 323, 324, 325 imparfait ... 3, 5, 9, 19, 86–88, 91, 107, 116, 159, 161, 162, 166, 167, 185, 190, 192, 199, 201– 203, 217, 224, 227, 234, 262, 267, 268, 270, 272, 278, 280, 282, 284, 286, 287, 289, 296, 344, 350 imparfait pittoresque .......................... 202 imperfective viewpoint......................... 209 imperfecto .. 9, 19, 81, 88, 91, 103, 104, 107, 111, 112, 170–172, 174, 176, 178, 179, 180, 194, 199, 214, 216, 217, 218, 240, 241, 255, 271, 272, 278, 282, 283, 333–337, 339, 348, 351, 364, 368, 374, 378 imperfecto narrativo ........................... 272 imperfectos modalizados ..................... 339 Imperfectum ....... 108, 109, 149, 150, 152, 168 imperfectum de conatu ........................ 109 imperfeito ......................... 9, 88, 91, 107 Imperfekt 6, 8, 9, 58, 59, 62, 69, 75– 77, 88, 91, 107–118, 125, 128, 130, 144–146, 148, 150–157, 159–165, 170, 174, 175, 183–187, 189, 192, 194, 195, 197, 202, 203, 206, 217, 218, 220, 226, 230, 232, 236, 238, 239, 253, 268, 270–274, 291, 292, 296, 297, 311, 312, 314, 332, 334, 336–343, 345–352, 364, 365, 368, 369, 375, 378

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imperfektiv ....3, 5, 6, 8, 9, 45, 46, 72, 74–77, 88, 94, 104, 110, 111, 151, 178, 179, 182, 185, 187, 193, 195, 197, 198, 206, 207, 219, 220, 223, 225–227, 230–235, 238, 240, 242, 244, 247, 250–254, 256–260, 263, 266–269, 275, 286, 292, 295, 296, 297, 341, 344–347, 371, 374, 378 imperfetto 9, 75, 88, 91, 107, 267, 268, 346 Inaktualität . 185, 189, 341, 342, 366, 368 inaktuelle Gegenwart ................... 189 inchoativ . 70, 74, 128, 130, 195, 203, 206, 210, 214, 219, 220, 221, 223, 227, 231, 232, 235, 259, 281 indéfini . 154, 158, 160, 161, 163–165 indefinido................. 154, 172, 175–180 indefinit ..... 131, 160–163, 177, 178, 180 indefinitiv ....................................... 219 indeterminatezza ............................... 207 indéterminé ............................. , 161, 200 indeterminiert ...... 219, 220, 341, 347 Indeterminiertheit ........ 340, 345, 346 indexicality ............................................ 3 Indikativ ..... 5, 6, 76, 77, 90, 91, 174, 226, 227, 299, 310, 311, 313–316, 326, 327, 328, 329, 349, 358, 375, 381, 390 Individuenprädikate ............ 268, 269 infectum .................................... 236, 237 Inferenz ................ 316, 357, 362, 377 Infinitiv ....... 192, 196, 243, 246, 247, 249, 250, 251, 257, 258, 260–264, 269, 275, 281, 283 ingressiv ................ 206, 219, 224, 240 ingressivo ........................................... 206 Injunktiv ..................................... 76, 77 Innensicht ........ 6, 239, 277, 295, 296 innere Grenze ................................ 205 innere Verlaufsdarstellungen ...... 382 interne Aspektualität ........... 212, 213 Intersubjektivität ........................... 307

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Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen

Inzidenzschema . 187, 188, 242, 274, 282 ir+Gerundium ............................... 196 Irrealis .....................................108, 340 Irrealität .................................... 63, 313 iterativ ....... 45, 74, 96, 117, 126, 127, 151, 203, 219, 221, 223, 227, 232, 234, 235, 280 kausativ ...................................219, 221 Kohärenz ............................................2 Kommunikationsakt ............363, 364 komplexiv ............ 259, 294, 296, 297 Kompositionalität .................224, 309 kompositionelle Kategorie .......... 382 konativ .......................6, 193, 220, 219 Konditional 57–59, 63, 88, 115, 118, 139, 144–146, 165, 183, 184, 189, 325, 326, 332, 336, 346, 358, 366, 367 Konditionalgefüge .................. 49, 340 Konjunktion(en) .....8, 117, 185, 241, 275, 314, 370, Konjunktiv Imperfekt..........108, 312 Konstruktion(en) . 4, 5, 8, 30, 54, 55, 57– 60, 64, 65, 67, 68, 70–73, 78, 89, 124, 226, 228, 241, 243–245, 247–252, 259–264, 271, 277, 279, 293, 297, 299, 302, 308, 309, 313, 326, 328, 332, 339, 382 Konstruktionsgrammatik .................4 kontingente Möglichkeit.............. 302 kontinuierlich ...... 92, 113, 122, 123, 206, 207, 318 kontradiktorisch ....................303, 305 kontrafaktiv ...........................320, 321 konträr ....................................303, 305 Koordinatoren ......................339, 381 koreferentiell.................................. 364 kursiv ............................. 259, 294, 297 Kwakiutl ......................................... 353 limitatif ............................................. 200 limité .........................................158, 200 linear(e Beziehung) ..... 6, 80, 87, 101, 125, 258 Linearisierung ..................... 23, 34, 37

llevar+Gerundium ................ 192, 196 locutor............................................. 323 Marker 2, 3, 12, 34–38, 85, 194, 242, 255, 257, 258, 300, 339, 370, 381, 382 médiatif ............................................. 353 médiatisation ..................................... 355 Mediativität .................................... 353 metaphorische Übertragung ..... 6, 47 meterse a+Infinitiv .......................... 196 Metonymische Brücke ...... 345–347, 349 metonymische Übertragungen ... 381 Mikrovariation ...................... 299, 314 Mitteilung ......98, 100, 105, 140, 268, 331, 334, 350, 353, 354, 355, 362, 374 Modaladverb(ien) ... 8, 311, 314, 329, 331, 339, 381 Modalisierung ..... 300, 301, 312, 358, 373, 375, 381, 382 Modalität ...... 1– 5, 8, 10, 17, 41, 59, 134, 138, 139, 141, 148, 271, 281, 299, 301–316, 318, 319, 321–326, 328–331, 339, 340, 343–346, 349, 350, 352, 355, 357, 361–363, 365, 371, 374, 375, 379, 381, 382 Modalitätenlehre ........................... 300 Modalitäten-Typologie................. 301 Modalitätsforschung...... 10, 299, 322 Modalitätskonzept(ionen) . 300, 301, 353 Modalitätsmarker .......................... 300 Modallogik ..................................... 300 Modalpartikeln .... 339, 371, 375, 381 Modalsemantik .............................. 304 Modalverb(en) ....... 8, 257, 280, 301, 302, 310– 319, 321, 339, 343– 345, 358, 366, 371–375, 381 modes d’action .......................... 223, 235 Modi .... 168, 170, 230, 231, 311, 314, 328, 381 modo ...39, 65, 86, 156, 168, 174, 178, 235 modos de acción ................................. 235

Index

modus (Bally) ................................... 301 Modus . 1, 5, 8, 10, 91, 138, 144, 168, 196, 230, 232, 235, 243, 299–301, 309–314, 381 monologisch ..........................325, 363 multidimensional .......................... 215 Mündlich(keit) .. 6, 22, 50, 52, 55, 63, 80, 102, 118, 185, 324, 331, 338, 360, 379, Nachzeitigkeit 27, 30, 35, 37, 60–62, 65, 88, 89, 99, 105, 115, 135, 136, 143, 145, 174, 310, 335 narratives Imperfekt .............272, 349 Narratologie ........................................2 Negation . 13, 69, 121, 194, 211, 303, 314 negativ ..... 37, 45, 62, 301, 306, 321, 330 neutral viewpoint ............................... 209 Neutral-Perspektive ..................... 183 nicht-assertiert ............................... 320 Nicht-Assertion ............................ 320 nicht-assertiv ................................. 302 Nicht-Delimitation ....................... 207 nichtfaktiv ...................................... 320 Nicht-Faktivität ............................. 320 Nichtganzheitlichkeit ................... 198 nicht-geltend .................................. 320 Nichtrealität ........................................6 nombre verbal infinito ................169, 172 Nominalformen ........... 243, 245, 262 non-delimitazione .............................. 207 notwendig ..... 36, 299, 303, 304, 309, 315, 362, 363, 372, 382 Notwendigkeit ....... 92, 95, 300, 302, 303, 315–317, 321, 322, 367 Objektsprädikativum ................... 262 obligatorisch ....... 15, 24, 83, 27, 192, 209, 214, 215, 218, 224, 244, 275, 277, 278, 298, 305, 317, 357, 358, 382 offene Geltung ... 320, 330, 334, 337, 346, 347 omnitemporal ........................140, 142 onomasiologischer Ansatz ...............5

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ontologische Zeit ............ 2, 6, 8, 174, Operatoren............................ 300, 303 opsi ................................................... 233 Origo ................... 15, 16, 21, 337, 344 overte Modalisierungen ............... 375 parakeimenos .................................... 153 parallel..114, 144, 145, 146, 189, 294 Parallelität ............. 216, 242, 274, 275 paratatikos ........................................ 153 parfait ............ 155, 157, 159, 160, 162 Parontiv ............................................ 76 Partikel ... 24, 26, 34, 38–52, 232, 337 Partizip....... 53, 55, 66, 71, 172, 192, 207, 243, 244, 247, 249, 260, 269, 274, 294 pasado inmediato ............................... 100 pasado o alejamiento ............................ 90 passado acabado por rodeo ........ 169, 170 passato prossimo ................................ 119 passato recente ..................................... 99 passato remoto ............. 45, 75, 119, 242 passé antérieur 146, 166, 183, 184, 278 passé composé 123, 162, 166, 167, 192, 199, 217, 263, 270, 278, 282, 284, 285, 287, 288, 291 passé simple ..... 3, 9, 80, 166, 183–185, 186, 187, 192, 199, 201, 203, 217, 242, 268–270, 272, 278, 280–282, 284, 289, 291, 296, 344, 350 past continuous .................................. 278 past perfect...................................19, 278 perfective progressive ........................... 254 perfective viewpoint ............................. 209 perfectum ....... 149, 150, 152, 156, 168, 236–238 perfectum der Virtualität ........ 237, 238 Perfekt 6, 8, 9, 15, 19, 45, 53, 60, 62, 69, 70, 71, 75–77, 83, 100, 101, 105, 108–111, 114, 116–133, 135, 139, 151–165, 167, 169–172, 174–179, 183–186, 189, 192, 194, 195, 204, 206, 212, 217, 230, 238, 239, 241–244, 250, 254, 267, 271, 275, 278, 284–286, 291, 293, 337, 340–342, 368, 369, 372

416

Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen

Perfektfutur ....... 151, 152, 236, 238, 273, 310 perfektiv ... 3, 6, 8, 9, 45, 46, 74, 76– 78, 80, 109, 113, 117, 121, 131, 151, 152, 158, 167, 178, 179, 181, 182, 187, 193, 195, 197, 198, 202, 206, 207, 213, 219, 220, 223– 228, 230–234, 238, 239, 242, 244, 247, 250–256, 258–260, 263, 265–270, 275, 282, 293, 296, 341, 344, 345, 374 perfetto composto ................................ 117 Periode...................................... 77, 162 Peripherie ..................8, 192, 299, 356 periphrastisches Perfekt ....... 70, 131, 132, 212 Perspektive...... 2, 3, 84, 90, 141, 183, 186, 188, 189, 191, 209, 213, 215, 237, 249, 263, 277, 325, 326, 331, 335, 338 Perspektivierung . 202, 363, 365, 382 Phase ....... 67, 69, 127, 187, 188, 191, 206, 209, 212, 221–225, 246, 248, 249, 252, 254, 259, 269 piuccheperfetto.................................... 146 piuccheperfetto II ............................... 146 pluscuamperfecto ....... 88, 104, 146, 170, 171, 174, 178, 180, 188, 278 Plusquamperfekt .. 17, 22, 26, 62, 75, 77, 88, 116, 129, 146, 147, 151– 153, 159, 169, 183, 184, 189, 231, 233, 236, 238, 275, 276, 278, 287, 293 plus-que-parfait ....... 146, 166, 278, 291 polyfunktional ....... 41, 316, 372, 375 Polyfunktionalität ................... 42, 382 Polyphonie .... 10, 320, 323, 325, 326, 329, 332, 337, 367 Polysemie ....... 41, 198, 273, 308, 317 ponerse a+Infinitiv .......................... 196 positiv . 106, 207, 223, 276, 301, 305, 321 pospretérito ........................................ 174 possibilité abstraite ............................ 318 Posteriorität ..................................... 57

Prädikation . 14, 40, 51, 53, 215, 216, 223, 227, 228, 238, 245, 247, 264, 300, 302, 309, 314, 319, 359 Prädikationseinheit ...... 196, 249, 250 praesens ............................ 149, 150, 152 praeteritum ....................... 149, 150, 168 praeteritum perfectum ....... 149, 150, 168 praeteritum plus quam perfectum ...... 149, 168 Pragmatik ............................ 4, 41, 324 Pragmatikalisierung ....... 36, 43, 360, 376, 377, 382 Präsens .... 5, 6, 53, 57, 59, 61, 62, 71, 74, 76, 77, 80–83, 85, 90–108, 112, 115, 116, 123, 124, 126, 134–137, 139, 142, 145, 146, 150, 151, 161, 163, 164, 172, 174, 183–186, 189, 227, 230–232, 238, 243, 253, 275, 278, 294, 306, 312, 314, 316, 337, 342, 371 Präteritopräsentia ....................77, 316 Präteritum .....5, 19, 76, 77, 140, 157, 230, 232, 275, 276, 278, 282–288, 291–294, 316, 336, 337, 364, 368 present ....................... 19, 155, 278, 356 présent ...... 85, 91, 103, 162, 163, 166, 167, 278 présent antérieur périodique................ 163 présent antérieur simple...................... 163 present continuous .............................. 278 present perfect ..............................19, 278 presente.....56, 88, 90, 91, 93–97, 100– 103, 106, 112, 168–171, 174, 175, 178–180, 188, 236, 278 presente o participación ........................ 90 pretérito absoluto ...................... 175, 176 pretérito actual .......................... 175, 176 pretérito anterior ..... 146, 172, 178, 180, 278 pretérito coexistente ................... 175, 176 pretérito definido ....................... 175, 176 pretérito imperfecto ...... 9, 170–172, 174, 176, 178–180, 188 pretérito indefinido ... 154, 172, 175–180 pretérito mais-que-perfeito .................. 146

Index

pretérito mais-que-perfeito simples ...... 146 pretérito perfecto compuesto .......101, 103, 120, 131, 179, 180, 188, 278 pretérito perfecto próximo ...........172, 177 pretérito perfecto remoto simple ...174, 176 pretérito perfecto simple .... 9, 22, 88, 102, 104, 120, 131, 154, 175, 179, 180, 188, 194, 214, 216, 218, 239–242, 247, 254, 271, 278, 282 pretérito perfeito simples ..................... 242 pretérito pluscuamperfecto 146, 171, 174, 178, 180, 188 pridem ................................ 39, 149, 156 Probabilitätsskala .......................... 307 progresivo .................................... 97, 206 progressiv ....... 71, 97, 112, 192, 203, 206, 207, 219, 223, 227, 250, 255, 256, 258–260 progressive .................................246, 254 projective words .................................. 344 Proposition ..... 37, 88, 124, 157, 275, 299, 301, 302, 304, 309, 313–316, 320, 323–332, 355, 359, 361, 366, 369, 377, 381 prospektiv ....... 57, 66, 116, 140, 141, 144, 146, 189, 295 prototypisch.. 6, 9, 23, 41, 44, 48, 49, 82, 83, 88, 90–92, 100, 103, 104, 108, 116, 117, 148, 186, 207, 217, 253, 254, 270, 271, 321, 333, 338, 340, 342, 356, 363, 364, 369, 376, 378 Prozess . 7, 11, 14, 17, 22, 35, 42, 54, 69, 72, 73, 94, 104, 110, 117, 126–129, 131, 133, 136, 139, 142, 146, 164, 171, 174–176, 187, 188, 195, 202, 205, 206, 208, 212, 223, 225, 227, 237–239, 245, 250–252, 254, 258, 259, 263, 268, 273, 279, 340, 345, 348, 350, 366, 369, 375, 376 prozessuale Lesart ........................ 281 punktuell ....... 2, 26, 28, 76, 151, 152, 195, 206, 219, 225, 267, 268, 282, 294, 342

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Quechua ........................138, 354–356 Rationalität ..................................... 303 reale Zeit............................................. 2 Realität .. 6, 22, 25, 37, 40, 49, 50, 98, 148, 171, 216, 291, 314, 315, 321, 323, 325, 327, 328, 369 Reanalyse ........................... 46, 71, 316 Redegegenstand ............................ 335 Redekontext .......................... 335, 336 Redemoment ..24–26, 30, 47, 81, 82, 101, 135, 160, 172, 337, 363 Redewiedergabe .... 88, 334–336, 361 Referentialisierung ........................ 362 Referenzintervall ........................... 147 Referenzpunkt ..... 16, 17, 62, 81, 83, 84, 87, 89, 90, 93, 104, 106, 107, 111, 112, 126, 140, 141, 145, 146, 150, 179, 212, 241, 245, 275, 287, 363, 364 Referenzzeit ..16, 18, 19, 76, 90, 143, 146 Region ..........................20, 70, 99, 101 Register ................... 61, 137, 183, 184 Regresspflicht ..... 320, 323, 332, 340, 359, 367, 372, 373 reine Möglichkeit .......................... 302 relative Zeit ...................................... 81 Relatum ..... 19–22, 26, 30–32, 75, 82, 92, 99, 101 Relevanztheorie ............................. 377 Relexikalisierung ............................. 72 Relief ............ 183, 184, 186, 187, 289 Reliefgebung ..................... 3, 183, 278 Reorganisation................................. 36 repetitiv .................................. 219, 259 resultativ ..... 119, 154, 219, 235, 263, 279, 296 retrospektiv 101, 140, 141, 143, 189, 295 Rezeptionshaltung ............... 183, 184 romanisches Futur ........................ 134 romper a+Infinitiv .......................... 196 Rück-Perspektive .......................... 183 Rückschau ...................................... 183 Rückwärtsverlagerung .................. 141

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Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen

Sachlage .......................................... 299 Sachverhalt...... 14, 41, 45, 46, 91, 93, 115, 139, 147, 163, 183, 209–214, 216, 218, 219, 221, 243, 246, 265, 275, 302–304, 306, 315, 319–322, 325, 329, 330, 334, 335, 346, 348, 350, 354, 356, 357, 358, 365, 367, 376 sans terme fixe .................................. 200 Satzadverbien ................................ 330 Schau.... 188, 189, 246, 259, 294, 295 Schlussfolgerung ....... 37, 38, 50, 136, 142, 255, 302, 310, 312, 317, 322, 333, 345, 353, 356, 358–361, 366, 367, 373, 377 Schriftlichkeit ................................ 338 Segment ...................................... 15, 23 seguir+Gerundium ......................... 196 Sekundärfunktion .................368, 378 Semantik . 1, 3, 70, 97, 191, 199, 211, 242, 250, 275, 299, 300, 312, 330 semantische Unbestimmtheit .... 347 semelfaktiv ...100, 128, 219, 234, 291 Semstruktur ................................... 319 Signifiant ................................246, 302 Signifié ........................... 246–248, 302 simple past .................................. 19, 278 Situation ... 3, 6, 7, 9, 11, 13, 14, 16– 18, 20, 22–28, 31–37, 40, 52, 54, 56–58, 65, 73–76, 78, 79, 81–85, 87–97, 99–106, 108–113, 116, 117, 119–123, 125–133, 135–147, 151, 153, 154, 156, 175, 181, 185–187, 190, 191, 195, 197, 199, 200, 204–211, 213, 214, 216–227, 236, 238–241, 244–258, 266–269, 271–273, 275, 276, 280, 292, 293, 299, 302, 304, 306, 310, 313, 316, 318, 319, 322, 332, 334, 340, 342, 346, 347, 350, 351, 357, 368, 369, 379, 381, 382 situation type .............................208, 209 Skopus ...................................... 35, 314 specified quantity ............................... 266 Sprachvariation ............................. 370

Sprechagens ................................... 323 Sprechakt .......27, 60, 86, 88, 98, 118, 128, 137, 139, 324, 325, 360 Sprechaktmoment 16, 17, 25, 57, 61, 62, 65, 67, 70, 81, 83, 87, 89–95, 97–101, 103, 104, 106, 107, 109, 111, 112, 114, 115, 118–129, 131–133, 135–137, 139, 140–147, 154, 156, 179, 186, 212, 240, 308 Sprechaktpartner .................. 323, 333 Sprechakttheorie ........................... 308 Sprechaktzeit .. 16, 18, 20, 21, 81, 82, 87, 90, 107, 143, 181 Sprecherdeixis .............. 332, 333, 374 Sprechereinstellung ...................... 323 Sprecherperspektive ............ 331, 339 Sprechhandlung ............................ 308 Sprechmoment ..... 16, 22, 81, 88, 89, 97, 102, 105, 118, 340 Sprechzeitpunkt ........... 211, 335, 336 Stadienprädikat .............................. 268 stare+Gerundium 246, 250, 255, 260 states ........................................ 222, 268 subaltern ................................ 303, 305 subjektiv .... 9, 12, 13, 27, 31, 43, 48, 49, 60, 86, 132, 160, 184, 185, 187, 209, 210, 215–218, 265, 294, 301, 303, 304, 307, 309, 316, 321, 341, 376, 382 Subjektivierung................. 2, 217, 382 Subjektivität .... 33, 69, 160, 187, 217, 265, 307, 382 Subjunktiv .....50, 144, 168, 227, 310, 311, 313–315, 327–329, 382 subkonträr ............................. 303, 305 Subordinatoren .................... 339, 381 Syntax.... 1, 3, 4, 7, 41, 107, 187, 215, 367 synthetisch . 53, 54, 70, 71, 134, 137, 151, 230, 247, 249 synthetisches Futur .............. 134, 137 synthétisé ........................................... 200 System von Zeitkonzepten ....... 8, 24 Taxisbeziehungen ......................... 274 Taxisschema .................................. 275

Index

teleologisch .................................... 305 telisch ... 69, 124, 127, 195, 212, 221– 223, 235, 244, 252–254, 256, 267, 296 Telizität .......................... 193, 221, 254 tempora in declinatione uerborum ..... 150, 155 tempora uerborum .....................150, 155 Temporalflexion ................................2 Temporalität . 1–5, 8, 12, 23–25, 27– 29, 35, 39, 44, 69, 74, 78, 79, 90, 141, 144, 148, 159, 181, 182, 224, 235, 299, 302, 304, 309, 318, 356, 364, 381 temporal-modale Hypothese ..... 341, 342 temps de verbe.................................... 155 Tempus... 1–3, 5, 6, 8, 11, 14, 17, 21, 23–25, 27, 29, 74, 75, 80, 81, 84, 86–88, 90, 91, 93, 94, 108, 110– 113, 116–118, 120, 121, 125–129, 131, 132, 138, 143, 144, 146, 150, 158–162, 164, 169, 180, 181, 185, 188, 189, 196, 200, 205, 232, 243, 252, 275, 277, 309, 335, 342, 381 Tempus-Bedeutung ........................ 80 Tempusformen ..... 80–82, 186, 188, 336 Tempus-Metaphorik .........................3 terminativ ...... 78, 142, 195, 219, 227, 231, 235, 264–266 textlinguistische Mittel .........191, 192 Textprogression ............................ 350 Textzeit ........................................... 183 Thema ..... 19, 20, 32, 92, 93, 99, 101, 266 Themazeit .................................. 32, 33 tiempo futuro .............................168, 169 tiempo narrativo absoluto .................. 341 tiempo passado acabado ..................... 168 tiempo passado más que acabado ...... 168, 169 tiempo passado no acabado ....... 168–170 tipo dell’azione .................................. 235 Topikzeit ....................... 33, 45, 46, 81

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trapassato remoto............................... 146 Tuyuca ........................... 354, 356, 357 umgebungsbezogene Aspektualität ..................................................... 212 Unauffälligkeit ............................... 184 Unbestimmtheit . 118, 172, 177, 207, 266, 346, 347 unmöglich .... 27, 214, 299, 302–304, 339, 361 Unmöglichkeit ...................... 302, 303 Unsicherheit....... 193, 334, 338, 348, 352, 355, 357, 367, 370, 381 Vagheit ........................... 126, 359, 367 Validative Einstellungsbekundung ..................................................... 321 Validierung ............................ 301, 302 valor citativo ...................................... 333 Variation ...... 251, 299, 308, 341, 370 venidero ............................168–170, 174 venir+Gerundium .......................... 196 verallgemeinernd .........9, 91–94, 198, Verazität ......................................... 313 Verb ....3, 5–8, 11, 17, 22, 24, 25, 40, 45, 50, 53–55, 62, 65–69, 71–78, 80, 82, 85, 93, 95, 97, 98, 101, 114, 122, 124, 127, 129–131, 134, 137, 139, 150, 152, 153, 157, 168–171, 173, 175, 178, 181, 182, 187, 190–192, 194–196, 198–205, 208, 210, 212, 214, 215, 217, 219–236, 238, 239, 240, 242–245, 247–250, 252–254, 256, 259, 260, 262–270, 273–275, 277, 279–281, 288, 292, 294, 296, 297, 300, 301, 306, 308–310, 313–319, 324, 327, 328, 340, 344, 351, 366, 369, 370, 373, 381 Verbalnomen ................................. 172 Verbalperiphrase .... 5, 10, 11, 53, 55, 62, 63, 65–70, 97, 115, 119, 136, 137, 188, 191, 192, 195, 196, 211, 224, 245–250, 255, 257, 259, 269, 273, 283, 285, 286, 294, 295, 319

420

Temporalität, Aspektualität und Modalität in romanischen Sprachen

Verbalsystem .... 1, 6, 77, 84, 90, 181, 182, 188, 198, 219, 221, 229, 236, 242, 246, 261, 274, 277, 294 Verb des Glaubens ...... 264, 314, 328 Vergangenheit .2, 11, 13, 15–19, 25– 27, 32, 33, 42, 45, 57–59, 62, 66, 75, 80, 81, 83–85, 87, 88, 90, 91, 96, 99–102, 104, 106–119, 122– 127, 129, 131, 133, 139–154, 156–158, 159–161, 163, 164, 167, 169, 170, 174, 175, 186, 189, 199, 200, 202, 203, 214, 216, 217, 223, 231–233, 236, 238, 241, 253, 271, 273, 324, 333, 337, 341–343, 350, 356, 363–365, 368, 381 Verlauf .... 3, 7, 23, 26, 41, 53, 54, 76, 86, 97, 98, 110, 113, 128, 174, 178, 181, 187, 190, 191, 193–195, 205, 207, 214, 216, 217, 219, 222, 224, 236, 237, 240, 245, 247, 248, 250, 251, 254, 257, 262, 263, 267, 269, 271–276, 282, 312, 333, 334, 337, 346, 364, 369 Verlaufsstufe..........................275, 276 Vermutung .... 6, 59, 63, 82, 136, 148, 310, 317, 330, 366 viewpoint aspects ................................ 208 Virtualität ...................... 237, 238, 381 volitiv .............................................. 301 vollendet ......169, 177, 206, 207, 232, 236, 245, 267 Vollzugsstufe .........................275, 276 Voraus-Perspektive ...................... 183 Vorausschau .................................. 183 Vordergrund ....... 3, 10, 59, 148, 153, 183–185, 239, 242, 277, 354 Vorgang .. 6, 7, 11, 16, 44, 46, 47, 86, 87, 95, 97, 131, 132, 153, 160, 172, 176, 200, 219, 222, 226–228, 239, 246, 254, 265, 345, 348, 349, 364, 375, 379 Vorgangsgliederung...................... 274 Vorzeitigkeit ... 22, 26, 27, 71, 75, 76, 88, 89, 99, 118, 119, 123, 126, 142, 146–148, 291, 294

Vorzeitigkeitsstufe ........................ 276 Wahrheitscharakter....................... 302 Wahrnehmung.... 303, 353, 354, 356, 357, 360, 362, 366, 367, 377 Wahrscheinlichkeit 51, 58, 307, 309, 321, 371–373 Weltausschnitt ............................... 322 Weltbezug ...................................... 322 Weltparameter ............................... 300 Werteskala ......................... 43, 48, 306 Wertung ........37, 123, 138, 301, 309, 319, 330 Willensäußerung............................ 301 Wissen....... 2, 89, 303, 304, 322, 348, 349, 352, 355, 358, 359, 365, 372, 373, 381 Wissensquelle ..... 334, 337, 353, 356, 359 Wurzelmodalität ............................ 344 Zeit . 1–3, 6, 8, 9, 11–17, 20, 21, 23– 25, 27, 29–33, 36, 37, 42, 43, 45, 48, 54, 60, 70, 73, 80–87, 92, 94, 98, 99, 129, 140, 147–151, 153, 156–160, 169, 173, 174, 177, 181, 183, 188, 189, 196, 199–202, 206, 211, 219, 223, 240, 250–252, 257, 261, 268, 275, 337, 342, 352, 379 Zeitabschnitt ...... 19, 26, 28, 43, 153, 158 Zeitart ............................................. 235 Zeitbezug ......44, 109, 110, 154, 322, 323 Zeitintervall...... 3, 12, 27, 31, 33, 44, 96, 114, 121, 133, 141, 148, 161, 203 zeitliche Relationen ..30, 81, 90, 200, 204 Zeitparameter ................................ 300 Zeitraum ... 12, 14, 19, 21, 26–28, 33, 76, 95, 96, 112, 121, 132, 158, 160, 162, 163, 175, 176, 188, 189, 201, 217, 234, 238, 247, 258, 266, 268 Zeitspanne 12, 15, 16, 19–23, 31–33, 80, 214, 216, 233

Index

Zeitstufe ........... 76, 85, 152, 153, 235 Zentrum .....8, 15, 16, 25, 27, 29, 30, 77, 83–85, 90, 103–105, 107, 189, 192, 198, 299, 310, 322, 323, 332, 333, 348, 356, 362, 363, 372, 374 Zukunft .. 2, 6, 11, 13, 15–18, 20, 30, 37, 45, 53, 54, 56, 58, 59, 61, 62, 80, 81, 82, 83–85, 87, 91, 98–100, 103, 106, 107, 109, 116, 118, 123, 124, 131, 133, 135, 136, 138–140, 142–144, 146, 148, 149, 151, 153,

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200, 226, 227, 231, 337, 358, 363, 381 Zukünftigkeit ....6, 53–61, 63–66, 71, 73, 105, 124, 134–137, 146, 148, 149 Zustand 7, 11, 13, 16, 44, 45, 52, 69, 76, 77, 87, 92, 96, 99, 108, 115, 120, 121, 127, 130, 131, 151, 157, 200, 205, 207, 222, 226–228, 244, 260, 261, 268, 269, 284, 315, 350, Zustandspassiv ..................... 274, 275