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German Pages 583 [584] Year 2019
Sarah Schwellenbach Avertiv und Proximativ
Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie
Herausgegeben von Claudia Polzin-Haumann und Wolfgang Schweickard
Band 413
Sarah Schwellenbach
Avertiv und Proximativ Eine korpusbasierte synchrone und diachrone Untersuchung der romanischen Sprachen
Die vorliegende Monographie wurde 2016 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Die Dissertation wurde 2017 mit dem Elise-Richter-Preis des Deutschen Romanistenverbandes (DRV) ausgezeichnet.
ISBN 978-3-11-052392-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052674-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052439-0 ISSN 0084-5396 Library of Congress Control Number: 2019941579 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Languages differ essentially in what they must convey and not in what they may convey. (Jakobson 1959, 236)
Vorwort Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um die gleichnamige Dissertation, die 2016 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde und 2017 mit dem Elise-Richter-Preis des Deutschen Romanistenverbandes (DRV) ausgezeichnet worden ist. Auf die Thematik von Proximativ und Avertiv bin ich bereits in der Studienzeit, ursprünglich bei einer Recherche zur Semantik und Pragmatik aspektueller Verbalperiphrasen, gestoßen. Auf der Suche nach einem Gutachter der Dissertation an der Universität zu Köln, die in eine Zeit der Vertretungen von zwei Lehrstühlen fiel, begegnete ich dem neuen Lehrstuhlinhaber Prof. Dr. Martin Becker, dem ich zur Annahme meines eigenständigen Promotionsprojekts sowie dessen freier Umsetzung im Rahmen einer Individualpromotion herzlichst zu Dank verpflichtet bin. Der vollromanistische Austausch an seinem Lehrstuhl und am Romanischen Seminar haben mich stets motiviert, sowohl über den Tellerrand der großen romanischen Sprachen als auch über den Tellerrand einzelner linguistischer Disziplinen zu sehen. Herrn Prof. Dr. Marco García García möchte ich ebenfalls ganz herzlich für die gewissenhafte Zweitbetreuung und für den stets motivierenden Austausch danken. Bei Herrn Dr. Valeriano Bellosta von Colbe möchte ich mich für besonders anregende und bereichernde Gespräche insbesondere vor und zu Beginn der Promotionszeit herzlich bedanken. Herrn Prof. Dr. Bernd Heine, Frau Prof. Dr. Tania Kuteva, Frau Prof. Dr. Christa König, Herrn Dr. Valeriano Bellosta von Colbe und Frau Laura Zester möchte ich für die Teilnahme an meinem Workshop und die produktive Diskussion danken. Herrn Prof. Dr. Bernd Heine danke ich zudem für weitere äußerst anregende Diskussionen und Hinweise. Herrn Prof. Dr. Klaus von Heusinger und Frau Prof. Dr. Chiara Gianollo danke ich für den hilfreichen Austausch auf der Nereus-Tagung. Bei Herrn Prof. Dr. Daniel Jacob und Herrn Prof. Dr. Rolf Kailuweit möchte ich mich für die Einladung nach Freiburg und den ebenfalls motivierenden Austausch bedanken. Herrn Prof. Dr. Aria Adli danke ich für wertvolle Gespräche und spannende Statistikschulungen. Herrn Dr. Malte Rosemeyer danke ich für den Austausch im Rahmen der Statistik-Software R. Herrn Dr. Sascha Diwersy und Herrn Dr. Marcos Zampieri de Marco danke ich für computerlinguistische Hinweise und den Zugang zu ihren Korpora. Herrn Prof. Dr. Achim Stein danke ich herzlichst für den Zugang zum Nouveau Corpus d’Amsterdam. Bei Herrn Prof. Dr. Jürgen Rolshoven und seinem Team möchte ich mich ebenfalls herzlichst für die Nutzung ihres Korpus basierend auf der Rätoromanischen Chrestomathie von Caspar Decurtins bedanken. Bei den zahlreichen Informanten (u.a. Chiara Gianollo, Giovanni Pairotti, Michele Cattarin, Rafèu Sichel-Bazin, Ana Guerra, Carlos Ascaso, Stéphane Seban) möchte ich mich zudem für den bereitwilligen Austausch zu https://doi.org/10.1515/9783110526745-202
VIII
Vorwort
ihrer jeweiligen romanischen Muttersprache bedanken. Herrn Dr. Javier Caro Reina, Herrn Julian Schuhmann und Herrn Daniel Greco bin ich für wertvolle formale Hinweise zu den Druckfahnen ebenfalls zu Dank verpflichtet. Thomas Siwonia und Monika Schwellenbach danke ich ganz besonders für die gründliche Korrekturlektüre des Manuskripts. Frau Prof. Dr. Claudia Polzin-Haumann und Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Wolfgang Schweickard danke ich herzlichst für die Aufnahme in die Reihe der Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie sowie Frau Dr. Ulrike Krauß, Frau Dr. Christine Henschel und Frau Gabrielle Cornefert für die stets herzliche und kompetente Begleitung in allen Etappen der Buchpublikation. Bei meinen Eltern und Schwiegereltern möchte ich mich für die motivierenden Worte und das hohe Maß an Verständnis, der Dissertation einen beträchtlichen Raum in meinem Leben einzuräumen, herzlich bedanken. Nicht zuletzt gebührt mein größter Dank meinem Mann für seine unermüdliche Unterstützung während der gesamten Promotionsphase. Insofern sei dieses Buch ihm sowie unserem Sohn Leonard Valentin gewidmet.
Inhalt Vorwort
VII
Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis
XIII XV
Abkürzungsverzeichnis Symbolverzeichnis
XXIII XXV
1 1.1 1.2
Einleitung 1 Fragestellung und Zielsetzung Aufbau der Arbeit 4
2 2.1 2.2
Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien Die typologische Perspektive 9 Die sprachhistorische Perspektive 26
1
3 3.1
9
Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv 37 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien 37 3.1.1 Proximativ, (unmittelbares) Futur und prospektiver Aspekt 37 3.1.2 Avertiv, Proximativ, Imperfectum de conatu und «frustrierte imminente Handlung» 47 3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv 58 3.2.1 Lexikalische Konstruktionen 58 3.2.2 Periphrastische Konstruktionen 90 3.2.2.1 Avertiv und Proximativ zwischen Lexikon und Grammatik 90 3.2.2.2 An der Schnittstelle von Pragmatik, Semantik und Syntax 131 3.3 Fazit 160 4 4.1 4.2 4.3 4.3.1
Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen 163 Grammatikalisierungshypothesen 163 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen 165 Lexikalische Konstruktionen 183 Quasi > Avertiv 183
X
Inhalt
4.3.2 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.2.1 4.4.2.2 4.4.3 4.4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.2.1 4.5.2.2 4.5.2.3 4.5.3 4.5.3.1 4.5.3.1.1 4.5.3.1.2 4.5.3.2 4.5.3.2.1 4.5.3.2.2 4.5.3.3 4.5.4 4.5.5 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 5 5.1 5.2
*Paucus > Avertiv 193 220 Possession (HABERE) > Avertiv Lateinischer Ausgangspunkt und Unterschiede in der Romania 221 Iberoromanische Sprachen 243 Galicisch und Portugiesisch 244 Spanisch 260 Ausblick auf die italoromanischen Sprachen 276 Fazit 288 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv Lateinischer Ausgangspunkt und Unterschiede in der Romania 295 Italoromanische Sprachen 300 Sardisch 300 Italienisch 306 Rätoromanisch 329 Iberoromanische Sprachen 336 Ser- und estar-Periphrasen im Spanischen 337 Genese der Proximativfunktion 339 Genese der Avertivfunktion 358 Ser- und estar-Periphrasen im Galicischen und Portugiesischen 372 Genese der Proximativfunktion 375 Genese der Avertivfunktion 383 Ausblick auf das Katalanische 403 Galloromanische Sprachen 413 Fazit 423 429 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv FALLERE >*FALLIRE > Avertiv 431 MANCUS > Avertiv 475 496 Ausblick zu PECCARE > Avertiv Fazit 497
Schlussbemerkung und Ausblick Schlussbemerkung 503 Ausblick 518
503
292
Inhalt
6
Literaturverzeichnis
7
Korpora und Primärtexte
Register
557
527 547
XI
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Abbildung 2 Abbildung 3 Abbildung 4 Abbildung 5 Abbildung 6 Abbildung 7 Abbildung 8 Abbildung 9 Abbildung 10 Abbildung 11 Abbildung 12 Abbildung 13 Abbildung 14 Abbildung 15 Abbildung 16 Abbildung 17 Abbildung 18 Abbildung 19 Abbildung 20 Abbildung 21 Abbildung 22
Proximativkonstruktionen im BNC und in FROWN/FLOB (Bergs 2005, 166) 28 Kategorie der Phase nach Coseriu (1976) und Dietrich (1973) 38 Bedeutung nach Potts (2009, 23) 61 Ambiguität von Accomplishments nach Aranovich (1995, 15) 71 per poco p, per poco non p und per poco non p nach Manzotti (1980, 297) 88 Phasaler Aspekt (adaptiert nach Gosselin 2011; Laca 2000; Olbertz 1998) 93 TAM-Distribution von ir a + Inf. im CDE (1900–1999) 104 Relative Frequenz aspektueller VPPn im CDE (1900–1999) 108 Relative Frequenz aspektueller VPPn im CDP (1900–1999) 109 Relative Frequenz aspektueller VPPn im CORIS 110 Proximativ/Avertiv-Distribution der essere/stareInfinitivperiphrasen im CORIS 152 Absolute Frequenz von quasi im CICA 191 Absolute Frequenz von per (poc/poch) im CICA 217 Absolute Frequenz von quasi im CICA 218 Funktionale Entwicklung der Infinitivkonstruktion mit habere nach Fleischman (1982, 66) 235 Abbau der Avertivperiphrase haver (Plusquamperfekt mit -ra) de + Inf. im CDP 257 Abbau der Avertivfunktion haber (-ra) a/de + Inf. im CDE 273 Grammatikalisierungspfad aus der Possession 289 Proximativ/Avertiv-Distribution der essere/stareInfinitivperiphrasen im CORIS 307 Diachrone Distribution von essere per + Inf. und stare per + Inf. nach Palermo (2004, 338) 326 Relative Frequenz von ser PRP (en/a) punto de + Inf. und estar PRP (en/a) punto de + Inf. bei 1.000.000 Token 343 Absolute Frequenz von estar PRP punto de + Inf. im CDE 345
https://doi.org/10.1515/9783110526745-204
XIV
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 23 Relative Frequenz von estar PRP punto de + Inf. im CDE bei 1.000.000 Token 346 Abbildung 24 Distribution der relativen Frequenz von ser por + Inf. und estar por + Inf. im CDE bei 1.000.000 Token 350 Abbildung 25 Prozentuale Distribution von estar por venir im CDE 352 Abbildung 26 Relative Frequenz der Avertivfunktion von estar PRP punto de + Inf. in R bei 1.000.000 Token 365 Abbildung 27 Relative Frequenz der Avertivfunktion von estar por + Inf. in R 367 Abbildung 28 Relative Frequenz der Avertivfunktion von estar para + Inf. in R 368 Abbildung 29 Distribution der relativen Frequenz von ser por + Inf. und estar por + Inf. im CDP 381 Abbildung 30 Prozentuale Distribution von ser por vir und estar por vir im CDP 383 Abbildung 31 Relative Frequenz der Avertivfunktion von estar para + Inf. in R 394 Abbildung 32 Diachronie von en punt de im CICA 407 Abbildung 33 Diachronie von a punt de im CICA 408 Abbildung 34 Distribution von en punt de in katalanischen Dialekten im CICA 409 Abbildung 35 Distribution von a punt de in katalanischen Dialekten im CICA 410 Abbildung 36 Texttypen von en punt de im CICA 410 Abbildung 37 Texttypen von a punt de im CICA 411 Abbildung 38 Estava per im CICA 411 Abbildung 39 Faillir und falloir nach Herslund (2003, 71) 439 Abbildung 40 Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber im Frantext intégral (1500–1599) 454 Abbildung 41 Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber im Frantext intégral (1600–1699) 456 Abbildung 42 Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber im Frantext intégral (1700–1799) 465 Abbildung 43 Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber im Frantext categorisée (ab 1830) 466 Abbildung 44 TAM-Distribution von faillir/falloir + Inf. im Frantext categorisée 470 Abbildung 45 Grammatikalisierungspfad aus der Possession 511
Tabellenverzeichnis Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5 Tabelle 6 Tabelle 7 Tabelle 8
Tabelle 9 Tabelle 10 Tabelle 11 Tabelle 12 Tabelle 13 Tabelle 14 Tabelle 15 Tabelle 16 Tabelle 17 Tabelle 18 Tabelle 19 Tabelle 20
Grammatikalisierungspfad non-past volition > proximative nach Kuteva (1998, 149) 11 Grammatikalisierungspfad past volition > ANA nach Kuteva (1998, 139) 24 Avertive und proximative Bedeutung von be about to in FROWN und FLOB (Bergs 2005, 171) 29 Pragmatic developments in the grammaticalization of proximatives (Ziegeler 2000, 1762) 32 Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006) 34 Periphrasen zum Ausdruck der «frustrierten Imminenz» nach Bellosta von Colbe (2001a, 151) 49 Formalisierung von Avertiv und Proximativ nach Schwellenbach (2013) 57 Die funktionelle Überlappung von Frustrativ, Proximativ, Avertiv und imperfectum de conatu nach Schwellenbach (2013) 58 TAM-Distribution in % von por poco (no) p und casi p im CDE (1900–1999) 77 TAM-Distribution in % von por pouco (não) p und quase p im CDP (1900–1999) 78 TAM-Distribution in % von per poco (non) p und quasi p im Subcorpus Stampa des CORIS 79 Avertivbedeutung von por poco p und por poco (no) p 88 Externe und interne Periphrasen im Katalanischen nach Laca (2000, 253) 93 Aspect syntaxique (Type I) (Laca 2005a) 94 Auxiliares de visée aspectuelle (Gosselin 2011, 162) 94 Coverbes (Gosselin 2011, 162) 95 Grammatische Verbalperiphrasen mit Skopus über die coverbes de phase (cf. Gosselin 2011, 158) 97 Grammatische Verbalperiphrasen im Skopus der coverbes de phase (cf. Gosselin 2011, 158) 98 Perífrasis verbals – Caracterizació sintàctica [. . .] (Gavarró/Laca 2002, 2678) 123 Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006) 134
https://doi.org/10.1515/9783110526745-205
XVI
Tabelle 21 Tabelle 22 Tabelle 23 Tabelle 24 Tabelle 25 Tabelle 26 Tabelle 27 Tabelle 28
Tabelle 29 Tabelle 30 Tabelle 31 Tabelle 32 Tabelle 33 Tabelle 34
Tabelle 35 Tabelle 36 Tabelle 37 Tabelle 38 Tabelle 39 Tabelle 40
Tabellenverzeichnis
TAM-Distribution der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS 151 Proximativ/Avertiv-Distribution der essere/stareInfinitivperiphrasen im CORIS 152 Avertivbedeutung der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS 153 TAM-Distribution der estar-Infinitivperiphrasen im CDE 154 TAM-Distribution der estar-Infinitivperiphrasen im CDP 155 TAM-Distribution von estar a ponto de + Inf. im EP und BP im 20. Jahrhundert 156 TAM-Distribution von estar a pique de + Inf. im EP und BP im 20. Jahrhundert 157 Aspektuelle Opposition der Proximativ-VPP [+imperfektiv] und Avertiv-VPP [+perfektiv] in den romanischen Sprachen 158 Formalisierung von Avertiv und Proximativ nach Schwellenbach (2013) 161 Korpusbelege des CLCLT-5 adaptiert nach Bourova (2007, 470) 171 Der Proximativ im GNT 175 Der Proximativ in der Septuaginta (LXX) 179 TAM-Distribution in % von quasi p im CDE, CDP & CORIS (Stampa) im 20. Jahrhundert 193 Relación entre tipo de construcción e imperfecto de subjuntivo, hasta 1900 (Bordería/Schwenter 2005, 153) 207 Por pouco VP (-ra-Form) und por poco não VP (PPS) im 14. Jahrhundert im CDP 208 TAM-Distribution von por poco VP und por poco no VP im CDE (1200–1599) 210 TAM-Distribution von por poco VP und por poco no VP im CDE (1600–1999) 211 TAM-Distribution von por pouco VP und por pouco não VP im CDP (1300–1699) 212 TAM-Distribution von por pouco VP und por pouco não VP im CDP (1700–1999) 213 TAM-Distribution von per poco (non) p im Subcorpus Stampa des CORIS (1900–1999) 213
Tabellenverzeichnis
Tabelle 41 Tabelle 42 Tabelle 43 Tabelle 44 Tabelle 45 Tabelle 46 Tabelle 47 Tabelle 48 Tabelle 49 Tabelle 50 Tabelle 51 Tabelle 52 Tabelle 53 Tabelle 54 Tabelle 55 Tabelle 56 Tabelle 57 Tabelle 58 Tabelle 59 Tabelle 60 Tabelle 61 Tabelle 62 Tabelle 63 Tabelle 64
XVII
TAM-Distribution von por poco (no) p im CDE (1900–1999) 214 TAM-Distribution von por pouco (não) p im CDP (1900–1999) 214 Diachronie von por poco (no) p im CDE (1200–1999) 215 Diachronie von por pouco (não) p im CDP (1300–1999) 216 Diachronie von per poc(h) (no) p im CICA (1000–1799) 219 222 Formen des synthetischen Futurs aus CANTARE HABEO Entwicklung des spanischen Futur Indikativs nach Penny (2002, 207) 222 Formen des synthetischen Konditionals aus CANTARE 224 HABEBAM Entwicklung des spanischen Konditionals nach Penny (2002, 209) 224 Formen des synthetischen Konditionals aus CANTARE HABUI 225 Entwicklung des italienischen Konditionals aus CANTARE HABUI 225 227 Reanalyse von HABERE zum Auxiliar Bedeutung von HABERE + Infinitiv nach Hertzenberg (2012, 375) 229 Distribution von Inf. + habere in Haupt- und Nebensätzen nach Bourova (2007, 464) 237 Distribution der HI- und IH-Stellung nach Bourova (2005, 307) 238 Stages of grammaticalization of Possession > Avertive 243 TAM-Distribution von haver de + Inf. im CDP 249 Stages of grammaticalization of Possession > Avertive 253 HABERE-Avertivperiphrasen in der -ra-Form im CDP (1300–1999) 255 HABERE-Avertivperiphrasen in der -sse-Form im CDP (1300–1999) 257 HABERE-Avertivperiphrasen im PPS im CDP (1300–1999) 260 HABERE-Avertivperiphrasen in der -ra-Form im CDE (1200–1999) 272 HABERE-Avertivperiphrasen in der -se-Form im CDE (1200–1999) 273 HABERE-Avertivperiphrasen im PPS (1200–1999) 275
XVIII
Tabelle 65 Tabelle 66 Tabelle 67 Tabelle 68 Tabelle 69 Tabelle 70 Tabelle 71 Tabelle 72 Tabelle 73 Tabelle 74 Tabelle 75 Tabelle 76 Tabelle 77
Tabelle 78 Tabelle 79 Tabelle 80 Tabelle 81 Tabelle 82 Tabelle 83 Tabelle 84 Tabelle 85 Tabelle 86 Tabelle 87 Tabelle 88
Tabellenverzeichnis
Entwicklung von sard. áere a + Inf. und áere + Inf. nach Bentley (1999, 333) 280 Stages of grammaticalization of Possession > Avertive 289 HABERE-Infinitivperiphrasen in der Romania 291 Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006) 293 TAM-Distribution der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS 307 Proximativ/Avertiv-Distribution der essere/stareInfinitivperiphrasen im CORIS 308 Avertivbedeutung der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS 308 Essere in procinto di + Inf. im LIZ 4.0 321 Distribution von essere per + Inf. und stare per + Inf. im LIZ 4.0 (2000) nach Palermo (2004, 339) 327 TAM-Distribution von rät. esser per + Inf. im DRC 334 TAM-Distribution von rät. star per + Inf. im DRC 335 Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006) 337 Relative Frequenz von ser PRP (en/a) punto de + Inf. und estar PRP (en/a) punto de + Inf. im CDE bei 1.000.000 Token 342 Absolute Frequenz von estar PRP punto de + Inf. im CDE 344 Relative Frequenz von estar PRP punto de + Inf. im CDE bei 1.000.000 Token 345 Distribution der Frequenz von ser por + Inf. und estar por + Inf. im CDE 349 Prozentuale Distribution von ser por venir und estar por venir im CDE 351 Porvenir im CDE 354 TAM-Distribution von estar para + Inf. im CDE 362 TAM-Distribution von estar por + Inf. im CDE 363 TAM-Distribution von estar PRP punto de + Inf. im CDE 364 Distribution der Avertivfunktion der estar-Periphrasen im CDE bei 1.000.000 Token 366 Distribution von estar a punto de NO + Inf. im CORDE und CDE 371 Diachronie von estar a punto de NO + Inf. im CORDE und CDE 371
Tabellenverzeichnis
Tabelle 89 Tabelle 90 Tabelle 91 Tabelle 92 Tabelle 93 Tabelle 94 Tabelle 95 Tabelle 96 Tabelle 97 Tabelle 98 Tabelle 99 Tabelle 100 Tabelle 101 Tabelle 102 Tabelle 103 Tabelle 104 Tabelle 105 Tabelle 106 Tabelle 107 Tabelle 108 Tabelle 109 Tabelle 110 Tabelle 111
XIX
Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel im CDE 372 Estar perto ( Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006) 428
XX
Tabellenverzeichnis
Tabelle 112 Tabelle 113 Tabelle 114 Tabelle 115 Tabelle 116 Tabelle 117 Tabelle 118 Tabelle 119 Tabelle 120 Tabelle 121 Tabelle 122 Tabelle 123 Tabelle 124 Tabelle 125 Tabelle 126 Tabelle 127 Tabelle 128 Tabelle 129 Tabelle 130 Tabelle 131 Tabelle 132
Stadien des Grammatikalisierungspfads FALLERE/MANCUS/ PECCARE > Avertiv 430 Stages of grammaticalization of FALLERE/MANCUS/PECCARE > Avertive 431 Stadien des Grammatikalisierungspfads FALLERE > Avertiv 440 441 Stages of grammaticalization of FALLERE > Avertive Faillir (à/de/Ø) + Inf. im Frantext intégral (1500–1599) 454 Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/tuer im Frantext intégral (1500–1599) 455 Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/tuer im Frantext intégral (1600–1699) 456 Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/tuer im Frantext intégral (1500–1699) 457 Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber im Frantext intégral (1700–1799) 465 Absolute Frequenz von faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/ tuer (1830–2012) 467 Absolute Frequenz von faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/ tuer (1500–2012) 468 Relative Frequenz von faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/ tuer (1500–2012) 468 Absolute Frequenz in der Grammatikalisierung von faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/tuer (1500–2012) 469 Falloir + Inf. und faillir + Inf. im Frantext categorisée 470 TAM-Distribution von faillir/falloir + Inf. im Frantext categorisée 471 En faillir (à/de/Ø) + mourir und faillir (à/de/Ø) + en mourir 473 Stadien des Grammatikalisierungspfads FALLERE/MANCUS/ PECCARE > Avertiv 476 Stadien des Grammatikalisierungspfads FALLERE/MANCUS/ PECCARE > Avertiv 498 Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006) 505 Formalisierung von Avertiv und Proximativ nach Schwellenbach (2013) 506 Aspektuelle Opposition der Proximativ-VPP [+imperfektiv] und Avertiv-VPP [+perfektiv] in den romanischen Sprachen 508
Tabellenverzeichnis
Tabelle 133 Tabelle 134 Tabelle 135 Tabelle 136 Tabelle 137 Tabelle 138 Tabelle 139
XXI
Stages of grammaticalization of Possession > Avertive 511 ESSERE/STARE/SEDERE-Proximativperiphrasen in den romanischen Sprachen 513 Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006) 514 Stadien des Grammatikalisierungspfads FALLERE > Avertiv 515 515 Stages of grammaticalization of FALLERE > Avertive Volere + Inf. und dovere + Inf. in altitalienischen Übersetzungen nach Palermo (2004, 327s.) 524 Volere + Inf. und dovere + Inf. in den Volgarizzamenti (Simintendi) nach Palermo (2004, 329) 524
Abkürzungsverzeichnis 1 2 3 ACH Afrz. AKT
Altgr. Altit. Altkat. Altokz. Altprov. Altsard. Altsp. Arg. Astleon. AVK BES Bol. BP Chil. CI COND
Cost. CP E Ecd. Engl. EP Fr. FUT
GCI GER
Gl. Gl.-pg. Guat. IMM IMPF INF
It. Kat. Klat. Kol. Lat. Mex.
= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =
1. Person 2. Person 3. Person Achievement Altfranzösisch Aktiv Altgriechisch Altitalienisch Altkatalanisch Altokzitanisch Altprovenzalisch Altsardisch Altspanisch Argentinisches Spanisch Asturleonesisch Avertivkonstruktion Basic Event Schema (nach Heine 1993) Bolivianisches Spanisch Brasilianisches Portugiesisch Chilenisches Spanisch Konventionelle Implikatur Konditional Costaricanisches Spanisch Complementizer Phrase Ereigniszeitpunkt Ecuadorianisches Spanisch Englisch Europäisches Portugiesisch Französisch synthetisches Futur Generalisierte konversationelle Implikatur Gerundium Galicisch Galicisch-Portugiesisch Guatemaltekisches Spanisch Imminenz Imperfekt Infinitiv Italienisch Katalanisch Klassisches Latein Kolumbianisches Spanisch Latein Mexikanisches Spanisch
https://doi.org/10.1515/9783110526745-206
XXIV
Mfrz. Msp. NEG OBJ
Okz. PC PCI PFA Pg. PL PP PPP PPS PQP PRP PRS PST PTCP
PVK R Rät. REFL
Rum. S Sard. SBJ SG
Siz. Sp. Spätlat. SUBJ
TS V Ven. Vlat. VPP(n)
Abkürzungsverzeichnis
= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =
Mittelfranzösisch Mittelspanisch Negationspartikel Objekt Okzitanisch Present perfect; passé composé; pretérito perfecto compuesto Partikularisierte konversationelle Implikatur Partizip Futur Aktiv Portugiesisch Plural Präpositionalphrase Partizip Perfekt Passiv Pretérito perfeito simples; pretérito perfecto simple Past perfect; plus-que-parfait, pluscuamperfecto; pretérito mais-queperfeito, etc. Präposition Präsens synthetisches Perfekt Partizip Proximativkonstruktion Referenzzeitpunkt Rätoromanisch Reflexivpronomen Rumänisch Sprechzeitpunkt Sardisch Subjekt Singular Sizilianisches Italienisch Spanisch Spätlatein Konjunktiv Temporalsatz Verb Venezuelanisches Spanisch Vulgärlatein Verbalperiphrase(n)
Symbolverzeichnis ¬ ╞ # * ≫ +> R+> Q+> λ ^ ⊆ ∀ Ǝ F P P p x, y, z □ ◊ v ʌ
= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =
Negation impliziert semantisch semantisch-pragmatisch inakzeptabel grammatisch inakzeptabel präsupponiert implikatiert konversationell R-implikatiert konversationell (R-basierte Implikatur) Q-implikatiert konversationell (Q-basierte Implikatur) Lambda-Operator Intensor Teilmenge von Allquantor Existenzquantor Tempusoperator «Futur» Tempusoperator «Vergangenheit» Prädikat Proposition Variablen für Argumente Modaloperator «Notwendigkeit» Modaloperator «Möglichkeit» Disjunktion Konjunktion
https://doi.org/10.1515/9783110526745-207
1 Einleitung 1.1 Fragestellung und Zielsetzung Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die korpusbasierte synchrone und diachrone Untersuchung der grammatischen Kategorien Proximativ und Avertiv in den romanischen Sprachen (i.e. Französisch, Galicisch, Italienisch, Katalanisch, Okzitanisch, Portugiesisch, Rätoromanisch, Rumänisch, Sardisch und Spanisch)1 unter Berücksichtigung des Lateinischen als Ursprache.2 Der von König (1993) eingeführte Terminus «Proximativ» für ein Grammem der Imminenz3 (z. B. sp. Estoy por comer. ‘Ich bin kurz davor zu essen.’) und der von Kuteva (1998) in der TAMAuxiliarisierung 4 typologisch identifizierte «Avertiv» als ein Marker für eine «beinahe geschehene Handlung» mit den Merkmalen [Imminenz] in aspektueller Domäne, [Vergangenheit] auf temporaler Ebene und [Kontrafaktizität] in modaler Domäne (z. B. fr. J’ai failli tomber. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’) sind als zwei miteinander verwandte und sprachübergreifend anerkannte grammatische Kategorien in das World Lexicon of Grammaticalization (Heine/Kuteva 2002) aufgenommen worden. Allerdings hat ihre bis dato noch problematische linguistische Identifizierung als zwei jeweils eigenständige Grammeme5 zu einer bislang noch recht
1 Die Frage nach der genauen Anzahl der romanischen Sprachen wird bekanntlich in der Romanistik stets kontrovers diskutiert werden. Für den Nicht-Romanisten sei an dieser Stelle auf die Diskussion in Bossong (2008, 16–30) verwiesen. Das Galicische, das einst als spanischer Dialekt verkannt wurde und für Bossong (2008, 17) «ein Zwitterwesen» zwischen eigenständiger Sprache und Dialekt des Portugiesischen darstellt (i.e. Bossong spricht sich, trotz der offiziellen Anerkennung des Galicischen als eigenständige Sprache, linguistisch für eine Varietät des Portugiesischen aus), wird in dieser Arbeit als eigenständige Sprache behandelt. Zum Stand der Korpus- und Statusplanung des Galicischen sei verwiesen auf Becker (2016). 2 Die romanischen Sprachen entwickeln sich bekanntlich aus dem Vulgärlatein (i.e. gesprochenen Latein). Die Bezeichnung wird zum ersten Mal von Schuchardt («Der Vokalismus des Vulgärlateins», 1866–1868) verwendet und bezieht sich entsprechend lat. vulgaris (‘zum Volke gehörig’) auf die gesprochene lateinische Sprache, aus der sich die romanischen Sprachen entwickeln. 3 Zum Begriff der Imminenz als Vorphase sei auch verwiesen auf das Phasenmodell nach Coseriu (1976) und Dietrich (1973). 4 TAM-Auxiliarisierung im Sinne von Heine (1993); Hopper/Traugott (2003); Kuteva (2000; 2001). 5 Bis zur Differenzierung der beiden Kategorien nach Kuteva (1998) wurde davon ausgegangen, dass es sich um eine einzige Kategorie namens Almost-Aspect (Heine 1992) bzw. «Proximativ» (König 1993) handelt. https://doi.org/10.1515/9783110526745-001
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1 Einleitung
überschaubaren Anzahl an Studien und mitunter zu diversen Auslegungen6 geführt. Drei grundlegende Ursachen für die besonders erschwerte linguistische Anerkennung des Avertivs als eigenständige grammatische Kategorie sieht Kuteva (1998; 2001) in seinem häufigen Auftreten in einem lediglich frühen Grammatikalisierungsstadium, seiner simultanen Angehörigkeit der temporalen, aspektuellen und modalen Domäne sowie seiner funktionellen Überlappung mit dem imminenten Grammem «Proximativ» in Vergangenheitskontexten begründet. Darüber hinaus besteht auch hinsichtlich der Verwandtschaft der beiden Grammeme bislang kein Konsens weder in theoretischer noch in sprachhistorischer Perspektive: 1) In theoretischer Betrachtung birgt die bereits von Kuteva (1998; 2001) problematisierte «funktionelle Überlappung» der beiden Grammeme in Vergangenheitskontexten bis dato die Schwierigkeit einer systematischen Trennung von Proximativ und Avertiv, insofern als der Proximativ in Vergangenheitskontexten eine kontrafaktische Implikatur annehmen und auf diese Weise die Avertivbedeutung (pragmatisch) ausdrücken kann. Neben der von Kuteva (1998; 2001) bislang als problematisch eingestuften Differenzierung von Proximativ und Avertiv in der aktuellen typologischen Forschung, die Autoren bei der Identifizierung mitunter die Möglichkeit beider Kategorien einräumen lässt (z. B. «im Sinne des Proximativs oder Avertivs» nach Bergs 2005, 169; cf. Kapitel 2.2), besteht darüber hinaus auch in der romanistischen Forschung kein Konsens zum systematischen Unterschied zwischen «frustrierter Imminenz», imperfectum de conatu, Frustrativ, Proximativ und Avertiv. Nicht zuletzt steht in der typologisch-funktionalen Grammatikalisierungsforschung eine systematische Differenzierung der als future grams (cf. u.a. Bybee et al. 1994, 244s.) bzw. future markers (cf. u.a. Detges/Waltereit 2016, 641) bezeichneten Grammeme Futur, Prospektiv und Proximativ noch aus, der in dieser Arbeit systematisch nachzugehen ist. Die Identifizierungsschwierigkeit der sich in Vergangenheitskontexten oftmals funktionell überlappenden Kategorien liegt in der noch fehlenden Bestimmung weiterer oppositiver Merkmale insbesondere auf modalsemantischer und pragmatischer Ebene begründet. Dieser Mangel an hinreichenden Identifizierungsmerkmalen macht die Aufstellung von Kriterien erforderlich, anhand welcher Proximativ- und Avertivkonstruktionen sprachübergreifend auf syntaktischer, semantischer und pragmatischer Ebene eindeutig identifiziert und voneinander abgegrenzt werden könnten. Insbesondere auf pragmatischer Ebene eröffnen sich hierzu sowohl diachron als auch synchron, analog zu
6 Es sei bereits exemplarisch auf die von Schmidtke-Bode (2009, 129–144) als Avertiv bezeichneten lest-clauses hingewiesen, die zumindest nicht mit der theoretischen Definition des Avertivs nach Kuteva (1998; 2001) konform gehen (cf. Kapitel 3.1.2).
1.1 Fragestellung und Zielsetzung
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der langanhaltenden Debatte7 um den pragmatischen Status Imminenz ausdrückender Adverbien (wie almost, nearly, casi, por poco, por poco no, presque, etc.), diverse Erklärungsansätze für die funktionelle Überlappung der beiden grammatischen Kategorien. Die drei kontroversen Annahmen über den pragmatischen Status von ¬p der Imminenz ausdrückenden Adverbien, die für die Pragmatik der Avertiv- und Proximativkonstruktionen übernommen werden, legen die semantische Präsuppositionstheorie von Anscombre/Ducrot (1976), die Implikaturtheorie von Sadock (1978) und Ziegeler (2000; 2006) und die entailment-Theorie nach Horn/Schwenter (2002) zugrunde. Ziegeler (2000; 2006) hat bereits den Versuch unternommen, die pragmatische Entwicklung in der Grammatikalisierung von dem Adverb almost auf die Entwicklung von Proximativ- zu Avertivkonstruktionen zu übertragen. Allerdings bedarf die von Ziegeler (2000; 2006) zugrunde gelegte Annahme, dass die polare Komponente ¬p auf eine von almost p ausgelöste kontrafaktische (Q-basierte) Implikatur im Horn’schen Sinne (1984) zurückginge, vor dem Hintergrund der Horn’schen (1991) Erklärung redundanter Information von konversationellen Implikaturen und entailments einer weiteren kritischen Diskussion.8 2) In sprachhistorischer Betrachtung besteht kein Konsens hinsichtlich der Richtung des Grammatikalisierungspfades von Avertiv und Proximativ: Kuteva (1998, 146ss.; 2001, 103ss.) nimmt an, dass der Avertiv in einem fortgeschrittenen Grammatikalisierungsstadium in den Proximativ grammatikalisiert, indem er die Merkmale Tempus [Vergangenheit] und Modalität [Kontrafaktizität] abbaut. Dieser von Kuteva (1998; 2001) im Bulgarischen und Türkischen aufgezeigte Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ findet sich jedoch in universaler Sprachbetrachtung keineswegs bestätigt. Die ersten Untersuchungen zu den afrikanischen Sprachen von Heine (1992; 1994; 1997) und König (1993; 2000), bei der der Proximativ in der Vergangenheit zu einem Counterfactual-Marker wird, sowie eine nähere Betrachtung der romanischen Sprachen, legen unserer Ansicht eher die Vermutung von Bellosta von Colbe (2001a, 154) nahe, dass der Proximativ in den Avertiv grammatikalisieren kann. Der Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv ist in Schwellenbach (2009) durch eine modifizierte Aufbereitung des Modells von Ziegeler (2000; 2006), das ursprünglich für den Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ postuliert wurde, am Beispiel des peninsularen Gegenwartsspanischen diskutiert und
7 Cf. u.a. Sadock (1978; 1981); Ducrot (1972; 1973); Anscombre/Ducrot (1976); Horn (1991; 2002); Schwenter (2002); Ziegeler (2000; 2006). 8 Cf. insbesondere die Ansätze von Schwenter (2002); Horn (2002); Horn (1991).
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1 Einleitung
korpusbasiert synchron illustriert worden. Allerdings mangelt es bislang noch an einer diachronen Untersuchung, die die Annahme eines Grammatikalisierungspfades von Proximativ in den Avertiv korpusbasiert verifiziert. Das Ausstehen einer sprachhistorischen Verifizierung dieser lediglich theoretisch postulierten Grammatikalisierungspfade hat nicht zuletzt auch die von Kuteva (2001, 85–99) empfundene Problematik der Identifizierung des Avertivs zur Folge. Das nach Kuteva (2001) frühe Grammatikalisierungsstadium des Avertivs, bei dem die konversationelle Implikatur the action did not actually take place noch nicht konventionalisiert ist, sondern noch über den Kotext inferiert werden muss (bzw. oftmals explizit über die adversative Konjunktion but eingeleitet wird), wird nach Schwellenbach (2009) vielmehr als ein Proximativ (i.e. Imminenzgrammem) verstanden, der die Implikatur ¬p noch nicht konventionalisiert hat. In sowohl theoretischer als auch empirischer Perspektive wird vielmehr gezeigt werden, dass sich im Zuge der Konventionalisierung dieser kontrafaktischen Implikatur des Proximativs ein Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv ereignen kann, der im Gegensatz zu der von Kuteva (1998; 2001) postulierten (aber nicht historisch verifizierten) entgegengesetzten Grammatikalisierungsrichtung Avertiv > Proximativ steht. Dieser in Kapitel 3 theoretisch erarbeitete Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv wird in Kapitel 4 korpusbasiert verifiziert. Die Romanistik befindet sich in der für sprachhistorische Untersuchungen besonders prädestinierten Lage, die romanischen Sprachen bis in die gemeinsame Ursprache, das Lateinische, anhand einschlägiger Korpora untersuchen zu können, von denen wir für unsere Untersuchungen über 40 elektronische Korpora sowie zusätzlich weitere umfassende Primärtexte konsultieren werden.9
1.2 Aufbau der Arbeit Die Bearbeitung der zentralen Fragestellungen gliedert sich in einen synchronen Teil (Kapitel 2 und Kapitel 3) und einen diachronen Teil (Kapitel 4). In Kapitel 2 wird der bisherige Forschungsstand aus sowohl typologischer Perspektive (Kapitel 2.1) als auch sprachhistorischer Perspektive (Kapitel 2.2) zu den Sprachen der Welt dargelegt und die bisher als Avertiv identifizierten Konstruktionen einer eingehenden kritischen Betrachtung unterzogen. Um eine systematische Identifizierung von Proximativ- und Avertivkonstruktionen und eine bislang ausgebliebene systematische Trennung von Proximativ und Avertiv in der weiteren
9 Cf. Kapitel 7.
1.2 Aufbau der Arbeit
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Forschung zu ermöglichen, wird im Zuge einer (u.a. formalsemantischen) Neudefinition von Proximativ und Avertiv eine eindeutige Abgrenzung der Kategorien voneinander sowie zu weiteren verwandten Kategorien (Kapitel 3.1) vorgenommen. Für die Definition des Proximativs wird in Kapitel 3.1.1 die semantische Relation von Proximativ, (unmittelbarem) Futur und Prospektiv vor dem Hintergrund der typologisch-funktionalen Grammatikalisierungsforschung theoretisch exploriert. Den in der typologisch-funktionalen Grammatikalisierungsforschung auch generell als future grams bzw. future markers bezeichneten drei Grammemen (cf. u.a. Bybee et al. 1994, 244s.; Detges/Waltereit 2016, 641) wird vielmehr eine systematische Differenzierung entgegengebracht werden. Nach der erfolgten systematischen Abgrenzung von Futur und Prospektiv wird der Proximativ in Kapitel 3.1.2 weiteren die Imminenz ausdrückenden Kategorien und Funktionen gegenübergestellt. Insbesondere die bislang ungeklärte systematische Differenzierung zwischen Proximativ und Avertiv sowie von den mit ihnen funktionell überlappenden Termini der «frustrierten Imminenz» und dem imperfectum de conatu wird sowohl auf der Basis semantisch-pragmatischer (u.a. Aufhebbarkeitstest) und syntaktischer Tests (u.a. Skopusinteraktion mit der Negationspartikel) als auch im Zuge einer eindeutigen Formalisierung gelöst werden. Auf der Basis der systematischen Neudefinition von Proximativ und Avertiv werden die pragmatischen, semantischen und syntaktischen Identifikationskriterien von Proximativ und Avertiv aufgestellt und sowohl anhand lexikalischer Konstruktionen (Kapitel 3.2.1) als auch anhand periphrastischer Konstruktionen (Kapitel 3.2.2) der romanischen Sprachen getestet. Beginnend mit den lexikalischen Konstruktionen, wie z. B. quasi VP, per poco (non) VP, wird die Avertivbedeutung anhand der «konjunktiven Analyse» (cf. Ducrot 1972; Horn 1996; 2002; Sevi 1998; Schwenter 2002) von proximaler (i.e. Imminenz) und polarer Komponente (i.e. ¬p) vor dem Hintergrund ihres seit Sadock (1978; 1981) bis heute (cf. u.a. Ziegeler 2000; 2006; 2016; Schwellenbach 2009; 2013) in der theoretischen Linguistik kontrovers diskutierten pragmatisch-semantischen Status untersucht. Die seit Sadock (1978; 1981) geführte Diskussion um den pragmatischen Status der polaren Komponente (i.e. ¬p) wird insofern auf die systematische Trennung von Proximativ und Avertiv übertragen, als der Avertiv in dieser Arbeit als eine Kategorie definiert wird, die ¬p ausdrücken muss und auf diese Weise von einer implikatierten Avertivbedeutung des Proximativs durch seine mögliche Implikatur ¬p in Vergangenheitskontexten systematisch getrennt werden kann. In Kapitel 3.2 wird die semantisch-pragmatische Untersuchung in Form der konjunktiven Analyse auf die periphrastischen Proximativ- und Avertivkonstruktionen übertragen. In Kapitel 3.2.2.1 werden die periphrastischen Proximativ- und Avertivkonstruktionen im Hinblick auf ihre Stellung innerhalb
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1 Einleitung
des Lexikon-Grammatik-Kontinuums diskutiert. Diesbezüglich werden zur Etablierung von Proximativ- und Avertivkonstruktionen in das System romanischer Verbalperiphrasen die Erfüllung semantischer und syntaktischer Kriterien vor dem Hintergrund der aktuellen theoretischen Linguistik diskutiert (cf. u.a. Olbertz 1998; Pusch/Wesch 2003; Laca 2000; 2002; 2004; 2005a; 2005b; Potts 2009; Gosselin 2011). Das Kapitel schließt mit einer Übersicht über periphrastische Proximativ- und Avertivkonstruktionen in den romanischen Sprachen. Der diachrone Teil (Kapitel 4) setzt sich die korpusbasierte Untersuchung der Grammatikalisierungspfade und -richtungen von Proximativ und Avertiv in den romanischen Sprachen angefangen von den Ursprüngen im Lateinischen unter der Berücksichtigung etwaiger Einflüsse des Altgriechischen bis zu den romanischen Gegenwartssprachen zum Ziel. Ausgehend von der Beobachtung, dass die romanischen Sprachen ein breites Spektrum an Avertiv- und Proximativkonstruktionen besitzen, zu denen noch keine korpusbasierten diachronen Untersuchungen vorliegen, konzentriert sich die diachrone Untersuchung der romanischen Sprachen auf die folgenden ausgewählten zentralen Proximativund Avertivkonstruktionen, die sich bis in den gegenwärtigen Sprachgebrauch durchsetzen konnten bzw. gehalten haben: In Kapitel 4.2 wird die Ausgangssituation im Lateinischen hinsichtlich der lexikalischen und periphrastischen Konstruktionen für Proximativ und Avertiv untersucht, um sie mit der sich anschließenden Entwicklung in den romanischen Sprachen kontrastieren zu können. In Kapitel 4.3 werden die in Kapitel 3.2.1 bereits synchron untersuchten lexikalischen Konstruktionen (quasi p und paucus p) hinsichtlich der Grammatikalisierung ihrer Komponenten, proximale und polare Komponente, untersucht. In Kapitel 4.4 wird der Grammatikalisierungspfad Possession > Avertiv aus der vulgärlateinischen Quelle HABERE (‘haben’) untersucht und die Alternativhypothese für einen Grammatikalisierungspfad Possession > Obligation > Prospektiv > Proximativ > (Proximativ in der Vergangenheit >) Avertiv korpusbasiert verifiziert. Dieser wird in Analogie zu dem Grammatikalisierungspfad von Futur und Konditional in den romanischen Sprachen dargelegt werden. Hinsichtlich der Genese des HABERE-Avertivs in den iberoromanischen Sprachen wird die Konservierung des Avertivs im Galicischen kontrastiv zu dem kontinuierlichen Abbau des Avertivs in dem sich trennenden Portugiesischen als auch zu dem Abbau des Avertivs im Spanischen bis in die Gegenwartssprachen aufgezeigt. In Kapitel 4.5 wird die Genese von Proximativ und Avertiv aus der Grammatikalisierungsquelle der Kopula untersucht und die Alternativhypothese für einen Grammatikalisierungspfad Kopula > Prospektiv > Proximativ > (Proximativ in der Vergangenheit >) Avertiv korpusbasiert verifiziert werden. Aufgrund der frühen
1.2 Aufbau der Arbeit
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Korpusbelege in den romanischen Sprachen wird die Entwicklung der (spät-)lateinischen ESSE-Infinitivkonstruktionen und ihr modal-aspektueller Wandel mit in die Untersuchung einbezogen. Hinsichtlich der romanischen Sprachen wird die Entwicklung der *ESSERE/STARE/SEDERE-Infinitivperiphrasen untersucht sowie der Abbau der ser-Periphrasen zugunsten der estar-Infinitivperiphrasen in den iberoromanischen Sprachen aufgezeigt. Die in Kapitel 3.2.2 darzulegende synchrone Variation der *ESSERE/STARE/SEDERE-Infinitivperiphrasen (z. B. sp. estar para + Inf., estar por + Inf., und estar a punto de + Inf.) wird in Kapitel 4.5 auf unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade zurückgeführt werden. Es wird gezeigt werden, dass sich die italoromanischen Sprachen konservativer gegenüber den iberoromanischen Sprachen verhalten. In Kapitel 4.6 wird der Grammatikalisierungspfad Fail > Avertiv im Französischen korpusbasiert anhand der Verbalperiphrasen faillir + Inf. und manquer (de) + Inf. untersucht sowie ein Ausblick auf die okzitanischen Periphrasen mancar + Inf. und peccare + Inf. gegeben. Es wird die Alternativhypothese aufgestellt, dass sich in dem Grammatikalisierungspfad Fail > Avertiv die polare Komponente (¬p) diachron vor der proximalen Komponente (Imminenz) grammatikalisiert. Es wird argumentiert, dass weder der Avertiv das Vorstadium des Proximativs benötigt noch der Proximativ als ein fortgeschrittenes Grammatikalisierungsstadium des Avertivs, wie es Kuteva (1998; 2001) nahegelegt hat, zu betrachten ist. Der Grammatikalisierungspfad im Französischen, bei dem weder eine Grammatikalisierungsrichtung Avertiv > Proximativ noch die umgekehrte Grammatikalisierungsrichtung Proximativ > Avertiv gegeben ist, wird insofern auch die diachrone Unabhängigkeit des Avertivs verifizieren. Kapitel 5 gliedert sich in die Schlussbemerkung (Kapitel 5.1) und den Ausblick (Kapitel 5.2). In Kapitel 5.1 werden die zentralen Fragestellungen vor dem Hintergrund der Untersuchungsergebnisse reflektiert und daraus ableitbare Generalisierungsmöglichkeiten dargelegt. Kapitel 5.2 gibt einen Ausblick in noch ausstehende Projekte sowie weiterführende Fragestellungen.
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien 2.1 Die typologische Perspektive In diesem Kapitel wird der Forschungsstand über die bereits identifizierten Grammatikalisierungspfade der Kategorien Proximativ und Avertiv aus typologischer Perspektive dargelegt und einer kritischen Betrachtung unterzogen. Heine (1992) identifiziert anhand des Chamus, einem Dialekt des Maa,10 den Grammatikalisierungspfad11 des volitiven Lexems -yyéú (‘wollen’) in einen aspektuellen Marker mit der Bedeutung ‘fast’, ‘beinahe’. Diesen aspektuellen Marker basierend auf dem von Heine (1993) zugrunde gelegten Volition Basic Event Schema (Volition-BES)12 nennt er zunächst Almost-Aspect und paraphrasiert ihn mit der konventionalisierten semantischen Bedeutung «having almost reached the situation described by the main verb» (Heine 1993, 339). Der Almost-Aspect wird von König (1993) in ihrer Dissertation zum Aspektsystem im Maa als «Proximativ» bezeichnet und referiert auf ein aspektuelles Grammem der Imminenz (i.e. die Vorphase eines bezeichneten Sachverhaltes).13 Die Stadien 0–III des Grammatikalisierungspfades Volition > Proximativ werden von Heine (1992) im Chamus aufgezeigt. In Stage 0 handelt es sich um ein Volitionsverb in seiner lexikalischen Bedeutung ‘wollen’, das ein belebtes Subjekt und eine NP als Objekt erfordert (cf. Beispiel a). In Stage I erscheint
10 Maa ist eine von den Massai sowie verwandter Völker, wie der Samburu und der Chamus, in Kenia und Tansania gesprochene ostnilotische Sprache der nilosaharanischen Sprachen. 11 In der Grammatikalisierungsforschung wird die Grammatikalisierung seit Meillet (1975) als ein gradueller Prozess innerhalb des Lexikon-Grammatik-Kontinuums verstanden. Zur Abgrenzung der Termini Grammatikalisierungspfad, -weg, -stadium, -kanal sowie den Metaphern in der englischsprachigen Terminologie cline, pathway, chain, continuum und channel sei verwiesen auf die Diskussion in Hopper/Traugott (2003, 6s.) und Heine (2003, 589s.). 12 Auxiliare drücken abstrakte grammatische Konzepte (wie Tempus und Aspekt) aus, die im Zuge der Auxiliarisierung aus konkreten Entitäten entstanden sind. Die Main Event Schemas als Quellen für die Auxiliarisieung der Kategorien Tempus und Aspekt werden von Heine (1993, 31), wie folgt, zusammengefasst: Location (‘X is at Y’), Motion (‘X moves to/from Y’), Action (‘X does Y’), Volition (‘X wants Y’), Change-of-state (‘X becomes Y’), Equation (‘X is [like] a Y’), Accompaniment (‘X is with Y’), Possession (‘X has Y’), Manner (‘X stays in a Y manner’). 13 Zum Begriff der Imminenz sei neben dem Phasenmodell nach Coseriu (1976) insbesondere auf Dietrich (1973) verwiesen. https://doi.org/10.1515/9783110526745-002
10
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
das Volitionsverb in der Verbindung mit einem Hauptverb (Beispiel b). Im Zuge der Auxiliarisierung wird das Volitionsverb in Stage II desemantisiert und übernimmt die Funktion des Auxiliars (Beispiel c). In Stage III verliert das Subjekt das Merkmal [+belebt] (Beispiel d). Als Almost-Aspect, der von König (1993) in «Proximativ»14 umbenannt wird, bezeichnet Heine (1992, 339) das Erreichen des sich anschließenden Stadiums, in dem das Volitionsverb in seiner 3. Person Singular zu dem unveränderlichen Aspekt (k)eyyéú grammatikalisiert, der im Chamus nicht mehr nach Person oder Aspekt flektiert wird (Beispiel e). (1)
Volition > Proximativ im Chamus, Dialekt des Maa (Ostnilotisch, Nilosaharische Sprachen) (a) k-á-yyéú n-daâ F-food.ABS k-1SG‘I want food’ (Heine 1992, 338) n-kaŋ (b) k-á-yyéú nánU n-a-ló I.NOM NAR-1SG-go F-home.ABS k-1SG‘I want to go home’ (Heine 1992, 338) (c) k-é-yyéú l-páyyan n-é-rriá M-elder NAR-3SG-fall k-3SG‘the old man nearly fell’ (Heine 1992, 338) (d) k-é-yyéú l-cáni n-é-uróri M-tree.NOM NAR-3SG-fall k-3SG‘The tree almost fell’ (Heine 1992, 339) (e) (k-)eyyéú a-ók nánU kUlɛ́ drink I.NOM milk 1SG‘I was about to drink milk’15 (Heine 1992, 339)
Die Stadien des Grammatikalisierungspfades Volition > Proximativ werden nach Kuteva (1998, 149), wie folgt, aufgeführt:
14 Der Terminus «Proximativ» in der ursprünglichen Definition nach Heine (1992) und König (1993) ist nach der Annahme des Avertivs als eigenständiges Grammem nicht mit dem «Proximativ» nach Kuteva (1993; 2001) deckungsgleich. 15 Die Glossierungen und Hervorhebungen der zitierten Beispiele werden von den jeweiligen Autoren übernommen. Eigene Beispiele werden einheitlich nach den Leipzig Glossing Rules glossiert.
2.1 Die typologische Perspektive
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Tabelle 1: Grammatikalisierungspfad non-past volition > proximative nach Kuteva (1998, 149). STAGE
TYPE OF EVENT SCHEMA
CONTEXTUAL ATTRIBUTES
I II III
Person X wants item Y Person X wants to do Y Person X is about to undergo Y Object X is about to undergo Y
[Y refers to a concrete item] [Y refers to a dynamic situation] [X can be assumed not to want Y] [X is close to entering situation Y]
Kuteva (2001) weist die Stadien 0–III des Grammatikalisierungspfades Volition > Proximativ für das Bulgarische nach: (2)
Volition > Proximativ im Bulgarischen (a) Iskam jabălka. want.1SG.PRES apple ‘I want an apple.’ (Kuteva 2001, 106) (b) Iskam da igraja. want.1SG.PRES CONJ.PTCL play.1SG.PRES ‘I want to play.’ (Kuteva 2001, 107) (c) Aha, struva mi se, če iskaš da se Aha seems to.me REFL that want.2SG.PRES CONJ.PTCL REFL razboljavaš! get.ill.2SG.PRES Nali ti kazax da si vzemeš šala! Q.PTCL you tell.1SG.PAST CONJ.PTCL REFL take scarf.the ‘Aha, it seems to me you are just about to get ill! I told you to take your scarf, didn’t I?’ (Kuteva 2001, 107) (d) Iska da vali. want.3SG.PRES CONJ.PTCL rain.3SG.PRES ‘It is just about to rain.’ (Kuteva 2001, 107)
Analog zeigt Romaine (1999) die Stadien 0–III des Proximativs auf der Grundlage des Volitionsschemas im Tok Pisin am Beispiel von laik (‘wollen’) auf:
12
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
(3) Volition > Proximativ im Tok Pisin (a) Mi laik stori long kamap long Jisas. I want story about birth of Jesus ‘I want to tell a story about the birth of Jesus.’ (GER5FNA)16 (Romaine 1999, 323) (b) Nau boi ia laik brekim am i go nau. now boy FOC want break arm PR go now ‘Now the boy nearly broke his arm.’ (REM5MJS) (Romaine 1999, 323) (c) Man laik pudaun wantaim pot bilong en. man want fall with pot of his ‘The man nearly fell down with his pot.’ (REM3FMM) (Romaine 1999, 323) (d) Wanpela bikpela woa i laik kamap. one big war PR want occur ‘A big war is about to occur.’ (Wantok 1982) (Romaine 1999, 323) Erelt (2009) legt den Proximativ im Estnischen dar. Die folgenden Beispiele illustrieren die Entwicklung des Proximativs auf der Grundlage des VolitionBES: (4) Volition > Proximativ im Estnischen (a) Puder tahtis põhja kõrbeda porridge wanted bottom.ILL burn:dINF ‘The porridge was close to boiling dry.’ (Erelt 2009, 179) (b) Puder tahtis põhja kõrbeda, porridge wanted bottom.ILL burn:dINF kuid siiski ei kõrbenud but nevertheless NEG burn:PST.PTCP ‘The porridge was close to boiling dry but didn’t.’ (Erelt 2009, 179)
16 Die Sprechermerkmale in Klammern werden nach Romaine (1999) wie folgt kodiert: «BL = Bulolo, GER = Geraoun, IND = Indagen, REM = Rempi, UT = Unitech (Lae), F = female, M = male, the numbers 1 through 6 indicate year in school» (Romaine 1999, 323). Für die Glossierung der Beispiele benutzt Romaine (1999) die folgenden Abkürzungen: «PR predicate marker; FOC focus marker; FUT future; COMP completive marker; EXC exclusive; INC inclusive; NEG negative; DU dual; TR transitive; PL plural; PAST past tense» (Romaine 1999, 323).
2.1 Die typologische Perspektive
13
(c) Puder tahtis põhja kõrbeda ja kõrbeski porridge wanted bottom.ILL burn:dINF and burn:PST:CLC ‘The porridge was close to boiling dry and actually did so.’ (Erelt 2009, 179) Der Proximativ ist bei belebten Subjekten mit der modalen Nebenbedeutung der Intention stets verbunden,17 wie auch Kim (2002) am Beispiel des koreanischen Proximativs (u)lyeko ha (engl. ‘to intend to’, ‘to want to’, ‘to be about to’, ‘on the point of’, ‘to be going to’) aufzeigt. (5) Proximativ (u)lyeko ha bei belebten Subjekten im Koreanischen (a) Ne cikum eti ka-lyeko ha- ni? Q You now where go PROX ‘Where are you going to go?’ (Kim 2002, 43) (b) Hakkyoey ka-lyeko ha-n- ta. School to go PROX PRES D ‘I am going to go to school.’ (Kim 2002, 43) Bei unbelebten Subjekten wird stets die aspektuelle Bedeutung der Imminenz ausgedrückt. (6) Proximativ (u)lyeko ha bei unbelebten Subjekten im Koreanischen (a) Pi ka nayli-lyeko ha-n- ta. rain NOM fall PROX PRES D ‘It is about to rain.’ (Kim 2002, 44) (b) Palam i puwl-lyeko ha-n- ta. Wind NOM blow PROX PRES D ‘The wind is about to blow.’ (Kim 2002, 44) (c) Namwu ka nemeci-lyeko ha-n- ta. NOM fall PROX PRES D Tree ‘The tree is about to fall down.’ (Kim 2002, 44) Neben dem Volition-BES (‘X wants Y’) zeigt Heine (1994) die Auxiliarisierung des Proximativs nach dem Motion-BES (‘X comes/goes to Y’) sowie dem Location-BES (‘X is at Y’/‘X is near Y’) auf. Für die Grammatikalisierung des
17 Der Proximativ in den romanischen Sprachen ist ebenfalls bei belebten Subjekten stets mit der modalen Nebenbedeutung einer Intention oder Disposition verbunden (cf. Schwellenbach 2009; Kapitel 3).
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2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
Proximativs auf der Basis des Motion-BES führen Heine/Kuteva (2002, 78) sowohl ein Beispiel aus dem Lahu18 an, bei dem là (engl. ‘come’) über den Venitiv zum Proximativmarker la (engl. ‘almost coming to, nearly’) wird, als auch ein Beispiel aus dem Tchien Krahn, bei dem gi (engl. ‘come’) zu dem Proximativmarker gi (engl. ‘almost’) wird. (7) Lahu là ‘come’ > la (Venitiv) > la ‘almost’ (a) mû-yè là ve. ‘It’s raining.’ (lit.: ‘rain comes’) (Matisoff 1991, 395s., zitiert nach Heine/ Kuteva 2002, 78) (b) ši-la ‘be close to death’ (Matisoff 1991, 395s., zitiert nach Heine/Kuteva 2002, 78) (8) Tchien Krahn gi ‘come’ > gi ‘almost’ pidɛ̄ gi kwɔ la. plantain come spoil NOMIN ‘The plantain is almost spoiled.’ (Marchese 1986, 121, zitiert nach Heine/ Kuteva 2002, 78) Des Weiteren finden wir bei Stolz (2001) den Hinweis zu der Entwicklung des isländischen Bewegungsverbs zu einem Auxiliar mit der von ihm als «Ingressiv/ Inchoativ/Futurum proximum»19 bezeichneten Funktion, die wir entsprechend der angegebenen Paraphrasierung zweifelsohne als Proximativ verbuchen dürfen: (9) Bewegungsverb fer im Isländischen ég fer í búð ich geh:1Sg in Laden ‘Ich gehe ins Geschäft.’ (Stolz 2001, 1) (10) Proximativ fer im Isländischen ég fer að fara í búð ich geh:1Sg zu geh:Inf in Laden ‘Ich fange gleich an, ins Geschäft zu gehen.’ (Stolz 2001, 1)
18 Lahu ist eine von dem gleichnamigen Volk in China, Thailand, Laos und Birma gesprochene tibeto-birmanische Sprache, die zur sinotibetischen Sprachfamilie gehört. 19 Die Termini werden in der Forschung bekanntlich nicht immer systematisch unterschieden. Daher sei auf ihre systematische Differenzierung in Kapitel 3.1 verwiesen.
2.1 Die typologische Perspektive
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Beispiele für die Auxiliarisierung auf der Basis des Location-BES (‘X is at Y’/ ‘X is near Y’) sind das seychellenkreolische pros (‘near’), das zum Proximativmarker be on the point of wird, (11) Proximativ im Seychellenkreol CF zot pros pur (zot) ale (they near for they go) ‘They are on the point of leaving.’ (Corne 1977, 149, zitiert nach Heine/ Kuteva 2002, 215) oder klostu im Tok Pisin, das ebenfalls von einem Lokationsmarker in (a) zu einem Proximativ (b) wird: (12) Lokationsmarker > Proximativ im Tok Pisin (a) Ol stap long klostu long nambis. they stay at close to beach ‘They were living close to the beach.’ (INDF3JB) (Romaine 1999, 324) (b) Klostu ol katim bus i go klin i stap long ol wanem close they cut bush PR go clean PR stop at PL which fencing. fencing ‘They nearly cleared the bush by the fencing.’ (INDF3JB) (Romaine 1999, 324) Bei dem Location-BES entwickelt sich der Proximativ oftmals in Verbindung mit der Kopula, wie z.B. im Englischen be about to, be on the verge of, be on the brink of und be on the point of (cf. Bergs 2005) oder in den romanischen Sprachen, z.B. sp. estar a punto de + Infinitiv (cf. Schwellenbach 2009). Auch im Finnischen bildet sich ein Proximativ in Verbindung mit der Kopula heraus: (13) Kopula > Proximativ im Finnischen Olen kuolemaisillani (aspect imminent) être+PRS+1SG mourir+INF3+PL+ILL+1SG ‘Je suis sur le point de mourir.’ (Renault/François 2005, 35) Holvoet (2014) identifiziert anhand des Litauischen baigti (‘beenden’) eine weitere Grammatikalisierungsquelle für den Proximativ.
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2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
(14) Proximativ im Litauischen Balkon-ai baigia nukristi, balcony-ɴoᴍ.ᴘʟ finish.PRS.3 fall[PFV].INF sienos suskilinėjusios daug labiau, nei jie matė prieš išvažiuojant. [. . .] (http://www.ve.lt/naujienos/klaipeda1/mano-klaipeda/kur-klaipedojenuvesti-svecia-995882/komentarai/,page.2, zitiert nach Holvoet 2014, 97) ‘The balconies can come down any moment, the walls are cracked much more than they had noticed before departing.’ (Holvoet 2014, 97) Der Proximativ kann in Vergangenheitskontexten entsprechend die Avertivbedeutung annehmen, wie die folgenden Beispiele von Holvoet (2014) zeigen. (15) Proximativ mit Avertivimplikatur im Litauischen Per trejus metus, praleistus Sibire, Aliukas pramoko rusiškai, o lietuvių kalb-ą baigė užmiršti, kaip ir Lithuanian language-ᴀᴄᴄ.sɢ finish.ᴘsᴛ.3 forget.INF like Lietuv-ą. Lithuania-ᴀᴄᴄ (http://archive.is/GKcy, zitiert nach Holvoet 2014, 115) ‘During the three years spent in Siberia, Aliukas had learnt Russian, but he had almost forgotten the Lithuanian language as he had Lithuania itself.’ (Holvoet 2014, 115) (16) Proximativ mit Avertivimplikatur im Litauischen Hmmm, jau beveik baigiau pamiršti, ɪɴᴛᴇʀᴊ already almost finish.PRS.1SG forget.INF kad kadaise prisižadėjau that once promise.ᴘsᴛ.1sɢ dar vien-ą straipsneli-o apie Stimpank-ą dal-į. one_more-ᴀᴄᴄ.sɢ article-ɢᴇɴ.sɢ on steampunk-ᴀᴄᴄ.sɢ part-ᴀᴄᴄ.sɢ Tai kažkaip prisiminiau ir bandysiu šį bei tą sudėlioti. (http://www.grumlinas.lt/?pg=nmHome&paged=575, zitiert nach Holvoet 2014, 116) ‘Hm, I had almost forgotten I had once promised a follow-up to the article on Steampunk. But I remembered it somehow and will try to put something together.’ (Holvoet 2014, 116) Allerdings wird in dem letzten von Holvoet (2014, 116) angeführten Beispiel (16) die Avertivbedeutung zudem kontextuell durch beveik (engl. ‘almost’) unterstützt.
2.1 Die typologische Perspektive
17
In der ursprünglichen Definition nach König (1993, 83, 313; 2000, 148) ist der Proximativ noch vermeintlich auf die Domäne Irrealis beschränkt und impliziert in dem Kontext der Vergangenheit die Negation (i.e. ¬p) im Sinne des Counterfactual-Markers. Diese Spezifizierung auf die kontrafaktische Domäne wird in der Definition des Proximativs nach Kuteva (1998) durch die Identifizierung einer mit dem Proximativ verwandten Kategorie, dem Avertiv, revidiert und eine Trennung zweier eigenständiger Grammeme postuliert. Der Avertiv markiert im Zuge der TAM-Auxiliarisierung eine imminente (Aspektualität), kontrafaktische (Modalität) und vergangene (Temporalität) Handlung und wird von ihr mit der Bedeutung was on the verge of taking place, but did not take place paraphrasiert. Mit der Identifizierung des die Kontrafaktizität semantisch implizierenden Avertivs spricht Kuteva (2001, 92) dem Proximativ die dem ursprünglichen Terminus von König innewohnende Eigenschaft der Implikation von Negation nachdrücklich ab und beschränkt ihn als rein aspektuelles Grammem auf das semantische Hauptcharakteristikum der Imminenz. Thirdly, inasmuch as the verb situation is negated, i.e. is contrary-to-fact, the avertive involves the modality domain (Kuteva 2001, 99). [. . .] even when used in the past, the aspectual gram of the proximative should not be regarded as avertive, since the latter – apart from the meaning imminence/ on the verge of V-ing – also has pastness and negation (i.e. counterfactuality) as part of its inherent meaning (Kuteva 2001, 97).
Der Avertiv als ein Marker für eine «beinahe geschehene Handlung» und der Proximativ als ein Grammem der Imminenz werden als zwei eigenständige und übereinzelsprachig anerkannte grammatikalische Kategorien in das World Lexicon of Grammaticalization von Heine/Kuteva (2002) aufgenommen. Als Grammatikalisierungsquellen des Avertivs werden in Heine/Kuteva (2002) copula, fail, love‚ want und near sowie have und go in Kuteva (2001, 86) aufgeführt. Für den Avertiv auf der Basis der Kopula werden von Kuteva (1998) und Heine/ Kuteva (2002) unter anderem das Russische bylo (be.3.SG.PAST.NEUT) plus Hauptverb in der Vergangenheit angeführt, das allerdings noch an einen Adversativsatz (was just about to do something but. . ., nearly did something but. . .) gebunden ist, der die Kontrafaktizität bzw. ¬p explizit macht. (17) Avertiv mit Adversativsatz im Russischen nach Kuteva (1998, 122) Mašina bylo poexala, no. . . be.3SG.PAST.NEUT start.3SG.PAST but car.F ‘The car nearly started out. . .’ / ‘The car was just about to start but. . .’ (Kuteva 1998, 122)
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2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
Es stellt sich allerdings vor dem Hintergrund der systematischen Trennung von Proximativ und Avertiv auf der Grundlage standardisierter pragmatischer Tests nach Schwellenbach (2009) die Frage, inwiefern dieses von Kuteva (1998) als Avertiv verstandene Beispiel, deren Merkmal [+kontrafaktisch] noch an den Adversativsatz gebunden und demzufolge kontextabhängig ist, als eine vom Proximativ unterschiedliche Kategorie verstanden werden kann. In Anlehnung an Schwellenbach (2009) wird das obige Beispiel vielmehr als ein Proximativ verstanden, der die Implikatur ¬p noch nicht konventionalisiert hat. Die von Kuteva (1998; 2001) bereits thematisierte Schwierigkeit der funktionellen Überlappung von Proximativ und Avertiv wird in den folgenden Kapiteln in Anlehnung an Schwellenbach (2009) sowohl synchron als auch diachron aufgelöst werden. Für den Grammatikalisierungspfad Copula > Avertiv werden nach Kuteva (1998) und Heine/Kuteva (2002) das Rumänische und das Finnische sowie von Arkadiev (2011) das Litauische aufgeführt. (18) Kopula > Avertiv im Rumänischen nach Heine/Kuteva (2002, 94) era să cad. be.3SG.IMPF CONJ.PART fall ‘I nearly fell.’ (Coseriu 1976, 104, zitiert nach Heine/Kuteva 2002, 94) (19) Kopula > Avertiv im Finnischen nach Kuteva (1998, 117) Olin kadota kadulla. be.1SG.PST fall.INF in-the-street ‘I nearly fell (down) in the street.’ (Kuteva 1998, 117) (20) Kopula > Avertiv im Finnischen nach Renault/François (2005, 35) Olin kaatua be.1SG.PST fall.INF ‘J’ai failli tomber.’ (i.e. ‘I nearly fell’) (Renault/François 2005, 35) Bei dem Avertivmarker aus der Kopula wird das Auxiliar nach einem Vergangenheitstempus flektiert. Inwiefern sich diese Verbindung von Kopula und Tempusmorphem auxiliarisiert hat, ist noch zu klären. As is the case with other AVERTIVE markers, this grammaticalization is confined to past tense uses of the main verb. It remains to be investigated what exactly the contribution of the copula in this process is; more details and examples from other languages are required (Heine/Kuteva 2002, 94).
2.1 Die typologische Perspektive
19
Im Litauischen wird der Avertiv nach Arkadiev (2011) mit einer periphrastischen Form bestehend aus Partizip Präsens Aktiv mit dem Präfix be- und dem in einem Vergangenheitstempus (spezieller: im simple past oder habitual past)20 stehenden Auxiliar būti (engl. ‘to be’) gebildet.21 (21) Kopula > Avertiv im Litauischen Skubiai už-si-met-e rūb-ą ir buv-o Hurriedly PRV-RFL-throw-PST clothes-ACC.SG and AUX-PST be-iš-ein-a-nt-i, tačiau pri.si.min-e, CNT-PRV-GO-PRS-PA-NOM.SG.F but recall-PST k-o čia at-ej-us-i. what-GEN.SG here PRV-GO-PST.PA-NOM.SG.F ‘She hurriedly slipped the clothes over her and was about to go, but, remembered what she had come here for.’ (LKT, zitiert nach Arkadiev 2011, 42) In Anlehnung an Sližiene (1961) legt Arkadiev (2011) die Möglichkeit nahe, dass die Avertivbedeutung über die Konventionalisierung einer in dem folgenden Beispiel dargestellten interruption implicature im Altlitauischen entstanden ist.22 (22) Interruption implicature im Altlitauischen Tawa tarn-as buw-a be-gan-ans your servant-NOM.SG AUX-PST CNT-pasture-PRS.PA.NOM.SG.M aw-is sawa Tiew-o, ir ateij-a Lęw-as. father-GEN and come-PST lion-NOM.SG sheep-ACC.PL his ‘Your servant has been keeping his father’s sheep, and a lioncame. . .’ (Bretke’s 1579–1590 Übersetzung der Lutherbibel, Sam. 17.34, zitiert nach Ambrazas 1990, 181, zitiert nach Arkadiev 2011, 49)
20 Arkadiev (2011) zeigt zwar die Agrammatikalität das Auxiliars in anderen Tempora auf, verweist aber auch auf Beispiele (in anderer Bedeutung als Avertiv) aus traditionellen litauischen Grammatiken, sodass wir nicht von einem defektiven Verb ausgehen können. 21 Nach Arkadiev (2011, 42) wird diese Form in der litauischsprachigen Literatur traditionell als sudetiniai pradetiniai laikai (‘compound inceptive tenses’) bezeichnet (cf. Dambriūnas 1960, 103–108; Sližiene 1961; Ulvydas, red., 1971, 145–148; Petroniene 2009, zitiert nach Arkadiev 2011, 42). 22 Inwiefern sich die Avertivbedeutung über die Konventionalisierung einer Implikatur entwickelt cf. Schwellenbach (2009).
20
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
Obwohl die Konventionalisierung einer kontrafaktischen Implikatur im Zuge der Auxiliarisierung des Avertivs bereits theoretisch postuliert wird (cf. Bellosta von Colbe 2001a; Schwellenbach 200923), scheint im Gegenwartslitauischen der kontrafaktische Teil der Avertivbedeutung kontextinduziert zu sein, zumal bis auf das folgende Beispiel bei Arkadiev (2011) alle angeführten Avertivbeispiele an einen Adversativsatz gebunden sind oder im Inzidenzschema stehen. (23) Avertivbeispiel im Litauischen nach Arkadiev (2011) Tai aišku tamsu — saul-ė jau buv-o well of.course dark sun-NOM.SG already AUX-PST be-nusileidž-ia-nt-i! CNT-descend-PRS-PA-NOM.SG.F ‘Well, of course it was dark — the sun had almost set by that time!’ (Arkadiev 2011, 52) In dem folgenden Zitat nach Arkadiev (2011) kommen dem Leser jedoch eindeutige Zweifel auf, ob es sich bei diesen vermeintlichen Avertivkonstruktionen nicht ebenfalls um einen Proximativ handeln könnte. [. . .] as an anonymous reviewer rightly points out, this example shows that the Avertive construction can actually denote not just the purely avertive meaning (implying that the imminent event did not occur in reality after all), but also the more general proximative meaning (‘the event is on the verge of happening’) not implying anything particular about the occurrence or non-occurrence of the situation in the real world. I have not systematically studied such uses of the construction, but it seems that they are more or less marginal (Arkadiev 2011, 52).
Die Unsicherheit der Autoren zeigt die Notwendigkeit einer Untersuchung und systematischen Trennung von Proximativ und Avertiv auf. Wie es Jakobson (1959, 236) treffend formuliert hat, ‘unterscheiden sich Sprachen nicht danach, was man in ihnen ausdrücken kann, sondern danach, was man in ihnen ausdrücken muss’: «Languages differ essentially in what they must convey and not in what they may convey.» (Jakobson 1959, 236). Die Avertivbedeutung kann zwar nach Schwellenbach (2009) auch in Form des in Vergangenheitskontexten stehenden Proximativs oder auch durch das romanische
23 Das Modell von Ziegeler (2000; 2006), das ursprünglich für die Herausbildung der Kategorie des Proximativs postuliert worden ist, ist in Schwellenbach (2009) vielmehr hinsichtlich der Genese des Avertivs diskutiert worden.
2.1 Die typologische Perspektive
21
Imperfekt (bekannt als imperfectum de conatu) ausgedrückt werden, aber der Avertiv als eigenständige Kategorie wird nach Schwellenbach (2009), im Gegensatz zu den bisherigen Arbeiten, als eine Kategorie verstanden, die die Avertivbedeutung (kontextunabhängig) ausdrücken muss (cf. Kapitel 3.1.2), wie im Falle des französischen Avertivmarkers aus der Grammatikalisierungsquelle fail. (24) Fail > Avertiv im Französischen La route est glissante et j’ai failli tomber. DEF road be.3SG.PRES slippery and have fail/sin.PAST.PART fall.INF ‘The road is slippery and I nearly fell.’ (Kuteva 2001, 80) Wie im Zuge dieser Arbeit gezeigt wird, zeigt sich der Avertiv in der Konventionalisierung aller drei Komponenten [Vergangenheit], [Imminenz] und [Kontrafaktizität], die durch ihre Unaufhebbarkeit getestet werden kann. (25) Unaufhebbarkeit beider Komponenten24 Jean a failli tomber. ‘Jean wäre beinahe gefallen.’ Polare Komponente: Jean n’est pas tombé. ‘Jean ist nicht gefallen.’ Test: #Jean a failli tomber et, il est tombé. ‘#Jean wäre beinahe gefallen und er ist gefallen.’ Proximale Komponente: Jean était sur le point de tomber. ‘Jean war kurz davor zu fallen.’ Test: #Jean a failli tomber mais il n’était pas sur le point de tomber. ‘#Jean wäre beinahe gefallen, aber er war nicht kurz davor, zu fallen.’ Obwohl die Entwicklung der von Gougenheim (1929) auf das 16. Jahrhundert datierten Avertivperiphrase faillir + Infinitiv zumindest skizziert wurde (Diez 1887, 133; Gougenheim 1929; Klump 2007, 179ss.), sind korpusbasierte diachrone Untersuchungen bisher ausgeblieben, denen sich daher in Kapitel 4.6 auf der Basis einschlägiger französischer Korpora angenommen wird. Der Avertiv im Koreanischen wird nach Kim (2002) durch die Periphrase (u)l ppen ha ausgedrückt, die sich aus der Irrealisform (u)l, der NP ppen mit der Bedeutung ‘the closeness or nearness to the occurrence of the event’ (Kim 2002, 52) und dem Tempusmarker ha zusammensetzt.
24 Cf. Kapitel 4.6.1.
22
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
(26) Avertiv im Koreanischen nach Kim (2002) (a) Nay ka nemeci-l ppen hay-ss- ta. 25 NOM fall ANA PAST D I ‘I nearly fell.’ (Kim 2002, 50) (b) John i cwuk-ul ppen hay-ss-ta. die ‘John almost died.’ (Kim 2002, 50) (c) Nay ka John ul manna-l ppen hay-ss-ta. ACC meet ‘I almost met john.’ (Kim 2002, 50) Zwar liegen noch keine Ergebnisse zur diachronen Entwicklung dieser Konstruktion vor, aber aufgrund der NP ppen (‘the closeness or nearness to the occurrence of the event’) wird eine Entwicklung auf dem bekannten Pfad near > Avertiv vermutet. Der Avertiv im Koreanischen kann auch in Verbindung mit dem Adverb keuy (‘beinahe’) verstärkt werden, wie auch für das peninsulare Spanisch von Schwellenbach (2009) gezeigt worden ist und in Kapitel 3.2 ausführlich am Beispiel der romanischen Sprachen behandelt wird. (27) Avertivverstärkung mit dem Adverb keuy (‘beinahe’) im Koreanischen (a) Namwu ka keuy nemeci-ess- ta. NOM almost fall PAST D tree ‘The tree almost fell.’ (Kim 2002, 52) (b) Koki ka keuy cwuk-ess- ta. PAST D Fish NOM almost die ‘Fish almost died.’ (Kim 2002, 52) (c) Nay ka il ul keuy kkuthnay-ss- ta. NOM work ACC almost finish PAST D I ‘I almost finished my work.’ (Kim 2002, 52) Ein Beispiel für den Avertiv auf der Grundlage des Possession Schema (‘X has Y’) zeigt sich nach Kuteva (2001) im Galicischen:
25 ANA und Avertiv werden synonym verwendet: ANA (Action narrowly averted) war der vorläufige Terminus für den Avertiv aus dem früheren Aufsatz von Kuteva (1998), der erst in Kuteva (2001) von ANA in Avertiv umbenannt wurde.
2.1 Die typologische Perspektive
23
(28) Possession > Avertiv im Galicischen Houbemos de caer por aquel burato. have.1SG.PERF from/off fall through this hole ‘We nearly fell down’ (Narumov 1987, 98, zitiert nach Kuteva 2001, 79) In welchem Jahrhundert sich der Avertiv im Galicischen allerdings herausgebildet hat, welchen Grammatikalisierungsprozess er vollzogen hat und weshalb die anderen romanischen Sprachen und insbesondere das Portugiesische keinen gegenwärtigen Avertiv (mehr) auf der Grundlage des Possession-Schemas besitzen, ist bislang unerforscht und wird in Kapitel 4.4 diachron untersucht werden. Für den Grammatikalisierungspfad des Avertivs auf der Grundlage des Motion Schema (‘X moves to/from Y’) führt Bellosta von Colbe (2001a; 2001b; 2004b) Beispiele aus dem Portugiesischen an: (29) Motion > Avertiv im Portugiesischen nach Bellosta von Colbe (2001a; 2001b) (a) O doente vai melhor, mais ia matando o medico! (R. da Silva, Mocidade, 260; Dias 19705, 247, zitiert nach Bellosta von Colbe 2001b, 161) (b) O rapaz atravesou a rua sem olhar e ia sendo atropelado pelo automóvel. (Caetano et al. 1986, 53, zitiert nach Bellosta von Colbe 2001b, 161) ‘Der Junge überquerte die Straße ohne sich umzusehen und wäre beinahe von einem Auto überfahren worden.’ Weitere Beispiele auf der Grundlage des Motion Schema werden insbesondere in dem Ausblick in Kapitel 5.2 diskutiert. Auf der Grundlage des Volition-BES bildet sich neben dem Proximativ auch der Avertiv heraus, wie Kuteva (1999, 30) für das Bulgarische bei sowohl belebten Subjekten (Beispiel a) als auch unbelebten Subjekten (Beispiel b) zeigt. (30) Avertiv im Bulgarischen nach Kuteva (2001, 83) (a) Navăn be xlăzgavo i štjax da padna. outside was slippery and want.1SG.PAST CONJ.PTCL fall.1SG.PRES ‘It was slippery outside and I nearly fell down.’ (Kuteva 2001, 83) (b) Vazata šteše da se sčupi vase.the want.3SG.PAST CONJ.PTCL REFL break.3SG.PRES ‘The vase nearly broke down.’ (Kuteva 2001, 83)
24
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
Der Grammatikalisierungspfad des Avertivs (ursprünglich ANA, i.e. Action Narrowly Averted26) auf der Basis des Volition-BES nach Kuteva (1998; 2001) wird in Tabelle 2 illustriert. Tabelle 2: Grammatikalisierungspfad past volition > ANA nach Kuteva (1998, 139). STAGE
TYPE OF EVENT SCHEMA
CONTEXTUAL ATTRIBUTES
. Past Volition
Person X wanted item Y
[Y refers to a concrete item]
I. Past Volition/ Intention Person X wanted to do Y
[Y refers to a dynamic situation]
II. Counterfactual
X was going to undergo Y but Y does not take place
[Y is a potential but unrealized event]
III. ANA
X was about to undergo Y but Y does not take place
[X was close to entering situation Y but Y does not take place]
Das von Kuteva (1998, 139) als counterfactual (‘kontrafaktisch’) bezeichnete Stadium II kann allerdings in Anlehnung an Schwellenbach (2009) auch lediglich als Proximativ verstanden werden, der in dem sich anschließenden dritten Stadium durch die Konventionalisierung einer kontrafaktischen Implikatur in den Avertiv grammatikalisiert. Diese Vermutung des Grammatikalisierungspfades, dass der Proximativ in den Avertiv grammatikalisiere, wurde bereits von Bellosta von Colbe (2001a; 2001b) in Opposition zu der von Kuteva (1998) postulierten Grammatikalisierungsrichtung Avertiv > Proximativ nahegelegt. Kuteva (1998, 151s.; 2001, 103) nimmt den entgegengesetzten Grammatikalisierungspfad an, nach welchem der Avertiv in einem vierten Stadium (Stage IV) in den Proximativ durch den Abbau der Merkmale [+Vergangenheit] und [+Kontrafaktizität] grammatikalisiert.27 avertive: imminence → proximative: imminence pastness counterfactuality (Kuteva 2001, 103)
26 Kuteva (1998) nennt dieses Grammem zunächst provisorisch ANA (Action Narrowly Averted), bis sie (Kuteva 2001) sich dann endgültig für den Terminus avertive entscheidet. 27 Auch wenn Kuteva den Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ (Generalisierung) nahelegt, zeigt sie an anderer Stelle (Kuteva 1999; 2001) die Möglichkeiten der Spezifizierung in Grammatikalisierungsprozessen (Specification in grammar) auf, die zumindest einen theoretischen Zugang zu dem entgegengesetzten Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv (generalisiert > spezifisch) begünstigen.
2.1 Die typologische Perspektive
25
Den Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ postuliert Kuteva (2001) auf der Grundlage einiger Beispiele des Türkischen und Bulgarischen. Der Avertiv im Türkischen setzt sich nach Kuteva (2001, 104) zuerst aus einer nach Gerundium flektierten Verbalform und dem Auxiliar -yaz- (mit der ursprünglichen Bedeutung ‘make error, sin; offend; miss; lose one’s way’) zusammen, wie das folgende Beispiel illustriert. (31) Avertiv im Türkischen öl- e- yazdi ‘He nearly died’ (Kuteva 2001, 104) Dieser hat sich nach Kuteva (2001, 104) in Anlehnung an Clauson (1972) dann anschließend zu einem Proximativ be on the point of grammatikalisiert. Es liegen allerdings keine diachronen Daten vor, wann sich dieser theoretisch postulierte Grammatikalisierungspfad im Türkischen ereignet haben soll. Eine Verifizierung anhand diachroner Korpora zum Türkischen steht demzufolge noch aus. Das Bulgarische lässt Kuteva (2001, 104) ebenfalls von einem Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ ausgehen. In dem folgenden auf dem Volitionsschema basierenden Beispiel wird nicht mehr der Avertiv, sondern lediglich noch die Imminenz in einem Vergangenheitskontext ausgedrückt. (32) Proximativ im Bulgarischen Kogato Milena šteše da ulovi druga when Milena want.3SG.PAST CONJ.PTCL catch.3SG.PRES another ulica, tja vidja na zeljaznata češma, če se miexa street she saw on iron water-tap that REFL wash.3PL.PAST njakolko soldati. . . several soldiers ‘When Milena was just about to turn into another street, she saw that several soldiers were washing themselves at the iron water-tap. . .’ (Kitina 1991, 104, zitiert nach Kuteva 2001, 104) Es handelt sich nach Kuteva (2001, 104) um ein noch an Vergangenheitskontexte gebundenes frühes Grammatikalisierungsstadium des Proximativs. In Gegenwarts- oder Futurkontexten kann der Proximativ im Bulgarischen nach Kuteva (2001, 104s.) lediglich lexikalisch ausgedrückt werden. Dieser von Kuteva (2001, 104) postulierte Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ müsste allerdings ebenfalls noch anhand diachroner Korpusdaten verifiziert werden.
26
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
Das Ausstehen einer sprachhistorischen Verifizierung dieser lediglich theoretisch postulierten Grammatikalisierungspfade hat nicht zuletzt die von Kuteva (2001, 85–99) als problematisch empfundene linguistische Identifizierung des Avertivs zur Folge (cf. Kapitel 1). Das nach Kuteva (2001) frühe Grammatikalisierungsstadium des Avertivs, bei dem die konversationelle Implikatur the action did not actually take place noch nicht konventionalisiert ist, sondern noch über den Kotext inferiert werden muss (bzw. oftmals explizit über die adversative Konjunktion but eingeleitet wird), wird nach Schwellenbach (2009) vielmehr als ein Proximativ (i.e. Imminenzgrammem) verstanden, der die Implikatur ¬p noch nicht konventionalisiert hat. In theoretischer Betrachtung werden wir in Anlehnung an Schwellenbach (2009; 2013) zeigen, dass sich im Zuge der Konventionalisierung dieser kontrafaktischen Implikatur des Proximativs ein Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv ereignen kann – im Gegensatz zu der von Kuteva (1998; 2001) postulierten (aber nicht historisch verifizierten) entgegengesetzten Grammatikalisierungsrichtung Avertiv > Proximativ. Die beiden von Kuteva (1998; 2001) aus typologischer Perspektive identifizierten Grammeme lassen demzufolge noch viele Fragen hinsichtlich ihrer diachronen Verwandtschaft offen, die in sprachhistorisch-vergleichender Perspektive korpusbasiert zu untersuchen sind.
2.2 Die sprachhistorische Perspektive Grammatikalisierungstheorien werden vorwiegend am theoretischen Idealfall konzipiert (cf. Lehmann 2002; Heine/Kuteva 2002, 2; Hopper/Traugott 2003) und sind nicht in erster Linie anhand empirischer sprachhistorischer Korpusdaten rekonstruiert worden. Die historische Entwicklung der Kategorien von genetisch nicht verwandten Sprachen, denen unterschiedliche Systeme zugrunde liegen, ist bekanntlich nur bedingt vergleichbar und muss keineswegs parallel verlaufen (cf. Böhmer 2010, 22s.; Raible 2001). Die sprachhistorische Perspektive wird als eine notwendige Ergänzung für die Verifizierung der typologisch identifizierten Kategorien angesehen. Zu den Kategorien Proximativ und Avertiv ist lediglich eine überschaubare Anzahl an korpusbasierten Untersuchungen durchgeführt worden, auf die im Folgenden kurz eingegangen wird. Das englische be about to ist im Hinblick auf Proximativ und Avertiv von Bergs (2005) korpusbasiert diachron untersucht worden. Nach Bergs (2005, 169)
2.2 Die sprachhistorische Perspektive
27
ist die Konstruktion be about to «im Sinne des Proximativs oder Avertivs»28 (Bergs 2005, 169) erst im 16. Jahrhundert auffindbar: (33) be about to im Frühneuenglischen (a) They were aboute to go for to descrybe the londe. (1535 Coverdale, Josh. xviii. 8, OED,29 s.v. about, zitiert nach Bergs 2005, 169) (b) To be about or ready to flie awaye. (1580 Baret, Alvearie, OED, s.v. about, zitiert nach Bergs 2005, 169) (c) And when the seuen thunders had vttered their voices, I was about to write. (1611 Bible Rev. x. 4, OED, s.v. about, zitiert nach Bergs 2005, 169) Bergs (2005, 169s.) kann die diachrone Entwicklung des englischen Proximativs be about to aufgrund der geringen Vorkommenshäufigkeit in den Korpora allerdings nicht hinreichend zeigen.30 Die Untersuchung wird erheblich dadurch erschwert, dass diese Konstruktion insgesamt relativ selten auftritt und bislang keine empirischen, korpusbasierten Studien hierzu vorliegen (Bergs 2005, 165).
Auf der Grundlage der Korpora FLOB (‘Freiburg–LOB Corpus of British English’), FROWN (‘Freiburg-Brown corpus of American English’) und BNC (‘British National Corpus’) gelangt Bergs (2005, 165s.) zu folgenden Vorkommenshäufigkeiten: In FLOB und FROWN (zusammen etwa zwei Millionen Worte) finden sich insgesamt nur ca. 95 Vorkommen von (be) about to, lediglich zwei von (be) on the point of V-ing und (be) on the verge of V-ing, und kein einziges (be) on the brink of V-ing. Die Zahlen aus dem British National Corpus (BNC) (Abb. 4.19 unten) bestätigen im Wesentlichen dieses Ergebnis. Be about to liegt auch hier mit fast 85% (N = 45,78 Token) der Gesamtvorkommen (N = 54,48 pro einer Million Worte) klar in Führung, gefolgt von be on the verge of mit ca. 7,5% und be on the point of (ca. 4,5%) bzw. be on the brink of (ca. 4%) (Bergs 2005, 165s.).
28 Bergs (2005) nimmt, wie die meisten Linguisten, noch keine systematische Trennung der Kategorien «Proximativ» und «Avertiv» vor, die wir in dieser Arbeit anhand der von Schwellenbach (2009) dargelegten pragmatischen Tests als zwei voneinander unterschiedliche Kategorien betrachten werden. 29 OED = Oxford English Dictionary. 30 Eine geringe Vorkommenshäufigkeit geht bekanntlich mit einem eher geringen Grammatikalisierungsgrad einher. Analog zum englischen be about to wird im diachronen Teil dieser Arbeit die geringe Vorkommenshäufigkeit aus der Grammatikalisierungsquelle der Kopula auch in den romanischen Sprachen aufgezeigt werden.
28
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
Die Korpusbelege werden von Bergs (2005, 166) in der folgenden Abbildung 1 illustriert. 50 40 30 Token pro 1 Million Worte 20
BNC Frown/Flob
10 0 be about to
be on the point of
be on the verge of
be on the brink of
Abbildung 1: Proximativkonstruktionen im BNC und in FROWN/FLOB (Bergs 2005, 166).
Bergs (2005, 169s.) vermutet hinsichtlich be about to eine ähnliche Entwicklung zu be on the verge of, be on the brink of und be on the point of basierend auf dem Location Schema (‘X is at Y’/‘X is near Y’), bei der be about to von einem ursprünglichen Lokationsmarker (about = around) über einen Ausdruck der «physische[n] Gegenwart im Sinne der Bereitschaft» (Bergs 2005, 170) zu einem Purposivmarker wird, aus dem sich der Proximativ entwickelt. Folgende Beispiele führt Bergs (2005, 170) zur Illustration des Zwischenschrittes «to be engaged in, to be busied in preparation for, to be scheming, preparing, or intending» (OED, s.v. about, zitiert nach Bergs 2005, 170) an. (34) be about to (‘to be engaged’, ‘preparing’, ‘intending’) im Mittelenglischen (a) Satan is ʒeorne abuten uorto ridlen þe ut of mine corne! Satan is gone about for to drive you out of my corn! (c1230 Ancrene Riwle 234, OED, s.v. about, zitiert nach Bergs 2005, 170) (b) Thou woldest falsly ben aboute To love my lady. (c1386 Chaucer Knight’s Tale 284, OED, s.v. about, zitiert nach Bergs 2005, 170) (35) be about to (‘to be engaged’, ‘preparing’, ‘intending’) im Frühneuenglischen The deuell hath beene of long tyme aboute to bring in this snare for priests. (1541 R. Barnes Wks. 1573, 325/2, OED, s.v. about, zitiert nach Bergs 2005, 170) Dem folgenden Beispiel wird von Bergs (2005, 170) die Avertivbedeutung zugeschrieben:
2.2 Die sprachhistorische Perspektive
29
(36) Avertivbedeutung von be about to im Mittelenglischen nach Bergs (2005, 170) She was just about to gain sanctuary behind the safety of her own door when Jill said clearly, «If Mr Bad Baby phones again, should I give him a message from Mommy Bunny?» «Yes,» said Maria, turning to her (FLOB, Text k, zitiert nach Bergs 2005, 170) Von den in den Korpora FLOB und FROWN belegten 60 Fällen der Konstruktion be about to im Präteritum stehen nach Bergs (2005, 171) 34 Fälle (56,6%) im Avertiv.
Tabelle 3: Avertive und proximative Bedeutung von be about to in FROWN und FLOB (Bergs 2005, 171). Avertiv
Proximativ
Negation
Gesamt
Futur Prät. Präs.
Gesamt
Es handelt sich demzufolge noch um eine kontextabhängige Funktion, die von Bergs (2005), in Anlehnung an bisherige Ansätze, als Avertiv verstanden wird. Tatsächlich aber ist ein nicht unwesentlicher Teil der Bedeutung avertiv: Die Konstruktion impliziert oft, insbesondere im Präteritum, dass die Handlung oder das Ereignis nicht stattgefunden hat (Bergs 2005, 170).31
Diese als Avertiv bezeichnete kontextabhängige Funktion, wie sie auch anhand der Beispiele von Kuteva (1998; 2001) nahegelegt werden, könnte allerdings in Anlehnung an Schwellenbach (2009) auch als Proximativ mit der Implikatur ¬p verstanden werden, was eine weitere eingehendere Untersuchung der Kontexte erforderlich machen würde. Des Weiteren zeigen Kytö/Romaine (2005) die historische Entwicklung der englischen Konstruktion be/have + like + Infinitiv korpusbasiert auf, deren Avertivbedeutung (had like to + Inf.) erstmalig Mitte des 15. Jahrhunderts und
31 Aus der Formulierung «impliziert oft» lässt sich entnehmen, dass die Avertivbedeutung lediglich als pragmatisch impliziert (bzw. implikatiert) vorliegt.
30
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
letztmalig im Jahre 1773 in dem geschriebenen Englisch nachgewiesen wird. Die von Kytö/Romaine (2005) angeführten Korpusbelege illustrieren die Avertivbedeutung innerhalb eines Konditionalsatzes, dessen Kontrafaktizität allerdings sowohl in Verbindung mit dem past perfect (hadde had) in der Protasis als auch in Verbindung mit dem (erst ab dem Mittelenglischen und mit sichtbarer Frequenz erst ab dem 14. Jahrhundert gebrauchten) Infinitiv Perfekt (to have sette/to have be fechid) in der Apodosis ausgedrückt wird. (37) Avertivbedeutung had like to + Inf. im Mittelenglischen (a) by on the mynsteris oft he said Cathedrall Churche was sette afire, and began to brenne, and yf hit hadde had his course lyke to have sette a fyre and brende the cheif and grete parte of the citee (1447, Helsinki ME4, John Shillingford, Letters and Papers of John Shillingford, p. 87, zitiert nach Kytö/Romaine 2005, 3) ‘One of the minsters of the said Cathedral church was set afire and began to burn, and if it had its course, would have come close to setting a fire and burning the chief and great part of the city.’ (Kytö/Romaine 2005, 3) (b) As for tydyngys in this contré, Henry Ingloses men have slayn ij men of Tonsted on Thursday last past, as it is seyd, and all pat contré is sore trobelid perwith; and if he had adebyn at hom he had be lyke to have be fechid owte of his owyn hows, for the peple per-abowgth is sore mevod with hym. (1453, Paston Letters, Margaret Paston, Letter 149, to (husband) John Paston, zitiert nach Kytö/Romaine 2005, 3). ‘As far as news in this country is concerned, Henry Inglos’s men have slain nine men of Tonsted last Thursday, as it is said, and all that area is very troubled. If he had been at home, he would have come close to being fetched out of his own house because the people in those parts are very upset with him.’ (Kytö/Romaine 2005, 3) Die Avertivkonstruktion hat sich bis zum 19. Jahrhundert aus dem Standardenglischen vollständig abgebaut und lediglich Relikte in der gesprochenen Sprache in einzelnen regionalen Varietäten des britischen und amerikanischen Englisch hinterlassen (cf. Kytö/Romaine 2005, 16). Gründe für das Verschwinden aus dem Standardenglischen führen Kytö/Romaine (2005) zwar nicht an, jedoch könnte die Entstehung und ansteigende Frequenz alternativer (lexikalischer) Möglichkeiten (almost, nearly, etc.) die Notwendigkeit der Avertivkonstruktion überflüssig gemacht haben. Nachfolgende Untersuchungen müssten demzufolge auch die Diachronie weiterer lexikalischer Avertivkonstruktionen und etwaiger weiterer
2.2 Die sprachhistorische Perspektive
31
periphrastischer Avertivausdrücke und Proximativausdrücke mit avertiver Inferenzziehung in Vergangenheitskontexten miteinbeziehen. Hinsichtlich der romanischen Sprachen sind die von Kuteva (2001) und Bellosta von Colbe (2001a; 2001b; 2004) dargelegten Grammatikalisierungspfade des Avertivs auf Grundlage der Schemata Volition, Possession (lat. HABERE), Motion (lat. IRE/ANDARE/VENIRE), Location bzw. Copula (vlat. *ESSERE/STARE/SEDERE) und Fail (vlat. *FALLIRE > fr. avoir failli + Infinitiv) noch korpusbasiert diachron sowie in sprachvergleichender Perspektive zu verifizieren. Die Romanistik befindet sich im Gegensatz zu den meisten anderen philologischen Nachbardisziplinen in der für eine sprachhistorische Untersuchung besonders prädestinierten Lage, indem sie nicht nur die romanischen Sprachen von den ersten Sprachdenkmälern bis in die Gegenwart überliefert hat, sondern auch die gemeinsame Grundlage, das Lateinische, zur empirischen Verifizierung theoretischer Modelle nutzen kann. Diese genetische Verwandtschaft der romanischen Sprachen, die in einer einheitlichen Grundlage des romanischen Verbalsystems mündet, schafft die Voraussetzung für die Vergleichbarkeit der Sprachen. Die kontextreichen romanischsprachigen Korpusdatenbanken32 begünstigen eine Untersuchung pragmatischer Faktoren, die in frühen Grammatikalisierungsprozessen eine besondere Rolle spielen. Die Konventionalisierung konversationeller Implikaturen ist bekanntlich eine Form des frühen Grammatikalisierungsstadiums, bei der der Schritt von einer pragmatischen (i.e. kontextabhängigen) zu einer semantischen (i.e. kontextunabhängigen) Bedeutung erfolgt (cf. Traugott/König 1991; Traugott/Dasher 2002; Hopper/Traugott 2003; Hansen/Waltereit 2006; Nicolle 2007). Der ursprüngliche Grammatikalisierungsverlauf discourse > syntax des allgemein akzeptierten Grammatikalisierungsprozesses discourse > syntax > morphology > morphophonemics > zero (Givón 1979, 209) könnte demzufolge auch in pragmatics > semantics > syntax > morphology > morphophonemics > zero abgeändert werden. Einen ersten theoretischen Zugang zu der pragmatischen Entwicklung in der Grammatikalisierung der beiden miteinander verwandten Kategorien liefert Ziegeler (2000; 2006), die das Zusammenspiel Q-basierter und R-basierter Implikaturen nach Horn (1984) im Hinblick auf den von almost ausgedrückten proximative aspect aufzeigt. Ziegeler (2000) spricht sich in Anlehnung an Kuteva (1998; 2001) für einen Grammatikalisierungspfad von Avertiv zu Proximativ (proximative aspect) aus, den sie für almost postuliert. Nach Ziegeler (2000) habe das Adverb almost den Grammatikalisierungspfad ANA (i.e. Avertiv)
32 Aufgrund der großen Anzahl an konsultierten Korpusdatenbanken in dieser Arbeit wird an dieser Stelle lediglich auf Kapitel 7 verwiesen.
32
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
> Counterfactual > Proximativ durchlaufen und sei zu einem Proximativ geworden, der ¬p über eine konversationelle Implikatur generalisiert habe.
Tabelle 4: Pragmatic developments in the grammaticalization of proximatives (Ziegeler 2000, 1762). Stage I:
proximity to X (prediction of X via R-based implicatures)
Stage II:
proximity to X, but Y, therefore not-X (prediction of X is explicitly cancelled, inducing Q-based implicatures)
Stage III:
proximity to X (but Y, therefore not-X) (cancellation is omissible, and implicit)
Stage IV:
proximity to X (‘not X’ generalised as part of the meaning)
Nach Ziegeler (2000) wird mit einer imminenten Handlung das Eintreten der nicht-modalisierten, faktisch stärkeren Aussage p (bzw. X) R-implikatiert33 (Stage I). Diese R-basierte Implikatur des Eintretens von p wird in Stage II mit einem Adversativsatz oder Temporalsatz, der eine zu p gegensätzlich oder widersprüchlich verhaltende Information enthält, explizit aufgehoben (proximity to X, but Y). Durch diese Aufhebung der R-basierten Implikatur von p wird nach Ziegeler (2000) eine Q-basierte Implikatur ausgelöst, die zur implikatierten Bedeutung der Kontrafaktizität führt (proximity to X, but Y, therefore not-X). Die kontrafaktische Implikatur basiert auf der Kontextbewertung des Empfängers, nach der die sich potentiell zu realisierende Handlung nicht eingetreten sein kann. Der Empfänger inferiert aus dem Kontext die Begleitumstände für ¬p,
33 Horn’s (1984; 1989; 2004) hörerbasiertes Q-Prinzip (Make your contribution sufficient. Say as much as you can.) basiert auf der ersten Grice’schen (1975) Submaxime der Quantität (Make your contribution as informative as is required) sowie der ersten (Avoid obscurity of expression) und zweiten Submaxime der Modalität (Avoid ambiguity), während sein sprecherbasiertes RPrinzip (Make your contribution necessary. Say no more than you must) auf der zweiten Submaxime der Quantität (Do not make your contribution more informative than is required), der Maxime der Relation (Be relevant) sowie der dritten (Be brief) und vierten Submaxime der Modalität (Be orderly) beruht. Nach Horn (1984, 20s.) Q-implikatiert die Assertierung einer faktisch schwächeren Aussage W (‘weaker version’) die Negierung der faktisch stärkeren Aussage S (‘stronger version’), kurz: W Q+> ¬S. Es führt zu den bekannten skalaren Implikaturen nach Levinson (1983; 2000a), mit denen obere Grenzen gesetzt werden, das heißt, die mehr Informationen als das explizit Gesagte ausschließen. Im Falle der R-basierten Implikaturen werden hingegen untere Grenzen gesetzt, sodass mehr Informationen als das explizit Gesagte gegeben werden, kurz: W R+> S. Für eine detailliertere Ausführung sei insbesondere auf Kapitel 3.2.2.2 verwiesen.
2.2 Die sprachhistorische Perspektive
33
die den Eintritt der potentialen Proximativkonstruktion unmöglich machen würden. Deshalb treten kontrafaktische Implikaturen nach Ziegeler (2000, 1771) vor allem in Umgebungen mit großer Informationsdichte zu ¬p auf und folgen dabei dem «CFI (Counterfactual implicature) – Prinzip». Dieses Prinzip besagt nach Ziegeler (2000), dass die Stärke einer Implikatur an der Informationsgenauigkeit ihres Kontextes gemessen werden kann: Die Inferenz einer kontrafaktischen Implikatur ist dabei umso größer, je genauere Kontextinformationen zu ¬p gegeben werden. Das zweite Stadium wird von ihr als die von Kuteva (1998) identifizierte Kategorie ANA (Action narrowly averted; entspricht nach der Umbenennung von Kuteva 2001 dem «Avertiv») bezeichnet. Ziegeler (2000; 2006) orientiert sich allerdings an den von Kuteva (1998; 2001) gegebenen Beispielen zum Avertiv (cf. Kapitel 2.1), in denen das Merkmal [+Kontrafaktizität] erst durch den Kontext, und zwar explizit in einem Adversativsatz, ausgedrückt wird. In Anlehnung an Schwellenbach (2009) ist dieses Stadium allerdings vielmehr als ein Proximativ zu verstehen, da ¬p noch explizit über den Kotext ausgedrückt werden muss und noch kein Bestandteil der Konstruktion geworden ist. Solange ¬p noch kein Bestandteil der Konstruktion (z.B. durch Konventionalisierung) geworden ist und explizit ausgedrückt werden muss, handelt es sich entsprechend noch nicht um einen Avertiv im Sinne einer eigenständigen Kategorie (cf. Kapitel 3.1; Kapitel 3.2). In einem dritten Stadium, das Ziegeler (2000) als Counterfactual bezeichnet, muss die Aufhebung der R-basierten Implikatur nicht mehr im expliziten Kotext erfolgen. Da die Imminenz bzw. Proximität (proximity to X) nicht verloren geht, nehmen wir in unserer Modifikation lediglich einen Proximativ mit der kontrafaktischen Implikatur ¬p an. In einem vierten Stadium wird die Implikatur ¬p nach Ziegeler (2000; 2006) zu einer GCI (generalized conversational implicature ‘generalisierte konversationelle Implikatur’) generalisiert in der Form proximity to X (‘not X’ generalised as part of the meaning). Die von Ziegeler (2000; 2006) theoretisch postulierte pragmatische Entwicklung zur Beschreibung von Kutevas postulierten Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ ist allerdings rein hypothetisch zu verstehen und noch empirisch zu verifizieren. The stages illustrated in this way would suggest that counterfactuality followed the ANA stage, but without suffient actual examples of languages at different stages of historical development. For the moment, it stands as a hypothesised explanation for the role of Q-based inferences demonstrating the pragmatic developments in the grammaticalisation of proximatives (Ziegeler 2006, 164).
34
2 Proximativ und Avertiv als übereinzelsprachliche Kategorien
In Anlehnung an Schwellenbach (2009; 2013) kann die von Ziegeler (2000; 2006) postulierte pragmatische Entwicklung allerdings auch in geringfügiger Modifikation als Grundlage einer Argumentation für eine zunehmende ¬p-Konventionalisierung des Proximativ im Zuge eines entgegengesetzt verlaufenden Grammatikalisierungspfades Proximativ > Avertiv genommen werden. Im Gegensatz zu dem Modell von Ziegeler (2000), in dem der Grammatikalisierungspfad ANA (i.e. Avertiv) > Counterfactual > Proximativ nahegelegt wird, werden in Anlehnung an Schwellenbach (2009) die ersten drei Stadien lediglich als Proximativ gesehen, in denen dieser die Möglichkeit der Annahme einer kontrafaktischen Implikatur entwickelt und durch diese mit dem Avertiv zunächst lediglich funktionell überlappt. In dem vierten Stadium, in dem sich nach Ziegeler (2000) der Proximativ über die GCI ¬p entwickelt, wird in dem modifizierten Modell nach Schwellenbach (2009) die Implikatur ¬p konventionalisiert (i.e. die pragmatische Bedeutung wird zu einer semantischen Bedeutung) und der Proximativ grammatikalisiert auf diese Weise in den Avertiv. Tabelle 5: Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006). Ziegeler (; )
Schwellenbach (; )
Stage I:
proximity to X (prediction of X via R-based implicatures)
—
proximative +> p
Stage II:
proximity to X, but Y, therefore not-X (prediction of X is explicitly cancelled, inducing Q-based implicatures)
avertive +> ¬p
proximative +> ¬p
Stage III:
proximity to X (but Y, therefore not-X) (cancellation is omissible, and implicit)
counterfactual
proximative +> ¬p
Stage IV:
proximity to X (‘not X’ generalised as part of the meaning)
proximative +> ¬p (GCI)
avertive [was about to take place but did not take place]
Die theoretisch postulierten pragmatischen Entwicklungen im Hinblick auf die beiden kontrovers diskutierten Grammatikalisierungspfade, Avertiv > Proximativ (cf. Kuteva 1998; 2001; Ziegeler 2000; 2006) und Proximativ > Avertiv (cf. Bellosta von Colbe 2001a; Schwellenbach 2009), sind in dem semasiologisch
2.2 Die sprachhistorische Perspektive
35
ausgerichteten Apparat in diachroner Perspektive korpusbasiert zu untersuchen. Die sprachhistorisch-vergleichende Untersuchung in Kapitel 4 setzt sich daher zum Ziel, die bislang kontrovers diskutierte Frage der Richtung der Grammatikalisierungspfade von Proximativ und Avertiv am Beispiel der romanischen Sprachen aufzudecken. Das für den entgegengesetzten Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv von uns modifizierte Modell wird sowohl anhand lexikalischer Konstruktionen in Kapitel 3.2.1 als auch periphrastischer Konstruktionen in Kapitel 3.2.2 korpusbasiert am Beispiel der romanischen Sprachen dargelegt werden. Voraussetzung der diachronen Untersuchung in Kapitel 4 ist die Etablierung der Kategorien in ein theoretisches Modell, in welchem Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu anderen mit ihnen verwandten Grammemen (wie «unmittelbares Futur» und «prospektiver Aspekt») und modalen Funktionen (wie imperfectum de conatu und «frustrierte Imminenz») zunächst synchron definiert werden können. In einer synchronen Untersuchung ist der pragmatische Status von ¬p sowohl bei lexikalischen Konstruktionen, wie almost, als auch bei grammatischen Konstruktionen zu überprüfen, um eine Identifizierung als entweder Proximativ oder Avertiv an der Pragmatik/Semantik-Schnittstelle zu ermöglichen.
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv In den folgenden beiden Unterkapiteln werden die Kategorien Avertiv und Proximativ von den verwandten Kategorien «(unmittelbares) Futur» und «prospektiver Aspekt» sowie von den oftmals als «modale Funktionen» betrachteten Termini, imperfectum de conatu und «frustrierte Imminenz», definitorisch voneinander abgegrenzt. Hierbei wird in Kapitel 3.1.1 zunächst die semantische Relation von Proximativ, dem Futur und dem prospektiven Aspekt untersucht. Anschließend werden in Kapitel 3.1.2 die Kategorien Proximativ und Avertiv von den Termini imperfectum de conatu und der «frustrierten Imminenz» abgegrenzt und die von Kuteva (1998; 2001) problematisierte und derzeit noch ungelöste funktionelle Überlappung der beiden Kategorien mithilfe semantisch-pragmatischer Tests aufgelöst werden. Nach dieser neuen definitorischen Abgrenzung und der Etablierung dieser Kategorien in das romanische Verbalsystem, werden syntaktische, semantische und pragmatische Kriterien aufgestellt, die eine systematische Identifizierung der Kategorien Avertiv und Proximativ ermöglichen und die Grundlage für die sich anschließende diachrone Untersuchung schaffen.
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien 3.1.1 Proximativ, (unmittelbares) Futur und prospektiver Aspekt Bis dato besteht in der Forschung kein Konsens hinsichtlich der definitorischen Abgrenzung der Termini «(unmittelbares) Futur», «prospektiver Aspekt» und «Proximativ», was nicht zuletzt mit der Überlappung gemeinsamer modaler und aspektueller Funktionen einhergeht. Nicht selten werden neben temporalen Kategorien auch aspektuelle und modale Verbalperiphrasen unter dem Hyperonym «Futurität» subsumiert. Detges/Waltereit (2016, 641) bezeichnen die spanischen imminentiellen Periphrasen estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv (sowie Mittelfranzösisch être pour + Infinitiv34) vielmehr als Future markers. Bybee/Perkins/Pagliuca (1994, 244s.) denotieren das auf Imminenz
34 Die Periphrase être pour + Inf. zum Ausdruck des Proximativs findet sich vereinzelt auch noch im Gegenwartsfranzösischen (cf. Kapitel 4.5.4). https://doi.org/10.1515/9783110526745-003
38
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
beschränkte Grammem als «unmittelbares Futur» (immediate future) und stellen die Frage nach den noch genauer zu analysierenden modalen und aspektuellen Funktionen. A future gram restricted to referring to events which are imminent or about to occur is an immediate future. The database contains thirty-nine grams which have immediate future as a use, making immediate futures the most commonly occuring type of future gram after simple futures. Thirty of these are primary futures; the other nine are aspectual futures. While in many cases the designation of ‘immediate future’ may indeed mark a temporal distinction, we suspect that in some cases other modal or aspectual nuances that are difficult to describe may be involved (Bybee et al. 1994, 244s.).
Des Weiteren besteht kein Konsens unter den Linguisten, ob eine hyponymische («taxonomische Inklusion») oder eine kohyponymische Relation («taxonomische Exklusion») des «Prospektivs» zur «Imminenz» beziehungsweise zum Proximativ vorliegt: In Anlehnung an Comrie (1976, 64s.; 1985), der den «Proximativ» (to be about to und to be on the point of) unter dem prospektiven Aspekt einordnet, betrachtet Erelt (2009) die Kategorien Avertiv und Proximativ als Subkategorien des Prospektivs, indem er den Proximativ als «unmarkierten Prospektiv» und den Avertiv als den «markierten Prospektiv» bezeichnet. In dieser taxonomischen Inklusion werden imminentielle Periphrasen, wie estar a punto de + Infinitiv, von prospektiven Periphrasen, wie sp. ir a + Infinitiv (kat. anar a + Infinitiv etc.), terminologisch zwar voneinander unterschieden, aber im weiteren Sinne der übergeordneten Kategorie Prospektiv untergeordnet.35 Nach Coseriu (1976) und Dietrich (1973) kann im engeren Sinne hingegen auch die ursprünglich kohyponymische Relation von «imminentieller Phase» (sp. estoy por escribir), die die Betrachtung der Handlung vor ihrem Beginn mit der Bedeutung ‘im Begriff sein etwas zu tun’ beinhaltet,
imminentiell
ingressiv36 progressiv kontinuativ regressiv konklusiv egressiv
Abbildung 2: Kategorie der Phase nach Coseriu (1976) und Dietrich (1973).
35 «Dentro de las construcciones de sentido prospectivo se cuentan en español la perífrasis aspectual prospectiva ir a + Infinitivo y las perífrasis inminenciales estar por / estar a punto de + Infinitivo» (Laca 2005b, 35). 36 In Anlehnung an Dietrich (1973) wird der Terminus «ingressiv» für eine den Eintritt markierende Handlung bezeichnet. Coseriu (1976) gebraucht hingegen «imminentiell» und «ingressiv» synonym und verwendet für die den Eintritt der Handlung markierende Phase den Terminus «inzeptiv».
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien
39
«prospektiver (sekundärer) Perspektive» (sp. voy a hacer; pg. vou fazer; fr. je vais faire etc.) und «prospektiver Schau» (sp. voy haciendo; pg. vou fazendo37), bei der die Handlung zwischen einem Punkt C und einem ferneren (unbestimmten) Punkt betrachtet wird, angenommen werden. Bei der «prospektiven Schau» liegt ein Synkretismus zur «progressiven Phase» vor, weshalb sie auch als «ein prospektives Progressiv (sp. voy haciendo: von jetzt an in Richtung auf das Futur)» (Coseriu 1976, 107) bezeichnet wird und auf diese Weise in dem System von Coseriu (1976) von der «Phase Imminenz» eindeutig abgegrenzt wird. Des Weiteren lassen sich die Kategorien Proximativ, Prospektiv und Futur anhand temporal-aspektueller Kriterien eindeutig voneinander abgrenzen: Im Gegensatz zu dem temporalen Grammem «Futur» sind der «Proximativ» und der «prospektive Aspekt» aspektuelle Grammeme, die entsprechend der Kategorie «Aspekt» nicht deiktisch sind und demzufolge auf die Vorphase einer vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Situation referieren können. Gosselin (2011, 149) definiert den Aspekt der Phase wie folgt: Nous considerons ‘l’aspect de phase’, sous lequel est présenté un procès (état ou événement), comme le résultat d’une opération de sélection d’une partie (phase) du temps constitutif de ce procès. Cette opération est nécessairement complémentaire du repérage temporel, car, comme l’indiquait clairement Brunot dès 1922, ce n’est pas le procès pris globalement qui se trouve temporellement localisé, mais seulement la partie qui en est sélectionnée (Gosselin 2011, 149).
In der Terminologie nach Reichenbach (1947) drückt das Futur bekanntlich die Zeitrelation zwischen Ereigniszeitpunkt (E), Referenzzeitpunkt (R) und Sprechzeitpunkt (S), wie folgt, aus: der Sprechzeitpunkt liegt vor dem Referenzzeitpunkt und der Referenzzeitpunkt liegt am Ereigniszeitpunkt, kurz: S_R,E. Die aspektuellen Grammeme können bezüglich der temporalen Ebene und damit bezüglich der ausgedrückten Zeitrelation von Referenzzeitpunkt, Sprechzeitpunkt und Ereigniszeitpunkt variieren. Bei dem Proximativ liegt im Gegensatz zum Futur (S_R,E) der Referenzzeitpunkt stets vor dem Ereigniszeitpunkt (R_E) und teilt sich diese Eigenschaft mit dem proximate future (S,R_E v R,S_E) nach Hornstein (1990, 88). Bergs (2005, 86s.) setzt den Proximativ mit dem proximate future nach Hornstein (1990, 88) in der Definition (S,R_E v R,S_E) allerdings gleich, wonach aber ein Proximativ weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft stehen könnte. Im Gegensatz zu dem proximate future nach Hornstein (1990, 88) muss der Referenzzeitpunkt des
37 In anderen romanischen Sprachen fällt bekanntlich die «prospektive Schau» oftmals mit der «komitativen Schau» zusammen, wie bei it. vado facendo (cf. Coseriu 1976, 101).
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Proximativs jedoch nicht zwangsläufig mit dem Sprechzeitpunkt zusammenfallen (S,R_E), wie es lediglich bei dem im Präsens stehenden Auxiliar der Fall ist (sp. Estoy a punto de salir. ‘Ich bin kurz davor zu gehen.’, ‘I am about to leave.’). Der Referenzzeitpunkt kann sowohl vor dem Sprechzeitpunkt liegen (R_E_S) und demzufolge ein vergangenes imminentes Ereignis beschreiben (sp. Estaba a punto de llover. ‘Es war kurz davor zu regnen.’, ‘It was about to rain.’) als auch nach dem Sprechzeitpunkt liegen und somit ein zukünftiges imminentes Ereignis (S_R_E) ausdrücken (Estaré a punto de salir. ‘Ich werde kurz davor sein zu gehen.’, ‘I will be about to leave.’). Sowohl der Ereigniszeitpunkt als auch der Referenzzeitpunkt kann bei den Verbalperiphrasen der Imminenz durch eine temporale Angabe näher bestimmt werden, wie bereits Laca (2000, 254) zeigt. Ist die temporale Angabe der Verbalperiphrase vorangestellt, hat sie Skopus über die Verbalperiphrase und bezieht sich auf den Referenzzeitpunkt, wie jeweils die Beispiele (a) illustrieren. Ist die temporale Angabe hingegen der Verbalperiphrase nachgestellt, sodass sie im Skopus der Verbalperiphrase liegt, bezieht sie sich auf das vom Infinitiv beschriebene Ereignis, wie jeweils die Beispiele (b) illustrieren. (38) Kompatibilität von Imminenz und Temporalität Kat. (a) A les tres, estiguè a punt de sortir[.] (Laca 2000, 254) (b) Estiguè a punt de sortir a les tres, com m’ho havien indicat[.] (Laca 2000, 254) Sp. (a) A las tres, estuvo por marcharse. At the three, was by leaveREFL ‘At three, he/she had been about to leave.’ (Laca 2002, 85) (b) Estuvo por marcharse a las tres. Was by leaveREFL at the three ‘He/she had been about to leave at three.’ (Laca 2002, 85) Sp. (a) A las tres, iba a marcharse. At the three, wentIMPF to leaveREFL ‘At three, he/she was going to leave.’ (Laca 2002, 85) (b) Iba a marcharse a las tres. leaveREFL at the three WentIMPF to ‘He/she was going to leave at three.’ (Laca 2002, 85) Fr. (a1) demain à cette heure, nous serons sur le point de partir! (Pouradier Duteil 1999, 146) (a2) à 9h Marc était sur le point de partir, lorsqu’il s’est trouvé mal (Pouradier Duteil 1999, 146)
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien
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Die Imminenz der polysemen Konstruktionen estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv wird allerdings im Skopus von in die Zukunft referierenden Temporaladverbien fraglich oder tritt zumindest hinter die modale Nebenbedeutung der Disposition, wie in (a), oder der Intention insbesondere bei belebten Subjekten, wie in (b), zurück. (39) Inkompatibilität des Proximativs mit Temporaladverbien der Zukunft Sp. (a) El tren está para salir mañana. ?+> El tren está a punto de salir mañana. ‘Der Zug steht bereit, morgen abzufahren.’ ?+> ‘Der Zug ist kurz davor, morgen abzufahren.’ (b) Juan está por decírselo la semana que viene. ?+> Juan está a punto de decírselo la semana que viene. ‘Juan hat die Absicht, es ihm nächste Woche zu sagen.’ ?+> ‘Juan ist kurz davor, es ihm nächste Woche zu sagen.’ Der Proximativ (proximate ‘nahegelegen’, ‘nächstfolgend’) bringt per definitionem eine zeitlich undefinierte Nähe von Referenzzeitpunkt zu Ereigniszeitpunkt mit sich. Die ausgedrückte Imminenz, die lediglich ein Bevorstehen (lat. imminere ‘bevorstehen’, ‘drohen’) zum Ausdruck bringt, wird oftmals mit einer ‘Unmittelbarkeit’ (immediacy) in Verbindung gebracht, die sich in einer vom Sprecher empfundenen temporalen Nähe des Referenzpunktes zum Eintritt des nachzeitigen Ereignisses manifestiert. Comrie (1985, 95) bezeichnet die proximativen Ausdrücke als immediate future time reference, Dik (1987, 61) als immediate prospective aspect (‘John is about to write a letter’) gegenüber dem kanonischen prospective aspect (‘John is going to write a letter’) und Bybee/Perkins/Pagliuca (1994, 244) als immediate future. Diese Unmittelbarkeit (immediacy) zeichnet sich in epistemisch-modaler Betrachtung durch eine vom Sprecher empfundene Nähe des Referenzzeitpunktes zum Ereigniszeitpunkt aus.38 Das Zeitintervall der Imminenz kann sich dementsprechend auf einige Sekunden, Wochen, Monate, oder auch Jahre, Jahrzehnte etc. beziehen, wie in den folgenden Beispielen illustriert wird.39
38 In einem theologischen Kontext wird bekanntlich auch von dem imminenten Kommen von Jesus Christus gesprochen, wobei der Sprecher weder über den Eintritt des Kommens noch über die Wahrscheinlichkeit des Kommens Bescheid wissen bzw. diese spezifizieren muss. 39 Da die recherchierten Begriffe und Periphrasen in den in dieser Arbeit verwendeten Korpora automatisch Fett hervorgehoben werden, wird diese Art der Hervorhebung des Korpus beibehalten. Bei der direkten Konsultation von Primärtexten wird die Hervorhebung des jeweiligen Primärtextes ebenfalls beibehalten und nur unter Kenntlichmachung geändert.
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(40) Das Zeitintervall der Imminenz Sp. La firma advirtió que la peor parte del reajuste económico en el país está por llegar, probablemente en el segundo trimestre de este año. Según esas previsiones, el consumo apenas crecerá un 2% entre abril y junio, frente al 3% que registró en los dos trimestres anteriores. (CREA: El Norte de Castilla, 21/03/2001, España) Fr. Quand on pense que dans un mois ou un mois et demi, nous serons sur le point de partir pour Pau. Oui, je suis allé hier à l’agence de traduction de Slonim. (Vladimir Nabokov, 2017, Lettres à Véra, 25/11/1932, Paris, Fayard) BP Alice, da seção de correspondência, que gostaria de tomar a vacina neste inverno, mas está para dar à luz em dois meses. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) EP «Há dez anos que aquele assunto está para ser resolvido, e agora em vez de se valorizar o que está a ser feito, estão a fazer um alarido da situação», acrescentou. (Linguateca: DiaCLAV v. 5.4) Da der Proximativ im Hinblick auf die temporale Nähe zum Eintritt des Ereignisses nicht spezifiziert ist, kann er entsprechend auch mit dem Prospektiv40 funktional überlappen. König (1993, 24) gibt diesbezüglich einen wichtigen Hinweis zum Proximativ im Maa, indem sie schreibt «Wie gezeigt werden wird, ist Futur eine Funktion des Proximativs, jedoch nicht seine grundlegendste» (König 1993, 24). Im Gegensatz zu dem Futur und dem Prospektiv, die den Wahrheitsbedingungen bezüglich der Realisierung des Ereignisses unterliegen, unterliegt der Proximativ keinen Wahrheitsbedingungen hinsichtlich der Realisierung von p oder ¬p (cf. Comrie 1985, 95).41 Likewise in the future, many languages have constructions with (as part of their meaning) immediate future time reference, but without it being clear that these constructions should be analysed as grammaticalisation of time reference. In English, for instance, the constructions to be about to and to be on the point of contain immediate future time reference, as in John is about to jump off the cliff. However, immediate future time reference
40 In der Diachronie wird gezeigt werden, dass der Proximativ oftmals aus dem Prospektiv entsteht. Die nahe Verwandtschaft der beiden Grammeme «Proximativ» und «Prospektiv» spiegelt sich entsprechend in einer synchronen funktionellen Überlappung wieder. 41 Der Avertiv, der die Kontrafaktizität [i.e. ¬p] grammatikalisiert hat, muss entsprechend auch den Wahrheitsbedingungen bezüglich der Realisierung von ¬p unterliegen. Dies lässt sich in Anlehnung an Schwellenbach (2009) über die pragmatischen Tests, wie den Aufhebbarkeitstest, überprüfen und wird in Kapitel 3.2.2 aufgegriffen werden.
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien
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does not exhaust the meaning of this constructions, which differs from the future not only in range of time reference but also in that it expresses a present propensity to a future situation that may, however, be blocked by intervening factors. Thus John will jump off the cliff is untrue if John does not, in fact, jump off the cliff, while John is about to jump off the cliff is still true if someone rushes over and prevents him from doing so (Comrie 1985, 95).
Exemplarisch für die romanischen Sprachen sei das Spanische angeführt, bei dem sowohl im Futur als auch im Prospektiv die hinsichtlich ihrer Polarität oppositionell ausgerichteten Konjunkte agrammatisch werden und der hinsichtlich p oder ¬p unterspezifizierte Proximativ auch ein negativ polares zweites Konjunkt sowohl semantisch-pragmatisch als auch grammatisch zulässt. (41) Proximativ ≠ Prospektiv ≠ Futur Sp. Futur: *Saldré, pero no salgo. Prospektiv: *Voy a salir, pero no salgo.42 Proximativ: Iba a salir, pero no salí. Proximativ: Estoy a punto de salir, pero no salgo. Proximativ: Estoy para salir, pero no salgo. Die Umkehrung der Polarität und demzufolge der Wahrheitsbedingungen ist bekanntlich sowohl bei dem Futur als auch bei dem Prospektiv durch die Kompatibilität mit der Negationspartikel möglich. (42) Kompatibilität des Prospektivs (a) und Futurs (b) mit der Negationspartikel Sp. (a) No voy a llorar. ‘Ich werde nicht weinen.’ (b) No lloraré. ‘Ich werde nicht weinen.’ Der Proximativ weist hingegen eine stark eingeschränkte Kompatibilität mit der Negationspartikel auf. Da er keinen Wahrheitsbedingungen hinsichtlich p oder ¬p unterliegt, wird er im Skopus einer Negationspartikel oftmals entweder semantisch-pragmatisch inakzeptabel bei unbelebtem Subjekt, wie bei den Verbalperiphrasen mit der die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden Präpositionalphrase (sp. a punto de, gl. a piques de, kat. a punt de, pg. a ponto
42 Als Prospektiv wird insbesondere die im Präsens stehende IRE-Infinitivperiphrase verstanden. Im Imperfekt kann die IRE-Infinitivperiphrase hingegen sowohl p als auch ¬p implikatieren.
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
de, fr. sur le point de etc.), oder drückt bei belebtem Subjekt die Negation der modalen Nebenbedeutung der Volition oder Disposition aus, wie insbesondere bei den Verbalperiphrasen sp. estar por + Infinitiv oder estar para + Infinitiv. (43) Inkompatibilität des Proximativs mit dem Auxiliar vorangestellter Negationspartikel Sp. (a) #El tren no {está / estaba} a punto de salir ‘#Der Zug {ist / war} nicht im Begriff abzufahren.’ (b) No {estoy / estaba} para salir de marcha. ‘Ich {bin / war} nicht zum Ausgehen aufgelegt.’ (c) No {estoy / estaba} por ir a la fiesta. ‘Ich {bin / war} nicht dafür, auf die Feier zu gehen.’ Fr. Ils ne sont pas sur le point de se réconcilier. ‘Sie sind nicht bereit, sich zu versöhnen.’ Liegt die Negationspartikel hingegen im Skopus des Proximativs und negiert das vom Infinitiv beschriebene Ereignis, verlieren die in imperfektiven Tempora stehenden VPPn nach Carrasco Gutiérrez (2006, 149) im Spanischen an grammatischer Korrektheit oder, bei belebtem Subjekt (Beispiele mit «’»), zumindest die Fähigkeit, die Imminenz und auf diese Weise den Proximativ auszudrücken:43 (44) Eingeschränkte Kompatibilität des Proximativs mit dem Infinitiv vorangestellter Negationspartikel Sp. (a) *El sol estaba a punto de no salir. (Carrasco Gutiérrez 2006, 149) (a’) Juan estaba a punto de no salir. ‘Juan estaba a punto de {decidir / tomar la decisión de} no salir.’ (Carrasco Gutiérrez 2006, 149) (b) *El tren está para no salir. (b’) Pedro estaba para no pagar la letra. ‘Pedro war nicht dafür, den Wechsel zu bezahlen.’
43 Carrasco Gutiérrez (2006) verwendet weder den Terminus Proximativ noch Avertiv, sondern bezieht sich auf den generellen Gebrauch der spanischen estar-Periphrasen und ihrer Kompatibilität mit der Negationspartikel. Eine tatsächliche Inkompatibilität des Proximativs mit dem Infinitiv vorangestellter Negationspartikel muss allerdings aufgrund nachfolgender Gegenbeispiele ausgeräumt werden. Dennoch illustrieren die von Carrasco Gutiérrez (2006) angeführten Beispiele die «eingeschränkte Kompatibilität» des Proximativs mit der Negationspartikel, die sie von der Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel unterscheiden (cf. insbesondere Kapitel 3.2.2.1 und die diachronen Untersuchungen zur Kompatibilität von Proximativ und Avertiv mit der Negationspartikel in Kapitel 4).
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien
45
(c) *La tesis está por no finalizar. (c’) Ana estaba por no ir a la fiesta. ‘Ana war nicht dafür, auf die Feier gehen.’ In den spanischen Korpora CREA (Corpus de referencia del español actual der Real Academia Española) und CDE (Corpus del Español von Mark Davies) lassen sich in der Tat keine Proximativbeispiele mit Skopus über die Negationspartikel im Gegenwartsspanischen finden. Allerdings finden wir sowohl einen Beleg zur Illustration der Kompatibilität des Proximativs mit der Negationspartikel im Korpus CORDE (Corpus diacrónico del español der Real Academia Española) aus dem 19. Jahrhundert (cf. Kapitel 4.5.3.1), das sich durchaus auf das Gegenwartsspanische übertragen lässt, als auch ein weiteres Beispiel aus dem 21. Jahrhundert, das die Kompatibilität des Proximativs mit der Negationspartikel zweifelsohne belegt. (45) Kompatibilität des Proximativs mit dem Infinitiv vorangestellter Negationspartikel (a) ¡Oh, la decadencia de las mujeres bellas tiene un mérito singular para las almas sensibles! Es el hechizo del otoño con sus celajes rojizos y sus hojas secas que el viento va dejando caer una por una. Nunca es acaso la mujer tan bella como cuando está ya a punto de no serlo. (CORDE: Antonio Cánovas del Castillo, 1852, La campana de Huesca. Crónica del s. XII, España) ‘Niemals ist die Frau vielleicht so schön, wie wenn sie schon kurz davor ist, es nicht mehr zu sein.’ (b) El asunto empieza en la escuela, cuando el niño está a punto de no aprobar el grado y los padres buscan un amigo del maestro o del director, o hablan con ellos o le dan regalos para lograr que el chico no pierda el año, «porque un año es un año», dicen. (El universo: 26/02/ 2005, Columnistas, Las apariencias, Ecuador) ‘[. . .] wenn das Kind kurz davor ist, die Stufe nicht zu bestehen.’ Der Gebrauch des Proximativs mit der Negationspartikel weist zudem eine höhere Frequenz auf, wenn eine Avertivbedeutung implikatiert wird. An einem Korpusbeispiel des Italienischen lässt sich illustrieren, dass der Proximativ zwar mit der Negationspartikel auftritt, allerdings die Avertivbedeutung implikatiert und die Proposition durch die doppelte Negation (resultierend aus der Implikatur ¬p des Proximativs und der expliziten Negation ¬p durch die Negationspartikel) positiv wird. Dies werden wir zur Differenzierung zwischen Proximativ und Avertiv in Kapitel 3.1.2 näher erörtern.
46
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(46) Negationspartikel in Verbindung mit implikatierter Avertivbedeutung Lyndon Johnson si ritiro’ [sic!] dalla corsa per la rielezione, sfidato da Walter Mondale e Robert Kennedy. Jimmy Carter stava per non essere ricandidato, dopo essere stato sfidato con determinazione da Ted Kennedy. (Lexis Nexis: La Stampa, 17/02/1995, Italia) ‘Jimmy Carter war kurz davor, nicht erneut zu kandidieren.’ +> ‘Jimmy Carter hätte beinahe nicht erneut kandidiert, [. . .]’ Des Weiteren ist der Proximativ, im Gegensatz zum Futur und Prospektiv, lediglich mit dynamischen Verben (i.e. Achievements, Accomplishments und Activities) kompatibel. Wie bereits Laca (2002) illustriert, ist der Proximativ im Gegensatz zum Prospektiv nicht mit States und Habitualisverben kompatibel. (47) Inkompatibilität des Proximativs mit States La película *está por / va a gustarle The movie is by / goes to please-to-him ‘The movie is about to / is going to please him.’ (Laca 2002, 85) Wie der Korpusbeleg in Beispiel (45a) «Nunca es acaso la mujer tan bella como cuando está ya a punto de no serlo. (‘Niemals ist die Frau vielleicht so schön, wie wenn sie schon kurz davor ist, es nicht mehr zu sein.’)» illustriert, werden States im Skopus des Proximativs ingressiv verwendet (shifting). Der Aussage von Schrott (1997), dass die Imminenz einer «Beschränkung auf nicht-durative Sachverhalte» unterliegt, Bei der Sichtung der Beispiele fällt auf, daß Kontexte der Imminenz immer bei nichtdurativen Sachverhalten vorliegen und sich keine Kontexte finden, in denen durative Situationen imminent sind. Diese Beschränkung auf nicht-durative Sachverhalte liegt in der Natur der Imminenz, deren temporales Konzept eines Neueinsatzes in Kontakt zum Sprechzeitpunkt einen Sachverhalt erfordert, der ‹punktgenau› nach dem Sprechzeitpunkt einsetzen kann (Schrott 1997, 174).
ist hinzuzufügen, dass die durative und dynamische Aktionsart im Skopus des Proximativs, wie z.B. sp. Está a punto de llover oder Está para llover (engl. ‘It is about to rain’), ingressiv verwendet wird und damit zu einem shift in eine punktuelle Aktionsart (i.e. Achievement) führt. Der Proximativ bezeichnet nun die Phase vor dem punktuellen Einsetzen in Form einer ingressiven Lesart des Ereignisses E, die den Beginn des Sachverhalts Regnen fokussiert, wie in Kapitel 3.2.1 näher ausgeführt wird.
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien
47
Der Proximativ lässt sich folglich sowohl von dem Futur als auch von dem Prospektiv eindeutig abgrenzen. In dem folgenden Kapitel wird die von Kuteva (1998; 2001) problematisierte funktionelle Überlappung von Proximativ und Avertiv und ihre Verbindung zu den in der Romanistik bekannten Termini, imperfectum de conatu und «frustrierte imminenz», in Anlehnung an Schwellenbach (2009) eindeutig voneinander abgegrenzt werden.
3.1.2 Avertiv, Proximativ, Imperfectum de conatu und «frustrierte imminente Handlung» In einer onomasiologischen Betrachtung ist zu klären, welche sprachlichen Zeichen zum Ausdruck der Avertivbedeutung was on the verge of taking place but did not take place in den romanischen Sprachen zur Verfügung stehen und wie diese systematisch voneinander zu differenzieren sind. Während bereits die funktionelle Überlappung von Proximativ und Avertiv nach Kuteva (1998; 2001) problematisiert wird, ist in der Romanistik eine «beinahe geschehene Handlung» bis dato auch unter der Bezeichnung «frustrierte Imminenz» oder als eine modale Funktion des Imperfekts, als sogenanntes Imperfectum de conatu, bekannt. Im Gegensatz zu den bisherigen Ansätzen, in denen die semantischpragmatische Realisierung keine Beachtung fand,44 lassen sich jedoch in Anlehnung an Schwellenbach (2009; 2013) Avertiv, Proximativ, Imperfectum de conatu und «frustrierte Imminenz»45 an der Semantik/Pragmatik-Schnittstelle systematisch voneinander abgrenzen. Der Terminus der «frustrierten Imminenz» wird in Anlehnung an Schwellenbach (2009) als Hyperonym für alle Ausdrücke verstanden, die die Avertivbedeutung was on the verge of taking place but did not take place ungeachtet ihrer pragmatisch-semantischen Realisierung anzunehmen vermögen. Eine
44 In den deskriptiven Grammatiken wird der Terminus «frustrierte Imminenz» unspezifisch für gewöhnlich auch einigen Tempora, wie dem Präsens (z.B. sp. Casi me caigo.), dem Imperfekt (als alternativer Terminus für das imperfectum de conatu) oder dem Konditional zugeschrieben, ohne die jeweilige Kontexteinbettung zu berücksichtigen, wie bei Cartagena/ Gauger (1989, vol. 2): «Semasiologisch gesehen hat der Konditional die folgenden MODALEN Funktionen: [. . .] Frustrierte Imminenz (Casi se habría caído).» (Cartagena/Gauger 1989, vol. 2, 486). 45 Auch: inminencia fallida, inminencia frustrada oder acción inminente frustrada im Spanischen (cf. Yllera 1980), imminence contrecarrée im Französischen (cf. Henry 1977; Cristea 1978; Busuioc 2004), imperfetto di conato e imminenziale im Italienischen (cf. Bazzanella 1990), l’imperfet d’actes frustrats im Katalanischen (cf. Solà et al. 2002, 2629), etc.
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
«frustrierte imminente Handlung» (auch: frustrative46) kann entsprechend in den romanischen Sprachen durch das Imperfekt (imperfectum de conatu), einem Proximativ in der Vergangenheit mit der Implikatur Nicht-p oder einem Avertiv sowohl lexikalisch als auch grammatisch, als Implikatur oder entailment ausgedrückt werden. Der Avertiv ist als einzige Kategorie für die Merkmale [Imminenz], [Vergangenheit] und [Kontrafaktizität] spezifiziert und grenzt sich daher von dem für die Avertivbedeutung unterspezifizierten Kategorien «Imperfekt» und «Proximativ» ab. Die systematische Differenzierung dieser Termini ist Voraussetzung für die systematische sowohl synchrone als auch diachrone Untersuchung der Kategorien Proximativ und Avertiv. Der Terminus «frustrierte Imminenz» verleitet allerdings noch verstärkt zu der bei einigen Linguisten weiterhin verbreiteten vermeintlichen Annahme, dass das Merkmal Imminenz misslingen würde bzw. verloren ginge. Analog überträgt auch Bravo (2011, 87), nicht zuletzt aufgrund einer Fehlinterpretation der Primärliteratur zum Avertiv, sogar das vermeintliche Misslingen der Imminenz auf die STARE-Periphrasen mit perfektivem Aspekt.47 Es handelt sich allerdings in der Definition des Avertivs nach Kuteva (2009) und den in perfektiven Tempora stehenden STARE-Periphrasen nach Schwellenbach (2009, 15s.) nicht um einen Verlust des Merkmals [Imminenz], sondern um eine nicht eingetretene (!) imminente Handlung in der Vergangenheit. Würde das Merkmal [Imminenz] tatsächlich verloren gehen, dann hätten wir es nicht mit einem Avertiv [Imminenz, Vergangenheit, Kontrafaktizität], sondern mit einer lediglich kontrafaktischen Handlung zu tun.48 Wie bereits in Schwellenbach (2009) dargelegt, handelt es sich anstelle einer «frustrierten Imminenz» vielmehr um eine «frustrierte imminente Handlung», wie sie bereits u.a. von Yllera (1980) als acción inminente frustrada bezeichnet wird. Bellosta von Colbe (2001a; 2001b) macht eine erste Bestandsaufnahme lexikalischer und grammatischer Ausdrücke für die «frustrierte Imminenz» und das gramema de conato, welche er mit dem von Kuteva (2001) als Avertiv
46 Dietrich (2006) zeigt den Frustrativ (sp. frustrativo; engl. frustrative) in den Tupí-GuaraníSprachen auf und definiert ihn als eine (ausschließlich) modale Funktion paraphrasiert mit der Bedeutung «la ineficacia de una acción frente a expectativas positivas no especificadas en el texto» (Dietrich 2006, 71). 47 «Por lo que a las perífrasis respecta, es un hecho ampliamente reconocido (cf. Carrasco Gutiérrez 2006, 149ss., Kuteva 1998; 2006) el que el significado de inminencia se obtiene solo con los tiempos de presente, pretérito imperfecto y futuro» (Bravo 2011, 87). 48 An dieser Stelle sei nochmals auch auf die von Schmidtke-Bode (2009) vermeintlich als Avertiv bezeichneten lest-clauses hingewiesen, die tatsächlich keine Imminenz ausdrücken und daher keine Avertivkonstruktionen in der Definition nach Kuteva (1998; 2001) darstellen können.
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien
49
bezeichneten Kategorie zunächst gleichsetzt. Analog zu Cartagena/Gauger (1989, vol. 1; vol. 2) bezeichnet Bellosta von Colbe (2001a) das imperfectum de conatu einerseits als flexionellen Ausdruck der «frustrierten Imminenz», räumt ihm allerdings andererseits auch die Möglichkeit eines reinen «Ausdrucks der Imminenz» ein.49 Hinsichtlich der Periphrasen zum Ausdruck der «frustrierten Imminenz» unterscheidet Bellosta von Colbe (2001a) zwischen Periphrasen mit «fester» (i.e. kontextunabhängiger) und Periphrasen mit mehr oder weniger kontextabhängiger Bedeutung, wie in Tabelle 6 ersichtlich wird.
Tabelle 6: Periphrasen zum Ausdruck der «frustrierten Imminenz» nach Bellosta von Colbe (2001a, 151). a. Periphrasen mit «fester» Bedeutung
Rumänisch: Galizisch: Portugiesisch: Französisch:
ERA + KONJ. PRÄS. HABER (DE) + INF. IR + GER. FAILLIR / MANQUER (DE) + INF.
b. Periphrasen mit «schwankender» Bedeutung
Italienisch: Galizisch:
STARE PER + INF. QUERER + INF.
c. Periphrasen mit «kontextueller» Bedeutung
Portugiesisch: Portugiesisch: Spanisch: Katalanisch: Französisch:
ESTAR PARA + INF. IR (A) + INF. IR A + INF. ANAR A + INF. ALLER + INF.
Sowohl Kuteva (1998; 2001) als auch Bellosta von Colbe (2001a; 2001b; 2004b) weisen zwar unmittelbar auf die Problematik der funktionellen Überlappung eines Proximativ mit der Implikatur ¬p und eines diese kontrafaktische Implikatur bereits konventionalisierten Avertivs hin, legen jedoch noch keine entsprechenden Kriterien oder pragmatischen Tests dar, die erst in Schwellenbach (2009) am Beispiel des peninsularen Spanisch zur Differenzierung von Proximativ und Avertiv diskutiert und angewandt werden. Im Folgenden wird daher in Anlehnung an Schwellenbach (2009) auf die unterschiedliche semantisch-pragmatische Realisierung einer «frustrierten imminenten Handlung» eingegangen und eine
49 «Dieser Terminus (i.e. imperfectum de conatu) bezieht sich sowohl auf Ausdrücke der ‹Imminenz› wie auch der ‹frustrierten Imminenz›» (Bellosta von Colbe 2001a, 148).
50
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
systematische Trennung von imperfectum de conatu, Avertiv und eines die Kontrafaktizität implikatierenden Proximativs vorgenommen. Das imperfectum de conatu (lat. conari ‘versuchen’) bezieht sich bekanntlich auf einen modalen Gebrauch des Imperfekts,50 bei dem eine lediglich versuchte und nicht zwangsläufig zu ihrer Umsetzung gelangte Handlung in der Vergangenheit ausgedrückt wird. Die konative Lesart entsteht insbesondere durch den Gebrauch telischer (insbesondere punktueller) Verben in Verbindung mit dem imperfektiven (unvollendeten) Aspekt des Imperfekts in einem Kontext, in dem der Endpunkt der grenzbezogenen Verbalhandlung nicht erreicht worden ist (cf. u.a. Menge 2007, 178; 186; Rijksbaron 1984, 16). Das imperfectum de conatu hat sich bekanntlich in den romanischen Sprachen gehalten, sodass lediglich am Beispiel des Spanischen die folgende Definitionen angeführt wird: Con el imperfecto de conato expresamos a veces acciones pasadas que no llegan a consumarse: Salía cuando llegó una visita; la salida no había comenzado, era una disposición o intención; Le dio un dolor tan fuerte, que se moría; hoy está mejor. [. . .] (RAE 2000, 467). Es el llamado imperfecto de conatu, por referirse a hechos iniciados y no consumados, p.ej. Salía cuando llegó una visita; la salida no había comenzado, era una disposición o intención [. . .] (Gili y Gaya 1961, 161). Con la forma cantabas se expresa también el llamado pretérito de conato, en el cual la prevista intención de producirse un hecho queda anulada mediante su negación: Salía de casa cuando llegó mi amigo (esto es, «no salí»); [. . .] (Alarcos Llorach 2003, 205s.).
Das Paradoxon in dem urprünglichen Zitat von Gili y Gaya (1961, 161) zwischen bereits begonnener («por referirse a hechos iniciados») und noch nicht begonnener Handlung («la salida no había comenzado») ist das Resultat einer ambiguen Interpretation, bei der das unterspezifizierte Imperfekt keine exakte Grenze zwischen einer als imminent verstandenen Absicht und einem als bereits begonnen verstandenen Versuch zu ziehen ermöglicht (cf. Rojo/Veiga 1999, 2908; Camus Bergareche/García Fernández 2004, 181ss.). Im «Inzidenzschema» (Pollak 1960), wie z.B. in sp. Salía cuando sonó el teléfono, wird die schon begonnene Handlung durch das in der Regel in einem Tempus mit
50 Analog wird der Terminus praesens de conatu einem modalen Gebrauchs des Präsens zugeschrieben, der allerdings in der Regel kontextuell unterstützt werden muss und oftmals in Verbindung mit der in dieser Arbeit als Avertivkonstruktion bezeichneten Konstruktion por poco p steht (cf. u.a. Alcina Franch/Blecua 1975, 794), sodass die Avertivbedeutung vielmehr in der gesamten Konstruktion und nicht morphologisch in dem Tempus verankert ist, wie synchron in Kapitel 3.2.1 und diachron in Kapitel 4.3.2 ausgeführt wird.
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien
51
perfektivem Aspekt stehende Ereignis unterbrochen oder noch vor ihrem Beginn an ihrer Ausführung gehindert. Ungeachtet, ob die Handlung im Imperfekt bereits als begonnen oder nicht begonnen interpretiert wird, gilt bei der conatu-Lesart mit der Implikatur Nicht-p (formal: +> ¬p) der Endpunkt telischer Verben als nicht erreicht. (48) Implikatierte Avertivbedeutung des Proximativs im Inzidenzschema Sp. Salía cuando llegó ankommen.PST.3SG ausgehen.IMPF.3SG als su madre. (+> No salió.) seine Mutter ‘Er war im Begriff zu gehen, als seine Mutter kam.’ (+> Er ging nicht.) Kat. Estava a punt de marxar sein.IMPF.3SG auf Punkt von gehen.INF quan va sonar51 el telèfon. (+> No va anar.) als gehen.PRS.3SG klingeln.INF das Telefon ‘Er war kurz davor zu gehen, als das Telefon klingelte.’ (+> Er ging nicht.) Dass es sich allerdings bei der von dem Imperfekt ausgedrückten Kontrafaktizität lediglich um eine Implikatur handelt, lässt sich anhand des Aufhebbarkeitstests überprüfen (cf. Schwellenbach 2009). In folgendem Beispiel wird deutlich, dass auch p in Form einer R-basierten Implikatur implikatiert werden kann. (49) Aufhebbarkeit der polaren Komponente Sp. Salía cuando llegó su ankommen.PST.3SG seine ausgehen.IMPF.3SG als madre, pero no la vio. (+> Salió.) Mutter aber nicht sie sehen.PST.3SG (+> Er ging.) ‘Er war im Begriff zu gehen, als seine Mutter kam, aber er sah sie nicht.’ Das romanische imperfectum ist hinsichtlich der Avertivmerkmale [Imminenz], [Vergangenheit] und [Kontrafaktizität] entsprechend unterspezifiziert und grenzt sich demzufolge eindeutig von dem Avertiv ab.
51 Die im Präsens gebrauchte Periphrase anar (‘gehen’) + Inf. bildet im Katalanischen bekanntlich das pretèrit perfet perifràstic.
52
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Nichtsdestotrotz ist bei einer im Imperfekt stehenden Handlung, die grundsätzlich als nicht-implikativ bezüglich ihres Beginns und Ausgangs gilt, sowohl der Wahrheitswert bei telischen Verben als auch der anschließende Eintritt beziehungsweise Nicht-Eintritt eines imminenten Sachverhaltes immer an eine pragmatische Inferenz des jeweiligen Kontextes gebunden (Schwellenbach 2009, 16).
Die Unterspezifiziertheit hinsichtlich des Merkmals [Vergangenheit] wird allerdings von den meisten Autoren durch die Einordnung des Imperfekts als Vergangenheitstempus ignoriert. Coseriu (1976, 144s.) kritisiert hingegen die Interpretation des Imperfekts als Vergangenheitstempus zugunsten einer oppositiven Stellung (inaktuelle Ebene) zum Präsens (aktuelle Ebene).52 Dem Imperfekt wird in dieser Arbeit zwar der Status eines Vergangenheitstempus aufgrund seines relativ hohen Gebrauchs nicht gänzlich abgesprochen (auch wenn die Einordnung als neutralisierendes Tempus theoretisch umsetzbar wäre), allerdings ist es für das Merkmal [Vorzeitigkeit] tatsächlich nicht spezifiziert, was sich nicht zuletzt am Beispiel des ludischen Imperfekts exemplifizieren lässt. In u.a. ludischer Verwendung des Imperfekts wird das Merkmal [Vergangenheit] nicht ausgedrückt. Die Kontextabhängigkeit des Merkmals [Vergangenheit] und damit die Unterspezifizierung des Imperfekts auch im Hinblick auf dieses Merkmal zeigt, dass das Imperfekt für alle drei Avertivmerkmale unterspezifiziert ist (cf. Schwellenbach 2009; 2013). Neben dem Imperfekt wird bekanntlich auch dem Präsens die kontextabhängige Funktion de conatu zugeschrieben, insbesondere wenn es in Verbindung mit romanischen Partikeln, wie sp. casi, oder Präpositionalphrasen wie por poco, por poco más, por un poco, a poco, a poco más auftritt (cf. Alcina Franch/Blecua 1975, 794). In Verbindung mit Partikeln und Präpositionalphrasen der Form sp. casi p oder sp. por poco (no) p handelt es sich jedoch, wie in Schwellenbach (2009) gezeigt wurde, um lexikalische Avertivkonstruktionen, die generell keinen Tempusbeschränkungen unterliegen und bei denen das Prädikat auch im presente stehen kann. Mit anderen Worten: die Konstruktionen sp. casi p und por poco (no) p können unabhängig von dem Tempus, in dem p steht, den Avertiv lexikalisch ausdrücken, wie bekanntlich der in Beispiel (50) illustrierte Gebrauch im Indikativ Präsens.
52 «Das besagt, daß die ‹Vergangenheit› kein beständiges Merkmal des Imperfekts ist, trotz seiner so häufigen Verwendung als Vergangenheitstempus» (Coseriu 1976, 159).
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien
53
(50) Avertivkonstruktionen im Präsens Sp. Casi me caigo. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ Sp. Por poco (no) me caigo. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ It. Diamine, mi dico, Frank Davis ha tirato fuori tutto il suo armamentario quando l’estate non è ancora finita. E quasi vado al banco dei medicinali per dirglielo, quando qualcosa dentro di me mi ferma. Buono un secondo, George, sei tu quello che ha perso una rotella o due. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRacconti) ‘Ich wäre beinahe [. . .] gegangen, als [. . .].’ Die Tatsache, dass neben imperfektiven Tempora auch das Perfekt eine konative Funktion (≠Avertiv) ausüben kann, wird bei einigen Latinisten (und Romanisten) entweder weitestgehend ignoriert oder kommentarlos ausgeräumt (cf. Hofmann/Szantyr 1997, 316): Die konative Bedeutung ist ebensowohl dem Praes. (z.B. im dum-Satz Plt. Capt. 233 quod sibi volunt, dum id impetrant, boni sunt; zum Part. s. unten) wie dem Ind. und Konj. Impf. eigen (zum letzteren cf. z.B. im Pass. Val. Max. 3, 2 ext. 9 cum ferro. . . trucidaretur ‘als sie erstochen werden sollte’); sie entspringt der imperfektiven Aktionsart dieser Tempora, indem der Begriff der Nichtvollendung der Handlung dabei besonders unterstrichen wird (daher ist auch ein Perf. de conatu, trotz Löfstedt, Gl. 3, 1912, 183 f., kaum möglich) (Hofmann/Szantyr 1997, 316).
Löfstedt (1911) verweist bereits auf die Möglichkeit eines perfectum de conatu im Lateinischen. magnopere a domino nostro imperatore impetrasse. Mommsen vermutete, daß nach impetrasse ein uelle ausgefallen sei, was indessen wenig wahrscheinlich ist, da die Inschrift, eine Mitteilung eines gewissen Velius Fidus an einen Amtsbruder im Collegium pontificum, zwar von einem eigentümlichen, teilweise alltäglichen sprachlichen Charakter ist, aber keine derartigen Versehen aufweist. Es ist überhaupt schwer zu verstehen, warum man nicht anerkennen will, daß das Verbum in dieser Weise gelegentlich auch conativen Sinn haben konnte. Es wird doch feststehen, daß nicht nur das Imperf. ‚de conatu’ gebraucht wurde, sondern daß ‹diese Bedeutung ebensowohl dem Präsens, als dem Imperf., dem Konj. Imperf., dem Partic. Präs., i.e. dem Ausdruck der währenden, noch nicht zu Ende geführten Handlung angehörte› (Schmalz, Synt 4 S. 486; cf. ebenso Delbrück, Cf. Synt. II 306). In der späteren nachlässigen Sprache konnte das dann zweifelsohne auch auf eine Form wie impetrasse übertragen werden (Löfstedt 1911, 183s.).
Sowohl im Falle des Imperfekt-, Präsens- als auch des Perfektmorphems handelt es sich für sich genommen bei den ausgedrückten Merkmalen [Imminenz] und [Kontrafaktizität] um pragmatische und nicht logische Inferenzen, sodass sie eindeutig von den Kategorien Proximativ und Avertiv abzugrenzen sind.
54
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Der Proximativ ist im Gegensatz zu dem Imperfekt und seinem Gebrauch als imperfectum de conatu ein aspektuelles Grammem, das die Imminenz grammatisch ausdrückt und keines kontextuellen Ankers bedarf, wie beispielweise das Imperfekt, welches hinsichtlich der Imminenz unterspezifiziert ist. Als rein aspektuelles Grammem, ist der Proximativ jedoch, im Gegensatz zu dem Avertiv, hinsichtlich der sowohl modalen als auch temporalen Domäne unterspezifiziert. In Vergangenheitskontexten kann er beispielsweise die kontrafaktische Implikatur ¬p annehmen und auf diese Weise funktionell mit dem Avertiv überlappen (cf. Kuteva 1998; 2001), wie die Beispiele (51) illustrieren. (51) Avertivbedeutung des Proximativs im Inzidenzschema Sp. Estaba para salir cuando sonó el klingeln.PST.3SG das sein.IMPF.3SG PRP gehen.INF als teléfono. (+> No salió.) Telefon ‘Er war im Begriff zu gehen, als das Telefon klingelte.’ (+> Er ging nicht.) Sp. Iba a contestarle, pero su madre lo interrumpió. ‘Er wollte ihr gerade antworten, aber seine Mutter unterbrach ihn.’ (+> Er antwortete ihr nicht.) BP Ela ia a sair, quando o telefone tocou. ‘Sie wollte gerade gehen, als das Telefon klingelte.’ (+> Sie ging nicht.) Kat. Anava a contestar-li, però la seva mare l’aturà. ‘Er wollte ihr gerade antworten, aber seine Mutter unterbrach ihn.’ (+> Er antwortete ihr nicht.) Dass es sich nicht um einen Avertiv, sondern lediglich um eine kontrafaktische Implikatur des Proximativs handelt, kann durch den Aufhebbarkeitstest verifiziert werden (cf. Schwellenbach 2009): (52) Aufhebbarkeit der kontrafaktischen Implikatur Sp. La carrera estaba por comenzar (y comenzó). ‘Das Rennen war kurz davor zu beginnen (und begann).’ Im Rahmen der Mögliche-Welten-Semantik führt der Proximativ verschiedene Alternativen ein, von denen p in mindestens einer möglichen Welt zutrifft. (53) Alternativen des Proximativs Sp. La carrera estaba por comenzar (y comenzó / pero no comenzó). ‘Das Rennen war kurz davor zu beginnen (und begann / aber begann nicht).’
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien
55
Nach Martin (1983, 30) in Anlehnung an Kripke (1982) lässt sich die Möglichkeit, dass p (kurz: ◊p) entsprechend, wie folgt, veranschaulichen: p
¬p
(Martin 1983, 30; cf. Kripke 1982)
Nach Condoravdi (2002) in Anlehnung an das World Time Model von Thomason (1984) lassen sich die möglichen Welten bzw. metaphysische Alternativen, wie folgt, darstellen: w1 w2 t1
t2
w3 w4 w5 (Condoravdi 2002, 81)
Aufgrund dieser starken Kontextabhängigkeit hinsichtlich der Realisierung von p bzw. ¬p werden in Anlehnung an Schwellenbach (2009) im Imperfekt stehende Verbalperiphrasen sowie die Imperfektverwendung imperfectum de conatu von der Kategorie Avertiv, bei der die Merkmale hingegen konventionalisiert sind, eindeutig abgegrenzt.53 Die Tatsache, dass ein Avertiv alle drei Merkmale (Imminenz, Vergangenheit, Kontrafaktizität) ausdrücken muss, legt nahe, dass es sich bei den von Schmidtke-Bode (2009, 129–144) ebenfalls als Avertiv bezeichneten lest-clauses nicht um den in dieser Arbeit definierten Avertiv handeln kann. Die folgenden von Schmidtke-Bode (2009, 129) als Avertiv bezeichneten Konstruktionen drücken lediglich Kontrafaktizität, jedoch weder Imminenz noch Vergangenheit (cf. Beispiel b) aus.
53 Eine grammatische Kategorie definiert sich in Anlehnung nach Jakobson (1959, 236) nicht nach dem, was sie ausdrücken kann (und demzufolge kontextabhängig bzw. aufhebbar ist und somit zur Pragmatik gehört), sondern nach dem, was sie ausdrücken muss (und demzufolge zu ihrer Semantik gehört und nicht aufhebbar ist). Erst wenn die ursprünglich kontextspezifische Verwendung die pragmatische Ebene verlässt und zunehmend obligatorisch wird, haben wir es mit einer sich grammatikalisierenden Form zu tun.
56
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(54) Lest-Avertiv nach Schmidtke-Bode (2009, 129) (a) We took an umbrella so that we wouldn’t get wet on the way. (Schmidtke-Bode 2009, 129) (b) You should mark the date in the calendar so that you won’t forget Mary’s birthday this year. (Schmidtke-Bode 2009, 129) Der hinsichtlich der Vergangenheit und der Kontrafaktizität unterspezifizierte Proximativ weist, wie im weiteren Verlauf der Argumentation dieser Arbeit noch systematisch gezeigt werden wird, in den romanischen Sprachen eine Affinität zu dem imperfektiven Aspekt auf, während der für diese Merkmale [i.e. Imminenz, Vergangenheit, Kontrafaktizität] spezifizierte Avertiv eine Affinität zu dem perfektiven Aspekt aufweist. Während faillir, das französische Auxiliar des Avertivs (z.B. fr. J’ai failli tomber. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’), bekanntlich defektiv ist, indem es nahezu ausschließlich im passé composé (in einem selteneren konservativ-literarischen Gebrauch zudem auch im passé simple) auftritt, drücken die iberoromanischen und italoromanischen Verbalperiphrasen der Imminenz der Form STARE PRP/PP + Infinitiv, wie in Schwellenbach (2009) am Beispiel des Spanischen aufgezeigt wurde, in Tempora mit imperfektivem Aspekt den Proximativ und in Tempora mit perfektivem Aspekt den Avertiv aus. Bei dem Avertiv ist die Aufhebung entsprechend der Konventionalisierung von ¬p nicht möglich. (55) Unaufhebbarkeit der polaren Komponente Fr. J’ai failli tomber (#et, je suis tombé). ‘Ich wäre beinahe gefallen (#und, ich bin gefallen).’ BP Esteve para morrer (#e, de fato morreu). ‘Er wäre beinahe gestorben (#und, in der Tat, starb er).’ Der Avertiv kann durch die Konjunktion von proximaler und polarer Komponente sowie eines Vergangenheitsoperators P, wie folgt, formalisiert werden: P [Imm (R, ^p(x))54] ∧ P [¬(p(x))]. Im Falle des französischen Avertivbeispiels J’ai failli tomber. (‘Ich wäre beinahe gefallen.’) ist die Formalisierung entsprechend: P [Imm (R, ^tomber(moi))] ∧ P [¬(tomber’(moi))]. In Worten ausgedrückt:
54 Zu Formalisierungen des gemeinsamen imminentiellen Merkmals (noch ohne die temporale und modale Differenzierung zwischen Avertiv und Proximativ) cf. auch Eckardt (2012).
3.1 Proximativ und Avertiv in Abgrenzung zu verwandten Kategorien
57
Es gibt eine Zeit in der Vergangenheit, zu der ich kurz davor war zu fallen (proximale Komponente) und zu der ich nicht gefallen bin (polare Komponente). Die Formalisierung von Proximativ und Avertiv erfolgt entsprechend und in Anlehnung an Schwellenbach (2013), wie folgt: Tabelle 7: Formalisierung von Avertiv und Proximativ nach Schwellenbach (2013).
AVERTIVE
PROXIMATIVE
ASPECTUALITY
λpλx[IMM (R,^p(x))]
λpλx[IMM (R,^p(x))]
TEMPORALITY
Pp(x) ¬p
Pp(x) v p(x) v Fp(x) ◊p v ◊¬p (¬□¬p)
MODALITY
Proximativ und Avertiv teilen sich das gemeinsame aspektuelle Merkmal der Imminenz, aber unterscheiden sich auf sowohl temporaler als auch modaler Ebene. Der hinsichtlich der Temporalität unterspezifizierte Proximativ kann sowohl im Präsens [p(x)] als auch in Verbindung mit einem Vergangenheitsoperator [Pp(x)] oder auch in Verbindung mit einem Futuroperator [Fp(x)]55 gebraucht werden. Die Unterspezifiziertheit des Proximativs hinsichtlich der Modalität zeigt sich in der Möglichkeit von p oder ¬p [◊p v ◊¬p], sodass im Gegensatz zum Avertiv keine Notwendigkeit von ¬p besteht [¬□¬p]. Die unterschiedliche pragmatisch-semantische Realisierung zum Ausdruck einer «frustrierten imminenten Handlung» (auch: «frustrative») und die dadurch entstehende funktionelle Überlappung von imperfectum de conatu, Proximativ und Avertiv werden in Tabelle 8 (Seite 58) zusammenfassend illustriert. Im Gegensatz zu dem Avertiv, der für alle drei Merkmale spezifiziert ist, implikatiert der Proximativ lediglich ¬p, sowie das Imperfekt sowohl die Imminenz als auch ¬p implikatiert [Symbol: +>], wie wir anhand des Aufhebbarkeitstests gezeigt haben. Nach der systematischen Abgrenzung von Proximativ und Avertiv zu funktionell mit ihnen überlappenden Grammemen werden im Folgenden die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Kriterien von Proximativ und Avertiv untersucht.
55 Die Möglichkeit der Verwendung des Proximativs (aspektuelles Grammem) in Verbindung mit dem Futuroperator belegt nicht zuletzt die notwendige (jedoch in der Forschung nicht immer durchgehaltene) systematische Abgrenzung der aspektuellen Kategorie des Proximativs von der temporalen Kategorie Futur (cf. Kapitel 3.1.1).
58
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Tabelle 8: Die funktionelle Überlappung von Frustrativ, Proximativ, Avertiv und imperfectum de conatu nach Schwellenbach (2013). Examples F R U S T R A T I V E
imperfectum de conatu
sp.
Salía
Features cuando
leave. when IMPF.SG
llegó
su madre
Pp(x)
arrive. PST.SG
his mother
+> λpλx[Imm (R,^p(x))] +> ¬p
‘He was about to leave when his mother arrived.’ proximative
sp.
Estaba
para
ganar
la carrera
Pp(x)
be.
PREP
win. PST.SG
the race
λpλx[Imm (R,^p(x))] +> ¬p
IMPF.SG
‘He was about to win the race.’ avertive
fr.
J’ai
failli
tomber
Pp(x)
have. PRS.SG
fail.PTCP
fall.INF
λpλx[Imm (R,^p(x))] ¬p
‘I almost fell.’
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv In den folgenden Unterkapiteln werden die pragmatisch-semantischen und syntaktischen Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv sowohl für die lexikalischen als auch periphrastischen Konstruktionen am Beispiel der romanischen Sprachen festgelegt werden.
3.2.1 Lexikalische Konstruktionen Die synchrone Relevanz der pragmatischen Kriterien erschließt sich aus der Differenzierung zwischen Implikatiertem und linguistisch enkodiertem Material an der Pragmatik/Semantik-Schnittstelle. Die semantisch-pragmatische Untersuchung der Avertivbedeutung (was on the verge of taking place but did not take place) erfolgt über die «konjunktive Analyse» (cf. Ducrot 1972; Horn 1996; 2002; Sevi 1998; Schwenter 2002; Bordería/Schwenter 2005), das heißt, über die Konjunktion zweier Propositionen, die analog zu Horn (2002) «proximale Komponente» (i.e. Imminenz) und «polare Komponente» (i.e. ¬p) genannt werden. Die
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
59
konjunktive Analyse, die von den genannten Linguisten zur Bedeutungsuntersuchung von sogenannten «approximativen Adverbien und PPs» (wie almost, casi, por poco etc.) herangezogen wird, wird in dieser Arbeit in Anlehnung an Schwellenbach (2009) auf die pragmatische Untersuchung Avertivbedeutung sowohl lexikalischer als auch grammatischer Ausdrücke übertragen. Während sich die von u.a. Horn (2002) und Bordería/Schwenter (2005) bezeichnete «proximale Komponente» auf den Grad der imminenten Annäherung an die Handlungsausführung bezieht und in dieser Arbeit äquivalent zum ersten Teil der semantischen Bedeutung des Avertivs was on the verge of V-ing ist, dient die «polare Komponente» nach Horn (2002) und Bordería/Schwenter (2005) zum Ausdruck der negativen Polarität und ist in dieser Arbeit äquivalent zu der kontrafaktischen Bedeutung des Avertivs but did not V. (56)
Proximale und polare Komponente des Avertivs Sp. Vettel casi gana la carrera. ‘Vettel hätte beinahe das Rennen gewonnen’ BP O Vettel quase ganhou a corrida. ‘Vettel hätte beinahe das Rennen gewonnen’ Proximale Komponente: ‘Vettel war kurz davor, das Rennen zu gewinnen.’ Polare Komponente: ‘Vettel hat das Rennen nicht gewonnen.’
Dass die proximale Komponente (i.e. die Imminenz) von casi VP (quase VP, quasi VP etc.56) und por poco VP (it. per poco VP; gl., pg. por pouco VP; kat. per poc VP, etc.) semantisch assertiert und impliziert wird, zeigt sich in ihrer Unaufhebbarkeit. (57)
Unaufhebbarkeit der proximalen Komponente Sp. (a) #Casi ganó la carrera, pero no estaba a punto de ganarla. ‘#Beinahe hätte er das Rennen gewonnen, aber er war nicht kurz davor, es zu gewinnen.’ (b) #Por poco ganó la carrera, pero no estaba a punto de ganarla. ‘#Beinahe hätte er das Rennen gewonnen, aber er war nicht kurz davor, es zu gewinnen.’
56 Dies ist für alle aus der lateinischen Form quasi hervorgegangenen Formen in den romanischen Sprachen zutreffend.
60
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Da neben der assertierten proximalen Komponente die negierte verbale Situation zur konventionellen inhärenten Bedeutung des Avertivs gehört, ist vorab zu klären, ob die in Frage kommende lexikalische Konstruktion, wie in dem Beispiel casi VP,57 die polare Komponente ¬p in der Tat semantisch impliziert oder lediglich konversationell implikatiert. Über diese bereits seit den 70er Jahren erstmalig von Sadock (1978; 1981) aufgeworfene und bis heute (cf. u.a. Ziegeler 2000; 2006; 2016) in der Pragmatik extensiv und kontrovers diskutierte Frage nach der negativen polaren Komponente sogenannter «approximativer Adverbien» (engl. almost, fr. presque, sp. casi, sp. por poco) konnte bislang kein Konsens unter den Linguisten erzielt werden (cf. Schwellenbach 2009). Während Ducrot (1972; 1073) und Martin (2005) hinsichtlich der französischen Konstruktion presque p von einer präsupponierten polaren Komponente ¬p ausgehen, argumentieren Sadock (1978; 1981) und Ziegeler (2000; 2006) hinsichtlich almost p insbesondere für eine konversationelle Implikatur ¬p. Hitzemann (1992), Aranovich (1995), Sevi (1998), Horn (2002), Schwenter (2002), Rapp/von Stechow (1999) und Penka (2006) sowie analog für das italienische quasi auch Amaral/Del Prete 2010) gehen bei der polaren Komponente ¬p von almost p vielmehr von einer semantischen Implikation (auch: entailment) aus. Ziegeler (2000; 2006) schiebt zudem noch die Möglichkeit einer konventionellen Implikatur ein. Hinsichtlich der kontrovers diskutierten Termini entailment, (semantische und pragmatische) «Präsuppositionen», «konversationelle» und «konventionelle Implikaturen» ist es vorab notwendig, eine eindeutige Position an der Pragmatik-Semantik-Schnittstelle zu beziehen. Bedeutungen lassen sich seit Grice (1975) in kontextabhängige Bedeutungen, die pragmatischer Natur sind, und kontextunabhängige Bedeutungen, die semantischer Natur sind, einteilen. Entsprechend der Klassifikation nach Potts (2009) zählen zu den kontextabhängigen Bedeutungen konversationelle Implikaturen, die in entweder starkem Maße kontextabhängig (partikularisierte konversationelle Implikaturen) oder geringem Maße kontextabhängig (generalisierte konversationelle Implikaturen) sind, sowie pragmatische Präsuppositionen im Levinson’schen Sinne (2000a) und zu den kontextunabhängigen Bedeutungen hingegen entailments, semantische Präsuppositionen und konventionelle Implikaturen (CIs).
57 Um eine Wiederholung der Auflistung aller aus lateinisch quasi hervorgegangen romanischen Äquivalente (quase VP, quasi VP etc.) zu umgehen, wird lediglich die spanische Form casi VP angeführt werden. In der folgenden Untersuchung des pragmatisch-semantischen Status der polaren Komponente wird sich insbesondere auf casi als Modifizierer der VP konzentriert. Für eine Untersuchung von almost als Modifizierer der DP sei hingegen auf Penka (2006) verwiesen.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
conversational implicatures Not conventional, not speaker oriented, not backgrounded
context dependent meanings
conversationally-triggered presuppositions not speaker oriented, backgrounded
entailments at-issue entailments not invariably speaker oriented, vary under holes, plugs
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CIs
conventional presuppositions not speaker oriented, backgrounded
Abbildung 3: Bedeutung nach Potts (2009, 23).
Während kontextabhängige Bedeutungen aufhebbar sind, sind die Bedeutungen der Klasse der entailments unaufhebbar. Ob die polare Komponente semantisch impliziert und damit zur Gruppe der entailments im weiteren Sinne gehört oder konversationell implikatiert und damit zur Gruppe der kontextabhängigen Bedeutungen gehört, ist anhand des Aufhebbarkeitstests zu verifizieren. Dieser zeigt, dass die polare Komponente von almost VP, casi VP, por poco VP sowie von analogen Adverbien und Präpositionalphrasen in den anderen romanischen Sprachen nicht aufhebbar ist. (58) Unaufhebbarkeit der polaren Komponente Eng. #Bill almost swam the English Channel, in fact he swam it. (Sadock 1981) Sp. #Vettel casi ganó la carrera y (de hecho) la ganó (del todo). ‘#Vettel hätte das Rennen beinahe gewonnen und (, in der Tat,) er gewann es (ganz).’ Sp. #Por poco ganó la carrera y, de hecho, la ganó. ‘#Beinahe hätte er das Rennen gewonnen, und, in der Tat, gewann er es.’ Sadock (1978; 1981) und Ziegeler (2000; 2006) halten hinsichtlich almost trotz der Unaufhebbarkeit an einer konversationellen Implikatur fest. The implicature is straightforwardly calculable and highly nondetachable but, unfortunately for my thesis, just about uncancellable (Sadock 1978, 293). The main difficulty with the conversational analysis of almost is that the implicature is not terribly cancellable. [. . .] I suggest that the context-free implicature in the case of almost is so strong that explicit cancellation will always be difficult (Sadock 1981, 264s.).
62
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Ziegeler (2000; 2006; 2016) schwankt allerdings aufgrund der Unaufhebbarkeit zwischen einer stark generalisierten konversationellen Implikatur und einer semi-konventionellen Implikatur.58 The present paper analyses the meaning of almost in terms of a strong counterfactual implicature (either a conversational or a conventional one), and argues against the claims by Hitzeman (1992) and others that the proximative adverb is an entailment (Ziegeler 2000, 1773). It was later proposed in Ziegeler (2010) that the classification of the negative meanings in almost was that of a semi-conventional implicature, i.e., one that was conventional (and thus not cancellable) in some contexts but not in others (Ziegeler 2016, 5).
Als ausschlaggebendes Argument für ihre Beweisführung almost p +> ¬p führen Sadock (1978, 294) und Ziegeler (2000; 2006) das Kriterium der Verstärkung an, nach welchem lediglich konversationelle Implikaturen redundanzlos verstärkt werden können. Analog zum Englischen und Deutschen ist die Verstärkung auch in den romanischen Sprachen möglich, wie in Anlehnung an Schwellenbach (2009) am Beispiel des Spanischen exemplifiziert wird. (59) Verstärkbarkeit der polaren Komponente Sp. (a) Vettel casi ganó la carrera, {pero / #y} no la ganó del todo. (b) Vettel no ganó la carrera, {pero / #y} casi la ganó. (c) Por poco ganó la carrera, {pero / #y} no la ganó. (d) El ansiado ‘sobre’ semanal o mensual, tan frecuente hace décadas en España, ya casi ha desaparecido. Casi, pero no del todo. Todavía hay empresas que prefieren pagar en metálico a sus empleados. (Lexis Nexis: Hoy, 09/05/2007, España) (e) Consciente de que el recuerdo del maravilloso juego que practicó no le deja vivir del pasado, el brasileño, con quien ha coqueteado el Milan como cada verano, parte casi de cero. No del todo, pero casi. (El Periódico: Guía de la liga 2007–2008, 25/08/2007, España) Die Möglichkeit der redundanzlosen Verstärkung der polaren Komponente spricht nach Horn (1991) allerdings nicht gegen ein entailment, zumal sie vielmehr in einem rhetorischen Kontrast der beiden argumentativ gegensätzlich
58 Der vermeintliche Ausweg der Autorin, die Implikatur als semi-konventionell zu bezeichnen, die in manchen Kontexten aufhebbar und in anderen nicht sei, würde ein Kontinuum zwischen GCI und konventioneller Implikatur erforderlich machen, auf welchem jegliche pragmatischen Tests (wie u.a. Aufhebbarkeitstests) unbrauchbar werden würden.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
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orientierten Konjunkte, casi p und no p, begründet liegt (cf. Ducrot 1972; 1973; Anscombre/Ducrot 1976; Horn 1991; 1996; 1997; 2002; Schwenter 2002). Obgleich es sich bei der negativen polaren Komponente ¬p um ein entailment handelt, ist der Argumentationswert von casi p, im Gegensatz zu dem von no p, positiv, beziehungsweise im Zuge der skalaren Aufwärtsorientierung (upwardentailing) gegen p orientiert (cf. Horn 1997, 175; Schwenter 2002). Horn (1991) stellt das Kriterium der Verstärkung zur Differenzierung zwischen entailments und Implikaturen grundsätzlich in Frage, indem er die Verstärkbarkeit auch von logisch inferiertem Material zeigt. (60) Verstärkbarkeit von logisch inferiertem Material nach Horn (1991) Eng. (a) In this study I have argued that an informationally redundant proposition may appear felicitously in the second clause of a conjunction provided that it is rhetorically opposed to the content of the first clause. It is unfortunate that our results vitiate one of the few apparently reliable tests for distinguishing conversational implicata from logical inferences and semantic entailments, but vitiate it they do. (Horn 1991, 334) (b) I don’t know why I love you, but I do. (Horn 1991, 322) Die Hinfälligkeit des Kriteriums der Verstärkung als vermeintliche Eigenschaft konversationeller Implikaturen lässt sich zudem anhand der redundanzlosen Verstärkbarkeit des entailments casi ╞ casi in der Form casi, pero casi illustrieren. (61) Verstärkbarkeit von entailments Sp. Continuando, en el deporte rey, una saga más actual es la «Roja» en Francia ‘98, el último mundial al que asistió, donde casi, pero casi, gana sus tres primeros partidos. (Emol: El Mercurio, 09/07/2007, Isla de Pascua y la lista de los más célebres «casi casi» de Chile, Chile) Demzufolge sind auch die folgenden redundanzlosen Verstärkungen der Form casi, pero sólo casi keine hinreichenden Kriterien für eine Implikatur. (62) Verstärkbarkeit von entailments Sp. (a) ¿Cuán mala es su situación? Examine en oración lo que tuvo que experimentar David. Él fue llevado hasta el extremo de su límite humano. Casi fue echado por tierra, pero sólo casi. [. . .] La situación desesperada de David: casi, pero sólo casi (vv. 81–87) [. . .] Su humanidad es evidente. Casi lo ha perdido todo. Casi, pero
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
sólo casi. (Salmo 199: Una odisea al corazón de Dios, Jeff Adams, 170) (b) Nuestro hombre en Bilderberg: casi pierdo el control, pero sólo casi. (Noticias de abajo, 07/12/2009, Nuestro hombre en Bilderberg: casi pierdo el control, pero sólo casi, España) Des Weiteren lässt sich beispielsweise auch die assertierte proximale Komponente der periphrastischen Proximativkonstruktionen redundanzlos verstärken. (63) Verstärkbarkeit der proximalen Komponente Sp. Estaba a punto de ganar la carrera, y casi la ganó. Es handelt sich hierbei um die Konjunktion eines Proximativs [proximale Komponente] mit einem lexikalischen Avertiv [proximale Komponente + polare Komponente]. Auch die Verstärkung durch die Aneinanderreihung der proximalen assertierten Komponente ist redundanzlos möglich. In casi casi casi p kann die proximale assertierte Komponente von casi p aneinandergereiht werden, ohne Redundanz zu erzeugen. (64) Unmittelbare Verstärkung der proximalen Komponente von sp. casi (casi) p Sp. (a) Puede que con el dinero que se ha empleado en celosias de maderas nobles o en espectaculares sillones, se podria haber cambiado el aspecto desolador de unos cuantos centros publicos que casi casi se caen a pedazos. (Lexis Nexis: El País, 15/10/2004, España) (b) Y ya como colofón de su discurso, en una alusión que casi casi sonó al «váyase señor González», afirmó: «No siga por este camino. [. . .]» (Lexis Nexis: ABC, 11/09/2008, España) (c) Illumbe casi casi casi se llenó. Faltaría más. (Lexis Nexis: El Correo, 15/08/2008, España) Dass die Dopplung von casi (casi) p keine Eigentümlichkeit des Spanischen ist, zeigt sich durch weitere Beispiele aus anderen romanischen Sprachen, wie exemplarisch am Italienischen und Sardischen illustriert wird. (65) Unmittelbare Verstärkung der proximalen Komponente von it. quasi (quasi) p It. (a) Non faticavo a immaginare l’impressione che il mio modesto domicilio doveva avergli provocato. «Cosa gliene sembra?» «Incantevole. Quasi quasi trasloco qui anch’io.» (CORIS: Monitor Corpus 2008–2010) ‘Fast wäre auch ich hierher gezogen.’
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
(b)
(c)
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Combattere la fatale tentazione (capita a tutti, prima o poi, anche ai cinefili duri e puri) che suggerisce: «Quasi quasi aspetto l’uscita in cassetta». (CORIS: Stampa, Section: Stampa Periodici) ‘Fast hätte ich das Erscheinen auf Kassette abgewartet.’ «[. . .] Dio, era proprio fuori di testa.» «Ecco, Becky, tieni» e Tarquin mi porge il cellulare. Quasi quasi non riesco a prenderlo. Sono troppo nervosa. (CORIS: Monitor Corpus 2005–2007) ‘Ich wage es fast nicht, es zu nehmen.’
(66) Unmittelbare Verstärkung der proximalen Komponente von sard. quasi (quasi) p Sard. Digu chi si vi torru un’altra voltha guasi guasi diventu eju puru un mezzu avvucadu di tarentu che eddu! (ital. Dico che se ci torno un’altra volta quasi quasi divento anche io un mezzo avvocato di talento come lui!) (Battista Ardau Cannas, Farendi in Turritana, Atto II, Scena IV) Die Verstärkbarkeit der Avertivbedeutung zeigt sich auch durch die Kombinierbarkeit von quase und por pouco, wie am Beispiel des brasilianischen Portugiesisch illustriert wird: (67) Verstärkbarkeit der Avertivbedeutung BP E essa possibilidade, que lhe ocorria agora no meio do mato, fê-lo parar. Hesitou alguns momentos, quase – esteve por pouco – voltou atrás. Mas, ao mesmo tempo, lembrou-se da mulher que o esperava – era realmente uma mulher – e continuou. O interessante é que não estava certo ainda, não chegara a uma conclusão, se Leninha era bonita ou não. (Nelson Rodriguez, 1944, Meu Destino é Pecar, Brasil) Die Herangehensweise über eine pragmatische Präsuppositionstheorie im Levinson’schen (2000a) Sinne als auch die von Sadock (1981) und Ziegeler (2000; 2006) geführte Argumentation für eine (generalisierte) konversationelle Implikatur ist demzufolge, aufgrund der Unaufhebbarkeit und des nicht als hinreichend geltenden Kriteriums der Verstärkbarkeit in Anlehnung an Horn (1991), entkräftet worden. Die polare Komponente gehört aufgrund ihrer Kontextunabhängigkeit dementsprechend zur entailment-Gruppe im weiteren Sinne, die in Anlehnung an Potts (2009) weiterhin nach at-issue entailments, conventional implicatures und conventional presuppositions spezifiziert werden kann. Ducrot (1972; 1973) und
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
seinem Ansatz folgend geht auch Martin (2005) von einer semantischen Präsupposition aus. Allerdings erfüllt die polare Komponente lexikalischer Avertivkonstruktionen, wie sp. casi p, fr. presque p etc., nicht die üblichen Standardtests: Der erste und stärkste Präsuppositionstest «Konstanz unter Negation» wird hinsichtlich casi p und presque p nicht erfüllt. (68) Keine Konstanz der polaren Komponente von casi p unter Negation Sp. (a) Casi me caigo. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ Polare Komponente: No me he caido. ‘Ich bin nicht gefallen.’ / *Me he caido. ‘*Ich bin gefallen.’ (b) Casi no me caigo. ‘Ich wäre beinahe nicht gefallen.’ Polare Komponente: *No me he caido. ‘*Ich bin nicht gefallen.’ / Me he caido. ‘Ich bin gefallen.’ Lediglich bei der Konstruktion mit expletiver Negation, por poco no p (polare Komponente: ¬p), die die Autoren allerdings nicht in Betracht ziehen, könnte man argumentieren, dass sich die polare Komponente im Vergleich zu der kanonischen Konstruktion por poco p (polare Komponente: ¬p) konstant verhält – ganz im Gegensatz zu der negierten kanonischen Konstruktion por poco no p (polare Komponente: ¬¬p). (69) Vermeintliche Konstanz der polaren Komponente bei por poco p Sp. (a) Por poco me caigo. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ Polare Komponente: No me he caido. ‘Ich bin nicht gefallen.’ / *Me he caido. ‘*Ich bin gefallen.’ (b) Por poco no me caigo. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ Polare Komponente: No me he caido. ‘Ich bin nicht gefallen.’ / *Me he caido. ‘*Ich bin gefallen.’ Allerdings handelt es sich, wie im weiteren Verlauf der Arbeit in Anlehnung an Bordería/Schwenter (2005) gezeigt wird, bei der kanonischen Konstruktion por poco p (polare Komponente: ¬p), die ebenfalls mit kanonischer Negation in der Form por poco no p (polare Komponente: ¬¬p) erscheinen kann, und der Konstruktion mit expletiver Negation in der Form por poco no p (polare Komponente: ¬p) um zwei unterschiedliche Konstruktionen (por poco no p ist insofern polysem), die getrennt voneinander zu testen sind. Neben der nicht erfüllten «Konstanz unter Negation» liefern auch die weiteren üblichen Präsuppositionstests, wie Fragetest, Modalitätstest und Antezedenstest, eher fragwürdige Aussagen, wie die folgenden Beispiele von casi p illustrieren.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
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(70) Fragetest, Modalitätstest und Antezedenstest für Präsuppositionen Sp. (a) ¿El equipo casi alcanzó la semifinal? ? >> El equipo no alcanzó la semifinal. [Ja/Nein-Fragetest] (b) Quizás el entrenador anterior se arrepienta de que el equipo casi alcanzó la semifinal. ? >> El equipo no alcanzó la semifinal. [Modalitätstest] (c) Si el equipo casi alcanzó la semifinal, el entrenador estará contento. ? >> El equipo no alcanzó la semifinal. [Antezedenstest] Ein nicht auf den üblichen Standardtests beruhender und demzufolge über den klassischen Präsuppositionsbegriff nach Frege (1892) und Strawson (1950) hinausgehender Präsuppositionsbegriff muss daher zunächst genau definiert und von einem at-issue entailment abgegrenzt werden. Mit anderen Worten: Die Annahme einer klassischen semantischen Präsupposition muss ebenfalls vor dem Hintergrund der nicht erfüllten Standardtests ausgeräumt werden. Es handelt sich somit zwangsläufig entweder um ein at-issue entailment oder eine konventionelle Implikatur. Jayez/Tovena (2008) analysieren die polare Komponente von almost p und presque p als konventionelle Implikatur. Der Terminus der konventionellen Implikatur, der nach seiner Einführung nach Grice (1975) eine kontroverse Definitionsvielfalt durchlebt hat (cf. Bach 1999; Potts 2009), wird gerne auch von den Vertretern einer semantischen Präsupposition oder konversationellen Implikatur als Alternativmöglichkeit eingeräumt, sei es als alternative Möglichkeit zu einer Präsupposition oder sogar als Alternativmöglichkeit zu einer konversationellen Implikatur, wie bei Ziegeler (2006). Es ist daher für eine systematische Untersuchung unerlässlich, vorab eine eindeutige Position zur Einordnung von konventionellen Implikaturen an der Semantik-Pragmatik-Schnittstelle zu beziehen. Der Terminus «konventionelle Implikatur» ist insofern diskussionsbedürftig, als er eine contradictio in adiecto darstellt, zumal er die konventionelle Bedeutung der Semantik dem Implikatur-Begriff der Pragmatik entgegensetzt.59 Potts (2009, 9) bezeichnet die von Grice (1975) getroffene Wahl des Terminus «Implikatur» in Bezug auf einen der Semantik zugehörigen Inhalt vollkommen
59 «The term of the ‹conventional implicature› is sensitive given that the contradiction in terms is to be found in the fact that an implicature which becomes conventional no longer is an implicature but part of the conventional meaning.» (Schwellenbach 2013, 121)
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
zu Recht als unglücklich. Die konventionelle Implikatur wird nach Potts (2009) in die Gruppe der entailments eingeordnet. Die konventionelle Implikatur wird nach Potts (2009), wie folgt, definiert: a. CIs are part of the conventional meaning of words. b. CIs are commitments, and thus give rise to entailments. c. These commitments are made by the speaker of the utterance ‘by virtue of the meaning of’ the words he chooses. d. CIs are logically and compositionally independent of what is ‘said (in the favored sense)’, i.e. independent of the at-issue entailments (Potts 2009, 156).
Eine konventionelle Implikatur in der oben aufgeführten Definition nach Potts (2009) ist im Hinblick auf die Analyse der polaren Komponente (¬p) von quasi p auszuschließen. Die polare Komponente wird neben der assertierten proximalen Komponente in allen Lesarten von quasi p (semantisch) impliziert. Auch im Falle der skalaren Lesart (z.B. sp. Ya casi son las diez. ‘Es sind schon fast 10 Uhr.’) handelt es sich bei der polaren Komponente von quasi VP in den romanischen Sprachen analog zu almost und fast (cf. Rapp/von Stechow 1999; Penka 2006) um ein per definitionem auf Wahrheitsbedingungen basierendes skalares entailment und keine (auf Kontextabhängigkeit basierende) skalare generalisierte Implikatur (GCI), wie sie in der Theorie nach Levinson (2000a) bei Ausdrücken, wie einige (+> nicht alle) entsprechend der pragmatischen Skala bzw. vorliegt.60 Hinsichtlich des Avertivs ist, neben der proximalen und der polaren Komponente, auch der semantisch-pragmatische Status des Vergangenheitsoperators zu untersuchen. Die Koexistenz einer lexikalischen und einer grammatischen Lesart kommt nicht zuletzt aufgrund eines (noch) nicht vollständig konventionalisierten Vergangenheitsoperators in der Konstruktion casi VP als dritte Avertivkomponente zustande. Dass aber hingegen der Vergangenheitsoperator P und damit die temporale Komponente des Avertivs von casi p auch im Spanischen noch nicht vollständig konventionalisiert ist, zeigt sich an dem folgenden Beispiel mit eindeutig skalarer Lesart: (71) Skalare Bedeutung Sp. (Ya) son casi las diez. ‘Es sind (schon) fast 10 (Uhr).’
60 Der Aufhebbarkeitstest für einige sei nur der Vollständigkeit halber an folgendem Beispiel illustriert: Einige Damen trugen ein weißes Kleid, ja sogar alle.
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Allerdings zeigt das folgende Beispiel mit implikatiertem Vergangenheitsoperator, dass aus der skalaren Bedeutung in einem Vergangenheitskontext oftmals eine kontrafaktische Lesart (‘es sind/waren schon fast 10 Uhr, als p’ +> ‘es wären beinahe schon 10 Uhr gewesen, als p’) inferiert werden kann. (72) Skalare Bedeutung mit kontrafaktischer Implikatur Sp. Antes de llegar a la calle Valencia, donde ya estaré totalmente orientado, pregunto a dos chicas, quienes me dirigen hacia Aragó y por allí, llego mejor al Clot, pero me ha costado una hora. Casi son las diez cuando llego y a Luisa le suele gustar acostarse temprano; me saca una ensaladilla, que como muy a gusto y, aunque siempre me dijeron que por la noche mata, un par de rajitas de melón. (Google: Blogspot viaje 12/2003, http://viajedej.blogspot.de/2013/12/ 22903–prolegomenos-2.html; letzter Zugriff: 25.03.2014) In Anlehnung an u.a. Horn (1996; 2002) und Sevi (1998) für almost und Rapp/ von Stechow (1999) für dt. fast lassen sich hinsichtlich der Polysemie der Konstruktion casi VP zwei Lesarten unterscheiden: Eine lexikalische Lesart (inner reading), die in Anlehnung an u.a. Rapp/von Stechow (1999), Sevi (1998) als skalare Lesart bezeichnet wird, und eine grammatische Lesart (outer reading), die in Anlehnung an Rapp/von Stechow (1999) eine kontrafaktische Lesart darstellt.61 Letztere, die grammatikalisierte Lesart, wird in dieser Arbeit von uns als Avertiv bezeichnet, zumal sie im Gegensatz zu einer rein kontrafaktischen Lesart (wie z.B. die lest-clauses nach Schmidtke-Bode 2009, 129–144) die Avertivkomponenten Imminenz und Vergangenheit grammatikalisiert hat. Im Gegensatz zu den Konstruktionen der Form it. quasi VP (sp. casi VP, etc.), die stärkeren Restriktionen unterliegen, vermag sp. por poco VP (it. per poco VP; gl., pg. por pouco VP; kat. per poc VP, etc.) keine skalare Lesart anzunehmen und ist basierend auf dem Ausdruck einer geringen Quantität62 beziehungsweise eines
61 «Almost and barely are not ambiguous, but contextually dependent in that they can choose an appropriate domain to operate on. They can work on possible worlds – hence we get the counterfactual meaning; or on the set of precision standards – hence we get what I called the ‹scalar› meaning» (Sevi 1998, 38). 62 Nach Gamillscheg (1957, 753) werden insbesondere im Altfranzösischen Ausdrücke geringer Quantität zur Verstärkung der Negation eingesetzt, wie «afrz. pas, point, mie (‘Krume’), gelegentlich auch giens ‘Art’, gote ‘Tropfen’, amende ‘Mandel’, areste ‘Gräte’, beloce ‘Schlehe’, dent, eschalope ‘Schote’ u.a., T. L. I, XVII; cf. Franc les ocient ki ne·s ont pas amé, (Alisc. 6819, zitiert nach Gamillscheg 1957, 753), ‘die sie keineswegs gern haben’. Von diesen Ergänzungen sind im 16. Jh. noch pas, point, mie und goutte in Gebrauch, später nur pas und point, die schon im 16. Jh. überwiegen» (Gamillscheg 1957, 753).
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Mangels (sp. poco ‘wenig’, ‘klein’), der die polare Komponente in den Vordergrund stellt, stärker hinsichtlich der Avertivfunktion grammatikalisiert. (73) Inkompatibilität der skalaren Lesart von por po(u)co p EP São quase dez horas. ‘It’s almost ten o’clock.’ (Amaral 2007, 47) EP #Por pouco não são dez horas. by little not be:PRES:3PL ten hours (Amaral 2007, 47) Sp. Casi (#Por poco) son las diez. Wie die folgenden Beispiele illustrieren, wird der Avertiv in Verbindung mit States (+statisch, +durativ, –telisch) entweder agrammatisch (im Falle von por poco p) oder weist zumindest eine semantisch-pragmatische Avertiv-Inkompatibilität (im Falle von casi p) auf. Der Avertiv ist demzufolge an das Merkmal der Dynamizität gebunden. (74) Inkompatibilität des Avertivs mit States Sp. La última vez que lo vi, el recién nacido {casi / *por poco} tenía pelo. ‘Das letzte Mal, als ich es sah, {hatte das Neugeborene fast schon Haare / ?hätte das Neugeborene beinahe Haare gehabt}.’ Sp. La última vez que lo vi, mi abuelo {casi / *por poco} no tenía pelo. ‘Das letzte Mal, als ich ihn sah, {hatte mein Großvater fast keine Haare / #hätte mein Großvater beinahe keine Haare gehabt}.’ Accomplishments zeigen sich im Skopus des Avertivs insofern ambig, als sie sowohl die Interpretation einer Avertivlesart (a), bei der die Imminenz zum Beginn des Wahrheitsintervalls ausgedrückt wird, als auch die einer Avertivlesart (b), bei der die Imminenz auf den Kulminationspunkt gerichtet ist, zulassen: (75) Avertivlesarten bei Accomplishments Sp. Carlos {casi / por poco} tradujo el poema. (a) Carlos estaba muy cerca de empezar a traducirlo, pero no lo tradujo. (b) Carlos estaba cerca de terminar la traducción, pero no la terminó. Diese Ambiguität von Accomplishments hinsichtlich der beiden Avertivlesarten können anhand der von Aranovich (1995, 15) an dem Beispiel translating a poem illustrierten Skala der zu zählenden Wörter erläutert werden:
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
{
…-P…
}
P
71
[i.e. polare Komponente] [i.e. proximale Komponente]
Mn
…
M2 entails
M1
M0 entails not
Abbildung 4: Ambiguität von Accomplishments nach Aranovich (1995, 15).
Da Accomplishments bekanntlich keine «Teilmengen-Eigenschaft» besitzen, sind sie lediglich in den den Kulminationspunkt beinhaltenden Teilintervallen wahr, der in Abbildung 4 durch P gekennzeichnet ist. Die Skalenwerte Mn bis M0 illustrieren in dem Prozess traducir el poema (‘ein Gedicht übersetzen’) nach Aranovich (1995, 15) die Zahl der noch zu übersetzenden Wörter, wie M2 für ‘noch zwei zu übersetzende Wörter’. Die Pfeile illustrieren nach Aranovich (1995, 15) die semantische Relation, die bei M2 (‘noch zwei zu übersetzende Wörter’) zu M1 (‘noch ein zu übersetzendes Wort’) ein entailment, jedoch von M1 zu M0 (‘kein zu übersetzendes Wort mehr’) entsprechend keine semantische Implikation darstellt. Während bei unserer ersten (ingressiven) Avertivlesart in Beispiel (75a) die Imminenz zum Wahrheitsintervallbeginn und entsprechend ohne Eintritt in das Wahrheitsintervall ausgedrückt wird (Carlos estaba muy cerca de empezar a traducirlo, pero no lo tradujo. ‘Carlos war nahe daran, mit der Übersetzung zu beginnen, aber er übersetzte es nicht.’), wird in der zweiten (resultativen) Avertivlesart in Beispiel (75b) der Eintritt in das Wahrheitsintervall mit Imminenz zum Kulminationspunkt ausgedrückt (Empezó la traducción y estaba cerca de terminarla, pero no la terminó. ‘Er begann die Übersetzung und war nahe daran, sie zu beenden.’). Der ursprünglich durativ-atelische Prozess von Activities wird im Skopus der avertiven Präpositionalphrase por poco oder des Adverbs casi ingressiv verwendet (Shifting). (76) Shifted situation type Sp. El final de esta historia es que fuimos escoltadas por la guardia hasta el aeropuerto. Él, cuando se despidió de mi hermana, casi llora. En cambio nosotras, hasta España, no paramos y en el avión no dejábamos de reír. (CREA: Clara Obligado, 2002, Salsa, Argentina) Sp. Ayer {casi / por poco no} llovió. ‘Gestern hätte es beinahe geregnet.’ / ‘Gestern hätte es beinahe angefangen zu regnen.’ Im Gegensatz zu der hinsichtlich des Avertivs stärker grammatikalisierten Präpositionphrase por poco, können Activities im Skopus der lexikalischen Avertivkonstruktion casi p neben der Avertivlesart auch eine skalare Lesart annehmen.
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(77) Ambigue Lesarten von casi p Sp. La semana pasada casi no habló conmigo. Avertivlesart: ‘Vergangene Woche hätte er beinahe nicht mit mir gesprochen.’ Skalare Lesart: ‘Vergangene Woche sprach er kaum mit mir.’ Sp La semana pasada por poco no habló conmigo. Avertivlesart: ‘Vergangene Woche hätte er beinahe nicht mit mir gesprochen.’ Die prototypische Avertivlesart wird in Verbindung mit den nach Dowty (1979, 124) durch das Zustandswechselprädikat BECOME gekennzeichneten und bereits ingressiven Achievements erzielt, zumal sowohl in affirmativer als auch negierter Aussage Anfangspunkt und Endpunkt der Handlung punktuell zusammenfallen. (78) Prototypische Avertivlesart mit Achievements Sp. Vettel casi (no) ganó la carrera. Sp. Y aquella misma noche por poco mata a uno, que estaba tan desmayao como él, por una porfía de tres o cuatro duros, fíjate el encanto que ponía el Diario los otros días. (CREA: El País, 12/02/1980, Ficción, España) Der Avertiv kann darüber hinaus sowohl mit einer realen Avertivlesart paraphrasiert werden, bei der die polare Komponente (¬p) explizit ausgedrückt wird (Lesart a), als auch in einer irrealen Avertivlesart (cf. die ursprüngliche Proximativbedeutung having almost reached the situation by the main verb63 nach Heine (1991), die im Deutschen durch den Konjunktiv II in Verbindung mit beinahe wiedergegeben wird (Lesart b): (79) Reale und irreale Avertivlesart Sp. Vettel casi ganó la carrera. (a) Reale Avertivlesart: Vettel war kurz davor das Rennen zu gewinnen, aber gewann es nicht. (b) Irreale Avertivlesart: Vettel hätte das Rennen beinahe gewonnnen. Die Kontrafaktizität der Handlung lässt sich anhand der Möglichen-Welten Semantik illustrieren. Durch die Äußerung casi ganó la carrera zugunsten von no 63 Die Paraphrasierung having almost reached the situation by the main verb wurde ursprünglich, das heißt vor der Identifizierung des Avertivs nach Kuteva (1998; 2001), als Paraphrase für den Proximativbegriff nach Heine (1991) und König (1993) gebraucht (cf. Kapitel 2.1 und Kapitel 3.1.2).
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
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ganó la carrera kann der Sprecher beispielsweise vor einem gegebenen Kontext (b) konversationell folgenden Konditionalsatz (c) implikatieren: (80) Der Avertiv und mögliche Welten Aussage (a) Vettel casi gana la carrera. Kontext (b) Vettel no ganó la carrera, porque se le rompió el motor. ‘Vettel gewann das Rennen nicht, weil ihm der Motor kaputt ging.’ Implikatur (c) Vettel habría ganado la carrera, si no se le hubiera roto el motor. ‘Vettel hätte das Rennen gewonnen, wenn ihm der Motor nicht kaputt gegangen wäre.’ In der aktuellen Welt ist es nicht der Fall, dass p (Vettel no ganó la carrera. ‘Vettel hat das Rennen nicht gewonnen.’). Wir können uns allerdings vor einem solchen obigen Kontext (Vettel habría ganado la carrera, si no se le hubiera roto el motor. ‘Vettel hätte das Rennen gewonnen, wenn ihm der Motor nicht kaputt gegangen wäre.’) vorstellen, dass in einer alternativen (kontrafaktischen) Welt, die nicht der aktuellen Welt entspricht und in der ihm der Motor nicht versagt ist, p wahr ist. Konstruktionen, wie casi p (< quasi < quam si ‘als ob, wie wenn’),64 können als Konsequenz eines kontrafaktischen Konditionalsatzes ohne versprachlichtes Antezedens verstanden werden.65 Die argumentativ positive Orientierung nach Ducrot/Anscombre (1976) lässt sich demzufolge auch über ein imaginäres Einräumen der Bedingung des Antezedens erklären, mit dem sich p als in der realen Welt wahr vorgestellt werden kann (casi < quasi < quam si ‘als ob’, ‘wie es der Fall sein würde, wenn’), auch wenn in der aktuellen Welt nicht der Fall ist, dass p (cf. Schwellenbach 2009). Im Gegensatz zu den iberoromanischen Sprachen selegiert das italienische quasi oftmals noch den Konjunktiv zur Unterstützung der Kontrafaktizität.66 (81) Quasi VP (congiuntivo trapassato) It. Neanche a mio fratello – rise lui, divertito vedendo passare sulla mia faccia prima la sorpresa e poi l’ansia, quasi avesse pronunciato un nome proibito. Calò un pesante silenzio. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRomanzi) ‘fast hätte er einen verbotenen Namen ausgesprochen’ 64 Zur Etymologie und Diachronie von quasi p cf. Kapitel 4.3.1. 65 Cf. Sevi 1998; Schwellenbach 2009. 66 Cf. Kapitel 4.3.1.
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It. Quando il mangiatore di fuoco si deterge le labbra, quasi avesse mangiato un cosciotto di pollo anziché sputato alcol e saliva, non fa altro che rifornire di nascosto la bocca di alcol che tiene in una fialetta nascosta nella mano. (CORIS: Subcorpus: Prosa Accademica) ‘fast hätte er einen Hühnerschenkel gegessen’ In dem folgenden Beispiel hat quasi Skopus über die imminentielle STAREPeriphrase, die sowohl im congiuntivo imperfetto als auch im indicativo imperfetto stehen kann. (82) Quasi [stare per + Infinitiv] It. Nell’ultima rilettura che il cinema ci ha proposto – quella del giovane Lurhmann [sic!] – all’inizio del film una mezzo busto del tg annuncia i protagonisti della tragedia che si va consumando in ‘Verona Beach’, lanciando sullo schermo televisivo le rispettive fotografie con enfasi kitsch, quasi stesse per presentare e pubblicizzare i personaggi di una soap opera. (CORIS: Stampa Quotidiani) ‘wäre beinahe kurz davor gewesen, die Figuren der Soap-Opera vorzustellen und zu veröffentlichen’ It. Così, un giorno, alla fine del 1986, il fratello venne da me, venne un pomeriggio, e portava con sé l’uccellino. L’uccellino era tutto malconcio e quasi stava per morire. Allora io e i miei fratellini comiciammo [sic!] a scaldarlo, gli demmo da mangiare e l’uccellino tornò in sé. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRacconti) ‘und war fast kurz davor zu sterben’ Hinsichtlich der Verbalflexion der lexikalischen Konstruktionen liegt keine Spezifizierung hinsichtlich des TAM-Morphems vor. Während bei den periphrastischen Avertivkonstruktionen das finite Verb in einem perfektiven Vergangenheitstempus steht (z.B. fr. J’ai failli tomber. ‘Ich wäre beinahe gefallen’), unterliegen die lexikalischen Avertivkonstruktionen aufgrund der inhärenten polaren Komponente des Adverbs bzw. der Präpositionalphrase keinen Tempusrestriktionen: Die Eigentümlichkeit der lexikalischen Avertivkonstruktionen in den romanischen Sprachen zeichnet sich sogar durch ihr prototypisches Auftreten im Präsens aus, deren Funktion allerdings bislang dem Präsens de conatu (cf. Kapitel 3.1.2) zugeschrieben wird. Die im Präsens ausgedrückte lexikalische Avertivkonstruktion ist für gewöhnlich in einem perfektiven Vergangenheitskontext eingebettet, der ein perfektives Tempus erwarten würde. Die folgenden Korpusbelege des Spanischen illustrieren die lexikalischen Avertivkonstruktionen casi p (a), por poco p (b) und por poco no p mit expletiver Negation (c) im Präsens.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
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(83) Casi p, por poco p und por poco no p im Präsens Sp. (a) ¡Cuidado con la escalera, que tiene dos peldaños podridos! La semana pasada, casi me caigo (CREA: Sanchis Sinisterra, José, 1994, El cerco de Leningrado, España) ‘Vorsicht auf der Treppe, die zwei morsche Stufen hat! Letzte Woche wäre ich beinahe gefallen.’ (b) Ayer, por poco atropello a uno de estos temerarios ciclistas. (CREA: La Vanguardia, 03/04/1995, Cartas de los lectores, España) ‘Gestern wäre ich beinahe mit einem von diesen leichtsinnigen Radsportlern kollidiert.’ (c) Una caída. Por poco no me rompo las cervicales y desde entonces apenas puedo mover la cabeza. (Lexis Nexis: El Mundo, 30/ 07/2008, La ira del padre etero, España) ‘Ein Sturz. Beinahe hätte ich mir die Halswirbel gebrochen und seitdem kann ich kaum noch den Kopf bewegen.’ Analog zum Spanischen werden auch die portugiesischen, galicischen und katalanischen Avertivkonstruktionen oftmals im Präsens realisiert. (84) Iberoromanische Avertivkonstruktionen im Präsens BP Não fizemos muito progresso. E quase morre um por culpa exclusiva nossa. – Mas não morreu – disse Bianca. (CDP: Marcos Rey, 1995, Os Crimes do Olho-de-Boi, Brasil) BP Mas um novo equívoco na explicação das medidas anunciadas na véspera por pouco não provoca um desastre nas negociações. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) BP A outra história por pouco não acaba em morte. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) Gl. Non sei cómo, soupo que o xefe da patrulla que ía sacalo da cárcele estaba emparentado cunha prima súa e foi contarlle o caso, i entón a prima de súa nai saíu correndo en busca do parente, que por pouco non o atopa. (CORGA: Silvio Santiago, 1976, O silencio redimido. Historia dun home que pode ser outro, Editorial Galaxia, España/Galicia) Kat. Per poc (no) em moro de por (Espinal 2002, 2791) ‘Ich wäre beinahe vor Angst gestorben.’ Neben den iberoromanischen Avertivkonstruktionen finden sich auch die lexikalischen Avertivkonstruktionen des Italienischen im Präsens, wie die folgenden Belege des CORIS-Korpus illustrieren.
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(85) Italienische Avertivkonstruktionen im Präsens It. «Perché hai rotto con Lara?» La voce di Sadie mi arriva talmente forte nell’auricolare che quasi cado dalla sedia. Non avevo neppure notato che si era messa alle spalle di Josh. Lui l’ha sentita, è evidente. (CORIS: Monitor Corpus 2008–2010) ‘dass ich beinahe vom Stuhl falle.’ It. E mi ha persuaso a eseguire un «facile, non ti preoccupare» esercizio di torsione all’indietro del busto con il braccio teso: «Vedrai come lo farai meglio con il braccialetto al polso!» ha pronosticato. Infatti. Per poco non cado a faccia avanti. (Lexis Nexis: La Gazzetta dello Sport, 10/08/ 2010, Il bracciale dell’equilibrio per poco non mi fa cadere, Italia) ‘Beinahe wäre ich nach vorne aufs Gesicht gefallen.’ It. [. . .] loro se ne vanno preoccupati, per poco il mio matrimonio sfuma. (CORIS: Stampa Quotidiani) ‘Beinahe wäre meine Hochzeit zunichte gemacht worden.’ It. Io le ho sciolte e ho bevuto: per poco muoio. (CORIS: Stampa Quotidiani) ‘Beinahe wäre ich gestorben.’ Unsere korpusbasierten Untersuchungen der TAM-Flexion lexikalischer Avertivkonstruktionen in der spanischen, portugiesischen und italienischen Gegenwartssprache ergeben die in Tabelle 9 (Seite 77) illustrierte Distribution.67 Im CDE-Korpus repräsentiert das Indikativ Präsens das frequenteste Tempus der spanischen Avertivkonstruktionen: Por poco p weist 83,78% der CDE-Belege im Präsens auf, in Verbindung mit der kanonischen Negation von por poco no p (¬¬p) 100% und in Verbindung mit der expletiven Negation von por poco no p (¬p) 33,33% der CDE-Belege im Präsens auf, während casi p mit 40,41% der CDE-Belege ebenfalls das Indikativ Präsens als das frequenteste Tempus herausstellt (cf. Tabelle 9, Seite 77). Im Gegensatz zum Spanischen überwiegt in den portugiesischen CDPKorpusbelegen vielmehr der Gebrauch in Vergangenheitstempora gegenüber dem Gebrauch im Indikativ Präsens, wie Tabelle 10 (Seite 78) illustriert. Das pretérito perfeito simples do indicativo (PPS) ist mit 53,33% der CDP-Belege von por pouco p, 51,06% der CDP-Belege von por pouco não p mit expletiver Negation (¬p), 50% der CDP-Belege von por pouco não p mit kanonischer Negation (¬¬p) und mit
67 Zur Diachronie der TAM-Flexion in Verbindung lexikalischer Konstruktionen cf. Kapitel 4.3.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
77
Tabelle 9: TAM-Distribution in % von por poco (no) p und casi p im CDE (1900–1999). Spanisch Por poco p
Por poco no p (¬p)
Por poco no p (¬¬p) Casi p
TAM Presente
Distribution in % ,
Pluscuamperfecto
,
Indefinido
,
Imperfecto
,
Presente
,
Futuro
,
Presente
Presente
,
Imperfecto
,
Indefinido
,
Condicional simple
,
Pluscuamperfecto
,
Imperfecto de subjuntivo (-ra)
,
35,38% der CDP-Belege von quase p das jeweils frequenteste Tempus der portugiesischen Avertivkonstruktionen (cf. Tabelle 10, Seite 78). Die in Tabelle 11 (Seite 79) illustrierte Untersuchung des Italienischen auf der Grundlage des CORIS-Korpus weist das Indikativ Präsens als frequentestes Tempus für per poco non p mit 55,55% der CORIS-Belege und für quasi p mit 47,03% der CORIS-Belege nach. Hinsichtlich der Konstruktion per poco p ist das Präsens nach dem passato prossimo (25% der Belege) und dem passato remoto (25% der Belege) als das drittstärkste Tempus vertreten (cf. Tabelle 11, Seite 79).68 Die in den Tabellen 9, 10 und 11 aufgeführte Distribution der Verbalflexion lexikalischer Avertivkonstruktionen ist allerdings insbesondere qualitativ mit eingeschränkter Repräsentativität hinzunehmen, zumal sie zu der Annahme einer vermeintlichen Restriktion der Konstruktionen auf wenige TAM-Morpheme verleiten könnte. Beispielsweise entspricht das im Corpus del Español ausschließliche
68 Interessant wäre sicherlich noch eine Untersuchung der TAM-Distribution in der gesprochenen Sprache, bei der zumindest eine noch stärkere Präsenz des Indikativ Präsens zu erwarten wäre.
78
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Auftreten von por poco no p (¬¬p) im Präsens bzw. von por poco no p (¬¬p) im Präsens und Futur keineswegs einer tatsächlichen Tempusgebundenheit der Konstruktionen. Die qualitative Untersuchung der tatsächlichen Tempuskompatibilität lexikalischer Avertivkonstruktionen in den romanischen Sprachen wird im Folgenden unter Hinzunahme weiterer Korpora ausgedehnt und exemplarisch illustriert. Neben dem presente werden die lexikalischen Avertivkonstruktionen insbesondere auch nach den perfektiven Vergangenheitstempora (sp. pretérito perfecto simple und pretérito perfecto compuesto; pg. pretérito perfeito composto und pretérito perfeito simples) flektiert, die den prototypisch plötzlichen Zustandswechsel von einer ursprünglich imminenten und potentialen zu einer nicht eingetretenen Handlung durch die Grenzbezogenheit des perfektiven Aspekts unterstützen, wie die Korpusbelege der lexikalischen Konstruktion mit expletiver Negation in Beispiel (86) illustrieren.
Tabelle 10: TAM-Distribution in % von por pouco (não) p und quase p im CDP (1900–1999). Portugiesisch
TAM
Por pouco p
Pret. Perfeito simples Imperfeito Mais-que-perfeito simples (-ra)
Por pouco não p (¬p)
Por pouco não p (¬¬p)
Quase p
Distribution in % , ,
Pret. Perfeito simples
,
Presente
,
Imperfeito
,
Pret. Perfeito simples
Imperfeito
,
Mais-que-perfeito simples (-ra)
,
Pret. Perfeito simples
,
Gerúndio
,
Presente
,
Imperfeito
,
Infinitivo
,
Mais-que-perfeito simples (-ra)
,
Condicional Presente
,
Mais-que-perfeito composto
,
Pret. Perfeito composto
,
79
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
(86) PAUCUS-Konstruktionen mit synthetischem und analytischem Perfekt Sp. (a) «Estamos muy contentos, sobre todo con el podio. La etapa era lo de menos. El objetivo era el podio, y por poco no hemos sido segundos, aunque me alegro mucho por Carlos, porque también se lo merece», celebró Sánchez su éxito. (Lexis Nexis: Deutsche Presse Agentur, 22/09/2007, Ciclismo Vuelta, España) (b) «Pero aun así nos faltó meter el segundo. Tuvimos muchas ocasiones y por poco no lo hemos conseguido». (El País: 01/02/ 2008, Extraordinario Leo, España) EP Um sonho transformado em pesadelo, que por pouco não lhe custou a vida. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal)
Tabelle 11: TAM-Distribution in % von per poco (non) p und quasi p im Subcorpus Stampa des CORIS. Italienisch
TAM
Per poco p
Passato prossimo Passato remoto Indicativo presente
Per poco non p
Quasi p
Distribution in % ,
Indicativo imperfetto
,
Condizionale presente
,
Gerundio
,
Condizionale passato
,
Indicativo presente
,
Indicativo imperfetto
,
Passato remoto
,
Passato prossimo
,
Indicativo presente
,
Infinitivo
,
Gerundio presente
,
Congiuntivo imperfetto
,
Indicativo imperfetto
,
Condizionale presente
,
Passato remoto
,
Futuro semplice
,
80
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Neben den PAUCUS-Konstruktionen stehen auch die QUASI-Konstruktionen oftmals im synthetischen oder analytischen Perfekt. Da die quantitative Tempusuntersuchung auf der Basis des Stampa-Subkorpus keine Belege der quasiKonstruktion im passato prossimo enthält, seien an dieser Stelle auch zwei italienische Belege weiterer Subkorpora des CORIS-Korpus im passato prossimo angeführt. (87) QUASI-Konstruktionen mit synthetischem und analytischem Perfekt Sp. La población de topos casi se extinguió por completo de hambre al no poder encontrar los insectos, lombrices y larvas que son su alimento habitual. (CREA: Arsuaga, Juan Luis, 2001, El enigma de la esfinge. Las causas, el curso y el propósito de la evolución, España) BP Perdemos de 1 a 0, mas quase ganhamos de 5 a 2! (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) It. L’uomo la guardò perdendo ogni forza di coniugare un’espressione degna di tale nome. «No» quasi cantò. Marta lo invitò a seguirla e i due camminarono per qualche minuto in silenzio. (CORIS: Monitor Corpus 2001–2004) It. Immaginare di poter vedere Francesco, così lucente che corre incontro alla sua amica che è caduta, l’aiuta ad alzarsi e la sostiene con le sue grandi mani che emanano raggi di luce, mi ha così profondamente toccata, che quasi ho provato gelosia. (CORIS: Subcorpus: Ephemera, Section: EPHEMLettere) It. Dell[’]altro terzo di costoro, che è composto di investitori privati (italiani ed esteri), nessuno o quasi ha mostrato di preoccuparsi. Neppure i vertici dell[’]azienda, che pure dovrebbero essere i primi a tutelare gli interessi di tutti i soci dell[’]impresa. (CORIS: Monitor Corpus 2001–2004)69 Die im Imperfekt realisierten lexikalischen Avertivkonstruktionen werden durch die Zeitrelation Gleichzeitigkeit und das Merkmal der Unvollendung direkt in der irrealen Welt als eine Handlung betrachtet, die beinahe geschehen
69 Die Kodierung des CORIS-Korpusbelegs wurde von uns, wie folgt, korrigiert: «Dellaltro [sic!]»→ Dell’altro; «dellazienda [sic!]» → dell’azienda; «dellimpresa [sic!]» → dell’impresa. Die Kodierungen werden aus den Korpora 1:1 übertragen und nur an entscheidenden Stellen (i.e. bei für die Fragestellung relevanten Abweichungen von der jeweiligen Primärquelle) nachträglich unter Kenntlichmachung korrigiert. Insbesondere das CORIS-Korpus unterliegt im Gegensatz zu den anderen in dieser Arbeit verwendeten Korpora besonders vielen Kodierungsfehlern.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
81
würde. Aufgrund der Durativität des imperfektiven Viewpoint-Aspekts wird die Form allerdings, im Gegensatz zu dem perfektiven Viewpoint-Aspekt, häufiger für die skalare Lesart gebraucht. (88) QUASI-Konstruktionen mit imperfektivem Aspekt Sp. «Las llamas casi llegaban hasta el edificio de enfrente» (Diario de noticias, 01/04/2007, Las llamas casi llegaban hasta el edificio de enfrente, España) It. Quando poi la moglie del cestaio gli portò una tazza di brodo fumante e una bella fetta di pane bianco, quasi non credeva ai suoi occhi perché neanche a casa mangiava così. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) BP Fazia calor e quase não se conseguia andar sem dar um esbarrão em alguém. No meio da confusão, algumas moças faziam uma pesquisa, buscando opiniões dos passageiros sobre as instalações do aeroporto. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) (89) PAUCUS-Konstruktionen mit imperfektivem Aspekt EP Na primeira esquina, o riquexó por pouco não atropelava um velhote. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) Sp. Ahí está el famoso gato de Albert Pla, al que por poco se lo comían a la brasa en una de sus siete vidas. (El País: 14/05/2008, Seis gatos y una pared, España) Sp. A falta de trece minutos, era el Antequera el que lanzaba una falta en la frontal, que por poco no terminaba en gol. Arreciaban los pitos en la grada, aunque otro sector de la grada se arrancó con gritos de ánimo. Quedaban algo más de diez minutos para intentar arreglar una tarde aciaga. Gol y ciclón. (Lexis Nexis: Ideal, 24/11/2008, Triunfo de ‹martillo y cincel›, España) Neben dem bereits aufgeführten analytischen Perfekt treten die lexikalischen Avertivkonstruktionen darüber hinaus auch in den absolut-relativen Tempora Plusquamperfekt und zusammengesetztes Konditional auf. Die folgenden Belege illustrieren die Avertivkonstruktionen im Plusquamperfekt. (90) QUASI-Konstruktionen im Plusquamperfekt Sp. La dirección del teatro casi había renunciado al ambicioso plan que preveía aumentar la superficie de 9.313 metros cuadrados a 21.191 [. . .]. (CREA: La Vanguardia, 02/02/1994, El arquitecto Ignasi de SolàMorales recibe el encargo de construir un L [. . .], España)
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Sp. La actriz casi había acabado su labor cuando murió y sólo fue sustituida en una escena. (CREA: El Mundo, 01/07/1995, Soluciones de emergencia para la muerte del protagonista de una película dura, España) It. Aveva verniciato tutto tranne i lucernari, e poi Slick aveva portato su con una carrucola materiale vario dal piano terra della Fabbrica: un piccolo carico di computers, alcuni deck ciberspazio, una grande e vecchia tavola da oloproiezione che quasi aveva spezzato il cavo con il suo peso, generatori di effetti. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRomanzi) (91) PAUCUS-Konstruktionen im Plusquamperfekt EP Os caçadores da vanguarda empalideceram ao compreender que o golpe não fora mortal: a ponta da lança falhara por pouco o único ponto vulnerável. (CDP: João Aguiar, 1986, O homem sem nome, Portugal) Sp. A duras penas, Michele logró controlarse. Por poco había saltado de la silla. Sintió que un hilillo de sudor le asomaba por debajo de la nariz. (El Cultural: 16/10/2008, La muerte de Amalia Sacerdote, España) Sp. El economista por poco no había perdido su turno en la fila para ir al baño. Y ahí está, regresa a su asiento mientras se atusa el pelo y mira a sus compañeros de viaje. (El Cultural: 06/11/2008, Todo fluye, España) It. Il principe restava sul chi vive; a lui che aveva tanto amato il deserto, dove pure per poco non aveva perduto la vita, non piaceva affatto quello del Sinai: troppe rocce mute, troppe ombre inquietanti, troppo caos. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRomanzi) Das Konditional II markiert zusätzlich die Kontrafaktizität der lexikalischen Avertivkonstruktion und ist dementsprechend nicht mit einer skalaren Lesart kompatibel. (92) QUASI-Konstruktionen im Konditional II BP As multas foram emitidas porque o morador teria usado uma vaga para guardar dois carros e seu filho quase teria atropelado uma vizinha ao dirigir em alta velocidade. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) Sp. Un discurso pragmático y de gestión, muy concreto en lo sectorial pero ambiguo en lo demás, que, a decir de los nacionalistas, casi habría podido firmar el mismo Rajoy por sus escasas concesiones al
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
It.
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debate autonómico. (Lexis Nexis: El Correo, 09/04/2008, Zapatero prioriza los acuerdos con el PP sin cerrar la puerta a los nacionalistas; Tiende la mano a Rajoy en la lucha contra ETA, [. . .], España) Inutile che assicurasse che lui la peste la conosceva bene, e quella peste non era per molte ragioni. L’equipaggio quasi avrebbe voluto gettarlo a mare, per isolare il contagio. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRomanzi)
Der Gebrauch der PAUCUS-Konstruktionen im Konditional II ist aufgrund des bereits grammatikalisierten Merkmals [Kontrafaktizät] insbesondere in den iberoromanischen Sprachen relativ selten, wie die obigen quantitativen Untersuchungen illustriert haben. Er findet sich insbesondere bei Nicht-Muttersprachlern, die die Kontrafaktizität mit dem Konditional II meinen zusätzlich markieren zu müssen, sowie in romanischen Übersetzungen von Muttersprachlern, wie den nachfolgenden Übersetzungen ins Spanische. (93) PAUCUS-Konstruktionen im Konditional II Sp. Tú no, Tula, pero yo, por poco habría visto al Führer. (Grass 2016) Sp. La operación de David está desde ahora a tu espalda. Por poco habría escrito «a nuestra espalda», tanto me ha conmovido tu última carta. (Clément/Kristeva 2000, 110) Das synthetische Futur und das Konditional I sind aufgrund ihrer Inkompatibilität mit dem Merkmal [+Vergangenheit] nicht in der Lage, die Avertivbedeutung auszudrücken: (94) Inkompatibilität des QUASI-Avertivs im Konditional I und synthetischem Futur Sp. No obstante, los verdaderos colosos serán solamente dos: China e India. La primera será ya la mayor economía del mundo hacia el 2025, por encima de los Estados Unidos, y la segunda casi alcanzará a éstos en el 2050. (Lexis Nexis: La Rioja, 16/05/2008, 2050, España) Sp. Eso sí, si sigue en Almería tiene claro que apostaría por la continuidad, ya que, aunque «casi habría que empezar de cero, dado que no hay gente con más de un año de contrato, habiendo ido las cosas relativamente bien, la idea tendría que ser por apostar por la continuidad». (Lexis Nexis: Ideal, 27/05/2008, Eugenio Llera, año I, España). BP A lei até quase teria que ser modificada (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil)
84
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Neben der Tempusmarkierung lässt sich ein weiteres distinktives Merkmal zwischen Proximativ- und Avertivkonstruktionen in der Skopusinteraktion mit der Negationspartikel festmachen. Wie in Kapitel 3.1.1 illustriert, weist der Proximativ eine eingeschränkte Kompatibilität mit der Negation auf. In Kombination des Merkmals [+belebt] wird der Proximativ im Hinblick auf seine aspektuelle Lesart mit der Negationspartikel oftmals semantisch-pragmatisch inakzeptabel, indem lediglich die modale Nebenbedeutung ausgedrückt wird. Dies zeigt sich sowohl bei den periphrastischen Verbalausdrücken als auch bei den lexikalischen Proximativen: (95) Eingeschränkte Kompatibilität des Proximativs mit Negationspartikel bei belebtem Subjekt Fr. Elles ne sont pas près de retravailler avec eux! ‘Sie sind nicht bereit, wieder mit ihnen zu arbeiten.’ (#Sie sind nicht kurz davor, wieder mit ihnen zu arbeiten.) Fr. Ils ne sont pas sur le point de se réconcilier. ‘Sie sind nicht bereit, sich zu versöhnen.’ (#Sie sind nicht kurz davor, sich zu versöhnen). Der Proximativ mit unbelebten Subjekten kann, wenn auch eher ungebräuchlich, negiert werden, wie das folgende Beispiel mit der Negationspartikel im engen Fokus illustriert. (96) Kompatibilität des Proximativs mit Negationspartikel bei unbelebtem Subjekt Fr. Il n’est [Fpas] près de tres heures. ‘Es ist [Fnicht] kurz vor drei (Uhr).’ Die Avertivkonstruktionen sind hingegen sowohl bei unbelebten als auch bei belebten Subjekten mit der Negation kompatibel. Die auf lat. quasi zurückgehenden romanischen Konstruktionen ziehen in Kombination mit der Negationspartikel stets die (kanonische) Funktion einer doppelten Negation nach sich (z.B. pg. quase não p; sp. casi no p etc. → ¬¬p). In der negierten QUASIKonstruktion hat der Avertiv Skopus über die semantisch implizierte polare Komponente der Negationspartikel, sodass sich die resultierende doppelte Negation (i.e. ¬¬p) in einer positiven Proposition p und demzufolge einer negierten Avertivbedeutung was on the verge of not taking place, but actually did take place (Beispiele 97b) manifestiert.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
85
(97) Kompatibilität des QUASI-Avertivs mit der Negationspartikel Sp. (a) Casi me caigo. Proximale Komponente: ‘Ich war kurz davor zu fallen.’ Polare Komponente: ‘Ich bin nicht gefallen.’ ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ (b) Casi no apruebo el examen. Proximale Komponente: ‘Ich war kurz davor die Klausur nicht zu bestehen.’ Polare Komponente: ‘Ich habe die Klausur bestanden.’ ‘Beinahe hätte ich die Klausur nicht bestanden.’ EP (a) O João quase caiu. Proximale Komponente: ‘Johann war kurz davor zu fallen.’ Polare Komponente: ‘Johann ist nicht gefallen.’ ‘Johann wäre beinahe gefallen.’ BP (b) O jogo quase não foi realizado, pois chovia muito em Curitiba. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) Proximale Komponente: ‘Das Spiel war kurz davor nicht stattzufinden.’ Polare Komponente: ‘Das Spiel hat stattgefunden.’ ‘Das Spiel hätte beinahe nicht stattgefunden, da es in Curitiba stark regnete.’ Im Gegensatz zu der lediglich kanonischen Kompatibilität des QUASI-Avertivs mit der Negationspartikel ist der PAUCUS-Avertiv in Verbindung mit der Negationspartikel insofern polysem, als eine kanonische Negation, bei der die Negationspartikel die Polarität des Avertivs durch die beiden polaren Komponenten (¬¬p) umkehrt (was on the verge of not taking place, but actually did take place) von einer expletiven Negation, bei der lediglich eine polare Komponente (¬p) ausgedrückt wird (was on the verge of taking place, but did not take place), unterschieden werden kann.70 Die folgenden Beispiele illustrieren die Avertivkonstruktion por poco p mit der polaren Komponente ¬p (Beispiel a) sowie por poco no p mit kanonischer Negation (Beispiel b) und por poco no p mit expletiver Negation (Beispiel c). (98) Por poco no p: kanonische und expletive Negation Sp. (a) Por poco me caigo. Proximale Komponente: ‘Ich war kurz davor zu fallen.’
70 Für das Spanische cf. u.a. Schwenter/Bordería (2005).
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Polare Komponente: ‘Ich bin nicht gefallen.’ ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ (b) Por poco no apruebo el examen. (kanonische Negation) Proximale Komponente: ‘Ich war kurz davor die Klausur nicht zu bestehen.’ Polare Komponente: ‘Ich habe die Klausur bestanden.’ ‘Beinahe hätte ich die Klausur nicht bestanden.’ (c) Por poco no me mato. (expletive Negation) Proximale Komponente: ‘Ich war kurz davor mich umzubringen.’ Polare Komponente: ‘Ich habe mich nicht umgebracht.’ ‘Ich hätte mich beinahe umgebracht.’ Bei der kanonischen Negation in Beispiel (98b) liegt die Negationspartikel, äquivalent zu den negierten romanischen QUASI-Konstruktionen, im Skopus der Avertivkonstruktion (was on the verge of not taking place, but actually did take place). Exemplarisch wird dies an Korpusbelegen des Italienischen, Spanischen und brasilianischen Portugiesisch illustriert. (99) Per poco non p mit kanonischer Negation It. «Nel 1996 Atlanta era ad un passo, ma per poco non ho trovato il tempo limite». Dalla vasca si porta dietro tante amicizie, a partire da quelle con Cecilia Vianini e Caterina Alluto, compagne di stanza in tantissime trasferte della nazionale e nei meeting, a quella con il suo allenatore torinese, Corrado Rosso. (La Stampa, 12/02/2004, Italia) ‘Beinahe hätte ich das Tempolimit nicht herausgefunden.’ It. «Dal 2008 – rimarca Flavia, 48 anni, tre figli, 15 anni di esperienza – per diventare collaboratore scolastico serve il diploma superiore. I miei colleghi sono tutti istruiti, io stessa per poco non ho finito l’università». Troppo qualificati per la ramazza? (Lexis Nexis: Corriere della Sera, 9/10/2009, Da bidella pulisco i bagni, assisto bimbi e genitori, Italia) ‘Ich selbst hätte beinahe nicht die Universität abgeschlossen.’ Sp. Hablando de su ahijada, por poco no nos permiten bautizarla porque nos tocó en suerte un juez terco que insistía en que el poder no era válido para el caso, sin embargo mi mujer, con su dulzura lo convenció – le contó Jacinto. (CREA: Cristina Bain, 1993, El dolor de la Ceiba. Novela latinoamericana, Colombia) ‘Sie hätten uns beinahe nicht erlaubt, sie zu taufen.’
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
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BP Em 23 de abril do ano passado, ele se casou com a secretária Lidiamara Molina, 26 anos, mas por pouco a cerimônia não se realiza. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) ‘Beinahe hätte die Zeremonie nicht stattgefunden.’ Bei der expletiven Negation hat die Negationspartikel entsprechend keine Auswirkung auf die Avertivbedeutung was on the verge of taking place but did not take place. Exemplarisch wird dies an Korpusbelegen des Spanischen, europäischen und brasilianischen Portugiesisch sowie des Italienischen illustriert. (100) Per poco non p mit expletiver Negation Sp. Una caída. Por poco no me rompo las cervicales y desde entonces apenas puedo mover la cabeza. (Lexis Nexis: El Mundo, 30/07/2008, La ira del padre etero, España) ‘Beinahe hätte ich mir die Halswirbel gebrochen.’ Sp. «Estamos muy contentos, sobre todo con el podio. La etapa era lo de menos. El objetivo era el podio, y por poco no hemos sido segundos, aunque me alegro mucho por Carlos, porque también se lo merece», celebró Sánchez su éxito. (Lexis Nexis: Deutsche Presse Agentur (Spanish), 22/09/2007, Ciclismo Vuelta, España) ‘Beinahe wären wir Zweiter geworden.’ EP O João por pouco não caiu. ‘Johann wäre beinahe gefallen.’ BP Em seguida, passou a se achar vigiada no trabalho, perdeu a concentração e por pouco não sofreu um acidente. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) ‘Beinahe wäre er verunglückt.’ It. E mi ha persuaso a eseguire un «facile, non ti preoccupare» esercizio di torsione all’indietro del busto con il braccio teso: «Vedrai come lo farai meglio con il braccialetto al polso!» ha pronosticato. Infatti. Per poco non cado a faccia avanti. (Lexis Nexis: La Gazzetta dello Sport, 10/08/2010, Il bracciale dell’equilibrio per poco non mi fa cadere, Italia) ‘Beinahe wäre ich nach vorne aufs Gesicht gefallen.’ Manzotti (1980) veranschaulicht die drei Konstruktionen im Italienischen anhand der folgenden Abbildung 5.
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
per poco p (= quasi p)
p è stato in procinto di instaurarsi, ma in realtà si è avuto non p n)
o on oc ) p p r i (pe quas (=
(p)
per poco non p (per poco) (non p) (= quasi non p)
non p è stato in procinto di instaurarsi, ma in realtà si è avuto p
Abbildung 5: per poco p, per poco non p und per poco non p nach Manzotti (1980, 297).
Zur Übersicht werden die drei71 Avertivkonstruktionen exemplarisch am Beispiel des Spanischen in Tabelle 12 aufgeführt. Tabelle 12: Avertivbedeutung von por poco p und por poco (no) p. POLARE KOMPONENTE
AUSSAGE
POLARITÄT
PARAPHRASE
PROXIMALE KOMPONENTE IMMINENZ ZU PARAPHRASE
Por poco me caigo. (‘Beinahe wäre ich gefallen.’)
¬p
No me he caido. (‘Ich bin nicht gefallen.’)
p
He estado muy cerca de caerme. (‘Ich war nahe daran zu fallen.’)
KANONISCH Por poco no apruebo el examen. (‘Beinahe hätte ich die Klausur nicht bestanden.’)
¬p¬p →
He aprobado el examen. (‘Ich habe die Klausur bestanden.’)
¬p
He estado muy cerca de no aprobarlo. (‘Ich war nahe daran nicht zu bestehen.’)
EXPLETIV Por poco no me mato. (‘Beinahe hätte ich mich umgebracht.’)
¬p
No me he matado. (‘Ich habe mich nicht umgebracht.’)
p
He estado muy cerca de matarme. (‘Ich war nahe daran mich umzubringen.’)
p
71 Dass es sich bei der kanonischen und expletiven Negation der Form por poco no p in der Tat um zwei eigenständige Konstruktionen handelt, wird in Anlehnung an Bordería/Schwenter (2005) in dem semasiologisch ausgerichteten diachronen Teil der Arbeit aufgezeigt werden.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
89
Nach Bordería/Schwenter (2005) ist die Wahl zwischen der Konstruktion mit kanonischer Negation und der Konstruktion mit expletiver Negation pragmatisch motiviert über das Konzept der «wünschenswerten Situation», die in der ersten Aussage (Por poco me caigo.) aus no caerme (‘nicht fallen’), in der zweiten Aussage (Por poco no apruebo el examen.) mit aprobar el examen (‘die Klausur bestehen’) und in der dritten Aussage (Por poco no me mato.) aus no matarme (‘mich nicht umbringen’) besteht. Wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, kann zwischen lexikalischen Proximativkonstruktionen, wie Präpositionalphrasen mit der imminentiellen Bedeutung ‘kurz davor sein’ oder ‘nahe daran sein’ (z.B. fr. près de; fr. sur le point de; it. sul punto di; kat. a punt de; sp. a punto de; etc.), und lexikalischen Avertivkonstruktionen mit der Bedeutung ‘beinahe’ (z.B. sp. casi p, por poco p, etc.) unterschieden werden, die neben der proximalen Komponente auch die polare Komponente semantisch implizieren. (101) Lexikalische Proximativ- und Avertivkonstruktionen Fr. Proximativ: Il est près de passer le BAC. ‘Er ist kurz davor das Abi zu machen.’ Fr. Avertiv: Elle est presque tombée. ‘Sie wäre beinahe gefallen.’ Innerhalb der lexikalischen Avertivkonstruktionen kann darüber hinaus zwischen weniger grammatikalisierten und stärker grammatikalisierten Formen auf dem Lexikon-Grammatik-Kontinuum unterschieden werden. Die italienischen und insbesondere iberoromanischen Konstruktionen por poco (no) p weisen einen stärkeren Grammatikalisierungsgrad auf, der keine ambiguen Lesarten zulässt und sich zudem in der Kombination mit dem Präsens zeigt. (102) Avertivkonstruktionen Sp. (a) Por poco me caigo. ‘Beinahe wäre ich gefallen.’ (b) Por poco no apruebo el examen. Kanonische Negation: ‘Beinahe hätte ich die Klausur nicht bestanden.’ (c) Por poco no me mato. Expletive Negation: ‘Beinahe hätte ich mich umgebracht.’ Die französischen Konstruktionen, wie u.a. pour un peu, un peu plus (‘es hätte nicht viel gefehlt’) selegieren hingegen noch eine die Kontrafaktizität
90
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
unterstützende TAM-Verbindung, wie den Konjunktiv, das Konditional oder das Imperfekt.72 (103) Implikatierte Avertivbedeutung Fr. Un peu plus, je tombais / et j’aillais tomber. Fr. Pour un peu je lui eusse dit la vérité / Pour un peu je lui donnais ma chemise. Die unterschiedlichen Grammatikalisierungsgrade in der dargelegten Synchronie der «lexikalischen» Proximativ- und Avertivkonstruktionen bedürfen einer eingehenden diachronen Untersuchung einschließlich ihrer Ursprünge im Lateinischen, der in Kapitel 4.3 nachgegangen wird.
3.2.2 Periphrastische Konstruktionen 3.2.2.1 Avertiv und Proximativ zwischen Lexikon und Grammatik Neben den lexikalischen Ausdrücken, wie Partikeln und Präpositionalphrasen, werden Avertiv und Proximativ in den romanischen Sprachen, wie für eher analytische Sprachen zu erwarten ist, periphrastisch ausgedrückt. Unter einer Verbalperiphrase (VPP) wird bekanntlich ein mehrgliedriger, verbaler Ausdruck verstanden, der ein Auxiliar (erstes Glied), eine meist infinite Verbform73 (zweites Glied) in Gestalt eines Infinitivs, Gerundiums oder Partizips, und gegebenenfalls ein zwischen dem Auxiliar und der infiniten Verbform positioniertes Verbindungselement (drittes Glied) bestehend aus einer Präposition, Konjunktion oder Präpositionalphrase, zu einer semantischen Einheit verbindet. Formal betrachtet handelt es sich bei den romanischen Proximativ- und Avertivperiphrasen um Infinitivperiphrasen der Form Auxiliar (+ Präposition) + Infinitiv. Die Auxiliare verlieren zwar im Zuge der Grammatikalisierung ihre ursprüngliche, lexikalische Bedeutung («reduzierte Integrität» nach Lehmann 2002), wie in dem Falle von STARE/ESSERE ‘sich an einem bestimmtem Ort aufhalten’, im Falle von *FALLIRE ‘täuschen, fehlen, verfehlen, sich irren etc.’ oder in dem
72 Insbesondere der conatu-Funktion (auch: imparfait d’imminence contrecarré) des Imperfekts wird die kontrafaktische Bedeutung in Konstruktionen, wie un peu plus, je tombais, bekanntlich bis dato zugeschrieben (cf. Kapitel 3.1.2). Zum imparfait d’imminence contrecarré in Verbindung mit Konstruktionen der geringen Quantität im Französischen sei verwiesen auf Berthonneau/Kleiber (2003). 73 Bei parataktischen Konstruktionen, wie sp. tomo y me voy, besteht das zweite Glied aus einer finiten Form (cf. Dietrich 1973; Coseriu 1976).
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
91
Falle von HABERE (‘besitzen, haben’), werden jedoch üblicherweise nicht gänzlich desemantisiert, sondern nehmen durch zurückbleibende Bedeutungsnuancen Einfluss auf die Entstehung der Proximativ- oder Avertivbedeutung, wie einen statischen Blick (cf. Coseriu 1976, 125) im Falle von estar in den spanischen Verbalperiphrasen estar a punto de + Infinitiv, estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv, oder im Falle von HABERE «bringt [es] durch seine eigene lexikalische possessivische Bedeutung die [. . .] Zugehörigkeit [. . .] also [die] Beziehung zu einem Zeitpunkt, in irgendeiner der beiden möglichen Richtungen (retrospektiv oder prospektiv) [mit].» (Coseriu 1976, 123) oder durch eine die negative Polarität des Avertivs unterstützende Bedeutung eines Mangels im Falle von FALLIRE in der französischen Verbalperiphrase avoir failli + Infinitiv, etc. Der Ausdruck der Imminenz wird zudem durch die Finalität ausdrückende Präposition sowie durch den Infinitiv unterstützt. Nach Bodo Müller war der Infinitiv besonders dazu geeignet, eine Rolle in den Futurumschreibungen zu spielen, weil so die in der Zukunft auszuführende Tätigkeit durch einen flexivisch starren Träger der «reinen Verbbedeutung» zum Ausdruck gebracht wurde (cf. Müller, RF 76, 1964, 77) (Wunderli 1969, 394).
Die Präposition der Infinitivperiphrase schwindet in einem späteren Grammatikalisierungsstadium des Avertivs, wie beispielsweise bei der französischen Avertivperiphrase faillir + Infinitiv, bei der die Präpositionen à und de im Gegenwartsfranzösischen nicht mehr zum Ausdruck des Avertivs benötigt werden (cf. Kapitel 4.6), oder bei der galicischen Avertivperiphrase haber (de) + Infinitiv (cf. Kapitel 4.4). Im Zuge der Grammatikalisierung verlieren die Lexeme bekanntlich ihre ursprüngliche Bedeutung, wie ‘verfehlen’ (FALLERE), ‘da sein’ bzw. ‘stehen’ (STARE), ‘haben’ (HABERE), ‘gehen’ (IRE, VADERE, AMBULARE), etc., und werden zum Auxiliar des Proximativs oder Avertivs (TAM-Auxiliarisierung). In welchem Maße der im Zuge der Auxiliarisierung resultierende Autonomieverlust der Lexeme entsprechend der Lehmann’schen Parameter durch Gewichtsverlust (reduzierte Integrität und reduzierter Skopus), Kohäsionszunahme (hohe Paradigmatizität und verstärkte Fügungsenge) und reduzierte (paradigmatische und syntagmatische) Variabilität gekennzeichnet ist, wird Gegenstand dieses Kapitels sein. Da der Proximativ in den romanischen Sprachen eine Affinität zu dem unterspezifizierten imperfektiven Aspekt aufweist, erscheint das Auxiliar in Tempora mit imperfektivem Aspekt. Das Auxiliar des Avertivs erscheint in den romanischen Sprachen in der Regel mit perfektivem Aspekt. Während einige Verbalperiphrasen lediglich den Avertiv herausgebildet haben und morphologisch auf den perfektiven Aspekt limitiert sind (i.e. defektiv sind), wie der französische Avertiv faillir + Inf., dienen andere Verbalperiphrasen, wie beispielsweise die
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
STARE-Periphrasen sowohl dem Ausdruck des Proximativs,
in Tempora mit imperfektivem Aspekt, als auch dem Avertiv, in Tempora mit perfektivem Aspekt. Im Gegensatz zu den vollständig grammatikalisierten gebundenen Morphemen ist Periphrastizität ein bislang insbesondere in der hispanistischen Forschungsliteratur breit diskutierter Gegenstand. Die Frage, an welcher Stelle Verbalperiphrasen auf dem Lexikon-Grammatik-Kontinuum anzusiedeln sind, wird entsprechend kontrovers diskutiert (cf. Olbertz 1998; Pusch/Wesch 2003; Laca 2000; 2002; 2004; 2005; 2006; Gosselin 2011). Im Sinne des Aphorismus «Today’s Morphology is yesterday’s syntax» (Givón 1971, 413; cf. Meillet 1975) handelt es sich bekanntlich bei Auxiliaren, im Gegensatz zu gänzlich entleerten gebundenen Grammemen, stets um eine eher mittlere Position auf dem Lexikon-Grammatik-Kontinuum: full verb > auxiliary > verbal clitic > verbal affix (Hopper/Traugott 2003)
Zudem variieren die einzelnen Verbalperiphrasen zweifelsohne hinsichtlich ihrer Grammatikalisierungsstärke und somit ihrer Position auf dem Kontinuum und sind demzufolge zudem stets einzeln hinsichtlich ihres Grammatikalisierungsgrades zu betrachten. Während modale Periphrasen mit einem eher schwächeren, temporale mit einem eher stärkeren Grammatikalisierungsgrad einhergehen, verhalten sich aspektuelle Verbalperiphrasen eher uneinheitlich und bedürfen einer besonderen Diskussion. Es verwundert daher nicht, dass auch die aspektuellen Verbalperiphrasen der Imminenz hinsichtlich ihres periphrastischen Status bis dato kontrovers diskutiert werden (cf. Olbertz 1998; Laca 2000; 2002; 2004; 2005; 2006; Gosselin 2010; 2011).74 Olbertz (1998, 346) unterscheidet analog zu der Klassifikation von Outer Aspect (i.e. grammatischer Aspekt oder viewpoint aspect nach Smith 1997) und Inner Aspect (i.e. lexikalischer Aspekt, Aktionsart oder situation aspect nach Smith 1997) in Outer Phasal Aspect Periphrasen (imminentielle und egressive VPPn) und Inner Phasal Aspect Periphrasen (ingressive, «mediane» und konklusive VPPn). Outer Aspect views the SoA from outside, a property which the category of Outer Aspect has in common with Tense. The difference between Outer Aspect and Tense is that Tense has the exclusive function of situating some SoA on the time axis, whereas Outer Aspect serves either (i) to establish a complex – not exclusively temporal – relation between
74 An dieser Stelle und generell zur Diskussion um die Einordnung aspektueller Verbalperiphrasen auf dem Lexikon-Grammatik-Kontinuum sei insbesondere auf die interessante Habilitationsschrift von Dessì Schmid (2014) verwiesen.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
93
some SoA and a situation previous or posterior to its occurrence [i.e. Outer Phasal Aspect], or (ii) to quantify a set of SoAs [i.e. Quantificational Aspect] (Olbertz 1998, 346).
Abbildung 6 illustriert die aspektuelle Kategorie der Phase in der Adaption nach Gosselin (2011), Laca (2000) und Olbertz (1998).
B1
Phasen: Imminenz
B2
ingressiv
progressiv
konklusiv
egressiv
Innerer Aspekt Externer Aspekt Abbildung 6: Phasaler Aspekt (adaptiert nach Gosselin 2011; Laca 2000; Olbertz 1998).
Laca (2000) unterscheidet ebenfalls zwischen Verbalperiphrasen der externen Phase (imminentielle und egressive Phase) und Verbalperiphrasen der internen Phase. Unter den Periphrasen der externen Phase werden die folgenden Periphrasen am Beispiel des Katalanischen subsumiert: estar a punt de + Infinitiv, anar a + Infinitiv, estar per + Infinitiv, anar per + Infinitiv, anar a punt de + Infinitiv, acabar de + Infinitiv (≈ ‘venir de’). Tabelle 13: Externe und interne Periphrasen im Katalanischen nach Laca (2000, 253). Externe Periphrasen (périphrases externes)
Interne Periphrasen (périphrases internes)
estar a punt de + Inf., anar a + Inf., estar per + Inf., anar per + Inf., anar a punt + Inf., acabar de + Inf. (≈ ‘venir de’)
començar a/de + Inf., posar-se a + Inf., cessar de + Inf., deixar de + Inf., parar de + Inf., acabar de + Inf. (≈ ‘finir de’), continuar + Gér., seguir + Gér.
Allerdings werden die Verbalperiphrasen der externen Phase nicht zwangsläufig als grammatisch bzw. als viewpoint aspect Periphrasen eingestuft, sondern hinsichtlich ihres Grammatikalisierungsgrades in diversen Arbeiten von Laca (2000; 2002; 2003; 2004; 2005) systematisch und kontrovers diskutiert und letztendlich unter den lexikalischen Periphrasen subsumiert. Zu den Viewpoint aspect Periphrasen zählt Laca (2005a) lediglich die folgenden Periphrasen:
94
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Tabelle 14: Aspect syntaxique (Type I) (Laca 2005a). HABITUEL (Quant. gén.) fr.
it.
solere+INF
cat.
soler+INF
esp.
soler+INF
port.
costumar+INF
PROSPECTIF (AssTEvT)
PROGRESSIF (AssT ⊂ EvT)
aller+INF devoir+INF
venir de+INF
[être en train de+INF]
stare+GER acabar de+INF
estar+GER
ir a+INF
acabar de+INF
estar+GER
ir a+INF
acabar de+INF
estar+GER/a+INF
Gosselin (2010, 239; 2011, 158) unterscheidet die aspektuellen Verbalperiphrasen in Anlehnung an Kronning (2003), François (2003) und Laca (2003; 2005) analog in auxiliares de visée aspectuelle (Viewpoint aspect nach Smith 1997) und coverbes de phase (die den périphrases de modification d’eventualité nach Laca 2005a entsprechen). Nach Gosselin (2011, 154; 2010, 141s.) gibt es im Französischen vier visée aspectuelles (Viewpoint aspect nach Smith 1997): visée aoristique (perfective, globale; z.B. fr. Il traversa le carrefour), visée inaccomplie (imperfective, sécante; z.B. fr. Il traversait le carrefour), visée accomplie (z.B. fr. il a terminé son travail) und visée prospective (z.B. fr. il allait traverser le carrefour). Gosselin (2011) unterscheidet zwischen lexikalischen Verbalausdrücken (coverbes) und grammatischen Verbalperiphrasen (visée aspectuelle). Nach Gosselin (2011) wird der Prospektiv im Französischen grammatisch (i.e. im Zuge der visée aspectuelle) durch aller, être sur le point de und être en passe de ausgedrückt, wie in Tabelle 15 ersichtlich wird. Tabelle 15: Auxiliares de visée aspectuelle (Gosselin 2011, 162).
visée prospective (sur phase préparatoire):
aller être sur le point de être en passe de
visée inaccomplie (sur aspect interne, bornes exclues):
être en train de (en) être à
visée accomplie (sur phase résultante):
être/avoir + PPé venir de
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
95
Gosselin (2010, 239s.) beruft sich bei seiner Differenzierung von Periphrasen des Viewpoint aspect und denen des situation aspect überwiegend auf die Kriterien der Permutationsmöglichkeit (in Anlehnung an François 2003) und der Fokussierbarkeit (basierend auf Kronning 2003). Zu den coverbes der Vorphase (i.e. der Imminenz) zählt er être prêt à, s’apprêter à, se préparer à. Tabelle 16: Coverbes (Gosselin 2011, 162). coverbes de phase
coverbes de modalité d’action
coverbes de mouvement
phase préparatoire être prêt à s’apprêter à se préparer à
se proposer de hésiter à tarder à
partir aller monter courir
phase initiale commencer à se mettre à
s’acharner à s’efforcer de se dépêcher mettre du temps à être long à
phase médiane continuer de être occupé à persérvérer à
s’installer à s’arrêter à
phase finale cesser de (s’)arrêter de finir de phase résultante
(re)venir de rentrer de (re)descendre de sortir de
Die reduzierte syntagmatische Variabilität nach Lehmann (2002) bezieht sich bekanntlich auf die im Zuge der Grammatikalisierung entstehende reduzierte Stellungsfreiheit bzw. Permutationsmöglichkeit. Mit anderen Worten: Die verringerte syntagmatische Variabilität eines grammatikalisierten sprachlichen Zeichens zeigt sich demnach in den geringen Permutationsmöglichkeiten. Lexikalische Konstruktionen sind entsprechend ihrer Autonomieeigenschaften in ihrer Kombinierbarkeit variabler als grammatische Periphrasen. Laca (2005a) zeigt entsprechend die reduzierte syntagmatische Variabilität der Viewpoint
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
aspect Periphrasen durch die reduzierte Kombinierbarkeit mit anderen grammatischen Periphrasen auf. (104) Reduzierte Kombinierbarkeit grammatischer Periphrasen Sp. *Suele ir a salir [*HAB+PROSP sortir] (Laca 2005a, 48) Sp. *Va a soler salir [*PROSP+HAB sortir] (Laca 2005a, 48) Wie Laca (2005a) allerdings selbst aufzeigt, sind auch Viewpoint aspect Periphrasen miteinander kombinierbar, wie in folgenden Beispielen ersichtlich wird, sodass dieses Kriterium nur bedingt zutreffen kann und damit kein ausschließliches Kriterium zur Differenzierung zwischen lexikalischen und grammatischen VPPn sein kann: (105) Kompatible Kombinierbarkeit grammatischer Periphrasen Sp. Había estado escuchando con mucha atención. (Laca 2000, 256) Kat. Havia estat escoltant amb molta atenció. (Laca 2000, 256) Sp. Va a estar trabajando. [PROSP+PROG travailler] (Laca 2005a, 48) Sp. Cuando llegues, Juan va a estar durmiendo. (Laca 2000, 256) Laca (2003) definiert zwar die katalanische Verbalperiphrase anar a + Infinitiv (vlat. amnare) als lexikalische Periphrase der Imminenz (périphrase de modification d’éventualité) im Gegensatz zu den grammatischen prospektiven IREPeriphrasen, zeigt aber andererseits die Inkompatibilität der katalanischen Proximativperiphrase in (a), analog zu der proximativen STARE-Periphrase in (b), in Verbindung mit anderen grammatischen Periphrasen auf. (106) Inkompatibilität des Proximativs mit grammatischen Periphrasen (a) Quan arribis en Joan *va a estar dormint. (Laca 2000 256) (b) *Estava a punt d’estar dormint. (Laca 2000 256) Wie die grammatische Inkompatibilität der folgenden Beispiele nach Laca (2003, 139) illustriert, handelt es sich bei der katalanischen Verbalperiphrase anar a + Infinitiv, im Gegensatz zu den prospektiven IRE-Periphrasen in den anderen romanischen Sprachen, vielmehr um eine imminentielle Verbalperiphrase. (107) Inkompatibilität der katalanischen Proximativperiphrase anar a + Infinitiv Kat. *el fet que anava a produir-se al cap de poques hores (Laca 2003, 139) Sp. el hecho que iba a producirse pocas horas después (Laca 2003, 139)
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
Fr. Kat. Sp. Fr.
97
le fait qui allait/devait se produire au bout de quelques heures (Laca 2003, 139) *La seva vida va a ésser molt tranquil.la [sic!]. (Laca 2003, 139) Su vida va a ser muy tranquila. (Laca 2003, 139) Sa vie va être très calme. (Laca 2003, 139)
Es wird in dieser Arbeit daher angenommen, dass es sich bei der Verbalperiphrase anar a + Infinitiv im Katalanischen, im Gegensatz zu der prospektiven IRE-Periphrase in den anderen romanischen Sprachen, um einen Proximativ handelt.75 Grammatische Verbalperiphrasen (Periphrasen der visée aspectuelle), zu denen Gosselin (2011) auch être sur le point de + Infinitiv zählt, stehen i.d.R. lexikalischen Konstruktionen (coverbes) voran, indem sie Skopus über diese erhalten.
Tabelle 17: Grammatische Verbalperiphrasen mit Skopus über die coverbes de phase (cf. Gosselin 2011, 158). être sur le point de venir de être en train de
cesser de finir de commencer à s’apprêter à partir rentrer de
Vinf
Dieses Kriterium ist sowohl auf den Proximativ als auch den Avertiv anwendbar. Die folgenden Beispiele illustrieren den Proximativ (fr. Il est sur le point de + Inf., kat. El mal està a punt de + Inf. und kat. Jo anava a + Inf.) mit Skopus über eine lexikalische Periphrase, wie die der konklusiven Phase (fr. finir de + Inf.), der ingressiven Phase (kat. començar a + Inf.) oder der kontinuativen Phase (kat. seguir + Gerundium). (108) Proximativ mit Skopus über eine lexikalische Periphrase Fr. Il est sur le point de / en train de finir de manger. (Gosselin 2010, 240)
75 Es ist zu vermuten, dass das Katalanische insofern eine zu den anderen romanischen Sprachen zunehmend spezifizierende Entwicklung von Prospektiv zu Imminenz (Spezialisierung) vorgenommen hat.
98
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Kat. El mal està a punt de començar a escampar-se per l’illa[.] (Laca 2000, 252) Kat. Jo anava a seguir parlant, com si res, però em va interrompre. (Laca 2000, 252)76 Dass der Avertiv ebenfalls einer lexikalischen Periphrase vorangestellt werden kann und Skopus über diese hat, illustrieren die folgenden Avertivbeispiele (kat. Estiguè a punt de + Inf. und fr. Pierre a failli + Inf.) mit Skopus über eine lexikalische Periphrase, wie die der konklusiven Phase (kat. deixar de lluitar) oder der ingressiven Phase (fr. commencer à pleurer). (109) Avertiv mit Skopus über eine lexikalische Periphrase Kat. Estiguè a punt de deixar de lluitar[.] (Laca 2000, 252) Fr. Pierre a failli commencer à pleurer. In umgekehrter Stellung zeigt sich die eingeschränkte Permutationsmöglichkeit (reduzierte syntagmatische Variabilität) grammatischer Periphrasen, indem die lexikalischen Konstruktionen i.d.R. keinen Skopus über grammatische Verbalperiphrasen haben können, sodass ihre Voranstellung agrammatisch wird. Tabelle 18: Grammatische Verbalperiphrasen im Skopus der coverbes de phase (cf. Gosselin 2011, 158). *commencer à *finir de *cesser de *s’apprêter à *partir *rentrer de
être sur le point de être en train de venir de
Vinf
Die Proximative, bei denen die Imminenz bereits in der Präpositionalphrase verankert ist (fr. être sur le point de + Inf; kat. estar a punt de + Inf.; sp. estar a punto de + Inf.; pg. estar a ponto de + Inf., etc.), erfüllen zumindest weitestgehend das Kriterium der eingeschränkten Permutationsmöglichkeit, indem die meisten Periphrasen keinen Skopus über die Proximativperiphrase haben können.
76 Das katalanische Beispiel illustriert zudem die implikatierte Avertivbedeutung des Proximativs mit anschließenden Adversativsatz, der eine zu p gegensätzliche Information (però em va interrompre) enthält (cf. Kapitel 3.1.2).
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
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(110) Der Proximativ im Skopus anderer Periphrasen Fr. ??Il finit de / commence à être sur le point de manger. (Gosselin 2010, 240) Kat. (a) *El mal comenca a estar a punt d’escampar-se per l’illa[.] (Laca 2000, 252) (b) *Jo seguia anant a parlar[.](Laca 2000, 252) (c) *Deixa d’estar a punt de lluitar[.] (Laca 2000, 252) (d) La vaig veure començar a rentar els plats/ seguir pujant el coll/ deixar de llegir/ acabar de rentar els plats. (Laca 2000, 254) (e) *La vaig veure estar a punt de rentar els plats/ anar a esternudar/ estar per sortir/ acabar d’arribar. (Laca 2000, 254) (f) Hem d’evitar que comenci a rentar els plats/ que segueixi pujant el coll/ que deixi de llegir/ que acabi de rentar els plats[.] (Laca 2000, 254) (g) *Hem d’evitar qu’estigui a punt de rentar els plats/ que vagi a esternudar/ qu’estigui per sortir/ qu’acabi d’arribar[.] (Laca 2000, 254) Allerdings zeigt Laca (2002) auch die Ausnahmen der STARE-Periphrase im Vergleich zu der eingeschränkteren Permutationsmöglichkeit der stärker grammatikalisierten IRE-Periphrase auf, indem beispielsweise volver a + Inf. Skopus über die Proximativperiphrase estar a punto de + Inf. jedoch nicht über die prospektive Periphrase ir a + Inf. haben kann: (111) Ausnahme des Proximativs im Skopus anderer Periphrasen Sp. (a) Va a volver a ponerlos en el estante Goes to return to put-them on the shelf ‘He/she is going to put them back on the shelf.’ (Laca 2002, 88) (b) *Vuelve a ir a ponerlos en el estante. Returns to go to put-them on the shelf ‘He/she is again going to put them on the shelf.’ (Laca 2002, 88) (c) Vuelve a estar a punto de llorar. Returns to be at point of cry ‘He/she’s again on the brink of tears.’ (Laca 2002, 88) (d) Está a punto de volver a llorar. Is at point of return to cry ‘He/she’s about to cry again.’ (Laca 2002, 88)
100
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Die Proximative mit por und para (sp. estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv) verstoßen eindeutig gegen das Kriterium der eingeschränkten Permutationsmöglichkeit (i.e. sie weisen keine reduzierte Stellungsfreiheit bzw. keine reduzierte syntagmatische Variabilität auf), indem sie, wie für lexikalische Periphrasen üblich, gänzlich in freier Stellung mit anderen Periphrasen kombiniert werden können. (112) Kombinierbarkeit mit anderen lexikalischen Periphrasen Sp. (a) Sigue estando para llover. (b) Estaba por seguir cantando. ‘Il était sur le point de reprendre son chant’ (Laca 2005a, 48) (c) Sigue estando por cantar. ‘Il est toujours / encore sur le point de chanter’ (Laca 2005a, 48) Der Avertiv ist aufgrund seiner Tempusmarkierung nicht in der Lage, nachgestellt zu werden, wie Beispiel (113b) illustriert, und kann dementsprechend nicht gegen dieses Kriterium verstoßen. (113) Reduzierte Stellungsfreiheit des Avertivs Sp. (a) Estuvo por seguir cantando. (Avertiv: Er hätte beinahe weiter gesungen.) (b) Sigue *estuvo por cantar. (c) Siguió estando por cantar. (Proximativ: Er befand sich weiterhin kurz davor zu singen) Die syntagmatische Variabilität der periphrastischen Proximativ- und Avertivkonstruktionen zeigt sich insbesondere in ihrer Kombinierbarkeit mit den lexikalischen Avertivkonstruktionen. Die lexikalischen Avertivkonstruktionen können den periphrastischen Proximativ- und Avertivkonstruktionen voranstehen und haben Skopus über diese. Diese bereits in der pragmatischen Untersuchung aufgeführte Verstärkbarkeit zeigt sich sowohl bei den schwächer grammatikalisierteren STARE-Periphrasen als auch bei der stärker grammatikalisierten *FALLIREKonstruktion.77
77 Zur Diskussion der Verstärkbarkeit als nicht hinreichendes semantisch-pragmatisches Kriterium cf. allerdings Kapitel 3.2.1.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
101
(114) Kombinierbarkeit mit lexikalischen Avertivkonstruktionen Sp. casi estuvo a punto de enfadar al público auf-das Publikum fast sein. PST.3SG auf Punkt von ärgern Proximale Komponente: Er war kurz davor das Publikum zu verärgern. Polare Komponente: Er hat das Publikum nicht verärgert. ‘Er hätte beinahe das Publikum verärgert.’ Kontext: Pero lo que vino a continuación casi estuvo a punto de enfadar al público, que, sorprendentemente, no protestó la salida del segundo, otro torillo romo e inválido. (CREA: El País, 20/08/1980, Feria de Bilbao, España) EP Contudo, Marinho Peres não deixou de se manifestar surpreso com a decisão de Sousa Cintra, uma vez que esperava por ela na sequência dos acontecimentos do Funchal, em finais de Fevereiro, quando quase esteve para não acompanhar a equipa devido às criticas do presidente [. . .] (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) It. «L’amore saldo e profondo di Riverwind e di Goldmoon ha portato speranza al mondo. Il nostro amore meschino è stato quasi sul punto di distruggerlo». «Laurana» cominciò a dire Tanis, col cuore dolente. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRomanzi) Fr. Caroline Cayeux a presque failli tomber de Caroline Cayeux haben.PRS.3SG beinahe fehlen.PTPC fallen.INF von sa chaise ihrem Stuhl Proximale Komponente: ‘Caroline Cayeux war kurz davor vom Stuhl zu fallen.’ Polare Komponente: ‘Caroline Cayeux fiel nicht von ihrem Stuhl.’ ‘Caroline Cayeux wäre beinahe von ihrem Stuhl gefallen.’ Kontext: Voilà que Sylvie Houssin s’approprie la paternité du projet de rénovation urbaine! «Sainte Sylvie, merci!» Piquée, vexée, Caroline Cayeux a presque failli tomber de sa chaise en entendant les propos de son opposante: «Sainte Sylvie, merci! Finalement, vous ne manquez pas de toupet. [. . .]» (Lexis Nexis: Le Parisien, 21/02/2005, Olivier Beaumont, Un projet ni de droite ni de gauche? Beauvais, France) Des Weiteren zeigt sich eine lediglich eingeschränkte Lehmann’sche «verstärkte Fügungsenge», indem sich zwischen dem Auxiliar und der infiniten Form diverse Partikeln (Adverbien, Abtönungspartikeln, Negationspartikeln etc.) einfügen lassen, wie die folgenden Beispiele des Avertivs illustrieren.
102
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(115) Eingeschränkte «verstärkte Fügungsenge» Fr. (a) Monde solidaire? On aura presque failli y croire en 1997, au moment où le protocole de Kyoto fut signé par la convention-cadre des Nations unies sur le changement climatique (CCNUCC). Sous l’administration de Bill Clinton, les États-Unis semblaient prêts à faire cause commune: la mise sur le marché de crédits d’émissions, surtout, était leur cheval de bataille. (Lexis Nexis: L’Humanité, 08/06/2012, Le sabotage néolibéral, France) (b) RTE, filiale d’EDF qui gère le réseau haute tension national, a enregistré une consommation d'environ 96.300 mégawatts (MW) à l'heure de pointe (19h), manquant ainsi de peu le précédent sommet établi à la mi-décembre2010 (96.710MW). Jeudi dernier, elle avait déjà presque failli battre ce record. Aucun incident notable n'a été signalé sur le réseau électrique. (Lexis Nexis: Le Télégramme, 08/02/2012, Consommation électrique. Le record frôlé, France) Viewpoint aspect Periphrasen unterliegen nach Laca (2005a, 50) temporalen Restriktionen, die sich in der Regel auf eine Inkompatibilität mit perfektiven Tempora, i.e. zusammengesetzten Tempora und das einfache Perfekt (temps avec aspect78), beziehen: (116) Inkompatibilität grammatischer Periphrasen mit perfektivem Aspekt Fr. (a) Pierre va / allait / #alla / #ira / #est allé chanter. (Laca 2005a, 51) (b) Pierre vient / venait / #vint / viendra / #est venu de chanter. (Laca 2005a, 51) (c) Pierre est / était / #fut / sera / #a été en train de chanter. (Laca 2005a, 51) It. Pietro sta / stava / #stette / starà / #è stato cantando. (Laca 2005a, 51) Sp. Pedro suele / solía / *solió / *ha solido cantar. (Laca 2005a, 51) 78 «Le présent, le futur et l’imparfait romans ne spécifient pas la relation AssT-EvT: ce sont des ‹temps sans aspect›. En revanche, le passé simple et les temps composés sont des ‹temps avec aspect›» (Laca 2005a, 52). «J’ai essayé de montrer que les temps admis par ces périphrases (le présent, le futur et l’imparfait), sont des ‹temps sans aspect›, qui en l’absence de toute autre spécification obtiennent une interprétation aspectuelle par défaut (AssTEvT)» (Laca 2005a, 62). «Si une périphrase d’aspect syntaxique peut apparaître à des temps autres que le présent, le futur et l’imparfait, c’est qu’elle manifeste un syncrétisme entre aspect syntaxique et modification d’éventualité. C’est donc en tant que modifieur d’éventualité qu’elle accepte des ‹temps avec aspect›» (Laca 2005a, 52).
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
103
Lexikalische Periphrasen (périphrases de modification d’éventualité) sind nach Laca (2005a) entsprechend nach allen Tempora flektierbar bzw. unterliegen keinen Tempusrestriktionen: (117) Tempuskompatibilität lexikalischer Periphrasen Fr. (a) Pierre continue / continuait / continua / continuera / a continué de chanter. (Laca 2005a, 51) (b) Pierre cesse / cessait / cessa / cessera / a cessé de chanter. (Laca 2005a, 51) It. Pietro sta / stava / stette / starà / è stato a cantare. (Laca 2005a, 51) Nichtsdestotrotz sind einige der von Laca (2005a) als Viewpoint-Periphrasen eingeordneten Formen auch mit dem synthetischen Perfekt sowie den zusammengesetzten Tempora kompatibel, wie das iberoromanische acabar de + Infinitiv, ir a + Infinitiv oder estar + Gerundium: (118) Viewpoint-Periphrasen in Tempora mit perfektivem Aspekt Kat. Acaba / acabava / acabà(va acabar) / acabarà / ha acabat de cantar. (Laca 2005a, 52) Sp. Va / iba / fue / irá / ha ido a cantar. (Laca 2005a, 52) Sp. Está / estaba / estuvo / estará / ha estado cantando. (Laca 2005a, 52) Die prospektive Verbalperiphrase weist allerdings im Portugiesischen und Spanischen eine starke Affinität zu Tempora mit imperfektivem Aspekt auf (cf. Laca 2003, 144; 2005a; Bergareche 2004, 536). Im Corpus del Español (CDE) weist ir a + Inf. im 20. Jahrhundert (20.540.030 Token79) die stärkste Frequenz im Indikativ Präsens mit 17.909 Belegen von ingesamt 23.768 Gesamtbelegen der Verbalperiphrase auf. In Relation zu 1.000.000 Token umgerechnet ergibt sich entsprechend eine Frequenz im Indikativ Präsens von 871,9 von insgesamt 1157,15 Gesamtbelegen. Mit großem Abstand folgt das Imperfekt mit 167,87 Belegen als das zweitstärkste Tempus der prospektiven Verbalperiphrase mit insgesamt 1157 Belegen. Die anderen Tempora, wie das presente de subjuntivo (27,22), das indefinido (26,97), formas compuestas (9,1), das condicional presente (4,33), das futuro (3,99), das imperfecto de subjuntivo mit -ra (3,46), das gerundio (0,93) und das imperfecto de subjuntivo mit -se (0,73) sind eher randständig vertreten, wie die Abbildung 7 (Seite 104) illustriert.
79 Zum Stand der jeweils konsultierten Korpusgrößen in Token sei auf die Angaben in Kapitel 7 verwiesen.
104
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
1400 1200 1157.15 1000
871.9
800 600 400 200
167.87 40.65
27.22
26.97
9.1
4.33
3.99
3.46
0.93
0.73
Pr es en To te ta Im de l pe i nd rfe i c ct at o iv de o in di ca tiv o Pr In es fin en te iti vo de su bj un tiv o In Fo de rm fin as id o co Co m pu nd es ic ta io s na lp Im re se pe nt rfe e ct o de Fu su tu ro bj un t i Im vo pe (-r rfe a) ct G o er de un su di bj o un tiv o (-s e)
0
Abbildung 7: TAM-Distribution von ir a + Inf. im CDE (1900–1999).
In Tempora mit perfektivem Aspekt («temps sans aspect») verliert die Verbalperiphrase ir a + Inf. nach Laca (2003, 144; 2005a, 58) die Möglichkeit der Kombinierbarkeit mit nicht-agentivischen Eventualitäten (a) und States (b) sowie die Möglichkeit der Voranstellung vor imminentiellen Periphrasen (c). (119) Prospektiv in Tempora mit perfektivem Aspekt Sp. (a) Va / Iba / *Fue a llover. ‘Il va / allait / *alla pleuvoir’ (Laca 2005a, 58) P (a’) Va / Ia / *Foi chover. ‘Il va / allait / *alla pleuvoir’ (Laca 2005a, 58) Sp. (b) Su vida va / iba / *fue a ser muy tranquila. (Laca 2005a, 58) P (b’) A sua vida vai / ia / *foi ser muito tranquila. ‘Sa vie va / allait / *alla être très calme’ (Laca 2005a, 58) Sp. (c) Va / Iba / *Fue a estar por marcharse. ‘Il va / allait / *alla être sur le point de partir’ (Laca 2005a, 58) Die Verbalperiphrase ir (a) + Infinitiv übernimmt nach Laca (2005a) sowohl die Funktion des Prospektivs (AssTp) von ir [PPS] a + Inf. El Che, consecuente con sus ideas, fue a morir a Bolivia. (CREA: Revista Hoy, 01–07/02/1978, Chile) Die folgenden Beispiele von Camus Bergareche (2004, 536), die als vermeintlich inkompatibel mit einer aspektuellen Lesart verstanden werden und nicht eingeordnet werden können,82 werden in dieser Arbeit ebenfalls als Avertivlesart verstanden. Wie bereits in Kapitel 3.1.2 gezeigt wurde, geht die Imminenz im
80 Zum Unterschied zwischen der reinen Kontrafaktizität und dem Avertiv cf. Kapitel 2 und Kapitel 3.1. 81 Im Gegensatz zu Gamillschegs (1913) und Rohlfs (1922) Verwendung des Terminus «präterital» in Bezug auf den Gebrauch der lateinischen habere-Periphrase als Irrealis Praeteriti bzw. für kontrafaktische und sogar avertivische Bedeutungen, wird «präterital» in dieser Arbeit vielmehr als tatsächlicher Präteritums-Gebrauch, i.e. für p implikatierende Handlungen, verwendet (cf. auch Kapitel 4.4). 82 «En resumen, habremos de concluir que la perífrasis ir a + infinitivo es en nuestra lengua en primera instancia una perífrasis aspectual prospectiva, incompatible, por tanto, con flexión
106
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Gegensatz zu der weit (insbesondere in der hispanistischen Forschung) verbreiteten Annahme in dieser Lesart nicht verloren. Mit anderen Worten: Es misslingt nicht die Imminenz, sondern der Eintritt der Handlung. (123) Avertivlesart von ir a + Inf. (a) Cuando fui a abrirte la puerta, llamaron al teléfono. (Camus Bergareche 2004, 536) ‘Als ich dir die Tür öffnen wollte, riefen sie an.’ (b) He ido a escribirte una nota esta tarde, pero luego se me pasó. (Camus Bergareche 2004, 536) ‘Ich wollte dir heute Nachmittag eine Notiz schreiben, aber dann habe ich es vergessen.’ (c) Fueron a buscar algo de beber y en ese momento llegó Juan. (Camus Bergareche 2004, 536) ‘Sie wollten gerade etwas zu Trinken suchen und in diesem Moment kam Juan.’ Neben den IRE-Konstruktionen in den iberoromanischen Sprachen sind auch die HABERE-Konstruktionen83 im Galicischen (sowie im Leonesischen) in der Lage in perfektiven Tempora den Avertiv auszudrücken. (124) Avertiv houbo de + Inf. im Galicischen Gl. O pai houbo de morrer co susto. (Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 405) ‘Der Vater wäre beinahe vor Schreck gestorben.’ Da die STARE-Periphrasen in einer lediglich die Imminenz berücksichtigenden Definition (i.e. ohne die Differenzierung zwischen Proximativ und Avertiv) nach allen Tempora flektiert werden können, ordnet sie Laca (2005a) im Anschluss an vorherige lange Diskussionen in Laca (2000; 2002; 2004) letztendlich eher als lexikalische Periphrasen ein. Vor dem Hintergrund der postulierten Zweiteilung von Schwellenbach (2009) in imperfektiv-Proximativ und perfektiv-Avertiv für das peninsulare Spanisch, die wir in dieser Arbeit auf die romanischen Sprachen ausweiten, wird zumindest dieses Kriterium der Tempusrestriktion für grammatische Konstruktionen hingegen als erfüllt angesehen.
de pretérito indefinido y formas compuestas. Desde este uso se obtienen además otros valores distintos de naturaleza temporal o modal» (Camus Bergareche 2004, 538). 83 Zur Diachronie und den einzelsprachlichen Untersuchungen cf. Kapitel 4.4.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
107
(125) Imperfektiv-Proximativ und Perfektiv-Avertiv Sp. (a) Está / estaba / estará para llover. (Proximativ) Está / estaba / estará a punto de llover. (Proximativ) ‘Es ist / war / wird kurz davor sein zu regnen.’ (b) Ha estado / estuvo para llover. (Avertiv) Ha estado / estuvo a punto de llover. (Avertiv) ‘Es hätte beinahe geregnet.’ Kat. Estic / estava / estaré per marxar. (Proximativ) ‘Ich bin / war / werde kurz davor sein zu gehen.’ Gl. Estiven para marchar. (Avertiv) ‘Ich wäre beinahe gegangen.’ Hinsichtlich der Einordnung der mit der Präpositionalphrase sp. a punto de (fr. sur le point de; it. sul punto di etc.; kat./okz. a punt de; pg. a ponto de; rum. pe punctul de, etc.) enthaltenden STARE-Periphrase herrscht bislang Uneinigkeit hinsichtlich ihrer Einordnung in lexikalische oder grammatische Periphrasen. Zweifelsohne spricht die Kompositionalität der Bedeutung der Periphrase aus der lexikalischen Bedeutung der Präpositionalphrase in Verbindung mit dem Auxiliar stare für eine eher lexikalische Periphrase, wie u.a. bereits Fernández de Castro (1999, 228) anmerkt. Gosselin (2011) ordnet die Periphrasen der Form STARE PP + Infinitiv im Gegensatz zu den Diskussionen von Laca (2004; 2005) dennoch bei den grammatischen Periphrasen ein. Et s’il l’on envisage la possibilité d’énoncer ‘dès qu’ils furent / on été / avaient été en train de manger’ (cf. Gosselin, 1996, 250s.), ou ‘ils furent / ont été / avaient été sur le point de partir’, il apparaît nécessaire d’étendre encore cette analyse au passé simple et aux temps composés, c’est à dire à l’ensemble des conjugaisons du français (curieusement, Laca, 2004 et 2005 considère que ‘être en train de‘ est incompatible avec le passé simple, le passé composé, ainsi qu’avec le passif; par ailleurs, elle ne classe pas ‘être sur le point de’ parmi les auxiliaires de visée aspectuelle, mais dans les modificateurs d’éventualité) (Gosselin 2011, 167).
Ein weiteres Argument für einen eher geringen Grammatikalisierungsgrad der STARE-Periphrasen der Imminenz ist ihre relativ geringe Frequenz in Relation zu anderen aspektuellen Verbalperiphrasen, wie dem Prospektiv, der partialisierenden Winkelschau, der egressiven Phase oder dem Habitualis. Im Corpus del Español (CDE) zeigt sich die in Abbildung 8 (Seite 108) illustrierte relative Distribution der aspektuellen Verbalperiphrasen bei 1.000.000 Token. Die prospektive Verbalperiphrase ir a + Inf. zeigt sich erwartungsgemäß mit einer relativ hohen Frequenz von 1157,15 Belegen auf umgerechnet 1.000.000
108
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Token, gefolgt von der progressiven Verbalperiphrase (auch: partialisierende Winkelschau nach Dietrich 1973 und Coseriu 1976) mit einer Frequenz von 964,05 Korpusbelegen. Es folgt die habituelle Verbalperiphrase soler + Inf. mit 157,75 Belegen und die Verbalperiphrase der egressiven Phase acabar de + Inf. mit 82,65 Belegen, die als Gegenstück zu den imminentiellen Verbalperiphrasen betrachtet werden kann. Die imminentiellen Verbalperiphrasen zeigen sich mit 22,55 Belegen von estar a punto de + Inf., 12,5 Belegen von estar por + Inf. und lediglich 2,65 Belegen von estar para + Inf. entsprechend relativ gering.
1200
1157.15 964.05
1000 800 600 400
157.75
200
82.65 22.55
12.5
2.65
0 Ir a + Inf.
Estar por + Estar para Estar + Soler + Inf. Acabar de Estar a Inf. + Inf. Gerundium + Inf. punto de + Inf. Frequenz zu 1.000.000 Token
Abbildung 8: Relative Frequenz aspektueller VPPn im CDE (1900–1999).
Analog zu den spanischen Korpusbelegen illustrieren auch die folgenden portugiesischen Korpusbelege auf der Basis des Corpus do Português (1900–1999) die geringe Vorkommenshäufigkeit der imminentiellen Verbalperiphrasen estar para + Inf. mit 10,95 Belegen, estar por + Inf. mit 4,2 Belegen und estar a ponto de + Inf. mit 0,55 Belegen gegenüber den aspektuellen Verbalperiphrasen ir + Inf. mit > 1009,7 Belegen, estar + Gerundium mit 643,65 Belegen, costumar + Inf. mit 59,3 Belegen und acabar de + Inf. mit 63,45 Belegen (cf. Abbildung 9, Seite 109). In kontrastiver Betrachtung des Spanischen und Portugiesischen ist zu bemerken, dass die spanische Verbalperiphrase mit der die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden PP (estar a punto de + Inf.) gegenüber estar por + Inf. und estar para + Inf. überwiegt, während es sich im Portugiesischen genau
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
109
umgekehrt verhält: estar a ponto de + Inf. ist mit einer Frequenz von 0,55 relativ gering belegt gegenüber estar para + Inf. mit einer relativen Frequenz von 10,95 Belegen. Während im Spanischen etwas stärker auf estar por + Inf. (12,5 Belege) gegenüber estar para + Inf. (2,65 Belege) zurückgegriffen wird, verhält es sich im Portugiesischen ebenfalls umgekehrt: Im Portugiesischen ist vielmehr estar para + Inf. (10,95 Belege) frequenter als estar por + Inf. (4,2 Belege). 1200 > 1009.7
1000 800 643.65
600 400 200
59.3
63.45
10.95
4.2
0.55
0 Ir + Inf.
Estar + Costumar + Acabar de Estar para + Estar por + Estar a Gerundium Inf. Inf. Inf. Inf. ponto de + Inf. Frequenz zu 1.000.000 Token
Abbildung 9: Relative Frequenz aspektueller VPPn im CDP (1900–1999).
Im Gegensatz zum Portugiesischen und Spanischen unterscheidet das Italienische nicht zwischen estar por + Inf. und estar para + Inf. und zeigt hinsichtlich stare per + Inf. eine relativ höhere Frequenz mit 41,15 Belegen gegenüber dem Portugiesischen und Spanischen. Stare per + Inf. ist sogar deutlich frequenter belegt als finire per + Inf. mit lediglich 17,5 Belegen. Die älteren84 imminentiellen Verbalperiphrasen essere sul punto di + Inf. mit lediglich 5,15 Belegen und essere per + Inf. mit lediglich 4 Belegen zeigen sich hingegen marginal, wie Abbildung 10 (Seite 110) illustriert. In typologischer Betrachtung weisen die Kategorien Proximativ und insbesondere die spezifische Kategorie des Avertivs generell eine eher geringe Frequenz auf (cf. Kuteva 2001; Bergs 2005, 165–170), wie auch bereits in Kapitel 2
84 Zur diachronen Untersuchung der STARE-Verbalperiphrasen cf. Kapitel 4.5.
110
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
aufgezeigt wurde. Eine relativ niedrige Frequenz in dem System einer Sprache geht bekanntlich mit einem geringeren Grad an Obligatorisierung und daher einem geringeren Grammatikalisierungsgrad einher. Darüber hinaus zeigen Viewpoint-aspect Periphrasen eine hohe Paradigmatizität (Kohäsionszunahme) i.d.R. in der Kombinierbarkeit mit allen Eventualitäten, während lexikalische Periphrasen nicht mit allen Eventualitäten kombinierbar sind. Im Gegensatz zu der prospektiven IRE-Periphrase, sind die katalanische IREProximativperiphrase sowie die STARE-Proximativperiphrasen nur mit dynamischen Eventualitäten kombinierbar.85 Darüber hinaus werden sie im Skopus des Proximativs und Avertivs telisch (Shifting).
500
449
400 300 200 100
41.15
17.5
5.15
4
f.
f.
In r+ pe re se Es
Es
se
re
su
Fi
lp
ni
un
re
to
pe
di
r+
+
In
In
f.
f. In + er ep ar St
St ar e+
G er un di um
0
Frequenz zu 1.000.000 Token Abbildung 10: Relative Frequenz aspektueller VPPn im CORIS.
(126) Kompatibilität mit dynamischen Eventualitäten Sp. (a) [. . .] Fernando VII está a punto de llegar a Cádiz [. . .] (CREA: Ortiz-Armengol, Pedro, 1994, Aviraneta o la intriga, España)
85 Laca (2003) nimmt die Inkompatibilität mit States zum Anlass, den katalanischen IREProximativ unter den lexikalischen Periphrasen einzuordnen: «Nous avons interprété le catalan anar a + INF comme une périphrase de phase préparatoire (modification d’èventualité), en raison de l’exigence de contiguïté temporelle ou intentionnelle et de son incompatibilité avec les états» (Laca 2003, 145).
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
111
(b) Allí es donde la alianza Renault Nissan está a punto de construir una fábrica de ensamblaje de vehículos [. . .] (El País: 17/02/ 2008, Renault, un puerto descomunal y tres zonas francas nuevas, España) (c) No es posible, está a punto de llorar. (CREA: Mañas, José Ángel, 1994, Historias del Kronen, España) (d) Venga, niña, hay que hacer limpieza, el huésped está por llegar. (CREA: Melgares, Francisco, 1986, Anselmo B o la desmedida pasión por los alféizares, España) (e) Pero la verdadera paz está por construir [. . .]. (CREA: El Mundo, 15/12/1995, Guerra de Bosnia. Acuerdo de paz de Dayton. Firma del tratado en Paris, España) (f) Y dejó que soltara sus lágrimas como caballos desbocaos allí mismo, en medio de todos. Los que también lloraban, lloraron o estaban por llorar. (La vida en Rojiblanco, 28/10/2008, Luismi Martínez, Marcha Nupcial, España) Nicht zuletzt ihre Inkompatibilität mit States veranlasst Laca (2002), die imminentiellen STARE-Periphrasen letztendlich als lexikalische Periphrasen einzustufen. (127) Inkompatibilität mit States Sp. (a) *Sara está {a punto de / para / por} venir de buena familia. (b) La película *está por / va a gustarle. The movie is by / goes to please-to-him ‘The movie is about to / is going to please him.’ (Laca 2002, 85) (c) Se *estaban por / iban a ver con frecuencia. by / went to see with frequency REFL were ‘They were about / were going to meet frequently.’ (Laca 2002, 86) Fr. *Paul est sur le point d’être malade[.] (Pouradier Duteil 1999, 144) Kat. (a) *La seva vida va a ésser molt tranquilla. The his/her life goes to be very calm ‘His/her life goes to be very calm.’ (Laca 2002, 90) (b) *Es van a veure molt sovint. very often REFL go to see ‘They are going to meet very often.’ (Laca 2002, 90) States werden aufgrund des Merkmals [+statisch] nicht ausdrückt, sondern werden durch die Annahme einer ingressiven Bedeutung (Type-Shifting) akzeptabel:
112
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(128) Type Shifting des Proximativs Frank está {a punto de/ para/ por} {tener una casa/ ser español}. Analog zu den IRE-Konstruktionen sind auch die STARE-Konstruktionen polysem, zumal sie neben der periphrastischen Bedeutung (Beispiel 129) auch eine lexikalische Bedeutung der Finalität (Beispiele 130) in der wörtlichen Bedeutung ihrer drei Glieder (‘dort sein, um etwas zu tun’) aufweisen. (129) Imminentielle Bedeutung Sp. Mario. Usted dirá, señora. Petra. ‘Señora’: buen comienzo. ¿Está para llover? Mario. ¿Cómo? Petra. El tiempo, el día. . . Si está para llover. Como viene usted de la calle y yo no he estado. Mario. Hay alguna nube. Pero altas y blancas. . . No, no creo. (CREA: Antonio Gala, 1980, Petra Regalada, España,) (130) Lexikalische Bedeutung (Finalität) Sp. ¿Ha estado usted en el lugar? – No necesito haber estado para conocerla. Bonita finca. (CDE: Francisco Navarro Villoslada, 19Jh., Historia de muchos Pepes) Sp. El ejército está para servir al pueblo. Eso es lo que decíamos en la guerra. (CREA: David Martín del Campo, 1976, Las rojas son las carreteras, México) Die aus der polysemen Struktur resultierende Kontextabhängigkeit der periphrastischen Bedeutung geht zwangsläufig mit einem schwächeren Grammatikalisierungsgrad einher, als die vergleichsweise stärker grammatikalisierte französische Avertivperiphrase faillir + Infinitiv, die für den Avertiv bereits spezifiziert ist und darüber hinaus in Tempora mit perfektivem Aspekt (nahezu ausschließlich im passé composé) defektiv ist. Hinsichtlich der ESSERE/STARE/SEDERE-Periphrasen sind zudem die Nebenbedeutungen der entsprechend des präpositionalen Elements per, para und/oder por unterschiedlichen Formen innerhalb der romanischen Sprachen zu berücksichtigen. Während die ESSERE/STARE/SEDERE-Periphrasen mit der die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden Präpositionalphrase sp. a punto de (it. sul punto di; fr. sur le point de; pg. a ponto de; kat. a punt de; rum. pe punctul de; etc.) in kontrastiver Betrachtung weitestgehend analog gebraucht werden, sind die die Präpositionen per, para und/oder por enthaltenen ESSERE/STARE/SEDEREPeriphrasen innerromanisch durch unterschiedliche lexikalische (modale)
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
113
Bedeutungsnuancen geprägt: Entgegen der die Präposition per enthaltenen ESSERE/STARE/SEDERE-Periphrasen im Italienischen (stare per + Inf., essere per + Inf.), Rätoromanischen (star/ster per + Inf.), Okzitanischen (èsser per + Inf.) und Katalanischen (estar per + Inf.), ist zudem die im Spanischen, Portugiesischen und Galicischen vorhandene Rivalität von para und por gesondert zu betrachten. Die unterschiedlichen modalen Nebenbedeutungen der Proximative mit por und para werden durch den Gebrauch mit belebtem Subjekt ersichtlich. Am Beispiel des peninsularen Spanisch können die modalen Nebenbedeutungen, wie folgt, paraphrasiert werden, aus denen sich die Inferenz der Imminenz ableiten lässt. (131) Modale Nebenbedeutung bei por und para mit belebtem Subjekt Sp. (a) Ana está a punto de casarse. ‘Ana ist kurz davor zu heiraten.’ (b) Ana está para casarse. ‘Ana ist bereit zu heiraten.’ +> ‘Ana ist kurz davor zu heiraten.’ (c) Ana está por casarse. ‘Ana möchte heiraten.’ +> ‘Ana ist kurz davor zu heiraten.’ In Verbindung mit unbelebtem Subjekt weisen sie die zu estar a punto de + Inf. äquivalente imminente Bedeutung auf. (132) Imminente Bedeutung bei unbelebtem Subjekt Sp. La bomba está (por / para / a punto de) explotar. ‘Die Bombe ist kurz davor hochzugehen.’ Der Proximativ der Form estar para + Infinitiv wird im Spanischen, Galicischen, europäischen und brasilianischem Portugiesischen ausgedrückt. (133) Der Proximativ in den iberoromanischen Sprachen Sp. Vamos, hijo, arriba – dijo la mujer –, que el sol está para salir. (CREA: Sánchez Espeso, Germán, 1991, La mujer a la que había que matar, España, zitiert nach Schwellenbach 2009, 43) Sp. Petra: ¿Está para llover? [. . .] El tiempo, el día. . . Si está para llover. (CREA: Gala, Antonio, 1980, Petra Regalada, España, zitiert nach Schwellenbach 2009, 43) Gl. Estou para saír da porta, para me dirixir á taberna de aí do lado. (CORGAetiq: Heinze, Úrsula, 1984, Remuíños en coiro. Sorpresas escríbese con maiúscula, España/Galicia) EP O comício estava para começar. (Linguateca: DiaCLAV v. 5.4)
114
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
BP (a) A festa está para começar. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) (b) Dez anos de justificada paranóia e sensação iminente de que a morte está para chegar. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) In den hispanoamerikanischen Varietäten finden sich, neben den lexikalischen Verwendungen von estar para + Infinitiv oder der verbreiteten Wendung no estar para, allerdings nur vereinzelte Beispiele des Proximativs, wie die folgenden Belege des guatemaltekischen, venezuelanischen, chilenischen, costaricanischen und mexikanischen Spanisch illustrieren. (134) Der Proximativ estar para + Infinitiv in den hispanoamerikanischen Varietäten Guat. Este libro, el cual me impulsa a escribir sobre él, no debe titularse «SINGLADURAS». Es indispensable buscarle otro título, sobre todo que está para salir de las prensas una segunda edición. ] Y hoy con un bello dibujo en la portada (CREA: La Hora, 04/01/1997, Narradora y poetisa Wislawa Szymborska, Guatemala, Guatemala) Ven. Los funcionarios, pues, que estamos trabajando conjuntamente en ese convenio y creo que está para salir, creo que es algo imperioso también, en el país, de que así como el Ministerio exige la aprobación de los libros de texto, [. . .] (CREA: ORAL, 20.Jh., Muestra VII, encuesta 2H-106–i. Hombre, 39 años, casado, natural de Caracas, estudios de Biología y. . ., Venezuela) Chil. ¿Mark González? Claro, estaba para ser titular y se lesionó, pero hace rato que él ya levantó su cartel de recambio. (CREA: El Mercurio, 16/07/2004, Da para pensar, Santiago de Chile, Chile) Cost. El 30 de agosto, Haim Geri envió una nota al viceministro Chipsen en la que le aseguró que el material estaba para ser despachado y que harían lo necesario para que llegara a Costa Rica. (CREA: La Nación, 07/04/1997, Según Israel, pertrechos se perdieron durante el viaje, San José, Costa Rica) Mex. Pues ha sido para mí uno de los viajes más inolvidables. Mi mi hija, o sea, tu mamá, estaba para recibirse de maestra, y organizamos un paseo a la casa de mi sobrina Irene, que radicaba en Metepec, la fábrica de hilados y tejidos, con su esposo Mi tío Víctor. (CREA: ORAL, ME-13. Mujer de 80 años, Obstetra, México)
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
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Im Gegensatz zu estar para + Infinitiv wird die Imminenz von estar por + Infinitiv bei belebtem Subjekt hingegen zuweilen (jedoch nicht ausschließlich) aus einer empfundenen Versuchung oder Absicht der Handlungsumsetzung inferiert: «sentir la tentación, o tener la intención, de realizar la acción designada por el infinitivo» (RAE 2005, 276). Ihre modale Nebenbedeutung der Intention hat einige Linguisten, wie beispielsweise Gómez Torrego (1988), dazu veranlasst, die Verbalperiphrase vielmehr als eine modale anstelle einer aspektuellen Verbalperiphrase zu klassifizieren (cf. Schwellenbach 2009). (135) Intention +> Imminenz Estoy por decírselo. +> Estoy a punto de decírselo. Estar por + Infinitiv bezieht sich darüber hinaus in den iberoromanischen Sprachen auf eine noch zu erwartende beziehungsweise noch auszuführende Handlung, im Sinne von ‘etwas muss (erst) noch gemacht werden’ oder ‘man wird es noch machen’. In dieser transitiven Verwendung wird der Agens oftmals ausgeblendet und die Konstruktion wird oftmals als Prospektiv gebraucht. (136) Transitive Verwendung von estar por + Infinitiv Sp. La ciudad está por conquistar. Arg. Esteban trabaja en un peaje (aunque eso aún está por definirse) y se suma a una travesía automovilística en la cual tres músicos ciegos van en busca de Baigorria, para dar un concierto en vivo en un inhóspito sitio de la provincia. (CREA: Clarín, 01/08/2003, television: proyecto 48, hoy a las 21.30 por tnt, Argentina) Gl. Ademais das súas propia obras, e da descomunal produción de cartas escritas a múltiples correspondentes durante anos, aínda está por escribir o detallado itinerario que o leva a protagonizar gran parte dos aconteceres de Galiza entre 1950 e 1990, ano da súa mort. (CORGAetiq: Xan Carballa, Xornal, A Nosa Terra ANT2008–07–10/21, España/Galicia) BP A maior parte do que ainda está por descobrir localiza-se nos trópicos americanos, metade dos quais em território brasileiro. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) EP Também solicitámos a construção de um lar de terceira idade na Várzea, visto esta geração estar a ficar muito avançada em anos e vir a necessitar dessa casa que ainda está por fazer. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) EP O teste está por fazer. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal)
116
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
In Analogie wird diese Bedeutung auch von estar para + Infinitiv angenommen, wie das Beispiel aus dem europäischen Portugiesisch zeigt. (137) Transitive Verwendung von pg. estar para + Inf. und kat. estar per + Inf. EP Mas a sensação mais estranha ainda estava para vir: foi que, quando quis sair da cova, julgava que ficava em pé em cima do chão como os habitantes daquele país estrangeiro, mas a verdade é que a única maneira de poder ver as coisas naturalmente era pondo-se de pernas para o ar. . . (José Sobral de Almada Negreiros, O cágado) ‘Aber der seltsamste Eindruck sollte erst noch kommen: Als er nämlich aus der Grube stieg, glaubte er, aufrecht auf dem Boden zu stehen wie die Bewohner jenes fremden Landes; aber in Wirklichkeit konnte er hier alles nur dann normal sehen, wenn er sich im Handstand hinstellte. . .’ (Schuldes 2011, 15) Kat. L’efectivitat d’aquest remei està per veure. (Alsina 2002, 2422) Kat. La pujada del preu de la gasolina encara està per decidir. (Alsina 2002, 2422) Kat. La Sagrada Família estarà per acabar durant una bona temporada. (Alsina 2002, 2422) Alsina (2002, 2423) zeigt die in Verbindung mit sowohl intransitiv als auch transitiv verwendbaren Verben resultierende Ambiguität der katalanischen Periphrase estar per + Infinitiv, wie in (a), anhand einer intransitiven Lesart in (a1) und einer transitiven Lesart in (a2) auf. (138) Intransitive Lesart (a1) und transitive Lesart (a2)86 Kat. (a) El cotxe està per entrar (Alsina 2002, 2423) (a1) El cotxe està a punt d’entrar (Alsina 2002, 2423) ‘Das Auto ist kurz davor hereinzufahren.’ (Intransitive Lesart) (a2) El cotxe, encara falta entrar-lo (Alsina 2002, 2423) ‘Das Auto muss noch hereingeholt werden.’ (Transitive Lesart) Der Proximativ estar por + Infinitiv bzw. kat. estar per + Infinitiv existiert in allen iberoromanischen Sprachen. Die folgenden Belege illustrieren den Proximativ mit unbelebten Subjekten.
86 In dem diachronen Teil dieser Arbeit wird gezeigt werden, dass sich zuerst die transitive Lesart der STARE-Periphrasen und dann die intransitive Lesart entwickelt.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
117
(139) Der Proximativ estar por/per + Infinitiv mit unbelebtem Subjekt BP Um novo capítulo na minha vida estava por começar. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) EP Na oportunidade, após um juízo muito severo sobre «as enormes insuficiências da (ou falta de) política no sector», a Quercus reafirma «a sua vontade de dialogar e colaborar com o MARN e com todos os outros agentes no interior desse edifício que está por construir. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) Gl. Pero iso non será nada comparado co que está por vir. (CORGAetiq: Luís Álvarez Pousa, Galicia Internacional GI1996–06/30, España/Galicia) Kat. La pel·lícula està per començar. (Alsina 2002, 2422) Die folgenden Belege illustrieren den iberoromanischen Proximativ estar por + Infinitiv bzw. kat. estar per + Infinitiv mit belebten Subjekten. (140) Der Proximativ estar por/per + Infinitiv mit belebtem Subjekt BP (a) Gilberto Calil e Carla Silva haviam terminado o mestrado há pouco tempo, Claudira Cardoso estava por defender sua dissertação. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) (b) Uma criança que gesticula, que está por nascer em poucos dias, não tem direito à defesa, à vida. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) EP (a) (b)
(c) Kat. Gl.
Sp.
Ontem ao final da tarde, estavam por retirar várias toneladas de lixo. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) Reconhecendo que a sua associação se opôs à regulamentação da lei de 1990 pelas implicações que ela ia ter no seu sector, mas também porque, nesse altura, estavam por publicar as directivas comunitárias sobre a matéria, o presidente da Abimota mostra-se optimista relativamente ao novo Código da Estrada. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) Estavam por contabilizar àquela hora «as mesas das zonas pouco povoadas». (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) La Berta estava per sortir quan va perdre l’arracada (Alsina 2002, 2422) Pensa que as empresas de comunicación están por aceptar unha regulación do sector? (CORGAetiq: Rubén Valverde, A Nosa Terra ANT2005–03–03/28, España/Galicia) Venga, niña, hay que hacer limpieza, el huésped está por llegar. (CREA: Melgares, Francisco, 1986, Anselmo B o la desmedida pasión por los alféizares, España)
118
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Der Proximativ estar por + Infinitiv ist darüber hinaus auch in den hispanoamerikanischen Varietäten weit verbreitet, wie die folgenden Belege des argentinischen, bolivianischen, chilenischen, kolumbianischen, guatemaltekischen und mexikanischen Spanisch illustrieren. (141) Der Proximativ estar por + Infinitiv in den hispanoamerikanischen Varietäten Arg. Todo redondito para Ortelli, que sólo reconoció preocupaciones por «esos ruidos extraños que se sienten en las últimas vueltas cuando por fin una está por ganar una carrera. . .» (CREA: Clarín, 04/11/ 2002, Argentina) Bol. Al jalar la sábana sus dedos tocan los cabellos, todavía húmedos, del difunto. La hermana está por perder las fuerzas, cuando siente que le hablan a sus espaldas. (CREA: Renato Prada Oropeza, 1979, Larga hora: la vigilia, Bolivia) Chil. En vista de esa actitud decidimos no ir, porque no podemos aceptar que los clubes se desmantelen y se debiliten justo cuando el torneo nacional está por empezar. (CREA: Revista Hoy, 11–17/07/1984, Chile) Kol. Para contribuir al mejor conocimiento y difusión de las ciudades de Colombia, ha editado libros como Así es Bogotá, cuya segunda edición revisada está por aparecer; El Valle del Cauca, Barranquilla. Actualmente se trabaja en la edición de sendos libros sobre Cartagena y Medellín. (CREA: El Tiempo, 16/10/1992, Bogotá, Colombia) Guat. El Banco de Guatemala está por emitir las metas de política monetaria, cambiaria y crediticia para 1997. ¿Será capaz de proponer una meta inflacionaria del 0%? (CREA: Prensa Libre, 22/01/1997, Guatemala) Mex. La «segunda parte de la Guerra de Castas está por comenzar», dice más en serio que en broma Salvador Arrieta Díaz Barriga, vocal de la Asociación de Propietarios y Servidores Turísticos de Punta Piedra, una franja costera que se localiza entre Tulum y la reserva de la biosfera de Sian Ka’an, cuyos terrenos – de la más alta plusvalía turística –, son motivo de disputa entre particulares y ejidatarios de la zona. (CREA: Proceso, 29/12/1996, México) Neben der Nicht-Kompositionalität aus den sie bildenden Gliedern im Zuge der Desemantisierung des Auxiliars, bestimmt die syntaktische Einheit den
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
119
Grammatikalisierungsgrad der Verbalperiphrase, die in der Regel durch Unersetzbarkeit und Untrennbarkeit der einzelnen Glieder getestet werden kann. Die syntaktischen Tests zur Bestimmung der Periphrastizität und des Grammatikalisierungsgrades des STARE-Proximativs werden für das Spanische unter anderem von Gómez Torrego (1988; 1999), Quesada (1994, 133s.) und Carrasco Gutiérrez (2006, 146–158) behandelt. Die infinite Form der Verbalperiphrasen in (a) ist weder durch Pronomina in (b) und (c), noch durch Substantive in (d), noch durch Objektsätze in (e) ersetzbar: (142) Unersetzbarkeit der infiniten Form87 Sp. (a) El tren está {para / a punto de} llegar. El huésped está por llegar. (b) El tren está {#para / *a punto de} eso. *El huésped está por eso. (c) ¿{#Para qué / *De qué} está {*a punto} el tren. *¿Por qué está el huésped? (d) *El tren está {para / a punto de} la llegada. *El huésped está por la llegada. (e) *El tren está {para / a punto de} que llegue. *El huésped está por que llegue. Die Untrennbarkeit der einzelnen Glieder der Periphrasen zeigt sich nach Carrasco Gutiérrez (2006, 146–158) zudem in der entweder semantisch-pragmatischen oder grammatischen Inkompatibilität mit einem Spaltsatz (Cleft-Sentence), wie die folgenden Beispiele illustrieren. (143) Untrennbarkeit der Glieder bei unbelebten Subjekten88 Sp. (a) #Para llegar es para lo que está el tren. (b) *Por finalizar es por lo que están los trabajos. (c) *De llegar es de lo que está a punto el tren. Allerdings zeigt Carrasco Gutiérrez (2006, 147) die Ausnahme hinsichtlich belebter Subjekte an der Kompatibilität in folgendem Beispiel auf, das zudem die in dieser Arbeit diskutierte Avertivbedeutung ausdrückt.
87 Cf. Carrasco Gutiérrez (2006, 146–158). 88 Cf. Carrasco Gutiérrez (2006, 146–158).
120
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(144) Trennbarkeit der Glieder bei belebten Subjekten Sp. De caerme por las escaleras es de lo que estuve a punto. (Carrasco Gutiérrez 2006, 147) Rojo (1974a) ordnet die proximative VPP estar para + Infinitiv im Galicischen ebenfalls den grammatischen Periphrasen zu. [. . .] no se pueden hacer [. . .] modificaciones [. . .] sin que el sentido se altere por completo. Por ello, se puede suponer unidad funcional y semántica a estoy para decirlo y conservar esta construcción en el terreno de la auxiliaridad. (Rojo 1974a, 38)
Im Zuge der Desemantisierung des Auxiliars bestimmt die infinite Verbform die Selektionsrestriktionen der Aktanten zur Unterstützung ihrer semantischen Hauptinformation (cf. Carrasco Gutiérrez 2006). (145) Selektionsrestriktionen der infiniten Verbform Sp. (a) El avión está para {despegar / *parir}. (b) El {público / *agua} está a punto de aplaudir. (c) La exposición está por {comenzar / *nadar} Im Gegensatz zu estar por + Infinitiv und estar a punto de + Infinitiv weist estar para + Infinitiv allerdings eine Inkompatibilität bei der Bildung des Reflexivpassivs und der Voranstellung klitischer Pronomina auf (cf. Carrasco Gutiérrez 2006): (146) Inkompatibilität von estar para + Inf. mit dem Reflexivpassiv Sp. (a) Sin embargo, las empresas constructoras quieren que el club se ponga al día cuanto antes con sus obligaciones porque las dos primeras fases del estadio están a punto de finalizarse y no quieren que haya pagos pendientes cuando se comience la tercera. (Lexis Nexis: El Mundo, 16/01/2009, España) (b) Situado en el edificio que la diputación tiene en la calle Pintores 10, ha abierto [i.e. la Librería El Brocense] con medio centenar de títulos, aunque espera que en el plazo de unos meses alcance el centenar entre los nuevos que están por publicarse y los que se han agotado, que se volverán a reeditar, informa Efe. (Lexis Nexis: El Periódico Extremadura, 22/04/2008, España)
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
121
(c) *Los entremeses estaban para servirse. (Carrasco Gutiérrez 2006, 154)89 (147) Voranstellung klitischer Pronomina bei estar para + Inf. Sp. (a) El Perugia se puso dos goles arriba y estaba para lograr la primera victoria en un cuarto de siglo en Roma, jugando con un hombre más. (CREA: Clarín, 04/11/2002, Argentina, zitiert nach Carrasco Gutiérrez 2006, 154) (b) Y estaba para lograrla, jugando con un hombre más. (Carrasco Gutiérrez 2006, 154) (c) *Y la estaba para lograr, jugando con un hombre más. (Carrasco Gutiérrez 2006, 154) Hinsichtlich der Erfüllung der Voranstellung klitischer Pronomina herrscht Uneinigkeit, was die Verbalperiphrase estar por + Infinitiv betrifft. Nach Carrasco Gutiérrez (2006, 156) ist estar por + Infinitiv ebenfalls nicht in der Lage dieses Kriterium zu erfüllen: (148) Voranstellung klitischer Pronomina bei estar por + Inf. Sp. (a) [. . .] los representantes de Moon están por sacar un periódico con el cual pretenden adoctrinar a la gente y esto mismo sucedería en Honduras. (CREA: La Tribuna, 02/07/1997, Honduras, zitiert nach Carrasco Gutiérrez 2006, 156) (b) Los representantes de Moon están por sacarlo. (CREA, La Tribuna, 02/07/1997, Honduras, zitiert nach Carrasco Gutiérrez 2006, 156) (c) *Los representantes de Moon lo están por sacar. (Carrasco Gutiérrez 2006, 156) Nach Gómez Torrego (1988, 36s.) ist die Voranstellung klitischer Pronomina bei der Verbalperiphrase estar por + Infinitiv durchaus akzeptabel:
89 Mit dem von Carrasco Gutiérrez (2006, 156) als agrammatisch (formal: *) gekennzeichneten Beispiel wird sich auf die grammatische Inkompatibilität der VPP (!) mit dem Reflexivpassiv bezogen. Die Aussage ist jedoch in der nicht-periphrastischen, lexikalischen Bedeutung ‘(dort) sein um etwas zu tun’ nicht agrammatisch.
122
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(149) Voranstellung klitischer Pronomina bei estar por + Inf. Sp. Estoy por decirlo y lo estoy por decir. (Gómez Torrego 1988, 36) Die vermeintliche Kontroverse der beiden Linguisten auf der Basis ihrer Intuition als Muttersprachler spiegelt sich ebenfalls in den einschlägigen spanischen Korpora (CREA und Corpus del Español) wider, in denen sich keinerlei Beispiele mit vorangestellten Objektpronomen finden lassen. Es ist folglich davon auszugehen, dass die Voranstellung der Objektpronomina bei estar por + Infinitiv zwar eher – insbesondere in der geschriebenen Sprache – ungewöhnlich ist, die Aussage jedoch nicht zwangsläufig agrammatisch werden lässt (cf. Schwellenbach 2009). Im Gegensatz zu den beiden Verbalperiphrasen estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv kann die infinite Form von estar a punto de + Infinitiv bei belebtem Subjekt sowohl fokussiert (a) als auch durch ein Interrogativpronomen (b) oder einen Objektsatz (c) ersetzt werden. (150) Fokussierbarkeit und Ersetzbarkeit der infiniten Form bei belebtem Subjekt Sp. (a) De morir aquella tarde es de lo que estuvo a punto el torero. (b) ¿De qué está a punto María? (c) Juan estaba a punto de que lo atropellen. (Schwellenbach 2009, 47) Für das Katalanische sei auf die komparative Untersuchung syntaktischer Kriterien (Voranstellung von Klitika [A], Klitisierung [C]; Kompatibilität mit der NP [N]; Möglichkeit der Passivierung [P], etc.) von estar a punt de + Infinitiv in Relation zu anderen Verbalperiphrasen auf Gavarró/Laca (2002, 2678) verwiesen, die der Tabelle 19 (Seite 123–124) entnommen werden können. Des Weiteren ist sowohl bei dem Proximativ als auch bei dem Avertiv die passive Diathese möglich. Die Kompatibilität des Proximativs mit dem periphrastischen Passiv (Vorgangspassiv) wird an den folgenden iberoromanischen Beispielen illustriert. (151) Proximativ im periphrastischen Passiv (Vorgangspassiv) Sp. (a) La novia está {a punto de / para} ser desposada. (b) La condena está por ser cumplida. BP (a) O mundo está para ser reinventado. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) (b) Mas a avaliação vai piorar, eis que está para ser anunciado um aumento nas tarifas de pedágio do Paraná, fato que estamos contestando, pois necessita de uma prévia manifestação dos Ministérios dos Transportes e da Fazenda, visto serem rodovias federais delegadas ao Estado, e ainda não sabemos se esses órgãos foram consultados. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil)
123
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
(c) Mas a «grande obra» ainda está por ser feita: EUA e FMI exigem que o Japão finalmente abra o seu mercado e destrua os empregos vitalícios de sua classe operária. (CDP: Valerio Arcary, 2000, As esquinas perigosas da história: um estudo sobre a história dos conceitos de época, situação e crise revolucionária no debate marxista, Tese de doutorado, São Paulo) (d) Já nos estertores do período militar (1964–1985), o debate acadêmico e político sobre os alicerces do regime democrático que estava por ser construído no Brasil não se resumia aos aspectos formais. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) Kat. L’ocell està a punt de ser engolit per la serp. (Laca 2000, 257) Tabelle 19: Perífrasis verbals – Caracterizació sintàctica [. . .] (Gavarró/Laca 2002, 2678). A
T
P
An
N
C
S
anar GER
+
+
+
–
–
+
–
estar GER
+
+
+
–
–
+
–
estar a punt de INF
+
+
+
+
+
+
–
començar a INF
+
+
+
+
+
–
–
posar-se a INF
+
+
–
–
+
+
–
acabar de INF
+
+
+
+
+
–
–
parar de INF
+
+
–
+
+
–
–
deixar de INF
+
+
+
–
+
–
–
seguir GER
+
+
+
+
+
–
–
continuar GER
+
+
+
+
+
–
–
tornar a INF
+
+
+
–
+
+
–
soler INF
+
+
+
–
+
–
–
poder INF (ep)
+
+
+
–
+
–
–
poder INF (d)
+
–
–
+
+
–
–
deure INF (ep)
+
+
+
–
–
–
–
haver / tenir de INF (ep)
+
+
+
–
–?
–
–
90 Die Siglen werden, wie folgt, aufgelöst: A = anteposició de clític; An = anàfora de complement nul; C = cliticització; d = deòntic; ep = epistèmic; N = negació; P = passivització; S = selecció d’oracions finites; T = transparència respectre a les restriccions seleccionals.
124
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Tabelle 19 (fortgesetzt )
haver / tenir de INF (d)
A
T
P
An
N
C
S
+
–
–
–
–?
–
–
voler INF
+
–
–
+
+
–
+
saber INF
+
–
–
–
+
+
+
gosar INF
+
–
–
+
+
–
+
Die Kompatibilität des Proximativs mit dem Reflexivpassiv ist durch folgende katalanischen Beispiele nach Laca (2000) belegt. (152) Proximativ im Reflexivpassiv Kat. (a) Una vegada mès, s’està a punt d’executar un home sense haver-li oit confessió. (Laca 2000, 257) (b) S’està a punt de conèixer la decisió del jurat. (Laca 2000, 257) Dass auch der romanische Avertiv in passiver Diathese realisiert wird und in dieser Hinsicht ein fortgeschrittenes Grammatikalisierungsstadium widerspiegelt, wird anhand folgender Beispiele illustriert. (153) Avertiv in passiver Diathese Sp. «A mis 12 años de edad estuve a punto de ser atropellado por una bicicleta», contó el Premio Nobel de Literatura a los asistentes que abarrotaban el antiguo Convento de San Agustín, [. . .]. (CREA: El Nuevo Herald, 1997, EE.UU) ‘Mit 12 Jahren wäre ich beinahe von einem Fahrrad überfahren worden.’ Fr. C’est ainsi que le général Béthouart, le colonel Magnan, le contrôleur Gromand, arrêtés au Maroc par ordre de Noguès, avaient failli être fusillés. (Frantext categorisée: Charles de Gaulle, 1956, Memoires de guerre: L’unité, chapitre 2, p. 63s.) ‘Sie wären beinahe erschossen worden.’ Okz. Ai pecat èsser espotit per una veitura. (Rafèu Sichel-Bazin, persönliche Mitteilung) ‘Ich wäre beinahe von einem Auto überfahren worden.’ Kat. L’entrenador del Reial Madrid, José Mourinho, va estar a punt de ser víctima d’un atac amb un objecte punxant a l’aeroport d’Alvedro, [. . .] (El Períodico: 04/03/2011, Mourinho va estar a punt de patir un atac amb un objecte punxant a la Corunya, Espanya/Catalunya)
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
Gl.
125
‘Der Trainer von Real Madrid, José Mourinho, wäre beinahe das Opfer einer Messerattacke auf dem Flughafen Alvedro geworden.’ Estivo preto de ser atropelado por un coche. ‘Er wäre beinahe von einem Auto überfahren worden.’
Die romanischen Avertiv- und Proximativkonstruktionen weisen zudem unterschiedliche Skopusinteraktionen hinsichtlich der Elemente Temporaladverbien, Negationspartikel und aspektuellen Operatoren auf. Hinsichtlich der Skopusinteraktion mit der Negationspartikel ergibt sich die Bedingung von Proximativ- und Avertivkonstruktionen, dass die Negationspartikel nicht vor dem Auxiliar stehen und somit keinen Skopus über die Verbalperiphrase in den romanischen Sprachen haben kann.91 Die Aussagen sind zwar grammatisch akzeptabel, verlieren jedoch die Proximativ- oder Avertivbedeutung. Bei unbelebtem Subjekt wird die Aussage semantisch-pragmatisch inakzeptabel, wie Beispiel (a) illustriert. Bei belebten Subjekten wird anstelle der Imminenz die Aussage auf die volitiv-modale Nebenbedeutung beschränkt, wie die Beispiele (b) und (c) illustrieren. (154) Inkompatibilität der Verbalperiphrase im Skopus der Negationspartikel Sp. (a) #El tren no {está / estaba} a punto de salir. ‘#Der Zug {ist / war} nicht im Begriff abzufahren.’ (b) No {estoy / estaba} para salir de marcha. ‘Ich {bin / war} nicht zum Ausgehen aufgelegt.’ (c) No {estoy / estaba} por ir a la fiesta. ‘Ich {bin / war} nicht dafür, auf die Feier zu gehen.’ Dass Imminenz im Skopus der Negation oftmals mit einer volitiv-modalen Bedeutung einhergeht, scheint auch sprachübergreifend der Fall zu sein, wie z.B. die Beobachtungen von Kuteva (2001) für das Bulgarische92 oder von Bergs (2005, 171) für das Englische be about to93 schließen lassen. Die volitiv-modale Bedeutung bei belebten Subjekten wird nicht nur im Skopus der Negationspartikel, sondern oftmals auch bei der Negationspartikel im Skopus der Infinitivkonstruktionen ausgedrückt, wie die folgenden Beispiele illustrieren.
91 Cf. auch Schwellenbach (2009) für das peninsulare Spanisch. 92 «volitional meaning is still preserved in negative sentences in Modern Bulgarian» (Kuteva 2001, 87). 93 «Negation scheint zu einer grundsätzlich anderen Bedeutung zu führen (z.B. in He was not about to tell her that) und soll daher hier ausgeklammert werden. Das OED kommentiert diese (erst seit kurzem dokumentierte Form): ‹In neg. contexts not about to (do something): not intending to or on the point of. colloq. (chiefly N. Amer.)› (OED, s.v. about, zitiert nach Bergs 2005, 171)» (Bergs 2005, 171).
126
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(155) Negationspartikel im Skopus der Infinitivkonstruktion bei belebten Subjekten Sp. (a) Ana estaba por no ir a la fiesta. ‘Ana war nicht dafür, auf die Feier zu gehen.’ (b) Carlos estaba para no pagar la cuenta. ‘Carlos war nicht dafür, die Rechnung zu bezahlen.’ (c) Juan estaba a punto de no salir. ‘Juan estaba a punto de {decidir / tomar la decisión de} no salir.’ (Carrasco Gutiérrez 2006, 149) Dass allerdings auch die aspektuelle Bedeutung in Form des Proximativs mit der dem Infinitiv vorangestellten Negationspartikel in der Tat kompatibel ist (cf. Kapitel 3.1.1), illustrieren die folgenden Korpusbelege. (156) Negationspartikel im Skopus des Proximativs bei belebten Subjekten Sp. ¡Oh, la decadencia de las mujeres bellas tiene un mérito singular para las almas sensibles! Es el hechizo del otoño con sus celajes rojizos y sus hojas secas que el viento va dejando caer una por una. Nunca es acaso la mujer tan bella como cuando está ya a punto de no serlo. (CORDE: Antonio Cánovas del Castillo, 1852, La campana de Huesca. Crónica del s. XII, España) ‘Niemals ist die Frau vielleicht so schön, wie wenn sie schon kurz davor ist, es nicht mehr zu sein.’ Ecd. El asunto empieza en la escuela, cuando el niño está a punto de no aprobar el grado y los padres buscan un amigo del maestro o del director, o hablan con ellos o le dan regalos para lograr que el chico no pierda el año, «porque un año es un año», dicen. (El universo: 26/02/2005, Columnistas, Las apariencias, Ecuador) ‘[. . .] wenn das Kind kurz davor ist, die Stufe nicht zu bestehen.’ Bei unbelebten Subjekten erscheint die Negationspartikel im Skopus von Proximativkonstruktionen hingegen oftmals nur eingeschränkt kompatibel, wie die Beispiele für das Spanische illustrieren. (157) Negationspartikel im Skopus des Proximativs bei unbelebten Subjekten Sp. (a) #El tren estaba para no salir. (b) *Los trabajos estaban por no finalizar. (c) *El sol estaba a punto de no salir. (Carrasco Gutiérrez 2006, 149)
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
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Romanische Avertivkonstruktionen weisen hingegen eine hohe Kompatibilität mit der Negation auf. Die Negationspartikel ist dem den Sachverhalt ausdrückenden Infinitiv vorangestellt und liegt somit im Skopus der Avertivperiphrase. Die beiden polaren Komponenten von Negationspartikel und Avertivkonstruktion führen zu einer positiven Proposition (¬¬pp → p), wie die folgenden Beispiele des Französischen und Okzitanischen illustrieren. (158) Negationspartikel im Skopus des Avertivs in der Galloromania Fr. (a) Il a failli ne pas voir Napoléon passer. (Frantext categorisée: Raymond Queneau, Journaux 1914–1965, 1996, p. 741) ‘Er hätte beinahe Napoleon nicht vorbeigehen sehen.’ (b) «Roubaix – Suite à un problème interne entre différentes associations, la brocante du Ballon a failli ne pas avoir lieu. C’était sans compter sur le dévouement de l’association des pêcheurs avec notamment son trésorier, Cédric Debuyser, qui en l’espace de 5 jours et avec l’aide de Jean-Luc Doyen, adjoint à la ville festive, a tout organisé dans l’urgence.» (Lexis Nexis: La Voix du Nord, 11/06/2011, France) ‘Der Trödel hätte beinahe nicht stattgefunden.’ (c) «J’ai failli ne pas venir, les inscriptions étaient closes, mais comme j’avais gagné le Raid de Guerlédan, j’ai contacté Olivier Le Mercier, un des organisateurs. J’avais un ticket d’inscription à faire valoir.» (Lexis Nexis: Le Télégramme, 12/06/2011, France) ‘Ich wäre beinahe nicht gekommen.’ Okz. (a) Manquèt de pas arribar a temps. (Rafèu Sichel Bazin, persönliche Mitteilung) ‘Er wäre beinahe nicht rechtzeitig angekommen.’ (b) A mancat de pas arribar a temps. (Rafèu Sichel Bazin, persönliche Mitteilung) ‘Er wäre beinahe nicht rechtzeitig angekommen.’ Die französischen und okzitanischen Avertivkonstruktionen sind mit einer vor dem Avertiv-Auxiliar vorangestellten Negationspartikel inkompatibel. Bei der Voranstellung der Negationspartikel (okz. pas) vor die finite Form (okz. manquèt) oder zwischen Auxiliar (okz. aver) und Partizip (okz. mancat), wie in dem folgenden Beispiel, erlangt die Negationspartikel vielmehr Skopus über die lexikalische Bedeutung von manquer, die mit einem älteren Grammatikalisierungsstadium korreliert (cf. Kapitel 4.6).
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(159) Lexikalische Bedeutung bei Voranstellung der Negationspartikel Okz. Un fenomèn qu’a pas mancat d’èsser estudiat per nombroses geològues. Seriá possible que foguèsson totes aqueles scientifics qu’aguèsse causat las primièras rumors. (La Setmana, Lo setmanièr occitan, Bugarag es l’Olimp de las Corbièras, 30/04/2012, França/ Occitània) Die STARE-Avertivkonstruktionen können ebenfalls negiert werden, insofern die Negationspartikel im Skopus des Avertivs liegt. Die folgenden Korpusbelege der iberoromanischen Sprachen illustrieren, mit Ausnahme des brasilianischen Portugiesisch, die Negationspartikelkompatibilität der iberoromanischen STAREAvertivkonstruktionen mit den die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden Präpositionalphrasen (a piques de, a punto de, a ponto de, etc.). (160) Negationspartikel im Skopus des Avertivs in der Iberoromania Gl. O crítico da arte povera, Germano Celant, só tivo algo máis de tres meses para preparala (a Biennale estivo a piques de non celebrarse este ano) e, sen embargo, sae airoso no reto, que centra nas mostras do Pavillón Central dos Giardini _o italiano_, e no longuísimo edificio da Cordería. (CORGA: Xosé Antón Castro, 1997, Tempos Novos, España/Galicia) ‘Die Biennale hätte dieses Jahr beinahe nicht stattgefunden.’ EP Curiosamente, a observação de Mushotzky e Burstein esteve a ponto de não ser feita. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) Kat. El debat Aznar-González va estar a punt de no fer-se. (Catalunya Radio, El debat Aznar-González va estar a punt de no fer-se: com ho va solucionar Manuel Campo Vidal?, Espanya/Catalunya) Arg. Odiaba la forma en que el pasado de Mariana había entrado en mi vida por el frívolo camino de un encuentro casual en una fiesta a la que estuvimos a punto de no ir. Pero fuimos. Y ocurrió algo que de pronto se me antojó importante, profundo, equívoco, oscuro, sórdido, sin que ninguno de los personajes fuera necesariamente equívoco, oscuro o sórdido. (CDE: Francisco ‘Pancho’ Oddone, Guerra privada, Argentina) Mex. ¡Estuve a punto de no regresar! (CDE: Gustavo Sainz, 1965, Gazapo, México) Für die iberoromanischen STARE-Avertivkonstruktionen mit primären Präpositionen, wie por und para, lässt sich ebenfalls die Kompatibilität mit der
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
129
Negationspartikel nachweisen, wie der folgende Beleg mit unbelebtem Subjekt illustriert.94 (161) Negationspartikel im Skopus des Avertivs in der Iberoromania (por, para) EP E o concerto – que esteve para não se realizar – revelou uns GNR em forma, com o recém-chegado a dar cartas e Rui Reininho a somar aos seus dotes vocais os de guarda-redes. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) In Verbindung mit belebten Subjekt wird die negierte Avertivbedeutung überwiegend aus der volitiv-modalen Nebenbedeutung inferiert, wie die folgenden Korpusbelege illustrieren. (162) Negationspartikel im Skopus des Avertivs in der Iberoromania (por, para) EP E nos 5000m, Eduardo Henriques (Maratona), que esteve para não correr depois de no dia anterior ter estado na milha urbana da Expo, foi quinto com 13m26, 91s, quando antes nunca havia baixado dos 13m40s. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) Gl. Que hoxe xa estiven para non lle poñer cubata nin nada, pero aguanteime e aínda fixen por ser amable con el, como tampouco non hai moito onde escoller, pero ben o sabe Deus. . . (CORGA: Miguel Suárez Abel, 1994, Selva negra, España/Galicia) Arg. (a) «Tom estuvo por no elegirme como guitarrista porque aquella tarde fui con un par de botas blancas y él odia los zapatos blancos, sean de deportes o lo que sea. El tiene algo extraño con eso. [. . .]» (La nación, 03/12/2013, Argentino y rockero por elección, Argentina) (b) Cuando el gran Joseph Brodsky fue deportado de la URSS y llegó con lo puesto a América, uno de los primeros encargos que le hicieron fue que tradujera al inglés unos poemas en ruso de Nabokov. Brodsky estuvo por no aceptar porque le parecían «de segunda línea»; terminó por hacerlo no tanto porque necesitara el dinero (como disidente en Rusia lo había pasado muchísimo peor) sino porque «un poema de segunda no pierde casi nada en la traducción, y a veces hasta gana un poco». (Hoy, 02/18/2011, Sangre azul, Argentina)
94 In Kapitel 4.5.3 wird die Negationskompatibilität der spanischen und portugiesischen STAREAvertivkonstruktionen mit primären Präpositionen, wie por und para, bereits im 16. Jahrhundert nachgewiesen.
130
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Darüber hinaus ist auch die bereits in affirmativen Kontexten aufgezeigte Verstärkbarkeit der iberoromanischen STARE-Avertivkonstruktionen mit einer Negation kompatibel. Die Umkehrung der Avertivpolarität erfolgt zugunsten einer positiven Proposition (¬¬p → p), insofern als die Verstärkung mit drei polaren Komponenten (aus lexikalischer Konstruktion, Verbalperiphrase und Negationspartikel) oder sogar vier polaren Komponenten aufgrund der «passiven Assertiertheit» (cf. Kapitel 3.2.2.2) der polaren Komponenten erfolgt, wie die folgenden Belege illustrieren.95 (163) Negationspartikel im Skopus des verstärkten Avertivs in der Iberoromania EP Contudo, Marinho Peres não deixou de se manifestar surpreso com a decisão de Sousa Cintra, uma vez que esperava por ela na sequência dos acontecimentos do Funchal, em finais de Fevereiro, quando quase esteve para não acompanhar a equipa devido às criticas do presidente (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) Sp. Casi, casi había estado a punto de no venir, por miedo de dejarlo solo; pero las noticias que le había dado Butrón eran tan graves, tan lisonjeras, que acabó al fin por decidirse. (CDE: Luis Coloma, 1891, Pequeñeces) Im Gegensatz zu den anderen iberoromanischen Sprachen einschließlich der Varietät des europäischen Portugiesisch wurde im brasilianischen Portugiesisch auf der Grundlage des CDP-Korpus und des Corpus Brasileiro der Linguateca kein Beleg der STARE-Avertivkonstruktionen in Verbindung mit der Negationspartikel und der Möglichkeit einer umkehrbaren Polarität des Avertivs gefunden,96 sodass ein früheres Grammatikalisierungsstadium oder zumindest ein schwächerer Grammatikalisierungsgrad gegenüber der europäischen Varietät des Portugiesischen angenommen wird.97 Die eingehende kontroverse Diskussion der romanischen Proximativkonstruktionen, insbesondere hinsichtlich ihrer Periphrasitizität sowie ihrer Einordnung zwischen Lexikon und Grammatik, einerseits sowie die neue Etablierung der periphrastischen Avertivkonstruktionen andererseits machte diverse korpusbasierte Untersuchungen ihrer Syntax und Semantik erforderlich, wie u.a.
95 Zur detaillierten Analyse der Verstärkbarkeit und ihrer Negationskompatibilität cf. Kapitel 3.2.2.2. 96 Das Corpus Brasileiro (989.012.584 Token) weist 5 Belege mit der Negationspartikel auf, von denen kein einziger Beleg die Avertivbedeutung ausdrückt. 97 Zur diachronen einzelsprachlichen Untersuchung der STARE-Verbalperiphrasen und ihrer Negationskompatibilität cf. Kapitel 4.5.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
131
ihrer Kompatibilitäten (insbesondere auch mit der Negationspartikel), Type shifting, ihrer Frequenz in Relation zu anderen aspektuellen Verbalperiphrasen sowie ihrer diatopischen Variation. 3.2.2.2 An der Schnittstelle von Pragmatik, Semantik und Syntax Im Folgenden wird das von uns in Kapitel 2.2 modifizierte Modell in Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006) am Beispiel der romanischen Verbalperiphrasen illustriert. Diesbezüglich wird die in Kapitel 3.2.1 durchgeführte pragmatische Untersuchung der lexikalischen Proximativ- und Avertivkonstruktionen auf die periphrastischen Konstruktionen in den romanischen Sprachen unter besonderer Berücksichtigung ihrer TAM-Flexion übertragen. Im Gegensatz zu den lexikalischen Konstruktionen, bei denen die VP durch die Avertivpartikel determiniert wird bzw. diese Skopus über die VP einschließlich der Tempus- und Aspektoperatoren der VP hat, kommt bei den periphrastischen Konstruktionen hingegen der Flexion nach Tempus und Aspekt eine entscheidende Rolle zum Ausdruck von Proximativ und Avertiv zu. Bei dem Proximativ mit Auxiliar in einem imperfektiven Tempus steht die Realisierung von p oder ¬p zum Sprechzeitpunkt noch aus, sodass die polare Komponente in Form einer kontrafaktischen Implikatur problemlos aufgehoben werden kann. (164) Aufhebbarkeit der polaren Komponente Sp. (a) Vettel estaba para ganar la carrera (y, de hecho, la ganó. / pero no la ganó.). Proximale Komponente: ‘Vettel war kurz davor, das Rennen zu gewinnen.’ +> Polare Komponente: ‘Vettel gewann das Rennen (nicht).’ (b) Iba a decírselo (y, de hecho, se lo dijo. / pero no se lo dijo.). Proximale Komponente: ‘Er/sie war kurz davor, es ihm/ihr zu sagen.’ +> Polare Komponente: ‘Er/sie sagte es ihm/ihr (nicht).’ Diese kontrafaktische Implikatur lässt sich nach Schwellenbach (2009) noch eingehender definieren. Es werden daher einige wesentlichen Ansätze des theoretischen Modells nach Ziegeler (2000; 2006) für almost übernommen, die allerdings in Anlehnung an Schwellenbach (2009) in eigenständiger modifizierter Form weiterentwickelt werden. Zwei grundlegende Modifikationen des Modells müssen vorausgeschickt werden:98 Im Gegensatz zu Ziegeler (2000; 2006) verstehen wir das 98 Diese modale Aussage ist ein klassisches Beispiel für eine R-basierte Implikatur, die entsprechend implikatiert, dass die Modifikationen vorausgeschickt werden.
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
letzte Stadium proximity to X’ (‘not X’ generalised as part of the meaning) nicht als eine Proximativfunktion, bei der ¬p eine generalisierte konversationelle Implikatur darstellt, sondern als eine Avertivfunktion, bei der ¬p konventionalisiert wird, wie in Kapitel 3.2.1 dargelegt wurde. Zweitens, wird im Gegensatz zu Ziegeler (2000; 2006) nicht der Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ angenommen, bei dem der Avertiv ¬p zunehmend zu einem Proximativ mit der GCI ¬p generalisiert, sondern es wird vielmehr der Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv anhand ihrer dezent modifizierten Stadien gezeigt werden, bei dem der Proximativ die Implikatur ¬p zunehmend konventionalisiert und in den Avertiv grammatikalisiert (cf. Kapitel 2.2). Folgende Grundgedanken des Modells von Ziegeler (2000; 2006) werden allerdings übernommen und in modifizierter Form für die Erklärung periphrastischer Ausdrücke herangezogen: In Anlehnung an Horn (1984) und Ziegeler (2006, 145) kann eine modalisierte Aussage als schwächere Version W (‘weaker version’) einer nicht-modalisierten Aussage S (‘stronger version’) betrachtet werden, die stärker in ihrem Wahrheitswert und daher höher auf einer Faktizitätsskala steht. Im Gegensatz zu Ziegeler (2000; 2006) übertragen wir dies allerdings auf die in dieser Arbeit zu untersuchenden Verbalperiphrasen: Der STARE-Proximativ und IRE-Proximativ sind faktisch schwächer als V, das heißt, sie enthalten weniger Informationen über den faktischen Zustand als der von dem Infinitiv beschriebene Sachverhalt V (cf. Schwellenbach 2009). Demnach können sie, analog zu den Modalverben, auf der Faktizitätsskala , nach ihrem Grad an Informativität über die Realisierung von V, linear angeordnet werden: (165) Faktizitätsskala Sp. , ,
Auf einer pragmatischen Skala im Levinson’schen (2000b, 146) Sinne99 lässt sich die Quantitätsimplikatur, wie folgt, ableiten: Indem der Sprecher behauptet, dass der schwächere Punkt rechts auf der Skala gilt, implikatiert er konversationell, dass der stärkere Punkt, links auf der Skala, nicht gilt. Die skalare Implikatur Nicht-V beziehungsweise ¬p entspricht der Q-basierten Implikatur nach Horn (1984), der die Grice’schen Maximen (1975) auf die R-basierten
99 Cf. die pragmatische Skalen, wie , bei Levinson (2000b, 146).
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
133
und Q-basierten Implikaturen reduziert hat. Das Q-Prinzip (Make your contribution sufficient. Say as much as you can.) dient nach Horn (1984; 1989; 2004) der Hörer-Ökonomie und beinhaltet die erste Grice’sche (1975) Submaxime der Quantität (Make your contribution as informative as is required) sowie die erste (Avoid obscurity of expression) und zweite Submaxime der Modalität (Avoid ambiguity). Es führt zu Implikaturen, mit denen obere Grenzen gesetzt werden, das heißt, die mehr Informationen als das explizit Gesagte ausschließen (kurz: W +> ¬S): (166) Q-basierte Implikatur (a) Juan estaba {a punto de / para / por} besarla cuando le dio una bofetada. ‘Juan war kurz davor sie zu küssen, als sie ihm eine Ohrfeige verpasste.’ Q+> Juan no la besó. ‘Juan küsste sie nicht.’ (b) Juan iba a besarla cuando le dio una bofetada. ‘Juan wollte sie gerade küssen, als sie ihm eine Ohrfeige verpasste.’ Q+> Juan no la besó. ‘Juan küsste sie nicht.’ Das R-Prinzip dient nach Horn (1984; 1989; 2004) hingegen der SprecherÖkonomie und beinhaltet die zweite Submaxime der Quantität (Do not make your contribution more informative than is required), die Maxime der Relation (Be relevant) sowie die dritte (Be brief) und vierte Submaxime der Modalität (Be orderly). Das R-Prinzip (Make your contribution necessary. Say no more than you must) führt nach Horn (1984) entsprechend zu Implikaturen, mit denen untere Grenzen gesetzt werden, das heißt, die mehr Informationen als das explizit Gesagte geben (W R-implicates S). In dem Fall der Verbalperiphrasen wird nach Schwellenbach (2009) entsprechend die Prädiktion des vom Infinitiv beschriebenen Sachverhaltes R-implikatiert.100 (167) R-basierte Implikatur Juan estaba por decírselo. ‘Juan war kurz davor es ihm/ihr zu sagen.’ R+> Juan se lo decía. ‘Juan sagte es ihm/ihr.’ Das in Kapitel 2.2 modifizierte und in Tabelle 20 (Seite 134) illustrierte Modell nach Ziegeler (2000; 2006), das ursprünglich für almost theoretisch postuliert wurde, wird für die Grammatikalisierung des Proximative Aspect dargestellt, über die sich nach Schwellenbach (2009) die Proximativkonstruktionen mit der
100 Zum Zwecke der Leserfreundlichkeit verwenden wir im Folgenden lediglich «R-implikatiert » (R+>) für das Implikatieren via R-basierter Implikatur und «Q-implikatiert» (Q+>) für das Implikatieren via Q-basierter Implikatur nach Horn (1984).
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Tabelle 20: Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006). Ziegeler (; )
Schwellenbach (; )
—
proximative +> p
Stage I:
proximity to X (prediction of X via Rbased implicatures)
Stage II:
proximity to X, but Y, therefore not-X avertive (prediction of X is explicitly cancelled, +> ¬p inducing Q-based implicatures)
proximative +> ¬p
Stage III:
proximity to X (but Y, therefore not-X) (cancellation is omissible, and implicit)
counterfactual
proximative +> ¬p
Stage IV:
proximity to X (‘not X’ generalised as part of the meaning)
proximative +> ¬p (GCI)
avertive [was about to take place but did not take place]
konversationellen Implikatur ¬p theoretisch erklären lassen und die im semasiologisch ausgerichteten diachronen Teil dieser Arbeit korpusbasiert verifiziert werden. Der Proximativ in Form der prospektiven und imminentiellen Verbalperiphrasen kann den Eintritt der Handlung bzw. die nicht-modalisierte, faktisch stärkere Aussage V R-implikatieren. In dem Modell nach Ziegeler (2000; 2006), das sie ursprünglich für almost theoretisch postuliert, entspricht dies dem Stadium I proximity to X (prediction of X via R-based implicatures). Die folgenden Korpusbelege illustrieren den romanischen STARE-Proximativ mit der R-Implikatur der Prädiktion. (168)
STARE-Proximativs
R+> p Quando l’estate stava per finire, ai primi di settembre i due girasoli, divenuti ormai alti, si facevano più scuri e tutto il paesaggio cambiava. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratVaria) Gl. (a) Xa estaba para se despedir, pois rematara daquela a xornada e andaban as luces de entre fusco e lusco polos recantos do salón e os retratos dos vellos navegadores. (CORGA: Víctor Fernández Freixanes, 1982, O triángulo inscrito na circunferencia, España/Galicia)
It.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
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(b) Veu de súpeto enriba deles, sen avisar, antes de que o corsario puidese abordar os primeiros galeóns, que xa estaba para facelo. (CORGA: Víctor Fernández Freixanes, 1982, O triángulo inscrito na circunferencia, España/Galicia) (c) Pero nada me sorprende; todo esto mo pernosticou a difuntiña de miña nay cuando estaba pra morrer (O niño, 13, zitiert nach Rojo 1974a, 98) BP (a) De acordo com Evandro Coser, diretor da importadora Coimex e do sindicato das empresas importadoras e exportadoras do Espírito Santo, três outros navios estavam para chegar até amanhã. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) (b) O comandante sabia que estava para cair. (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) (c) Faltava cerca de um mês para o seu 19o aniversário e ele estava para ingressar na Universidade de Göttingen, sem saber ainda se a sua escolha seria a Filologia ou a Matemática (Linguateca: Corpus Brasileiro v. 2.3, Brasil) Sp. (a) Cuando estaba para entrar en Egipto dijo a Sara, su mujer: Ahora conozco que eres mujer de hermoso aspecto, y cuando te vean los egipcios me mataran a mi y a ti te reservaran la vida. Ahora, pues, di que eres mi hermana, para que me vaya bien por causa tuya [. . .]. (Lexis Nexis: El País, 02/07/2003, Pues enseñemos religión, España) (b) Excitado por este espectáculo imprevisto corrí al interior de la casa, seguido de mis siete perros, en busca de alguien que pudiera informarme de lo que pasaba o estaba por pasar y di por fin con una despensera con la que tenía, creo yo, cierto grado de parentesco, no siendo raros los matrimonios entre criados y criadas de una misma casa, lo que, dicho sea de paso, llegaba a originar situaciones pintorescas, como ser mi tía segunda a la vez mi prima carnal y [. . .]. (CREA: Mendoza, Eduardo, 1986, La ciudad de los prodigios, España) Analog zu den STARE-Periphrasen können auch die romanischen IREPeriphrasen den Proximativ mit der R-Implikatur der Prädiktion ausdrücken, wie die folgenden Korpusbelege illustrieren. (169)
IRE-Periphrasen
R+> p Sp. (a) Porque el hierro del cuchillo que iba a matarle, que se formó en el aliento incandescente de las estrellas y se enfrió en la superficie
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de la Tierra, estuvo pensando en él desde siempre, aguardando a ser extraído, fundido, aleado, templado, afilado, vendido, comprado, guardado, asido, alzado para arrebatarle la vida. (CREA: Germán Sánchez Espeso, 1991, La mujer a la que había que matar, España) (b) Le desesperaba saberlo porque, sencillamente, dentro de un año el cuchillo del sueño ya le habría arrebatado la vida, a no ser que (y aquí supo cómo torcer el Destino), a no ser que buscase a la mujer que iba a matarle, para anticiparse él a matarla. No tenía muchos indicios para dar con ella, pero tal vez mereciese la pena intentarlo. (CREA: Germán Sánchez Espeso, 1991, La mujer a la que había que matar, España) Die in Kapitel 4.4 diachron zu untersuchenden HABERE-Periphrasen können ebenfalls die R-Implikatur der Prädiktion annehmen, wie der folgende Beleg des Spanischen illustriert. (170)
HABERE-Periphrasen
R+> p Sp. Junto a ella leí en el Ateneo el libro donde tuvo insospechado germen mi dedicación a la disciplina que años más tarde había de ser mi oficio universitario: la Historia de la Medicina, de Garrison, bastante más atractiva a mis ojos, que a mis oídos las lecciones de su traductor, el catedrático don Eduardo García del Real. (CREA: Pedro Laín Entralgo, 1976, Descargo de conciencia 1930–1960, España)
Die Implikatur, ob p (R-basierte Implikatur) oder ¬p (Q-basierte Implikatur), ist aus dem Kotext zu inferieren. In dem folgenden Korpusbeispiel in indirekter Rede wird durch die anschließende Nachfrage ¿Lo ha logrado? (‘Haben Sie es erreicht?’) deutlich, dass die Periphrase beide Möglichkeiten (p oder ¬p) offen lässt und weitere Kontextinformationen erforderlich sind. (171) Kontextabhängigkeit der polaren Komponente des Proximativs La última vez que hablamos me dijo que estaba a punto de meter un gran gol. ¿Lo ha logrado? (CREA: Tiempo, 24/12/1990, Mejor Momento / Cine, Teatro y Televisión, al mismo tiempo, España) ‘Das letzte Mal, als wir sprachen, sagten Sie mir, dass Sie kurz davor seien einen großen Coup zu landen. Haben Sie es erreicht?’ Der Argumentationswert der Verbalperiphrasen ist wie bei den lexikalischen Konstruktionen positiv orientiert beziehungsweise hat die gleiche Orientierung
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
137
wie p. Die polare Komponente kann, sowohl negativ als auch positiv, explizit in dem sich anschließenden Kotext erscheinen, ohne Redundanz zu erzeugen: (172) Kompatibilität des Proximativs mit sowohl negativer als auch positiver Polarität Juan estaba a punto de meter un gol, {pero, no / y, de hecho,} lo metió. ‘Juan war kurz davor ein Tor zu schießen, (aber er schoss es nicht / und tatsächlich schoss er es.)’ Die R-basierte Implikatur des Eintretens von p kann, wie in dem für almost postulierten Modell von Ziegeler (2000), mit einem Adversativsatz oder Temporalsatz, der eine zu p gegensätzlich oder widersprüchlich verhaltende Information enthält, explizit aufgehoben werden (Stage II: proximity to X, but Y, therefore not-X, i.e. prediction of X is explicitly cancelled, inducing Q-based implicatures). (173) Kotextuelle Aufhebung der R-basierten Implikatur La carretera estaba por acabar, pero nadie die Straße sein.IMPF.3SG PRP beenden.INF aber niemand trabajaba. Se habían esfumado arbeiten.IMPF.3SG REFL.3PL haben.IMPF.3PL verschwinden.PTCP Kontext: La carretera estaba por acabar, pero nadie trabajaba. Se habían esfumado (Lexis Nexis: El País, 27/11/2007, ¿Obreros abducidos?, España) ‘Die Straße war kurz vor der Fertigstellung, aber niemand arbeitete. Sie hatten sich aus dem Staub gemacht.’ Wie in dem für almost postulierten Modell von Ziegeler (2000, 1761) entsteht bei den im Imperfekt stehenden imminentiellen Verbalperiphrasen durch diese Aufhebung der R-basierten Implikatur von p eine Q-basierte Implikatur, die die Kontrafaktizität ausdrückt. Die Entstehung dieser kontrafaktischen Implikatur basiert nach Ziegeler (2000) auf der Kontextbewertung des Empfängers, nach welcher die potentiale Handlung der Proximativkonstruktion nicht eingetreten sein kann. Mit anderen Worten: Der Empfänger inferiert aus dem Kontext die Begleitumstände für den ausgebliebenen Eintritt von p. Durch diese Implikatur ¬p des Proximativs in der Vergangenheit überlappt dieser entsprechend funktionell mit dem Avertiv. Nach Schwellenbach (2009) entsteht diese Implikatur ¬p in den romanischen Sprachen, wenn die R-basierten Implikatur der Prädiktion (Prediction) von den im Imperfekt stehenden modalen, prospektiven oder imminentiellen Verbalperiphrasen mittels eines anschließenden Adversativsatzes oder im Inzidenzschema mittels eines anschließenden Temporalsatzes aufgehoben wird.
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3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Entsprechend dem almost-Modell nach Ziegeler (2000) entspricht dies Stadium II proximity to X, but Y, therefore not-X (prediction of X is explicitly cancelled, inducing Q-based implicatures): Die Imminenz zu X wird ausgedrückt, aber durch eine gegenteilige Information aus dem Adversativsatz oder im Inzidenzschema aufgehoben. Durch die Aufhebung der R-basierten Implikatur von Prädiktion entsteht eine Q-basierte Implikatur, die die Kontrafaktizität ableitet, wie die folgenden Korpusbeispiele mit Adversativsatz illustrieren. (174) Q-basierte Implikatur durch Aufhebung der R-basierten Implikatur Sp. (a) Como cuando contamos una pesadilla. «Qué cosa más rara, fíjate. Llegaba yo a un pueblo desconocido y de repente estaban a punto de atropellarme y me llevaba un susto mortal, pero por suerte me acogía un tipo en su casa, un tipo al que yo no había visto en mi vida». (Lexis Nexis: El País, 12/04/2008, Sabías a lo que venías, España) (b) Fue sobre el 28 o 29 de mayo. Ya no había obreros, ni ingenieros, topógrafos, ni maquinaria pesada. La carretera estaba por acabar, pero nadie trabajaba. Se habían esfumado y no constaba denuncia ofical. (Lexis Nexis: El País, 27/11/2007, ¿Obreros abducidos?, España) (c) Yus estaba satisfecho de su actuación: «He ido muy metido en carrera. Estaba para entrar entre los veinte primeros, pero iba al límite. Me he caído dos veces y me he descolgado definitivamente de mi grupo». (Lexis Nexis: El Correo, 03/01/2009, Ruiz de Larrinaga, el corredor más laureado de la temporada invernal, correrá mañana en Ormaiztegi, España) (d) Siguió un silencio tan alusivo, que Gregorio sintió en él la insoportable amenaza del peligro en que lo estaba poniendo su inconsciencia, en complicidad con Gil y con las cosas. Podía haber dicho, sin mentir del todo, que era poeta, o incluso ingeniero, y por un instante estuvo a punto de decirlo y hasta sintió en la boca el bullicio de las palabras que había de pronunciar, pero tuvo miedo, y la vergüenza del miedo lo llenó de un vago y turbio rencor hacia Gil. (CREA: Luis Landero, 1989, Juegos de la edad tardía, España) Die Q-basierte Implikatur kann auch in dem «Inzidenzschema» (cf. Pollak 1960) entstehen, bei dem die imperfektive Handlung oftmals durch eine im pre-
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
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térito perfecto simple stehende Handlung unterbrochen bzw. an ihrer Ausführung gehindert wird.101 (175) Q-basierte Implikatur im Inzidenzschema Sp. (a) Un avión militar F-18 que surcaba el cielo de la provincia, rompió la barrera del sonido y provocó una detonación sónica que fue confundida con una explosión de grandes proporciones. «Estaba a punto de sentarme a la mesa con mi hija», dice María del Carmen Díaz, economista, «cuando escuchamos un estruendo enorme». No supo a qué se debía. (Lexis Nexis: El País, 10/04/2008, El sobrevuelo de un F-18 desata la alarma vecinal en Guadalajara R. F., España) (b) Poco después, cuando el partido estaba a punto de iniciarse, llegó al estadio la noticia del fallecimiento del seguidor tiroteado y los aficionados del Vélez, ubicados en un fondo, se precipitaron hacia las vallas. El árbitro decidió suspender el encuentro mientras decenas de agentes antidisturbios entraban en el terreno de juego y lanzaban pelotas de goma y botes de humo para evitar la invasión del campo. La policía tuvo que recurrir a un cañón de agua para apaciguar los ánimos. (Lexis Nexis: El País, 16/03/2008, Un muerto a tiros en Buenos Aires, España) (c) Pero cuando estaba por publicarse sucedió el golpe del 23–F y yo, casi contra la opinión mayoritaria, conseguí que se aplazase un mes o así la publicación, para que nadie pudiera relacionar ambas cosas. (CREA: Jiménez Losantos, Federico, 1995, Lo que queda de España. Con un prólogo sentimental y un epílogo balcánico, España) (d) Y Bobadilla, que acababa de ser sustituido por Ovando, lo cargó a bordo de una de las treinta naves en que llegó el nuevo gobernador y se aprestó a partir rumbo a España. Y ya estaba para hacerlo cuando en ese punto justo llegó a Santo Domingo. . . Cristóbal Colón. Quiero decir llegó. . . no a la ciudad, sino a la bocana del puerto. Pues no le dejaron entrar. (CREA: ABC, 24/ 12/1983, La historia sumergida, España)
101 Dies wird in der Literatur oftmals auch unter den Termini «frustrierte Imminenz» oder imperfectum de conatu beschrieben. Es handelt sich jedoch um einen Proximativ mit der Implikatur ¬p, den wir von den anderen Termini Avertiv, imperfectum de conatu und «frustrierte Imminenz» in dem vorangegangenen Kapitel abgregrenzt haben.
140
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(e) Como estudiante de la Universidad de Navarra, estaba para entrar a clase cuando el pasado jueves 30 explotó el coche bomba puesto por ETA. (Lexis Nexis: El Mundo, 02/11/2008, Cartas al director, España) (f) Vidal iba a decir algo cuando oyeron una voz que provenía de lo más alto de una ladera sombría, llena de árboles en la que se percibía la huella arqueada de un cauce de agua. (CREA: Juan Pedro Aparicio, 1989, Retratos de ambigú, España) Kat. La Berta estava per sortir quan va perdre [eigene Hervorhebung] l’arracada (Alsina 2002, 2423) Gl. Cando o día dezaoito estaba para sucumbir, apareceu de súpeto o dragón. (CORGAetiq: Heinze, Úrsula, 1984,Remuíños en coiro. Conto ó revés, España/Galicia) It. Nel momento in cui un agente stava per afferrare un vecchio per le gambe, il suo collega lo moderò: «Fa’ piano, vecchio mio, è un membro dell’Istituto!». E qui l’illustre professore volò gambe all’aria, seguito dal monaco bianco e nero come un grande uccello. (CORIS: Miscellanea, Section: MiscVolumi) ‘In dem Moment, als der Polizeibeamte kurz davor war ihn zu ergreifen, beruhigte ihn sein Kollege [. . .]’ Die implikatierte polare Komponente ¬p ist jedoch nicht immer aus dem sich unmittelbar anschließenden Kotext inferierbar, sondern muss oftmals aus der gesamten Kontextsituation erschlossen werden. Deshalb treten kontrafaktische Implikaturen nach Ziegeler (2000, 1771) vor allem in Umgebungen mit großer Informationsdichte zu ¬p auf und folgen dabei dem von Ziegeler (2000) aufgestellten «CFI (Counterfactual implicature) – Prinzip». Dieses Prinzip besagt, dass die Stärke einer Implikatur an der Informationsgenauigkeit ihres Kontextes gemessen werden kann: Die Inferenz einer kontrafaktischen Implikatur ist dabei umso größer, je genauere Kontextinformationen zu ¬p gegeben werden. Die folgenden spanischen Beispiele illustrieren, dass die Information p oder ¬p erst aus dem sich anschließenden Kotext zu inferieren ist. (176) Q-basierte Implikatur über größeren Kotext Sp. (a) Primero fue una cuestión de suerte. Verónica Higueras estaba a punto de subirse a su Ford Fiesta en la avenida de Ramón y Cajal. Se acordó de que tenía que llamar a su jefe y tenía el móvil sin batería. Hacía mucho viento. Mientras llamaba
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
(b)
(c)
(d)
(e)
141
desde la cabina de la esquina. . . ¡pataplom!, la rama de un plátano de sombra del paseo cayó sobre el vehículo. «¡Gracias a Dios que estaba fuera!», recordaba ayer la mujer. (Lexis Nexis: El País, 10/04/2008, Madrid paga 1.300 euros por una rama que cayó sobre un coche P. Á., España) Los pescadores del Corisco han recibido esta distinción por la «solidaridad humana» demostrada al rescatar a los inmigrantes, entre ellos tres niños pequeños, que estaban a punto de ahogarse en aguas de Libia, y acomodarlos a bordo y alimentarlos hasta que fueron desembarcados en Trípoli. (El País: 05/12/2007, La solidaridad de los marinos de Santa Pola, galardonada, España) Un desastre que Argenso, que detuvo nueve de los 18 remates que efectuo el Real Madrid, resumio ayer: «En el minuto 45 estaba por decirle al arbitro que pitara el final». Uno de los capitanes, Miguel Angel Benitez, califico el partido de «horrible» y el propio presidente del club, Daniel Sanchez Llibre, al que el ex director general del club Fernando Molinos aconsejo un dia antes del partido que abandone el cargo, manifesto: «Ha sido un palo muy duro». (Lexis Nexis: El País, 24/09/2001, El Espanyol se alarma tras perder nueve puntos en cuatro partidos, España) Por otro lado, el titular de Obras Públicas se refirió al proyecto de los túneles de Ocharan y recordó que en su día la Consejería redactó un proyecto, «que estaba para contratar», que contó con el visto bueno de Cultura, y en el que se suprimían los túneles por carecer de un valor cultural especial. Además ponía en valor el Palacio de Ocharan. «El caso es que la nueva Corporación quiere mantener estos túneles. De momento no tenemos el proyecto ganador de este concurso, pero tenemos idea de colaborar». [. . .] (Lexis Nexis: Diario Montañes, 04/10/2008, La reforma del Mercado de Abastos, a falta de una reunión; [. . .], España) Sin embargo, Yanukóvich se niega a reconocer la derrota y ha anunciado que recurrirá los resultados, ya que, según sus representantes, 4,8 millones de ucranianos no pudieron ejercer su derecho al voto. El equipo del candidato oficialista anunció que ayer iba a presentar una demanda ante la Comisión Electoral Central, dadas las «falsificaciones sistemáticas». Sin embargo, ayer la CEC no había recibido ninguna notificación. (CREA: La Voz de Galicia SA, 29/12/2004, España)
142
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Liegt der STARE-Proximativ im Skopus von lexikalischen Avertivkonstruktionen, wie in den folgenden Beispielen der Form quasi VP[Proximativ], wird die Imminenz durch die redundanzlose Dopplung der beiden assertierten proximalen Komponenten verstärkt. Die polare Komponente der lexikalischen Avertivkonstruktion hat Skopus über den periphrastischen Proximativ, sodass zum Sprechzeitpunkt ¬p ausgedrückt wird. (177) Verstärkung der proximalen Komponente It. (a) Ho letto per alcune ore. E per altre lunghe ore, sino a questo momento, ho meditato sull’ultimo testo che ho trovato, quando quasi stavo per cedere. Non so quando Belbo lo abbia scritto. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) ‘als ich fast kurz davor war aufzugeben’ (b) Così, un giorno, alla fine del 1986, il fratello venne da me, venne un pomeriggio, e portava con sé l’uccellino. l’uccellino era tutto malconcio e quasi stava per morire. Allora io e i miei fratellini comiciammo [sic!] a scaldarlo, gli demmo da mangiare e l’uccellino tornò in sé. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRacconti) ‘und war fast kurz davor zu sterben’ Sp. Los vi marchar calle abajo mientras iba en busca de mi coche. Cuando ya casi estaba a punto de partir me llegó la voz del subinspector, que llegaba corriendo. (CREA: Alicia Giménez Bartlett, 2002, Serpientes en el paraíso. El nuevo caso de Petra Delicado, España) ‘Als ich schon kurz davor war zu gehen’ BP (a) «Há dias, uma nossa vizinha foi à garagem buscar umas batatas e quase ia desmaiando quando lá encontrou duas cobras», revelou Irene Silva. (DiaCLAV: DL-N0992–2:, zitiert nach Bellosta von Colbe 2004b) ‘und beinahe wäre sie in Ohnmacht gefallen’ (b) A verdade é que só aos 19 minutos Palatsi seria chamado a intervir, pondo cobro a uma iniciativa individual de Jorginho, do lado direito do ataque do Desportivo das Aves, que à passagem do minuto 25 poderia ter chegado ao golo, quando Vítor Silva, que não segurou o esférico, quase ia permitindo a entrada do dianteiro Beto. (DiaCLAV: DA-N0647–1, zitiert nach Bellosta von Colbe 2004b) ‘als Vítor Silva, […], beinahe den Eintritt des Stürmers Beto zugelassen hätte’
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
143
Während die polare Komponente der Verbalperiphrasen in imperfektiven Tempora aufhebbar ist und damit eine konversationelle Implikatur des Proximativs darstellt, ist die polare Komponente in perfektiven Tempora nicht aufhebbar und semantisch äquivalent zu den lexikalischen Avertivkontruktionen. Die französische Avertivperiphrase faillir + Infinitiv ist sogar defektiv, indem ihr Gebrauch auf das perfektive Tempus passé composé (bzw. in literarischen Werken auch im passé simple) beschränkt ist. Es handelt sich entsprechend ihres Grades der Obligatorisierung um eine stärker grammatikalisierte102 Avertivkonstruktion. Kein Konsens besteht unter den Linguisten hinsichtlich der pragmatisch-semantischen Realisierung der sowohl polaren als auch proximalen Komponente, zu der aus Platzgründen lediglich zwei Ansätze angeführt werden: Sowohl Dietrich (1973) als auch Vuillaume (2009) gehen davon aus, dass bei faillir + Infinitiv die Imminenz (i.e. proximale Komponente) kein fester Bestandteil der Verbalperiphrase ist, ohne dies allerdings anhand von pragmatischen Tests zu belegen. Es handelt sich also nicht um eine ‹action presque accomplie›, sondern darum, daß eine Handlung gar nicht stattgefunden hat. Man kann hier auch nicht von ‹Imminenz› sprechen, da faillir das Nicht-Zustandekommen betont und erst sekundär die Imminenz positiv daraus ableitbar ist. (Dietrich 1973, 72) La conclusion qui s’impose, c’est que la construction ‹faillir + infinitif› n’implique nullement l’idée d’imminence. (Vuillaume 2009, 146)
Andere Ansätze paraphrasieren die Bedeutung von faillir + Infinitiv hingegen lediglich mit der die Imminenz ausdrückenden Periphrase être sur le point de + Infinitiv, ohne dabei auf die negative Polarität der Handlung einzugehen. Durch den Aufhebbarkeitstest kann allerdings gezeigt werden, dass sowohl die proximale Komponente als auch die polare Komponente semantisch impliziert wird.103 (178) Unaufhebbarkeit der Komponenten von faillir + Infinitiv Jean a failli tomber. ‘Jean wäre beinahe gefallen.’ Polare Komponente: Jean n’est pas tombé. ‘Jean ist nicht gefallen.’
102 Gemäß der Annahme eines graduellen Prozesses innerhalb des Lexikon-GrammatikKontinuums können anhand der erfüllten Kriterien schwächer grammatikalisierte von stärker grammatikalisierten Verbalperiphrasen unterschieden werden (cf. Kapitel 3.2.2.1). 103 Im diachronen Teil dieser Arbeit wird darüber hinaus gezeigt werden, dass sich die polare Komponente vor der proximalen Komponente von faillir + Infinitiv konventionalisiert hat.
144
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Test: #Jean a failli tomber et il est tombé. ‘#Jean wäre beinahe gefallen und er ist gefallen.’ Proximale Komponente: Jean était sur le point de tomber. ‘Jean war kurz davor zu fallen.’ Test: #Jean a failli tomber mais il n’était pas sur le point de tomber. ‘#Jean wäre beinahe gefallen, aber er war nicht kurz davor, zu fallen.’ Dass neben dem französischen faillir + Infinitiv auch die STARE-Periphrasen der Imminenz in perfektiven Tempora Kontrafaktizität ausdrücken und semantische Äquivalenz zu den lexikalischen Konstruktionen, wie casi und por poco, aufweisen, wird bereits bei u.a. Gomez Torrego (1999, 3376), Laca (2006) und Carrasco Gutiérrez (2006) für das Spanische, Gavarrò/Laca (2002) für das Katalanische sowie Rojo (1974a, 98s.) und Álvarez/Regueira/Monteagudo (1986, 405s.) für das Galicische angemerkt. Laca (2006, 20) verweist ebenfalls auf die obligatorisch kontrafaktische Lesart sowohl prospektiver als auch imminentieller Verbalperiphrasen in Tempora mit perfektivem Aspekt. Dass insbesondere der perfektive Aspekt bei dem Ausdruck der Kontrafaktizität eine Rolle spielt, dürfte angesichts des die Irrealität ausdrückenden analytischen Konditional (auch: Konditional II, Konditional Perfekt) offensichtlich sein. Das synthetische Konditional, das sowohl aus der im Imperfekt (cantare habebam) als auch im Standarditalienischen aus der im Perfekt gebrauchten habere-Periphrase (cantare habui) entstanden ist, kann hingegen sowohl den Potentialis als auch den Irrealis ausdrücken. Erst durch die Kombination mit dem perfektiven Aspekt, i.e. der Abgeschlossenheit des Partizips, wird die Kontrafaktizität, obligatorisch. Das Konditional Perfekt grenzt sich von dem Avertiv durch den Verlust des Merkmals [Imminenz] ab. Die Frage stellt sich nach der semantisch-pragmatischen Realisierung der Kontrafaktizität, die aus der Kombination von morphosyntaktischem Aspekt [Perfektiv] und periphrastischen Aspekt [Imminenz] resultiert. In Schwellenbach (2009) wurde die Hypothese belegt, dass die spanischen Verbalperiphrasen der Imminenz in perfektiven Tempora Avertivkonstruktionen im Sinne der theoretischen Definition (nicht jedoch der Beispiele von Kuteva104) von Kuteva (2009) darstellen. In dieser Arbeit wird ebenfalls angenommen, dass der Avertiv durch den Ausdruck des Nicht-Eintrittes der imminenten Handlung eine Affinität zum perfektiven Aspekt und der Proximativ mit dem Ausdruck der Phase [Imminenz]
104 An dieser Stelle sei auf die Kritik der gegebenen Beispiele in Kapitel 2 und auf unsere neue Definition des Avertivs als eigenständige Kategorie in Kapitel 3.1 verwiesen.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
145
eine Affinität zum imperfektiven Aspekt aufweist. Auch wenn in der romanischsprachigen Literatur überwiegend dem Imperfekt der Ausdruck der Kontrafaktizität zugeschrieben wird, ist dieser Ausdruck der Kontrafaktizität jedoch stets kontextuell verankert. Dem perfektiven Aspekt kommt hingegen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Kontrafaktizität zu, wie beispielsweise auch Portner (2009, 226) in Verbindung mit Modalverben im Englischen betont: I’ll point out three issues. First, if counterfactuality arises as an implicature, we expect that it can be cancelled, but it is not so clear that it can be (?At that point, he might have won the game, and in fact he did.) Second, since the explanation is based on the modal’s being interpreted with respect to a past time, if it can be expected to priority and dynamic modals, it would predict that the past use of could in [. . .] should be counterfactual; however, counterfactuality only arises when the perfect form is present. This fact suggests that the perfect form itself is crucial to triggering the counterfactual meaning in English. And, third, the explanation depends on the modal having the force of possibility, since, with a necessity modal, the past form would be stronger; [. . .] (Portner 2009, 226).
Portner (2009, 226) verweist bereits auf die Unaufhebbarkeit von ¬p in der englischen Konstruktion he might have won the race. (179) Unaufhebbarkeit von ¬p in he might have won the race ?At that point, he might have won the game, and in fact he did. (Portner 2009, 226) Dennoch ist eine Verstärkung zweifelsohne möglich, wie das folgende Beispiel zeigt. (180) Verstärkung von ¬p I should have mailed this yesterday, but I forgot. (Bybee/Pagliuca/Perkins 1994, 180) Die iberoromanischen STARE-Periphrasen105 in perfektiven Tempora weisen eine Affinität zum Avertiv auf, zumal keines der Avertivmerkmale [Imminenz, Vergangenheit, Kontrafaktizität] aufhebbar ist. Der Aufhebbarkeitstest für die polare Komponente wird anhand der folgenden Beispiele noch einmal illustriert.
105 Die diachrone Entwicklung der STARE-Periphrasen wird in Kapitel 4.5 dargelegt werden. Es wird aufgezeigt werden, dass sich das Italienische konservativer als die iberoromanischen Sprachen verhält.
146
(181)
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
STARE-Avertiv
Sp. (a) Estuvo para ganar la carrera (#y, de sein.PST.3SG zu.PRP gewinnen.INF das Rennen (#und von hecho, la ganó). Tat es gewinnnen.PST.3SG) Proximale Komponente: Er war kurz davor das Rennen zu gewinnen. Polare Komponente: Er gewann das Rennen nicht. ‘Er hätte beinahe das Rennen gewonnen.’ (#und, in der Tat, er gewann es.) (b) Estuve por caerme (#y, de hecho, sein.PST.1SG zu.PRP fallen.INF-REFL.1SG (#und von Tat me caí). mich.REFL.1SG fallen.PST.1SG) Proximale Komponente: Ich war kurz davor zu fallen. Polare Komponente: Ich fiel nicht.‘Ich wäre beinahe gefallen.’ (#und, in der Tat, fiel ich.) EP/BP Esteve para morrer (#e, de fato, sein.PST.3SG zu.PRP sterben.INF (#und von Tat morreu). sterben.PST.3SG) Proximale Komponente: Er war kurz davor zu sterben. Polare Komponente: Er starb nicht.‘Er wäre beinahe gestorben.’ (#und, in der Tat, starb er.) Gl. Estiven para marchar (#e, de feito, sein.PST.1SG zu.PRP gehen.INF (#und von Tat marchei). gehen.PST.1SG) Proximale Komponente: Ich war kurz davor zu gehen. Polare Komponente: Ich ging nicht. ‘Ich wäre beinahe gegangen.’ (#und, in der Tat, ging ich.) punt de comprar-lo Kat. (a) Vaig estar106 a gehen.PRS.1SG sein.INF auf Punkt von kaufen.INF-es (#i, de fet, el vaig comprar.). (#und von Tat es gehen.PRS.1SG kaufen.INF)
106 Die im Präsens gebrauchte Periphrase anar (‘gehen’) + Inf. bildet im Katalanischen bekanntlich das pretèrit perfet perifràstic.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
147
Proximale Komponente: Ich war kurz davor es zu kaufen. Polare Komponente: Ich kaufte es nicht. ‘Ich hätte es beinahe gekauft.’ (#und, in der Tat, kaufte ich es.) (b) Vaig estar per dir-li la veritat gehen.PRS.1SG sein.INF zu.PRP sagen.INF-ihm die Wahrheit. (#i, de fet, li vaig dir.). (#und von Tat ihm gehen.PRS.1SG sagen.INF) Proximale Komponente: Ich war kurz davor ihm die Wahrheit zu sagen. Polare Komponente: Ich sagte ihm nicht die Wahrheit. ‘Ich hätte ihm beinahe die Wahrheit gesagt.’ (#und, in der Tat, erzählte ich ihm die Wahrheit.) Der Avertiv aus den STARE-Periphrasen in Tempora mit perfektivem Aspekt wird an dieser Stelle anhand einiger ausgewählter romanischsprachiger Korpusbelege illustriert. Im Spanischen werden die drei Verbalperiphrasen estar a punto de + Inf., estar por + Inf. und estar para + Inf. in Verbindung mit dem indefinido und dem pretérito perfecto compuesto (PPC) ausgedrückt. Die folgenden Korpusbelege des Spanischen illustrieren den STARE-Avertiv mit estar a punto de + Inf. im indefinido und PPC. (182)
STARE-Avertiv
mit sp. estar a punto de + Inf. im indefinido und PPC Sp. (a) Siguió un silencio tan alusivo, que Gregorio sintió en él la insoportable amenaza del peligro en que lo estaba poniendo su inconsciencia, en complicidad con Gil y con las cosas. Podía haber dicho, sin mentir del todo, que era poeta, o incluso ingeniero, y por un instante estuvo a punto de decirlo y hasta sintió en la boca el bullicio de las palabras que había de pronunciar, pero tuvo miedo, y la vergüenza del miedo lo llenó de un vago y turbio rencor hacia Gil. (CREA: Luis Landero, 1989, Juegos de la edad tardía, España) (b) «A mis 12 años de edad estuve a punto de ser atropellado por una bicicleta», contó el Premio Nobel de Literatura a los asistentes que abarrotaban el antiguo Convento de San Agustín, [. . .]. (CREA: El Nuevo Herald, 1997, Nunca ha sido tan grande el poder de la lengua, EE.UU) (c) «[. . .] ¿Has visto qué precios? Dicen que para estar bien tienes que tomar cinco piezas de fruta y de verdura al día. Ya me dirás con qué». «Ya me dirás con quién», estuve a punto de decirle yo. Pero me lo guardé para mis adentros y para esta crónica. (El País: 28/06/2008, Luisa Etxenike, La calle y el parlamento, España)
148
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
(d) El silencio de la Iglesia no ha afectado al nuevo obispo auxiliar. Jeffrey John ha estado a punto de renunciar para no sentirse responsable de un cisma entre los anglicanos, [. . .]. (CREA: El País, 20/06/2003, Sociedad, España) Der STARE-Avertiv mit estar por + Inf. ist im indefinido und PPC ebenfalls mit sowohl unbelebten als auch belebten Subjekt möglich. Mit belebten Subjekt wird die Avertivbedeutung oftmals auch in Verbindung der volitiv-modalen Nebenbedeutung ausgedrückt (estuve por irme ‘Ich war kurz davor/wollte gehen, aber bin es nicht.’, ‘Ich wäre beinahe gegangen.’), wie die folgenden Korpusbelege des Spanischen illustrieren. (183)
STARE-Avertiv
mit sp. estar por + Inf. im indefinido und PPC Sp. (a) «Lo pasé fatal con una ópera de Strauss, ¡estuve por irme!»; [. . .] Las de Wagner también suelen ser complicadas porque los tempos se mueven mucho. Recuerdo que con una ópera de Strauss, Ariadna en Naxos, lo pase fatal y estuve por irme y dejar la obra sin subtítulos. Sólo oía la voz del bajo y al final salí del paso como pude, pero estuve a punto de marcharme del agobio que me entró. – ¿Y de las de este año? – Los cuentos de Hoffmann fue bastante complicada porque el montaje era muy largo. (Lexis Nexis: Diario Vasco, 16/08/2007, España) (b) Tampoco estoy muy segura de haber apreciado hasta ahora lo buen actor que es Javier Camara, que dice los dialogos con una rareza inquietante. Como veran, soy perspicaz. No me acerque a ellos por corte, en cambio si que hable media hora con Javier Marias sobre la pelota de la policia que le entro por la ventana. Adoro ese tema. Estuve por decirle: «Vayamos a una cocteleria y sigamos hablando de tu pelota», pero pense que igual a el le gustan otros temas mas interesantes y yo venga a darle el conazo con esa pelota que me hace tanta gracia. Mi santo siempre dice: «Una cosa es ser simpatica, y otra, pesada, y tu a veces rayas la pesadez». (Lexis Nexis: El País, 24/03/2002, España) (c) Bueno, he estado por irme muchas veces. Yo a esta señora la aguanto mal. La otra estaba muy loca, pero no tenía malas maneras ni tanto orgullo. (CREA: Carmen Martín Gaite, 1976, Fragmentos de interior, España)
Analog zu estar por + Inf. wird auch die Avertivbedeutung von estar para + Inf. bei belebten Subjekten oftmals in Verbindung der volitiv-modalen Nebenbedeutung
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
149
gebraucht, wie in Beispiel (a) ersichtlich ist. Hingegen illustriert Beispiel (b) ¡He estado para ahogarme! (‘Ich wäre beinahe ertrunken.’) die völlige Losgelöstheit der Verbalperiphrase von der volitiv-modalen Nebenbedeutung. (184)
STARE-Avertiv
mit sp. estar para + Inf. im indefinido und PPC Sp. (a) Iñaki Bolinaga confesó que estuvo para salir del campo y marcharse a casa. «Me faltó muy poco para coger el coche y regresar a casa. No podemos tener las lagunas que tuvimos, hemos de estar más centrados y no jugar tan cómodos. [. . .]» (Lexis Nexis: Diario Vasco, 19/09/2007, España) (b) ¡He estado para ahogarme! (CORDE: Pedro Antonio de Alarcón, 1874, El sombrero de tres picos, España)
Im Galicischen wird der STARE-Avertiv in Form der im PPS oder im Plusquamperfekt gebrauchten Verbalperiphrasen estar a piques de + Inf., estar a punto de + Inf., estar para + Inf. und estar preto de + Inf. realisiert. (185)
STARE-Avertiv
mit gl. estar a piques de + inf. im PPS Gl. (a) Blas sorriu para si e, xa que non podía responder que outra, estivo a piques de dicir: ¡Compañía! Pero tan só respondeu: [. . .] (CORGA: Alfredo Conde, 1995, Sempre me matan, España/ Galicia) (b) Estiven para preguntar se Anxo non tiña que facer nada, pero sabía que era mellor calar. (CORGA: Miguel Suárez Abel, 1987, Premios Pedrón de Ouro 1985/1986 A alemana, Relato curto, España/Galicia) (c) Pero Daniel Linde ficou pensando en que razóns tiña el para fiarse de Mira, un tafur, un aventureiro que, con toda posibilidade, estivera a piques de metelo nun bo fregado, cando aínda non estaba claro de todo que non volvese a tencionar metelo. (CORGA: Ramiro Fonte, 1993, Os leopardos da lúa. Unha traxedia particular, España/Galicia) (d) Estivera a piques de ver como Estrela desaparecía para sempre, pero a sorte devolvéralle unha nova cita. (CORGA: Ramiro Fonte, 1993, Os leopardos da lúa. Unha traxedia particular, España/Galicia)
Bei Rojo (1974a, 98) finden sich zudem Beispiele der galicischen Form estar pra + Inf. im PPS und Plusquamperfekt, die ebenfalls den Avertiv ausdrücken.
150
(186)
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
STARE-Avertiv
Gl. (a) (b)
(c) (d) (e)
mit gl. estar pra + inf. im PPS Tamén il se levóu bon susto. Estivo pra deixalo carro (. . .). (Á lus do candil, 36, zitiert nach Rojo 1974a, 98) Pra meus pais eu (. . .) non sei empregar o dineiro. Estiven pra decirlles que eles tampouco. . ..(Memorias, 103, zitiert nach Rojo 1974a, 98) Cáseque estiven pra chorare. (Á lus do candil, 63, zitiert nach Rojo 1974a, 98) Ti oiras contar a teu pai que a tía Rosa estivera pra se casare con Don Eugenio. (Á lus do candil, 93, zitiert nach Rojo 1974a, 98) Según ouvira contar a mina nai, estivo pra casarse cun gran político (. . .). (Á lus do candil, 80, zitiert nach Rojo 1974a, 98)
Im Italienischen wird die Verbalperiphrase stare per + Inf. entsprechend der diatopischen Variation entweder im passato remoto oder im passato prossimo realisiert, wie die folgenden Belege des CORIS-Korpus illustrieren. (187)
STARE-Avertiv mit it. stare per + Inf. im passato remoto und passato prossimo It. (a) Vettel stette per vincere la gara. ‘Vettel hätte das Rennen beinahe gewonnen.’ (b) Elena stette per soccombere a un’ondata di nostalgia per Alice, che intanto stava già probabilmente lottando con i fusi orari a Bangkok, o a Hong Kong, comunque non era lì a vedere niente. Non si sarebbe potuta consultare con lei, pensò avviandosi ai taxi. 5. Mentre apriva la porta di casa, Elena sentì suonare il telefono. Cercava di affrettarsi, ma c’era qualcosa di lento dentro di lei, il tempo era rallentato, come se si fosse rotto il solito ritmo. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) ‘Elena wäre beinahe dem Heimwehanflug von Alice erlegen.’ (c) E il tuo discorso piu [sic!] bello. Gli sta a pochi centimetri, continua aggiungere aggettivi agli a, ggettivi [sic!] che arrivano da tutte le parti. Un uomo calvo ripete Sono senza parole, sono senza parole. La ragazza dalla testa piccola dice In due o tre momenti sono stata per piangere. Altri annuiscono ai margini della ressa e alla prima occasione si fanno Sotto, si allungano a dire Straordinario, o Perfetto, davvero. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) ‘In zwei oder drei Momenten hätte ich beinahe geweint.’
Die Distribution der per/por/para-Verbalperiphrasen (i.e. sp. estar por + Inf. und sp. estar para + Inf. sowie analog kat. estar per + Inf., it. essere per + Inf. und it. stare
151
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
per + Inf.) in perfektiven Tempora ist geringer ausgeprägt als im Falle der PUNCTUMPeriphrasen (i.e. it. essere sul punto di + Inf., sp. estar a punto de + Inf., etc.), wie im Folgenden anhand romanischer Korpusuntersuchungen illustriert wird:107 Im italienischen CORIS-Korpus weist essere per + Inf. eine Distribution von lediglich 7,26% im passato remoto sowie 2,78% im passato prossimo und stare per + Inf. eine noch marginalere Distribution von 0,02% (i.e. als Hapax108) im passato remoto sowie 0,24% im passato prossimo auf, während hingegen der Gebrauch von essere sul punto di + Inf. mit 19,12% der Belege im passato remoto sogar das zweitstärkste Tempus darstellt, wie Tabelle 21 illustriert. Tabelle 21: TAM-Distribution der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS. Italienisch
Gesamt Indicativo presente
Essere sul punto d’/di + inf.
Essere per + Inf.
Stare per + Inf.
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
Infinito presente
(,%)
(,%)
(,%)
Passato remoto
(,%)
Indicativo imperfetto Congiuntivo presente
(,%)
(,%)
Passato prossimo
(,%)
(,%)
(,%)
Congiuntivo imperfetto
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
Trapassato prossimo
(,%)
(,%)
(,%)
Condizionale presente
(,%)
(,%)
(,%)
Congiuntivo trapassato
(,%)
(,%)
(,%)
Futuro semplice
Futuro anteriore
(,%)
(,%)
Gerundio presente
(,%)
(%)
(%)
Infinito passato
(,%)
(%)
(%)
(%)
107 Dies werden wir in Kapitel 4.5.3 zudem korpusbasiert auf eine unterschiedliche Diachronie zurückführen. 108 Stare per + Inf. findet sich in dem CORIS-Korpus (130.000.000 Token) lediglich als Hapax im passato remoto, was allerdings aufgrund des allgemeinen zurückgegangenen Gebrauchs des passato remoto in der Alltagssprache der norditalienischen Dialekte nicht verwunderlich ist. Die historische Form stette weist generell mit 306 Belegen (0,21%) von 145.167 Gesamtbelegen des Lemmas stare gegenüber der im imperfetto stehenden Form stava mit 25.836 Einträgen (17,8%) eine eher geringere Frequenz auf. Für eine weitergehende einzelsprachliche Untersuchung sei insbesondere auf Kapitel 4.5.2.2 verwiesen.
152
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Hinsichtlich der in Abbildung 11 und Tabelle 22 illustrierten Distribution von Proximativ und Avertiv unterscheiden sich die drei italienischen Infinitivperiphrasen essere sul punto di + Inf., essere per + Inf. und stare per + Inf. deutlich voneinander: Während essere per + Inf. mit 6% und stare per + Inf. mit 7,34% einen lediglich marginalen Avertivgebrauch verzeichnen, liegt hingegen der Avertivgebrauch von essere sul punto di + Inf. bei rund 60% der Verbalperiphrase und ist entsprechend stärker konventionalisiert als bei essere per + Inf. und stare per + Inf.109
100.00% 90.00% 80.00% 70.00% 60.00% 50.00% 40.00% 30.00% 20.00% 10.00% 0.00%
Avertiv Proximativ
Essere sul punto d‘/di + Inf.
Essere per + Inf.
Stare per + Inf.
Abbildung 11: Proximativ/Avertiv-Distribution der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS.
Tabelle 22: Proximativ/Avertiv-Distribution der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS. Essere sul punto d’/di + Inf.
Essere per + Inf.
Stare per + Inf.
Avertiv
/ (%)
/ (%)
/ (,%)
Proximativ
/ (%)
/ (%)
/ (,%)
109 Cf. Kapitel 4.5.2.2 zur Diachronie von Proximativ und Avertiv der drei Verbalperiphrasen.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
153
Essere sul punto di + Inf. weist dabei eine je nach TAM-Flexion mehr oder weniger stark ausgeprägte Avertivtendenz auf, wie die in Tabelle 23 illustrierte Untersuchung der Vergangenheitstempora illustriert. Essere sul punto di/d’ + Infinitiv ist im passato remoto mit 109 Belegen im CORIS-Korpus verzeichnet, von denen 105 Belege in der Avertivfunktion auftreten und damit eine relativ hohe Avertivdistribution von 96,33% ergeben. Im indicativo imperfetto weist essere sul punto di + Inf. eine Avertivdistribution (in Form von Avertivimplikaturen!) von 70,24% (118 / 168 Belege) auf, im trapassato prossimo eine Avertivdistribution von 93,44% (57 / 61 Belege), im passato prossimo eine Avertivdistribution von 55% (11 / 20 Belege), im congiuntivo imperfetto eine Avertivdistribution von 87,23% (41 / 47 Belege) und im congiuntivo trapassato eine Avertivdistribution von 100% (10 / 10 Belege) auf. Die Verbalperiphrasen essere per + Inf. und stare per + Inf. weisen einen in Relation zu essere sul punto di/d’ + Inf. geringen Avertivgebrauch bzw. weniger Avertivimplikaturen auf, wie die in Tabelle 23 illustrierten Ergebnisse der Korpusuntersuchung darlegen. Tabelle 23: Avertivbedeutung der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS. Avertivbedeutung
Essere sul punto di/d’ + Infinitiv
Essere per + Infinitiv
Passato remoto
,% ( / )
,% ( / )
Indicativo imperfetto
,% ( / )
,% ( / )
,% ( / )
Trapassato prossimo
,%
( / )
,%
( / )
,%
( / )
%
( / )
,% ( / )
,%
( / )
Congiuntivo imperfetto
,%
( / )
% ( / )
,%
( / )
Congiuntivo trapassato
%
( / )
%
%
( / )
Passato prossimo
( / )
Stare per + Infinitiv
%
( / )
Analog zum Italienischen zeigt sich hinsichtlich der TAM-Distribution der drei spanischen estar-Infinitvperiphrasen ein deutlicher Gebrauch von estar a punto de + Inf. im indefinido (auch: pretérito perfecto simple), der mit 172 Belegen (38,57%) das frequenteste Tempus bildet und insofern sogar den Gebrauch im presente mit 137 Belegen (30,72%) überragt – ganz im Gegensatz zu dem marginalen Gebrauch im indefinido von estar por + Inf. (1,95%) und estar para + Inf. (1,92%), wie die in Tabelle 24 aufgeführten Korpusbelege illustrieren.110
110 Für eine ausführliche einzelsprachliche Untersuchung einschließlich ihrer Diachronie sei auf Kapitel 4.5.3.1 verwiesen.
154
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
Tabelle 24: TAM-Distribution der estar-Infinitivperiphrasen im CDE. Corpus del Español
Estar a punto de + Inf.
Estar por + Inf.
Estar para + Inf.
Gesamt
Presente de indicativo
(,%)
(,%)
(,%)
Imperfecto de indicativo
(,%)
(,%)
(,%)
Presente de subjuntivo
(,%)
(,%)
—
Gerundio
(,%)
—
—
Infinitivo
(,%)
(,%)
(,%) (,%)
(,%)
(,%)
Imperfecto de subjuntivo (-se)
(,%)
—
—
Imperfecto de subjuntivo (-ra)
(,%)
(,%)
(,%)
Futuro
Indefinido/ PPS
(,%)
(,%)
(,%)
Futuro de subjuntivo
—
—
—
PPC
—
—
(,%)
Condicional simple
—
(,%)
(,%)
Pluscuamperfecto
—
—
—
Die in Tabelle 25 (Seite 155) illustrierten Korpusbelege des Corpus do Português (CDP) ergeben für das Portugiesische kein repräsentatives Bild, was nicht zuletzt der geringen Belege und der zum Abfragezeitpunkt noch fehlenden Differenzierungsmöglichkeit zwischen europäischen und brasilianischen Portugiesisch geschuldet ist, sodass im Folgenden die Korpora der Linguateca, CETEMPúblico für das europäische Portugiesisch (EP) und das Corpus Brasileiro für das brasilianische Portugiesisch (BP), konsultiert werden. In den beiden großen diatopischen Varietäten des europäischen Portugiesisch (EP), untersucht auf der Grundlage des Korpus CETEMPúblico der Linguateca, und des brasilianischen Portugiesisch (BP), untersucht anhand des Corpus Brasileiro der Linguateca, zeigt sich analog zum Italienischen und Spanischen ebenfalls ein deutlicher Gebrauch von estar a ponto de + Inf. im pretérito perfeito simples. Während die Verbalperiphrase estar a ponto de + Inf. im Korpus CETEMPúblico des europäischen Portugiesisch mit 36,66% (11 / 30 Belegen) am stärksten im pretérito perfeito simples belegt ist, zeigt sie sich im Korpus Corpus Brasileiro des brasilianischen Portugiesisch mit 20% der Belege (83 / 415 Belegen) im pretérito perfeito simples, das zumindest als drittstärkstes Tempus vertreten ist, ebenfalls deutlich repräsentativ (cf. Tabelle 26, Seite 156).
155
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
Tabelle 25: TAM-Distribution der estar-Infinitivperiphrasen im CDP. Corpus do Português
Gesamt
Estar a ponto de + Inf.
Estar por + Inf.
Estar para + Inf.
Presente do indicativo
(,%)
(,%)
(,%)
Imperfeito do indicativo
(,%)
(,%)
(,%)
—
(,%)
—
(,%)
—
(,%)
Presente do subjuntivo Gerúndio
—
(,%)
(,%)
—
(,%)
Imperfeito do subjuntivo (-se)
—
—
(,%)
Mais-que-perfeito simples (-ra)
—
—
—
Futuro
—
—
(,%)
Futuro do subjuntivo
—
—
(,%)
PPC
—
—
(,%)
(,%)
(,%)
Infinitivo PPS
Condicional presente
(,%)
(,%)
Mais-que-perfeito composto (mit ter)
—
—
Mais-que-perfeito composto (mit haver)
—
—
(,%)
(,%)
Darüber hinaus zeigt sich die Periphrase estar a pique de + Inf. (aus dem Galicisch-Portugiesischen, cf. Kapitel 4.5.3.2) mit einem deutlichen Gebrauch von 57,89% der Belege (22 / 38 Belegen) im brasilianischen Portugiesisch. Im europäischen Portugiesisch ist die Verbalperiphrase verschwunden beziehungsweise korpusbasiert nicht mehr belegt (cf. Tabelle 27, Seite 157).111 Neben der TAM- und Avertivdistribution der periphrastischen Konstruktion gilt es abschließend noch die Skopusinteraktion mit den in Kapitel 3.2.1 behandelten lexikalischen Konstruktionen zu untersuchen. In der Skopusinteraktion von lexikalischen Avertivkonstruktionen und periphrastischem Avertiv in der Form casi VP (casi.AVK[VP.AVK]) wird die gesamte Avertivbedeutung zwar verstärkt (i.e. die Avertivperiphrase wird durch die lexikalische Avertivpartikel näher spezifiziert), ohne dass jedoch eine Umkehrung der Polarität durch die gegenseitige Aufhebung der beiden polaren Komponenten erfolgt. Die beiden polaren Komponenten von lexikalischer und periphrastischer Avertivkonstruktion
111 Für die einzelsprachlichen Untersuchungen einschließlich ihrer Diachronie cf. Kapitel 4.
156
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
heben sich aufgrund ihrer passivischen Assertiertheit112 nicht gegenseitig auf, wie das spanische Beispiel (188) illustriert.
Tabelle 26: TAM-Distribution von estar a ponto de + Inf. im EP und BP im 20. Jahrhundert. Estar a ponto de + Inf.
Europäisches Portugiesisch CETEMPúblico
Brasilianisches Portugiesisch Corpus Brasileiro
Gesamt
Presente
Imperfeito PPS
Infinitivo
Imperfeito do subjuntivo
—
Condicional simple
—
Presente do subjuntivo
Futuro do subjuntivo
—
Gerúndio
—
Mais-que-perfeito composto (mit ter)
—
Mais-que-perfeito composto (mit haver)
—
Mais-que-perfeito simples (-ra)
—
Futuro do indicativo
—
(188) Casi [estuvo a punto de + Inf.] casi estuvo a punto de enfadar al público fast sein.PST.3SG auf Punkt von ärgern auf-das Publikum Proximale Komponente: Er war kurz davor das Publikum zu verärgern. Polare Komponente: Er hat das Publikum nicht verärgert. ‘Er hätte beinahe das Publikum verärgert.’ Kontext: Pero lo que vino a continuación casi estuvo a punto de enfadar al público, que, sorprendentemente, no protestó la salida del segundo, otro torillo romo e inválido. (CREA: El País, 20/08/1980, Feria de Bilbao, España)
112 Zur passiven Assertiertheit cf. Sevi (1998) und Horn (1991; 2002).
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
157
Tabelle 27: TAM-Distribution von estar a pique de + Inf. im EP und BP im 20. Jahrhundert. Estar a pique de + Inf.
Europäisches Portugiesisch CETEM-Público
Brasilianisches Portugiesisch Corpus Brasileiro
Gesamt
Presente
—
Imperfeito
—
PPS
—
Infinitivo
—
Imperfeito do subjuntivo
—
Mais-que-perfeito simples (-ra)
—
Hinsichtlich des französischen Avertivs faillir + Infinitiv fungiert presque analog als Spezifikator der Avertiv-VP und wird zwischen die beiden Auxiliarteile (finites und infinites Element des Auxiliars faillir im passé composé) der Avertiv-VP eingeschoben. (189) Presque [faillir + Inf.] (a) Caroline Cayeux a presque failli tomber de Caroline Cayeux haben.PRS.3SG beinahe fehlen.PTPC fallen.INF von sa chaise ihrem Stuhl Proximale Komponente: Caroline Cayeux war kurz davor vom Stuhl zu fallen. Polare Komponente: Caroline Cayeux fiel nicht von ihrem Stuhl. ‘Caroline Cayeux wäre beinahe von ihrem Stuhl gefallen.’ Kontext: Voilà que Sylvie Houssin s’approprie la paternité du projet de rénovation urbaine! «Sainte Sylvie, merci!» Piquée, vexée, Caroline Cayeux a presque failli tomber de sa chaise en entendant les propos de son opposante: «Sainte Sylvie, merci! Finalement, vous ne manquez pas de toupet. (Lexis Nexis: Le Parisien, 21/03/2005, Olivier Beaumont, Un projet ni de droite ni de gauche?, France) (b) «Il a tenu parole, renforçant son milieu avec Pranjic et jouant exclusivement le contre avec son buteur Mandzukic (3 buts dans le tournoi) seul en pointe. Et cette stratégie, combinée à des nerfs plus solides que ceux des Espagnols, a presque failli porter ses fruits. A la 59e, Rakitic, superbement servi par Modric de la droite, a en effet obtenu la balle de match face à Casillas. Mais le gardien et capitaine de la Roja, déjà
158
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
sauveur des siens lors de la finale du dernier Mondial dans son face-àface avec Robben, sortait une nouvelle fois une parade-miracle de son chapeau et repoussait la tête de Rakitic.» (Lexis Nexis: Le Monde, 18/ 06/2012, Iker Casillas sauve l’Espagne, France) Die Verstärkung der Avertivperiphrase durch die lexikalische Konstruktion ist zudem mit der Negationspartikel kompatibel, bei der die Polarität lediglich einmal umgekehrt wird und die Proposition aufgrund von zwei polaren Komponenten (und nicht drei polaren Komponenten, wie es die dreiteilige Verstärkung aus lexikalischer Konstruktion, Verbalperiphrase und Negationspartikel vermuten lassen könnte!) positiv wird (cf. Kapitel 3.2.2.1), wie Beispiel (190) aus dem europäischen Portugiesisch illustriert. (190) Negationspartikel im Skopus des Avertivs EP Contudo, Marinho Peres não deixou de se manifestar surpreso com a decisão de Sousa Cintra, uma vez que esperava por ela na sequência dos acontecimentos do Funchal, em finais de Fevereiro, quando quase esteve para não acompanhar a equipa devido às criticas do presidente [. . .] (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) Entsprechend der synchronen pragmatisch-semantischen Untersuchung der romanischen Verbalperiphrasen lässt sich eine aspektuelle Opposition von Proximativ und Avertiv für die romanischen Gegenwartsprachen festmachen, die in Tabelle 28 illustriert wird. Tabelle 28: Aspektuelle Opposition der Proximativ-VPP [+imperfektiv] und Avertiv-VPP [+perfektiv] in den romanischen Sprachen. Proximativ-VPP [+imperfektiv]a
Avertiv-VPP [+perfektiv/ +perfektisch]
*FALLIRE (‘verfehlen’)
—-
Fr. faillir + Inf.
MANCUS
—-
Fr. manquer (de) + Inf. Okz. mancar + Inf.
PECCARE
—-
Okz. pecar + Inf.
3.2 Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv
159
Tabelle 28 (fortgesetzt )
ESSERE
(‘sein’)/ STARE
(‘stehen’)/ SEDERE
(‘sitzen’)
Proximativ-VPP [+imperfektiv]a
Avertiv-VPP [+perfektiv/ +perfektisch]
Fr. être sur le point de + Inf.; être pour + Inf. Gl. estar a piques de + Inf.; estar para + Inf. It. essere per + Inf.; essere sul punto di + Inf.; stare per + Inf. (siz. stari pi + Inf.) Kat. estar a punt de + Inf.; estar per + Inf. Okz. èsser per + Inf.; estre a punt de + Inf. Pg. estar a ponto de + Inf.; estar por + Inf.; estar para + Inf. Rät. star (ster) per + Inf. Rum. a sta + să (Konjunktiv)b Sard. essere de + Inf. Sp. estar a punto de + Inf.; estar por + Inf.; estar para + Inf.
Gl. estar a piques de + Inf.; estar para + Inf.; estar a punto de + Inf. Kat. estar a punt de + Inf.; estar per + Inf. Pg. estar a ponto de + Inf.; estar por + Inf.; estar para + Inf. Sp. estar a punto de + Inf.; estar por + Inf.; estar para + Inf.
Gl. haber (de) + Inf.
HABERE
(‘haben’) IRE/ANDARE
(‘gehen’)
VOLERE/ QUAERERE
(‘wollen’)
FACERE
(‘machen’) a
Sp. ir a + Inf. Kat. anar a Inf. Gl. andar pra + Inf. Pg. ir + gerúndioc; gl. ir + xerundio
Sp. ir a + Inf.
It. volere + Inf.; fr. vouloir + Inf. Sp., gl. querer + Inf. BP estar + querendo + Infinitiv (Está querendo chover. ‘Es ist kurz davor zu regnen.’) Okz. Que vòu plàver. (Romieu/Bianchi , ); Rum. Vreau să cad. It. (Piemontese): fare che + Infinitiv
It. (Piemontese): fare che + Infinitiv
VPP = Verbalperiphrase; nicht Verbalphrase (VP). Im Rumänischen werden sowohl Proximativ als auch Avertivbedeutung in Verbindung mit der Konjunktivpartikel să (rum. Era să cad. ‘Fast wäre ich gefallen.’) ausgedrückt, wie in Kapitel 4.5.1 näher ausgeführt wird. c Zu den im Imperfekt ausgelösten Avertivimplikaturen, wie O rapaz ia caindo. (‘Der Junge wäre beinahe gefallen.’), cf. Kapitel 5.2. b
160
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
An die synchrone Untersuchung lexikalischer und grammatischer Avertivund Proximativkonstruktionen in den romanischen Sprachen schließt sich die diachrone korpusbasierte Untersuchung an, die Aufschluss über ihre Grammatikalisierungspfade geben und Rückschlüsse auf die tatsächliche Verwandtschaft von Proximativ und Avertiv in den romanischen Sprachen zulassen wird.
3.3 Fazit In Kapitel 3 ist die von Kuteva (1998; 2001) problematisierte funktionelle Überlappung von Proximativ und Avertiv sowohl auf der Basis semantischer, pragmatischer (u.a. Aufhebbarkeitstest) und syntaktischer Kriterien (u.a. Skopusinteraktion mit der Negationspartikel) als auch im Zuge einer Formalisierung gelöst worden. In diesem Zusammenhang ist zudem eine eindeutige Abgrenzung des Proximativs zu dem aspektuellen Grammem des Prospektivs und dem temporalen Grammem Futur (cf. Kapitel 3.1.1) einerseits sowie des Avertivs zu den in der romanistischen Forschung bekannten Termini, imperfectum de conatu und dem hinsichtlich der semantisch-pragmatischen Realisierung von ¬p unterspezifizierten Terminus der «frustrierten Imminenz» (cf. Kapitel 3.1.2) andererseits vorgenommen worden. Um der in der temporal-aspektuellen Forschungsdiskussion noch vielfach unklaren Abgrenzung der Kategorien «Proximativ», «Futur» und «Prospektiv», die in der Forschung auch generell als future grams bzw. future markers bezeichnet werden (cf. u.a. Bybee et al. 1994, 244s.; Detges/Waltereit 2016), eine systematische Differenzierung entgegenzubringen, wurde in Kapitel 3.1.1 die semantische Beziehung dieser drei Kategorien, ihre funktionelle Überlappung und ihre Grenzen zueinander auf der Basis systematischer Tests dargelegt. In Kapitel 3.1.2 wurde in Anlehnung an Schwellenbach (2009) insbesondere die bislang ungeklärte Forschungsfrage nach dem Unterschied zwischen den von König (1993), Heine (1992) und Kuteva (1998; 2001) typologisch aufgestellten Kategorien Proximativ und Avertiv gegenüber den in der Romanistik bekannten Funktionen der frustrierten Imminenz (bzw. «reale Imminenz» vs. «nicht-reale Imminenz» nach Cartagena/Gauger 1989, vol. 2) oder dem imperfectum de conatu beantwortet. Die Formalisierung von Proximativ und Avertiv wird an dieser Stelle noch einmal aufgeführt.
3.3 Fazit
161
Tabelle 29: Formalisierung von Avertiv und Proximativ nach Schwellenbach (2013).
AVERTIVE
PROXIMATIVE
ASPECTUALITY
λpλx[IMM (R,^p(x)]
λpλx[IMM (R,^ p(x)]
TEMPORALITY
Pp(x) ¬p
Pp(x) ∨ p(x) ∨ Fp(x) ◊p ∨ ◊¬p (¬□¬p)
MODALITY
Nach unserem Modell definiert sich der vollständig grammatikalisierte Avertiv entsprechend der Unaufhebbarkeit aller Komponenten [+Vergangenheit, +Imminenz, +Kontrafaktizität], die wir an dieser Stelle noch einmal am Beispiel von faillir + Inf. aufzeigen. Die Unaufhebbarkeit der Vergangenheitskomponente erübrigt sich in dem Beispiel von faillir + Inf. aufgrund der Defektivität, sodass wir den Aufhebbarkeitstest lediglich für die proximale und polare Komponente noch einmal anführen. (191) Unaufhebbarkeit von polarer und proximaler Komponente Jean a failli tomber. ‘Jean wäre beinahe gefallen.’ Polare Komponente: Jean n’est pas tombé. ‘Jean ist nicht gefallen.’ Test: #Jean a failli tomber et, il est tombé. ‘#Jean wäre beinahe gefallen und er ist gefallen.’ Proximale Komponente: Jean était sur le point de tomber. ‘Jean war kurz davor zu fallen.’ Test: #Jean a failli tomber mais il n’était pas sur le point de tomber. ‘#Jean wäre beinahe gefallen, aber er war nicht kurz davor, zu fallen.’ In Kapitel 3.2 sind sowohl semantisch-pragmatische als auch syntaktische Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv als eigenständige Kategorien am Beispiel der romanischen Sprachen diskutiert worden. Die synchrone Untersuchung der Avertivbedeutung lexikalischer Konstruktionen in Kapitel 3.2.1 erfolgte auf der Basis der konjunktiven Analyse (Horn 2002; Schwenter 2002; Bordería/Schwenter 2005) von proximaler und polarer Komponente am Beispiel der romanischen Sprachen, die darüber hinaus auf weitere Sprachen übertragbar ist. Diesbezüglich wurde die bis heute langanhaltende Debatte um den semantisch-pragmatischen Status (in Form einer semantischen oder pragmatischen Präsupposition, konversationellen [PCI vs. GCI] oder konventionellen Implikatur,
162
3 Syntax, Semantik und Pragmatik von Proximativ und Avertiv
entailment, etc.) Imminenz ausdrückender Adverbien erneut diskutiert und am Beispiel der romanischen Sprachen illustriert. Des Weiteren ist die VP der lexikalischen Konstruktionen hinsichtlich sowohl ihrer Aktionsartkompatibilität (u.a. die Auswirkungen des Shiftings) als auch ihrer TAM-Distribution untersucht worden, um die tatsächliche Frequenz der Avertivkonstruktion im Präsens in Relation zu anderen Tempora zu ermitteln. Die Skopusinteraktion mit der Negationspartikel wurde hinsichtlich expletiver Negation (z.B. sp. por poco no p → ¬p) und kanonischer Negation (z.B. sp. por poco no p → ¬¬p) in den romanischen Sprachen dargelegt. In Kapitel 3.2.2 wurde die Analyse und die einschlägigen Tests zur Bestimmung des semantisch-pragmatischen Status auch auf die periphrastischen Konstruktionen in den romanischen Sprachen übertragen, um die in Kapitel 3.1.2 aufgestellte Trennung von Proximativ und Avertiv vorzunehmen. Die in der Periphrasenforschung üblichen syntaktischen Kriterien dienten der Bestimmung der Periphrastizität (bzw. der Grammatikalisierungsstärke) der Proximativ- und Avertivperiphrasen in Bezug auf die Einordnung auf dem Lexikon-SyntaxKontinuum. Diesbezüglich wurde auch eine Frequenzmessung im Vergleich zu anderen (insbesondere) aspektuellen Verbalperiphrasen vorgenommen. Zudem wurde für die romanischen Sprachen aufgezeigt, dass der periphrastische Avertiv eine Affinität zu dem perfektiven Aspekt und der periphrastische Proximativ eine Affinität zum imperfektiven Aspekt aufweist, die im Zuge einer stärker grammatikalisierten Konstruktion in der Defektivität mündet (z.B. ist der französische Avertiv faillir + Inf. in der gesprochenen Sprache im passé composé bekanntlich nahezu defektiv geworden.). Darüber hinaus wurde auch die Skopusinteraktion sowohl des periphrastischen Proximativs als auch des periphrastischen Avertivs in Verbindung mit den lexikalischen Proximativ- und Avertivkonstruktionen analysiert. Das Kapitel schloss mit einer Übersicht der erarbeiteten Proximativ- und Avertivperiphrasen in zehn romanischen Sprachen. Die vorangegangen Kapitel haben in theoretischer und synchroner Perspektive illustriert, dass sich Proximativ und Avertiv grundlegend in ihrer Syntax, Semantik und Pragmatik voneinander unterscheiden. Im Folgenden wird auch in diachroner Perspektive korpusbasiert untersucht, inwiefern es sich bei den beiden Grammemen um zwei voneinander unabhängige Kategorien mit voneinander unabhängigen Grammatikalisierungspfaden handelt.
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen Gegenstand des vorliegenden sprachhistorisch-vergleichenden Kapitels ist die diachrone Untersuchung der Genese und Entwicklung von Proximativ und Avertiv in den romanischen Sprachen. Diverse Grammatikalisierungspfade ausgewählter Grammatikalisierungsquellen werden anhand der romanischen Sprachen korpusbasiert verifiziert, um Rückschlüsse zur Verwandtschaft der Kategorien Proximativ und Avertiv und ihrer bis dato kontrovers diskutierten Grammatikalisierungsrichtung zu ermöglichen.
4.1 Grammatikalisierungshypothesen Wie in Kapitel 2.2 kritisch angemerkt, sind Grammatikalisierungstheorien (cf. u.a. Lehmann 2002; Heine/Kuteva 2002, 2; Hopper/Traugott 2003) vorwiegend am theoretischen Idealfall konzipiert und noch anhand empirischer Korpusdaten zu verifizieren. In sprachhistorischer Betrachtung besteht bislang kein Konsens hinsichtlich der Richtung der Grammatikalisierungspfade von Proximativ und Avertiv (cf. Kapitel 1). Im Gegensatz zu Kuteva (1998; 2001), die ein letztes Grammatikalisierungsstadium Avertiv > Proximativ annimmt, spekuliert Bellosta von Colbe (2001a) über die entgegengesetzte Grammatikalisierungsrichtung Proximativ > Avertiv. Weiterführende theoretische Ansätze verschärfen die Kontroverse: Während Ziegeler (2000; 2006) ein theoretisches Modell für die von Kuteva vorgeschlagene Grammatikalisierungsrichtung Avertiv > Proximativ am Beispiel von almost gezeigt hat, ist in dieser Arbeit in Anlehnung an Schwellenbach (2009) vielmehr die semantisch-pragmatische Entwicklung der umgekehrten Grammatikalisierungsrichtung Proximativ > Avertiv in Form einer Modifizierung des Modells illustriert worden. Gegenstand der folgenden Kapitel ist daher die notwendige diachrone Untersuchung des in dieser Arbeit angenommenen Grammatikalisierungspfades Proximativ > Avertiv in innerromanisch-sprachvergleichender Perspektive auf der Basis authentischen Sprachmaterials in Form einschlägiger und umfassender lateinischer und romanischer Korpora (cf. Kapitel 7). Wie in dem synchronen Teil der Arbeit gezeigt wurde, handelt es sich bei den romanischen Avertivkonstruktionen oftmals um eher schwach grammatikalisierte Konstruktionen, i.e. die ein jeweils frühes Grammatikalisierungsstadium vermuten lassen. Um dieses frühe, durch Implikaturen des Proximativs oder von verwandten prospektiven Kategorien geprägte Grammatikalisierungsstadium, bei dem der Avertiv sich erst allmählich https://doi.org/10.1515/9783110526745-004
164
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
konventionalisiert (bzw. die allmähliche Konventionalisierung der kontrafaktischen Implikatur erfolgt), erfassen zu können, ist insbesondere eine qualitative semantisch-pragmatische Untersuchung der einzelsprachlichen Kontexte in der Diachronie erforderlich. Des Weiteren wird eine quantitative Untersuchung Aufschluss über signifikante Entwicklungen und erwartbare Tendenzen zukünftiger Grammatikalisierungsrichtungen der Konstruktionen geben. In Kapitel 4.2 wird sowohl die Entwicklung der lexikalischen als auch der periphrastischen Vorläuferkonstruktionen von Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen elaboriert, um sie in den sich anschließenden Kapiteln mit der Genese der romanischen Proximativ- und Avertivkonstruktionen kontrastiv untersuchen zu können. In Kapitel 4.3 werden mit zwei konkreten Fallbeispielen auf der Grundlage der lateinischen Quellen quasi und per paucus zwei ganz unterschiedliche Pfade des Avertivs in Verbindung folgender Thesen dargelegt: Die erste in Kapitel 4.3 zugrunde gelegte These besagt, dass quasi p und per poco p unterschiedliche Grammatikalisierungspfade hinsichtlich der Kategorien Proximativ und Avertiv beschreiten. Die hinsichtlich der Avertivfunktion schwächer grammatikalisierte Konstruktion quasi p wird bezüglich der frühen Genese einer kontrafaktischen (‘als ob’) Komponente und der diachron späteren Entstehung der proximalen Komponente untersucht. Umgekehrt wird hinsichtlich der stärker grammatikalisierten Konstruktion por poco p die von Schwenter/Bordería (2005) am Beispiel des Spanischen aufgezeigte Entwicklung der proximalen Komponente diachron vor der polaren Komponente in gesamtromanischer Perspektive untersucht werden. Darüber hinaus wird die von Bordería/Schwenter (2005) für das Spanische aufgezeigte These, dass die Konstruktion mit expletiver Negation (por poco no p → ¬p) vor der Konstruktion mit kanonischer Negation (por poco no p → ¬¬p) entstehe, anhand weiterer romanischer Sprachen überprüft werden. An die diachrone Untersuchung der lexikalischen Konstruktionen schließt sich die Erforschung der periphrastischen Konstruktionen an, deren unterschiedliche Grammatikalisierungspfade aus der Possession (cf. Kapitel 4.4.), der Kopula (cf. Kapitel 4.5) und aus der Grammatikalisierungsquelle Fail (cf. Kapitel 4.6) dargelegt werden. In Kapitel 4.4 wird der Grammatikalisierungspfad des Avertivs aus der Possession von lat. HABERE bis zu den romanischen Einzelsprachen untersucht. Es wird die Hypothese hinsichtlich eines Grammatikalisierungspfades Possession > Obligation > Prospektiv > Proximativ > Avertiv aufgestellt, der insbesondere anhand der iberoromanischen Sprachen verifiziert werden wird. Neben der Genese des HABERE-Avertivs wird darüber hinaus in sprachvergleichender Perspektive auch ein kontinuierlicher Abbau des HABERE-Avertivs im Spanischen und Portugiesischen aufgezeigt und mit der Konservierung des HABERE-Avertivs im Galicischen kontrasiert werden.
4.2 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen
165
In Kapitel 4.5 werden die ESSERE/STARE/SEDERE-Infinitivperiphrasen vom Lateinischen bis in die romanischen Einzelsprachen hinsichtlich der Genese von Proximativ und Avertiv untersucht. Diesbezüglich wird zunächst die bereits seit Dietrich (1973) diskutierte problematische Frage zur Entstehung aspektueller Verbalperiphrasen mit dem Schwerpunkt auf der Genese des Proximativs (i.e. der imminentiellen Phase) bearbeitet. Anschließend wird die innovativere Frage der Genese des Avertivs ergründet, zu der bislang keine diachronen Korpusuntersuchungen zu den romanischen Sprachen vorliegen. Darüber hinaus werden die sowohl semantischen Unterschiede (i.e. volitivmodale Nebenbedeutung vs. Imminenz vs. Avertivbedeutung, etc.) als auch die syntaktische Variation (in Form unterschiedlicher Auxiliare und unterschiedlicher PP) der Periphrasen in der Synchronie auf eine unterschiedliche Diachronie zurückgeführt werden. In Kapitel 4.6 wird der Avertiv aus den Grammatikalisierungsquellen *FALLIRE und MANCUS mit Ausblick auf lat. PECCARE in den galloromanischen Sprachen dargelegt. Es wird die Alternativhypothese aufgestellt, dass sich die polare Komponente diachron vor der proximalen Komponente konventionalisiert. Hinsichtlich der Entwicklung des galloromanischen Avertivs mit der Negationspartikel wird illustriert, dass es im Zuge der Avertivgrammatikalisierung zu einer Verschiebung der Negationspartikel in den Skopus des Avertivs kommt. Letztlich wird gezeigt, inwiefern sich beide galloromanischen Konstruktionen analog entwickeln, allerdings faillir + Inf. diachron früher die Avertivfunktion herausbildet und bis zum Gegenwartsfranzösisch ein fortgeschritteneres Grammatikalisierungsstadium gegenüber manquer de + Inf. erlangt. Im Folgenden wird die Ausgangssituation anhand der lateinischen und altgriechischen Vorläuferkonstruktionen von Proximativ und Avertiv illustriert, um sie mit den anschließend zu behandelnden romanischen Konstruktionen kontrastieren zu können.
4.2 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen In der Vulgata wird der Proximativ entweder kompositionell durch beispielsweise einen lexikalischen Ausdruck der Nähe in Form des Location Schema (‘X is at Y’/‘X is near Y’), wie beispielsweise prope esset (Konjunktiv Imperfekt Aktiv von esse) ut, oder periphrastisch als Nebenbedeutung des Partizip Futur Aktiv (PFA) + esse bzw. ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. durch cantare habere (cf. u.a. Thielmann 1885; Diez 1882, vol. 2, 491; Gamillscheg 1913, 42; Rohlfs 1922, 136; Fleischman 1982, 63; Bourova 2005; Baldi/Nuti 2010,
166
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
377; Hertzenberg 2012), des Gerundivums + esse oder als gelegentliche Inferenz des Partizip Präsens Aktiv (PPA) ausgedrückt. Wie die folgenden Bibelübersetzungen illustrieren, muss für den Proximativ im Deutschen ebenfalls auf lexikalische Ausdrücke zurückgegriffen werden. In den romanischen Sprachen stehen hingegen die aspektuellen Verbalperiphrasen zum Ausdruck des Proximativs zur Verfügung, wie die spanischen Bibelübersetzungen mit den aspektuellen Verbalperiphrasen estar para + Infinitiv und estar a punto de + Infinitiv illustrieren. (192) Prope esse ut V (a) 11 cumque prope esset ut ingrederetur Aegyptum dixit Sarai uxori suae novi quod pulchra sis mulier 12 et quod cum viderint te Aegyptii dicturi sunt uxor ipsius est et interficient me et te reservabunt 13 (Bibelwissenschaft: Biblia Sacra Vulgata, Genesis 12:11) ‘11 Als er kurz davor war, in Ägypten einzutreten (wörtl. als er nahe daran war, dass er in Ägypten eintreten würde), sagte er zu seiner Frau Sarai: «Ich weiß, dass du eine schöne Frau bist. 12 Wenn dich die Ägypter sehen und sagen: ‹Das ist seine Frau›, dann werden sie mich erschlagen und dich am Leben lassen»’ ‘11 Y aconteció que cuando estaba para entrar en Egipto, dijo a Sarai su esposa: He aquí, ahora conozco que eres mujer de hermoso parecer; 12 y será que cuando te vean los egipcios, dirán: Su esposa es; y me matarán a mí, y a ti te reservarán la vida. 13’ (Spanische Übersetzung, Reina Valera Gómez, Génesis 12:11) (b) 9 at illi dixerunt recede illuc et rursus ingressus es inquiunt ut advena numquid ut iudices te ergo ipsum magis quam hos adfligemus vimque faciebant Loth vehementissime iam prope erat ut refringerent fores 10 et ecce miserunt manum viri et introduxerunt ad se Loth cluseruntque ostium (Bibelwissenschaft: Biblia Sacra Vulgata, Genesis 19:09) ‘9 Sie aber sprachen: Weg mit dir! Und sprachen auch: Du bist der einzige Fremdling hier und willst regieren? Wohlan, wir wollen dich noch übler plagen als jene. Und sie drangen hart ein auf den Mann Lot. Doch als sie hinzuliefen und die Tür aufbrechen wollten, 10 griffen die Männer hinaus und zogen Lot herein zu sich ins Haus und schlossen die Tür zu.’ (Bibelwissenschaft: Lutherbibel 1984, Genesis 19:09) ‘9 Mas ellos dijeron: ¡Hazte a un lado! Y dijeron además: Este vino como extranjero, y ya está actuando como juez; ahora te trataremos a ti peor que a ellos. Y acometieron contra Lot y estaban a punto
4.2 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen
167
de romper la puerta, 10 pero los dos hombres extendieron la mano y metieron a Lot en la casa con ellos, y cerraron la puerta.’ (Spanische Übersetzung, LBLA, Biblia de las Américas, Lockman Foundation) Lat. prope (‘nahe’, ‘fast’) wird in einigen romanischen Sprachen zum lexikalischen Ausdruck der Imminenz übernommen, wie am Beispiel des rumänischen aproape (‘fast’, ‘beinahe’) angeführt wird. (193) Rumänisch aproape Deputatul Aurelian Mihai a venit când totul era aproape rezolvat. Dar a fost frumos, le-a dat curaj oamenilor. [. . .] (Ziarul românesc: 15. Toți românii și-au primit banii, Letitia Türk anunță vestea bună pentru muncitorii care au protestat la Frankfurt, Munca; letzter Zugriff: 08.07.2015) Die in den Bibelübersetzungen der Vetus Latina zahlreich belegte Infinitivperiphrase mit habebam, die Gegenstand von Kapitel 4.4 ist, wird bekanntlich in der Vulgata durch das Partizip Futur Aktiv (PFA) + esse ersetzt. (194) Habere + Inf. → PFA + esse (a) quia inde habebat transire (Vet. Lat. Luc. Cod. 5 19,4, zitiert nach Haverling 2010, 398) (b) quia inde erat transiturus (Vulg. Luc. 19,4, zitiert nach Haverling 2010, 398) ‘for he was to pass that way’ (Haverling 2010, 398) Das Partizip Futur denotiert im Lateinischen eine in Relation zur Haupthandlung noch bevorstehende Handlung, die aus der Finalität inferiert wird (spectaturus adsum/adero/aderam ‘um zu sehen, bin ich da/werde ich da sein/war ich da’). Dietrich (1973) vermutet bekanntlich insbesondere bei der Entstehung der imminentiellen Verbalperiphrasen in den romanischen Sprachen einen vorangegangenen Einfluss des Altgriechischen auf das Vulgärlateinische.113 Dem lateinischen PFA + esse und der altgriechischen Periphrase μέλλω + Infinitiv schreibt Dietrich (1973a, 15; 278) allerdings vorwiegend die modale Bedeutung
113 Der griechische Einfluss bei der Herausbildung periphrastischer Konstruktionen im Spätlateinischen und den romanischen Sprachen wird bekanntlich kontrovers diskutiert (cf. u.a. Giacalone Ramat 2008, 140; Horrocks 1997, 77s.; Drinka 2003a; 2003b; 2007; Dietrich 1973).
168
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
der Intentionalität114 gegenüber der aspektuellen Bedeutung der Imminenz zu. In dieser Arbeit wird das PFA + esse trotz seiner modalen Nebenbedeutungen, die auch bei dem Proximativ in Verbindung mit belebten Subjekten auftreten (cf. Kapitel 3, Kapitel 4.5), vorwiegend aspektuell betrachtet. Der Name des Partizip Futur Aktiv (PFA) + esse ist allerdings irreführend, denn es handelt sich nach unserer Auffasung keineswegs um ein Futur, sondern um einen Proximativ.115 Hinsichtlich der Grundbedeutung des Partizip Futur Aktiv (PFA) + esse besteht in der Literatur zwar bislang kein Konsens, dennoch reiht sich auch Fleischman (1982, 35) in die Mehrheit der Autoren ein, indem sie dem Partizip Futur Aktiv (PFA) zweifelsohne auch die Imminenz als zentrale Bedeutung zuschreibt. Coleman (1971, 223) schreibt dem PFA + esse ebenfalls die Imminenz als Grundbedeutung zu mit dem Hinweis einer eher gelegentlichen futuralen Nebenbedeutung. Einige Autoren, wie u.a. Hofmann/ Szantyr (1997, 312), charakterisieren das PFA + esse als «unmittelbar bevorstehende Zukunft». Allerdings gilt es bei dieser Unmittelbarkeit zu bedenken, dass das durch das PFA + esse ausgedrückte Bevorstehen der Handlung auch in entfernterer Zukunft liegen kann116 und dies ebenfalls mit dem von uns in Kapitel 3.1 charakterisierten Proximativ konform geht. Haverling (2010, 386) schreibt dem in dem Altlatein und klassischem Latein am frequentesten periphrastisch gebrauchten Partizip Futur mit esse die drei Bedeutungen Intention (intention) in Beispiel a, Vorhersehung (destiny) in Beispiel b und unmittelbares Futur (immediate future) in Beispiel c zu. Die von ihr als «unmittelbares Futur» bezeichnete Bedeutung, welche sie mit who are about to die paraphrasiert, ist in unserer Arbeit vielmehr als Imminenz zu verstehen. (195) PFA zum Ausdruck der Intention (a), Vorhersehung (b) und Imminenz (c) (a) ille abducturus est mulierem cras ‘and tomorrow that man will take away my girl’ (Plaut. Pseud. 82, zitiert nach Haverling 2010, 387) (b) urbem uenalem et mature perituram ‘a city for sale and doomed to speedy destruction’ (Sall. Iug. 35,10, zitiert nach Haverling 2010, 387)
114 Wie in dem theoretischen Apparat dieser Arbeit am Beispiel der romanischen Sprachen deutlich wurde, ist aus der Intentionalität bei belebten Subjekten oftmals die Inferenz zur Imminenz gegeben und wird im Zuge der Grammatikalisierung, wie in dem diachronen Teil noch deutlicher aufgezeigt werden wird, als ein Vorstadium zur Imminenz betrachtet. 115 Zur systematischen Differenzierung zwischen Futur, Prospektiv und Proximativ cf. Kapitel 3.1.1. 116 Cf. auch den Hinweis bei Kühner/Stegmann (1997, 160s.).
4.2 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen
169
(c) haue imperator morituri te salutant! ‘hail Cesar those who are about to die salute you!’ (Suet. Claud. 21,6, zitiert nach Haverling 2010, 387) Anhand der folgenden Beispiele aus der Vulgata mit belebten Subjekt wird deutlich, dass dem PFA + esse neben einer modalen Lesart, die der Proximativ auch in typologischer Betrachtung stets als Nebenbedeutung bei belebten Subjekten ausdrückt, insbesondere die aspektuelle Lesart der Prospektivität, wie insbesondere mit den frequenten Verben venire (‘kommen’) und nasci (‘geboren werden’), oder der Imminenz, wie insbesondere in Beispiel (d), im Gegensatz einer futural-temporalen Bedeutung zuzuschreiben ist. (196) PFA + esse (a) 32 et doceat nos quid debeamus facere de puero qui nasciturus est 13:9 exaudivitque Dominus precantem Manue et appa (GMHP: Vulgata, 07 Juízes) 8 Darauf betete Manoah zum HERRN folgendermaßen: «Ach, Allherr, laß doch den Gottesmann, den du gesandt hast, noch einmal zu uns kommen und uns darüber belehren, wie wir es mit dem Knaben, der geboren werden soll, zu halten haben!» (Bibelwissenschaft: Menge-Bibel, Richter 13:8) (b) 11:14 et si vultis recipere ipse est Helias qui venturus est 11:15 qui habet aures audiendi audiat 11:16 (GMHP: Vulgata, Matthäus 01) 14 und wenn ihr es annehmen wollt: Er ist Elia, der da kommen soll. 15 Wer Ohren hat, der höre! (Bibelwissenschaft: Matthäus 01, Jesu Zeugnis über den Täufer, 11:14) (c) 16:27 Filius enim hominis venturus est in gloria Patris sui cum angelis suis et tunc red (GMHP: Vulgata, Matthäus 01) 27 Denn der Menschensohn wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln kommen und dann einem jeden nach seinem Tun vergelten. 28 (Bibelwissenschaft: Menge-Bibel, Matthäus 01, 16:27) (d) et draco stetit ante mulierem quae erat paritura ut cum peperisset filium eius devoraret (Bibelwissenschaft: Biblia Sacra Vulgata, Revelation 12:4) ‘Und der Drache stellte sich vor die Frau, die kurz davor war zu gebären, um ihren Sohn nach der Geburt zu verschlingen’ (eigene Übersetzung)117
117 In den konsultierten deutschen Übersetzungen der Bibel wird erat paritura mit ‘die in Wehen lag’ (Bibelwissenschaft: Menge-Bibel 1984, Offenbarung 12:4) und ‘die gebären sollte’ (Bibelwissenschaft: Lutherbibel 1984, Offenbarung 12:4) paraphrasiert.
170
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(e) 41:25 respondit Ioseph somnium regis unum est quae facturus est Deus ostendit Pharaoni 41:26 septem boves pulchra (Bibelwissenschaft: Biblia Sacra Vulgata, Genesis 41:25) ‘Da sagte Joseph zum Pharao: «(Beides,) was der Pharao geträumt hat, bedeutet ein und dasselbe: Gott hat dem Pharao angekündigt, was er zu tun gedenkt. [. . .]»’ (Bibelwissenschaft: Menge-Bibel, Genesis 41:25) Der Proximativ in Form des PFA + esse drückt im Imperfekt entsprechend Imminenz-in-der-Vergangenheit aus, wie das obenstehende Beispiel in (d) illustriert (erat paritura ‘war im Begriff zu gebären’). In Verbindung mit einem Infinitiv Perfekt Aktiv von esse (i.e. fuisse) drückt das lateinische PFA Kontrafaktizität aus (cf. Fleischman 1982). (197) PFA + fuisse (a) Quid enim futurum fuit, si illa pastorum convenarumque plebs, transfuga ex suis populis, ‘Denn was wäre die Folge gewesen, wenn die damalige Volksmenge aus Hirten und Zugewanderten [. . .]’ (Livius, Ab urbe condita II, 1:4) (b) Dixi me hoc facturum fuisse [past] [acc] [fut perf infin] ‘I said that I would have done it.’ (Fleischman 1982, 37) Nach Haverling (2010, 387) tritt das Partizip Futur + esse in indirekten Konditionalsätzen zum Ausdruck der Kontrafaktizität auf. (198) PFA + esse im Konsequenz von Konditionalsätzen → Kontrafaktizität puto enim, etiamsi Icadius tum in spelunca non fuisset, saxum tamen illud casurum fuisse. . .‘because I believe, that even if Icadius had not then been in the cave, that stone would have fallen’ (Cic. fat. 6, zitiert nach Haverling 2010, 387) Die Kontrafaktizität entsteht aus der Kombination des lateinischen PFA + esse mit dem perfektiven Aspekt. Nichtsdestotrotz entwickelt die analytische Form nicht den Avertiv, zumal sie das Merkmal [+Imminenz] in Verbindung mit dem Perfekt abbaut. Anstelle einer zu erwartenden Avertivbedeutung was on the verge of taking place but did not take place, wie sie beispielsweise von den aspektuellen Verbalperiphrasen des Proximativs in den insbesondere iberoromanischen Sprachen ausgedrückt wird (cf. Kapitel 3.2), wird das lateinische PFA + esse in Verbindung mit dem perfektiven Aspekt lediglich zum kontrafaktischen
4.2 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen
171
Marker. Die aus dem PFA + esse inferierte Bedeutung der Imminenz ist demzufolge auf Tempora mit imperfektivem Aspekt beschränkt. Zur Entwicklung des Avertivs kommt es bei dem in Vergangenheitskontexten stehenden Proximativ entsprechend nicht. Nach Bourova (2007, 470) verschwindet die Kontrafaktizität ausdrückende Form des PFA + esse mit perfektivem Aspekt bereits im Spätlatein. Während sich nach Bourova (2007, 470) noch 12 Belege von -urus fui gegenüber 45 Belegen von -urus eram in Cicerotexten über das Korpus CLCLT-5 belegt sind, finden sich bereits ab Tertullian nur noch marginale Belege von -urus fui, wie Tabelle 30 illustriert. Tabelle 30: Korpusbelege des CLCLT-5 adaptiert nach Bourova (2007, 470). Autor Cicero
-urus eram
-urus fui
-urus fueram
Tertullian
Ambrosiaster
Hilarius Picavensis
Cassiodorus
Gregorius Magnus
Das Verschwinden des PFA + esse gilt in der Literatur als ein bislang ungelöstes Dilemma (cf. Vincent/Bentley 2001, 153–154). In dieser Arbeit wird das PFA allerdings im Gegensatz zur weitverbreiteten Ansicht nicht als Futur, sondern als Proximativ (cf. Kapitel 3.1.1) betrachtet, der in gewissen Kontexten auch Funktionen des synthetischen Futurs funktionell übernehmen kann. Der Rückgang des PFA bzw. dieses lateinischen Proximativs wird vielmehr in der allmählichen Herausbildung aspektueller Infinitivperiphrasen der Imminenz (i.e. Proximativperiphrasen) im Spätlateinischen begründet gesehen. Relikte des PFA finden sich hingegen lediglich noch lexikalisiert (ventura, fattura) im Altitalienischen, wie die folgenden Beispiele von Palermo (2004, 342) illustrieren. (199) Relikte des PFA im Altitalienischen (a) E la cosa c’ha encomenzamento, è mestieri ch’ella s’encomenci en qualche una de quelle ore; e quella ora sarà fatta a passo a passo, e sarà fattura del suo segno. (R. D’Arezzo, la comp. del mondo, zitiert nach Palermo 2004, 342);
172
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(b) Ma ciò che ‘l segno che parlar mi face/ fatto avea prima e poi era fatturo/ per lo regno mortal ch’a lui soggiace (Dante, Paradiso, zitiert nach Palermo 2004, 342) ‘Doch all dies, was das Zeichen, das mich hier sprechen lässt, getan hatte und noch tun sollte für das irdische Reich, das ihm untertan ist, [. . .]’ (Dante, Commedia, Paradiso, Canto VI, 138s.) Wie die Entwicklung des PFA + esse im Spätlateinischen zeigt, wird bereits ein Unterschied zwischen imperfektiven und perfektiven Aspekt hinsichtlich des Ausdrucks der Kontrafaktizität sichtbar. Im Gegensatz zu dem die Kontrafaktizität ausdrückenden PFA + fuisse, das durch die Verbindung von der Nachzeitigkeit der Periphrase mit dem perfektiven Aspekt entsteht, drückt das PFA + esse in den folgenden Beispielen aus der Vulgata den Proximativ in der Vergangenheit aus, ohne Kontrafaktizität zu implikatieren. Der Proximativ mit imperfektivem Aspekt zeigt entsprechend lediglich die Vorphase vor dem anschließenden Eintritt der Handlung an und ist hinsichtlich der Umsetzung der Handlung unterspezifiziert (im Gegensatz zum perfektiven Aspekt). (200) PFA + esse (imperfektiver Aspekt) (a) et draco stetit ante mulierem quae erat paritura ut cum peperisset filium eius devoraret (Bibelwissenschaft: Biblia Sacra Vulgata, Revelation 12:4) ‘Und der Drache stellte sich vor die Frau, die kurz davor war zu gebären, um ihren Sohn nach der Geburt zu verschlingen’ (eigene Übersetzung)118 (b) 7:2 centurionis autem cuiusdam servus male habens erat moriturus qui illi erat pretiosus 7:3 et cum audisset de Iesu misit ad eum seniores Iudaeorum rogans eum ut veniret et salvaret servum eius (Bibelwissenschaft: Biblia Sacra Vulgata, Lukas 7:2) ‘Dort lag der Diener eines Hauptmanns, der diesem besonders wert war, kurz vor dem Sterben. Weil nun der Hauptmann von Jesus gehört hatte, sandte er Älteste der Juden zu ihm mit der Bitte, er möchte kommen und seinen Diener gesund machen’ (eigene Übersetzung)119
118 In den konsultierten deutschen Übersetzungen der Bibel wird erat paritura mit ‘die in Wehen lag’ (Bibelwissenschaft: Menge-Bibel 1984, Offenbarung 12:4) und ‘die gebären sollte’ (Bibelwissenschaft: Lutherbibel 1984, Offenbarung 12:4) paraphrasiert. 119 In den konsultierten deutschen Übersetzungen der Bibel wird erat moriturus mit ‘lag todkrank’ (Bibelwissenschaft: Lutherbibel 1984, Lukas 7:2) und ‘lag [. . .] todkrank darnieder’ (Bibelwissenschaft: Menge-Bibel 1984, Lukas 7:2) paraphrasiert.
4.2 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen
173
Neben dem PFA + esse wird die prädikative Verwendung des Gerundivums in Verbindung mit esse zum Ausdruck einer bevorstehenden Handlung sowie der Notwendigkeit ‘etwas muss getan werden’ verwendet, die semantisch äquivalent zu der transitiven Verwendung der romanischen Proximativ-Verbalperiphrasen estar por + Infinitiv (sp., gl., pg.) und estar per + Infinitiv (kat.) ist. (201) Gerundivum + esse (a) Liber legendus est Dt. Das Buch muss gelesen werden / Das Buch muss man lesen. Sp. El libro está por leer. (b) 14:2 hic est ritus leprosi quando mundandus est adducetur ad sacerdotem (Bibelwissenschaft: Biblia Sacra Vulgata, Levitikus 14:2) ‘Dies ist das Gesetz über den Aussätzigen, wenn er gereinigt werden soll. Er soll zum Priester kommen’ 3 (Bibelwissenschaft: Lutherbibel 1984, Levitikus 14:2) Ein weiterer semantischer Vorläufer ist das PPA (Partizip Präsens Aktiv) + esse, das neben dem Hauptcharakteristikum der Gleichzeitigkeit bereits vermehrt Inferenzen der Imminenz zulässt, die Palermo (2004) noch bis in das Altitalienische aufzeigt, bevor eine zunehmende Ersetzung durch die Periphrasen essere per + Inf. und stare per + Inf. erfolgt (cf. Kapitel 4.5.2.2). (202) PPA im Lateinischen Barbari accedunt canentes. ‘Die Barbaren rücken singend heran.’ Barbari accesserunt canentes. ‘Die Barbaren sind singend herangerückt.’ (203) Relikte des PPA mit imminentieller Inferenz im Altitalienischen E lo bel Gherardin coll’arme volse,/ veggendo che ‘l soldano era vincente [‘stava vincendo’/’stava per vincere’]./ Dal padiglion di subito si mosse,/ inver di lui cavalca arditamente,/ e per sì gran possanza lo percosse,/ ch’e’ morir crede quando il colpo sente, (Cantare del bel Gherardino, zitiert nach Palermo 2004, 345) Die Infinitivkonstruktionen est + Infinitiv (est videre ‘man kann sehen’) und habeo + Infinitiv werden noch überwiegend zum Ausdruck modaler Bedeutungen gebraucht, aus denen sich die Nachzeitigkeit (sowohl in Form der Prospektivität als auch des Proximativ) in den romanischen Sprachen entwickelt und entsprechend ihres Auxiliars in Kapitel 4.4 und Kapitel 4.5 untersucht werden. Im Spätlateinischen ersetzen
174
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
bereits die präpositionalen Infinitivkonstruktionen ad/de + Infinitiv zunehmend ad/ de + Gerundium (cf. u.a. Schellers 1790, 690; Richter 1903, 156; Lüdtke 2009, 274).120 Weder der Avertiv aus der Grammatikalisierungsquelle ESSER(E)/STARE/SEDERE noch der Avertiv aus HABERE sind bereits im Lateinischen gegeben, wenngleich einzelne Merkmale des Avertivs auftreten, wie Intention (cantare habeo) als Vorstadium der [+Imminenz] und allgemein als Vorstadium der Nachzeitigkeit in Herausbildung des romanischen Futurs sowie die aus der lexikalischen Possessivität entstehende [+Vergangenheit] oder die bereits implikatierte Kontrafaktizität (cantare habui/habebam) als Vorläufer des Konditionals. Im (Alt)Griechischen wird eine imminente Handlung mit Hilfe des Verbs μέλλω [ˈmɛlɔ] (1SG.PRS.IND/SUBJ.ACT) in der Bedeutung ‘kurz davor sein’, ‘gedenken zu’ ausgedrückt, die allerdings nach Dietrich (1973b, 278) «eher lexikalisch die Intentionalität betont». (204) (Alt)Griechisch μέλλω [ˈmɛlɔ] (1SG.PRS.IND/SUBJ.ACT) Altgr. (a) τι μας μέλλεται was steht uns bevor? (Dietrich 1973a, 278) (b) ποιος θα φανταζόταν ότι έμελλε να πεθάνει τόσο νέος; wer hätte gedacht, dass er so früh sterben sollte? (Dietrich 1973a, 278) Im Griechischen Neuen Testament (GNT) tritt das Lemma μέλλω in 26 flektierten Formen von 129 belegten Okkurrenzen auf. Hinsichtlich der Tempora wird ausschließlich nach Imperfekt, Präsens und Futur, i.e. nach imperfektiven Aspekt, flektiert (cf. Tabelle 31, Seite 175–178).121 In der Septuaginta (LXX) tritt der Proximativ in 18 flektierten Formen von insgesamt 44 Okkurrenzen auf. Wie Tabelle 32 (Seite 179–181) illustriert, ist der Proximativ ausschließlich im Präsens und Imperfekt belegt.122 Wie die Belege der Tabellen 31 und 32 illustrieren, weist der Proximativ im (Alt)Griechischen eine deutliche Affinität zum imperfektiven Aspekt auf. 120 Benedictus Nurs. S. 28. 1 Media nocte surgebam ad confitendum tibi; Peregrin. Silv. 45. 24 necesse nos fuit ibi ad resumendum biduo immorari, 62.7 loca. . . grata ad videndum christianis; ca. a. 800, Esp. Sagr. 43.374. 16 siquis vero homo vel femina venerit contra hanc donationem ad irrumpendum (Richter 1903, 156). 121 Die Belege und Primärquellen sind unter dem folgenden Link des Kata Biblon (κατα βιβλον) http://lexicon.katabiblon.com/index.php?lemma=%CE%BC%E1%BD%B3%CE%BB%CE %BB%CF%89 (letzter Zugriff: 18.05.2015) konsultierbar. 122 Die Belege und Primärquellen sind unter dem folgenden Link des Kata Biblon (κατα βιβλον) http://lexicon.katabiblon.com/index.php?lemma=%CE%BC%E1%BD%B3%CE%BB%CE %BB%CF%89 (letzter Zugriff: 18.05.2015) konsultierbar.
Lemma
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
Inflection
ἔμελλεν
ἔμελλες
ἔμελλον
ἤμελλεν
ἤμελλον
Μέλλει, μέλλει
μελλ·ει
ε·μελλ·ον
ε·μελλ·ε(ν)
ε·μελλ·ον
ε·μελλ·ες
ε·μελλ·ε(ν)
Uncontracted Form(s)
Tabelle 31: Der Proximativ im GNT.
he/she/it-is-ABOUT-ing, you (sg)-are-being-ABOUT-ed (classical)
I-was-ABOUT-ing, they-wereABOUT-ing
SG OR IMPF ACT IND
I-was-ABOUT-ing, they-wereABOUT-ing
SG OR IMPF ACT IND
he/she/it-was-ABOUT-ing
you(sg)-were-ABOUT-ing
SG
SG
he/she/it-was-ABOUT-ing
Translation(s)
SG
SG OR PRES MP IND SG CLASSICAL PRES ACT IND
PL
IMPF ACT IND
IMPF ACT IND
PL
IMPF ACT IND
IMPF ACT IND
IMPF ACT IND
Parsing
(fortgesetzt )
Mt :, Mt :, Mt :, Mt :, Lk :, Lk :, Jn :, Acts :, Acts :, Acts :, Rom :, Rv :, Rv :, Rv :, Rv :
Rv :
Lk :, Lk :, Lk :, Lk :, Jn :, Jn :, Jn :, Acts :, Acts :, Acts :, Heb :
Jn :, Acts :, Rv :, Rv :
Rv :
Lk :, Lk :, Lk :, Lk :, Jn :, Jn :, Jn :, Jn :, Jn :, Acts :, Acts :, Acts :
Verse(s)
4.2 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen
175
Lemma
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
Inflection
μέλλειν
μέλλεις
μέλλετε
μέλλῃ
Μελλήσετε
μελλήσω
μέλλομεν
μέλλον
Tabelle 31 (fortgesetzt )
μελλ·ο[υ]ν[τ]
μελλ·ομεν
μελλη·σω
μελλη·σετε
μελλ·ῃ
μελλ·ετε
μελλ·εις
μελλ·ειν
Uncontracted Form(s)
SG
PRES ACT PTCP NEU NOM|ACC|VOC
PRES ACT PTCP MAS VOC SG OR
while ABOUT-ing (nom|acc| voc, voc)
we-are-ABOUT-ing
I-will-ABOUT
SG PL
you(pl)-will-ABOUT
PL
PRES ACT IND
FUT ACT IND
FUT ACT IND
PRES MP IND
you(sg)-are-being-ABOUT-ed, he/she/it-should-be-ABOUTing, you(sg)-should-be-beingABOUT-ed
Lk :, Acts :, Tm :
Thes :
Pt :
Mt :
Mk :, Lk :, Rv :
you(pl)-are-ABOUT-ing, be-you Acts :, Rom : (pl)-ABOUT-ing!
PL OR PRES ACT IMP
Jn :, Acts :, Acts :, Rv :
Acts :, Acts :, Acts :, Acts :, Acts :, Acts :, Acts :
Verse(s)
you(sg)-are-ABOUT-ing
to-be-ABOUT-ing
Translation(s)
SG
SG OR PRES ACT SUB SG OR PRES MP SUB SG
PL
PRES ACT IND
PRES ACT IND
PRES ACT INF
Parsing
176 4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλοντα
μέλλοντά
μέλλοντας
μέλλοντες
μέλλοντι
Μέλλοντος, μέλλοντος
μελλόντων
μέλλουσαν
μελλούσης
μελλ·ουσ·ης
μελλ·ουσ·αν
μελλ·οντων, μελλ·ο[υ] ντ·ων
μελλ·ο[υ] ντ·ος
μελλ·ο[υ]ντ·ι
μελλ·ο[υ] ντ·ες
μελλ·ο[υ] ντ·ας
μελλ·ο[υ]ντ·α
μελλ·ο[υ]ντ·α
PL CLASSICAL, PRES
PRES ACT PTCP FEM GEN SG
PRES ACT PTCP FEM ACC SG
PTCP NEU GEN PL
ACT PTCP MAS GEN PL OR PRES ACT
PRES ACT IMP
PRES ACT PTCP NEU GEN SG
PRES ACT PTCP MAS GEN SG OR
ACT PTCP NEU DAT SG
PRES ACT PTCP MAS DAT SG OR PRES
PRES ACT PTCP MAS NOM|VOC PL
PRES ACT PTCP MAS ACC PL
PL
PRES ACT PTCP NEU NOM|ACC|VOC
PRES ACT PTCP MAS ACC SG OR
PL
PRES ACT PTCP NEU NOM|ACC|VOC
PRES ACT PTCP MAS ACC SG OR
while ABOUT-ing (gen)
while ABOUT-ing (acc)
let-them-be-ABOUT-ing! (classical), while ABOUT-ing (gen)
while ABOUT-ing (gen)
while ABOUT-ing (dat)
while ABOUT-ing (nom|voc)
while ABOUT-ing (acc)
while ABOUT-ing (acc, nom| acc|voc)
while ABOUT-ing (acc, nom| acc|voc)
(fortgesetzt )
Mt :, Lk :, Tm :, Pt :, Rv :, Rv :
Rom :, Gal :, Heb :, Heb :
Acts :, Acts :, Col :, Tm :, Heb :, Heb :, Heb :, Pt :, Rv :
Acts :, Acts :, Rom :, Tm :, Heb :, Heb :
Mt :, Acts :, Acts :, Eph :
Acts :, Acts :, Acts :, Jas :, Rv :
Acts :, Acts :, Heb :
Acts :
Mk :, Lk :, Acts :, Acts :, Rom :, Cor :
4.2 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen
177
Lemma
μέλλω
μέλλω
μέλλω
Inflection
μέλλουσιν
μέλλω
Μέλλων, μέλλων
Tabelle 31 (fortgesetzt )
μελλ·ο[υ]ν [τ]·^
μελλ·ω
μελλ·ουσι(ν), μελλ·ου[ντ]·σι (ν)
Uncontracted Form(s) PL, PRES ACT PTCP they-are-ABOUT-ing, while ABOUT-ing (dat)
Translation(s)
while ABOUT-ing (nom)
SG OR PRES ACT SUB I-am-ABOUT-ing, I-should-beABOUT-ing
PRES ACT PTCP MAS NOM SG
SG
PRES ACT IND
DAT PL
MAS DAT PL OR PRES ACT PTCP NEU
PRES ACT IND
Parsing
Mt :, Lk :, Lk :, Jn :, Acts :, Acts :, Acts :, Acts :, Heb :
Mt :, Rv :
Jn :, Acts :
Verse(s)
178 4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Lemma
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
Inflection
ἔμελλεν
ἔμελλον
ἤμελλεν
μέλλει
μέλλειν
μέλλεις
μέλλετε
μέλλῃ
μελλ·ῃ
μελλ·ετε
μελλ·εις
μελλ·ειν
μελλ·ει
ε·μελλ·ε(ν)
ε·μελλ·ον
ε·μελλ·ε(ν)
Uncontrac-ted Form(s)
PL
PRES ACT IND
SUB
he/she/it-was-ABOUT-ing
SG
you(sg)-are-being-ABOUT-ed, he/ she/it-should-be-ABOUT-ing, you (sg)-should-be-being-ABOUT-ed
Jer :
you(pl)-are-ABOUT-ing, be-you(pl)- Mc : ABOUT-ing!
PL OR PRES ACT
(fortgesetzt )
Ex :, Mc :, Mc :, Jb :
you(sg)-are-ABOUT-ing
Mc :
Gn :, Gn :, Mc :, Wsd :, Is :, Is :, Is :, Is :, EpJer :
Wsd :
Ps :
Mc :
Verse(s)
SG
to-be-ABOUT-ing
he/she/it-is-ABOUT-ing, you(sg)are-being-ABOUT-ed (classical)
I-was-ABOUT-ing, they-wereABOUT-ing
SG OR IMPF ACT
SG OR PRES ACT SG OR PRES MP SUB SG
PL
PRES MP IND
IMP
PRES ACT IND
PRES ACT IND
PRES ACT INF
IND
he/she/it-was-ABOUT-ing
Translation(s)
SG
SG OR PRES MP SG CLASSICAL
IMPF ACT IND
IND
IMPF ACT IND
IMPF ACT IND
Parsing
Tabelle 32: Der Proximativ in der Septuaginta (LXX).
4.2 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen
179
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλῃς
μέλλοντα
μέλλοντας
μέλλοντες
μέλλοντος
μελλόντων
μέλλουσαν μέλλω
Lemma
Inflection
Tabelle 32 (fortgesetzt )
μελλ·ουσ·αν
μελλ·οντων, μελλ·ο[υ]ντ·ων
μελλ·ο[υ]ντ·ος
μελλ·ο[υ]ντ·ες
μελλ·ο[υ]ντ·ας
μελλ·ο[υ]ντ·α
μελλ·ῃς
Uncontrac-ted Form(s) SG
PL CLASSICAL,
PRES ACT PTCP FEM ACC SG
PRES ACT PTCP NEU GEN PL
PRES ACT PTCP MAS GEN PL OR
PRES ACT IMP
PRES ACT PTCP NEU GEN SG
PRES ACT PTCP MAS GEN SG OR
PRES ACT PTCP MAS NOM|VOC PL
PRES ACT PTCP MAS ACC PL
VOC PL
PRES ACT PTCP NEU NOM|ACC|
PRES ACT PTCP MAS ACC SG OR
PRES ACT SUB
Parsing
while ABOUT-ing (acc)
let-them-be-ABOUT-ing! (classical), while ABOUT-ing (gen)
while ABOUT-ing (gen)
while ABOUT-ing (nom|voc)
while ABOUT-ing (acc)
while ABOUT-ing (acc, nom|acc| voc)
you(sg)-should-be-ABOUT-ing
Translation(s)
Mc :, Mc :, Prv :
Mc :
Wsd :
Mc :, Mc :, Mc :
Mc :
Wsd :, Wsd :
TbS :
Verse(s)
180 4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
μέλλω
μέλλω
μέλλω
μέλλουσιν
μέλλω
μέλλων
μελλ·ο[υ]ν[τ]·^
μελλ·ω
μελλ·ουσι(ν), μελλ·ου[ντ]·σι(ν)
PL, PRES ACT
SG
SG OR PRES ACT
PRES ACT PTCP MAS NOM SG
SUB
PRES ACT IND
PTCP NEU DAT PL
PTCP MAS DAT PL OR PRES ACT
PRES ACT IND
while ABOUT-ing (nom)
I-am-ABOUT-ing, I-should-beABOUT-ing
Mc :, Mc :, Mc :, Mc :, Mc :, Mc :, Jb :, Jb :, Wsd :, Is :
Mc :
they-are-ABOUT-ing, while ABOUT- Jdt :, Mc : ing (dat)
4.2 Proximativ und Avertiv im Lateinischen und Altgriechischen
181
182
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Dies korreliert ebenfalls mit der in dem theoretischen Apparat aufgezeigten Affinität des Proximativs zum imperfektiven Aspekt gegenüber der Affinität des Avertivs zum perfektiven Aspekt. Für den Avertiv ist sowohl im Lateinischen als auch im Altgriechischen noch keine periphrastische Form vorhanden. Die Avertivbedeutung ist im Lateinischen und (Alt)Griechischen entsprechend kontextabhängig und kann als pragmatische Inferenz des Imperfekts (imperfectum de conatu, imperfective paradox123), des PFA + esse oder des Gerundivum + esse sowie in Verbindung lexikalischer Ausdrücke (paene, prope, etc.) ausgedrückt werden. Die lexikalischen Ausdrücke der Nähe paene (‘beinahe’, ‘fast’) und prope (‘nahe bei’, ‘fast’) drücken die polare (kontrafaktische) Bedeutung bereits in Verbindung mit dem Modus Indikativ aus und zeigen sich insbesondere mit Achievements. (205) Paene/Prope + Indikativ Perfekt (a) Paene cecidi. Fast fallen.PST.1SG ‘Beinahe wäre ich gefallen.’ (b) Paene dixi fast sagen.PST.1SG ‘Beinahe hätte ich gesagt. . .’ (c) Paene/Prope oblitus sum Beinahe vergessen.PPP sein.PRS.1SG ‘Beinahe hätte ich vergessen. . .’ Die am Beispiel der romanischen Sprachen in Kapitel 3.2.1 illustrierte Ambiguität lexikalischer Avertivkonstruktionen in Verbindung mit Accomplishments zeigt sich auch in Verbindung mit dem lateinischen paene. Während bei der ersten Avertivlesart die Imminenz zum Wahrheitsintervallbeginn ausgedrückt wird und der Eintritt in das Wahrheitsintervall gänzlich verwehrt bleibt, wird in der zweiten Avertivlesart der Eintritt in das Wahrheitsintervall mit Imminenz zum Kulminationspunkt ausgedrückt (cf. Kapitel 3.2.1). Haverling (2000; 2010) problematisiert diese Ambiguität allerdings vielmehr am Beispiel von Achievements (paene interfici; paene interfectus essem; una nox paene delerit), bei denen sie die puntuelle Eigenschaft anzweifelt und die beiden AccomplishmentLesarten annimmt, die wir beide als Avertivlesarten verstehen.
123 Cf. Dowty (1977; 1979).
4.3 Lexikalische Konstruktionen
183
(206) Avertivlesarten bei Accomplishments Cogitate quantis laboribus fundatum imperium. . . una nox paene delerit (Cic. Catil. 4,19, zitiert nach Haverling 2000, 112) (a) Lesart 1: ‘in one single night the situation was brought to an extreme point where the final destruction of the empire seemed to be about to take place, but then it never happened’ (i.e. the initial action almost took place) (Haverling 2000, 112) (b) Lesart 2: ‘in one single night the destruction of the empire has started, but the ongoing process was stopped before the empire was actually destroyed’ (i.e. the final result was almost reached.) (Haverling 2000, 112) (207) Avertivlesarten bei Accomplishments (a) hesterno die cum domi meae paene interfectus essem ‘yesterday when I was almost killed in my own home’ (Cic. Catil. 2,12, zitiert nach Haverling 2010, 309) (b) uidi enim uidi hunc ipsum Q. Hortensium . . . paene interfici ‘for I saw, I saw Hortensius himself almost being killed’ (Cic. Mil. 37, zitiert nach Haverling 2010, 309) Wie gezeigt worden ist, wird der Avertiv in den klassischen Sprachen lexikalisch beziehungsweise kompositionell ausgedrückt. Auch für den Proximativ stand kein einheitliches Verfahren zur Verfügung, das über das PFA + esse, Gerundivum + esse oder das PPP als Nebenbedeutung ausgedrückt werden konnte. Welchen Wandel die lexikalischen und grammatischen Proximativ- und Avertivkonstruktionen in den romanischen Sprachen vollzogen haben, wird Gegenstand der folgenden Kapitel sein.
4.3 Lexikalische Konstruktionen Hinsichtlich der lexikalischen Konstruktionen wird sich exemplarisch auf die Genese der beiden Avertivkonstruktionen quasi p und por poco (no) p in den romanischen Sprachen beschränkt, die zwei unterschiedliche Entwicklungen hinsichtlich der Herausbildung der Avertivbedeutung vollzogen haben und sich daher für die kontrastive Untersuchung besonders eignen.
4.3.1 Quasi > Avertiv Dieses Kapitel hat die Genese der lexikalischen Avertivkonstruktion quasi VP (it., rät. quasi VP, pg. quase VP, sp. casi VP, etc.) in den romanischen
184
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Sprachen zum Gegenstand. Im Gegensatz zum beispielsweise Deutschen, in welchem quasi nicht den Avertiv entwickelt, sondern die lateinische Bedeutung konserviert,124 bilden die romanischen Sprachen neben dieser lexikalischen Bedeutung die Avertivfunktion heraus, die den in Kapitel 3.2.1 aufgezeigten Restriktionen unterliegt und sogar prototypisch in dem Indikativ Präsens steht, wie in sp. casi me muero (‘beinahe wäre ich gestorben’, ‘#quasi sterbe ich’). Lateinisch quasi wird im Altlateinischen aus quam si ‘als ob, wie (es der Fall sein würde) wenn’ gebildet, welches die Vorstellung einer alternativen Welt versprachlicht, die so beschaffen ist, ‘als ob p’, jedoch in der realen Welt ¬p impliziert (cf. Schwellenbach 2009).125 Quam si selegiert im Altlatein entsprechend den Konjunktiv, wie die folgenden Beispiele mit affirmativen Beispiel in (a) und negiertem Beispiel in (b) illustrieren. (208) Quam si (non) p (Konjunktiv) im Altlatein (a) Id uolo: quamquam non multum fuit molesta seruitus Nec mihi secus erat quam si essem familiaris filius. (LLT-A: Titus Maccius Plautus, Captiui, versus 271, p. 72) (b) Minus mirandumst, illaec aetas si quid illorum facit Quam si non faciat: feci ego istaec itidem in adulescentia. (LLT-A: Titus Maccius Plautus, Bacchides, versus 409, p. 20) Analog zu quam si drückt quasi im Altlateinischen zunächst ebenfalls lediglich noch die kontrafaktische Komponente aus und selegiert zudem, im Gegensatz zu den im Indikativ Präsens (sp. Casi me caigo. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’) stehenden romanischen Avertivkonstruktionen, noch den Konjunktiv. (209) Quasi p [Konjunktiv] im Altlatein (a) Credo edepol: nam pro Iuppiter, sepultust quasi sit mortuos. (LLT-A: Titus Maccius Plautus, Amphitruo, versus 1073, p. 57) ‘[. . .] bei Jupiter, er ist begraben, als ob er tot wäre.’
124 «quasi, das lat. quasi, gleichsam, wie wenn, nur zum schein; öfter in zusammensetzungen als bestimmungswort gebraucht: quasidame SEUME schriften 1, 473 Zimmermann, -dichter 4, 59, -hofmeister SEUME 4, 46, -leib J. Paul teuf. pap.1, 100, -maltheser GÖTHE 28, 221, -mauer 27, 52» (DWB 1854–1961). 125 Problematisch bei der Annahme einer vermeintlich semantischen Präsupposition von ¬p hinsichtlich quasi ist, dass es die üblichen Tests für semantische Präsuppositionen, wie die Konstanz unter Negation, nicht erfüllt.
4.3 Lexikalische Konstruktionen
185
(b) Nugae sunt istae magnae: quasi tu nescias, Repente ut emoriantur humani Ioues. (LLT-A: Titus Maccius Plautus, Casina, versus 333, p. 128) ‘[. . .] als ob du es nicht wüsstest [. . .]’ Quasi wird insbesondere im Spätlateinischen auch (analog zu den späteren romanischen Sprachen) vor Nominalsyntagmen und Adjektiven gebraucht.126 Aus der kontrafaktischen Bedeutung ‘als ob p (so beschaffen wäre)’ wird bereits im Spätlateinischen schon die naheliegende Inferenz +> ‘fast p’ gezogen (z.B. hora quasi septima), die auch im Mittellateinischen lediglich als pragmatische Inferenz erhalten bleibt und als diese, im Gegensatz zu den parallelen iberoromanischen Belegen des 13. Jahrhunderts, nicht konventionalisiert wird. (210) Quasi p im Mittellatein Et ostendit primo se apprehendisse fortiter, cum dicit, tenui eum; quasi dicat: non qualitercumque recepi ipsum, sed fortiter apprehendi, tenendo ipsum. (LLT-B: Aegidius de Roma, c. 1243–1316, In Canticum expositio II ‘in principio’, tractatus: 1, cap. 3, pars. 1, p. 401, col. 2, lin. 54) ‘als ob er sagen würde: [. . .]’ +> ‘fast sagt er’ Quasi wird in Verbindung der VP nunmehr mit dem PFA (Partizip Futur Aktiv) gebraucht.127 Die Ausdehnung des Gebrauchs von quasi in Imminenz ausdrückenden Kontexten, wie in Verbindung mit dem Imminenz ausdrückenden PFA, begünstigt die nachträgliche Konventionalisierung der proximalen Komponente. (211) Quasi p (PFA) . . . matris deum. ‘ite’ autem ‘per alta’ sic dixit, quasi currite per Dindyma et ducite choros per Dindyma. nec . . . Troianorum, nisi etiam sacris numinum contumeliam faciat. sed hoc iam quasi moriturus loquitur: hoc est
126 Für die Stellung vor Nominalsyntagmen und Adjektiven insbesondere im Spätlateinischen sei auf De la Villa (2010, 181) und Fruyt (2011, 672) verwiesen: «Conversely, the correlative pair cum . . ., tum . . . ‘when . . ., then . . . ’, made up of a temporal subordinate clause and a main clause, has become a coordinator between two nominal groups: ‘not only x, but also y, x and y’ [. . .]. In the same way, the subordinator quasi ‘as if’, with a counterfactual sense, may also introduce a nominal syntagm or an adjective, especially in Late Latin (Apul. apol. 4,13: crimen quod illi quasi capitale intenderunt)» (Fruyt 2011, 672). 127 Die von Hofmann/Szantyr (1997) aufgeworfene Vermutung, es handle sich hierbei um einen Gräzismus, weist bereits Calboli (2009, 162) durch Belege bei Seneca zurück.
186
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
enim ‘digna atque indigna relatu vociferans’ (Perseus: Maurus Servius Honoratus, Commentary on the Aeneid of Vergil Less book 9, commline 614) ‘als ob er sterben würde’ (≠ Avertiv) In Verbindung mit der Negationspartikel non drückt quasi allerdings noch keinen Avertiv im Sinne der Bedeutung was on the verge of not taking place but did take place aus, sondern assertiert lediglich die kontrafaktische Komponente ‘als ob nicht p’, die ¬p impliziert und in Verbindung mit der Negationspartikel non eine positive Proposition ausdrückt, wie die folgenden Beispiele im Altlateinischen und sogar noch bis ins Mittellateinische zeigen. (212) Quasi non p im Altlatein quasi non audiam, abibo (LLT-A: Titus Maccius Plautus, c. 254–184 v. Chr., Casina, versus 961, p. 158)128 ‘als ob ich nicht hören würde, werde ich weggehen’ Im klassischen Latein bis ins Spätlateinische und partiell auch noch im Mittellateinischen wird noch der Konjunktiv selegiert. (213) Quasi p (Konjunktiv) im Mittellatein (a) Statimque nuntios ad Cordobam misit, quasi pro gratia regis hec omnia egisset, ita ut in omnibus fidelis existeret. Sed quum a rege Cordobense ipsa ciuitas, uel ipsi quos ceperat peterentur, et hoc Ababdella nullatenus adueneret, mox (CORDE: Anónimo, c 883, Crónica albeldense, España) (b) perdictio qua peccatores terre latus absorbuit, et interitus Cananeorum, et contrictio idrie ad fontem, et arenarum cominatio in litoribus que salis fluctibus verberantur, et confractio virge gloriose de Esaye ut sit quasi cecus palpans pariete; (CORDE: Anónimo, 963, De illa defesa, Becerro gótico de Cardeña, España) Im Spätlateinischen (und Mittellateinischen) steht quasi bereits vermehrt auch mit dem Indikativ, wie die folgenden Belege illustrieren.
128 Die Form audiam kann sowohl für 1.PS.SG.FUT.AKT als auch 1.PS.SG.PRS.AKT.SUBJ stehen.
4.3 Lexikalische Konstruktionen
187
(214) Quasi p (Indikativ) Altera autem die, summo mane, pauci milites Moabitarum venerunt in campo et moverunt bobes paucos et coeperunt quasi fugere. Persecutus est autem eos Guterrius Hermegildi cum quadraginta militibus, et venerunt ad illum locum ubi dolus erat paratus. (CORDE: Anónimo, c 1160, Crónica Adefonsi Imperatoris, España) (215) Quasi non p (Indikativ) im Mittellatein Mlat. (a) Unde Eccli. 30, 4: Mortuus est pater eius, et quasi non est mortuus, similem enim reliquit post se. Unde filius dicitur quia fit ut ille qui genuit. (LLT-B: Alexander Halensis, c. 1185–1245, Summa theologica, Summa Fratris Alexandri siue Summa uniuersae theologiae, opus Alexandro moderante conflatum, liber 2, pars 1, inquisitio 4, tractatus 2, sectio 2, quaestio 1, tit. 1, membrum 2, cap. 2, art. 1, num. 450, p. 566, col. 1, lin. 44) ‘Stirbt sein Vater, so ist’s, als wäre er nicht gestorben, denn einen ihm Ähnlichen läßt er zurück [. . .]’ (Bibelwissenschaft: MengeBibel, Sirach 30:4) (b) «[. . .] Quid gloriaris, quasi non acceperis?» Unde talis simpliciter est infidelis. (LLT-B: Alexander Halensis, c. 1185–1245, Summa theologica, Summa Fratris Alexandri siue Summa uniuersae theologiae, opus Alexandro moderante conflatum, liber 2, pars 2, inquisitio 3, tractatus 4, sectio 2, quaestio 1, tit. 1, dist. 2, cap. 5, art. 2, num. 524, p. 518, col. 2, lin. 15) ‘Was rühmst du dich, als ob du es nicht empfangen hättest?’ Im altitalienischen OVI-Korpus findet sich quasi ab dem 13. Jahrhundert sowohl bereits in avertivischer als auch skalarer Bedeutung in Verbindung mit dem Indikativ. (216) Quasi p im Altitalienischen Priamus respuse: «Ke vedete voi ke deiamo fare». Antenor dice: «Tutti li toi filij sonno quasi morti e quasi tutti li duca de Troia e li duca de Grecia molti ne (OVI: Storie de Troia e de Roma, cod. Laurenziano, 1252–1258, rom.>tosc.) Im Altitalienischen selegiert quasi entsprechend nicht mehr notwendigerweise den Konjunktiv und wird in vermehrt skalarer Bedeutung verwendet, wie die folgenden Beispiele aus Dantes La Divina Commedia (c. 1307–1327) zeigen.
188
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(217) Quasi p in Dantes Divina Commedia Ed ecco, quasi al comin- Da plötzlich, fast noch am Beginn der Anciar dell’erta, höhe, eine Pantherkatze, sehr geschmeidig una lonza leggiera und flink, die mit geflecktem Fell bedeckt e presta molto, war; (Dante, Commedia, Inferno, Canto I, 33 che di pel maculato era 14s.) coverta; Poscia ch’io ebbi il mio dottore udito nomar le donne antiche e’cavalieri, 72 pietà mi giunse, e fui quasi smarrito.
Als ich gehört hatte, wie mein gelehrter Führer die Damen und die Ritter alter Zeiten nannte, ergriff mich Mitleid, ich war wie von Sinnen. (Dante, Commedia, Inferno, Canto I, 81s.)
Tal mi fec’io, quai son color che stanno, per non intender ciò ch’è lor risposto, 60 quasi scornati, e risponder non sanno.
Mir wurde zumute wie Leuten, die, weil sie nicht verstehen, was man ihnen geantwortet hat, fast gedemütigt dastehen und nichts zu erwidern wissen. (Dante, Commedia, Inferno, Canto XIX, 287s.)
La concreata e perpetüa sete del deiforme regno cen portava 21 veloci quasi come ‘l ciel vedete.
Der uns mitgegebene unstillbare Durst nach dem gottgemäßen Reich hatte uns nun nahezu ebenso schnell nach oben gebracht, wie ihr euch den Himmel bewegt denken könnt. (Dante, Commedia, Paradiso, Canto II, 38s.)
Parev’ a me che nube ne coprisse lucida, spessa, solida e pulita, 33 quasi adamante che lo sol ferisse.
Mir kam es vor, als hüllte uns eine Wolke ein, leuchtend, dicht, fest und glatt, fast wie Diamant, auf den die Sonne fällt. (Dante, Commedia, Paradiso, Canto II, 40s.)
Beatrice mi guardò con li occhi pieni di faville d’amor così divini,
Beatrice sah mich an mit Augen, die voller Funken der Liebe waren und so göttlich, dass meine Augen es nicht aushielten und sich abwandten. Und schier verloren blickte
4.3 Lexikalische Konstruktionen
189
che, vinta, mia virtute diè ich zu Boden. (Dante, Commedia, Paradiso, le reni, Canto IV, 100s.) 142 e quasi mi perdei con li occhi chini. onde mei che dinanzi vidi poi; e quasi stupefatto domandai 81 d’un quarto lume ch’io vidi con noi.
Weshalb ich denn auch besser sah als vorher; und fast verdutzt nach einem vierten Lichte fragte, das ich bei uns wahrnahm. (Dante, Commedia, Paradiso, Canto XXIV, 568s.)
Così al viso mio s’affisar quelle anime fortunate tutte quante, 75 quasi obliando d’i re a farsi belle.
So hefteten all diese Glückseligen ihre Augen auf mich, ganz als vergäßen sie, dass sie sich doch läutern sollten. (Dante, Commedia, Purgatorio, Canto II, 36s.)
Im altspanischen CORDE-Korpus wird die Recherche dadurch erschwert, dass casi vor 1200 lediglich in der Bedeutung von ca si (‘denn, wenn p [Konjunktiv]’) belegt ist, wie das folgende Beispiel aus dem 12. Jahrhundert, sowie zudem exemplarisch auch das Beispiel aus dem 13. Jahrhundert, illustriert. (218) Ca si (≠casi p) Altsp. Esto ssea si la rrayz fuere [f. 57r] vinna oarboles, casi [i.e. ca si] fuere tierra & fuere senbrada, maguer non aparesça el fructo ala sazon de la muerte, parta se por meytad quando ende ujniere; et si non fuere sembrada & fuere baruecho, el que non anada enna heredat aya la meytad de las missiones que fueren fechas en el baruecho. (CORDE: Anónimo, c 1196, Fuero de Soria, España) Altsp. Si alguno testiguare vestido & el que lo touiere lo defendiere, diziendo que lo conpro cosido, & sobre esto prometiere dedar otor, trayalo a la çibdad, commo fuero es; casi [i.e. ca si] non lo fiziere, cayga del pleito; & si dixere que lo conpro de omne que non connoçie, jure el defendedor que lo conpro de non connoçido, & el que demanda otrosi quela aquella cosa quela non vendio, njn la dio, njn la presto, mas que la perdio por desauentura o por que gela furtaron, & el querelloso rreçiba su cosa; (CORDE: Anónimo, 1284–1295, Fuero de Cuenca, España)
190
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
‘Denn, wenn er es nicht machen würde, würde der Rechtsstreit fallen gelassen [. . .]’ Im 13. Jahrhundert findet sich im Altspanischen das erste Avertivbeispiel, bei welchem die Avertivbedeutung aus der skalaren Bedeutung inferiert wird. (219) Casi p Altsp. cual fue herido el D. Pero de un bien peligroso golpe. . . é llegó casi al paso de la muerte de aquella ferida. (CDE: Memoria sobre el Fuero de Madrid del año de 1202) Daneben ist die skalare Bedeutung analog zum Italienischen auch bereits in den frühen iberoromanischen Sprachen konventionalisiert. (220) Skalare Bedeutung von quasi/casi p Altsp. Como los testigos eran casi el único medio de prueba, es claro que no se podía omitir el gravar (CDE: Memoria sobre el Fuero de Madrid del año de 1202) Altsp. poblada en Madrid, caballos y armas, durando VII y VIII, tienen firmas casi borradas; entre los acuerdos posteriores hay unos firmados y otros no, aunque no (CDE: Memoria sobre el Fuero de Madrid del año de 1202) Altsp. para lo acorrer don pedro coronel / & los aragoneses commo quier que yuan ya casi vençidos / veyendo los nauarros estar detenjdos con ssu señor que se non ayudauan bolujeron (CDE: Castigos y documentos para bien vivir) Gl.-pg. ueer ë ela nada & que fosse daqueles que son chamados em latï costrensse uel quasi. costrensse peculium. secundo diz eno Titulo que fala do poder que am os (CDP: Afonso, Partida 3) Gl.-pg. aquelles enfermos da hoste d’Almançor, e matarõnos todos quantos acharom. E Almãçor ficou quasi soo de sua companha e foilhe forçado de se tornar a Cordova, a pesar (CDP: CIPM: CGEsp) Gl.-pg. el rey dõ Fernando en sua tenda con muy poucos cavaleiros e o arreal estava quasi soo con pouca gente, por que hûûs eram hidos en guarda das arracovas que (CDP: CIPM: CGEsp) Altkat. Encara és donada al logador acció salviana e no és donada a altre creedor. Encara és do nada al logador acció quasi salviana, so és ypothecària axí com a tot altre creedor. (CICA: Segle XIIIb, Costums de Tortosa, p. 379, lin.13)
4.3 Lexikalische Konstruktionen
191
Im katalanischen CICA-Korpus (Corpus digitalitzat del Català antic) ist quasi ebenfalls erst ab dem 13. Jahrhundert nachweisbar, wie die folgenden absoluten Daten illustrieren.129
300 280 260 240 220 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0
0.024 0.022 Freqüència Relativa
0.020 0.018 0.016 0.014 0.012 0.010 0.008 0.006 0.004 0.002
e gl Se
gl
e
XV
XV
Ib
Ia
b XV e Se
gl Se
gl Se
e
e
XI
XV a
Vb
Va XI
gl Se
gl Se
e
e
XI
XI
gl Se
gl
e
XI Se
e
IIb
IIa
IIb
Ia XI
gl Se
Se
gl
e
e gl Se
Se
gl
e
XI
XI
b
a
0.000
Freqüència Absoluta
quasi (Diacronia) 0.026
Abbildung 12: Absolute Frequenz von quasi im CICA.
Die frühesten Belege zum Ausdruck der kanonischen Negation zeigen sich in den altspanischen und altitalienischen Korpora des 13. Jahrhunderts. Im portugiesischen CDP-Korpus finden wir quase erst ab dem 15. Jahrhundert in Verbindung mit der Negationspartikel. (221) Quasi non p (¬¬p) Altit. ragione si è, che la troppa gran paura e disordinata costrigne l’uomo sì, che quasi elli non si può muovere: ché sì come l’uomo essendo in un campo, avendo (OVI: Egidio Romano, volg., 1288, sen., L. 1, pt. 3, cap. 6)
129 Die qualitative Untersuchung auf der Grundlage des CICA-Korpus illustriert die absolute Frequenz, sodass der jeweilige vermeintlich starke Frequenzabfall von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (mit 1.897.994 Token) zur ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (mit 742.595 Token) nicht zuletzt auf unterschiedliche Korpusgrößen in den Jahrhunderten (cf. Kapitel 7) zurückzuführen ist.
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Altit.
in quanto mi menava là ove tante donne mostravano le loro bellezze. [par. 2] Onde io, quasi non sappiendo a che io fossi menato, e fidandomi ne la persona la quale uno (OVI: Dante, Vita nuova, c. 1292–93, cap. 14 parr. 1–10) Altsp. y estrumentos dulçes tañendo y assi toda aquella noche casi no dormimos con aquellas aluardanerias. // (CDE: Juan de Mandavila, Libro de las maravillas del mundo, cap. 9 de la gran Babilonia)
Wie gezeigt worden ist, wird bei der lexikalischen Konstruktion quasi p ( Avertiv). Da die Inferenz der Imminenz bereits im Spätlateinischen gezogen werden kann, vollzieht sich zu den romanischen Sprachen keine größere Entwicklung. Die TAM-Entwicklung zeigt sich bereits im 13. Jahrhundert in dem für die Gegenwartssprachen prototypischen Präsens. Korpusbelege der kanonischen Negation quasi non p finden wir ebenfalls bereits ab dem 13. Jahrhundert.
130 Eine systematische Trennung des Avertivs (definiert als eine TAM-Kategorie mit den Merkmalen Imminenz, Vergangenheit und Kontrafaktizität) von der reinen Kontrafaktizität (modale Domäne), die im Gegensatz zum Avertiv nicht an die aspektuelle Phase der Imminenz gebunden ist, wird in den meisten Auslegungen allerdings (noch) nicht vorgenommen. Beispielsweise werden die von Schmidtke-Bode (2009) untersuchten lest-clauses als Avertivkonstruktionen bezeichnet, obwohl sie keine Imminenz ausdrücken und sich entsprechend lediglich die kontrafaktische Komponente mit dem Avertiv teilen.
4.3 Lexikalische Konstruktionen
193
Tabelle 33: TAM-Distribution in % von quasi p im CDE, CDP & CORIS (Stampa) im 20. Jahrhundert. Tempus
Sp. casi p
Pg. quase p
It. quasi p
,
,
,
Indikativ Imperfekt
,
,
,
Synthetisches Indikativ Perfekt
,
,
,
,
,
,
, ,
,
—
,
—
Indikativ Präsens
Synthetisches Konditional Analytisches Indikativ Plusquamperfekt -ra-Form (sp. Konjunktiv Imperfekt, pg. synthetisches Plusquamperfekt)
—
,
,
Infinitiv
—
,
,
Analytisches Indikativ Perfekt
Gerundium
—
,
—
Synthetisches Futur
—
—
,
Konjunktiv Imperfekt
—
—
,
Die diachrone Untersuchung belegt die eher schwache Grammatikalisierung der Avertivfunktion von quasi p gegenüber der eher stärker grammatikalisierten Avertivfunktion von per poco (non) p, die in der nachfolgenden Untersuchung gezeigt werden wird.
4.3.2 *Paucus > Avertiv Das Kapitel hat die Genese der in Kapitel 3.2.1 synchron untersuchten romanischen Avertivkonstruktionen per poco p, per poco non p (kanonische Negation) und per poco non p (expletive Negation) zum Gegenstand. Wie anhand der Kriterien in dem synchronen Teil dieser Arbeit aufgezeigt worden ist (cf. Kapitel 3.2.1), weisen die Konstruktionen im Italienischen und insbesondere in den iberoromanischen Sprachen einen stärkeren Grammatikalisierungsgrad auf, der sich in den Gegenwartssprachen insbesondere in der Kombination mit dem Indikativ Präsens und der Möglichkeit der kanonischen Negation zeigt.131
131 Die Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel im Sinne der kanonischen Negation (was on the verge of not taking place but did take place) wird in dieser Arbeit sowie in Schwellenbach (2009) als ein fortgeschritteneres Grammatikalisierungsstadium des Avertivs betrachtet.
194
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(222) Por poco p und por poco no p Sp. (a) Por poco me caigo. ‘Beinahe wäre ich gefallen.’ (b) Por poco no apruebo el examen. Kanonische Negation: ‘Beinahe hätte ich die Klausur nicht bestanden.’ (c) Por poco no me mato. Expletive Negation: ‘Beinahe hätte ich mich umgebracht.’ Die französischen Konstruktionen, wie u.a. pour un peu, un peu plus (‘es hätte nicht viel gefehlt’), pour peu que + subj. (‘wenn . . . auch nur’), selegieren hingegen noch eine die Kontrafaktizität unterstützenden TAM-Verbindung, wie den Konjunktiv, das Konditional oder das Imperfekt.132 (223) Un peu plus p, pour un peu p, pour peu que p Fr. (a) Un peu plus, je tombais. / Un peu plus et j’allais tomber.133 ‘Beinahe wäre ich gefallen.’ (b) Pour un peu je lui eusse dit la vérité. ‘Beinahe hätte ich ihm die Wahrheit gesagt.’ (c) Pour peu qu’il me fasse une démonstration, je le croirais. ‘Wenn er es mir vorführt, würde ich ihm glauben.’ Daneben sind die lexikalischen Formen, in denen die lexikalische Bedeutung der geringen Quantität ausgedrückt wird (in Beispiel a), von der grammatikalisierteren Avertivform (in Beispiel b) zu trennen: (224) Lexikalischer Gebrauch (a) vs. Avertivgebrauch (b) Sp. (a) Por poco que te duela, te quejas como un hipocondríaco. ‘Für so geringe Schmerzen, die du hast, beschwerst du dich (aber) wie ein Hypochonder.’ Polare Komponente: ‘Du hast Schmerzen.’ (*‘Du hast keine Schmerzen.’)
132 Insbesondere der conatu-Funktion (auch: imparfait d’imminence contrecarré) des Imperfekts wird die kontrafaktische Bedeutung in Konstruktionen, wie un peu plus, je tombais, bekanntlich bis dato zugeschrieben (cf. Kapitel 3.1.2). Zum imparfait d’imminence contrecarré in Verbindung mit Konstruktionen der geringen Quantität im Französischen sei verwiesen auf Berthonneau/Kleiber (2003). 133 Die Avertivbedeutung von diesem Beispiel wird traditionell der de conatu-Lesart des Impfekts (auch: «frustrierte Imminenz») zugeschrieben, die wir systematisch in Kapitel 3.1.2 behandelt haben.
4.3 Lexikalische Konstruktionen
195
(b) Por poco me caigo. ‘Beinahe wäre ich gefallen.’ Polare Komponente: ‘Ich bin nicht gefallen.’ (*‘Ich bin gefallen.’) Der für die diachrone Untersuchung relevante Ausgangspunkt im Lateinischen besteht in der ausschließlich lexikalischen Bedeutung der geringen Quantität (lat. paucus ‘wenig, gering, klein’), wie die folgenden Belege mit Substantiv illustrieren. (225) Per pauc* mit lexikalischer Bedeutung im Lateinischen (a) se iura magistratuum commutari, ne ex praetura et consulatu, ut semper, sed per paucos probati et electi in provincias mittantur; in se aetatis excusationem nihil (PHI Latin Texts: Gaius Iulius Caesar, Bellum Civile) (b) iusserit et quaestione qua se solutum liberumque esse arbitretur per paucos iudices astringatur. Agit enim sic causam T. Attius, adulescens bonus et disertus, omnis civis (PHI Latin Texts: Marcus Tullius Cicero, Pro Cluentio) (c) dosque ulli uiro acri experientique animus esset, possessio- nemque honoris usurpati modo a plebe per paucos annos reciperasse in perpetuum patres uiderentur. (PHI Latin Texts: Titus Livius, Ab Urbe Condita) Im Gegensatz zu der Entwicklung in den frühen romanischen Sprachen bleibt die Konstruktion auch im parallelen Mittellateinischen (ca. 9.–15. Jahrhundert) weiterhin konservativ und entwickelt keine Avertivkonstruktion. (226) Per pauc* im Mittellatein (a) Huiusmodi ergo reflexio quantum ad vim argumentandi, sive fiat per multa, sive per pauca, non differt. (LLT-A: Thomas de Aquino – In Aristotelis libros Posteriorum Analyticorum liber 1, lectio 8, numerus 6, lin. 19, p. 168, col. 2) (b) Aliter dicunt quidam, quod multa medicamina ad idem non superfluunt: quia citius sanitas per multa quam per pauca acquiritur. (LLTB: Albertus Magnus, c. 1250, – Commentarii in quartum librum Sententiarum distinctio 1 A, articulus 1, vol. 29, p. 5, col. 1, lin. 9) (c) 367. Ad aliud, quando arguitur quod ‘angelus quanto est superior, tanto est Deo propinquior (qui omnia per unum intelligit), igitur quanto superior, tanto per pauciora intelligit’, – dicendum quod est fallacia consequentis: (LLT-B: Lectura (prologus et libri I-III), Iohannes Duns Scotus, s. 13 p.C. Liber 2, Distinctio 3, Pars 2, De Cognitione Angelorum Quaestio 3: Utrum angelus ut cognoscat naturaliter quiditates alias a se, requiritur
196
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
quod habeat distinctas rationes et proprias quibus cognoscat eas V, Ad argumenta pro secunda opinione vol. 18, p. 352, lin. 4) (d) 410. Et per hoc patet ad illud argumentum quod factum est de ingeniosiore, quod cognoscit per pauciora etc.: falsum est, sed tot species habet cognoscibilium quot et tardior; tamen clarius per illud cognoscit obiecta et citius utitur eis, componendo hoc obiectum cum illo et discurrendo ab uno cognito ad aliud. (LLT-B: Ordinatio (prologus et libri I-III) – Iohannes Duns Scotus – s. 14 p.c., Liber 2, Distinctio 3, Pars 2, De Cognitione Angelorum Quaestio 3: Utrum ad hoc quod angelus distincte cognoscat quiditates creatas requiratur quod habeat distinctas rationes cognoscendi eas V, Ad argumenta pro secunda opinione vol. 7, p. 601, lin. 16) Die lexikalische Bedeutung der geringen Quantität wird zunächst in allen romanischen Sprachen übernommen (z.B. sard. pàgu/pàcu < altsard. pacu < lat. paucus, welches keine Avertivfunktion entwickelt) und bleibt auch nach der Entwicklung der Avertivkonstruktionen bestehen, was sich in der Polysemie der Form in den Gegenwartssprachen widerspiegelt. Die folgenden Beispiele aus dem Galicisch-Portugiesischen zeigen die lexikalische Bedeutung, die auf die anderen (insbesondere ibero-)romanischen Sprachen übertragbar sind. (227) Lexikalische Bedeutung per poucas/pouco im Galicisch-Portugiesischen Gl.-pg (a) ou aa cousa sobre que he a contëda e a sse de fazer çerta per poucas palauras. nõ auoluëdo muytas razõës ne hûû de maneira. (CDP: Afonso X, Tercera Partida) (b) Perdido por pouco, perdido por muito! Agora, não era possível volta (GMHP: Medievais, Aluísio Azevedo, A condessa Vésper) Sie wird bekanntlich auch in metaphorischer Übertragung der geringen Quantität auf das Zeit-Frame elliptisch (per poco [tempo] ‘seit kurzem [kurzer Zeit]’) gebraucht. (228) Per poco ‘seit kurzem’ 72 chè Guglielmo Borsiere, il qual si dole Con noi per poco e va là coi compagni, Assai ne cruccia con le sue parole.
hat uns doch Guglielmo Borsiere, der seit kurzem mit uns büßt und dort unter den Leidensgefährten geht, mit seinen Erzählungen sehr betrübt. (Dante, Commedia, Inferno, Canto XVI, 244s.)
4.3 Lexikalische Konstruktionen
197
Neben der lexikalischen Bedeutung, die sich bis in die Gegenwartssprachen erhält, findet sich allerdings bereits in der altokzitanischen Troubadourlyrik des 11. Jahrhunderts die Avertivbedeutung. Die Negationspartikel in Verbindung mit pauc ist im frühen Altokzitanischen obligatorisch, wie auch bereits Raynouard (1816–1821, vol. 1) feststellt.134 Die Avertivbedeutung von pauc in Verbindung mit der Negationspartikel wird anhand folgender Beispiele der altokzitanischen Troubadourlyrik, wie die des bekannten Guilhèm IX de Peitieus,135 illustriert. (229) Avertivbedeutung von per pauc no(n) p im Altokzitanischen (11.–12. Jahrhundert) (a) De Cataluenha e de Lombardia, From Catalonia and Lombardy, Quar a totz jorns pueja mos pretz And every day my merit rises and e creis; increases; Que per un pauc no mor And the king almost dies of envy, d’enveja·l·reis (Rosenberg/Switten/Le Vot 1998, (Peire Vidal, Baron, de mon dan 113) covit) (b) No sai cora·m fui endormitz, Je ne sais quand je m’endors Ni cora·m veill, s’om no m’o ditz; Ni quand m’éveille, sans avis; Per pauc no m’es lo cor partitz D’un peu mon coeur se briserait D’un dol corau: D’un mal cuisant: E no m’o pretz una fromitz, Et ça m’importe autant qu’un rien Per sant Marsau! Par saint Martial! (Guilhem, Farai un vers de dreit (Bernard 2013, 110) nien) (c) N’Agnes anet per l’enojos: Agnès fit venir ce fâcheux: Et fo granz, et ac loncz guinhos: Il était grand, fort moustachu; Et eu, can lo vi entre nos, Et moi, le voyant entre nous Aig n’espavent, J’en eus si peur, Qu’ab pauc no·n perdei la valor Que je perdais, peu s’en fallut, e l’ardiment. Fogue et ardeur. (Guilhem, Farai un vers, pos mi (Bernard 2013, 61) sonelh)
134 «On aura remarqué qu’après cette conjonction [i.e. pauc] le verb reçoit toujours la négation NO» (Raynouard 1816–1821, vol. 1, 396). 135 Zur Troubadourslyrik von Guilhem de Peitieus sei verwiesen auf Bec (2015).
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(d) Tant las fotei com auziretz: Cent e quatre vinz et ueit vetz,
Je les foutis, il faut me croire, Cent quatre-vingt-huit fois, tant que, Qu’a pauc no·i rompei mos corretz Pour un peu, je rompais ma bride e mos arnes; Et mon harnais; E no·us puesc dir los malavegz Je ne peux dire mon état tan gran m’en pres. Tant j’ai pris cher. (Guilhem, Farai un vers, pos mi (Bernard 2013, 63) sonelh)
(230) Avertivbedeutung von per pauc no(n) p im Altokzitanischen (12.–13. Jahrhundert) Altokzitanisch Französische Übersetzung Peu s’en faut que je d’aimer ne me lasse, AB PAUC ieu d’amar no m recre, Per enueg de lauzenjadors. Par ennui des médisants. (Arnaud de Marueil: Ab pauc, zitiert nach Raynouard 1816–1821, vol. 1, 395) Que m fan sufrir tan greu turmen, QU’A PAUC lo cor d’ir e d’esmai no m fen.
Qui me font souffrir tant grief tourment, Que peu s’en faut que le coeur de tristesse et d’émoi ne me fende. (Pons de Capduel: Ben sai, zitiert nach Raynouard 1816–1821, vol. 1, 396)
Im Altfranzösischen finden sich ebenfalls Beispiele der Imminenz und Avertivbedeutung mit expletiver Negation, wie die folgenden Beispiele aus Cligès illustrieren.136 (231) A po que ne p im Altfranzösischen des 12. Jahrhunderts Amors li a el cors anclose Die Liebe hat Tumult und Aufruhr Une tançon et une rage, in ihrem Herzen eingeschlossen, 880 Qui mout li troble son corage die es so schwer erschüttern Et qui si l’angoisse et und sie so quälen und martern, destraint, dass sie die ganze Nacht weint und Que tote nuit plore et se klagt und sich hin und
136 Es finden sich darüber hinaus auch diverse weitere Belege aus anderen altfranzösischen Werken, wie der Beleg «A pou que li cuers ne me faut» (Martin 1973, 279) aus dem Roman de Renart.
4.3 Lexikalische Konstruktionen
plaint Et se degiete et si tressaut, A po que li cuers ne li faut.137 Et mout se travaille et esforce Fenice qui l’ot demanter, Qu’ele le puisse conforter 6235 Ou de parole ou de regart. A po que li cuers ne li part
199
herwirft und zittert, dass ihr fast das Herz versagt. (Chrétien de Troyes, Cligès, 2008, 70s.) Und Fenice, die ihn klagen hört, strengt sich mächtig an und bemüht sich, ihn mit einem Wort oder einem Blick zu trösten. Das Leid, über das sie ihn klagen hört, hätte ihr fast das Herz gebrochen. (Chrétien de Troyes, Cligès, 2008, 340–343)
Des Weiteren zeigt sich sowohl im Altprovenzalischen als auch im Altfranzösischen die lexikalische Konstruktion per/po(u)r/par un peu/poi non p. Der folgende Beleg illustriert per un pou mit der Negationspartikel non im Altprovenzalischen des 13. Jahrhunderts. (232) Per un pou non p im Altprovenzalischen des 13. Jahrhunderts Quan vei les praz verdesir Wenn ich die Weisen grünen sehe und die et pareis la flor granea, Blume erblüht, dann sinne und denke ich adonques pens et consir nach über die Liebe, die (mir gegenüber) d’amors qu’ainsi mal agrea so undankbar ist, daß sie mich beinahe 5 per un pou non m’a tuea; getötet hätte; (Clara d’Anduza, Quan vei les praz verdesir, 68s.) Analog zum Altprovenzalischen findet sich im altfranzösischen Roman de la Rose die lexikalische Konstruktion par un poi que non p zum Ausdruck der Avertivbedeutung. (233) Par un poi que non p im Altfranzösischen des 13. Jahrhunderts Qu’ele est en si très grant torment denn er leidet so große Qualen und E a tel duel quant genz bien font hat solchen Schmerz, wenn Leute 264 Que par un poi qu’ele n’en font. Gutes tun, daß er fast daran zugrundegeht. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 90s.)
137 Zur Diachronie der Avertivkonstruktion von faillir cf. Kapitel 4.6.
200
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Diverse weitere lexikalische Varianten eines Ausdrucks des Mangels mit Negationspartikel lassen sich darüber hinaus aus dem NCA-Korpus anführen. (234) Varianten mit peu im altfranzösischen NCA-Korpus im 13. Jahrhundert (a) resaloit uns autres avant, si disoit aussi, et li autres aussi, sique il furent si iré durement qu il vaurrent les messages tous decauper, et sique pour un peu qu il ne les ochisent; et tantque li empereres et li haut homme de l ost i misent consel et plus bele concorde que il peurent, et qu il s en vinrent ariere ensanle en coustantinoble. (NCA: Robert de Clari, ca. 1216, La conquête de Constantinople) (b) se pasme desous son cheual si c a peu k il ne chiet aual mais li autre tenir le uont (NCA: Anonyme, Li chevaliers as deus espees, 1238, ed. Wendelin Forster, 1877) (c) k il nous a tous yy abatus a peu k il ne nous a rompus a nous et nos cheuaus les cols (NCA: Anonyme, ca. 1238, Li chevaliers as deus espees, ed. Wendelin Forster, 1877) (d) la desseure che me sanle peu faut ke je ne vous estranle (NCA: Adam le Bossu, 1276, Le jeu de la feuillée) (e) tel voiz et tex escroiz oirent que por peu qu il ne s enfoirent la celle fort resplendissoit (NCA: Péan Gâtineau, ca. 1285, La vie et les miracles de saint Martin) Konstruktionen, die auf einem Ausdruck der Nähe basieren und die proximale Komponente vor der polaren Komponente konventionalisieren, finden sich zahlreich im Roman de la Rose, wie die Konstruktion près que p (wörtl. ‘nahe, dass p’), die noch nicht zu presque (‘beinahe’, ‘fast’) grammatikalisiert ist und noch in Verbindung mit der Negationspartikel gebraucht wird.138
138 Zu presque im Gegenwartsfranzösischen cf. Kapitel 3.2.1.
4.3 Lexikalische Konstruktionen
201
(235) près que ne p im Altfranzösischen 10517 Pour cui mort ma mere ploura über dessen Tod weinte meine Tant que près qu’el ne s’acoura; Mutter so sehr, daß sie beinahe gestorben wäre; (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 588s.) Die diachron früher auftretende Konstruktion mit expletiver Negation per pauc no(n) p im Altokzitanischen (bes. im Altprovenzalischen) zeigt sich auch im Italienischen diachron früher als die Konstruktion mit kanonischer Negation. (236) Per poco non p im Altitalienischen des 13. Jahrhunderts (a) conquiso; / che fra dormentare / mi fa levare / e intrare / in sì gran foco / ca per poco / non m’aucido / de lo strido / ch’io ne gitto, / [. . . -etto] / [. . . -ete] / ch’io non (OVI: Giacomo da Lentini, c. 1230/50, tosc., 17, v.145) (b) Ahi Deo, che dolorosa / ragione aggio de dire, / che per poco partire / non fa meo cor, solo membrando d’ella! / Tant’è fort’ e angosciosa, / che (OVI: Guittone, Rime, ed. Contini, a. 1294, tosc., canz. 1, v. 3) (c) talento dire; / e non po dimostrare / la lingua mea com’è vostro lo core: / per poco non ven fore / a direve lo so coral desire. / Ed a ciò che ‘n servire / (OVI: Guittone, Rime, ed. Egidi, a. 1294, tosc., canz. 1, v.91) (d) vittoria di Francia; e per quello triunfo brigidò lo scudo di suo cuore, e per poco che egli non cade giuso. E là dove egli montò a Campidoglio vi furono XX (OVI: Fatti di Cesare, XIII ex., sen., L. 7, cap. 37) (e) d’amore, / che non dovessi molto rallegrarti, / veggendo lei, che fa maravigliarti / sì, che per poco non ti fa perire / gli spiriti amorosi ne lo core. / (OVI: Cecco Angiolieri, XIII ex., sen., D. 127, v.13) Das obligatorische Auftreten mit der Negationspartikel zum Ausdruck der Avertivbedeutung lässt uns die bereits von Bordería/Schwenter (2005) für das Spanische theoretisch postulierte Alternativhypothese (i.e. proximale Komponente wird vor polarer Komponente konventionalisiert, indem die vermeintlich als «expletiv» bezeichnete Negationspartikel noch obligatorisch zum Ausdruck der polaren Komponente ¬p benötigt wird) annehmen, die Bordería/Schwenter (2005) allerdings aufgrund mangelnder Belege im Altspanischen zugunsten der Nullhypothese (i.e. proximale und polare Komponente treten in den ersten Belegen gleichzeitig auf) verwerfen mussten. Das für die Verifizierung der Alternativhypothese im Spanischen konsultierte CORDE-Korpus (mit Texten seit Beginn erster Sprachzeugnisse) führt allerdings die frühesten Belege aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Form beider
202
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Alternativen (i.e. sowohl mit expletiver Negation als auch ohne Negationspartikel) auf. Für das Spanische ist das frühere Auftreten von por poco no p (mit expletiver Negation) diachron vor por poco p zumindest anhand des CORDE-Korpus, analog zu Bordería/Schwenter (2005), in der Tat nicht verifizierbar. Die beiden frühesten Belege zu Beginn des 13. Jahrhunderts zeigen sowohl die Konstruktion por poco p, die bereits in Verbindung mit der -ra-TAM-Markierung beide Komponenten ausdrückt, als auch die in Verbindung mit dem Indikativ Perfekt gebrauchte Konstruktion por poco no p mit expletiver Negation.139 Beide Konstruktionen, por poco p und por poco no p, weisen in der Verbindung die Avertivlesart prototypisch triggernden Achievements140 auf. (237) Früheste Avertivbeispiele im altspanischen CORDE (a) «E yo sali por to enemigo, e por poco matara a ti e dexara a ella bevir». Dixo Balaam al angel: «Pequé que non sop * si estavas en my (cuerpo) encuentro en la via; e si te es grief, tornarmé». Dixol el angel a Balaam: «Ve con estos barones e lo que yo mandaré * eso faz» (CORDE: Almerich, c 1200–1210, La fazienda de Ultra Mar, España) (b) La mja senor se ua priuado, dexa a mj desconortado. (q)que la ui fuera del uerto por (por) poco non fuy muerto. por uerdat quisieram ’adormir mas una palomela ui. (CORDE: Anónimo, c 1205–1250, Razón de amor, España) Zuvor finden sich ausschließlich lexikalische Beispiele der geringen Quantität, wie exemplarisch die folgenden Belege aus dem CORDE illustrieren. (238) Lexikalische Beispiele im Altspanischen (a) Los moros llaman – ¡Mafómat! – e los cristianos, – ¡Santi Yagüe! – Cayén en un poco de logar moros muertos mill e trezientos ya. (CORDE: Anónimo, 1140, Poema de Mio Cid) ‘Die Mauren rufen «Mafómat!» und die Christen «Santi Yagüe!» In kurzer Zeit fielen von den Mauren bereits tausenddreihuntert.’
139 Nachfolgende Arbeiten werden daher zur Verifizierung ein größeres Korpus früherer altspanischer Texte (vor 1200) heranziehen müssen, von deren Erstellung in dieser Arbeit aus Platzgründen abgesehen wird. 140 Cf. Kapitel 3.2.1.
4.3 Lexikalische Konstruktionen
203
(b) e aduxiéssenle a Bavieca (poco avíe que l’ ganara, [. . .] (CORDE: Anónimo, 1140, Poema de Mio Cid) ‘und dass man ihm Bavieca vorführte; vor kurzem erst hatte er es erbeutet.’ (c) á poco que viniestes, presend vos quieren dar (CORDE: Anónimo, 1140, Poema de Mio Cid) ‘Kaum seid Ihr angekommen, will man Euch ein Geschenk machen.’ Analog zum Altspanischen zeigt sich bei unserer Untersuchung des GalicischPortugiesischen auf der Grundlage der Korpora CDP (Corpus do Português), GMHP (Grupo de Morfologia Histórica do Português) und des Corpus Xelmírez (Corpus Xelmírez – Corpus lingüístico da Galicia medieval) ebenfalls die Koexistenz beider Konstruktionen. Während sich in dem Korpus Medievais der GMHP lediglich ein einziges Beispiel in Avertivbedeutung vor 1300 findet, welches per pouco p (> pg. por pouco p) mit dem Indikativ Perfekt (PPS) belegt (Beispiel a), finden wir hingegen im Corpus Xelmírez ebenfalls lediglich die Konstruktion als Hapax, allerdings in Form der Konstruktion mit expletiver Negation (b). (239) Früheste Avertivbeispiele im Galicisch-Portugiesischen (a) e pois que beveu do v~yo, atan ferament’ inchou e creceu-lle tant’ o ventre, que per pouco rebentou, que semellava cavalo que comera muito bren. O cativo mui cuitado foi quando se viu assi estar, e a seus parentes rogou-lles que fossen y con ele aa ygreja; e, segund’ eu aprendi, (GMHP: Cantigas de Santa Maria, c. 1221–1284) (b) Os castelãos, quando souberõ que o conde era preso, forõ tã desconfortados et tã malandantes que per pouco nõ perderõ os sisos cõ o pesar que ende ouuerõ, et fezerõ tã gram doo per toda Castela que mayor nõ poderiã fazer. (Corpus Xelmírez: 1295 TC 1/ 126) Demzufolge wäre eine größere Sammlung mit Texten vor 1200 sowohl für das Spanische als auch für das Portugiesische zur Verifizierung der These vonnöten, wenn man nicht auf die zumindest theoretisch naheliegende Entlehnung der frühen Konstruktion mit expletiver Negation aus den oben angeführten Beispielen des Altprovenzalischen (altprov. Per pauc no m’es lo cor partitz) spekulieren möchte. Auf der Grundlage der vorliegenden Belege von altsp. por poco p und gl.-pg. por pouco p in den frühesten Texten des Corpus del Español (Texte ab 1200) und des Corpus do Português (Texte ab 1300), muss (zumindest
204
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
aus korpusbasierter Perspektive) die Nullhypothese (i.e. gleichzeitiges Auftreten von por poco p und der Konstruktion mit expletiver Negation, por poco no p) angenommen werden. Wie ist hingegen die Koexistenz zweier unterschiedlicher Konstruktionen, por poco no p (expletive Negation) mit dem Indikativ Perfekt und por poco p mit der oftmals die Kontrafaktizität ausdrückenden -ra-Form zu erklären, wenn nicht als Entlehnung aus dem Altprovenzalischen, bei der man die Gewissheit der vorangegangenen Konstruktion mit expletiver Negation hätte? Hinsichtlich der Genese der spanischen Periphrase por poco no p mit expletiver Negation wurde auch der Vorläufer mit der im Konsekutivsatz stehenden Negationspartikel, por poco fue que no p, vermutet. Pons Bordería/Schwenter (2005, 146) verwerfen allerdings zurecht die Idee des Ursprung der Konstruktion mit expletiver Negation aus der Form por poco fue que no p aufgrund mangelnder Belege im CORDE-Korpus. Asimismo, podría pensarse que la construcción por poco no deriva, diacrónicamente, de la secuencia por poco fue que no(n) p (comentario de Rosa Espinosa y Carlos Sánchez). Sin embargo, la escasa frecuencia de este tipo de construcciones (5 casos para el periodo entre 1205 y 1500) nos hace suponer que la forma actual no evoluciona a partir de dicha construcción (Bordería/Schwenter 2005, 146).
Im CDE finden sich von den 46 Konstruktionen mit expletiver Negation aus dem 13. Jahrhundert ebenfalls lediglich 7 Belege der Form por poco fue que no p, sodass für die Verifizierung der Alternativhypothese zur Entstehung der Konstruktion mit expletiver Negation aus por poco fue que no p auf frühere (vor 1200) und umfangreichere Texte zurückgegriffen werden müsste. In den früheren Texten vor 1200 finden sich zumindest im CORDE-Korpus keine Belege, sodass auch an dieser Stelle die Nullhypothese angenommen werden muss. Im Gegensatz zu Bordería/ Schwenter (2005), die 5 Beispiele zwischen 1205 und 1500 finden, finden wir in diesem Zeitraum im CORDE-Korpus sogar die folgenden 10 Belege der Form por poco fue que no(n) p, bei der wir entsprechend auch por poco fue que/qu’ [NP] no (n) p und por poco fue [NP] que no(n) p einbeziehen. (240) Por poco fue que no p im CORDE vor 1500 (a) quemó todos los libros e los paños sagrados, por poco fue los monges que non foron quemados. (CORDE: Berceo, 1246–1252, Los Milagros de Nuestra Señora) (b) que dieron salto [en e]llos. & por poco fue que los non ou[iera]n maltrechos. (CORDE: Alfonso X, 1270–1284, Estoria de España, II) (c) & por poco fue que se non començo alli aquella ora bata (CORDE: Alfonso X, 1275, General Estoria. Segunda parte)
4.3 Lexikalische Konstruktionen
205
(d) contra Eualeo, se tiro vn poco del traues & por poco fue qu’el no tallase con la spada la mano si (CORDE: Fernández de Heredia, Juan, 1379–1384, Traduccción de Vidas paralelas de Plutarco, I) (e) qui fueron assitiados en el Capitolio – los quales por poco fue que no muriessen por fambre – reçibian a (CORDE: Fernández de Heredia, Juan, 1379–1384, Traduccción de Vidas paralelas de Plutarco, III) (f) ieron después d’ellos otros que dezían que Appius por poco fue que non lo mataron, e ue él se era ydo (CORDE: López de Ayala, Pero, 1400, Taducción de las Décadas de Tito Livio) (g) «[. . .] presa o deste robo de los enemigos, de los quales por poco fue que vosotros non fuestes su presa». (CORDE: López de Ayala, Pero, 1400, Taducción de las Décadas de Tito Livio) (h) ue perezosa, e los fizo tornar a sus casas. Mas por poco fue que el dicho senado non envió vergoñosam (CORDE: López de Ayala, Pero, 1400, Taducción de las Décadas de Tito Livio) (i) nsañaron un poco a cada uno dellos, en manera que por poco fue que los mensageros de los romanos non fu (CORDE: López de Ayala, Pero, 1400, Taducción de las Décadas de Tito Livio) (j) públicos consejos, la sentencia de Apius venció, e por poco fue qu’él mesmo non fue fecho dictador; (CORDE: López de Ayala, Pero, 1400, Taducción de las Décadas de Tito Livio) Eine verstärktere Fügungsenge betrifft die Form sp. por poco que + no p, it. per poco che + non p, fr. por peu que + ne p, etc. mit (vermeintlich) expletiver Negation im Konsekutivsatz zum Ausdruck der Avertivbedeutung. Die Konstruktion steht entsprechend bereits im Indikativ, zumal die polare Komponente in Verbindung mit der Negationspartikel ausgedrückt wird, wie die Belege aus dem 13. Jahrhundert des Altitalienischen, Altspanischen und Altfranzösischen illustrieren. (241) Per poco che non p (expletive Negation) Altit. llato del corpo dela reina Y., lo re Marco che tanto è dolente che per poco che non muore di duolo, fece prendere amendue li corpi e portare infino a Tintoil; (OVI: Tristano Riccardiano, XIII ex., tosc.) Altsp. Sus parientes, cuand’la veién, por poco que se non murién. Non preçiaba su castigamiento más que si fuesse hun viento. (CORDE: Anónimo, ca. 1215, Vida de Santa María Egipcíaca, España)
206
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Afrz.
tel voiz et tex escroiz oirent que por peu qu il ne s enfoirent la celle fort resplendissoit (NCA: Péan Gâtineau, ca. 1285, La vie et les miracles de saint Martin)
Zudem finden sich analoge Formen zu por poco fue que p in der Form por poco V [Indikativ] que no V [Indikativ/Konjunktiv Imperfekt]. (242) Por poco V (Ind.) que no V (Ind./Subj.) Altsp. si no con grand trabaio, pero es tan liuiana; que por poco fica que no anda entre dos aguas. (CORDE: Alfonso X, c 1250) Altsp. assi por poco finco qu’el no pareçiese & fuesse en fundo;** (CORDE: Juan Fernández de Heredia, 1379–1384, Traduccción de Vidas paralelas de Plutarco, I) Altsp. en tanto que por poco finco que aquello no fuesse total destruccio ** (CORDE: Juan Fernández de Heredia, 1379–1384, Traduccción de Vidas paralelas de Plutarco, I) Altsp. gent de Ytalia se aiustaron contra los romanos & por poco finco que no conturbassen la senyoria de los ** (CORDE: Juan Fernández de Heredia, 1379–1384) Es wird in Anlehnung an Bordería/Schwenter (2005) ebenfalls davon ausgegangen, dass die Negationspartikel bei der Entstehung der polaren Komponente des Avertivausdrucks von por poco p im Indikativ nicht «expletiv» ist, sondern die noch nicht konventionalisierte kontrafaktische Bedeutung explizit machen muss. Um jedoch eine unterschiedliche Entwicklung zwischen por poco VP und der Konstruktion mit expletiver Negation, por poco no VP, zu ergründen, ist die diachrone Untersuchung des TAM-Morphems der VP unerlässlich. Diesbezüglich zeigen Pons Bordería/Schwenter (2005) für das Spanische, dass por poco die Kontrafaktizität (bzw. die polare Komponente) zwischen 1200 und 1500 mithilfe der -ra-Form ausdrückt (die von ihnen allerdings gänzlich als imperfecto de subjuntivo bezeichnet wird!), während die Konstruktion mit «expletiver» Negation bereits mit Indikativ stehen kann, zumal die Negationspartikel die polare Komponente noch explizit ausdrücke und in diesem Sinne im Altspanischen nicht tatsächlich expletiv sei. el imperfecto de subjuntivo, como forma que implica la contrafactualidad, presenta la situación descrita en la proposición p de por poco p como algo no situado en el mundo real, sino en un mundo alternativo, y que no adquiere, por tanto, carta de naturaleza (es decir, está en un dominio contrafactual). Por el contrario, el modo indicativo, tal
4.3 Lexikalische Konstruktionen
207
y como aparece asociado a los primeros ejemplos de por poco no p, presenta lo descrito en p como algo situado en el dominio de lo factual, cercano a lo real, aunque no haya llegado a suceder (Bordería/Schwenter 2005, 155s.).
Wie der Untersuchung von Pons Bordería/Schwenter (2005) in Tabelle 34 zu entnehmen ist, steht por poco p in den 14 Beispielen zwischen den Jahren 1200 und 1500 mit einer Ausnahme stets in Verbindung mit dem imperfecto de subjuntivo [i.e. der -ra-Form, die im 13. Jahrhundert auch noch gelegentlich als Plusquamperfekt fungiert], während die Konstruktion mit expletiver Negation por poco no p im presente de indicativo auftritt und von den 41 Beispielen nur zweimal im imperfecto de subjuntivo [i.e. der -ra-Form] belegt ist.141 Tabelle 34: Relación entre tipo de construcción e imperfecto de subjuntivo, hasta 1900 (Bordería/Schwenter 2005, 153). –
–
–
Por poco p [Apr. + ~] p = ~p
/
/
/
Por poco no p [Apr.] + ~p = ~p
/
/
/
Um welche Form des imperfecto de subjuntivo es sich allerdings bei den Ergebnissen handelt, wird nicht näher spezifiziert. Es gilt den TAM-Wandel der -raForm (Bsp. cantara) im Spanischen zu berücksichtigen, die bekanntlich aus dem Indikativ Plusquamperfekt (lat. CANTAVERAM) im Altspanischen bis zur 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts auch noch das Indikativ Plusquamperfekt ausdrückt, als Variante des Indefinido mit Aorist-Funktion fungiert, bevor es bekanntlich zu der Entwicklung irrealer Lesarten und den Moduswandel zum Konjunktiv Imperfekt vollzieht.142 Eine zum Spanischen analoge Affinität von por poco zur -ra-Form zeigt sich im Portugiesischen, bei dem die -ra-Form zwar bekanntlich keinen vollständigen Moduswechsel (Indikativ > Konjunktiv) vollzieht, allerdings zum Altspanischen analoge irreale Lesarten des Indikativ Plusquamperfekt auch im Galicisch-Portugiesischen auszudrücken vermag:
141 Die jeweils zweite Zahl in Tabelle 4 bezieht sich auf die Anzahl der in diesem Zeitraum gefundenen Beispiele der betreffenden Konstruktion, die erste Zahl auf die von ihnen im imperfecto de subjuntivo stehenden Fälle. 142 Zur Entwicklung der -ra-Form im Spanischen sei u.a. auf Luquet (1988), Veiga (1996) und Becker (2008a) verwiesen.
208
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Während por pouco p im CDP im 14. Jahrhundert zu 93,33% (14 / 15) mit der -ra-Form (i.e. Indikativ Plusquamperfekt) gebildet wird, ist die Konstruktion mit expletiver Negation, por pouco não p, zu 85,71% (6 / 7) im PPS belegt. Tabelle 35: Por pouco VP (-ra-Form) und por poco não VP (PPS) im 14. Jahrhundert im CDP. Por pouco p (-ra-Form) in / Belegen
Por pouco não p (PPS) in / Belegen
per pouco ouvera de seer morto
e per pouco nõ foy preso,
per pouco ouueran todos a sseer desbaratados
et per pouco nõ foy morto.
tã mal que, per pouco, perdera a ujda
que per pouco nõ perdeu o ssiso
et per pouco as ouuera // de cõprar
tã malchagado que, per pouco, nõ ficou
per pouco Éytor ouuera a yr en terra
et per pouco sse ouuera de matar
et per pouco sse ouuera de matar
per pouco ensandeçera
que per pouco ouuera de morrer
que, per pouco, o ouuera a derribar en terra
morto,
tã grã coyta que por pouco nõ perdeu
et deu hûa grã ferida a Éytor ëno rrostro, que, per poucas, o nõ matou.
et, per poucas, que nõ pereçera ëno mar
o ssyso;
et, per pouco, ouuera de seer a uingança feyta Et, per pouco se tornara, que per pouco se leuantara entre eles grã peleia. era que, per pouco, o cõmeçara. Mays et tã aqueixado foy daquela ferida Menelao que, per poucas, ouuo a caer do caualo
por poco tritt sowohl im Galicisch-Portugiesischen als auch im Altspanischen wiederholt mit der HABERE-Periphrase, insbesondere in der -ra-Form oviera (de/a) + Inf. auf, die wir in Kapitel 4.4 diachron gesamtromanisch untersuchen. Die Verbalperiphrase oviera (de/a) + Inf. drückt im Altspanischen die Avertivbedeutung aus.143
143 Cf. die Hinweise bei Strausbaugh (1936), die Hinweise zur acción inminente frustrada nach Yllera (1980, 158ss.) bzw. die Hinweise zum gramema de conato nach Bellosta von Colbe (2001b, 152–155).
4.3 Lexikalische Konstruktionen
209
(243) Por poco ouiera (de/a) + Inf. Altsp. (a) e con la grand saña que auia ouiera por poco perder el seso. (Troy 10, 28–9, zitiert nach Yllera 1980, 159) (b) E syn falla, tan grande fue el pesar que Archelao ouo por el, que por poco se ouiera a matar con la su lanςa mesma. (Troy 6, 9–11, zitiert nach Yllera 1980, 159) (c) Ouo tan gran pesar e tant grant coyta, que por poco se ouiera de morir aquella ora. (Troy 100, 12–3, zitiert nach Yllera 1980, 159.) (d) por poco ouiera de morir de coyta. (Troy 128, 6, zitiert nach Yllera 1980, 159.) (e) asy que por poco ouiera de perder el cuerpo. (Troy 201, 19, zitiert nach Yllera 1980, 159) Allerdings gilt es zu beachten, dass es sich in den frühen altspanischen Texten bis Mitte des 13. Jahrhunderts noch um das Indikativ Plusquamperfekt handeln kann, zumal die obigen Beispiele (cf. Tempora von por pouco VP und por poco não VP im 14. Jahrhundert im CDP) aus dem Portugiesischen ebenfalls einen im 14. Jahrhundert sogar ausschließlichen Gebrauch mit der -ra-Form aufweisen, die im Portugiesischen ein synthetisches Indikativ Plusquamperfekt (Mais-queperfeito simples) konserviert. Im Folgenden wird die TAM-Markierung der VP von por po(u)co p und por po(u)co p im Spanischen und Portugiesischen auf der Grundlage der Korpora Corpus del Español (CDE) und Corpus do Português (CDP) von Mark Davies sprachvergleichend untersucht. Die nachfolgenden TAM-Untersuchungen auf der Grundlage des CDE-Korpus illustrieren die unterschiedliche Entwicklung von por poco p und der Konstruktion mit expletiver Negation, por poco no p, vom 13. bis 20. Jahrhundert. Bis zum 17. Jahrhundert überwiegt in der spanischen Konstruktion por poco p der Gebrauch in der -ra-Form. Im 13. Jahrhundert sind 47,06%, im 14. Jahrhundert 52,63%, im 15. Jahrhundert 50% und im 16. Jahrhundert 68,09% der CDE-Belege von por poco p in der -ra-Form belegt. Im Gegensatz zu dem dominanten Gebrauch von por poco p in der -ra-Form wird die Konstruktion mit expletiver Negation por poco no p bereits zu Beginn überwiegend in dem pretérito perfecto simple realisiert. Wie Tabelle 36 (Seite 210) illustriert, wird por poco no p im pretérito perfecto simple mit 58,7% der CDE-Belege im 13. Jahrhundert, 60% im 14. Jahrhundert, 100% im 15. Jahrhundert und 75% der CDE-Belege im 16. Jahrhundert gebraucht.
/ / /
-- /
/
/
/
/
/
Indefinido
Imperfecto de indicativo
Imperfecto de subjuntivo (-se-Form)
Presente de indicativo
Condicional simple
---
---
---
---
---
---
Presente de subjuntivo
Futuro de subjuntivo
Pretérito perfecto compuesto
Futuro de indicativo
Pluscuamperfecto de subjuntivo
Pretérito perfecto de subjuntivo
---
/
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---
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/
/
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/
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/ (%)
/
. Jh.
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/ (,%)
/
. Jh.
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/
/
/
/
/ (,%)
. Jh.
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/ (%)
. Jh
Por poco p
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---
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/ (,%)
/ (,%)
-ra-Form
. Jh.
. Jh.
CDE
Tabelle 36: TAM-Distribution von por poco VP und por poco no VP im CDE (1200–1599).
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/ (%)
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. Jh.
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/
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/ (%)
/
. Jh.
Por poco no p (expletiv)
210 4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
/ / ---
/ / / /
--/ /
/ (,%) /
Indefinido
-----
---- /
Pretérito perfecto compuesto
Pluscuamperfecto de subjuntivo
Futuro de indicativo
---
---
Pluscuamperfecto de indicativo
---
---
Imperfecto de indicativo
/
---
/ (,%)
---
---
/
---
/
-ra-Form
/
/
Presente de indicativo
. Jh.
/
. Jh.
. Jh.
Por poco p . Jh.
CDE
Tabelle 37: TAM-Distribution von por poco VP und por poco no VP im CDE (1600–1999).
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. Jh.
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. Jh.
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. Jh.
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/
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/
. Jh.
Por poco no p (expletiv)
4.3 Lexikalische Konstruktionen
211
212
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Während im 17. Jahrhundert por poco p mit 82,5% der CDE-Belege noch überwiegend in der -ra-Form belegt ist, wird der Gebrauch in der -ra-Form ab dem 18. Jahrhundert nahezu vollständig zugunsten des presente de indicativo abgebaut. Darüber hinaus wird auch der Gebrauch der Konstruktion mit expletiver Negation por poco no p im indefinido (PPS) zunehmend durch das presente abgelöst (cf. Tabelle 37, Seite 211). In sprachvergleichender Perspektive zeigt sich analog ein signifikantes Auftreten von 93,33% (14 / 15 Belegen) der portugiesischen Konstruktion por pouco p in der -ra-Form (Mais-que-perfeito simples) in den CDP-Belegen des 14. Jahrhundert, welches entsprechend auf die modalen (kontrafaktischen) Verwendungen des Indikativ Plusquamperfekts zurückgeführt werden kann.144 Im Gegensatz zu dem dominanten Gebrauch von por poco p in der -ra-Form wird, analog zum Spanischen, die Konstruktion mit expletiver Negation por poco no p bereits zu Beginn überwiegend (i.e. mit 6 von 7 CDP-Belegen) in dem pretérito perfeito simples realisiert, wie Tabelle 38 ilustriert. Tabelle 38: TAM-Distribution von por pouco VP und por pouco não VP im CDP (1300–1699). CDP
Por pouco p . Jh.
. Jh.
/
---
/
---
Imperfeito do indicativo
---
/
Imperfeito do subjuntivo (-se-Form)
---
Futuro do indicativo
---
-ra-Form PPS
Por pouco não p (expletiv)
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
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/
/
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/
/
/
/
/
/
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/
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/
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---
In dem 19. Jahrhundert ist der Gebrauch von por pouco p und por pouco não p in dem presente, zumindest anhand der geringen Gesamtbelege des CDP-Korpus, gut belegt (cf. Tabelle 39, Seite 213).145
144 Im Gegensatz zu den Belegen des 14. Jahrhunderts, sind die CDP-Gesamtbelege von por poco p im 15.–17. Jahrhundert zu gering, um signifikante Aussagen über die TAM-Distribution machen zu können. 145 Auch die Gesamtbelege des 18. Jahrhunderts sind für signifikante Aussagen über die TAMDistribution zu gering.
213
4.3 Lexikalische Konstruktionen
Tabelle 39: TAM-Distribution von por pouco VP und por pouco não VP im CDP (1700–1999). CDP
Por pouco p . Jh.
. Jh.
Presente
---
-ra-Form
---
Por pouco não p (expletiv) . Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
/
---
---
/
---
/
/
---
/
---
/
/
/
---
/
/
Imperfeito
---
/
/
---
/
/
Mais-que-perfeito composto do indicativo
---
---
---
---
/
---
Mais-que-perfeito composto do subjuntivo
---
/
---
---
---
---
PPS
Im 20. Jahrhundert hat sich die in Kapitel 3.2.1 untersuchte TAM-Distribution im Italienischen (cf. Tabelle 40), Spanischen (cf. Tabelle 41, Seite 214) und Portugiesischen (cf. Tabelle 42, Seite 214) herausgebildet.
Tabelle 40: TAM-Distribution von per poco (non) p im Subcorpus Stampa des CORIS (1900–1999). Italienisch Per poco p
Tempus Passato prossimo
% ( / )
Passato remoto
% ( / )
Indicativo presente Indicativo imperfetto
Per poco non p
% (Belege)
,% ( / ) ,% ( / )
Condizionale presente
,% ( / )
Gerundio
,% ( / )
Condizionale passato
,% ( / )
Indicativo presente
,% ( / )
Indicativo imperfetto
,% ( / )
Passato remoto
,% ( / )
Passato prossimo
,% ( / )
214
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 41: TAM-Distribution von por poco (no) p im CDE (1900–1999). Spanisch
Tempus
Por poco p
Presente
Por poco no p (¬p)
Por poco no p (¬¬p)
% (Belege) ,% ( / )
Pluscuamperfecto
,% ( / )
Indefinido
,% ( / )
Imperfecto
,% ( / )
Presente
,%
( / )
Futuro
,%
( / )
%
( / )
Presente
Tabelle 42: TAM-Distribution von por pouco (não) p im CDP (1900–1999). Portugiesisch
Tempus
Por pouco p
Pret. perfeito simple Imperfeito Mais-que-perfeito simples (-ra)
Por pouco não p (¬p)
Por pouco não p (¬¬p)
% (Belege) ,% ( / ) % ( / ) ,% ( / )
Pret. perfeito simple
,% ( / )
Presente (ind.)
,% ( / )
Imperfeito
,% ( / ) %
( / )
Imperfeito
,%
( / )
Mais-que-perfeito simples (-ra)
,%
( / )
Pret. perfeito simple
Wie Pons Bordería/Schwenter (2005) für das Spanische aufzeigen, entwickelt sich die Möglichkeit einer kanonischen Negation von por poco no p (¬¬p) erst nach der expletiven Negation von por poco no p (¬p). Im CORDE-Korpus ist die kanonische Negation von por poco no p (¬¬p) erst ab dem Jahre 1605 datiert. Dass sich die kanonische Konstruktion auch in sprachvergleichender Perspektive erst nach der Konstruktion mit expletiver Negation, por poco no p (¬p), entwickelt, wird im Folgenden auch für die anderen romanischen Sprachen korpusbasiert illustriert. Für das Spanische wird das CDE-Korpus konsultiert, anhand dessen wir sowohl die These zur Entstehung der expletiven Negation
4.3 Lexikalische Konstruktionen
215
(por poco no p ╞ ¬p) vor der kanonischen Negation (por poco no p ╞ ¬¬p) als auch die These zum gemeinsamen Auftreten von por poco p und der Konstruktion mit expletiver Negation, por poco no p, in den ersten Korpusbelegen von Bordería/Schwenter (2005) verifizieren. Tabelle 43: Diachronie von por poco (no) p im CDE (1200–1999). CDE
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
Por [poco] / / / / (Lexikalisch)
. Jh.
/
/
Por poco no / / p expletiv (¬p)
/
/
/
/ /
Por poco no p kanonisch (¬¬p)
/
/
. Jh.
. Jh.
/ / / /
/ /
Por poco p (¬p)
. Jh.
/
/
/ /
/
/ /
/
/
/
/
Das lediglich marginale Auftreten mit kanonischer Negation im CDE-Korpus erschwert allerdings die sowohl qualitative als auch quantitative Untersuchung, zumal die ersten Belege mit kanonischer Negation im CDE erst im 19. Jahrhundert auftreten, während sie im CORDE-Korpus bereits im 17. Jahrhundert belegt sind. Im 20. Jahrhundert ist die Konstruktion mit kanonischer Negation zwar in dem CDE-Korpus nur einmal belegt, aber in zahlreichen Beispielen anderer Zeitungskorpora auffindbar, für die exemplarisch lediglich ein Beispiel angeführt wird. (244) Kanonische Negation von por poco no p (¬¬p) Sp. Hablando de su ahijada, por poco no nos permiten bautizarla porque nos tocó en suerte un juez terco que insistía en que el poder no era válido para el caso, sin embargo mi mujer, con su dulzura lo convenció – le contó Jacinto. (CREA: Cristina Bain, 1993, El dolor de la Ceiba. Novela latinoamericana, Colombia) ‘Sie hätten uns beinahe nicht erlaubt, sie zu taufen.’ 146 Im CORDE ist die Konstruktion mit kanonischer Negationspartikel (por poco no p → ¬¬p) bereits ab dem Jahre 1605 datiert, wie bereits Bordería/Schwenter (2005) gezeigt haben.
216
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Unsere analoge Untersuchung des Portugiesischen auf der Grundlage des Corpus do Português zeigt anhand der in Tabelle 44 illustrierten Daten ebenfalls, dass sich analog zum Spanischen auch die kanonische Negation von pg. por pouco não p (¬¬p) erst nach der expletiven Negation von pg. por pouco não p (¬p) entwickelt. Analog zum Spanischen und den anderen romanischen Sprachen, ist die Konstruktion mit expletiver Negation auch im Portugiesischen bereits in den frühesten Texten des Corpus do Português zu finden.
Tabelle 44: Diachronie von por pouco (não) p im CDP (1300–1999). CDP
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
Por pouco p (Lexikalisch)
/
/
/
/
/
/
/
Por pouco p (¬p)
/
/
/
/
/
/
/
Por pouco não p expletiv (¬p)
/
/
/
/
/
/
/
Por poco não p kanonisch (¬¬p)
/
/
/
/
/
/
/
Die kanonische Negation ist im 20. Jahrhundert des CDP-Korpus sowohl im brasilianischen Portugiesisch (2 / 6) als auch europäischen Portugiesisch (4 / 6) belegt. (245) Kanonische Negation von por pouco não p (¬¬p) BP não revelam muito cuidado na seleção, e o resultado final é que por pouco não reconheci a deputada passando. (CDP: 9N: Br., Bahia, Brasil) ‘Beinahe hätte ich die vorbeigehende Abgeordnete nicht erkannt.’ EP Como sabia do sinal do peixe e daquela assembleia bizarra? Por pouco não me continha e lhe dirigia a palavra, perguntando de mais. . . (CDP: Carvalho, Deus, Portugal) Im Gegensatz zu dem 45.606.959 Token großen CDP-Korpus für das Portugiesische oder dem 100.255.030 Token großen CDE-Korpus für das Spanische weist das CICA-Korpus eine Größe von lediglich 8.656.847 Token auf, auf die folgende Gesamtbelege für das katalanische per poc(h) entfallen.
217
4.3 Lexikalische Konstruktionen
22
0.0011
20
0.0010
18
0.0009
16
0.0008
14
0.0007
12
0.0006
10
0.0005
0.0002
4
0.0001
2
0.0000
0 a gl e
XV I
XV I Se
gl e Se
XV a
gl e Se
gl e
XI V gl e
Se
Se
XI Va
b
gl e Se
Se
gl e
XI II
XI II
b
gl e Se
gl e
XI II
XI Ia Se
XI b
gl e Se
gl e Se
gl e Se
b
6
XV b
0.0003
b
8
a
0.0004
Freqüència Absoluta
24
0.0012
XI a
Freqüència Relativa
per ( poc / poch) (Diacronia) 0.0013
Abbildung 13: Absolute Frequenz von per (poc/poch) im CICA.
In Relation zu quasi p (cf. Abbildung 14, Seite 218) weist per poc(h) p (cf. Abbildung 13) eine entsprechend geringere Frequenz im CICA-Korpus auf, die nicht zuletzt durch die frühere Genese von lat. quasi gegenüber den PAUCUSKonstruktionen bedingt ist.147 Im Hinblick auf die qualitative Fragestellung, Konstruktion mit expletiver Negation per poc(h) no p (→ ¬p) diachron vor kanonischer Konstruktion per poc (h) p (→ ¬p), finden sich unter den altkatalanischen CICA-Gesamtbelegen die frühesten Avertivbeispiele im 13. Jahrhundert und beide in Verbindung mit expletiver Negationspartikel. (246) Expletive Negation im Altkatalanischen Altkat. Quant la emperadriu entès que ·l chomte se n’era anat, per poc no exí de son sen. (CICA: Segle XIIIb, Crònica Desclot) ‘Beinahe hätte er den Verstand verloren.’
147 Im Zuge der qualitativen Untersuchung ziehen wir an dieser Stelle die beiden vom CICAKorpus erstellten Graphiken lediglich für den Vergleich der absoluten Frequenzen von per poc (h) p und quasi p und nicht zur Betrachtung relativer Frequenzen (z.B. auf 1.000.000 Token) heran, sodass dem jeweiligen absoluten Frequenzabfall von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (1.897.994) zur ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (mit 742.595 Token) bedingt durch die unterschiedlichen Korpusgrößen der Jahrhunderte (cf. Kapitel 7) keine relevante Bedeutung zugemessen wird.
218
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Altkat. Quant lo comte hac assò entès, per poc no exí de son sey, e gità son escut en terra e son elm, e correc ves la porta aytant com pòch e trobà En Ramon Roger son frare, e els cavalers e els sirvens qui agren (CICA: Segle XIIIb, Crònica Desclot) ‘Beinahe hätte er den Verstand verloren.’
300 280 260 240 220 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0
0.024 0.022 Freqüència Relativa
0.020 0.018 0.016 0.014 0.012 0.010 0.008 0.006 0.004 0.002
e gl Se
gl
e
XV
XV
Ib
Ia
b XV e Se
gl Se
e
gl Se
gl
e
XI
XV a
Vb
Va XI Se
e
gl Se
gl
e
XI
XI Se
gl
e
e
XI Se
gl
IIb
IIa
IIb
Ia XI Se
Se
gl
e
e gl Se
Se
gl
e
XI
XI
b
a
0.000
Freqüència Absoluta
quasi (Diacronia) 0.026
Abbildung 14: Absolute Frequenz von quasi im CICA.
Die Avertivkonstruktion per poc(h) ist hingegen erst ab dem 15. Jahrhundert im CICA-Korpus datiert, sodass zumindest die These zur Genese der Konstruktion mit expletiver Negation per poc(h) no p (→ ¬p) diachron vor per poc(h) p (→ ¬p) korpusbasiert belegt werden kann. Die Konstruktion mit kanonischer Negation per poc(h) no p (→ ¬¬p) ist in dem altkatalanischen CICA-Korpus noch nicht nachweisbar (cf. Tabelle 45, Seite 219). Die für die iberoromanischen Sprachen verifizierte Hypothese, PAUCUSKonstruktion mit expletiver Negationspartikel vor kanonischer PAUCUS-Konstruktion, kann auch für das Italienische auf der Grundlage des altitalienischen OVI-Korpus verifiziert werden, in dem per poco im 13. Jahrhundert in Verbindung mit der Negationspartikel non zu 100% (6 / 6) in der Konstruktion mit expletiver Negation auftritt. Dass sich die Konstruktion mit expletiver Negation bereits in den ersten romanischsprachigen (insbesondere in den altokzitanischen) Belegen zeigt und sich die kanonische Negation diachron später entwickelt, ist anhand der romanischsprachigen Korpora gemeinromanisch verifiziert worden.
4.3 Lexikalische Konstruktionen
219
Tabelle 45: Diachronie von per poc(h) (no) p im CICA (1000–1799). CICA
.–. Jh.
. Jh.
. Jh.
Per [poc(h)] p (Lexikalisch)
/
/ /
Per poc(h) p (¬p)
/
/
Per poc(h) no p expletiv (¬p)
/
Per poc(h) no p kanonisch (¬¬p)
/
. Jh. . Jh.
.–. Jh.
/
/
/
/
/
/
/
/
/
/
/
/
/
/
/
/
/
Die gesamtromanischen korpusbasierten Untersuchungen lassen demzufolge folgende Schlussfolgerungen zu: Im Gegensatz zu quasi p wird die polare Komponente von per poco p in den romanischen Sprachen diachron später als die proximale Komponente entwickelt. Die von Bordería/Schwenter (2005) lediglich für das Spanische postulierte These ist auf der Grundlage der konsultierten spanischen Korpora in der Tat nicht verifizierbar, sodass bei einer lediglich einzelsprachlichen Betrachtung die bereits von Pons Bordería/Schwenter (2005) für das Spanische verifizierte Nullhypothese (i.e. polare und proximale Komponente treten in den ersten spanischen Korpusbelegen gleichzeitig auf) angenommen werden musste. Allerdings zeigte sich in einem gesamtromanischen Kontext (angefangen bei den frühen altokzitanischen Beispielen aus dem 11. Jahrhundert) der vorausgehende ausschließliche Gebrauch der Konstruktionen mit expletiver Negation zum Ausdruck der Avertivbedeutung. Die polare Komponente von por poco p wird in den frühen Texten in Form der (insofern unberechtigterweise sogenannten) «expletiven» Negationspartikel in der Tat explizit ausgedrückt. Ab dem 12. Jahrhundert finden sich bereits Korpusbelege ohne Negationspartikel, die allerdings noch in Verbindung mit der die Kontrafaktizität ausdrückenden -ra-Form (< lat. Indikativ Plusquamperfekt CANTAVERAM) stehen (cf. insbesondere unsere korpusbasierten Untersuchungen zum Galicisch-Portugiesischen und Altspanischen). Die von Bordería/Schwenter (2005) aufgestellte These für das Spanische, dass die Kontrafaktizität der Konstruktion por poco p in der Verbindung mit dem Konjunktiv Imperfekt entstehe, musste in dieser Arbeit allerdings korrigiert werden, insofern der Wandel der -ra-Form aus dem Indikativ Plusquamperfekt einbezogen wurde und durch die korpusbasierte Untersuchung des Galicisch-Portugiesischen, das bekanntlich keinen Wandel zum Konjunktiv Imperfekt vollzieht, aufgezeigt wurde. Analog zum Altspanischen zeigten die frühesten Korpusbelege des Galicisch-Portugiesischen die Signifikanz der -ra-Form in Verbindung mit der kanonischen Konstruktion (por pouco p), während die Konstruktion mit «expletiver» Negation, bei der die
220
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Kontrafaktizität durch die Negationspartikel ausgedrückt wurde (sodass diese nicht tatsächlich expletiv ist), mit dem Indikativ Perfekt stehen konnte und kein die Kontrafaktizität ausdrückendes Tempus benötigte. Der Konjunktiv Imperfekt (< lat. Konjunktiv Plusquamperfekt CANTAVISSEM) hatte hingegen keine signifikante Auswirkung auf die Entwicklung der Avertivkonstruktion, indem er in unserer untersuchten TAM-Flexion sowohl in dem spanischen CDE-Korpus als auch in dem portugiesischen CDP-Korpus lediglich marginale Belege aufwies. Die von Bordería/Schwenter (2005) für das Spanische gezogene These der Genese der Kontrafaktizität der kanonischen Konstruktion aus dem Konjunktiv Imperfekt muss insofern korrigiert werden, als die Genese der Kontrafaktizität von kanonischem por poco p in dieser Arbeit vielmehr in Verbindung mit der -ra-Form (< lat. CANTAVERAM) sowohl im Spanischen als auch im Portugiesischen korpusbasiert verifiziert wurde. Letztlich wurde in diesem Kapitel vielmehr die zu Kuteva (1998; 2001) entgegengesetzte Grammatikalisierungsrichtung Proximativ > Avertiv aufgezeigt.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv Der Avertiv aus lat. HABERE (‘haben’) findet sich gegenwärtig noch in vereinzelten Gebieten der alten und neuen Romania, wie u.a. im Galicischen, Asturleonesischen oder im argentinischen Spanisch. (247) Possession > Avertiv Gl. Houben (de) (von.PRP) haben.1SG.PERF ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ Gl. Houbera (de) (von.PRP) haben.1SG.PQP ‘Ich wäre beinahe gestorben.’ Astleon. Hubo (de) haben.3SG.PERF (von.PRP) ‘Er wäre beinahe gefallen.’
caer. fallen.INF morrer. sterben.INF cae(r)se.148 fallen.INF
148 Nach Menéndez Pidal (1906, 311) findet sich die Konstruktion hubo caese (‘er wäre beinahe gefallen’) im Asturianischen. Das gleiche Beispiel, hubo caerse, wird auch von Rohlfs (1922, 145) für das Leonesische sowie von Alvar (1996), hubo (de) caése (‘estuvo a punto de caerse’), angeführt. Die spanische Übersetzung von Alvar (1996) illustriert nochmals, dass im Spanischen auf die im pretérito perfecto simple stehende STARE-Avertivperiphrase (cf. Kapitel 3.2.2) zurückgegriffen werden muss.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
Arg.
221
Hubo de viajar a haben.3SG.PERF von.PRP reisen.INF nach.PRP Europa. (Capdevila 1889, 145) Europa ‘Er wäre beinahe nach Europa gereist.’
Obwohl sich bereits einige weitere Hinweise zum Avertiv in älteren romanischen Sprachstufen finden lassen, wie bei Strausbaugh (1913) und Bellosta von Colbe (2001b) zum Altspanischen (ouviera/ouviese a + Inf.) oder bei Rohlfs (1922) zum Altitalienischen (hebbi a morire ‘ich wäre beinahe umgekommen’ < lat. habui mori), liegen bislang keine korpusbasierten diachronen Untersuchungen vor. Diesem Forschungsdesiderat wird in den folgenden Unterkapiteln nachgegangen.
4.4.1 Lateinischer Ausgangspunkt und Unterschiede in der Romania Im Folgenden wird die bislang unerforschte Entwicklung von Proximativ und Avertiv aus der Grammatikalisierungsquelle lat. HABERE diachron korpusbasiert untersucht. Da HABERE zudem als Grammatikalisierungsquelle für isolierte Avertivmerkmale, wie [+Vergangenheit; +Perfektivität] in Form der Genese zusammengesetzter Tempora, [+Prospektivität] in Form der Resynthetisierung des Futurs und [+Irrealität] in Form der Resynthetisierung des Konditionals fungiert, wird die Entwicklung und Verwandtschaft von Proximativ und Avertiv auch vor dem Hintergrund bereits kontrovers diskutierter Grammatikalisierungspfade, wie die des Futurs und Konditionals, bis in die lateinischen Ursprünge untersucht. Diesbezüglich werden insbesondere die sich bereits im Lateinischen trennenden Grammatikalisierungspfade der modalen Periphrasen HABEO CANTARE, HABEO AD CANTARE und HABEO DE CANTARE (Diez 1882, vol. 3, 935; Gamillscheg 1913; Rohlfs 1922) aus der ursprünglich gemeinsamen Quelle dargelegt und neue Rückschlüsse über den diachronen Zusammenhang von Futur und Konditional aufgezeigt. Bevor diese neuen Entwicklungen eruiert werden, wird der Forschungsstand insbesondere hinsichtlich der relevanten Futur- und Konditionalentwicklung diskutiert. Beginnend bei Diez (1882, vol. 2, 487–495), der die vulgärlateinischen Ursprünge des romanischen Tempussystems anführt, dient lat. HABERE als Grammatikalisierungsquelle für die Herausbildung analytischer Tempora sowie für die Resynthetisierung des Futurs und Konditionals in den romanischen Sprachen. HABERE ‘haben’ wird bekanntlich zu einem der zentralen Auxiliare zusammengesetzter Vergangenheitstempora in den romanischen Sprachen: das vulgärlateinische habeo cantatum wird bekanntlich zur Perfekt-Periphrase ho cantato (it.), he
222
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
cantado (sp.), j’ai chanté (fr.) etc.,149 analog wird habeba(m) cantatu(m) zur Plusquamperfekt-Periphrase había cantado (sp.), j’avais chanté (fr.), avevo cantato (it.) sowie habui cantatu(m) zu hube cantado (sp.), j’eus chanté (fr.) und ebbi cantato (it.). Die klassischlateinischen Futurgrammeme -abo, -ebo, -am, -iam werden bekanntlich in den romanischen Sprachen nicht fortgesetzt, sondern im Vulgärlatein zunehmend durch die Periphrase cantare habeo ersetzt, die im Zuge der Grammatikalisierung zum gebundenen Futurgrammem der romanischen Sprachen resynthetisiert wird (cf. Diez 1882, vol. 2, 487–495).
Tabelle 46: Formen des synthetischen Futurs aus CANTARE HABEO. CANTARE
>
HABEO
singen.INF haben.SG.IND.PRS.ACT
canterò (it.) / chanterai (fr.) / cantarai (okz.) / cantaré (kat., sp.) / cantarei (gl., pg.)
Da die Resynthetisierung des Futurs als bekannt vorausgesetzt werden darf, sei lediglich exemplarisch auf die Entwicklung vom Lateinischen zum Spanischen verwiesen:
Tabelle 47: Entwicklung des spanischen Futur Indikativs nach Penny (2002, 207). Classical latin
Spoken latin
Old Spanish
Modern Spanish
CANTABO
CANTARE HABEO
cantar (h)e/cantaré
cantaré
CANTABIS
CANTARE HABES
cantar (h)as/cantarás
cantarás
CANTABIT
CANTARE HABET
cantar (h)a/cantará
cantará
CANTABIMUS
CANTARE HABEMUS
cantar (h)emos/ cantaremos
cantaremos
CANTABITIS
CANTARE HABETIS
cantar (h)edes/cantaredes
cantaréis
CANTABUNT
CANTARE HABENT
cantar (h)an/cantarán
cantarán
149 Zur Auxiliarisierung von HABERE hinsichtlich der Entstehung des haben-Perfekts in den romanischen Sprachen sei an dieser Stelle verwiesen auf die ausführliche Darstellung in Jakob (1994) sowie hinsichtlich der bekannten Auxiliarselektion von ‘sein’ (sp. ser) und ‘haben’ (sp. haber) und dem Abbau der sein-Periphrase im Spanischen sei zudem auf die Darlegung in Rosemeyer (2014) verwiesen.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
223
Die Resynthetisierung des Futurs aus cantare habeo wird auf das späte 6. Jahrhundert datiert (cf. Haverling 2010, 502) und wird mit Ausnahme des Sardischen, Rätoromanischen und Rumänischen in nahezu alle anderen romanischen Sprachen übernommen.150 Bereits in den frühesten Zeugnissen romanischer Sprachen, wie der Straßburger Eide vom 14. Februar 842, findet sich entsprechend bereits das vollständig resynthetisierte Futur. (248) Straßburger Eide vom 14. Februar 842 Text von Nithard Neufranzösische Übersetzung von Lauer « Pro Deo amur et pro christian poblo et nostro commun salvament, dist di in avant, in quant Deus savir et podir me dunat, si salvarai eo cist meon fradre Karlo et in aiudha et in cadhuna cosa, si cum om per dreit son fradra salvar dift, in o quid il mi altresi fazet et ab Ludher nul plaid numquam prindrai, qui, meon vol, cist meon fradre Karle in damno sit. » [eigene Hervorhebungen] (Nithard 2012, 114ss.)
« Pour l’amour de Dieu et pour le salut commun du peuple chrétien et le nôtre, à partir d’aujourd’hui, tant que Dieu me donne savoir et pouvoir, je secourrai ce mien frère Charles par mon aide et en toute chose, comme on doit secourir son frère, selon l’équité, à condition qu’il fasse de même pour moi, et je ne tiendrai jamais avec Lothaire aucun plaid qui, de ma volonté, soit dommageable à ce mien frère Charles. » [eigene Hervorhebungen] (Nithard 2012, 115ss.)
Neben dem Futur haben bekanntlich die meisten romanischen Sprachen (mit Ausnahme des Standarditalienischen, Sardischen, Rumänischen und Rätoromanischen151) das Konditional aus dem vulgärlateinischem «Futur-in-
150 Im Sardischen, Rumänischen und Rätoromanischen hat sich kein synthetisches Futur (mit Ausnahme eines sehr seltenen Gebrauchs in rätoromanischen Dialekten) herausgebildet: Im Sardischen bildet sich aus der Grammatikalisierungsquelle HABERE das analytische Futur at a cantare ‘er wird singen’, im Rätoromanischen (bis auf Ausnahme einiger Dialekte) bildet sich das analytische Futur aus venire a + Infinitiv, wie in Jau vegn a partir (Rumantsch Grischun) oder Jeu vegnel a far (Surselvisch) ‘ich werde machen’ (Liver 1999, 142). Im Rumänischen wird für das Futur ebenfalls auf Periphrasen zurückgegriffen, wie a voi + Inf. (voi merge ‘ich werde gehen’), a avea + Konjunktiv (am să merg ‘ich werde gehen’) oder o să merg (‘ich werde gehen’). 151 Im Sardischen hat sich kein synthetisches Konditional herausgebildet. Im Rumänischen hat sich das synthetische Konditional ebenfalls nicht bis in das Gegenwartsrumänische gehalten (cf. Becker 2010).
224
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
der-Vergangenheit» cantare habebam (singen.INF + haben.IMPF.1SG) gebildet, wie ebenfalls spätestens seit Diez (1882, vol. 2, 491) bekannt ist. Tabelle 48: Formen des synthetischen Konditionals aus CANTARE HABEBAM.
CANTARE
>
HABEBAM
singen.INF haben.SG.IND.IMPF.ACT
cantaria (süd.-it., pg., kat.) / cantaría (sp., gl.) / chanterais (fr.) / cantariá, cantarí, cantariái, cantariáu (okz.)
Zur exemplarischen Veranschaulichung wird die Entwicklung vom Vulgärlatein zum Spanischen nach Penny (2002, 209) angeführt: Tabelle 49: Entwicklung des spanischen Konditionals nach Penny (2002, 209). Spoken Latin
Old Spanish
Modern Spanish
CANTARE HABEBAM
cantar (h)ía
cantaría
cantaría CANTARE HABEBAS
cantar (h)ías/yes
cantarías
cantarías/-ies CANTARE HABEBAT
cantar (h)ía/ye
cantaría
cantaría/-ie CANTARE HABEBAMUS
cantar (h)íamos/yemos
cantaríamos
cantaríamos/-iemos CANTARE HABEBATIS
cantar (h)íades/yedes
cantaríais
cantaríades/-iedes CANTARE HABEBANT
cantar (h)ían/yen
cantarían
cantarían/-ien
Das Konditional der meisten norditalienischen Dialekte bzw. des Standarditalienischen (auf der Grundlage des Toskanischen) hat sich hingegen aus der vulgärlateinischen Periphrase cantare habui (singen.INF + haben.1SG.IND.PF. ACT) resynthetisiert (cf. Thielmann 1885; Gamillscheg 1913; Rohlfs 1922; Rohlfs 1972, vol. 2).152
152 Zur Genese der italoromanischen Konditionalparadigmen cantaria (< lat. CANTARE HABEBAM), canterei (< lat. CANTARE HABUI), cantarà (< lat. Indikativ Plusquamperfekt CANTAVERAM) sowie deren Mischtypen sei auf die Arbeiten von Rohlfs (1922; 1972, vol. 2) verwiesen.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
225
Tabelle 50: Formen des synthetischen Konditionals aus CANTARE HABUI. CANTARE
HABUI
>
canterei (it.)
singen.INF haben.SG.IND.PF.ACT
Tabelle 51: Entwicklung des italienischen Konditionals aus CANTARE HABUI. Vulgärlatein
Altitalienisch
Italienisch
CANTARE HABUI
cantar(e) ebbi
canterei
CANTARE HABUISTI
cantar(e) avesti
canteresti
CANTARE HABUIT
cantar(e) ebbe
canterebbe
CANTARE HABUIMUS
cantar(e) avemmo
canteremmo
CANTARE HABUISTIS
cantar(e) aveste
cantereste
CANTARE HABUERUNT
cantar(e) ebbero
canterebbero
Neben der von Haverling (2010, 502) auf das späte 6. Jahrhundert datierten Resynthetisierung des Futurs aus cantare habeo und dem Futur-in-derVergangenheit (> Konditional) aus cantare habebam/habui wird die Infinitivkonstruktion zum Ausdruck der Obligation und der Nachzeitigkeit als romanische Verbalperiphrase habeo cantare konserviert, zu der bereits ab dem 8. Jahrhundert habeo de cantare und habeo ad cantare (‘ich habe zu singen’) hinzukommen (cf. Diez 1882, vol. 3, 935s.; Rohlfs 1922, 115; Strausbaugh 1936; Rohlfs 1972, vol. 2, 313; Hofmann/Szantyr 1997; Company Company 1985–1986; Slobbe 2004).153 Die Genese der präpositionslosen Periphrase, HABERE + Infinitiv, ist bereits seit über 150 Jahren Gegenstand zahlreicher diachroner Untersuchungen gewesen.154 Die syntaktische Entwicklung zeigt eine anfängliche Restriktion auf transitive Infinitive, die nach Slobbe (2004, 109) ab dem 1. Jh. v. Chr. beginnt. Die anschließende Kombinierbarkeit mit intransitiven und passivierten Infinitiven datieren Benveniste (1968) und Slobbe (2004) auf das 3. Jh. n. Chr. sowie
153 Wie in Kapitel 4.2 und Kapitel 4.5 illustriert, werden die Konstruktionen mit AD + Gerundium bereits in spätlateinischer Zeit zunehmend durch AD + Infinitiv ersetzt. 154 Es sei an dieser Stelle lediglich auf einige zentrale Untersuchungen verwiesen: Diez (1882, vol. 3, 935s.); Diez (1869); Thielmann (1885); Gamillscheg (1913); Rohlfs (1922); Benveniste (1968); Fleischman (1982); Company Company (1985–1986); Company Company/Medina Urrea (1999); Schäfer-Prieß (1999); Slobbe (2004); Hertzenberg (2012).
226
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
das erste Auftreten in einer overten CP (Complementizer Phrase) setzt nach Slobbe (2004) ab dem 4. Jh. ein. Da die Resynthetisierung des Futurs bereits im 6. Jahrhundert vollzogen ist, kann die koexistierende analytische Konstruktion bereits ihren weiteren eigenen Grammatikalisierungspfad beschreiten. Hinsichtlich der semantischen Entwicklung wird zunächst auf den bekannten bei Bybee/Perkins/Pagliuca (1994, 258–264) übereinzelsprachlich systematisierten Grammatikalisierungspfad Possession (Besitz) > Obligation > Futur von cantare habeo sowie Futur-in-der-Vergangenheit > Konditional von cantare habebam/ habui eingegangen,155 bevor die noch unbekannte Entwicklung von Proximativ und Avertiv aus der Obligation aufgezeigt werden wird. Die lexikalische possessivische156 Bedeutung des Vollverbs HABERE wird bekanntlich zu einem Obligationsausdruck (agensorientierte deontische Modalität157) reanalysiert, die dem Grammatikalisierungsstand der modalen Periphrase im Gegenwartsfranzösischen (fr. j’ai à travailler ‘ich habe zu arbeiten’) und im Gegenwartsrumänischen (rum. am de lucrat ‘ich habe zu arbeiten’) entspricht. Im Gegensatz zu dem Französischen, Rumänischen und Italienischen, die neben der Auxiliarisierung von HABERE dieses als besitzanzeigendes Vollverb konservieren, entwickeln die hinsichtlich der HABERE-Infinitivperiphrase innovativeren iberoromanischen Sprachen den periphrastischen Ausdruck der Obligation bekanntlich zudem aus lat. tenere (pg. tenho de escrever, gl. teño que irme; sp. tengo que escribir, kat. tenir de + Infinitiv, tenir que + Infinitiv158 etc.).159 Für die Reanalyse von HABERE zum Auxiliar werden bekanntlich die folgenden Schritte in Tabelle 52 (Seite 227) angenommen.
155 Zur Auswahl sei exemplarisch verwiesen auf die frühen Hinweise in Diez (1882, vol. 2, 491), Thielmann (1885), DCR (2002), Gamillscheg (1913), Rohlfs (1922), etc. 156 Zum Ausdruck der Possession von HABERE bis zum Spätlateinischen sei verwiesen auf Baldi/Nuti (2010). 157 Zur Entwicklung von agensorientierter deontischer Notwendigkeit zur generalisierten deontischen Notwendigkeit von HABERE + Inf. cf. u.a. Hertzenberg (2012, 392). 158 Nach Moll (2006, 295) werden tener de + Infinitiv und tener que + Infinitiv allerdings nahezu ausschließlich in der gesprochenen Umgangssprache verwendet (bes. im valencianischen Katalanisch) und sind, insbesondere letztere, als castellanismo zu verstehen. Zur Diachronie der katalanischen Periphrase tenir de + Infinitiv sei verwiesen auf Cabanes (1997). 159 Die iberoromanischen Sprachen unterschieden sich bekanntlich auch in ihrem Gebrauch von ter/tener/tenir/teñir und haver/haber: Während lat. TENERE im Spanischen und Katalanischen als besitzanzeigendes Vollverb konserviert wird und zum Auxiliar der modalen Periphrase wird, wird es im Galicischen und Portugiesischen darüber hinaus auch zum Auxiliar temporaler Verbalperiphrasen. Zur Diachronie von pg. ter und haver in Texten des 13. bis 17. Jahrhunderts sei u.a. verwiesen auf Wigger (2001). Da die TENERE-Periphrase allerdings weder einen Proximativ noch einen Avertiv entwickelt, wird sie aus der Untersuchung ausgenommen.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
227
Tabelle 52: Reanalyse von HABERE zum Auxiliar.
Habeo haec: dicere habeo: haec dicere habeo dicere
‘ich habe dies: zu bemerken’ ‘ich habe: dies zu bemerken’ ‘ich habe zu bemerken’ (Leumann , s., zitiert nach SchäferPrieß , )
Ab wann die Auxiliarisierung der ursprünglich lexikalischen (possessiven) Lesart beginnt, wird allerdings insbesondere hinsichtlich der Beispiele des Typs «habeo aliquid dicere» kontrovers diskutiert. Die folgenden Beispiele illustrieren die noch mögliche possessive Lesart der Konstruktion HABERE + Infinitiv. (249) Possessive Lesarten (noch) möglich in Verbindung mit quid, nihil, etc. (a) De re publica nihil habeo ad te scribere nisi summum odium omnium hominum in eos qui tenent omnia. (PHI Latin Texts: Marcus Tullius Cicero, Epistulae ad Atticum, 2.22.1.1, 6.1) ‘Nichts habe ich Dir zu schreiben [. . .]’ +> Nichts kann ich Dir schreiben. (b) De nostris somnis quid habemus dicere? (PHI Latin Texts: Marcus Tullius Cicero, De divinatione 2.136.8) Von unseren Träumen was haben.1PL.PRS sagen.INF ‘Was können wir über unsere Träume sagen?’ (c) Quid habes igitur dicere de Gaditano foedere eius Was haben.2SG.PRS demnach sagen.INF [. . .] modi? (PHI Latin Texts: Marcus Tullius Cicero, Pro Balbo, 33.8) ‘Was kannst Du demnach sagen über [. . .]?’ (d) Quid habes igitur de causa dicere? (PHI Latin Texts: Marcus Tullius Cicero, De Partitione, Oratoria 10.1) Was haben.2SG.PRS demnach über Sache sagen.INF [. . .] ‘Was kannst Du demnach dazu sagen? In den genannten Beispielen hat HABERE Skopus über ein direktes Objekt, das oftmals durch hoc oder quid repräsentiert ist. Während nach Roberts/Roussou (2003, 50, zitiert nach Hertzenberg 2012, 376) noch eine possessive Lesart möglich ist, bezeichnet Brinton (1991, zitiert nach Hertzenberg 2012, 376s.) das Objekt hingegen als faktitiv, das mit einer possessiven Lesart nicht mehr vereinbar sei. Unzweifelhaft ist der Verlust der Possession von HABERE hingegen bei Beispielen mit Objekten, die das Merkmal [+human] aufweisen, wie von Hertzenberg (2012, 377) an dem folgenden Beispiel illustriert wird.
228
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(250) HABERE ≠ Possession Nec te, si cupiat, laedere and.not you-ACC.SG if want-PRS.SBJV.3SG harm-INF.PRS.ACT rumor habet. rumour-NOM.M.SG have-PRS.IND.3SG ‘And the rumour cannot harm you even if it wants to.’ (Ov. Pont. 3,1,82, zitiert nach Hertzenberg 2012) Das folgende bereits von Thielmann (1885, 50) angeführte Beispiel von Cicero illustriert die Bedeutung der Fähigkeit (ability/capacity) im klassischen Lateinischen (cf. Thielmann 1885, 50; Hertzenberg 2012). (251) HABERE + Inf. zum Ausdruck der Fähigkeit (ability) Spätlat. Habeo etiam dicere quem contra have-PRS.IND.1SG also say-INF.PRS.ACT who-ACC.M.SG against morem maiorum minorem custom-ACC.M.SG ancestor-GEN.M.PL smaller-ACC.M.SG annis LX de ponte in Tiberim year-ABL.M.PL sixty from bridge-ABL.M.SG in Tiber-ACC deiecerit. throw-PRF.SBJV.3SG ‘I can even tell you of one whom, contrary to the custom of our ancestors, he threw from the bridge into the Tiber, when he was not sixty years of age. . .’ (Cic. S. Rosc. 100, zitiert nach Hertzenberg 2012, 377; Thielmann 1885, 50) In einer auf dem Thesaurus linguae Latinae (TLL) basierten Untersuchung lateinischer Texte von Cicero bis 600 n. Chr. mit insgesamt 322 Okkurenzen von HABERE + Infinitiv zeigt Hertzenberg (2012) einen deutlichen Frequenzanstieg von HABERE + Infinitiv ab Tertullian160 (2.–3. Jahrhundert) auf, der mit einer zunehmenden Bedeutungserweiterung von ability (agensorientierte Modalität) in klassischen Texten, Obligation in postklassischen Texten, generalisierter deontischer Notwendigkeit und Möglichkeit161 bis Futur (sowohl Futur als auch Futur-in-der-Vergangenheit) einhergeht.
160 Tertullian ist nach verbreiteter Ansicht der erste, der die HABERE-Periphrase nicht mehr ausschließlich modal, sondern in futuraler Bedeutung gebraucht (cf. Company Company/Medina Urrea 1999, 69). 161 Hertzenberg (2012, 384) bezieht sich auf die generalisierte deontische Möglichkeit und Notwendigkeit nach Traugott/Dasher (2005, 111s.).
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
229
Tabelle 53: Bedeutung von HABERE + Infinitiv nach Hertzenberg (2012, 375). Number of occurrences
Meanings displayed by habere + infinitive
Classical Latin (Golden Age) authors
Ability/capacity
Post-Classical (Silver Age) authors
Ability/capacity, obligation, Possibly permission
Later (mainly Christian) authors/ works
Ability/capacity, obligation, permission, generalized deontic possibility and necessity, future
Ab Tertullian (2.–3. Jahrhundert) wird die HABERE-Infinitivperiphrase nach Hertzenberg (2012) auch zum Ausdruck nicht-agensorienter Modalitäten gebraucht, wie der generalisierten deontischen Möglichkeit (Beispiel a) oder der generalisierten deontischen Notwendigkeit (Beispiele b und c). Beispiel (c) illustriert darüber hinaus bereits die Kompatibilität der Periphrase mit unbelebten Subjekten. (252) HABERE + Inf. zum Ausdruck nicht-agensorientierter Modalität (a) [Filius] etsi deus although god-NOM.M.SG son-NOM.M.SG dicatur, quando nominatur name-PRS.IND.3SG.PASS call-PRS.SBJV.3SG.PASS when singularis, non ideo duos deos by.himself-NOM.M.SG not therefore two-ACC.M.PL god-ACC.M.PL faciat, sed unum [. . .] quod et make-PRS.SBJV.3SG but one-ACC.M.SG because also dues [sic!] ex unitate patri from unity-ABL.F.SG father-DAT.M.SG god-NOM.SG vocari habeat. call-INF.PRS.PASS have-PRS.SBJV.3SG ‘The son, although he is called God when he is named by himself, does not for that reason make a duality of gods, but one God, because he may be called God (i.e. ‘it is possible for him to be called God’) as a result of his unity with the Father.’ (Tert. Adv. Prax. 19 p. 263,2, zitiert nach Hertzenberg 2012, 384s.)
230
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(b) At vero Christus mori Yet but Christ-NOM die-INF.PRS.PASS.DEP missus, nasci quoque necessario necessarily send-PTCP.PRF.PASS.NOM.M.SG be.born-INF.PRS.PASS also habuit, ut mori have-PRF.IND.3SG in.order.to die-INF.PRS.PASS posset. Non enim mori die-INF.PRS.PASS be.able.to-IMPF.SBJV.3SG not for solet, nisi quod nascitur. use.to-PRS.IND.3SG except REL.NOM.N.SG be.born-PRS.IND.3SG.PASS ‘Christ, however, having been sent to die, had necessarily to be also born (i.e. ‘it was necessary for him to be born’), that he might be capable of death. For only what is born usually dies.’ (Tert. Carn. 6, zitiert nach Hertzenberg 2012, 385) (c) «Quare,» inquam, «de profundo hi Why say-PRS.IND.1SG from deep-ABL.N.SG DEM-NOM.M.PL lapides ascenderunt [. . .]?» «Necesse est», stone-NOM.M.PL rise.up-PRF.IND.3PL necessary be-PRS.IND.3SG inquit, «per aquam habeant say-PRS.IND.3SG through water-ACC.F.SG have.PRS.SBJV.3PL ascendere, ut requiescant.» rise.up-INF.PRS.ACT that rest-PRS.SBJV.3PL ‘«Why», I said «did these stones rise up from the deep?» «It is necessary», he said, «they must rise up through the water in order to find rest.»’ (Herm. Vulg. Sim. 9,16,2, zitiert nach Hertzenberg 2012, 385) In der eigenen Recherche findet sich bei Tertullian auch die im Perfekt stehende modale Periphrase zum Ausdruck generalisierter deontischer Notwendigkeit, bei der entsprechend unseres theoretischen Modells (cf. Kapitel 2.2, Kapitel 3.2.2.2 und Kapitel 4.5) p R-implikatiert wird. (253) Habuit + Inf. R+> p Tu imaginem Dei, hominem, tam facile elisisti: [Col.1305B] propter tuum meritum, id est mortem, etiam Filius Dei mori [H]habuit; et adornari tibi in mente est super pelliceas tuas tunicas? (Patrologia Latina: Tertullian: Quinti septimi florentis tertulliani de cultu foeminarum, Liber Primus, Caput Primum) ‘Er ist tot, auch der Sohn Gottes musste sterben.’ R+> ‘Er starb.’
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
231
Die generalisierte deontische Notwendigkeit der HABERE-Konstruktion, die ab dem 8. Jahrhundert auch in Verbindung mit den Präpositionen DE und AD ausgedrückt wird, wird bis in die romanische Gegenwartssprachen konserviert, wie das Beispiel aus dem Gegenwartsspanischen illustriert. (254) Sp. Haber de + Inf. zum Ausdruck generalisierter deontischer Notwendigkeit Es ocioso recordar que Fernando de los Ríos hubo de morir exiliado, como tantos otros, y representa un monumento de honradez política, intelectual y personal. (CREA: José Luis Gutiérrez; Amando de Miguel, 1989, La ambición del César. Un retrato político y humano de Felipe González, España) ‘Fernando de los Ríos musste im Exil sterben.’ R+> ‘Er starb im Exil.’ Neben der Genese der zu betrachtenden analytischen Konstruktion HABERE + Inf. (> HABERE AD/DE + Inf.) vollzieht Inf. + HABERE bekanntlich einen modaltemporalen Wandel, indem sich aus dem Obligationsausdruck (agensorientierte deontische Modalität) das Futur und Futur-in-der-Vergangenheit entwickelt. Dass sich die Futurbedeutung aus der Obligation entwickeln muss,162 wurde von Benveniste (1968, 89ss.) auch in Frage gestellt (cf. Benveniste 1968; Bybee/Perkins/Pagliuca 1994, 261ss.). Benveniste (1968) vermutet vielmehr einen direkten Wandel von Prädestination zu Prädiktion, indem Infinitiv + HABERE als Partizip Futur Passiv (PFP) fungiere und keine Obligation (im Sinne des lateinischen Gerundivums oder fr. J’ai à travailler), sondern bereits Prädestination ‘was getan werden wird’ ausdrücke. Dass die HABEREInfinitivkonstruktion neben der Funktion als PFP keine Obligation auszudrücken vermag, ist zwar widerlegt, jedoch vermuten Bybee/Perkins/Pagliuca (1994, 261–263) in Anlehnung an Benveniste (1968) neben dem theoretisch postulierten Grammatikalisierungspfad Obligation > Futur auch die Möglichkeit voneinander unabhängiger Entwicklungspfade. PREDESTINATION OBLIGATION
> INTENTION > FUTURE (Bybee/Perkins/Pagliuca 1994, 263)
Bybee/Perkins/Pagliuca (1994, 261) begründen die von der Obligation möglicherweise unabhängige Resynthetisierung des Futurs mit dem Argument von
162 Bereits Thielmann (1885) hat auf den modal-temporalen Wandel hingewiesen.
232
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Benveniste (1968, 89s.), dass die Periphrase Infinitiv + HABERE zunächst mit dem passivierten Infinitiv auftritt, zu Beginn überwiegend in dem Imperfekt gebraucht wird sowie anfänglich noch auf Nebensätze, insbesondere Relativsätze, beschränkt war. Haverling (2010) verweist in Anlehnung an Bybee/Perkins/Pagliuca (1994) und Benveniste (1968) hinsichtlich der Futurentwicklung ebenfalls auf die Möglichkeit einer weitaus komplexeren Entwicklung als bisher angenommen, die eine frühe Bedeutung von Prädestination berücksichtigen muss.163 Es wird in dieser Arbeit angenommen, dass die Konventionalisierung der (zunächst noch implikatierten!) Prädestination sogar entscheidend in der Futurgenese und für ihre Trennung von der (noch sowohl p als auch ¬p implikatierenden) analytischen Konstruktion ist. Im Gegensatz zu Fleischman (1982) und Schwegler (1990, 127), die in der Beziehung von Obligation zu Futur ein vermeintliches entailment sehen,164 verifizieren wir anhand des folgenden Aufhebbarkeitstest im Gegenwartsfranzösischen vielmehr eine Implikatur der Prädiktion aus der Obligation: (255) Aufhebbarkeitstest: Obligation +> Prädiktion v Futur165 Fr. J’ai à travailler, mais je ne travaillerai pas. Die Obligation (agensorientierte deontische Notwendigkeit) kann die Prädiktion sowie den Eintritt von p nicht semantisch implizieren, sondern lediglich in Form einer Implikatur ausdrücken, die sich lediglich im Falle der Resynthetisierung des Futurs konventionalisiert. Diese Konventionalisierung ist unserer Ansicht nach ganz entscheidend für die Trennung von Futur und Proximativ (sowie zwischen Futur und Prospektiv), zumal es bei dem Proximativ (und 163 «Vulgar Late Latin, in other words, seems to be experimenting with several of the known pathways for creating new futures, such as expressions of desire (uolo ‘want’[. . .]), ability (possum ‘be able to’ [. . .], or obligation (the gerund [. . .] and debeo ‘shall’ [. . .]).[. . .] Traditionally the original function ascribed to the habeo + infinitive construction is deontic, [. . .] but in the earliest instances it indicates ability (e.g., Cic. epist. 1,5a,3: habeo policeri ‘I can promise’) and in the Late Latin material the deontic function does not seem to be the most important, and often the sense seems to be to indicate predestination, much like the English ‘be to do’ construction» (Haverling 2010, 399). 164 «In the case of cantare habeo, semantic reanalysis was achieved by an identical process, namely by bringing to the fore a logical entailment of obligation, i.e., prospection or futurity. As Fleischman points out, ‘implicit in an utterance expressing obligation is the notion that the predicated action will logically be carried out, if it is to be carried out at all, at some future (or posterior) moment’ (p. 59). In Romance, this temporal dimension has come to dominate, as can already be seen in the following late Latin example: quod sum, essere abetis (Imperial inscription) ‘what I am, you are to be (i.e., you must become)’» (Schwegler 1990, 127). 165 In Worten: Obligation implikatiert (lediglich) konversationell Prädiktion oder Futur.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
233
dem Avertiv) nicht zur Konventionalisierung von p kommt. Der Proximativ ermöglicht entsprechend seiner Unterspezifikation sowohl eine Implikatur von p als auch von ¬p, während der Avertiv sogar ¬p konventionalisiert (cf. auch Kapitel 3 oder Kapitel 4.6.2). Die folgenden Beispiele zeigen Inf. + HABERE mit implikatierter Prädestination, aus der sich die Nachzeitigkeit des Futurs im Zuge der Resynthetisierung konventionalisiert. (256) Inf. + HABERE mit implikatierter Prädestination (a) et eum accipere habetis and him receive you have ‘and you are to receive him’ (Augustine, zitiert nach Schwegler 1990, 126) (b) habes erubescere, cum venerit he comes you-AUX will blush if ‘you will blush when he comes’ (Augustus, zitiert nach Schwegler 1990, 126) (c) quod sum, essere abetis ‘what I am, you are to be (i.e. you must become)’ (Imperial Inscription, zitiert nach Schwegler 1990, 127) Während die Prädestinationsimplikatur zunehmend in den Futurmarker konventionalisiert, bleibt die Obligation in der analytischen Konstruktion bestehen, die in einigen Sprachen das Endstadium des Grammatikalisierungspfades der analytischen Konstruktion bedeutet, wie im Französischen (fr. J’ai à travailler. ‘Ich habe zu arbeiten./Ich muss arbeiten.’) oder Rumänischen (rum. Am de lucrat. ‘Ich habe zu arbeiten./Ich muss arbeiten.’). Im Zuge der Prädestinationsimplikatur ersetzt cantare habere bereits ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. zunehmend das PFA + esse (cf. u.a. Thielmann 1885; Diez 1882, vol. 2, 491; Gamillscheg 1913, 42; Gamillscheg 1957, 391–395; Rohlfs 1922, 136; Fleischman 1982, 63; Bourova 2005; Baldi/Nuti 2010, 377; Hertzenberg 2012), wie bereits das koexistente Auftreten in den folgenden Beispielen illustriert. (257) Inf. + habere und PFA + esse (a) [. . .] Quoniam omnes prophetae nuntiabant That all-NOM.M.PL prophet-NOM.M.PL announce-IMPF.IND.3PL de Illo quod esset venturus about DEM.ABL.M.SG that be-IMPF.SBJV.3SG come-PTPC.FUT.NOM.M.SG et pati haberet. and suffer-PRS.INF.PASS.DEP have-IMPF.SBJV.3SG
234
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
‘That all prophets announced of him that he would come and [that he would] suffer.’ (Tert., Adv Iud. 8,12, zitiert nach Hertzenberg 2012, 387) (b) Nam providens deus, quod hanc circumcisionem in signum, non in salutem esset daturus populo israel [. . .] Dari enim habebat circumcisio, . . . (Tertullianus, Adversus Iudaeos, 3, zitiert nach Bourova 2005, 312) (c) Mortem timetis: quid timetis? Timeam, non timeam, venire habet; sero, cito, ventura est. (Augustinus Hipponensis, De disciplina christiana, 11, zitiert nach Bourova 2005, 312) Wie in Kapitel 4.2 bereits dargelegt wurde, entwickelt das PFA + esse aus der Imminenz-in-der-Vergangenheit (cantaturus eram) sowohl p-Implikaturen des Proximativs, wie das folgende Beispiel illustriert, (258) PFA + esse [Imperfekt] et draco stetit ante mulierem quae erat paritura ut cum peperisset filium eius devoraret (Bibelwissenschaft: Biblia Sacra Vulgata, Revelation 12:4) ‘Und der Drache stellte sich vor die Frau, die kurz davor war zu gebären, um ihren Sohn nach der Geburt zu verschlingen’ (eigene Übersetzung)166 als auch kontrafaktische Implikaturen, die sich insbesondere in Verbindung mit dem perfektiven Aspekt (cantaturus fui) als Irrealis der Vergangenheit generalisieren. (259) PFA + esse [Perfekt] (a) Quid enim futurum fuit si si illa pastorum convenarumque plebs transfuga ex suis populis ‘Denn was wäre die Folge gewesen, wenn die damalige Volksmenge aus Hirten und Zugewanderten’ (Livius, Ab urbe condita II,1:4) (b) Dixi me hoc facturum fuisse [past] [acc] [fut perf infin] ‘I said that I would have done it.’ (Fleischman 1982, 37) In Analogie zu cantaturus eram (‘ich war kurz davor zu singen’) entwickelt cantare habebam (‘ich hatte die Absicht zu singen’) aus der Nachzeitigkeit in der
166 In den konsultierten deutschen Übersetzungen der Bibel wird erat paritura mit ‘die in Wehen lag’ (Bibelwissenschaft: Menge-Bibel 1984, Offenbarung 12:4) und ‘die gebären sollte’ (Bibelwissenschaft: Lutherbibel 1984, Offenbarung 12:4) paraphrasiert.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
235
Vergangenheit (Futur-in-der-Vergangenheit) die konditionale (Potentialis-) Bedeutung (‘ich hätte die Absicht zu singen, ich würde singen’).167 Der semantische Wandel der Konstruktion Infinitiv + habere wird nach Fleischman (1982, 66), wie in Abbildung 15 folgt, illustriert.168 cantare habebam (Modal) à cantare habebam (Future-of-the-past) à cantare habebam (Conditional) [obligative] cantare habeo (Modal) à cantare habeo (Future) à cantare habeo (Modal) [obligative]
Abbildung 15: Funktionale Entwicklung der Infinitivkonstruktion mit habere nach Fleischman (1982, 66).
Im Gegensatz zu cantaturus eram zeigt sich cantare habebam überwiegend in der Apodosis (Konsequenz) von Konditionalsätzen. (260) Cantare habebam in der Apodosis Sanare te habebat deus per indulgentiam, si fatereris: quaeris per quem excuses, sed non quaerit ille quem pro te puniat. (LLT-A: Caesarius Arelatensis, c. 500, Sermones Caesarii uel ex aliis fontibus hausti; CPL 1008; SL 103, sermo: 59, cap. 4, lin. 20) ‘Gott würde dich durch Gnade heilen, wenn du bekenntest’ In Analogie zu cantaturus fui wird ebenfalls in Verbindung mit dem perfektiven Aspekt die kontrafaktische Bedeutung (Irrealis) von cantare habui gebraucht, die nach Gamillscheg (1913, 45) als «Irrealis der Vergangenheit» (Irrealis Praeteriti) bekannt ist. (261) Habui + Inf. «Irrealis der Vergangenheit» Venit ad me pater: quid Come-PRF.IND.3SG to me-ACC father-NOM.M.SG what-ACC.N.SG habui facere? Perducere have-PRF.IND.1SG do-INF.PRS.ACT lead-INF.PRS.ACT
167 Cf. auch den ersten Hinweis bei Diez (1882, vol. 2, 491) bzw. den Irrealis Praesentis nach Gamillscheg (1913, 45). 168 Der vertikale Pfeil illustriert eine auf Analogie beruhende Beziehung, während die horizontalen Pfeile den semantischen Wandel nach Fleischman (1982, 66) illustrieren.
236
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
illum ad patruum? Non feci. dem-ACC.M.SG to uncle-ACC.M.SG not do-PRF.IND.1SG ‘My father came to me. What did I have to do? Bring him to my uncle? I did not do it.’ (Sen. Contr. I, 1,19, Rohlfs 1922, 128, zitiert nach Hertzenberg 2012, 391) ‘Was hatte ich zu tun?/ Was sollte ich tun? +> Was hätte ich tun sollen?’ Die folgenden Beispiele von Gamillscheg (1913, 44) illustrieren die kontrafaktische Lesart von cantare habui und habui cantare.169 (262) Habui + Inf./Inf. + habui +> ¬p (a) Ideo hoc dicemus quia si eam inveniset aut pater aut frater . . . scandalum cum eum committere habuit et qui superare potuissit, unus alterum interficere habuit ‘wenn sie ihr Vater oder Bruder so gesehen hätte, so wäre er mit ihm in Streit geraten und der Sieger hätte den andern getötet’ [eigene Hervorhebungen] (Ed. Lgb. a. 733, col. 140, zitiert nach Gamillscheg 1913, 44) (b) Statuimus ut illa mulier qui hoc malum fecerit et consenserit, moriatur. . .quia talem causam nec facere debuit, nec celare; quia si vir ejus cum ancillam suam aut cum alia femina adulterassit, mjulier ipsa ad palatium et ad judicis habuit proclamare ‘denn wenn ihr Mann mit einer Sklavin oder mit einer anderen Frau Ehebruch begangen hat, so hätte die Frau selbst vor dem Hofe und den Richtern sich beschweren sollen’ [eigene Hervorhebungen] (Ed. Lgb. a. 733, col. 140, zitiert nach Gamillscheg 1913, 44) Während cantare habebam vermehrt in Nebensätzen auftritt, wird cantare habui bereits überwiegend in Hauptsätzen gebraucht (cf. Bourova 2005, 306; 2007, 464). In einer von Bourova (2005, 306) dargelegten korpusbasierten Untersuchung des Zeitraums 150–300 n. Chr. treten die im Konjunktiv stehenden Konstruktionen (habeam oder haberem) zu über 93% und in Verbindung mit habebam zu 74% in Nebensätzen (davon zu 37% in Relativsätzen) auf, während habeo zu 65% und habui zu 58% in Hauptsätzen auftritt. In einer weiteren Untersuchung von Bourova (2007, 464) auf der Basis des Korpus Library of Latin Texts (CLCLT-5) in dem großzügigen Zeitraum von den Ursprüngen bis ins 8. Jahrhundert zeichnet
169 Irreführend ist bei Gamillscheg (1913) allerdings die Verwendung des Terminus «präterital» für die kontrafaktische Lesart bzw. den Irrealis Präteriti, der hingegen vielmehr Nicht-p implikatiert.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
237
sich ebenfalls die Affinität von habebam zu Nebensätzen und von habui zu Hauptsätzen ab, wie die Distribution in Tabelle 54 illustriert. Tabelle 54: Distribution von Inf. + habere in Haupt- und Nebensätzen nach Bourova (2007, 464). Inf. + habeo
Inf. + habui
Inf. + habebam
principales
%
%
%
subordonnées
%
%
%
Die Ursache der kontextuellen Abhängigkeit von cantare habebam zu einem Matrixsatz liegt in der Unterspezifiziertheit (bzw. dem anaphorischen Charakter) des Imperfekts, das für die Realisierung von p oder Nicht-p (Kontrafaktizität) nicht spezifiziert ist und demzufolge eines kontextuellen Ankers bedarf (im Gegensatz zu cantare habui, das in Relation zu einem anderen Ereignis steht). Wie Bourova (2007, 471) bereits anmerkt, steht entsprechend des imperfektiven Aspekts die tatsächliche Realisierung von p (bzw. des Ereignisses) zum Sprechzeitpunkt S0 nicht im Fokus, sondern der Referenzzeitpunkt, von welchem die Möglichkeit der Realisierung eingeräumt wird (i.e. in einer möglichen Welt ist p wahr.). Mit cantare habebam wird entsprechend des imperfektiven Aspekts die Referenzzeit fokussiert, während cantare habui entsprechend eines absoluten Tempus im Comrie’schen (1985) Sinne die Nachzeitigkeit stets in Relation zur Origo ausdrückt (cf. Bourova 2007, 467). Mit habui handelt es sich entweder um eine präteritale (p wird R-implikatiert, cf. Kapitel 3) oder um eine kontrafaktische Lesart (¬p wird Q-implikatiert, cf. Kapitel 3). Bei dem Gebrauch des von cantare habebam ausgedrückten «Irrealis der Gegenwart» (Irrealis Praesentis) hält der Sprecher den Sachverhalt zum Sprechzeitpunkt nicht für wahr, während bei dem von cantare habui/habui cantare ausgedrückten «Irrealis der Vergangenheit» (Irrealis Praeteriti) das Ereignis nicht zur Erfüllung gelangen konnte. In den romanischen Gegenwartssprachen wird zum Ausdruck des Irrealis der Vergangenheit der perfektive Aspekt bzw. die Verbindung mit dem Partizip zum Ausdruck der Abgeschlossenheit benötigt, wie in sp. habría cantado ( Futur) auf der einen Seite sowie habeo cantare und habui cantare, zu denen ab dem 8. Jahrhundert die habere ad/de-Periphrasen hinzutreten, in der Entwicklung der modalen Periphrasen auf der anderen Seite. Die obigen Beispiele (261) und (262) mit quid habui facere? (‘Was hätte ich tun sollen?’) und habuit proclamare (‘sie hätte sich beschweren sollen’) illustrieren bereits kontrafaktische Implikaturen der modalen Periphrase habere + Infinitiv, die in einigen Dialekten der romanischen Sprachen übernommen werden und sogar die Avertivbedeutung annehmen (cf. Kapitel 4.4.2). Bereits Rohlfs (1922, 145) hat auf die Avertivbedeutung von lat. habui mori (‘ich wäre beinahe umgekommen’) hingewiesen, die er noch als «merkwürdige Form des Irrealis» bezeichnet und im Leonesischen und süditalienischen Dialekten findet (cf. Kapitel 4.4.2 und Kapitel 4.4.3).
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
239
Eine merkwürdige Form des Irrealis findet sich in Unteritalien und im Leonesischen. Hier wird, wenn man ein drohend bevorstehendes Ereignis (Eventualis) ankündigen will, dessen Eintreten aber schließlich doch unterblieb (paene cecidi), nicht, wie man nach dem ganzen romanischen Verhältnissen erwarten sollte, die präteritale Zeitstufe durch den Infinitiv, sondern durch das Modalverbum zum Ausdruck gebracht, also nicht essere habebam mortuus, sondern habui mori «ich wäre beinahe umgekommen», i.e. es dürfte in diesem besonderen Fall der lateinische präteritale Typ habui dare «ich hätte gegeben» sich erhalten haben (Rohlfs 1922, 145).170
Ab dem 8. Jahrhundert finden sich erste Beispiele der Infinitivkonstruktion mit den Präpositionen ad und de: Analog zu Rohlfs (1922, 115), der sowohl habere ad + Infinitiv als auch habere de + Infinitiv in den Merowingerurkunden des 8. Jahrhunderts ansetzt, findet Slobbe (2004) ebenfalls erst im 8. Jahrhundert zumindest ein einziges Beispiel mit der Präposition ad. (263) Ad Infinitiv + habere . . .per manus nostras recipimus vel through hand-ACC.PL.F our-ACC.SG.F receive-1PL.IND.PR.ACT. or ad recipere habemus to receive-INF.PR.ACT. have-1PL.IND.PR.ACT. ‘. . .we receive or have to / will receive through our hands’ (Pardessus 1843–1849, 330; Slobbe 2004, 110) Die drei HABERE-Infinitivkonstruktionen HABERE + Infinitiv, HABERE AD + Infinitiv und HABERE DE + Infinitiv weisen im innerromanischen Sprachvergleich unterschiedliche Entwicklungen auf, die in den romanischen Gegenwartssprachen zu unterschiedlichen Stadien, wie Obligation (fr. J’ai à travailler.; rum. Am de lucrat. ‘Ich habe zu arbeiten’), Futur (sard. App’ a fughire. ‘Ich werde fliehen.’) oder Avertiv (gl. Houben morrer. ‘Ich wäre beinahe gestorben.’) führen. Im Folgenden werden entsprechend die Sprachen einer genaueren Untersuchung unterzogen, die einen Grammatikalisierungspfad HABERE > Avertiv aufweisen. Da das Galicische einen Avertiv besitzt und das Spanische und Portugiesische, wie wir zeigen werden, einen Avertiv besaßen, werden die iberoromanischen Sprachen in Kapitel 4.4.2 einer korpusbasierten Untersuchung unterzogen werden. In Kapitel 4.4.3 wird darüber hinaus ein Ausblick auf die italoromanischen
170 Im Gegensatz zu Gamillschegs (1913) und Rohlfs (1922) Verwendung des Terminus «präterital» in Bezug auf den Gebrauch der lateinischen habere-Periphrase als Irrealis Praeteriti bzw. für kontrafaktische und sogar avertivische Bedeutungen, wird «präterital» in dieser Arbeit vielmehr als tatsächlicher Präteritums-Gebrauch, i.e. für p implikatierende Handlungen, verwendet.
240
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Sprachen gegeben, die ebenfalls Avertivbelege in älteren Sprachstufen aufweisen. Auf die folgenden Sprachen sei im Hinblick auf die HABERE-Periphrase allerdings zumindest kurz eingegangen. Das Rumänische erweist sich entsprechend der obligatorischen Konjunktivpartikel să in der a avea-Konstruktion als grundsätzlich verschieden zu den anderen romanischen Sprachen (z.B. rum. Am să merg. ‘Ich werde gehen.’).171 Da die Konstruktion sowohl imminentielle als auch prospektive Inferenzen zulässt, wird sie auch von Topor (2011, 119) in ihrer kontrastiven Untersuchung Spanisch-Rumänisch sowohl bei den prospektiven als auch den imminentiellen Verbalperiphrasen eingeordnet. (264) A avea să + Verb im Rumänischen Am să merg acasă. haben.PRS.1SG CONJ.PART gehen nach Hause. ‘Ich werde nach Hause gehen.’ Im Imperfekt wird die prospektive Periphrase in der Vergangenheit in der Avertivfunktion gebraucht. (265) A avea [Imperfekt] să + Verb im Rumänischen (a) Aveam să cad. haben.IMP1SG CONJ.PART fallen ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ (b) Aveam să cad intr-o depresie severa. Depression schwer haben.IMP1SG CONJ.PART fallen in ‘Ich wäre beinahe in eine schwere Depression gefallen.’ Der kurze Zeitraum römischer Herrschaft von 107 bis 271 n. Chr. führt bereits zu einer frühen Trennung zwischen Balkanlatein und mediterranem Spätlatein. Nach dem römischen Gebietsverlust von 271 n. Chr. vollziehen sich auch die ab dem 3. Jahrhundert einsetzenden innovativen Entwicklungen der HABEREPeriphrasen nicht gleichermaßen im Balkanlatein. Zwar vollzieht sich auch im Rumänischen die Entwicklung der spätlateinischen präpositionalen Konstruktionen (ab 8. Jahrhundert), wie habere de + Inf., diese gelangen allerdings nicht über die obligative Bedeutung (rum. Am de lucrat. ‘Ich muss arbeiten.’) hinaus
171 Zur Entwicklung der Konjunktivpartikel să sei u.a. auch auf die Hinweise von Gamillscheg (1913), Euler (2005) und Becker (2010c) verwiesen.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
241
und entwickeln nicht die insbesondere in der Westromania verbreitete Avertivperiphrase (gl. Houben de morrer. ‘Ich wäre beinahe gestorben.’). Das Rumänische bedingt durch den Einfluss der slavischen Sprachen entwickelt zum Ausdruck der Avertivbedeutung die Konstruktion mit der Konjunktivpartikel să, die vielmehr gesondert in Verbindung mit der Genese der Konjunktivpartikel să zu betrachten ist und daher von unserer Untersuchung ausgenommen wird (cf. Kapitel 5.2). Neben den balkanromanischen Sprachen, die aufgrund der să-Partikel eine zu den anderen romanischen Sprachen gesonderte Entwicklung nehmen und aus diesem Grunde aus der Untersuchung ausgeklammert werden, erweisen sich nach korpusbasierter Untersuchung die galloromanischen Sprachen hingegen als zu konservativ für die Untersuchung HABERE > Obligation/Prospektiv > Avertiv, zumal die galloromanischen HABERE (fr. avoir; oc. aver)Periphrasen neben weniger prospektiver Implikaturen nicht über die Obligation hinausgehen. (266) Habere a + Inf. > Obligation im Gegenwartsfranzösischen J’ai à travailler. ‘Ich habe zu arbeiten.’ / ‘Ich muss arbeiten.’ Im Altokzitanischen zeigt sich neben aver a + Inf. zum Ausdruck der Obligation auch noch aver + Inf. für die prospektive Bedeutung. (267) Prospektive Bedeutung von aver + Inf. im Altokzitanischen Si Folcos d’Angieus no.l socor, If Folcon of Angiers doesn’t aid him E-l reis de cui ieu tenc m’onor, (and the king I owe my title to doesn’t do likewise) Guerrejar l’an tut li plusor, most of them will attack him, Felon Gascon et Angevi. those villainous Gascons and Angevins. (Guilhem, Pos de chantar m’es pres talentz) Auch eine Untersuchung auf der Grundlage des NCA-Korpus und der Korpora des Frantext zeigen uns die dominierende Obligationsbedeutung im Altfranzösischen auf. (268) Obligation von avoir a + Inf. im Frantext intégral (a) fu c’onques n’ot tel joie puis que li sieges vint a Troye. 3190 Ffait ses nez ou gravier traire,
242
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
n’en cuide mais avoir a faire, ne que mais li aient mestier. Touz ert lassez de navïer, 3194 or cuide estre asseürez et que ses travaus (Frantext intégral: Anonyme, Le roman d’Eneas, c.1160, p. 226) (b) Pour faire tout vostre plaisir, Si com dit le nous a li roys, Dame, venons a vous touz troys. Qu’avons a faire? (Frantext intégral: Anonyme, Miracle de Berthe, c.1373, p. 179) Es findet sich in unseren galloromanischen Korpusbelegen entsprechend keine zu untersuchende Avertivfunktion. Selbst das bekanntlich besonders avertivaffine Achievement «mourir» (‘sterben’) weist im Skopus der Periphrase einen ausschließlich prädikativen (i.e. p implikatierenden) Gebrauch auf, wie die folgenden Belege aus dem 13. Jahrhundert und dem 17. Jahrhundert exemplarisch für das Französische illustrieren. (269) Obligation von avoir de + Inf. und avoir à + Inf. im 13. Jahrhundert (a) Et quant cil se sent mehaignié, si torne en fuie car poor a de morir. Et Galaad ne l’enchauce plus, come cil qui n’a talent de fere lui plus de mal que il a (Frantext intégral: Anonyme, La Queste del Saint Graal, 1220, p. 43) (b) Vrays amis est cil qui desire toy mesmes, non mie tes choses; vrays amis est cil: quant il avoit a mourir pour toy, disoit: «Nuls homs n’a plus grant amour de ceste, c’est que aucuns mette s’ame pour ses amis.» (Frantext intégral: Pierre Abaelart, Héloïse, La vie et les Epistres, c.1290, p. 84) (c) Que trestuit cil qui ont a vivre Daß alle, die am Leben sind, (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 594s.) (270) Obligation von avoir de + Inf. im 17. Jahrhundert Est-ce pas grande envie d’estre miserable, que de n’attendre pas le mal qu’il vienne, mais l’aller rechercher, le provoquer à venir, comme ceux qui se tuent de la peur qu’ils ont de mourir, c’est-à-dire preoccuper par curiosité ou foiblesse et vaine apprehension les maux et inconveniens, et les attendre avec tant de peine et d’allarme, ceux mesmes qui par adventure ne nous doivent point toucher? (Frantext intégral: Pierre Charron, De la sagesse, 1601, p. 35s., livre 1, chapitre 6)
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
243
‘wie jene, die sich umbringen aus Angst, dass sie sterben müssen’ Im Gegensatz zu den galloromanischen Sprachen, die wir aufgrund der fehlenden Avertivfunktion (Annahme der Nullhypothese) aus einer korpusbasierten Untersuchung ausklammern müssen, lässt sich der Grammatikalisierungspfad HABERE > Avertiv anhand der iberoromanischen Sprachen illustrieren.
4.4.2 Iberoromanische Sprachen In den folgenden beiden Kapiteln wird die Avertiventwicklung in den iberoromanischen Sprachen korpusbasiert untersucht und im Anschluss ein Ausblick auf die italoromanischen Sprachen gegeben. Diesbezüglich wird für HABERE (AD/DE) + Inf. ein Grammatikalisierungspfad Obligation > Prospektiv > Proximativ > Avertiv mit den folgenden Grammatikalisierungsstadien postuliert.172 Tabelle 56: Stages of grammaticalization of Possession > Avertive. Stages of grammaticalization Stage :
have
Possession
Stage I:
have to do p
Obligation
Stage II:
have to do p/be going to do p (+> proximity to p, prediction of p via Rbased implicature)
Obligation/ Prospective R+> p
Stage III:
proximity to p (but q, prediction of p is cancelled, inducing Q-based implicature)
Proximative Q+> ¬p
Stage IV:
was about to do p but did not p
Avertive (¬p)
Darüber hinaus wird dargelegt, unter welchen Restriktionen und mit welcher Frequenz der Avertiv in den älteren iberoromanischen Sprachstufen vorliegt und inwiefern sich sein Abbau im Portugiesischen und Spanischen qualitativ
172 Für den Übergang von Stage III zu Stage IV cf. auch das in Kapitel 2.2 modifizierte und in Kapitel 4.5 verifizierte Modell in Abänderung von Ziegeler (2000; 2006).
244
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
und quantitativ vollzieht, angefangen bei einer sich trennenden Entwicklung von Galicisch, das den Avertiv bereits aus dem Galicisch-Portugiesischen konserviert, und Portugiesisch, das den Avertiv zunehmend wieder abbaut. 4.4.2.1 Galicisch und Portugiesisch In diesem Kapitel wird die Genese des Avertivs auf der Grundlage des Possession-Schemas (‘X has Y’) im Galicischen in kontrastiver Betrachtung zu dem Abbau des Avertivs in dem sich ab dem 14. Jahrhundert trennenden Portugiesisch aufgezeigt. Bevor die Entwicklung der HABERE-Infinitivperiphrasen (HABERE + Inf., HABERE AD + Inf. und HABERE DE + Inf.) im Galicischen und Portugiesischen untersucht wird, wird die gegenwärtige Situation des Galicischen kontrastiv zum Portugiesischen unter Berücksichtigung der beiden großen Varietäten des brasilianischen und europäischen Portugiesisch kurz resümiert dargelegt. Wie in Kapitel 2.1 illustriert, wird der Avertiv von der galicischen Periphrase haber de + Infinitiv sowohl im synthetischen Perfekt als auch im synthetischen Plusquamperfekt ausgedrückt. Neben haber de + Infinitiv wird auch die (in anderen romanischen Sprachen hingegen weitestgehend ausgestorbene) präpositionslose Konstruktion haber + Infinitiv zum Ausdruck des Avertivs in dem (sowohl gesprochenen als auch geschriebenen) Galicischen gebraucht, während haber a + Infinitiv hingegen im Gegenwartsgalicischen, analog zum Gegenwartsspanischen, als nahezu ausgestorben gilt.173 (271) Possession > Avertiv im Galicischen (a) Houben (de) caer. haben.1SG.PERF (von.PRP) fallen.INF ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ (b) Houbera (de) caer. haben.1SG.PQP (von.PRP) fallen.INF ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ Auf die im pretérito perfecto (synthetisches Perfekt) und pluscuamperfecto (synthetisches Plusquamperfekt) ausgedrückte semantische Äquivalenz der galicischen HABERE-Periphrasen zu der im indefinido stehenden spanischen Periphrase estar a punto de + Infinitiv, die in Kapitel 3 als Avertivperiphrase identifiziert wurde, ist bereits in galicischen Grammatiken zahlreich hingewiesen worden (cf. Carré
173 Nach Rojo (1974a, 95ss.) ist die archaische Konstruktion haber a + Inf. noch in wenigen Teilen Galicien, wie in Navia de Suarna, im Gebrauch.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
245
Alvarellos 1967, 82; Rojo 1974a, 99; Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 406s.; Pérez Bouza 1996, 72).174 Die folgenden Beispiele von Carré Alvarellos (1967, 82) illustrieren die Avertivbedeutung der im Perfekt gebrauchten präpositionslosen Konstruktion gl. haber + Inf., die Carré Alvarellos (1967, 82) im Spanischen mit lexikalischen Ausdrücken, wie a poco más, oder der im indefinido stehenden spanischen Periphrase estar a punto de + Infinitiv paraphrasiert. (272) Avertivbedeutung von haber + Inf. Gl. (a) Houben caer (estuve a punto de caer). [Hervorhebungen entfernt] (Carré Alvarellos 1967, 82) (b) Houbeche partir unha perna (estuviste a punto, o a poco más te rompes una pierna). [Hervorhebungen entfernt] (Carré Alvarellos 1967, 82) (c) Houbo morrer (a poco mas se muere). [Hervorhebungen entfernt] (Carré Alvarellos 1967, 82) (d) Houbemos quedar sen nada (a poco mas quedamos sin, nada, o estuvimos a punto de quedarnos sin nada). [Hervorhebungen entfernt] (Carré Alvarellos 1967, 82) (e) Houbestes u houbéchedes afogar (estuvísteis a punto de ahogaros) [Hervorhebungen entfernt] (Carré Alvarellos 1967, 82) (f) Houberon naufragar (estuvieron a punto de naufragar). [Hervorhebungen entfernt] (Carré Alvarellos 1967, 82) Die folgenden Belege von Rojo (1974a) und Álvarez/Regueira/Monteagudo (1986, 405) illustrieren die Avertivbedeutung der sowohl im synthetischen Perfekt (Beispiele a, b, c und d) als auch im synthetischen Plusquamperfekt (Beispiel e) stehenden galicischen Periphrase haber de + Inf. (273) Avertivbedeutung von haber de + Inf. Gl. (a) O pai houbo de morrer co susto. (Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 405) ‘Der Vater wäre beinahe vor Schreck gestorben.’
174 «Lo que queremos destacar aquí es su utilización en la expresión de una acción que estuvo a punto de suceder en el pasado, pero que no llegó a realizarse. Se trata, pues, de una inmediatez que rebasa lo puramente temporal. El auxiliar está siempre en un tiempo perfectivo del pasado, esto es, en perfecto o pluscuamperfecto. Es este carácter perfectivo del auxiliar lo que posibilita la adquisición del nuevo matiz. Aunque otras construcciones pueden expresar lo mismo, haber de + infinitivo es, indudablemente, la más utilizada» (Rojo 1974a, 99).
246
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(b) Fixo ela todo canto aquel home lle mandou, e aínda así, houberon de quedar presos (Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 405) (c) Houbemos de ir ás mans con el. (Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 405) (d) Din que un día houbo de matar a un maiordomo. (T. Brava, 116, zitiert nach Rojo 1974a, 100) (e) Iste señor era o que houbera de casarse coa nosa tía. (Á lus do candil, 91, zitiert nach Rojo 1974a, 100). Zur Verifizierung der zum Teil auf muttersprachlicher Intuition beruhenden Beispiele der Autoren werden einschlägige galicische Korpora konsultiert. In dem galicisch-englischen CLUVI-Korpus wird die Avertivbedeutung der im synthetischen Perfekt gebrauchten galicischen Periphrase haber de + Inf. (Beispiele a und b) bzw. haber + Inf. (Beispiele c und d) im Englischen paraphrasiert wiedergegeben. (274) Avertivbedeutung von haber [PPS] (de) + Inf. Gl. (a) Mowgli sentou e chorou ata que o seu corazón houbo de romper; ‘So Mowgli sat and cried as though his heart would break.’ (CLUVI: Corpus literario tectra inglés-galego, España/Galicia) (b) Ámbolos dous estarreceron e Sam houbo de caer. ‘They started and Sam only just kept his footing.’ (CLUVI: Corpus literario tectra inglés-galego, España/Galicia) (c) O capitán houbo morrer nese momento. ‘And right there the Captain of the Yard must have nearly died.’ (CLUVI: Corpus literario tectra inglés-galego, España/Galicia) (d) Levaba sete anos vivindo a base de carne de foca, polo que, ó ver aquela enorme abundancia de comida, tan variada e celmosa, fun vítima da miña debilidade, e imbrei tal cantidade dela que, de novo, houben morrer esa noite. ‘For seven years I had lived on seal meat, so that at sight of the enormous plentitude of different and succulent food I fell a victim to my weakness and ate of such quantities that once again I was well nigh to dying.’ (CLUVI: Corpus literario tectra inglés-galego, España/Galicia) Für die Avertivbedeutung der im synthetischen Plusquamperfekt gebrauchten Periphrase haber de + Inf. führen wir einen Beleg aus dem CORGA-Korpus (Corpus de Referencia do Galego Actual) an.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
247
(275) Avertivbedeutung haber [Plusquamperfekt] de + Inf. Gl. Ela estudiábao e xa non agachaba unha sorte de devoción cara ao estranxeiro que houbera de perder a vida no deserto e que agora saía da auga, limpo e restaurado, para coller a botella de tequila. (CORGA: Riveiro Coello, Antón, 2001, Homónima, España/Galicia) Die Avertivbedeutung ist lexikalisch verstärkbar, wie der folgende Beleg mit der lexikalischen Verstärkung des Merkmals [Imminenz] durch a pique(s) illustriert. (276) Avertivbedeutung haber de + Inf. mit lexikalischer Verstärkung a pique(s) Gl. A cara que lle viu ó se cruzaren os dous chegoulle tanto adentro, resultoulle tan expresiva da situación que estaba o home a vivir, que o quedou mirando e ata o houbo de chamar, a pique estivo, mentres Chouzas ía baixando a costa. (CORGA: Riveiro Loureiro, Manoel, 1993, Corpo canso, España/Galicia) Eine synchrone Untersuchung auf der Grundlage des galicischen CORGA-Korpus ergibt, dass die Verbalperiphrasen haber + Infinitiv und haber de + Infinitiv in perfektiven Tempora allerdings nicht nur «avertivisch», sondern auch mit einer R-basierten Implikatur von p (und damit in «präteritaler»175 Verwendung) gebraucht werden. (277) haber de + Inf. R+> p Gl. O castelo de Andrade foi derrubado e o seu señor houbo de fuxir a Castela. (CORGA: Xoán Bernárdez Vilar, 1976, Un home de Vilameán. Anatomía dunha revolución, España/Galicia) ‘Er musste nach Kastilien fliehen’ R+> ‘Er floh nach Kastilien.’ Während bei dem avertivischen Gebrauch die faktiv schwächere, modalisierte Aussage zu der Q-basierten Implikatur ¬p führt, führt bei der präteritalen Verwendung die faktiv schwächere, modalisierte Aussage (in den folgenden Beispielen in Form der deontischen Notwendigkeit) zu der R-basierten Implikatur einer faktiv stärkeren Aussage (kurz: R+> p), wie in Kapitel 3 eingehend dargelegt wurde. Neben der vorwiegend ausgedrückten deontischen Modalität, die
175 Im Gegensatz zu Gamillschegs (1913) und Rohlfs (1922) Verwendung des Terminus «präterital» in Bezug auf den Gebrauch der lateinischen habere-Periphrase als Irrealis Praeteriti bzw. für kontrafaktische und sogar avertivische Bedeutungen, wird «präterital» in dieser Arbeit vielmehr als tatsächlicher Präteritums-Gebrauch, i.e. für p implikatierende Handlungen, verwendet (cf. auch Kapitel 4.4.1).
248
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
zur Klassifizierung der Periphrase als deontische Konstruktion geführt hat (cf. Squartini 2004176), existieren allerdings auch Beispiele mit epistemischer Modalität (epistemischer Notwendigkeit), die ebenfalls die oben erwähnte R-basierte Implikatur von p zulassen. (278) Haber (de) + Inf. R+> p in epistemischer Verwendung Gl. Para un home da ralea do alcaide Atherton, houbo ser terrible ver que un prisioneiro indefenso o desafiaba así. ‘It must have been a terrible thing for a man of Warden Atherton’s stripe to be thus bearded by a helpless prisoner.’ (CLUVI: Corpus literario tectra inglés-galego, España/Galicia) ‘[. . .] es muss furchtbar gewesen sein’ R+> ‘es wird furchtbar gewesen sein’ Gl. Calabamos coma mortos _e houbo de ser o perito, o cabrón do Paroleiro outra vez, que mirara todo dende lonxe, tras do vidro da oficina, así como non querendo manchar as mans no choio suxo; (CORGA: Xavier Alcalá, 1978, A fundición e outras narracións, España/Galicia) ‘Es muss wohl der Hund gewesen sein’ R+> ‘es war der Hund’ Des Weiteren ist eine Kompatibilität des HABERE-Avertivs mit der Negationspartikel korpusbasiert nicht nachweisbar. Für das Galicische finden sich weder im CORGA noch im CLUVI Belege der Negationspartikel im Skopus der Avertivperiphrase. Die Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel wird nach unseren Kriterien bekanntlich als fortgeschrittenes Grammatikalisierungsstadium des Avertivs gesehen (cf. Kapitel 3), das beispielweise der französische Avertiv erreicht (Kapitel 4.6). Umgekehrt findet sich die HABEREInfinitivkonstruktion vielmehr im Skopus der Negationspartikel.177 (279) Haber de + Inf. im Skopus der Negationspartikel Gl. Non houben de agardar moitas horas para saber de qué trataban naquela xuntanza privada. (CORGA: Hixinio Puentes, 2000, O bandido Casanova, España/Galicia) 176 Squartini (2004) bezeichnet haber de + Infinitiv (zumindest im Spanischen) als deontische Konstruktion. Dennoch lässt sich für das Galicische ein epistemischer Gebrauch erkennen, wie die Beispiele zeigen. 177 Wie u.a. in Kapitel 3.2.2, Kapitel 4.5 und Kapitel 4.6 aufgezeigt, ist der Avertiv mit einer dem Auxiliar vorangestellten (bzw. im Französischen einer das Auxiliar umschließenden) Negationspartikel inkompatibel. Erst im Zuge einer fortgeschrittenen Grammatikalisierung und einhergenden Skopusverlagerung des Avertivs über die Negationspartikel wird die Negationspartikel vielmehr der infiniten Form der Avertivperiphrase vorangestellt.
249
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
Im (sowohl europäischen als auch brasilianischen) Gegenwartsportugiesischen zeigt sich der Gebrauch von haber de + Inf. in den Tempora PPS und mais-que-perfeito lediglich in Form dieser R-basierten (nicht aber in Form einer Q-basierten) Implikatur und ist zudem im CDP nur relativ randständig dokumentiert. Gegenüber dem marginalen Gebrauch im PPS (3 / 1822) und pretérito mais-que-perfeito simples (11 / 1822) findet sich haver de + Inf. im Portugiesischen überwiegend im imperfeito (966 / 1822) und presente (607 / 1822) zum Ausdruck der Obligation oder Prospektivität, wie Tabelle 57 illustriert.
13
11
Total
Mais-que-perfeito
34
Presente do subjuntivo
Futuro do subjuntivo
172
Pret. perfeito simples
Futuro do indicativo
607
Infinitivo
Condicional
966
Imperfeito do subjuntivo
Presente do indicativo
Haver de + Inf.
Imperfeito
CDP (1900–2000)
simpes (-ra)
Tabelle 57: TAM-Distribution von haver de + Inf. im CDP.
9
5
3
2
1822
Die drei im pretérito perfeito simples (PPS) stehenden europäisch-portugiesischen Belege (3 / 1822) weisen eine aus der Notwendigkeit in der Vergangenheit inferierte Implikatur von p auf. (280) Haver de + Inf. im europäischen Portugiesisch EP (a) Teria sido altamente complicado, mas depois onde, de facto, o PS vem a ser mais importante, na minha opinião, é depois do Verão quente, de facto ai encabeçou a resistência civil na população à tentativa que houve de anular a democracia política. Ai o PS tem, de facto, uma importância muito grande. (CDP: Vasco Lourenço, Oral, Portugal) (b) E o pobre do Padre António Vieira, que, por essas e outras, por ter a rematar-lhe os ombros a mais assombradora cabeça do tempo, houve de pagar a atrevidade, havendo-se com a Inquisição! Bem certo e sabido é que nunca as inquisições transigiram com cabeças de assombrar. (CDP: Tomaz Figueiredo, Noite das Oliveiras, Portugal) (c) seguidamente, rompe o vigoroso monólogo do barítono; depois o, soberbo duetto de barítono e soprano, em cuja tessitura, larga
250
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
e vibrante, cabriola um arranco veemente de paixão, e que Anum-ta, e Tetrazzini houveram de bisar, ao quente estímulo de aplausos estrepitosos. (CDP: Fernanda Botelho, 1957, O Ângulo Raso, Portugal) Für das brasilianische Gegenwartsportugiesisch wird das Corpus Brasileiro konsultiert, anhand dessen sich ebenfalls ein sehr randständiger Gebrauch im PPS verifizieren lässt, der ebenfalls keinen einzigen Beleg in Avertivbedeutung aufweist. (281) Haver de + Inf. im brasilianischen Portugiesisch BP Sobre a personalidade de Reis, o padre Vitor escrevia: «Nasceu em Itaqui, em 4 de abril de 1905. . . João houve de acompanhar o pai e trabalhar para ajudá-lo. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) ‘João musste den Vater begleiten und arbeiten, um ihm zu helfen.’ Auch im mais-que-perfeito simples (0 / 11) ist kein einziger Avertivbeleg mehr im Gegenwartsportugiesischen zu finden. (282) Haver (mais-que-perfeito simples) + Inf. im europäischen Portugiesisch EP (a) o fuso ali guardado porque eu também não.. Para que Porque é que o houvera de ter acolá a estragar? O fuso (..) é a obra melhor (CDP: ORAL, Cordial: FLF18, Portugal) ‘Wofür und warum hat er es da drüben vergammeln lassen müssen?’ R+> ‘Er hat es da drüben vergammeln lassen.’ (b) Eu houvera de ter uns dezassete, dezoito anos quando comecei nisso. (CDP: ORAL, Cordial, Portugal) ‘Ich muss ungefähr siebzehn, achtzehn Jahre alt gewesen sein, als ich damit begann.’ R+> ‘Ich war ungefähr siebzehn [...]’ (c) Decerto houvera de sofrer os seus temores e vexames de caloiro. Mas, passados, já (CDP: José Régio, 1942, O Príncipe com Orelhas de Burro, Portugal) ‘Decerto musste Ängste und Schande eines Neulings erleiden.’ R+> ‘Decerto erlitt Ängste [. . .]’ In 3 von 11 Belegen der HABERE-Periphrase im mais-que-perfeito simples liegt die Periphrase, analog zum Galicischen, im Skopus der Negationspartikel, i.e. die Negationspartikel ist dem Auxiliar (und nicht der infiniten Form, wie im Falle eines Avertivs!) vorangestellt.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
251
(283) Haber de + Inf. im Skopus der Negationspartikel EP Faço – declarou ti’ Ana sempre risonha. – Ora essa! então não houvera de fazer caso do que diz a menina! Vou já aquecer-lhe o seu café (CDP: José Régio, 1942, O Príncipe com Orelhas de Burro, Portugal) ‘Er hätte sich nicht ärgern sollen über das, was das Mädchen gesagt hat.’ R+> ‘Er hat sich geärgert.’ Analog zum Portugiesischen ist auch im Galicischen der Gebrauch im Präsens und Imperfekt zum Ausdruck einer sowohl modalen (obligativen) als auch temporal-aspektuellen (prospektiven) Bedeutung frequent, wobei sich oftmals die temporal-aspektuelle (i.e. prospektiven) Bedeutung bereits aus der modalen (obligativen) Bedeutung inferieren lässt, im Gegensatz zu der spezifischen modalen (obligativen) Verbalperiphrase gl. hai que + Infinitiv. Die folgenden Beispiele zeigen den vorwiegend modalen Gebrauch (deontische Notwendigkeit) der Verbalperiphrasen haber + Infinitiv und haber de + Infinitiv im Präsens und Imperfekt. (284) Modale Bedeutung (deontische Notwendigkeit) von haber (de) + Inf. Gl. (a) Cómese moi ben en Sarria. E non se ha de comer (. . .) (T. Brava, 28, zitiert nach Rojo 1974a, 96) (b) ¿Acordaste da (. . .)? E non te has de acordare. (T. Brava, 233, zitiert nach Rojo 1974a, 96) (c) (. . .) Si quer sabere a historia (. . .) –E non hei de querer (. . .)! (Á lus do candil, 138, zitiert nach Rojo 1974a, 96) (d) Comadriña, ¿qué ten no pote que ole tan ben? –¿E que hei de ter? Caldo de berzas con unto vello e por iso cheira ben. (C. Lugo, 100, zitiert nach Rojo 1974a, 96) (e) (. . .) nin me turben os ollos de abraio e acusación dos transeuntes que pasan ante mín. ¿Por qué haberían de turbarme? (A orella, 24, zitiert nach Rojo 1974a, 96) (f) Vello: ¿qué falan de min por ahí diante? –¡Qué han de falar, siñor! Din que vosa Maxestá é máis malo que Caín (. . .) (O tío Miseria, 49, zitiert nach Rojo 1974a, 96) (g) ¿Ónde vas, meu picariño? –¿Ónde hei de ir? ¡A casa da miña nai! (Os dous, 31, zitiert nach Rojo 1974a, 96) (h) Non sei por onde hei comezar a amece-las partes, se pola cabeza ou polos pes. É doado falarlles ós grandes, pero para os nenos todo ha ter relación, porque se non comezan a teimar nese fío que lles deixamos solto. (Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 406)
252
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Neben dem modalen Gebrauch (insbesondere der deontischen Notwendigkeit) zeigt sich analog zu den anderen iberoromanischen Sprachen der tempo-aspektuelle Gebrauch (Prospektiv) der galicischen Verbalperiphrasen im Präsens und Imperfekt.178 (285) Temporal-aspektueller (prospektiver) Gebrauch von haber (de) + Inf. Gl. Vouche contar unha cousa que te ha de pasmar; Díxenche que che ía contar unha cousa que te había de pasmar. (Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 405) Gl. Xa sei que eres calada, e por calada heime casar contigo. (O tío Miseria 27, zitiert nach Rojo 1974a, 94) EP Então não era tão bom ter cada um as suas coisas e vivermos juntos? Por enquanto era assim, mas depois havia de ser melhor. (CDP: José de Almada Negreiros, 1925, Nome de Guerra, Portugal) Den aufgezeigten synchronen Unterschieden zwischen den Gegenwartssprachen Galicisch und Portugiesisch liegen zwar unterschiedliche Entwicklungen, jedoch eine gemeinsame Avertivgenese im Galicisch-Portugiesischen zugrunde. Im Folgenden wird die Avertiventwicklung im Galicisch-Portugiesischen sowie der anschließende Abbau des Avertivs im Portugiesischen und seine Konservierung im Galicischen auf der Grundlage einschlägiger Korpora untersucht. Bisherige Überlegungen konzentrierten sich hingegen insbesondere auf die modal-temporale Entwicklung (i.e. Obligation > Futur) der HABERE-Periphrase in Analogie zu der Entwicklung des synthetischen Futurs. Hinsichtlich des Grammatikalisierungspfades der romanischen HABERE (DE)-Periphrase Possession > Obligation (>Intention) > Futur gilt das Portugiesische als Zwischenstufe der Intention «feste Absicht» und das Galicische unter den iberoromanischen Sprachen am weitesten fortgeschritten (cf. Rojo 1974a, 93; Schäfer-Prieß 1999, 103). Der korpusbasierten Untersuchung wird der für die iberoromanischen Sprachen eingangs postulierte Grammatikalisierungspfad Possession > Obliga-
178 «Aparece este valor fundamentalmente co presente e pretérito imperfecto de indicativo: [. . .] Con este valor, na lingua actual é moito máis frecuente a perífrase cás formas simples da conxugación, singularmente andarei. Como se verá ó tratar das perífrases modais, estas perífrases poden tamén, nalgúns casos, ter valor obrigativo» (Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 405). «Haber (de) + infinitivo: [. . .]. Valor de futuridad, pues, con el presente y con el imperfecto de indicativo;» (Pérez Bouza 1996, 72).
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
253
tion > Prospektiv > Proximativ > (Proximativ in der Vergangenheit >) Avertiv mit den folgenden Stadien zugrunde gelegt.
Tabelle 58: Stages of grammaticalization of Possession > Avertive. Stages of grammaticalization Stage :
have
Possession
Stage I:
have to do p
Obligation
Stage II:
have to do p/be going to do p (+> proximity to p, prediction of p via R-based implicature)
Obligation/ Prospective R+> p
Stage III:
proximity to p (but q, prediction of p is cancelled, inducing Q-based implicature)
Proximative Q+> ¬p
Stage IV:
was about to do p but did not p
Avertive (¬p)
Die frühesten Belege der HABERE-Periphrasen auf der Grundlage der Korpora der GMHP finden sich im Galicisch-Portugiesischen (ca. 12. Jh. bis 1350) sowohl in Verbindung mit der Präposition de als auch mit a sowie ohne Präposition als Obligationsausdruck (agensorientierte deontische Notwendigkeit), der in den folgenden Belegen in einem Vergangenheitskontext den Eintritt von p Rimplikatiert (Stage II). (286) Haver a + Inf. im Galicisch-Portugiesischen (1200–1300) Nie hat eine Frau solches Leid Nunca molher tal coyta ouv’ a ertragen müssen wie ich, wenn sofrer179 20 Com’ eu, quando me nenbra o gram mir die große Freude in den Sinn prazer kommt, die ich ihm erwies, als er
179 ouv‘ a sofrer kann paraphrasiert werden mit ‘hatte ich zu ertragen’, ‘musste ich ertragen’.
254
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Que lh’ eu fiz, hum ha cinta veo a cinger, E creceu-mi tal coita no coracon, Quand’ eu soby nas torres po-lo veer, Que a morrer ouvera180 por el enton.
mir den Gürtel anlegte, und es erwuchs mir solches Leid – in meinem Herzen –, als ich auf die Türme stieg, um ihn zu sehen, – daß ich um seinetwillen sterben musste. (Gonçal’Eanes do Vinhal, 180s.)
(287) Haver a + Inf. im Galicisch-Portugiesischen (< 1300) Gl.-pg. (a) Por fazendas de sa casa muitas que ouv’ a fazer. (GMHP: Antconc: Cantigas de Santa Maria) (b) Por hun dia que mha senhor non vi, d’ atant’ ouver’ a morrer con pesar. Quen me quiser, venha-m’ aqui buscar. (GMHP: Antconc: Airas Corpancho) (c) E pois viu que por esto ja morte non presera, ar foi comer outra, grand’, empoçôad’ e fera, con que inchou tan muito que a morrer ouvera. E jazend’ en tal coita, muito sse repentia Muit’ é mais a piadade de Santa Maria. . . (GMHP: Antconc: Cantigas de Santa Maria) (288) Haver de + Inf. im Galicisch-Portugiesischen (< 1300) Gl.-pg. (a) que uistes mal doante De mao mal ond ouuera de moirer, Eu pug a mano en el e caente o (GMHP: Antconc: Fernão Garcia Esgaravunha, 13. Jh.) (b) un pedreiro que ouvera de caer de cima da obra,. . . (GMHP: Antconc: Cantigas de Santa Maria) (c) Ar foron outra razon começar Sobre que ouuerom de peleiar, (GMHP: Antconc: Pero Amigo de Sevilha, 13. Jh.) (289) Haver (Ø) + Inf. im Galicisch-Portugiesischen (< 1300) Gl.-pg. e foy m ora fazer tan gram pesar que ouuera moirer; mays eu, sandia, que lhe fez por en? (GMHP: Antconc: João Garcia Sobrinho)
180 Die Übersetzung legt zwar eine R-basierte Implikatur nahe (‘ich musste sterben +> ich starb’), allerdings lässt das galicisch-portugiesische Beispiel auch bereits die Q-basierte Inferenz ‘dass ich beinahe gestorben wäre +> ich starb nicht’ zu.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
255
Im Zuge der diachronen Untersuchung der Avertivbedeutung werden die drei Periphrasen haver + Inf., haver a + Inf. und haver de + Inf. hinsichtlich ihrer TAM-Distribution exploriert. Die -ra-Form (Indikativ Plusquamperfekt) weist in der TAM-Distribution der haver-Infinitivperiphrasen die stärkste Avertivaffinität im CDP-Korpus auf, die bis zum 17. Jahrhundert mit haver + Inf. und haver de + Inf. belegt ist. Hinsichtlich der Periphrase haver a + Inf. finden sich lediglich im 14. Jahrhundert noch 4 Belege in der -ra-Form, die alle Avertivbeispiele darstellen. Tabelle 59: HABERE-Avertivperiphrasen in der -ra-Form im CDP (1300–1999). Corpus do Português
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Haver + Inf.
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Haver a + Inf.
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Haver de + Inf.
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Analog zum Altspanischen (cf. Kapitel 4.3.2) wird die Avertivbedeutung zunächst noch durch lexikalische Verstärkungen, wie por pouco oder quase, sowie durch einen Adversativsatz («mays a auetura [. . .]»), der die R-basierte Implikatur (des Eintritts von p) aufhebt und eine Q-basierte Implikatur (des Nicht-Eintritts von p) einleitet, kontextuell unterstützt (Stage III). (290) Kontextuelle Verstärkung der Avertivbedeutung von ouvera de + Inf. Gl.-pg. Et Diomedes ficou tã malchagado que per pouco ouuera de morrer, mays a auëtura nõ quiso que a ssaeta passasse per meatade do corpo. Et leixousse yr a el quanto o caualo o podo leuar et, cõmo era forte et ardido, deulle tal ferida per meo dos costados que llos cortou anbos et llos parteu en duas partes. (CDP: Cronica Troyana, 1388) ‘Diomedes war so stark versehrt, dass er beinahe gestorben wäre, aber [. . .]’ 3 der 4 Belege von ouvera a + Inf. aus dem 14. Jahrhundert, die nachfolgend in Beispiel (291) aufgeführt werden, werden noch kontextuell bzw. lexikalisch unterstützt mit por pouco (< per pouco) sowie auch mit a poucas.
256
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(291) Kontextuelle Verstärkung der Avertivbedeutung von ouvera a + Inf. Gl.-pg. tã grãdes colpes que todo o abalou, en tal gisa que per pouco Éytor ouuera a yr en terra. (CDP: Cronica Troyana, 1388) Gl.-pg. Et desmalloulle o manípulo da loriga et a poucas lle ouuera a tallar o dedo da mão; pero nõ foy Éytor tã malchagado. (CDP: Cronica Troyana, 1388) Gl.-pg. deulle per meo da perna hûa tã grã ferida que, per pouco, o ouuera a derribar en terra. (CDP: Cronica Troyana, 1388) Die Kontexte der diachron späteren Avertivbelege, die bereits nahezu ausschließlich mit haber de + Inf. vorliegen, weisen im Zuge der Konventionalisierung hingegen keine kontextuelle Verstärkung mehr mit per pouco oder eines Adversativsatzes auf. Der folgende Beleg illustriert den Gebrauch des Avertivs ohne die Verstärkung mit por pouco oder eines Adversativsatzes, jedoch in der Apodosis eines die Kontrafaktizität unterstützenden irrealen Konditionalsatzes. (292) Avertivbedeutung von ouvera de + Inf. im 16. Jahrhundert Pg. Este anno adoeceo hum irmão nosso gravemëte, & ouvera de morrer á falta de sangrias, senão fora hum padre que se atreveo ao sangrar com a ponta de hum caniuete, com que se achou logo milhor & conualeceo. [. . .] (CDP: Rebello, Carta de um padre ao provincial de Portugal, 1587) Im Gegensatz zu den zahlreichen Beispielen im Galicischen finden wir im portugiesischen CDP-Korpus die letzten Avertivbelege (7 / 48) im 17. Jahrhundert. (293) Avertivbedeutung von ouvera de + Inf. im 17. Jahrhundert Pg. Outro tanto nos houvera de ter acontecido neste pouco tempo, pelas ocasiões que se verão adiante, mas fez-nos Deus mercê que nos não apressássemos [e], ainda que ao princípio recebemos benefícios, avaliássemos as pessoas pelo que fazem, e não pelo que nos fazem. (CDP: António Vieira, Cartas do padre António Vieira, 1608–1697) Während die Avertivkonstruktion im Galicischen konserviert wird, baut sich die Avertivkonstruktion im Portugiesischen vollständig ab. Abbildung 16 (Seite 257) illustriert den Abbau der Avertivfunktion der in der -ra-Form stehenden Periphrase haver de + Inf. im Portugiesischen auf der Grundlage des CDP-Korpus.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
257
70% 65.22% 60% 50% 40%
41.18%
haver (-ra) de Inf.
30% 20% 14.88%
10%
14.58%
0% 0.00%
0.00%
13 00 –1 39 9 14 00 –1 49 9 15 00 –1 59 9 16 00 –1 69 9 17 00 –1 79 9 18 00 –1 89 9 19 00 –1 99 9
0.00%
Abbildung 16: Abbau der Avertivperiphrase haver (Plusquamperfekt mit -ra) de + Inf. im CDP.
Im pretérito imperfeito do subjuntivo (Konjunktiv Imperfekt) wird der Avertiv weder in der gegenwärtigen Synchronie noch in der Diachronie der drei HABERE-Periphrasen ausgedrückt, wie die folgende Untersuchung in Tabelle 60 zumindest auf der Grundlage des CDP-Korpus illustriert.
Tabelle 60: HABERE-Avertivperiphrasen in der -sse-Form im CDP (1300–1999). Corpus do Português
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Haver + Inf.
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Haver a + Inf.
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Haver de + Inf.
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258
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Die haver-Periphrase mit sse-Flexion erscheint hingegen vorwiegend in Nebensätzen (oftmals im Antezedens von Konditionalsätzen) und ist auf die modale Bedeutung, je nach Kontext potentiale oder irreale Bedeutung, beschränkt. (294) Ouvesse de + Inf. ≠ Avertiv E o Cide pediolhe que os filhos d’algo ouvessem privilegio que, quando algûû ouvesse de sair da terra, que ouvesse d’espaço #XXX dias, assy como ãte avyã (CDP: CIPM: CGEsp) Während das pretérito imperfeito do subjuntivo (-sse) keine signifikante Auswirkung auf die Avertivbedeutung hat, findet sich die Avertivbedeutung im Gebrauch der Periphrase im pretérito perfeito simples do indicativo (PPS; synthetisches Perfekt). Der folgende Beleg illustriert den Gebrauch der Periphrase im PPS («ouveron de morrer») mit anschließenden Adversativsatz («Mais o padr’ abriu a boca»), der entsprechend des dritten Stadiums des eingangs postulierten Modells die R-basierte Implikatur der Prädiktion (p) aufhebt und die Q-basierte Implikatur (¬p) auslöst (proximity to p but q +> therefore not p). (295) Ouveron de morrer Q+> ¬p Gl.-pg. E ynd’ en aquel cavalo, ouv’ assi de contecer que da muit’ alta ponte foi o menynno caer e o cavalo con ele, e ouveron de morrer. Mais o padr’ abriu a boca e a Virgen foi chamar, Tan gran poder á a Virgen aos da terra guardar. . . (Cantigas de Santa Maria, Cantiga CCCXXXVII) Neben der sich entwickelnden Avertivbedeutung koexistiert allerdings das zweite Stadium, bei dem aus der deontischen Notwendigkeit heraus der Eintritt von p in der Vergangenheit R-implikatiert wird, wie die folgenden beiden Belege illustrieren. Der erste Beleg illustriert, neben der R-basierten Implikatur des Eintrittes von p, darüber hinaus eine bereits ableitbare Inferenz des Proximativs (proximity to p, prediction of p via R-based implicature), die den Übergang von Stadium II zu Stadium III illustriert.181
181 Dieses Übergangsstadium von Stage II zu Stage III wird in dem eingangs postulierten Modell (cf. Tabelle 56, Seite 243) nicht explizit noch einmal aufgeführt, um die übliche Form von 4 Stadien beizubehalten.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
259
(296) Ouve de + Inf. R+> p (a) E, quando ouve de morrer, confessou aaquelle cavalleiro toda sua fazenda e rogoulhe que o metesse em o avyto de Cistel, onde prometera de morrer, e que o levassem ao moesteiro de Poblete a soterrar. E o cavalleiro assy o fez como lhe elle mãdou. Os Aragoesses, quando virõ em como avyã perdudo seu senhor e o nõ podyam cobrar, tomaron seu irmãão dom Ramiro, o que era monge, e tirarõno do moesteiro e tomarõno por rey e por senhor. (CDP: Crónica Geral de Espanha de 1344) ‘Und, als er sterben musste, [. . .]’ +> ‘als er kurz davor war, zu sterben’ R+> ‘er starb’ (b) E tã bë sabia trajer sua fazëda e ordenar sua vida que, quando ouve de morrer, pesou muito a todos da sua morte, tãto o amavã. E, quando morreo, mãdouse enterrar a par do cavalo do Çide ëna praça, ca elle em sua vida mandara hy fazer sua sepultura muy bem lavrada. (CDP: Crónica Geral de Espanha de 1344) ‘[. . .] als er sterben musste [. . .]’ R+> ‘er starb’ Die Avertivbedeutung der im PPS gebrauchten haver-Periphrase mit anschließenden Adversativsatz ist im CDP-Korpus noch bis in das 16. Jahrhundert belegt, wie das folgende Beispiel illustriert. (297) Ouve de + Inf. Q+> ¬p Muitas cousas te houve de escrever, mas nom te quise escrever per pena e per tinta, mas espero de te veer aginha, e falaremos de boca a boca. Paz seja a ti. Saudam-te os amigos flees que estam comigo. (CDP: Brihuega, Bernardo de, 1505, Os autos dos apostolos, Lisboa) Im Gegensatz zu der Avertivdistribution mit dem Plusquamperfekt (-ra) weisen die Infinitivperiphrasen im PPS eine prozentual schwächere Avertivdistribution auf. Nichtsdestotrotz zeigt sich hinsichtlich haver de + Inf. ein Anstieg der Avertivfunktion bis ins 16. Jahrhundert, die sich im Portugiesischen hingegen wieder abbaut und lediglich im Galicischen konserviert wird (cf. Tabelle 61, Seite 260). Die Negationspartikel im Skopus der Verbalperiphrase ist im Gegensatz zu vollständig grammatikalisierten Avertivkonstruktionen (cf. besonders Kapitel 4.6) in den sowohl diachronen als auch synchronen Korpora hingegen (noch) nicht gegeben. Die Infinitivkonstruktion im Skopus der Negationspartikel findet sich analog zum oben aufgezeigten Gegenwartsgalicischen bereits im GalicischPortugiesischen und entwickelt entsprechend keine Avertivkompatibilität, wie die Beispiele in (298), Seite 260, illustrieren.
260
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 61: HABERE-Avertivperiphrasen im PPS im CDP (1300–1999). Corpus do Português
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Haver + Inf.
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Haver a + Inf.
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Haver de + Inf.
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(298) Periphrase im Skopus der Negationspartikel > Keine Avertivkompatibilität Gl.-pg. Mas esto nõ pode seer tanto em puridade que o logo nõ ouve de saber Yssem. (CDP: CIPM: CGEsp) Gl.-pg. esto he por que se nõ ouue de meter con mïgua a ffazer cousas desguysadas (CDP: Afonso: Partida1) EP Lyra scilicet os apostollos os quaaes estauã ajuntados em caridade de jrmaãos. non auia de morrer. Thomas cuydarom que o senhor disselhe que elle auia de ficar assy. scilicet sempre viuer & nõ auer de morrer atee que xpisto viesse ao juyzo. (CDP: Gonçalo Garcia de Santa Maria, 1497, Euangelhos e epistolas con suas exposições en romãce) EP De fato, se aquela tarefa não houvesse de ser árdua e difícil, também a vontade não podia resultar superlativamente dura e preciosa. (José Sobral de Almada Negreiros, O cágado) ‘In der Tat, wenn die Aufgabe nicht mühevoll und schwierig wäre, könnte auch kein äußerst harter und edler Willen daraus hervorgehen.’ (Schuldes 2011, 11) An die kontrastive Untersuchung der Avertiventwicklung im Portugiesischen und Galicischen schließt sich im Folgenden die Genese und der Abbau des HABERE-Avertivs im Spanischen an.
4.4.2.2 Spanisch Während haber que + Infinitiv und tener de/que + Infinitiv neben der epistemischen Verwendung182 überwiegend für den Ausdruck der (agensorientierten)
182 Zur epistemischen Bedeutung von sp. tener que (Bsp. Tiene que estar en casa ahora.) cf. Schäfer-Prieß (2001).
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
261
Obligation im Gegenwartsspanischen gebraucht werden, unterlagen die HABERE (AD/DE)-Infinitivperiphrasen vom Lateinischen bis zum Gegenwartsspanischen einem kontinuierlichen semantischen Wandel, bei dem sie im Altspanischen einen Avertiv herausbildeten und diesen bis zum Gegenwartsspanischen vollständig abgebaut haben. Im Folgenden wird, analog zum Galicisch-Portugiesischen, der eingangs postulierte Grammatikalisierungspfad Obligation > Prospektiv > Proximativ > Avertiv im Spanischen verifiziert. Bevor diese Entwicklung der HABERE-Infinitivperiphrasen (HABERE + Inf., HABERE AD + Inf. und HABERE DE + Inf.) im Spanischen aufgezeigt wird, wird die aktuelle Situation im (insbesondere peninsularen) Gegenwartsspanischen kurz resümiert dargelegt. In den meisten diatopischen Varietäten des Gegenwartsspanischen hat von den drei im Altspanischen noch existierenden Periphrasen, HABERE AD + Inf., HABERE DE + Inf. und HABERE + Inf., lediglich HABERE DE + Inf. überlebt, während im heutigen Asturien (nicht zuletzt durch die Nähe zu Galicien) sowie im Leonesischen die präpositionslose Konstruktion, haber + Inf., in prospektiver Bedeutung noch existiert (cf. Rohlfs 1922, 110). In anderen diatopischen Varietäten findet sich die präpositionslose Konstruktion noch vereinzelt in gesprochener Sprache, wie in den folgenden zwei Beispielen zum Ausdruck deontischer Modalität im peninsularen (Beispiel 299) und cubanischen Spanisch (Beispiel 300). (299) Haber+ Inf. im (gesprochenen) peninsularen Spanisch Y – me gustaría que – el tiempo que nos quede pensásemos entre todos qué es realmente lo que queremos; cuál es el papel que hemos darle a la tecnología de la reproducción; (CDE: España Oral: AHUM019A) (300) Haber + Inf. im (gesprochenen) cubanischen Spanisch Allá en Cuba teníamos que ir mucho porque allá nos daban. . . últimamente nos daban la. . . por ejemplo, un día decían hay tal cosa, había ir, hacer la cola y había que ir en el momento a buscarla. (CDE: Habla Culta: Havana: M7) Im peninsularen Gegenwartsspanischen (und den meisten diatopischen Varietäten des Spanischen) hat die Verbalperiphrase haber de + Infinitiv den Ausdruck der Obligation (in Form der generalisierten deontischen Notwendigkeit) und der Prospektivität konserviert. (301) Haber de + Inf. im Gegenwartsspanischen Todos, antes o después, hemos de morir. (Gómez Torrego 1999, 3355) Pronto lo habréis de saber. (Gómez Torrego 1999, 3355)
262
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Im imperfecto wird die modale Periphrase auch zum Ausdruck des Potentialis, äquivalent zu der lateinischen Konstruktion cantare habebam (> habebam de cantare), gebraucht. (302) Haber (Imperfekt) de + Inf. Esa actitud había (habría) de influir en los demás. (Gómez Torrego 1999, 3355) Im indefinido (auch: pretérito perfecto simple, PPS) handelt es sich im peninsularen Spanisch und den meisten hispanoamerikanischen Varietäten um den «präteritalen Gebrauch»183 des lateinischen cantare habui/habui cantare, dem wir eine R-basierte Implikatur von p (R+> p) zuschreiben. (303) Haber [PPS] de + Inf. R+> p (a) Hube de soportarlo durante años. (Gómez Torrego 1999, 3355) ‘Ich musste es jahrelang ertragen.’ R+> Lo soporté durante años. ‘Ich habe es jahrelang ertragen.’ (b) María tuvo una niña. Y tuvo también – era inevitable – un conflicto. Al parecer, llegó allí sin avisar y ya muy avanzado el parto. La comadrona hubo de intervenir rápidamente. Como fue por la noche, tuvo que ser llamada y entró en la habitación todavía en traje de calle. (CREA: Inés Palou, 1975, Carne apaleada, España) La comadrona hubo de intervenir rápidamente. ‘Die Hebamme musste schnell eingreifen.’ R+> La comadrona intervenó rápidamente. ‘Die Hebamme griff schnell ein.’ (c) El compromiso del autor, y el precio que hubo de pagar por él – como Lorca buscó en Granada, también Miguel buscó entre los suyos de Orihuela una comprensión, un testimonio y una amistad, (CREA: Triunfo, 25/06/1977, El labrador de más aire, en el Griego, España) el precio que hubo de pagar por él ‘den Preis, den er dafür bezahlten musste’ R+> el precio que pagó por él ‘den Preis, den er dafür bezahlte’
183 «Dieselbe Verwendung [i.e. im Sinne eines durativen Präteritums] bietet noch heute das Regional-Spanische von Murcia; vgl. Me hará usted un gran favor. . .hube de responderle ‹antwortete ich ihm›, Alb. Sevilla, Gazapos literarios 68, en las Nociones. . .que hubo de escribir (‹geschrieben hat›) el doctor catedrático, ib. 160, en cambio no hubo de anotar (‹hat er nicht vermerkt›) palabras tan murcianas como. . ., id. Vocab. Murcian., p. IX usw.» (Rohlfs 1922, 145).
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
263
(304) Haber [PPS] de + Inf. R+> p (a) Los dos queríamos abatir la tiranía fernandina. . . Con pesar hube de alejarme de mi predecesor. Su moderantismo nos llevaba a un callejón sin salida. (CREA: Antonio Buero Vallejo, 1977, La detonación, España) ‘Mit Bedauern musste ich mich von meinem Vorgänger entfernen.’ Hube de alejarme. ‘Ich musste mich entfernen.’ R+> Me alejé. ‘Ich entfernte mich.’ (b) Al fin, Hacón comenzó visiblemente a perder algo de la violencia que ejercía sobre sí mismo para mantener una apariencia de vigor y arrojo, y cual un títere con los hilos sueltos, empezó a tambalearse, teniendo que buscar apoyo en mí dos o tres veces que estuvo a punto de caer; y, temeroso de hacerlo una tercera en redondo, impuso a su voz algunas ruinas de su autoridad, «ordenándome», por decirlo así, que le acompañara a la cama. Lo que así hube de hacer, tras convertir el asco en alimento para la palabra de mi mente, que puse en movimiento para poder estar solo mientras le arrastraba hacia su choza, y comenzó a tejer, alterando sutilmente el compás de su torpeza: [. . .] (CREA: Leopoldo María Panero, 1976, El lugar del hijo, España) Lo que hube de hacer. ‘Was ich machen musste.’ R+> Lo que hice. ‘Was ich machte.’ (c) Como puede verse, estas ideas hubieran pasado poco después por falangistas, lo que son las ironías de la Historia. . . intelectual. Es ocioso recordar que Fernando de los Ríos hubo de morir exiliado, como tantos otros, y representa un monumento de honradez política, intelectual y personal. (CREA: José Luis Gutiérrez; Amando de Miguel, 1989, La ambición del César. Un retrato político y humano de Felipe González, España) ‘Fernando de los Ríos musste im Exil sterben.’ Hubo de morir exiliado. ‘Er musste im Exil sterben.’ R+> Murió exiliado. ‘Er starb im Exil.’ (d) Un dolor magnífico funda la relación de Iberia con el Nuevo Mundo: un parto que ocurre con el conocimiento de todo aquello que hubo de morir para que nosotros naciésemos: el esplendor de las antiguas culturas indígenas. (CREA: Carlos Fuentes, 1992, El espejo enterrado, México) ‘[. . .] alles, was sterben musste, damit wir geboren werden.’ todo aquello que hubo de morir ‘alles, was sterben musste’ R+> todo aquello que murió. ‘alles, was starb’
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Im argentinischen Spanisch wird im Gegensatz zum peninsularen Spanisch auch (noch) die Avertivbedeutung ausgedrückt, wie bereits Capdevila (1889, 145s.) anführt. En efecto, cuando un argentino dice que hubo de viajar a Europa, quiere significar que habiendo estado a punto de hacerlo, no lo hizo, Tal el lenguaje corriente. Haber de. . . esto o aquello manifiesta, pues, en el cotidiano uso, un conato de acción; por eso siempre se añade la conjunción adversativa pero con que se expresa en qué consistió el impedimento. Nada más fuera de razón. Mientras tanto, los mejores hablistas hispanos y nuestros más notables escritores, emplean dicha forma auxiliar del verbo haber, en un sentido completamente opuesto. Hube de viajar a Europa significa para ellos que el viaje se realizó; con esto de particular: que fué necesario hacerlo. Haber de hacer algo es entonces como tener que hacer; denota siempre un hecho concluido (Capdevila 1889, 145–146).
In dieser Arbeit wird angenommen, dass es sich bei Nicht-p um eine Q-basierte Implikatur handelt, indem der Hörer aus der modalisierten, faktiv schwächeren Proposition inferiert, dass die Handlung nicht vollzogen wurde. (305) Haber [PPS] de + Inf. +> ¬p im argentinischen Spanisch Arg. Hubo de viajar a Europa. (Capdevila 1889, 145) Q+> No viajó a Europa. ‘Er reiste nicht nach Europa.’ Allerdings ist die avertive Bedeutung auch im argentinischen Spanisch nicht vollständig konventionalisiert, wie das folgende Beispiel mit R-basierter Implikatur illustriert. (306) Haber [PPS] de + Inf. +> p im argentinischen Spanisch Arg. A pesar de no haber recibido influencia alguna previa para llegar a esos resultados, Freud hubo de aceptar, más tarde, que Schopenhauer lo había precedido en la formulación de este concepto, tal como puede verse en su obra El mundo como voluntad y representación. (CREA: Edgardo H.Rolla, Familia y personalidad, Argentina). Freud hubo de aceptar [. . .] ‘Freud musste akzeptieren [. . .]’ R+> Freud aceptó [. . .] ‘Freud akzeptierte [. . .]’ Analog zum Galicischen, das die galicisch-portugiesische Avertivbedeutung konserviert hat, wurde im argentinischen Spanisch die altspanische Avertivbedeutung übernommen und der Abbauprozess (noch) nicht gänzlich vollzogen. Ein Einfluss italienischer Migranten wird hingegen nicht angenommen, da die Avertivbedeutung im Altitalienischen gegenüber dem Altspanischen eher gering ausfällt. In anderen diatopischen (hispanoamerikanischen) Varietäten
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
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lässt sich ebenfalls noch vereinzelt die Avertivbedeutung inferieren, wie der folgende Beleg aus Costa Rica illustriert. (307) Avertivbedeutung in Costa Rica Cost. cuando hubo de caer en la espiral de la bancarrota se dedicó con pertinaz pirronismo a deambular por las salas y corredores de su vetusto palacete, que era lo único que poseía después de la pérdida de la hacienda, [. . .] (CREA: Louis A. Ducoudray, 1992, Los ojos del arrecife, Costa Rica) Nach Rohlfs (1922, 145) findet sich im Leonesischen «eine merkwürdige Form des Irrealis» aus der im Perfekt stehenden vulgärlateinischen präpositionslosen Periphrase habui + Infinitiv, die wir anhand unserer Merkmale in der synchronen Untersuchung als Avertiv [+Imminenz, +Vergangenheit, + Kontrafaktizität] identifizieren. (308) Avertivbedeutung im Leonesischen hubo caerse «er wäre beinahe gefallen» (Dial. Leon. 84, zitiert nach Rohlfs 1922, 145) Bereits Alonso Garrote (1909, 84) führt leonesische Avertivbeispiele (hubo caerse, hubo matarse) aus Maragatería und Astorga mit den typischen avertivaffinen Verben (caerse ‘fallen’ und morir ‘sterben’) an. En Maragatería, el infinitivo va regido del verbo auxiliar, sin preposición. Son formas generales ‹ven ver tou padre›; ‹aspera, que l’hemos coger›, y en Margartería y Astorga, hubo caerse, hubo matarse, tengo dir á vervos, suprimiendo la preposición de interverbal (Alonso Garrote 1909, 84).
Dass sich gerade im Leonesischen der Avertiv zeigt, ist unseres Erachtens arreallinguistisch aufgrund des Sprachkontakts zum Galicischen zu erklären, welches den Avertiv konserviert hat (cf. Kapitel 4.4.2.1). Im Folgenden wird die Entwicklung und insbesondere der Abbauprozess des Avertivs im Spanischen korpusbasiert aufgezeigt, um sie mit der Entwicklung im Galicischen und Portugiesischen komparativ untersuchen zu können. Wie bereits in dem vorherigen lateinischen Kapitel aufgezeigt, treten neben HABERE + Infinitiv die Periphrasen HABERE AD + Infinitiv und HABERE DE + Infinitiv ab dem 8. Jahrhundert hinzu ( Avertiv
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(b) El Campeador a los que han lidiar tan bien los castigó: – Ya Martín Antolínez, el burgalés de pro, e vós, Pero Vermúez, e Muño Gustioz, firmes sed en campo a guisa de varones. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Der Campeador hat die, die kämpfen werden, sehr gut unterwiesen: [. . .]’ Im sowohl Mittelspanischen als auch Neuspanischen finden sich nur noch selten Relikte dieser im presente stehenden präpositionslosen HABEREInfinitivperiphrase. (311) Haber + Inf. Msp. Agora, auemos dezir de la oraçión o eleuaçión de la piensa, que pertenesçe a pocos, que se llama por los santos ‘contenplaçión.’ (CORDE: Anónimo, a 1448, Traducción del Libro de las donas de Francesc Eiximenis, España). Die beiden HABERE-Infinitivperiphrasen mit den Präpositionen ad und de werden im Cid nebeneinander zum Ausdruck der Obligation gebraucht, die in den entsprechenden Kotexten die Inferenz der Prospektivität in Form einer Rbasierten Implikatur nahelegen. Die Stellung (i.e. IH oder HI-Stellung) ist ebenfalls noch optional, wie das folgende Beispiel mit nachgestelltem HABERE zeigt. Das Auxiliar der HABERE-Periphrase steht zudem in dem folgenden Beispiel in dem synthetischen Futur, das nicht mit der inferierten Prospektivität der HABERE-Periphrase (oder gar mit einer Hyperkorrektur) zu verwechseln ist. (312) Stellungsfreiheit im 12. Jahrhundert Catamos la ganancia e la pérdida no. Ya n esta batalla a entrar abremos nós, [..] (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Wir haben den Gewinn bedacht, doch den Verlust nicht; an dieser Schlacht werden wir jetzt teilnehmen müssen.’ Es besteht noch keine verstärkte Fügungsenge, sodass zwischen Auxiliar und Präposition syntaktische Elemente eingefügt werden können, wie das folgende Beispiel (313) illustriert. Hinsichtlich der noch verringerten Fügungsenge zeigt sich bis zum 17. Jahrhundert die optionale Stellung von Klitika zwischen Infinitiv und Auxiliar (cf. DCR 2002).
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(313) Einfügung syntaktischer Elemente (vor 1200) Cuemo lo mandó mio Cid, assí lo an todos a far. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Wie es der Cid befahl, so haben es alle zu tun (R+> so werden es alle tun).’ Vor 1200 ist die Periphrase haber de + Infinitiv noch nicht mit Q-basierter, sondern ausschließlich mit R-basierter Implikatur im CORDE belegt. (314) Haber de + Inf. mit R-basierter Implikatur im Cantar de Mio Cid (a) piensan de cavalgar, el portero con ellos que los ha de aguardar; (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘sie beginnen zu reiten, der Aufseher mit ihnen, der sie beschützen soll (R +> der sie beschützen wird)’ (b) ¡Con Dios aquesta lid yo la he de arrancar! (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Mit Gott werde ich diese Schlacht gewinnen!’ (c) Longinos era ciego, que nuncuas vio alguandre, diot’ con la lança en el costado, dont ixió la sangre, corrió por el astil ayuso, las manos se ovo de untar, alçólas arriba, llególas a la faz, (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Longinos war blind, niemals hatte er je gesehen. Er stieß dir mit der Lanze in die Seite, aus der das Blut herausfloss, den Schaft hinab; die Hände befleckte er sich, er hob sie empor, führte sie an das Gesicht, [. . .]’ (d) La missa dicha, pensemos de cavalgar, ca el plazo viene acerca, mucho avemos de andar. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Sobald die Messe gelesen ist, beginnen wir zu reiten, denn das Ende der Frist rückt nahe, viel haben wir zu reiten’ (R +> viel werden wir reiten). (e) Por lanças e por espadas avemos de guarir, si non, en esta tierra angosta non podriemos bivir. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) (f) Assí commo semeja e la veluntad me lo diz, todas estas nuevas a bien abrán de venir. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) Analog zu haber de + Inf. wird auch von haber a + Infinitiv, mit noch stärkerer Frequenz, das zweite Stadium (proximity to X, prediction of X via R-based implicatures) ausgedrückt, wie die folgende Korpusbelege aus dem Altspanischen illustrieren.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
269
(315) Haber a + Inf. im 11. Jahrhundert solidos de ariento que lexauit a tiui Feles Petrizi de fidiatura quementisti de tuo filo Migael Feles, et ouisti me a dare centu solidos de ariento, projnde posuisti jstas ereditas in cartula que a tiue et annouis bene conplacuit. (CORDE: Anónimo, c 1061, Félix Pérez y sus hijos venden a Vermudo Velaz la villa de Barrillos, Documentos de tierra de León) (316) Haber a + Inf. mit R-basierter Implikatur im Cantar de Mio Cid (a) en Beleem aparecist, commo fue tu voluntad, pastores te glorificaron, oviéronte a laudare, tres reyes de Arabia te vinieron adorar, (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Hirten verherrlichten dich und lobten dich, [. . .]’ (b) dent corre mio Cid a Huesa e a Montalván; en aquessa corrida diez días ovieron a morar. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘von dort aus überfällt der Cid Huesa und Montalván; mit diesem Vorstoß brachten sie zehn Tage zu.’ (c) Moros son muchos, ya quieren reconbrar; del otra part entróles Álbar Fáñez, maguer les pesa, oviéronse a dar e a arrancar de pies de cavallo los que·s’ pudieron escapar. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Obwohl es sie schmerzt, mussten sie sich ergeben und fliehen [. . .]’ (d) Delante veyén so duelo, non se pueden huviar, por el rey de Marruecos ovieron a enbiar; con el de los Montes Claros avié guerra tan grand, non les dixo consejo nin los vino huviar. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Zum König von Marruecos mussten sie schicken; [. . .]’ (e) Nueve meses complidos, sabet, sobr’ella yaz, cuando vino el dezeno ovierongela a dar. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Neun ganze Monate, wisset, lagert er bei ihr. Als der zehnte [Monat] kam, mussten sie sie [Valencia] ihm übergeben.’ (f) que si alguno·s’ furtare o menos le fallaren, el aver me avrá a tornar a aquestos mios vassalos que curian a V** (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘denn wenn einer entwischt ist oder man ihn vermisst, so wird er seine Habe diesen meinen Vasallen zurückgeben müssen, [. . .]’ HABERE AD + Infinitiv nimmt im gemeinromanischen Vergleich in nahezu allen romanischen Sprachen eine dominante Position zum Ausdruck des ersten Stadiums gegenüber HABERE DE + Inf. und HABERE + Inf. ein und führt in einigen Gebieten Süditaliens sogar zur Konventionalisierung der Prädiktion, wie in Form
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
des sardischen periphrastischen Futurs áere a + Infinitiv (cf. Kapitel 4.4.3). Im Altspanischen steht die Periphrase haber a + Inf. oftmals auch im futuro de subjuntivo, wie die folgenden Korpusbelege illustrieren. (317) Oviere [ futuro de subjuntivo] a + Inf. (a) Qui entrare en plazo de nueve dias et lo negare, depues sil firmar pudiere con un vecino, pechel V sueldos. Qui oviere á pendrar pendre de exida de misa fasta tercia, et si de tercia arriba pendrare, torne la pendra con V sueldos; (CORDE: Anónimo, c 1129, Fueros de Medinaceli) (b) Qui oviere á testar por pendrar otro dia tieste con tres ommes; et si la puertal zararen, ó peños le enpararen, lieve el iudez, et del peños, et prenda pora si peños por I sueldo, et del añal iudez pendre ata viesperas todo el dia. (CORDE: Anónimo, c 1129, Fueros de Medinaceli) (c) si penos non diere livel iuez el demandadat. Qui oviere á dar octor connombrelo, si fuere en termino, (CORDE: Anónimo, c 1129, Fueros de Medinaceli) Die folgenden Beispiele aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts illustrieren nun den Übergang zum dritten Stadium, bei dem die R-basierte Implikatur durch den anschließenden Kotext zurückgenommen bzw. aufgehoben wird. (318) Aufhebung der Prädiktions-Implikatur durch anschließenden Kotext im 12. Jh. (a) De las ferias sedeant semper per foro; nadi non pendre in Quadragesima, et qui algo ouieret a dar & no lo dieret asta Lazaro, fagat testemunio & duple ge lo por Pascha foras de hereditate. (CORDE: Anónimo, c 1141–1235, Fuero de Madrid) (b) Totus homo qui arras ouiere a dar non det mas de .XX. morabetinos, tercia pars in boda per foro ducles, et si in uida non demandarent, postea non respondat neque filij, (Fol. 4 v.) neque parentes. (CORDE: Anónimo, 1179–1184, Fuero de Uclés) Bereits im 13. Jahrhundert finden sich im Corpus del Español (CDE) zahlreiche Avertivbelege der drei HABERE-Infinitivperiphrasen in Verbindung mit den TAM-Markern der aus dem lateinischen Konjunktiv Plusquamperfekt (lat. CANTAVISSEM) entstandenen -se-Form (sp. cantase), der aus dem lateinischen Indikativ Plusquamperfekt (lat. CANTAVERAM) entstandenen -ra-Form (sp. cantara) sowie mit dem Indikativ Perfekt (pretérito perfecto simple). In den Korpusbelegen zeigt sich insbesondere eine Affinität des Avertivs zu der -ra-Form, die sich auch im Galicischen-Portugiesischen widerspiegelt (cf. Kapitel 4.4.2.1).
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
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Die aus dem lateinischen Indikativ Plusquamperfekt (lat. CANTAVERAM) entstandene -ra-Form tritt im Altspanischen bereits vermehrt in Hauptsätzen auf und fungiert als past counterfactual. (319) Oviera a + Inf. > Avertivbedeutung (a) Dotra guisa ouiera a morir muchas uezes e a padecer desdel compeçamiento del mundo; maes agora aparecio una uez en ell acabamiento de los sieglos, a destruymiento del peccado por offrenda de si mismo. (CORDE: Anónimo, 1260, El Nuevo Testamento según el manuscrito escurialense I-j-6. Desde el Evangelio de San Marcos hasta e [. . .], España) Q+> ‘Ebenso wäre er oftmals beinahe gestorben.’ (b) E en tales fechos cuemo estos fue muchas uezes en ora de perder los oios & prender muerte. Assi quel auino una uegada que yendo a una mugier casada con qui yazie no cuydando el marido que era ell emperador diol tan grand ferida que ouiera a morir della. E dalli adelante numqua oso a tal ora andar por la uilla sin grand companna de senadores que iuan armados aguardandolo de lexos. (CORDE: Alfonso X, 1270, Estoria de Espanna que fizo el muy noble rey don Alfonsso, fijo del rey don Fernando et de la reyna [. . .], España) Q+> ‘[. . .] fügte ihm eine so große Wunde zu, dass er beinahe an ihr gestorben wäre.’ Analog zum Galicisch-Portugiesischen finden sich im 13. Jahrhundert zudem noch vereinzelte Avertivbelege der HABERE-Periphrasen in Verbindung mit der Verstärkung por poco. 1 von 14 Avertivbelegen von HABERE [-ra] de + Infinitiv und 4 von 38 Avertivbelegen von HABERE [-ra] a + Inf. sind im CDE mit der Verstärkung por poco belegt, für die jeweils ein Avertivbeleg für por poco ouiera de + Inf. (Beispiel a) und ein Avertivbeleg für por poco ouiera a + Inf. (Beispiel b) angeführt wird. (320) Por poco oviera (a/de) + Inf. > Avertivbedeutung (a) tantos fueron los moros que dieron enellos que por poco ouieran de ser perdidos todos. (CDE: Gran conquista de Ultramar) (b) & fue tan cuytado que por poco ouiera a desesperar mas non quiso dios que la su alma se perdiese (CDE: 1292–1293, Castigos e documentos del rey don Sancho) Da die HABERE-Infinitivperiphrasen bereits ab dem 13. Jahrhundert unabhängig von der lexikalischen Verstärkung por poco p auftreten, werden sie in diesem Kapitel nicht noch einmal betrachtet (cf. Kapitel 4.3.2). Umgekehrt ist allerdings die Selegierung der in der -ra-Form stehenden HABERE-Infinitivperiphrasen für
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
die Entwicklung der por poco-Konstruktionen in den iberoromanischen Sprachen entscheidend, wie bereits in Kapitel 4.3.2 aufgezeigt wurde. Die folgende Untersuchung auf der Basis des Corpus del Español zeigt das Verhältnis der Avertivfunktion zum gesamten Auftreten der Infinitivperiphrase in der Diachronie auf. Im Altspanischen zeigt sich bis in das 14. Jahrhundert ein überwiegender Gebrauch der Periphrasen mit a und de in Verbindung mit der -ra-Form, der ab dem 15. Jahrhundert kontinuierlich abgebaut wird. Tabelle 62: HABERE-Avertivperiphrasen in der -ra-Form im CDE (1200–1999). Corpus del Español
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Haber + Inf.
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Haber de + Inf. /
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Haber a + Inf.
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Im Gegensatz zu haber + Inf. und haber a + Inf., die als Infinitivperiphrasen im Spanischen vollständig abgebaut werden, zeigt die im Spanischen konservierte (vorwiegend prospektiv gebrauchte) Infinitivperiphrase haber de + Inf. einen kontinuierlichen Abbau der Avertivfunktion, die im Gegenwartsspanischen nur noch sehr randständig zu finden ist (cf. Abbildung 17, Seite 273). In Analogie zum Galicisch-Portugiesischen ist der Avertiv im Altspanischen in der -se-Form lediglich randständig vertreten, in Relation zu dem bis 1400 frequenten Avertiv in der -ra-Form, wie die Daten in Tabelle 63 (Seite 273) belegen. Diese unterschiedliche Avertiventwicklung in Verbindung mit den TAM-Markern -se und -ra ist vor dem Hintergrund der generell unterschiedlichen Entwicklung der beiden TAM-Marker zu erklären:185 Da die aus dem lateinischen Konjunktiv Plusquamperfekt (lat. CANTAVISSEM) entstandene -se-Form (sp. cantase) im Altspanischen bereits generell vermehrt in der Protasis von Konditionalsätzen in einer potentialen Lesart auftritt, im Gegensatz zu der -ra-Form, verwundert der eher randständige Gebrauch unserer Untersuchungsergebnisse in der Avertivbedeutung keineswegs. Die folgenden Beispiele illustrieren den überwiegenden Gebrauch
185 Zur allgemeinen Entwicklung des Gebrauchs der Formen -ra und -se im Spanischen und Portugiesischen sei verwiesen auf Becker (2008a).
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
273
90.00% 80.00%
79.20%
70.00%
70.00% 64.90%
60.00%
60.90%
50.00% 41.70%
40.00%
haber (-ra) a Inf. haber (-ra) de Inf.
30.00% 20.00% 14.30% 10.00%
7.80%
0.00%
2.20% 1.80%
12 00 –1 29 9 13 00 –1 39 9 14 00 –1 49 9 15 00 –1 59 9 16 00 –1 69 9 17 00 –1 79 9 18 00 –1 89 9 19 00 –1 99 9
0.00% 0.00% 0.00% 0.00% 0.00% 0.00%
Abbildung 17: Abbau der Avertivfunktion haber (-ra) a/de + Inf. im CDE.
Tabelle 63: HABERE-Avertivperiphrasen in der -se-Form im CDE (1200–1999). Corpus del Español
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Haber + Inf.
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Haber a + Inf.
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Haber de + Inf.
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im Antezedens (Protasis), der lediglich eine Bedingung zur Realisierung von p (ohne Avertivbedeutung) einführt. Es zeigt sich ein unveränderter Gebrauch zur Situation der Konstruktion in altspanischen Texten vor 1200:
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(321) Oviese a + Inf. im Antezedens (a) Aqueste era el rey Bucar, si l’oviestes contar. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Dies war der König Bucar, von dem ihr vielleicht schon erzählen hörtet.’ (b) que se menoscabarian si asi no lo fiziese o si ouiesen a pagar algund debdo a dia çierto & si no Caerian (CDE: Siete partidas) ‘[. . .] wenn er es auf diese Weise nicht täte, oder wenn sie eine Schuld begleichen müssten [. . .]’ (c) pusieron en su mano que escogiesse el quales fuessen ala batalla si la ouiessen a hazer dos por dos o veynte por veynte o ciento por ciento. (CDE: Gran conquista de Ultramar) Im Indikativ Perfekt zeigen sich die Periphrasen sowohl mit R-basierter Implikatur (i.e. mit «präteritalem Gebrauch») als auch bereits zum Ausdruck des Avertivs mittels einer Q-basierten Implikatur. (322) Haber [PPS] de + Inf. > metaphysische Notwendigkeit > Imminenz (a) E plogo al Nuestro Sennor Dios e cobro la lumbre Tobias el padre e vyo a so fijo e rendio gracias al Nuestro Sennor. Tobias quant se ovo de morir, comendo so fijo que temyesse a Dios e lo amasse en tod so coraçon, e dixo: Et benedicant eum in omni tempore. (CORDE: Almerich, 1200, La fazienda de Ultra Mar, España) ‘Tobias als er sterben musste, [. . .]’ R+> ‘Tobias, als er im Sterben lag / kurz vor dem Ableben war [. . .].’ (b) Estido Israel en Egypto, en tierra de Gossen, e apresos en ella. Provecieron e muchyguaron mucho. Bivio Jacob en tierra de Egipto .xvij. annos. Fueron dias de Jacob de su vida .c. e .xl. e .vii. annos. Vinieron dias que ovo de morir. Do * clamo Jacob a Josep so fijo. Clamo Jacob a so fijo Josep e dixol: [. . .] (CORDE: Almerich, c 1200, La fazienda de Ultra Mar, España) ‘Es kam der Tag, an dem er sterben musste.’ R+> ‘Er starb.’ (c) [Ley XXXVII]. – Qué cosa es Spíritu Santo. Spíritu Santo es llamada la obra que salíe del Padre, que se non mouíe, e del Fijo, que se ouo de mouer. E esto quiere tanto dezir commo amor que ha entrellos, que sale de amos a dos. E maguer que se ayan a nonbrar tres segunt cuento natural, non es más de vno segunt ayuntamiento spiritual. (CORDE: Alfonso X, c 1252–1270, Setenario, España) ‘Er musste sterben’ R+> ‘Er starb.’
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
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(d) Et desque las bodas fueron fechas muy ricas et muy onradas, en la noche, cuando se ovo de yr para su casa do estava su muger, ante que se echassen en la cama, llamó a la condessa et a sus parientes et díxoles en grant poridat que bien sabién que el conde le escogiera entre otros muy mejores que él, et que lo fiziera porque el soldán le consejara que casasse su fija con omne. (CORDE: Juan Manuel, 1325–1335, El Conde Lucanor, España) ‘Als er nach Hause gehen musste’ R+> ‘Als er nach Hause ging.’ (e) Este Rey thelepho lidio con los griegos a que dizien danaos. & mato en essa batalla a Thesandro cabdiello de Grecia. & firiendosse con Aiax uenciol. & segudo A Vlixes & ferironle el cauallo de guisa que ouo a caer & cayo el con el. & sobreuino achilles & diol una lançada por el muslo de que non pudo sanar luengo tiempo por quantas melezinas le fizieron. (CORDE: Alfonso X, 1270, Estoria de Espanna que fizo el muy noble rey don Alfonsso, fijo del rey don Fernando et de la reyna . . ., España) ‘Er musste fallen und er fiel mit ihm.’ Allerdings ist die Avertivdistribution in Form der Q-basierten Implikaturen der im PPS (pretérito perfecto simple) stehenden drei Verbalperiphrasen ebenfalls nur marginal gegenüber der Avertivdistribution mit der -ra-Form, wie die Korpusdaten in Tabelle 64 illustrieren. Tabelle 64: HABERE-Avertivperiphrasen im PPS (1200–1999). Corpus del Español
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Haber + Inf.
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Haber a + Inf.
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Haber de + Inf.
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Der HABERE-Avertiv im Altspanischen weist eine Inkompatibilität mit der Negationspartikel auf. Es kommt in der Diachronie des Spanischen nicht zur Entwicklung des Avertivs mit der Negationspartikel. In allen Belegen der drei HABERE-Periphrasen mit der Negationspartikel ist die Negationspartikel dem Auxiliar vorangestellt und drückt lediglich die Negation der oftmals deontischen Notwendigkeit oder der Negation der prospektiven Funktion aus, wie die folgenden Belege illustrieren.
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(323) Haber (a/de/Ø) + Inf. im Skopus der Negationspartikel ≠ Avertiv (a) Et lo que las bestias & las aues non huujaran comer gastaron lo soles & lluujas en luengo tienpo & tornaron lo en tierra. (CDE: c. 1252–1284, General estoria V) ‘Und was die Bestien und Vögel nicht aßen, [. . .]’ (b) todos los nabjos vnos con otros fueron quebrantados nj el mesmo avn metridantes non oviera a escapar de aquella tormenta saluo que vn cursario sabidor de la mar le ayudo (CDE: 1401, Caída de principes) (c) Si so yo tal qual tu dizes: non houiera de ser nascido: mas en quanto tu dizes todolo has fallido: (CDE: Crónica del Cid) In diesem Kapitel ist der Avertiv aus der Grammatikalisierungsquelle HABERE (‘haben’) vom Altspanischen bis zum Gegenwartsspanischen aufgezeigt worden. Im Altspanischen entwickelt sich in Verbindung mit der aus dem lateinischen Plusquamperfekt (lat. CANTAVERAM) entstandenen -ra-Form eine Avertivfunktion aus der Grammatikalisierungsquelle HABERE, die sich sogar in der Grundbedeutung der Infinitivperiphrase mit -ra-Form manifestiert. Diese Spezifizierung in der Grundbedeutung wird zugunsten einer Generalisierung lediglich einzelner Merkmale aufgegeben, indem die spezifische Kategorie des Avertivs bis zum Gegenwartsspanischen vollständig abgebaut wird und eine Verschiebung der Grundbedeutung insbesondere zugunsten einfacher Kategorien (i.e. die nur einer Domäne angehören), wie der Prospektiv (aspektuelle Domäne) und Obligation (modale Domäne), stattfindet.186 Im Spanischen finden sich gegenwärtig lediglich noch die aufgezeigten Relikte des Avertivs in wenigen diatopischen Varietäten, wie u.a. dem argentinischen Spanisch.
4.4.3 Ausblick auf die italoromanischen Sprachen An dieser Stelle sei noch ein Ausblick auf die italoromanischen Sprachen gegeben. In den italoromanischen Gegenwartssprachen lassen sich im Gegensatz zu den iberoromanischen Sprachen nur marginale Avertivtendenzen finden, die sich nahezu auf den südlichen Teil der Italoromania beschränken, während
186 Es kommt bei dem Grammatikalisierungspfad Obligation > Prospektiv > Imminenz > Avertiv zunächst zur Spezifizierung, die im Spanischen wieder aufgegeben wird (Generalisierung der prospektiven Bedeutung). Dies ist auch insofern interessant, als es die Unidirektionalitätshypothese in Frage gestellt.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
277
sich in dem nördlichen Teil der Italoromania inklusive der Alpenromania keine Avertivbeispiele mehr finden lassen. Die rätoromanische Periphrase avair da + Inf. findet sich in der DRC (Digitale Rätoromanische Chrestomathie) lediglich in sowohl deontischer Notwendigkeit als auch prospektiver Bedeutung. Die prospektive Bedeutung, die oftmals semantisch äquivalent zur rätoromanischen Futur-Periphrase vegnir a + Inf.187 ausgedrückt wird, zeigt sich auch im Rätoromanischen, insbesondere in Verbindung mit gnir/ùegnir (‘kommen’) in der infiniten Form. (324) Avair da + Inf. in prospektiver Bedeutung (Bündnerromanischen) Rät. (a) Jl Sênch Spiert, chi glorifichia in lur cours l’Agnè da Dieu crucifichio, als dò eir ün pregust dellas virtüds del muond 15 chi hò da gnir. Ebr.: 6. 5. (DRC: 386 Giovanni Battista Frizzoni, fol. 5a) (b) M.Mi meig ora igls siatt. G. Iau creig, cha nies Segnier Iesus Christus haigi da ùegnir seilla fin digl muond, con granda possonza, à gloria, à derscher totta la schla teina humana, à ùegnir à dar la pagaglia a scadin suenter sc’ell ha faig 40 las oùras. (DRC: Cuort Muossament 25 soingia Catholischa Baselgia) Dass sich in dem rätoromanischen DRC-Korpus keine Avertivbeispiele von HABERE (ad/de) + Inf. (mehr) finden lassen, ist entsprechend der vergleichsweise späten Dokumentation nicht verwunderlich, beispielsweise im Gegensatz zu der frühen Dokumentation hinsichtlich lateinischer Texte aus Sardinien. Das Sardische, das weder ein synthetisches Futur noch ein synthetisches Konditional besitzt (noch besaß), drückt das Futur analytisch mittels der Periphrase áere a + Infinitiv ( Avertiv
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Im Gegensatz zu Gamillscheg (1913, 57) und Rohlfs (1922, 115), die die Genese von áere a + Inf. noch auf das 15. Jahrhundert datieren, oder auch Bentley (1999), die die Genese der Periphrase áere a + Inf. auf das 13. Jahrhundert datiert, finden wir allerdings áere a + Inf. bereits in altsardischen Dokumenten vor 1089, die uns vielmehr auf eine direkte Übernahme der bereits im Spätlateinischen (spät. ab dem 8. Jahrhundert) auftretenden Periphrase HABERE AD + Inf. schließen lassen. (333) áere a + Inf. im Altsardischen (vor 1089) (a) nikelu Petru, donikelu Turbeno, donikelu Mariani, donikelu Trogotori. E ki l’at a inbertere [eigene Hervorhebung] (Documento 5, Carta sarda in caratteri greci, ante 1089) (b) Comida, echo su logu in hue as a fraygare sa ecclesia. Et in sa prima zapada qui tu as a dare ad fagher su fundamentu de sa ecclesia tu as a esser sanu de custa infirmitade. [eigene Hervorhebungen] (Il condaghe di San Gavino, 11) Im Gegensatz zu den iberoromanischen Sprachen (cf. Kapitel 4.4.2) finden wir hingegen auch in den älteren Sprachstufen des Sardischen keine Avertivbeispiele. Der Gebrauch von áere + Infinitiv überwiegt bis zum 15. Jahrhundert gegenüber áere a + Infinitiv und zeigt sich entsprechend der lateinischen Vorgänger in den frühen Texten aus Sardinien in sowohl modaler als auch prospektiver Bedeutung. (334) áere + Inf. im Altsardischen (1080–1085) 1. In nomine Domini Amen. Ego Iudice Mari2. Ano de Lacon aco istam carta ad ono3. Re de omnes homines nde Pisas pro xu toloneu 4. ci mi pecterunt, e ego dono-lis-lu pro ca lis so 5. ego amicu caru e itsos a mimi. Ci nullu in6. peratore ci lu aet protestare istum locu, de non 7. n’apat comiatu de levare-lis toloneum in pia8. cito de non occidere pisanu ingratis e, cca9. usa ispsoro ci lis aem levare ingratis, de fac10. er-lis iustitia inperatore ci-nce aet exere 11. in tu locu. E ccando mi petterum su toloneu, [. . .] (Documento 2: Privilegio concesso da Marino di Torres ai Pisani, 1080–1085, ‘Privilegio Logudorese’).190 190 Cf. «Documento 2» in Kapitel 7.11.1.
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(335) áere + Inf. im Altsardischen (a) et issos atteros ki sun foras de curatoria de Romania, ego los appo nunthare ‘die anderen, die außerhalb des Gerichtssprengels von R. wohnen, die werde ich vorladen’; (Cond. 205, zitiert nach Gamillscheg 1913, 57) (b) prossu kantu appo paratu in su tempus meu, et appo parare avestara ‘und was ich künftighin erwerben werde’ (Cond. 347, zitiert nach Gamillscheg 1913, 57) (c) et paru kantunche est factu et se – nke aiet faker in bita mea ‘und noch gemacht werden wird’ (Cond. 389, zitiert nach Gamillscheg 1913, 57) (d) e ssorti kertu nd at esser, non dubitet ispiiarelu donnu ki bi aet esser in scu. Petru ‘sollte etwa darob Streit entstehen, so zögere der Herr, der dann in St. Peter sein wird, nicht, ihn zu schlichten’ (Cond. 43, zitiert nach Gamillscheg 1913, 57) (e) et issos derun·i·mi dessa binia sua cantu ait baler mesa libra d’argentu ‘sie gaben mir von dem Weinberge, soviel ein Schäffel Silbers wert ist’ (Cond 183, zitiert nach Gamillscheg 1913, 61) Durch die Hinzunahme von como (‘wohl’ < ‘jetzt’) ( Avertiv
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(336) áere como + Inf. im 16. Jahrhundert non m’hat como bastare un annu interu – si t’andare contende maravizas – de custu eternu Deu vivu et veru ‘ein ganzes Jahr wird mir wohl nicht genügen, wenn ich die Wunder dieses ewigen und wahren Gottes erzählen wollte’ (Araolla, vgl. 141, zitiert nach Gamillscheg 1913, 68) Dass die prospektive Bedeutung in gewissen Kontexten auch imminentielle Inferenzen zulässt, belegen wir anhand des folgenden Beispiel aus dem 17. Jahrhundert, das in der italienischen Übersetzung mit einer imminentiellen Periphrase (stare per + Inf., cf. Kapitel 4.5) wiedergegeben wird. (337) áere a + Inf. mit inferierter Imminenz Sardisch (c. 17. Jahrhundert) Italienisch 10. Pigade cun caridade 10. Prendete con buona disposizione gustade custa beuida e gustate questa bevanda nella quale in sa quale restat unida sono unite con vincolo indivisibile la mia sa mia santa humanidade santa umanità e l’immensa divinità; ogni et sa imensa Diuinidade volta che la riceverete ricordate di comcun inseparabile unione; memorare tutto ciò che sto per soffrire faguide totus comemoracione nella dolorosa passione. (L’ultima cena, semper qui lu degis recire Comedia de la Passion, c. 17. Jh.) de totu su qui apo a patire in sa dolorosa passione. Áere a + Inf. spezifiziert die prospektive Nebenbedeutung neben dèvere + Inf. und übernimmt im Gegensatz zu den anderen romanischen Sprachen die Funktion eines synthetischen Futurs. (338) Futur áere a + Inf. im 19. Jahrhundert (a) nè a tue, pro chi malos happas destinos, t’hana a mancare a cada mala sorte custos coros, Sardigna, e custos flores. Sardinien, wie üble Geschicke du auch zu erdulden hast, bei jedem üblen Schicksalsschlag werden dir diese herzen und diese Blumen niemals fehlen. (Sebastiano Satta 1867–1914, nach Pinna 1979, 91, zitiert nach Bossong 1992, 339) (b) Bae, ma cando ses dormind’a lettu una oghe ti dèt benner in su bentu, su coro t’hat a tremer in su pettu a’cussa trista boghe de lamentu chi t’hat a narrer: custu fit s’affettu?
284
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Nun, aber wenn du schlafend im Bett liegst, wird im Wind eine Stimme zu dir kommen, und das Herz wird dir in der Brust erzittern bei dieser traurigen Stimme der Klage, die dir sagen wird: war das die Liebe? (Peppino Mereu 1872–1901, nach Pira 1977, 312s., zitiert nach Bossong 1992, 340) Im Gegensatz zu den iberoromanischen Sprachen, bei denen wir die Tempusmorphologie des Avertivs aus HABERE (AD/DE) + Inf. insbesondere in Verbindung mit der -ra-Form (Indikativ Plusquamperfekt > sp. Konjunktiv Imperfekt), des Konjunktiv Plusquamperfekts (-se) und des synthetischen Perfekts aufgezeigt haben (cf. Kapitel 4.4.2), kann diese Avertivgenese sich angesichts des frühen Abbaus der synthetischen Tempusformen im Sardischen nicht vollziehen: Im Sardischen bildet sich im Gegensatz zu den übrigen romanischen Sprachen kein Konjunktiv Plusquamperfekts (-se-Form) heraus, sodass er funktional bereits in den aus Sardinien stammenden lateinischen Dokumenten durch den Indikativ Perfekt oder Indikativ Plusquamperfekt ersetzt wird (cf. Gamillscheg 1913, 52). Das synthetische Plusquamperfekt (-ra-Form) zeigt sich nach Blasco Ferrer (1984, 108s.) noch reliktartig bis in das 13. Jahrhundert und auch das synthetische Perfekt verschwindet weitestgehend ab Mitte des 17. Jahrhunderts, auch wenn es noch in literarischen Texten (ähnlich dem französischen passé simple) erhalten bleibt (cf. Bossong 1992, 240s.). Die Avertivgenese wird zwangsläufig durch den frühen Abbau der synthetischen Formen und gelangt zumindest nicht mehr bis in das 13. Jahrhundert hinein. In unseren Primärtexten aus Sardinien, die bis vor 1089 zurückreichen, ist ebenfalls kein einziger Avertivbeleg auffindbar. Neben dem Sardischen gilt avere/aviri a + Inf. insbesondere für Süditalien (Sizilien, Apulien, Lukanien und die Abruzzen) gegenwärtig als Futurtyp charakteristisch (cf. Rohlfs 1972, vol. 2, 385).193 Nach Amenta (2010c, 185) zeigt sich neben dem Abbau des synthetischen Futurs allerdings auch ein Abbau der temporalen Funktion von aviri a + Inf. im sizilianischen Gegenwartsitalienischen (das Sizilianische greift auf das Präsens zurück). Im Gegensatz zu der Beobachtung der temporalen (Futur), aspektuellen (Prospektiv) oder modalen (insb. deontische Notwendigkeit) Funktion der Periphrase, wobei in der Literatur erstere von zweiteren nicht immer voneinander abgegrenzt wird, liegen wenige Hinweise zur
193 «Seine Verbreitungszentren sind Sizilien, Apulien, Lukanien und die Abruzzen, vgl. luk. l’ aggi a manná, tarent. l’ agghi’ a mmanná, siz. l’ ai a mmannari ‘lo manderò’ (AIS. K, 11), südap. aggiu ffare ‘devo fare’, südsizil. è ddúrmiri ‘dormirò’, è bbínniri ‘vendrò’, sizil. hê mangiari, hê purtari (in der Märchensammlung von Pitrè), ostsizil. (Mascalucia) aj a scríviri, palerm. am a ffari ‘faremo’, abruzz. ajj a purtà ‘porterò’, avem a purtà, avet’ a purtà» (Rohlfs 1972, vol. 2, 384s.).
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
285
Avertivfunktion im Gegenwartsitalienischen oder gar zur Diachronie vor. Während die Avertivbedeutung der in Süditalien gebrauchten Periphrase avere a + Inf. im passato remoto bei Rohlfs (1922, 145) zumindest als «eine merkwürdige Form des Irrealis» Erwähnung findet, bleibt sie in neueren Untersuchungen, wie von Amenta (2010b), völlig unberücksichtigt. Dass neben cantaria ( morì (p) (a) Poco si sa della vita di Saloniano se non che raggiunse la carica di pretore nell’esercizio della quale, proprio come il fratellastro, ebbe a morire. (Paisà: Wikipedia-Eintrag zu Marco Porcio Catone Saloniano) (b) Come il padre e lo zio Marco Porcio Catone Liciniano, Saloniano il Giovane arrivò alla carica di pretore durante la quale ebbe a morire. (Paisà: Wikipedia-Eintrag zu Marco Porcio Catone Saloniano) (c) Nel 170, un tentativo di penetrazione entro il «limes» li vede sconfitti, assieme ai Marcomanni, dalle legioni di Marco Aurelio che proprio in quell’occasione ebbe a morire, a Vindobona. (Paisà: pontefix-forum) Im Altitalienischen findet sich neben der vorwiegend modalen Bedeutung auch die prospektive Bedeutung.
286
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(340) Avere a + Inf. in Dantes Commedia vincer poter dentro da me l’ardore den Drang besiegen, den ich in mir Ch’i’ebbi a divenir del mondo esperto spürte, die Welt zu erkunden (Dante, Commedia, Inferno, 394) Ma se a te piace, volontier saprei quanto avemo ad andar;
Aber gerne wüsste ich noch, wenn es dir nicht missfällt, wie weit wir noch zu gehen haben. (Dante, Commedia, Purgatorio, Canto IV, 72s.)
come i Roman per l’essercito molto, Wie die Römer im Jahr des Jubiläums l’anno del giubileo, su per lo ponte ein Mittel gefunden hatten, um die grohanno a passar la gente modo colto, ßen Menschenmengen geordnet über die Tiberbrücke zu zwingen (Dante, Commedia, Inferno, Canto XVIII, 268s.) (341) Prospektive Bedeutung im Altitalienischen (a) signoria, sostegno! Ma tra gli altri notabili, come tu sai, io per te ebbi a morire di vituperevole morte, avvegna che per te simigliantemente da quella campassi, e ora, come vilissima (OVI: Boccaccio, Filocolo, 1336–1338, L. 3, cap. 49) (b) veramente costoro? Non come Cristo; perché tutti gli altri, che resuscitarono mai, ebbono poi a morire, ma Cristo, dopo la suressione, non morì poi, e questo non adivenne mai ad alcuno (OVI: Sacchetti, Sposizioni Vangeli, 1378–1381, fior., p. 48) (c) egli il Maestro Piero, già mai non fu[i] traditore, nè disleale nelle cose ch’io ebbi a ffare, nè nelli segreti del mio Signore. Per la qual cosa si mostra manifestamente, (OVI: Ottimo, a. 1334, fior., c. 13) Nach Núñez Román (2011, 22) drückt die aviri-Periphrase hauptsächlich (291 / 463 Beispielen) im Altsizilianischen deontische Notwendigkeit aus, wie die folgenden Beispiele illustrieren. (342) Deontische Notwendigkeit im Altsizilianischen (a) [. . .] placzavi di riscrivirini vostra vuluntati aczò ki pir la vostra risposta sachamu zo ki avimu a ffari [. . .] (Rinaldi 1982–1983, 232, zitiert nach Núñez Román 2011, 22) (b) E sempri attenda a quillu locu chi intrau in monasteriu, a poi di l’officiu di l’altaru, e benchì sia da la congregationi e da l’abbati per meritu di la sua vita elettu a tali officiu, nenti di minu sacha chi havi di osservari la Regula ordinata da li decani e da li superiori. (Branciforti: 110, zitiert nach Núñez Román 2011, 22)
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
287
Im LIZ-Korpus findet sich lediglich ein einziges Beispiel, dem sich eine Avertivinferenz zuschreiben lässt (Beispiel a). Daneben finden wir allerdings in zusätzlich konsultierten Primärtexten aus dem 17. Jahrhundert (Beispiel b) und 18. Jahrhundert (Beispiel c) weitere Beispiele. (343) Avertivbedeutung des Typs habui a + Inf. (a) Ma trag li altri notabili, come tu sai, io per te ebbi a morire di vituperevole morte, avvegna che per te simigliantemente da quella campassi, e ora, come vilissima serva venduta, per te [. . .] (LIZ: Boccaccio, Il Filocolo) (b) Comprai mandre di bestie, e vna gran parte me ne vccise la peste; feci quella sicurtà, e ne contrassi gl’affanni d’vna gran lite; quel Seruitore mi vuotò quella cassa, e n’hebbi à morire. Io non sò quando m’habbia dormito sette hore in pace (Giglaris, Luigi, 1669, Qvaresimale del Padre Lvigi Givglaris della compagnia di Gies V, 56) ‘Und beinahe wäre ich daran gestorben.’ (c) Io ebbi a morire di allegrezza, e conobbi la sanità del Defonto Padre Caraffa perchè nel petto non solo non [. . .] (Neapolitana beatificationis, et canonizationis V.S.D. Caroli Caraffa, 1740–1743, 555) Auch die bei Rohlfs (1922) angeführten folgenden Beispiele des Typs habui a + Inf. und habui de + Inf. geben Hinweise auf den Avertivgebrauch. (344) Avertivbedeutung des Typs habui a + Inf. und habui de + Inf. (a) lo nigro prencepe sentuto sta ntimazione de decreto appe a morire spantecato «wäre vor Schreck bald umgekommen» (Pentam napol. ed. B. Croce I, 240, zitiert nach Rohlfs 1922, 145) (b) la quale, visto chella brutta caira pelosa appe a crepantare de spasemo (Pentam napol. ed. B. Croce I, 111, zitiert nach Rohlfs 1922, 145) (c) Sapatella, che ntese parlare a no serpe, appe a spiretare (Pentam napol. ed. B. Croce I, 210, zitiert nach Rohlfs 1922, 145) (d) visto ca l’aveva fatto doppia de figura, appe da dare de capo pe le mura, (Pentam napol. ed. B. Croce I, 61, zitiert nach Rohlfs 1922, 145) (e) sta signora abbe da murì pe la gra’ pena de ’n’ azzione accusi brutta, (Campagna di Roma, Papanti, zitiert nach Rohlfs 1922, 145) Dass es sich lediglich um pragmatische Inferenzen handelt, die nahezu ausschließlich in Verbindung mit avertivaffinen Achievements, wie morire (‘sterben’), ausgelöst werden, zeigen die Beispiele in präteritaler Bedeutung, bei
288
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
denen hingegen p implikatiert wird. Für die präteritale Bedeutung führen wir die Beispiele von Rohlfs (1922, 145) an. (345) Präteritale Bedeutung des Typs habui (a) + Inf. (a) cu le lacreme numei l’ ibbi addacquare «ich bewässerte» (Lecce, zitiert von Filzi, StR XI, 74, zitiert nach Rohlfs 1922, 145) (b) avia lu cori comu la carta e a nuddu mai appi a fari lamintari «faceva piangere» (Pitré IV, 35, zitiert nach Rohlfs 1922, 145) (c) ma ncarchidunu nci appi a diri «sagte ihr» (Palmi, Papanti, zitiert nach Rohlfs 1922, 145) (d) ‘ntra sé bistimiava; ma appi a finciri, e dissi «er verstellte sich» (Partinico, ATRP 3, 260, zitiert nach Rohlfs 1922, 145) Das Altitalienische weist, im Gegensatz zu dem frequent gebrauchten HABERE-Avertiv in den älteren iberoromanischen Sprachstufen und dem Gegenwartsgalicischen, entsprechend lediglich marginale Avertivbeispiele in den älteren Sprachstufen auf, die bis in das Gegenwartsitalienische nahezu vollständig abgebaut sind.
4.4.4 Fazit Die Entwicklung der HABERE-Infinitivkonstruktionen (HABERE + Inf., HABERE AD + Inf., HABERE DE + Inf.) ist von den lateinischen Ursprüngen bis in die romanischen Gegenwartssprachen betrachtet und korpusbasiert untersucht worden. In Kapitel 4.4.1 ist die Entwicklung der HABERE-Infinitivkonstruktion im Lateinischen bis zur Herausbildung der Periphrasen HABERE AD + Inf. und HABERE DE + Inf. im 8. Jahrhundert sowie ihre unterschiedliche Entwicklung in der Romania hinsichtlich der Genese von Obligation und Prädestination sowie der Grammatikalisierung des Futurs dargestellt worden. In den Kapitel 4.4.2 und Kapitel 4.4.3 wurde insbesondere der postulierte Grammatikalisierungspfad Possession > Obligation > Prospektiv > Proximativ > (Proximativ in der Vergangenheit >) Avertiv anhand der in Tabelle 66 (Seite 289) illustrierten Grammatikalisierungsstadien korpusbasiert untersucht. In diesem Modell wird nach dem bekannten Pfad Possession > Obligation (Stage I) eine sich potential noch zu realisierende Handlung p R-implikatiert (Stage II). Der sich im Zuge einer Spezifizierung aus der Prospektivität entwickelnde Proximativ wird in einem Kotext mit zu p gegenteiliger Information gebraucht, sodass die Möglichkeit zum Eintritt von p zwar bestand, aber p sich
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
289
Tabelle 66: Stages of grammaticalization of Possession > Avertive. Stages of grammaticalization Stage :
have
Possession
Stage I:
have to do p
Obligation
Stage II:
have to do p/be going to do p (+> proximity to p, prediction of p via R-based implicature)
Obligation/ Prospective R+> p
Stage III:
proximity to p (but q, prediction of p is cancelled, inducing Q-based implicature)
Proximative Q+> ¬p
Stage IV:
was about to do p but did not p
Avertive (¬p)
letztlich nicht realisiert hatte. Durch diese Aufhebung der R-basierten Implikatur von p in einem sich anschließenden Kotext (z.B. oftmals mittels Adversativsatz oder im Inzidenzschema) entsteht eine Q-basierte Implikatur (¬p), die sich in Form der kontrafaktischen Komponente in dem vierten Stadium konventionalisiert, wie in gl. houben (de) morrer + Infinitiv (‘Ich wäre beinahe gestorben’). Betrachtet man die Entwicklung von Futur und Konditional (< Prospektiv in der Vergangenheit) zeigen sich Parallelen in der Entwicklung von Proximativ und Avertiv (< Proximativ in der Vergangenheit) insbesondere hinsichtlich der Schnittstelle von Prospektivität/Proximität in der Vergangenheit und Kontrafaktizität. Den Übergangsstadien «Proximativ in der Vergangenheit > Avertiv» und «Prospektiv in der Vergangenheit > Konditional» liegt ein gemeinsamer Pfad zugrunde, der sich, wie folgt, illustrieren lässt.
Possession > Obligation > Prospektiv > Futur Prospektiv in der Vergangenheit > Konditional Proximativ > Proximativ in der Vergangenheit > Avertiv Abbildung 18: Grammatikalisierungspfad aus der Possession.
290
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Der gemeinsame Pfad mündet in der unterspezifizierten aspektuellen Kategorie des Prospektivs (< Obligation < Possession), von dem drei voneinander zu differenzierende Entwicklungen zu Futur, Konditional und (Proximativ>) Avertiv ausgehen. Im Falle des Futur-Pfades wird die vom Prospektiv («es ist vor dem Fall, dass p») Rimplikatierte Prädiktion konventionalisiert («es wird der Fall sein, dass p») und unterliegt insofern den semantischen Wahrheitsbedingungen (i.e. der vorausgesagte Eintritt von p ist nicht aufhebbar).194 Im Falle des Konditional-Pfades grammatikalisiert der hinsichtlich der Realisierung von p unterspezifizierte Prospektiv hingegen die vorstellbare Möglichkeit (Potentialis) eines Eintrittes von p. In Kombination mit der Abgeschlossenheit eines Partizips wird die vorstellbare Möglichkeit des Eintrittes von p in der Vergangenheit ausgedrückt, die allerdings in der realen Welt nicht realisiert werden konnte (Irrealis). Wie anhand unseres Modells korpusbasiert verifiziert, grammatikalisiert in dem Pfad Possession > Avertiv der Prospektiv in den Proximativ (Spezifizierung auf die Imminenz, «es ist kurz vor dem Fall, dass p»), der in der Vergangenheit zunehmend die Q-basierte Implikatur ¬p konventionalisiert, ohne das aspektuelle Merkmal der Imminenz abzubauen. In Analogie zu dem Grammatikalisierungspfad Prospektiv in der Vergangenheit195 > Konditional, entwickelt sich bei diesem Pfad die noch fehlende kontrafaktische Komponente zum Ausdruck des Avertivs in einem fortgeschrittenen letzten Stadium aus der Q-basierten Implikatur der proximalen bzw. prospektiven Komponente in der Vergangenheit. Im Gegensatz zu der reinen Kontrafaktizität des Konditional Perfekts, bleibt bei dem Avertivausdruck die proximale Komponente (und insofern auch die weitere Zugehörigkeit zur aspektuellen Domäne) bestehen (cf. Kapitel 3.1). Wie in den vorangegangen Kapiteln dargelegt und in Tabelle 67 (Seite 291–292) illustriert, beziehen die romanischen HABERE-Infinitivperiphrasen unterschiedliche Positionen auf der Grammatikalisierungsskala. Analog zu den HABERE(‘haben’)-Periphrasen wird im Folgenden anhand der ESSE*RE(‘sein’)/SEDERE(‘sitzen’)/STARE(‘stehen’)-Periphrasen die zu
194 Cf. die in Kapitel 3.1.1 dargelegten unterschiedlichen Wahrheitsbedingungen von Futur, Prospektiv und Proximativ, sowie die Ausführungen in Comrie (1985): «Thus John will jump off the cliff is untrue if John does not, in fact, jump off the cliff, while John is about to jump off the cliff is still true if someone rushes over and prevents him from doing so» (Comrie 1985, 95). 195 In der Literatur hat sich überwiegend der Terminus «Futur-in-der-Vergangenheit» durchgesetzt, den wir aufgrund seiner «ein Tempus in einem Tempus»-Konstruktion allerdings für nicht unproblematisch halten. Nach unserer Ansicht handelt es sich bei cantare habebam/ habui vielmehr um einen in einem Vergangenheitstempus gebrauchten Prospektiv (kurz: Prospektiv in der Vergangenheit) und insofern um ein aspektuelles Grammem, das in dem Tempus Vergangenheit gebraucht wird. Zum Unterschied zwischen dem temporalen Grammem «Futur» und den aspektuellen Grammemen «Prospektiv» und «Proximativ» cf. Kapitel 3.1.1.
4.4 Possession (HABERE) > Avertiv
291
Tabelle 67: HABERE-Infinitivperiphrasen in der Romania. Obligation
Prospektiv
>
Avertiv
Futur Fr.
j’ai à travailler
—
—
Rum.
am de lucrat ‘ich habe zu arbeiten’; ‘ich muss arbeiten’
—
—
Okz.
Ai de partir lèu. (Alibèrt , )
It.
ho da cantare
OLomb. a portare ‘er wird tragen’ Sizil. è ddúrmiri ‘Ich werde schlafen’ (cf. Fleischman , ) Sizil. aiu a fari ‘ich werde machen’ (Bochmann , ) Tarentino av‘ a vení ‘er/sie wird kommen’ (cf. Fleischman , ) Korsisch aghju da vene ‘ich werde kommen’ (Bochmann , )
altit. (H)ebbi a morire ‘ich wäre beinahe gestorben’
Rät.
hò da gnigr
Sard.
L’anaràs pèrdre. (Vermenosa, zitiert nach Alibèrt , )
at a cantare ‘Er wird singen’ (Mensching , ) aet pagare ‘er wird bezahlen’ (cf. Fleischman , )
292
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 67 (fortgesetzt ) Obligation
Prospektiv
>
Avertiv
Futur Kat.
ha de ser veritat (Solà et al. , )a
Sp.
he de cantar/ houbo de mourir
he de cantar
altsp. oviera (a/de) + Inf.
Pg.
hei de cantar
hei de cantar
gl.-pg. ouvera (a/ de) + Inf.
Gl.
hey llegar / hey de llegar
hey llegar / hey de llegar
Houben (de) morrer ‘ich wäre beinahe gestorben’ Houbera (de) caer. ‘ich wäre beinahe gefallen’
a
Haver + Infinitiv und haver a + Infinitiv sind im Katalanischen hingegen archaisch und nahezu ungebräuchlich geworden (cf. Moll 2006, 294).
Kuteva (1998; 2001) entgegengesetzte Grammatikalisierungsrichtung Proximativ > Avertiv untersucht.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv Im Folgenden wird der Genese von Proximativ und Avertiv aus lat. ESSE*RE (‘sein’)/SEDERE(‘sitzen’)/STARE(‘stehen’) nachgegangen. Gegenstand der Untersuchung ist inbesondere die Verifizierung des zu Kuteva (1998; 2001) und Ziegeler (2000; 2006) entgegengesetzten Grammatikalisierungspfades Proximativ > Avertiv, der in Kapitel 2.2 anhand des modifizierten Modells postuliert und in Kapitel 3 anhand der romanischen Sprachen illustriert wurde (cf. Tabelle 68, Seite 293). Hinsichtlich des Grammatikalisierungspfades Proximativ > Avertiv weisen die romanischen Sprachen unterschiedliche Grammatikalisierungsstadien auf. Es wird die Hypothese aufgestellt, dass die iberoromanischen Sprachen hinsichtlich des Proximativ-Avertiv-Kontinuums innovativer als die italoromanischen Sprachen sind und in perfektiven Tempora eine stärkere Grammatikalisierungstendenz des
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
293
Tabelle 68: Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006). Ziegeler (; )
Schwellenbach (; )
—
proximative +> p
Stage I:
proximity to X (prediction of X via R-based implicatures)
Stage II:
proximity to X, but Y, therefore not- avertive X (prediction of X is explicitly +> ¬p cancelled, inducing Q-based implicatures)
proximative +> ¬p
Stage III:
proximity to X (but Y, therefore not- counterfactual X) (cancellation is omissible, and implicit)
proximative +> ¬p
Stage IV:
proximity to X (‘not X’ generalised as part of the meaning)
avertive [was about to take place but did not take place]
proximative +> ¬p (GCI)
Avertivs (Stadium IV) aufweisen, wie die Beispiele (346) auf Seite 293–294 illustrieren. (346) STARE-Avertiv Sp. (a) Estuvo para ganar la carrera sein.PST.3SG zu.PRP gewinnen.INF das Rennen (#y, de hecho, la ganó). (#und von Tat es gewinnnen.PST.3SG) Proximale Komponente: Er war kurz davor das Rennen zu gewinnen. Polare Komponente: Er gewann das Rennen nicht. ‘Er hätte beinahe das Rennen gewonnen.’ (#und, in der Tat, er gewann es.) (b) Estuve por caerme (#y, de hecho, sein.PST.1SG zu.PRP fallen.INF-REFL.1SG (#und von Tat me caí). mich.REFL.1SG fallen.PST.1SG) Proximale Komponente: Ich war kurz davor zu fallen. Polare Komponente: Ich fiel nicht. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ (#und, in der Tat, fiel ich.)
294
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
EP/BP Esteve para morrer (#e, de fato, morreu). sein.PST.3SG zu.PRP sterben.INF (#und von Tat sterben.PST.3SG) Proximale Komponente: Er war kurz davor zu sterben. Polare Komponente: Er starb nicht. ‘Er wäre beinahe gestorben.’ (#und, in der Tat, starb er.) Gl. Estiven para marchar (#e, de feito, marchei). sein.PST.1SG zu.PRP gehen.INF (#und von Tat gehen.PST.1SG) Proximale Komponente: Ich war kurz davor zu gehen. Polare Komponente: Ich ging nicht. ‘Ich wäre beinahe gegangen.’ (#und, in der Tat, ging ich.) punt de comprar-lo Kat. (a) Vaig estar196 a gehen.1SG.PRS sein.INF auf Punkt von kaufen.INF-es (#i, de fet, el vaig comprar.). (#und von Tat es gehen.1SG.PRS kaufen.INF) Proximale Komponente: Ich war kurz davor es zu kaufen. Polare Komponente: Ich kaufte es nicht. ‘Ich hätte es beinahe gekauft.’ (#und, in der Tat, kaufte ich es.) (b) Vaig estar per dir-li la veritat gehen.1SG.PRS sein.INF zu.PRP sagen.INF-ihm die Wahrheit. (#i, de fet, li vaig dir.). (#und von Tat ihm gehen.1SG.PRS sagen.INF Proximale Komponente: Ich war kurz davor ihm die Wahrheit zu sagen. Polare Komponente: Ich sagte ihm nicht die Wahrheit. ‘Ich hätte ihm beinahe die Wahrheit gesagt.’ (#und, in der Tat, erzählte ich ihm die Wahrheit.) Darüber hinaus wird den in Kapitel 3 synchron aufgezeigten innerromanischen Differenzen der STARE/ESSE*RE/SEDERE-Periphrasen, ihren jeweiligen diatopischen Variationen (wie im brasilianischen und europäischen Portugiesisch) sowie die Unterschiede der Konstruktionen innerhalb der jeweiligen Systeme (wie estar por + Inf. und estar para + Inf. im Spanischen oder Portugiesischen) nachgegangen.
196 Die im Präsens gebrauchte Periphrase anar (‘gehen’) + Inf. bildet im Katalanischen bekanntlich das pretèrit perfet perifràstic.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
295
4.5.1 Lateinischer Ausgangspunkt und Unterschiede in der Romania Während die Genese des Avertivs aus der lateinischen Grammatikalisierungsquelle STARE/ESSE*RE/SEDERE bislang noch keiner korpusbasierten diachronen Untersuchung unterlegen hat, ist der Frage nach der Entstehung der Phase [Imminenz] in den romanischen Sprachen zumindest seit Beginn nachgegangen worden (cf. Thielmann 1885; Meyer-Lübke 1890–1902, vol. 3, 349s.; Dietrich 1973; 1985; 1996; Heinemann 2003; Palermo 2004). Seit der systematischen Integrierung der aspektuellen Verbalperiphrasen in das romanische Verbalsystem nach Coseriu (1976) und Dietrich (1973, 1996) ist das Ausstehen der bislang noch ungeklärten Entwicklung aspektueller Verbalperiphrasen insbesondere von Dietrich (1973; 1985; 1996) wiederholt als Forschungsdesiderat thematisiert worden. In der Übergangszeit vom Spätlateinischen zu den romanischen Sprachen ist lediglich das nach Hoffmann (1997) sogar bereits im Altlatein (z.B. bei Plautus) periphrastisch verwendete und in spätlateinischen Texten deutlich an Frequenz zunehmende PPA + esse (sum faciens) nachweisbar belegt (cf. Löfstedt 1911, 245–249, Coseriu 1971, Dietrich 1973; Stengaard 1991, 65). Während die Entwicklung der grammatischen Periphrase der partialisierenden Winkelschau sowie der Periphrasen der ingressiven, kontinuativen, regressiven und konklusiven Phase, die aufgrund der fehlenden Desemantisierung des Auxiliars eher lexikalische Periphrasen197 darstellen, zumindest rekonstruierbar ist, ist die Genese der Phasenperiphrase der Imminenz hingegen noch gänzlich intransparent.198 Bislang wird in den nahezu ausschließlich einzelsprachlichen Untersuchungen eine von dem Lateinischen unabhängige Entwicklung nahegelegt: Heinemann (2003, 177) und Palermo (2004, 347) vermuten aufgrund ihrer Untersuchungen zum Altitalienischen eine einzelsprachliche (i.e. vom Lateinischen unabhängige) Genese, müssen die Frage nach der zeitlichen Einordnung des Ursprungs der imminentiellen Periphrase jedoch ebenfalls unbeantwortet lassen.199 Bereits eine erste korpusbasierte Sichtung zeigt Belege des Proximativs aus der
197 Im Rahmen einer funktional-typologischen Perspektive verwenden wir die Begriffe «eher lexikalische Periphrasen» für die Einordnung auf dem Lexikon-Grammatik-Kontinuum. 198 Ebenso weisen die Latinisten Baldi/Cuzzolin (2010e) auf die Komplexität bei der Herausbildung aspektueller romanischer Periphrasen am Beispiel der französischen Verbalperiphrase der egressiven Phase (fr. venir de + Inf.) hin, die ebenfalls keinen direkten Vorläufer im Lateinischen besitzt. 199 «Auch liegt nicht ausschließlich in der heutigen Bedeutung vor, d.h. es ist zu fragen, wann die Fixierung auf die phasale Lesart zeitlich anzusetzen ist.» (Heinemann 2003, 177) «Nelle lingue romanze le perifrasi verbali con valore aspettuale si sono sviluppate secondo modalità in buona misura indipendenti dal latino. Resta aperto il problema dell’origine di questi costrutti.» (Palermo 2004, 347).
296
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
übereinzelsprachlich identifizierten Grammatikalisierungsquelle ‘sein’ (cf. Kapitel 2.1) in nahezu allen älteren Sprachstufen der romanischen Sprachen auf, sodass eine gemeinromanische Betrachtung angestrebt wird, die etwaige Ursprünge in spätlateinischer Phase einbezieht. Die Genese der *essere-Periphrasen ist innerhalb der Romania nicht nur diachron früher anzusetzen als die der stare-Periphrasen, deren Auxiliar stare ( Proximativ > Avertiv
297
als auch des Gerundivum + esse, deren Funktionen die späteren romanischen Infinitivkonstruktionen übernehmen.202 Dem lateinischen esse + Infinitiv (est videre ‘man kann sehen’, ‘es ist zu sehen’) wird hingegen noch vorwiegend eine modale Bedeutung und ein impersoneller Gebrauch zugesprochen (cf. Diez 1882, vol. 3, 936; Rohlfs 1922, 108; Hofmann/Szantyr 1997, 349). Der folgende Beleg aus Tacitus Germania (c. 98 n. Chr.) illustriert die modale Verwendung von est videre (‘man kann sehen’). (348) Esse + Inf. in modaler Bedeutung possessione et usu haud perinde adficiuntur: est videre apud illos argentea vasa, legatis et principibus eorum muneri data, non in alia vilitate, quam quae humo finguntur.
Auf seinen Besitz und Gebrauch legen sie keinen besonderen Wert. Man kann bei ihnen silberne Gefäße sehen [ Avertiv untersuchen werden, werden die balkanromanischen Sprachen zunächst aufgrund ihrer Sonderstellung (cf. auch Kapitel 4.5.1) ausgeklammert werden. Analog zu den anderen romanischen Sprachen entwickelt das Rumänische allerdings ebenfalls die Periphrase a fi pe punctul de + Inf./Subj. mit der die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden PUNCTUM-PP. Steht das Auxiliar a fi der Periphrase a fi pe punctul de + Inf./Subj. im perfect compus (a avea + participiul) drückt die rumänische Periphrase analog zu den anderen romanischen Sprachen den Avertiv aus. Der Avertiv ist zudem mit der Negationspartikel nu kompatibel, insofern die Negationspartikel im Skopus der Avertivperiphrase steht.
203 «Analog [zu habet ad + Gerundium] wird esse verwendet Cart. Senon. 44 (S. 205, 13) nostrum est ad suggerendum, vestrum est ad ordinandum; [. . .] Statt dare aliquid ad faciendum konnte man indessen seit ältester Zeit auch dare aliquid facere sagen» (Norberg 1943, 216).
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
299
(350) Die Negationspartikel im Skopus des Avertivs Rum. Venezuela a fost pe punctul de a nu adera. (Europarl, 08/07/2010) ‘Venezuela wäre beinahe nicht beigetreten.’ Neben der den romanischen Sprachen gemeinsamen Periphrase werden hinsichtlich der Grammatikalisierungsquelle ESSERE/STARE/SEDERE die Periphrasen a fi să + Verb und a sta să + Verb für den Proximativ gebraucht. (351) Proximativ a sta să + Hauptverb Rum. (a) stă să cadă ‘er ist im Begriff zu fallen’ (Coseriu 1976) (b) Stă să plouă. ‘Es kommt gleich Regen.’ (Iliescu 2003, 548) (c) Acoperișul e gata să cadă. ‘Das Dach droht zu fallen.’ (Iliescu 2003, 548) (d) Stînca stă să se prăvale roca_la está que se caiga ‘La roca está a punto de caerse’ (Topor 2011, 540) Wie in Kapitel 2.1 angeführt, wird nach Kuteva (1998) und Heine/Kuteva (2002) für den Avertiv aus der Grammatikalisierungsquelle der Copula das folgende Beispiel von Coseriu (1976) der im Imperfekt stehenden Konstruktion a fi să + Verb angeführt. (352) Rumänischer Avertiv nach Heine/Kuteva (2002) era să cad. sein.IMP.3SG. KONJUNKTIV fallen (Coseriu 1976, 104, zitiert nach Heine/Kuteva 2002, 94) ‘Er wäre beinahe gefallen.’ Die rumänische Konstruktion era să cad unterscheidet sich durch die die Kontrafaktizität explizit ausdrückende Konjunktivpartikel in Form der Konjunktion să grundlegend von den anderen romanischen Sprachen.204 Die Sonderstellung
204 Zur Konstruktion a avea să + Verb sei auf Kapitel 4.4.1 verwiesen. Darüber hinaus führt Topor (2011, 539s.) in Anlehnung an Nedioglu (1965c) noch a da (‘geben’) să + Hauptverb als Verbalperiphrase der Imminenz im Rumänischen an, die sie entsprechend ihrer kontrastiven Untersuchung Rumänisch-Spanisch mit der spanischen Bedeutung estar a punto de + Inf. (‘kurz davor sein etwas zu tun’) paraphrasiert, wie «Ea dă să spună ceva, însă el nu o lasă. ‘Ella está a punto de decir algo, pero él no la deja’ [i.e. ‘Sie ist im Begriff etwas zu sagen, aber er lässt sie nicht’]» (Topor 2011, 540) oder «Corabia dă să se scufunde [. . .] ‘El barco está a punto de hundirse’ [i.e. ‘Das Schiff ist im Begriff unterzugehen’]» (Topor 2011, 540).
300
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
der balkanromanischen Sprachen überrascht den Romanisten kaum angesichts der Isolierung von den anderen romanischen Sprachen und dem erkennbaren Einfluss der slavischen Sprachen. Der Nicht-Romanist sei an dieser Stelle auf Euler (2005, 45) verwiesen.205 Das Rumänische wird in dieser Arbeit aufgrund der frühen Trennung von den anderen romanischen Sprachen nicht kontrastiv zu diesen behandelt werden, sondern in einer folgenden Arbeit separat behandelt werden müssen. Im Folgenden wird die Entwicklung der italoromanischen und iberoromanischen Sprachen untersucht.
4.5.2 Italoromanische Sprachen In dem folgenden Kapitel wird gezeigt werden, dass die italoromanischen Sprachen eine konservative Stellung auf dem Proximativ-Avertiv-Kontinuum gegenüber den innovativeren iberoromanischen Sprachen beziehen und dass sich das Sardische innerhalb der italoromanischen Sprachen als besonders konservativ herausstellt. 4.5.2.1 Sardisch Das geographisch isoliertere Sardische206 gilt hinsichtlich der phonetischen und größtenteils morphologischen207 Entwicklung als besonders konservativ innerhalb der romanischen Sprachen (i.e. archaisch in Bezug auf die Konservierung vulgärlateinischer Strukturen). Schon Dante weist auf die Nähe des Sardischen zum Lateinischen hin.
205 «Das Balkanromanische, speziell in Dakien, das bereits unter Kaiser Aurelian 271 n. Chr. aufgegeben werden musste, also 200 Jahre vor dem Ende Westroms, war somit von der übrigen Romania des Mittelmeerraumes abgeschnitten. Im 4. Jahrhundert bestimmten Westgoten und dann ostgermanische Gepiden den Balkan. Im Verlauf des 6. Jahrhunderts breiten sich Slawen über den gesamten Balkan bis nach Nordgriechenland aus. Das Dakorormanische, zunächst angereichtert mit dakisch-balkanindogermanischen Substrat war seit dem frühen Mittelalter überwiegend südslawischen Einflüssen im Wortschatz wie auch im Lautsystem ausgesetzt» (Euler 2005, 45). 206 Zu den diatopischen Varietäten und Normierungsproblemen des Sardischen sei verwiesen auf u.a. Argiolas/Serra (2001), Blasco Ferrer/Ingrassia (2011), Mensching/Grimaldi (2005), Rindler Schjerve (1987), Corraine (1992; 1999; 2000). 207 Es handelt sich um eine konservative Tendenz, die sich allerdings nicht für die gesamte sardische Verbalmorphologie generalisieren lässt. Bossong (1992, 338) sieht bezüglich der Verbalmorphologie andererseits auch eine gewisse Innovationsfreudigkeit aufgrund des Fehlens eines synthetischen Plusquamperfekts (z.B. im Gegensatz zum Portugiesischen) begründet.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
301
7. Sardos etiam, qui non Latii sunt sed Latiis associandi videntur, eiciamus, quoniam soli sine proprio vulgari esse videntur, gramaticam tanquam simie homines imitantes: nam domus nova et dominus meus locuntur. Auch die Sarden wollen wir aussondern, die keine Italiener sind, aber wohl den Italienern assoziiert werden müssen, denn nur sie scheinen keine eigene Volkssprache zu haben, sondern sie ahmen das Lateinische so nach, wie Affen die Menschen imitieren, sie sagen nämlich domus nova und dominus meus. (Dante 2007, De vulgari eloquentia 1, XI:7, übers. v. M. Frings/J. Kramer)
Hinsichtlich der essere (und istare)-Infinitivperiphrasen wird in diesem Kapitel für eine konservative Stellung innerhalb des Proximativ-Avertivs-Kontinuum argumentiert, bei dem sich der Proximativ bereits in den frühesten Texten aus essere de + Infinitiv ohne Avertivtendenz bildet und gegenüber dem Italienischen, Rätoromanischen und insbesondere iberoromanischen Sprachen keine imminentielle Periphrase mit istare entwickelt. Das auch hinsichtlich einiger Verbalperiphrasen, wie das periphrastische Futur mit HABERE (cf. Kapitel 4.4), nach unserer Ansicht eher konservative Sardische hat auch die partialisierende Winkelschau mit esse konserviert (So travallande. ‘I am working.’). Neben esse + Gerundium koexistiert im Sardischen die innovativere Periphrase mit istare + Gerundium (isto travallende ‘I am working.’ < lat. sto faciendo) hingegen nur marginal im Gegensatz zu der obligatorisch auftretenden STARE-Gerundialperiphrase im (gegenwärtigen) Italienischen, Spanischen, brasilianischen Portugiesisch (im europäischen Portugiesisch: estar a fazer), Katalanischen und Galicischen.208 (353) esse + Gerundium und istare + Gerundium Sard. (a) So travallande. ‘I am working.’ (Jones 1993, 83) (b) Los fippo leghende. ‘I was reading them.’ (Jones 1993, 83) (c) Istaío travallande. ‘I was working.’ (Jones 1993, 84) (d) Istan fakende su mándicu. ‘They are preparing the meal.’ (Jones 1993, 84) Die beiden Periphrasen für den progressiven Aspekt gehen nach Jones (1993, 83s.; 137–142) mit unterschiedlichen Grammatikalisierungsgrad einher: Die
208 Sowohl im Italienischen als auch in den iberoromanischen Sprachen treten die aspektuellen essere-Periphrasen (einschließlich der Proximativ-Periphrasen) zunächst mit essere und anschließend mit stare auf. In den iberoromanischen Sprachen werden die essere-Periphrasen nahezu vollständig abgebaut, wie in Kapitel 4.5.3 und Kapitel 4.5.5 aufgezeigt werden wird.
302
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Gerundialperiphrase mit essere ist im Gegensatz zu der Periphrase mit istare auch mit states kompatibel. Istare ist im Gegensatz zu èssere mit dem perfektiven Aspekt kompatibel, wie Jones (1993) aufzeigt. (354) Gerundialperiphrase im zusammengesetzten Perfekt Sard. So istatu travallende. ‘I have been working.’ (Jones 1993, 141) Essere de + Infinitiv wird nach Jones (1993, 93) zum Ausdruck einer noch nicht realisierten intendierten Handlung gebraucht, die in Vergangenheitstempora auch misslingen kann. Nach unserer theoretischen Untersuchung in Kapitel 3.2.2 wird essere de + Infinitiv als ein Proximativ verstanden, der in Beispiel (a) mit R-basierter Implikatur und in Beispiel (b) mit implikatierter Avertivbedeutung (in Form einer kontrafaktischen Q-basierten Implikatur des Proximativs durch die Aufhebung der R-basierten Implikatur mittels Adversativsatz) vorliegt. (355) Proximativ essere de + Inf. mit R-basierter (a) und Q-basierter Implikatur (b) Sard. (a) Si ses de cantare cussa cathone, cántala como. ‘If you are going to sing that song, sing it now.’ (b) Fimus de andare a mare, ma poi at comintzatu a próere. ‘We were going to go to the sea, but then it started to rain.’ (Jones 1993, 93) Das folgende Beispiel von Jones (1993, 311) zeigt nach unserer Ansicht hingegen ein Vorstadium mit noch modaler (deontischer) Bedeutung, welches semantische Äquivalenz zu dem lateinischen Gerundivum + esse (z.B. lat. liber legendus est ‘das Buch muss gelesen werden’) und den späteren präpositionalen Infinitivperiphrasen im Spätlateinischen aufweist. (356) Modale (deontische) Bedeutung von essere de + Inf. Sard. (a) Cussos sun sos libros de léghere. ‘Quelli sono i libri da leggere (cioè, che si devono leggere).’ (b) Appo fattu tottu sas cosas de fáchere. ‘Ho fatto tutte le cose da fare (cioè, che si dovevano fare).’ (Jones 2003, 311) Jones (1993, 93) verweist auf eine weitere Konstruktion in Verbindung mit dem Adverb galu (‘schon’) in der Form essere galu a + Infinitiv, aus der die Imminenz (‘We have/had not eaten yet.’) via Inferenz aus der wörtlichen Bedeutung (Lit. ‘We are/were yet to eat.’) gezogen werden kann.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
303
(357) essere galu a + Infinitiv Sard. Semus/fimus galu a mandicare. Lit. ‘We are/were yet to eat.’ ‘We have/had not eaten yet.’ (Jones 1993, 93) Wie unsere Recherche in sardischen Texten ergibt, wird der Proximativ auch durch èssere pa’ + Infinitiv ausgedrückt. Der Avertiv wird im Gegenwartssardischen hingegen lediglich kompositionell durch die Implikatur des in Vergangenheitskontexten gebrauchten Proximativs oder lexikalisch (guàsi) ausgedrückt. Analog zu den anderen romanischen Sprachen, kann auch die implikatierte Avertivbedeutung des Proximativs éra pa’ + Infinitiv lexikalisch mit guàsi verstärkt werden. (358) Verstärkbarkeit der implikatierten Avertivbedeutung Sardisch (20. Jahrhundert) Italienische Übersetzung Cun chisti pinsamènti éra guàsi pa’ Con questi pensieri stavo quasi per falamminni candu mi sòcu avvistu scendere quando mi sono accorto chi la littorina éra ghjà paltùta. Li che la littorina era già partita. sthéddi sò’ istéddi ancora pal chisti I ragazzi sono ragazzi anche per impruisàti. Ma nò m’agghju présu queste improvvisate. Ma non mi sono cuidàtu, tantu si mi ni facìani falà preoccupato, tanto se mi facevano nò mi facìa nuitài andà a pédi. scendere, per me, non era una novità camminare a piedi. [eigene Hervorhebungen] (Canu, Un linzolu di tarra. Pani saldu) Dass auch die Gerundialform als Träger der semantischen Hauptinformation die Inferenz der Imminenz zulässt, zeigt sich insbesondere anhand von Achievements. (359) Inferenzziehung der Imminenz aus der Gerundialperiphrase Sardisch (20. Jahrhundert) Italienische Übersetzung A cumpassioni mubidi Muovete a compassione, sassaresi, la sassaresi zittadini mia sofferenza è troppo grande, sto per troppu è lu me suffrini perdere la vita: all’uomo che mi ha trasoggu pisdhendi la vidda: dita chiedo pietà e perdono. [eigene all’ommu chi m’a tradidda Hervorhebungen] (Lu pientu di Lauretta piedai dumandu e pasdhonu. in prisgioni pa’ abè Mosthu l’ommu chi l’ha tradidda)
304
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
In Analogie zu den anderen romanischen Sprachen findet sich auch die TUM-Periphrase im Sardischen.
PUNC-
(360) Essere a puntu de + Inf. Sard. In cudda universidade chi, aende fatu pro sa limba sarda su chi Marianu IV at fatu pro sa Natzione sarda, est a gradu de iscùdere a libru a chie, che a bois, est a puntu de nche ispèrdere su sardu. (Limba Sarda 2.0, Pintore l’aiat giai naradu: Zedda nde bogat sas ideas prus betzas e dannàrgias pro sa limba, 11/05/2014, letzter Zugriff: 18.07.2015) Für die diachrone Untersuchung stellen wir ein eigenes altsardisches Korpus bestehend aus altsardischen Urkunden, Briefen und Verwaltungsdokumenten, wie die condaghes, beginnend ab dem 11. Jahrhundert zusammen, die in Kapitel 7 aufgeführt werden. Die Imminenz der Form essere de + Infinitiv findet sich lediglich in der Il condaghe di san nicola di trullas (c. 1115–1176) mit insgesamt vier Belegen, in denen das Auxiliar zu 100% in der Gerundialform (es)sende de + Infinitiv auftritt.209 Die altsardischen Belege werden in der gegenwartsitalienischen Übersetzung stets mit einem im Temporalsatz stehenden Proximativ stare per + Infinitiv mit R-basierter Implikatur der Prädiktion von p paraphrasiert, die entsprechend unseres theoretischen Modells in Kapitel 3 ein frühes Grammatikalisierungsstadium (erstes Stadium) des Proximativ-Avertiv-Kontinuums darstellt. (361) Proximativ essere per + Infinitiv mit R-basierter Implikatur Altsardisch (c. 1115–1176) Italienische Übersetzung Et ego bocailos a ccorona: Ed io li citai in corona [nella persona di] a donnu Comita de Çori, et kertai Comita de Thori, feci lite con lui nella cocun illu in corona de iudice Go- rona del giudice Gosantine de Laccon, santine de Laccon, sendo in Sila- riunita in Silanos il giorno di Santa Barnos sa die de sancta Barbara. bara. E mi ingiunsero di produrre testiE iudicarunmi a testes: essende moni: e quando li stavo per produrre de bacturgerlos, consiiarunse si consultarono tutti i fratelli tra loro totu frates impare et derunminde e mi diedero due domos, a Tunobe e ad .ii. domos, a Tunobe et a Urieke. Urieke. [eigene Hervorhebungen] (Il condaghe di san nicola di trullas, 70–73)
209 Der Gebrauch der Infinitivperiphrase im Gerundium zum Ausdruck der Imminenz zeigt sich auch in den älteren Sprachstufen einiger anderer romanischer (insbes. iberoromanischer) Sprachen, wie in den nachfolgenden Kapiteln gezeigt wird.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
163 Osca ego certainde in corona de iudice Gunnari cun donna Pretiosa. Essendo ego de vincer, / 47r/ campaniaitse mecu: parçivimusnos paris sa domo d’Olvesa, a boluntate de pare;
300 Et a mimi iudicarunmi a testimonios: et sende de battuger su condage de Sanctu Nicola, mi petivit campania su previteru, et mi precait a fakerinde campania cun su previteru.
182 E ssendo d’ispiiarelu su kertu, campaniaitse su priore de Gulsevi cun Comita prossa domo de Banios.
305
163 Poi feci lite sullo stesso oggetto nella corona del giudice Gunnari con donna Pretiosa. E quando stavo per vincere si accordò con me: dividemmo a metà la domo di Olvesa, con mutuo consenso; [eigene Hervorhebungen] (Il condaghe di san nicola di trullas, 124s.) 300 E mi imposero di produrre testimoni: e quando stavo per produrre il condaghe di San Nicola, mi chiese [di giungere ad] un accordo il prete, e mi invitò [il giudice] ad accordarmi con il prete. [eigene Hervorhebungen] (Il condaghe di san nicola di trullas, 188s.) 182 E quando si stava per definire la contesa, si accordò il priore di Gulsevi con Comita per la domo di Banios. [eigene Hervorhebungen] (Il condaghe di san nicola di trullas, 134s.)
Eine zum Altitalienischen analoge Form zu essere per + Infinitiv oder stare per + Infinitiv findet sich in unserem altsardischen Korpus allerdings noch nicht. Das früheste Beispiel mit einer altsardischen Präposition po/pa’/pal finden wir im 18. Jahrhundert, was allerdings vielmehr dem Sprachkontakt zum Italienischen geschuldet ist. (362) Der Proximativ essere pal + Infinitiv Sardisch La notti è pal viné, la dì s’imbruna candu lu soli mori in occidendi. (Gavino Pes, Lu Tempu, 18. Jh.)
Italienisch La notte sta per sopraggiungere, il giorno imbruna, quando il sole muore in occidente. (Pes 1981, 324–328, traduzione di Giulio Cossu, zitiert nach Tola 2006, 127)
306
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Das Sardische nimmt innerhalb des Proximativ-Avertiv-Kontinuums eine konservative Stellung ein in sowohl semantischer als auch syntaktischer Hinsicht. Es konserviert die bereits in den frühesten Texten des Altsardischen auftretende Periphrase essere de + Infinitiv und weist hinsichtlich des Proximativs (noch) keinen Proximativ mit istare auf. Das Italienische erweist sich hingegen als innovativer als das Sardische, sowohl hinsichtlich der Ausbildung eines Proximativs mit stare als auch hinsichtlich der Avertivbedeutung, wie im Folgenden gezeigt wird. 4.5.2.2 Italienisch Gegenstand der diachronen Untersuchung ist die Genese der italienischen Verbalperiphrasen essere sul punto di + Infinitiv, essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv (siz. stari pi + Inf.). Es wird die Hypothese zugrunde gelegt, dass das Italienische in Bezug auf den Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv zwar innovativer als das Sardische, jedoch konservativer als die iberoromanischen Sprachen ist. Während die iberoromanischen Sprachen ser en/a punto de + Infinitiv gänzlich durch estar a punto/ponto de + Infinitiv ersetzt haben (cf. Kapitel 4.5.3), hat das Italienische nahezu ausschließlich210 die ältere Form essere sul punto di + Infinitiv konserviert. Im Gegensatz zu den iberoromanischen Sprachen, die ser por/para + Infinitiv ebenfalls gänzlich abgebaut haben, koexistieren im Italienischen stare per + Infinitiv und essere per + Infinitiv nebeneinander, wobei stare per + Infinitiv bereits im 19. Jahrhundert essere per + Infinitiv an Frequenz überholt und im gegenwartsitalienischen Korpus des 20. Jahrhunderts eine deutlich höhere Frequenz aufweist mit einer Relation von 5457 (stare per + Infinitiv): 468 (essere per + Infinitiv). Zudem wird im Folgenden gezeigt, dass essere sul punto di + Infinitiv, essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv unterschiedliche Positionen auf dem Proximativ-Avertiv-Kontinuum beziehen, die sich auch in einer unterschiedlich entwickelten Tempusaffinität widerspiegeln. Während essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv überwiegend in dem für den Proximativ prototypischen Präsens auftreten, wird essere sul punto di + Infinitiv bereits überwiegend in Verbindung mit Vergangenheitstempora (sowohl mit imperfektivem als auch perfektivem Aspekt) zum Ausdruck der Avertivbedeutung gebraucht (cf. Tabelle 69, Seite 307). Während die Avertivfunktion von essere per + Infinitiv mit 6% und stare per + Infinitiv mit 7,34% in Relation zur Proximativfunktion lediglich marginal auftritt,
210 In dem CORIS-Korpus mit 130.000.000 Token finden sich 3 Beispiele der Form stare sul punto di + Infinitiv gegenüber 570 Beispielen der Form essere sul punto di + Infinitiv.
307
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
Tabelle 69: TAM-Distribution der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS. .. Token
Essere sul punto d’/di + Inf.
Gesamt
Essere per + Inf.
Stare per + Inf.
(,%)
(,%)
(,%)
Indicativo imperfetto
(,%)
(,%)
(,%)
Congiuntivo presente
(,%)
(,%)
(,%)
Infinito presente
(,%)
(,%)
(,%)
Passato remoto
Indicativo presente
(,%)
(,%)
(,%)
Passato prossimo
(,%)
(,%)
(,%)
Congiuntivo imperfetto
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
(,%)
Trapassato prossimo
(,%)
(,%)
(,%)
Condizionale presente
(,%)
(,%)
(,%)
Congiuntivo trapassato
(,%)
(,%)
(,%)
Futuro semplice
Futuro anteriore
(,%)
(,%)
Gerundio presente
(,%)
Infinito passato
(,%)
weist essere sul punto d’/di + Infinitiv einen Avertivgebrauch von sogar 60% auf, wie Abbildung 19 und Tabelle 70 (Seite 308) illustrieren.
100.00% 90.00% 80.00% 70.00% 60.00% 50.00% 40.00% 30.00% 20.00% 10.00% 0.00%
Avertiv Proximativ
Essere sul punto d‘/di + Inf.
Essere per + Inf.
Stare per + Inf.
Abbildung 19: Proximativ/Avertiv-Distribution der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS.
308
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 70: Proximativ/Avertiv-Distribution der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS. Essere sul punto d‘/di + Inf.
Essere per + Inf.
Stare per + Inf.
Avertiv
/ (%)
/ (%)
/ (,%)
Proximativ
/ (%)
/ (%)
/ (,%)
Essere sul punto di/d’ + Infinitiv weist in nahezu allen Vergangenheitstempora eine (je nach Tempus mehr oder weniger starke) Avertivtendenz auf, während bei essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv die Proximativfunktion auch in den Vergangenheitstempora (noch) überwiegt, wie Tabelle 71 illustriert.211 Tabelle 71: Avertivbedeutung der essere/stare-Infinitivperiphrasen im CORIS. Avertivbedeutung
Essere sul punto di/d’ Essere per + Infinitiv Stare per + Infinitiv + Infinitiv
Passato remoto
,% ( / )
,% ( / )
Indicativo imperfetto
,% ( / )
,% ( / ) ,% ( / )
Trapassato prossimo
,%
( / )
,%
Passato prossimo
%
( / ) ,%
( / ) ( / )
%
( / )
,% ( / ) ,%
( / )
Congiuntivo imperfetto
,%
( / )
% ( / ) ,%
( / )
Congiuntivo trapassato
%
( / )
%
( / )
%
( / )
Die Verwendung von essere sul punto di + Infinitiv im passato remoto ist hingegen direkt nach dem Imperfektgebrauch sogar der zweitfrequenteste Gebrauch der Verbalperiphrase und weist im passato remoto korpusbasiert eine Avertivtendenz zu 96,33% auf. (363) Avertivbedeutung von essere sul punto di + Infinitiv Fui sul punto di tirare il grilletto. Me ne dissuase il nuovo tono che la sua voce aveva assunto: serio, dispiaciuto, senza inflessioni di sarcasmo (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) ‘Ich hätte beinahe den Abzug gedrückt.’
211 Die Belege der Tabelle 71 werden, wie folgt, gelesen: Essere sul punto di/d’ + Infinitiv ist im passato remoto mit 109 Belegen im CORIS-Korpus verzeichnet, von denen 105 Belege (96,33%) in der Avertivfunktion auftreten.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
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Im Gegensatz zu dem relativ frequenten Avertivgebrauch der die Imminenz lexikalisch ausdrückenden Verbalperiphrase (essere sul punto di + Infinitiv) im passato remoto, verhalten sich die Proximative essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv deutlich unterspezifiziert hinsichtlich des Avertivausdrucks. (364) Unterspezifizierung des Proximativs essere per + Infinitiv Quando fu per uscire di nuovo sentì grida remote e gli parve che stessero facendo scoppiare dei razzi nei pressi della piazza (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRomanzi) ‘Als er kurz davor war erneut hinauszugehen’ Die italienische Verbalperiphrase stare per + Infinitiv ist hinsichtlich des Proximativ-Avertiv-Kontinuums konservativer als die iberoromanischen Verbalperiphrasen estar por/para/per + Infinitiv, bei denen die Aspektopposition imperfektivperfektiv zur Spaltung der beiden Kategorien Proximativ und Avertiv führt. Die korpusbasierte Tempusverteilung von stare per + Infinitiv im Gegenwartsitalienischen zeigt die geringe relative Frequenz der Verbalperiphrase in perfektiven und perfektischen Tempora passato remoto (0,02%), passato prossimo (0,24%), trapassato prossimo (0,11%) gegenüber den imperfektiven Tempora presente (52,12%) und imperfetto (35,37%) auf. Das im CORIS-Korpus (130.000.000 Token) lediglich einmalige Auftreten (0,11%) von stare per + Infinitiv im passato remoto ist zudem durch den generell zurückgegangenen Gebrauch von stare im passato remoto motiviert.212 (365) Avertivbedeutung von stare per + Infinitiv Elena stette per soccombere a un’ondata di nostalgia per Alice, che intanto stava già probabilmente lottando con i fusi orari a Bangkok, o a Hong Kong, comunque non era lì a vedere niente. Non si sarebbe potuta consultare con lei, pensò avviandosi ai taxi. 5. Mentre apriva la porta di casa, Elena sentì suonare il telefono. Cercava di affrettarsi, ma c’era qualcosa di lento dentro di lei, il tempo era rallentato, come se si fosse rotto il solito ritmo. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) ‘Elena wäre beinahe dem Nostalgieanflug von Alice erlegen.’
212 In dem CORIS-Korpus mit 130.000.000 Token ist die im passato remoto stehende historische Form stette beispielweise mit lediglich 306 Belegen (0,21%) des Lemmas stare (145.167 Gesamtbelege) im Gegensatz zu der im imperfetto stehenden Form stava mit 25.836 Einträgen (17,8%) belegt. Die im passato remoto stehende Form fu ist mit 49.049 Belegen (1,64%) des Lemmas essere (2.996.899 Gesamtbelege) in Relation zu dem frequenteren era mit 323.405 Einträgen (10,79%) belegt.
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Im Gegensatz zu der signifikanten Avertivtendenz im passato remoto zeigen die drei italienischen Proximative im passato prossimo keine Tendenz hinsichtlich einer Implikatur des Avertivs, sondern sind höchst unterspezifiziert: essere sul punto di/d’ + Infinitiv weist lediglich 55% (11 / 20), essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv weisen 30,77% (04 / 13) der im passato prossimo stehenden Proximative mit implikatierter Avertivbedeutung auf. Die beiden letztgenannten lassen die geringe Avertivtendenz durch die polyseme Form in den zusammengesetzten Tempora erklären, die sowohl auf die stärker modal gebrauchte Periphrase essere per + Inf. als auch auf die stärker aspektuell gebrauchte Periphrase stare per + Inf. referieren kann. Die Proximative essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv weisen auch in den zusammengesetzten Tempora (passato prossimo, trapassato prossimo, congiuntivo trapassato, etc.) keine Spezifizierung des Avertivs auf, indem der Proximativ sowohl mit R-basierter Implikatur von p als auch mit Q-basierter Avertivimplikatur auftritt.213 (366) Proximativ essere/stare [passato prossimo] per + Infinitiv Q+> Avertiv E il tuo discorso piu [sic!] bello. Gli sta a pochi centimetri, continua aggiungere aggettivi agli a, ggettivi [sic!] che arrivano da tutte le parti. Un uomo calvo ripete Sono senza parole, sono senza parole. La ragazza dalla testa piccola dice In due o tre momenti sono stata per piangere. Altri annuiscono ai margini della ressa e alla prima occasione si fanno Sotto, si allungano a dire Straordinario, o Perfetto, davvero. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) ‘In zwei oder drei Momenten hätte ich beinahe geweint.’ (‘In zwei oder drei Momenten bin ich kurz davor gewesen zu weinen, aber ich habe nicht geweint’) (367) Proximativ essere/stare [trapassato prossimo] per + Infinitiv Q+> Avertiv «Io sono suo marito.» Ma poi parve pensare che questa non fosse una spiegazione sufficiente. Fece per aggiungere qualcosa, s’interruppe, sorpreso per quello che era stato per dire. Rimase assorto per un lungo momento a scrutare in se stesso, e alla fine si decise, come se l’esprimere il pensiero ad alta voce l’aiutasse finalmente a capire. «Marito e anche padre.» Munda tese la mano per azzittirlo. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) ‘Er wollte gerade etwas hinzuzufügen, unterbrach, überrascht von dem, was er beinahe gesagt hätte.’
213 Der sehr geringe Gebrauch der beiden Proximative essere per + Inf. und stare per + Inf. im trapassato prossimo (6 Belege) und im congiuntivo trapassato (3 Belege) lassen ohnehin keine Generalisierungen zu und gehen mit einem unterspezifizierten Gebrauch einher.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
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(368) Proximativ essere/stare [trapassato prossimo] per + Infinitiv Ma lei ne captò il tono sconfitto e registrò ogni parola, leggendone i significati più nascosti. Non si voltò. Rimase con le mani affondate nel cassetto che era stata per chiudere. Il raso delle sottovesti le parve all’improvviso viscido e mobile sotto le dita, simile a pelle di biscia. «Se n’è andata di nuovo» bisbigliò ancora la voce di Erasmo, come se la notizia, per quanto ormai espressa, dovesse restare segreta. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) ‘Er blieb mit den Händen in der Schublade versunken, die kurz davor war, sich zu schließen.’ Der Gebrauch von essere sul punto di + Inf. im trapassato prossimo ist mit 10,70% in Relation zu essere per + Inf. (1,28%) oder stare per + Inf. (0,11%) stärker ausgeprägt und weist eine signifikante (wenn auch nicht ausschließliche) Avertivaffinität von 93,44% auf. (369) Avertivbedeutung von essere sul punto di + Inf. im trapassato prossimo (a) era stata sul punto di scoppiare a piangere (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRomanzi) ‘sie wäre beinahe in Tränen ausgebrochen’ (sie war kurz davor in Tränen auszubrechen, aber ist es nicht) (b) Il suo precedente passaggio per Mompox era stato sul punto di essere l’ultimo. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRomanzi) ‘Sein vorangegangener Aufenthalt in Mompox wäre beinahe sein letzter gewesen.’ (García Márquez 1989b, 149)214 (c) Era stato sul punto di lasciarsi catturare (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRomanzi) ‘er hätte sich beinahe ergreifen lassen’ (er war kurz davor, sich ergreifen zu lassen, aber hat es nicht) Beispiel (370) illustriert den im Imperfekt stehenden Proximativ stare per + Infinitiv im Inzidenzschema, dessen R-basierte Implikatur (die Prädiktion von p) durch den folgenden Kontext «il suo collega lo moderò [. . .]» aufgehoben wird und
214 In dem spanischsprachigen Original El general en su laberinto von García Márquez (1989a) wird die Avertivbedeutung ebenfalls mit der im Plusquamperfekt stehenden Verbalperiphrase estar a punto de + Inf. wiedergegeben: «Su paso anterior por Mompox había estado a punto de ser el último.» (García Márquez 1989a, 67). Das Deutsche muss hingegen auf eine lexikalische Umschreibung der Avertivbedeutung mit ‘beinahe’ und dem Konjunktiv zurückgreifen, wie die deutsche Übersetzung von Dagmar Ploetz (cf. García Márquez 1989b, 149) illustriert.
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
dadurch eine Q-basierte Implikatur (i.e. die dem Proximativ fehlenden Komponente Nicht-p) auslöst. (370) Proximativ im Inzidenzschema Nel momento in cui un agente stava per afferrare un vecchio per le gambe, il suo collega lo moderò: «Fa’ piano, vecchio mio, è un membro dell’Istituto!». E qui l’illustre professore volò gambe all’aria, seguito dal monaco bianco e nero come un grande uccello. (CORIS: Subcorpus: Miscellanea, Section: MiscVolumi) ‘In dem Moment, als der Polizeibeamte kurz davor war ihn zu ergreifen, beruhigte ihn sein Kollege [. . .]’215 Im Skopus von quasi, das im Gegensatz zu den iberoromanischen Sprachen zudem noch überwiegend den Konjunktiv selegiert (cf. Kapitel 3.2.1 und Kapitel 4.3.1), ist die implikatierte Avertivbedeutung zusätzlich verstärkbar. (371) Verstärkbarkeit der implikatierten Avertivbedeutung Nell’ultima rilettura che il cinema ci ha proposto – quella del giovane Lurhmann [sic!] – all’inizio del film una mezzo busto del tg annuncia i protagonisti della tragedia che si va consumando in ‘Verona Beach’, lanciando sullo schermo televisivo le rispettive fotografie con enfasi kitsch, quasi stesse per presentare e pubblicizzare i personaggi di una soap opera. (CORIS; Stampa Quotidiani) ‘wäre beinahe kurz davor gewesen, die Figuren der Soap-Opera vorzustellen und zu veröffentlichen’ Wie in Kapitel 3 dargelegt, ist der Proximativ mit implikatierter Avertivbedeutung mit der Negationspartikel kompatibel, sodass die Proposition durch die doppelte Negation, resultierend aus der Quantitätsimplikatur des Proximativs und der expliziten Negation durch die Negationspartikel, positiv wird. (372) Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel Lyndon Johnson si ritiro’ [sic!] dalla corsa per la rielezione, sfidato da Walter Mondale e Robert Kennedy. Jimmy Carter stava per non essere ricandidato, dopo essere stato sfidato con determinazione da Ted Kennedy. (Lexis Nexis: La Stampa, 17/02/1995, Italia) ‘Jimmy Carter war kurz davor, nicht erneut zu kandidieren.’ +> ‘Jimmy Carter hätte beinahe nicht erneut kandidiert, [. . .]’ 215 Das Beispiel wird in Kapitel 3.2.2.2 theoretisch behandelt.
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Hinsichtlich der Betrachtung der STARE-Periphrase in diatopischer Variation ergeben sich zu erwartende Unterschiede hinsichtlich der süd- und norditalienischen Dialekte, zumal die süditalienischen Dialekte, die das passato remoto verwenden, einen fortgeschritteneren Avertivgebrauch gegenüber dem Avertivgebrauch mit passato prossimo der norditalienischen Dialekte aufweisen (cf. die Untersuchungen in Kapitel 3.2.2.2). Des Weiteren besitzt sogar das sizilianische (Gegenwarts-)Italienisch eine analoge Verbalperiphrase stari pi + Infinitiv für den Proximativ. (373) Der Proximativ stari pi + Inf. im sizilianischen Italienisch (a) To patri sta pi vvèniri 3 p.s. Ind. Pres. + Inf. (Amenta 2010a, 2) (b) Du picciriḍḍi sono seduti per terra e stanno pi gghiucari. 3 p.pl. Ind. Pres. + Inf. Due bambini sono seduti per terra e stanno per giocare. (Amenta 2010a, 8) (c) So ma’ ca tieni u tàvulu mentri ci stàvanu pi càriri tutti cosi nterra. 3 p.s. Ind. Pres. 3 p.pl. Ind. Impf. + Inf. Sua madre che tiene il tavolo mentre le stavano per cadere tutte le cose a terra. (Amenta 2010a, 9) Amenta (2010a, 8s.) führt die funktionale Überlappung der sizilianischen Verbalperiphrase der partialisierenden Winkelschau (stare + gerundio) mit der imminentiellen Verbalperiphrase (stari pi + infinito) an. (374) Gerundialperiphrase mit imminentieller Inferenz im sizilianischen Italienisch (a) S’un mi chiamàvanu, già ci stava pagannu u bigliettu a chiḍḍu. 3 p.pl.Ind. Impf. 3p.s. Ind. Impf. + Ger. Se non mi chiamavano già ci stavo pagando (stavo per pagare) il biglietto a lui. (Amenta 2010a, 9) (b) Ti rissi ca stàiu turnannu! 1 p.s. Ind. Pass. Rem. 1 p.s. Ind. Pres. + Ger. Ti ho detto che sto tornando (sto per tornare)! (Amenta 2010a, 9) Es handelt sich allerdings unserer Ansicht nach lediglich um (pragmatische) Inferenzen, die das altitalienische Stadium widerspiegeln, in welchem partialisierende Winkelschau und Imminenz oftmals noch funktionell überlappen, wie wir in der folgenden diachronen Untersuchung in Anlehnung an
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Palermo (2004) zeigen werden. Die korpusbasiert aufgezeigte synchrone Variation der drei Periphrasen mit unterschiedlich stark ausgeprägter Avertivfunktion geht mit unterschiedlichen Entwicklungsstadien einher, die im Folgenden diachron zu untersuchen sind. Die diachrone Untersuchung des Italienischen erfolgt auf der Grundlage des altitalienischen Korpus OVI (Opera del Vocabolario Italiano) mit über 2.000 Texten und 21.911.171 Token sowie dem Korpus LIZ 4.0 (Letteratura Italiana Zanichelli) mit 1.000 Texten der italienischen Literatur vom 12. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Palermo (2004) nimmt hinsichtlich der Genese der Imminenz (i.e. des Proximativs) von essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv auf der Basis der Korpora LIZ 4.0 (2000) und OVI eine modal-aspektuelle Entwicklung unabhängig von den lateinischen Konstruktionen an, muss allerdings ebenfalls abschließend die Frage nach dem Ursprung der Periphrasen offen lassen (cf. Kapitel 4.5.1). Das lateinische essere + PPA findet sich noch im Altitalienischen und lässt neben der vorrangig gerundialen Bedeutung auch eine imminentielle Lesart zu, auf die bereits Palermo (2004) hingewiesen hat: (375) Essere + PPA im Altitalienischen216 mit imminentieller Inferenz (a) E lo bel Gherardin coll’arme volse,/ veggendo che ‘l soldano era vincente [‘stava vincendo’/’stava per vinvcere’]./ Dal padiglion di subito si mosse,/ inver di lui cavalca arditamente,/ e per sì gran possanza lo percosse,/ ch’e’ morir crede quando il colpo sente, (Cantare del bel Gherardino, zitiert nach Palermo 2004, 345) (b) E ‘mperciò certi savi, quando vòlsaro fare operazione de guerra o d’odio o de batallia, convocavano li spiriti de Marte, secondo ch’è posto e scritto per loro. E avemo già trovato scolpito e entalliato de li savi scolpitori e entalliatori antichi grandissima batallia e occisione de gente, e a pée e a cavallo; tra li quali erano spiritelli, en modo de garzoni, ch’andavano volando; e parea che fóssaro in aiuto ad una de le parti, la quale era vencente [stava vincendo/ stava per vincere]. (R. D’Arezzo, La comp. del mondo, zitiert nach Palermo 2004, 345) In Verbindung mit den Auxiliaren essere und stare sind daneben essere in + Infinitiv und stare in + Infinitiv in der Lage, die Imminenz im Altitalienischen
216 Die Einteilung der Etappen der italienischen Sprachgeschichte erfolgt in einer Dreiteilung in Altitalienisch (von den Anfängen bis ca. 1500), Neuitalienisch (ca. 1500– ca. 1850) und modernes Italienisch (ca. 185heute), wie sie beispielsweise Haase (2007) nahelegt.
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auszudrücken.217 Die aspektuelle Bedeutung dieser Periphrasen ist allerdings unterspezifiziert, insofern sie sowohl progressive als auch imminentielle oder ingressive Lesarten ermöglichen. (376) Essere in + Inf. und stare in + Inf. im Altitalienischen (a) Eu so quel che multo sustenea/ fin ke deu non plaque cunsilare;/ dì né notte, crethu, non durmia, ch’ongni tempu era ‘n començare./ sì m’ave[a] p[o]sto in guattare. (Testo A, vv. 21–24, zitiert nach Palermo 2004, 346) (b) «Soccurri, Deo, ch’io sto su ‘n anegare/ e per fortuna scampai mala mente!». (Jac. Da Todi, Laude, zitiert nach Palermo 2004, 347) (c) e sempre volsi e voglio/ compiuto suo disire:/ se per meve è ‘n fallire/ di ciò è ‘l mio cordoglio. (C. Davanzati, Rime, zitiert nach Palermo 2004, 347) Nach unserer Recherche in Primärtexten des 13. Jahrhunderts sowie im LIZKorpus finden sich sowohl imminentielle Lesarten (Beispiel a) als auch bereits progressive Lesarten (Beispiel b) der unterspezifizierten altitalienischen Periphrase essere a + Infinitiv 218 in Analogie zu stare a + Infinitiv (Beispiele c und d). (377) Essere a + Inf. und stare a + Inf. im Altitalienischen altit. (a) Sire Dio, che lo savesse Herr Gott, wüßte er doch, 5 Ch’io per lui sono al morire, daß ich seinetwegen dem Tode nahe bin, O c’a donna s’avenisse! und würde sich das doch für eine Frau schicken! (Compagnetto da Prato [c. 1200–1300], 130s.) (b) e pronti sono a trapassar lo rio, ché la divina giustizia li sprona, 126 sì che la tema si volve in disio.
Und sie überqueren den Fluss nur allzu gern, sitzt ihnen doch die göttliche Gerechtigkeit so im
217 Die unterspezifizierten Infinitivkonstruktionen mit marginalem Gebrauch zum Ausdruck der Imminenz zeigen sich in den älteren Sprachstufen gesamtromanisch. Für das Altitalienische sei verwiesen auf die Hinweise in Palermo (2004, 346s.) sowie für das Altspanische auf die Hinweise von Yllera (1980, 334), auf die in Kapitel 4.5.3.1 eingegangen wird. 218 Squartini (2010, 588) erwähnt die Periphrase essere a + Inf. lediglich hinsichtlich der «futurischen» Lesart (unserer Ansicht vielmehr als «prospektive» Lesart und entsprechend aspektuell zu verstehen) einerseits und der deontischen Bedeutung andererseits. «Questa perifrasi combina il valore di riferimento temporale futuro con la modalità deontica.» (Squartini 2010, 588).
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Nacken, dass die Furcht davor sich schier in Sehnen wandelt (Dante, Commedia, Inferno, Canto III, 54s.) (c) Così vid’io l’altr’anima, che volta Und so sah ich, wie die andere stava a udir, turbarsi e farsi trista, Seele, die starr zugehört hatte, das 72 poi ch’ebbe la parola a sè Gesicht verzog und einen elenden raccolta. Ausdruck annahm, nachdem sie die Worte in sich aufgenommen hatte. (Dante, Commedia, Inferno, Canto III, 276s.) (d) ché ciascun suo nimico era War ja doch jeder seiner Feinde cristiano, Christ, und keiner hatte etwa Akkon 90 e nessun era stato a vincer Acri miterobert, noch Handel getrieben né mercatante in terra di Soldano; in Sultans Landen, (Dante, Commedia, Inferno, Canto XXVII, 412s.) Der unterspezifizierte Charakter der Periphrasen essere a + Infinitiv und essere de + Infinitiv zeigt sich in der Abhängigkeit von Aktionsart, Transitivität und lexikalischer Bedeutung der infiniten Form: Der aus dem lateinischen konservierte prospektive Gebrauch der Periphrasen wird insbesondere noch in Verbindung mit venire realisiert.219 (378) Essere a venire im Altitalienischen (a) Cose, recano quelle a loro similitudine tanto quanto possibili sono a venire ad essa. Onde vedemo lo sole che, discendendo (LIZ: Dante, 1303–1306, Convivio) (b) potrà comprendere, aciiò che sia assempro a quegli che sono a venire. (LIZ: Villani, c. 1300–1364, G. Nuova cronica) (c) O felici quelle anime che ‘n via/ sono o seranno di venire al fine/ di ch’io ragiono, quandunque e’si (LIZ: Petrarca, c. 1351–1374, F. Trionfi) Núñez Román (2011) zeigt die prospektive Bedeutung nahezu ausschließlich mit veniri/venuri (‘kommen’) am Beispiel des altsizilianischen Dialektes auf.
219 Die Entwicklung zeigt sich in gesamtromanischer Betrachtung verbreitet (cf. insbesondere die Entwicklung der iberorormanischen STARE-Periphrasen in Kapitel 4.5.3 oder der galloromanischen Sprachen in Kapitel 4.5.4).
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(379) Essere da veniri/venuri im altsizilianisches Italienisch (a) [. . .] li cosi ki sunu passati illu fa intendiri et riguardari, li cosi ki sunu da veniri fa providiri et li presenti considerari et cognosciri et examinari li contrarii [. . .]. (Bruni 1973, 175, zitiert nach Núñez Román 2011, 24) (b) Et non sulamenti lu beatissimu patri nostru Franciscu prophetau quisti cosi di nui, ma ancora per quilli chi su da venuri in la vocactioni sancta in la quali lu Signuri li chamau. (Ciccarellia:46, zitiert nach Núñez Román 2011, 24) Während die in Kapitel 4.5.2.1 aufgezeigte Periphrase essere de + Infinitiv im Altsardischen für die Imminenz gebraucht wird (wie die italienischen Übersetzungen der Condaghes gezeigt haben), liegt im Altitalienischen lediglich eine prospektive (und nahezu auf das Paradigma von venire beschränkte) Bedeutung vor. Neben dieser nahezu auf venire beschränkten aspektuellen Bedeutung der Prospektivität, bleibt im Gegensatz zum Sardischen vorrangig die modale Bedeutung bestehen. Im altsizilianischen Italienisch spezifizieren sich die Periphrasen essiri di/da + Infinitiv auf die nicht-deontische Notwendigkeit (106 / 116 Beispielen), wie Núñez Román (2011, 22) aufgezeigt hat. (380) Essere di/da + Inf. im altsizilianischen Italienisch (a) Et misser Iohanni dissi: «Eu sirrò quillo (si tu vurrai) chi mictirò a distruzioni lu re Carlu, mictendu lu tou ajutu cum lu meu consigli; eu vi dirrò zò chi bisognu ti farrà, et è di fari.» (Sicardi:7, zitiert nach Núñez Román 2011, 22) (b) Certamenti, Signori, si su veri quilli cosi li quali tu hay parlatu per vucca di li profeti, si tu si sulamenti prestu a quisti priheri, si ti plachi la equitati, quistu cotali sacrificiu è da inpachari chi non si facza. (Di Girolamo:69, zitiert nach Núñez Román 2011, 22) Die Periphrase essere per + Infinitiv ist nach Palermo (2004, 325) ab dem 13. Jahrhundert in einem deutlich überwiegenden Gebrauch der volitiv-modalen Lesart in der 1. Person Singular (Beispiel a und b) sowie einer noch randständig auftretenden deontischen Lesart (Beispiel c und d) gegenüber der aspektuellen Lesart der Imminenz dokumentiert. (381) Essere per + Infinitiv im 13. Jahrhundert (a) Allora disse Tristano: – Maestro, io sono per fare tutto quello ke voi mi comanderete. (Tristano Riccardiano; XIII, zitiert nach Palermo 2004, 325) (b) E Tristano disse: – Maestro, io sono per fare quello ke voi volete. (Tristano Riccardiano; XIII, zitiert nach Palermo 2004, 325)
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(c) Adonqua pare che l’omo fose per conósciare e per sapere e per entèndare e per audire e per vedere le mirabili operazioni de questo mondo, a ciò che ‘l gloriosissimo Deo sublime e grande, lo quale è artifice del mondo, lo quale noi dovemo laudare e venerare, per esso sia conusciuto (R. d’Arezzo, La comp. del mondo, zitiert nach Palermo 2004, 324) (d) E perché non pòtero stare soli e·llo mondo [scil. li savi], fo mestieri ch’elli avéssaro servidori e familia che li servisse, come so’ li pastori de le bestie, e tutti li artìfici e li lavoratori de la terra; e fuoro per servire li savi tuti coloro che fuoro meno nobili de loro; e l’anema de costoro fo scipida e non fo aconcia ad altra scienzia ch’a questa. E li savi fòro per cercare la scienzia e l’artificio e l’operazione de questo mondo, e fòro per adottrinare la gente de la scienzia e de tutte l’arti e de li boni custumi per sapere vìvare, e adottrinare de lasciare li vizii e prèndare le virtudi, e è rascione che le meno nobili cose debiano seguire e obedire le più nobili; e li savi so’ più nobili de tutte le cose che so’ engenerate de li elementi; adonqua tutte le cose che so’ engenerate de li elementi deano seguire e ubedire li savi, e li savi deano èssare signori. (R. d’Arezzo, La comp. del mondo, zitiert nach Palermo 2004, 325) Was die standarditalienische Periphrase essere sul punto di + Infinitiv anbelangt, finden wir zumindest im OVI und LIZ noch keine Belege im 13. Jahrhundert. Der metaphorische Gebrauch von in un punto im Sinne eines ingressiven Punktes für das tatsächliche Einsetzen der Handlung zeigt sich hingegen bereits bei Dante (Beispiel a) sowie in der Konstruktion essere in punto di + Inf. (Beispiel b). (382) In un punto im 13. Jahrhundert (a) però che l’occhio m’avea tutto tratto 36 ver l’alta torre alla cima rovente, dove in un punto furon dritte ratto tre furie infernal di sangue tinte
Und zwar weil meine Blicke ganz und gar zu dem Turm mit der glühenden Zinne hingezogen wurden, wo im selben Augenblick, bluttriefend, drei höllische Furien emporfuhren (Dante, Commedia, Inferno, Canto IV, 134s.)
(b) prendesti per moglie per così tosto lasciarmi. Dama, diss’ egli, siamo noi così tosto in punto di dipartirci l’un dall’altro? Signiore, sì, diss’ ella, perochè io non potrei sofferire (OVI: Libro dei Sette Savi, XIII ex., tosc.)
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Neben essere in punto di + Inf., das sich auch in den älteren iberoromanischen Sprachstufen (altsp. ser en punto de + Inf.; gl.-pg. ser em ponto de + Inf.) zeigt (cf. Kapitel 4.5.3.1 und 4.5.3.2), findet sich essere sul punto di + Inf. im 14. Jahrhundert sowohl im DIVO als auch im LIZ hingegen noch als Vorstadium in Verbindung mit Substantiv: (383) Essere sul punto della + Substantiv im 14. Jahrhundert (a) sua femina che gli serviva che le membra venivano mortificando e che esso era sul punto della morte, fecesegli inanzi così sopra il volto per vedere ed udire se più fiatasse. (DIVO: Cavalca, Dialogo di San Gregorio, a. 1342, tosc., L. IV, cap. 5) (b) venne una piaga nell’anguinaglia, per la quale venne a morte; ed essendo in sul punto della morte e consumandosi e quasi spirando, corsero li frati e posersegli d’ intorno per (DIVO: Cavalca, Dialogo di San Gregorio, a. 1342, tosc., L. IV, cap. 34) Essere sul punto di + Inf. und sogar stare sul punto di + Inf. finden sich nachweislich ab dem 16. Jahrhundert im LIZ und OVI. (384) Essere/stare sul punto di + Inf. (a) Polihimnio\. . . De l’altro sia che si vuole: io sto sul punto del biasmar l’appetito de l’una e de l’ (LIZ: Giordano Bruno, 1584, De la causa principio e uno) (b) FLOR.\. . .troppo, se tardava io quattro giorni, stava egli sul punto di disporre di me. (LIZ: Carlo Goldoni, 1752, La figlia obbediente) (c) per altro ella era sul punto di dargli francamente la mano. (LIZ: Carlo Goldoni, 1744–1784, La madre amorosa) (d) senza di me, senza l’assenso mio, stava sul punto di dar la mano al signor Florindo. (LIZ: Carlo Goldoni, 1744–1784, La madre amorosa) Zum Ausdruck des Avertivs wird die Periphrase mit punto im LIZ-Korpus ab dem 15. Jahrhundert nachweislich gebraucht. Die Implikatur wird in Beispiel (a) noch kontextuell durch quasi unterstützt. (385) Avertivimplikatur mit essere PRP punto di + Inf. (a) In questo tempo il re Marsilione/ Gionto era quasi al ponto di morire,/ Né più se sosteniva ne lo arcione, (LIZ: Matteo Maria Boiardo, 1460–1490, Orlando innamorato)
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(b) OTT\. . .perire, o devono tornar indietro. Io era già sul punto di precipitare. Il cielo mi ha illuminato. (LIZ: Carlo Goldoni, 1752, C. La moglie saggia) Procinto findet sich im LIZ ab Beginn des 16. Jahrhunderts neben einer progressiven Lesart in der Proximativ- und Avertivfunktion. Die progressive Lesart wird durch die Gerundialform unterstützt. (386) Progressive Lesart von essere in procinto di + Inf. im 16. Jahrhundert (a) si possono considerare in contrario; essendo il re in procinto di partirsi, anzi camminando già verso i monti le (LIZ: Francesco Guicciardini, c. 1537–1540, Storia d’Italia) (b) Così essendo per tutto fermate l’armi o già in procinto di fermarsi, il duca di Milano, benché ne’ (LIZ: Francesco Guicciardini, c. 1537–1540, Storia d’Italia) Die Avertivfunktion wird durch den Gebrauch der Periphrase sowohl im passato remoto als auch im passato prossimo ausgedrückt. (387) Avertiv mit essere procinto di + Inf. (a) cose per l’apunto: basta che io stetti in procinto o d’impazzare o di morire. (LIZ: Benvenuto Cellini, 1538, Vita) (b)MING. \LIND. Oh se sapeste quante volte sono stato in procinto. . . Ma la convenienza non lo permette. MING (LIZ: Carlo Goldoni, 1761, Le smanie per la villeggiatura) Die Auswertung der Belege im LIZ-Korpus, die in Tabelle 72 (Seite 321) dargelegt werden, illustriert die Unterspezifiziertheit von essere in procinto di + Inf. durch den Gebrauch aller drei Lesarten (Progressiv, Proximativ und Avertiv). Was die Periphrase essere per + Inf. anbelangt, finden sich nach Palermo (2004) bereits zahlreiche Belege im 14. Jahrhundert, insbesondere in narrativen Texten, sodass sich unter anderem 16 Belege der Periphrase bei Boccaccio und 28 Belege bei Sacchetti finden lassen. Dies lässt sich nach Einsichtnahme in das OVI-Korpus sowie in Dante’s Divina Commedia zweifelsohne verifizieren. Die Belege in Beispiel (388), Seite 321–322, zeigen die Periphrase sogar bereits in imminentieller Bedeutung in Verbindung mit einer R-basierten Implikatur des Eintritts von p, die wir mit Hilfe des Kotextes rekonstruieren und die sich zudem in der freien Übersetzung von Hartmut Köhler (Beispiel 388b) findet.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
321
Tabelle 72: Essere in procinto di + Inf. im LIZ 4.0. Autoren
Progressiv
Proximativ
Avertiv
Ariosto, L. Orlando furioso ()
—
—
Guiciardini, F. Storia d’Italia (–)
—
—
Franco, V. Rime ()
—
—
Cellini, B. Vita ()
—
—
Ramusio, G.B. Viaggi di Marco Polo, Viaggi di frate Odorico (c. –)
—
Guazzo, S. La civil conversazione ()
—
—
Castelletti, C. Stravaganze d’amore (c. –)
—
—
Pona, F. La lucerna ()
—
—
Marino, G.B. Dicerie sacre, La Sampogna ()
—
—
Pallavicino, F. La retorica delle puttane ()
—
Goldoni, C. mehrere Werke (–)
Baretti, G. La frusta letteraria (–)
—
—
(388)Der Proximativ essere per + Infinitiv im 14. Jahrhundert Altit. (a) altra cosa alcuna ci udiamo, se non ‘I cotali son morti’ e ‘Gli altretali sono per morire’; e se ci fosse chi fargli, per tutto dolorosi pianti udiremmo. E se alle (OVI: Boccaccio, c. 1370, Decameron I, introduzione) (b) e non mi si partìa d’innanzi al Und ging mir nicht mehr vor volto, anzi impediva tanto il dem Gesicht weg, verstellte mir mio cammino, ch’ i’ fui per ri- vielmehr derart den Weg, dass tornar più volte volto. ich mich unverwandt zur Umkehr wandte (Dante 2009, Commedia, Inferno, canto I, 14s.) (c) E s’ egli m’avesse cacciata, io potea parere da dovere essere per morire: e poteagli abracciare e piedi; e, distesa in terra, domandargli la vita. [608] Tutte le (DIVO: Arrigo Simintendi, Metamorfosi, a. 1333, tosc., L. IX, vv. 530–665) (d) che ‘l conte di Lando colla compagna ch’avea ne Regno era per venire al primo tempo nella Marca, e valicare in Toscana (LIZ: Villani, c. 1300–1364, G. Nuova cronica)
322
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(e) in pianto, temendo del grande male che pareva che fusse per venire; e che per questola pace non fusse impedita (LIZ: Caterina da Siena, Lettere) In den folgenden altitalienischen Beispielen zeigt sich zudem die in Kapitel 3 systematisch beschriebene modale Nebenbedeutung in Verbindung mit der Negationspartikel. (389) Modale Nebenbedeutung von essere per + Infinitiv mit Negationspartikel Altit. (a) io non sono per mettere pùe a stracha me nè lla mia familgla (OVI: Le lettere di Francesco Datini alla moglie Margherita 1385–1410, p. 142, zitiert nach Palermo 2004, 326) (b) e iersierra die’ chomiato a tuti gli altri: no sono per lavorare di periza di gniuno lavorio. (OVI: Le lettere di Francesco Datini alla moglie Margherita 1385–1410, p. 212, zitiert nach Palermo 2004, 326) (c) ma se mandate vitella e ghalline, mandatelo co una bestia e basterà, però ch’io non ne sono per venire chosì t[osto]. (OVI: Le lettere di Francesco Datini alla moglie Margherita 1385–1410, p. 297, zitiert nach Palermo 2004, 326) Dass essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv noch nicht für die Imminenz spezifiziert sind, zeigt Palermo (2004, 327ss.) anhand altitalienischer Übersetzungen des Roman d’Énéas (Eneasroman) und der Ovid’schen Metamorphosen auf, in denen das PFA + esse nicht mit den Periphrasen essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv übersetzt wird, die in einer Gegenwartsübersetzung zu erwarten wären, sondern mit den im Altitalienischen die Imminenz implikatierenden modalen Periphrasen volere/dovere + Infinitiv wiedergegeben wird. (390) Imminenz von volere + Infinitiv in der altitalienischen Übersetzung des PFA + esse Lat. «Me miserum!» dicturus erat (III, 199–200, Ovid, Metamorphoseon libri, zitiert nach Palermo 2004, 329) Altit. [. . .], voleva dire «Omè misero» (p. 557; Arrigo Simintendi, Volgarizzamenti del Due e Trecento, zitiert nach Palermo 2004, 329). Daneben wird die den romanischen Sprachen gemeinsame lexikalische Verstärkung zum Ausdruck der Disposition mit presto gebraucht, aus der die gemeinromanische lexikalische Wendung stare presto per + Infinitiv ( Proximativ > Avertiv
323
(391) Essere/stare presto + Infinitiv220 im 13. und 14. Jahrhundert (a) presi, elli ci tornarebbe in maggior gloria. Ottavio conosce che noi semo presti a morire per Cesare. Io vorrei che Ottavio ne promettesse perdono e vita, e ragionasse di pace; e (Corpus del Dizionario dei Volgarizzamenti: A Fatti de’ Romani (red. breve), XIII ex., sen., Lucano-L. IV, cap. 8) (b) 2281 sua mazza in mano sta per vedere la bella condotta di sua gente e presto sta per sovenire a’ bisogni. Proteselao, prode e ardito, viene con sua lancia in mano e (OVI: Fiorita Armannino, 1325, tosc.) Stare per + Infinitiv zeigt sich im 13. und 14. Jahrhundert noch stark unterspezifiziert und in den Korpora OVI und LIZ nahezu ausschließlich in lexikalischer (finaler) Bedeutung. (392) Finalität von stare per + Infinitiv (a) 805 ed era in costui signoria, et uscia e generavasi della sua propietade; e l’uomo sta per vendere, di suo mistiere; e chi ne prende è usanza che paghi. Se lla (OVI: Novellino, XIII, fior.) (b) è così detto da ceros greco, ch’è a ddire carne, e voro, voras, che sta per mangiare, quasi mangiante l’umana generazione; e hae tre teste, però che l’abitabile (OVI: Ottimo, a. 1334, fior., c. 9) Der sich noch nicht konventionalisierten Imminenz der Periphrase gehen Beispiele der Inferenzziehung der Imminenz voran, wie das altitalienische Beispiel aus dem 14. Jahrhundert mit dem Auxiliar im Gerundium (cf. auch Sardisch in Kapitel 4.5.2.1) illustriert. (393) Stare per + Inf. mit implikatierter Imminenz im 14. Jahrhundert e giunti a l’uficio de’Sei predetto, e stando per parlare e guardando la dipintura già detta, chon chinato chapo domandorono che vollia dire ciò che llà era scolpito. (Biadaiolo, p. 335, zitiert nach Palermo 2004, 335)
220 Für das Vorstadium in Verbindung mit einem Substantiv sei lediglich auf zwei Belege in Dantes Commedia verwiesen: «così m’armava io d’ogni ragione mentre ch’ella dicea, per esser presto a tal querente ed a tal professione. / so wappnete ich mich, während sie noch sprach, mit allen Argumenten, um bereit zu sein für einen solchen Fragenden und für ein solches Bekenntnis» (Dante, Commedia, Paradiso, Canto XXIV, Z. 49–51, 523s.), «Tanto vogl’io che vi sia manfiesto, Pur che mia coscienza non mi garra, Che alla Fortuna, come vuol, son presto. / Nur so viel soll Euch deutlich werden: Wofern nur mein Gewissen mich nicht schilt, bin ich bereit, mein Schicksal, was es auch bringen mag, zu tragen.» (Dante, Commedia, Inferno, Canto XIV, Z. 91–93, 232s.).
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Die ersten zwei Okkurenzen von stare per + Infinitiv mit periphrastischer Bedeutung schreibt Palermo (2004, 335) den folgenden Beispielen zu Beginn des 15. Jahrhunderts zu: (394) Stare per + Infinitiv im 15. Jahrhundert (a) Gran vergogna si fanno i cittadini di Siena, di credere o immaginare che noi stiamo per fare i trattati nelle terre de’ Salimbeni, o in veruno altro luogo del mondo (Caterina da Siena, Lettere, zitiert nach Palermo 2004, 335) (b) Tosto soccorri quello isparvieri, che vedi che sta per morire! (G. Gherardi, Paradiso degli Alberti, zitiert nach Palermo 2004, 335) Im altsizilianischen Italienisch wird die Imminenz nach Núñez Román (2011, 7) durch die Periphrasen (Perifrasi Imminenziali) stari per + Infinitiv, essiri per + Infinitiv und essiri supra zo di + Infinitiv bereits im 14. Jahrhundert ausgedrückt. (395) Stari/essiri per + Inf. und essiri zo di + Inf. im altsizilianischen Italienisch des 14. Jahrhunderts (a) [. . .] non, pirkì eranu ipso sopra zo di fugirisindi, sappiru ki risposta di appiru. (Li Gotti:116 [c. XIV], zitiert nach Núñez Román 2011, 17) (b) Et hogi si stava per inbarcari lu restu di li persuni divino andari cum li ditti sagittii; (Starrabba:92, zitiert nach Núñez Román 2011, 17) (c) [. . .] si non fussi ka pir disastru nostru Catania et quasi tutti li loti di la nostra parti si truvaru in grandisima caristia di victaglu, pir la quali ni cunvinni intendiri a furnirini di vidanda et lassari ogni altra intendenza, nui eramo senza dubbiu pir essiri victuriusi di li dicti inimichi nostri, rebelli di lu signuri Re et vostri. (Marletta: 411 [c. 1350], zitiert nach Núñez Román 2011, 17) In den norditalienischen Dialekten findet sich nach Palermo (2004, 336) die Periphrase stare per + Inf. in ihrer aspektuellen Bedeutung erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts und zudem noch mit lexikalischer Verstärkung a ponto in ponto.221
221 Analog treten weitere lexikalische Verstärkungen der Periphrasen nach Palermo (2004, 336) auf, wie di dì in dì per (Ramusio); di punto in punto per (Galilei), ad ora ad ora per (Bruno), sulle mosse per (Buonarroti di Giovane), lì lì per (G. Gozzi) und in procinto di (Boiardo).
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
325
(396) Stare per + Inf. mit lexikalischer Verstärkung im 15. Jahrhundert andò la nave inversa,/ Che a ponto in ponto sta per affondare (M. Boiardo, Orlando innamorato, zitiert nach Palermo 2004, 336) Palermo (2004, 335s.) zeigt zudem, dass der sich anschließende zunehmende periphrastische Gebrauch von stare per + Infinitiv im 16. Jahrhundert noch überwiegend in Texten gesprochener Sprache, wie Komödien, auftritt, während hingegen in förmlicheren Texten essere per + Infinitiv Anwendung findet. (397) Stare per + Inf. in gesprochenem Altitalienischen (a) e in quello che sta per addormentarsi per istracchezza, si sveglia, e sospirando si leva (Id., Dialogo, zitiert nach Palermo 2004, 336) (b) E mentre diceva così la turba, che a coscienza ritta ascoltava la predica, stava per avventarsi alla amica (Id., Ragionamento, zitiert nach Palermo 2004, 336); (c) salito in sun un palcaccio, trovai molti gentiluomini napoletani, che stavano per entrare a tavola; (B. Cellini, Vita, zitiert nach Palermo 2004, 336) (d) era a casa suo padre anta, che stava per morire. (A.F. Grazzini, Le cene, zitiert nach Palermo 2004, 336) Der sich in den Korpusdaten widerspiegelnde Ursprung der Periphrase stare per + Infinitiv in Zentral- und Süditalien liegt nach Palermo (2004, 338) gegebenenfalls in der mangelhaften Korpusauswahl der nördlichen Dialekte gegenüber den zentral- und süditalienischen Dialekte begründet.222 Im Gegensatz zu der die volitive, deontische und prospektive Lesart ausdrückenden Periphrase essere per + Infinitiv, scheint sich stare per + Infinitiv nach Palermo (2004, 338) zunehmend auf die aspektuelle Lesart zu spezialisieren.223 (398) Stare per + Inf. mit aspektueller Lesart im Neutitalienischen (a) del giudice meschin, che fu sì oppreso,/ che stette per uscir fuor di se stesso (L. Ariosto, Orlando furioso, zitiert nach Palermo 2004, 337)
222 «Se ipotizziamo un’origine centro-meridionale della costruzione, il ritardo di circa un secolo nei confronti della perifrasi con essere può in parte essere addebitato a carenze documentarie, nel senso che la documentazione duecentesca dei volgari di quest’area è certo meno ampia e varia di quella toscana» (Palermo 2004, 336). 223 «Per quel che riguarda le proprietà semantiche, la costruzione stare per sembra specializzarsi nell’espressione del valore aspettuale: risultano infatti assenti i valori di volitività, deonticità e prospettività che interessano la costruzione con essere» (Palermo 2004, 337s.).
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(b) Quivi trovammo gran quantità di maiz che stava già per cogliersi (G. B. Ramusio, Relaz. Di Alvaro Nuñez, zitiert nach Palermo 2004, 337) (c) Ma mentre che io stava per fare gettare il battello in mare, ci sopragiunse un tempo così contrario al proposito mio (Id., Ist. delle Indie occ. di Oviedo, zitiert nach Palermo 2004, 337) Wie die in Abbildung 20 illustrierte Untersuchung von Palermo (2004, 338) auf der Basis des LIZ-Korpus zeigt, hat stare per + Infinitiv bis zum 17. Jahrhundert (i.e. Seicento) einen lediglich marginalen Gebrauch gegenüber essere per + Infinitiv und überholt essere per + Infinitiv erst im 19. Jahrhundert (i.e. Ottocento).
500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0 2-300
400
500 600 essere per
700 stare per
800
1900-1930
Abbildung 20: Diachrone Distribution von essere per + Inf. und stare per + Inf. nach Palermo (2004, 338).
Die relativen Okkurenzen von essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv in der Periode des Wandels zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert werden nach Palermo (2004, 339) in Tabelle 73 bei 2000 Token dargestellt.
327
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
Tabelle 73: Distribution von essere per + Inf. und stare per + Inf. im LIZ 4.0 (2000) nach Palermo (2004, 339). Autore / opera Giannone
Essere per
Stare per
/
Autore / opera Leopardi (Op. Morali eZibaldone)
Essere per
Stare per
Vico
/
Tommaseo
/
Genovesi
/
Nievo
Alfieri
Collodi (Pinocchio)
Goldoni
Foscolo (Ortis + trad. del Viaggio sentimentale)
De Sanctis
/
Manzoni (Fermo e Lucia)
Fogazzaro
Manzoni (Pr. Sposi )
De Marchi
Manzoni (Pr. Sposi )
De Roberto
Il caffè
De Amicis
Il conciliatore
Stampa periodica milanese
Verga
Tozzi
Die Entwicklung der Kompatibilität der Negationspartikel von Proximativ und Avertiv ist auch im Italienischen bislang nicht hinreichend untersucht. Im LIZ-Korpus ist die Entwicklung der Kompatibilität von essere per + Inf. mit der Negationspartikel lediglich randständig nachweisbar: Es finden sich 46 LIZBelege von essere per non + Inf., von denen 42 Belege eine lexikalische (i.e. finale) Bedeutung, 2 Belege eine modale Bedeutung (cf. Beispiele 399) und lediglich 2 Belege eine aspektuelle Bedeutung (cf. Beispiele 400) tragen. (399) Modale Bedeutung von essere per non + Inf. (a) gìa colui di cui voi domandate, ma io sono per non esser più.” Domandollo allora l’amiraglio che cosa [. . .] (LIZ: Boccaccio, c. 1348–1353, Decameron) (b) in tutti i muri;/ fu per gridar, fu per non stare al patto:/ ma forza è che la bocca [. . .] (LIZ: Ludovico Ariosto, c. 1505, Orlando furioso)
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(400) Kompatibilität der Avertivfunktion von essere per non + Inf. mit Negationspartikel (a) loro rimanessino padroni del governo. Il che fu per non riuscire perché e’ Ciompi, preso lo stato e creato (LIZ: Francesco Guicciardini, c. 1508–1511, Storie fiorentine) ‘Was beinahe nicht gelungen wäre, da [. . .]’ (b) e non piacendo a’ Consoli di quella Arte, fu per non essere posto in opera. Per il che disse Donato [. . .] (LIZ: Giorgio Vasari, 1550, Le vite). Die Entwicklung der Kompatibilität von stare per + Inf. mit der Negationspartikel ist auf der Grundlage des LIZ-Korpus nicht hinreichend belegbar: Es finden sich lediglich 12 LIZ-Belege von stare per non + Inf. in ausschließlich finaler Bedeutung, welche in das konservative Bild der italienischen Verbalperiphrase gegenüber den iberoromanischen Verbalperiphrasen passen. Zusammenfassend lässt sich für das Italienische folgende Schlussfolgerung festhalten: Im Altitalienischen liegt noch keine Spezialisierung auf die imminentielle Phase vor, sodass die Differenzierung zwischen einer imminentiellen, inchoativen bzw. ingressiven sowie einer kontinuativen Phase noch nicht periphrastisch ausgedrückt, sondern via Inferenz gezogen werden muss. Die im Altitalienischen noch benötigte lexikalische Verstärkung wird im Zuge der Konventionalisierung der Imminenz zunehmend redundant. Wie Palermo (2004) bereits nahegelegt hat, vollzieht essere per + Inf. zwar einen modal-aspektuellen Wandel, dennoch bleibt die modale Bedeutung stets als Nebenbedeutung (insbesondere mit belebten Subjekt) bis in das Gegenwartsitalienische in stärkerem Maße als bei dem Proximativ stare per + Inf. erhalten. Bereits ab dem 14. Jahrhundert finden sich neben essere per + Inf. Korpusbelege mit imminentieller Inferenzziehung von stare per + Inf. (einschließlich der altsizilianischen Periphrase stari per + Inf.), die sich anhand der Korpora nachweislich im 15. Jahrhundert konventionalisiert. Wie Palermo (2004) bereits gezeigt hat, wird essere per + Infinitiv erst im 19. Jahrhundert von stare per + Infinitiv quantitativ überholt. Hinsichtlich der Entwicklung der Avertivfunktion wird lediglich die lexikalische Konstruktion mit essere sul punto di + Inf. signifikant mit 60% der gegenwartsitalienischen Belege in der Avertivfunktion gegenüber essere per + Inf. (6 % Avertiv) und stare per + Inf. (7,34%) gebraucht. Die Kompatibilität der Negationspartikel im Skopus der Periphrasen, die in den Gegenwartssprachen aufgezeigt wurde (Bsp. Jimmy Carter stava per non essere ricandidato. ‘Jimmy Carter hätte beinahe nicht erneut kandidiert, [. . .]’ Lexis Nexis: La Stampa, 17/02/1995, Italia) ist diachron nur sehr randständig nachweisbar. Essere per non + Inf. findet sich im LIZ bereits ab dem 14. Jahrhundert.
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Die Konservativität des Italienischen gegenüber den iberoromanischen Sprachen sehen wir u.a. in der Konservierung von essere per + Inf. begründet (die in den iberoromanischen Sprachen abgebaut wird, cf. Kapitel 4.5.3), die Innovativität des Italienischen gegenüber dem Sardischen hingegen in der Herausbildung des Proximativs stare per + Inf. Eine Erklärung für die marginale Ausbildung eines Avertivs kann durch das Fortbestehen der essere-Konstruktion begründet werden, die neben der stare-Periphrase zumindest noch koexistiert (im 130.000.000 Token großen CORIS-Korpus finden sich 468 Belege mit essere per + Inf. gegenüber 5457 Belegen mit stare per + Inf.). Im Gegensatz zu stare per + Infinitiv, drückt essere per + Infinitiv, wie bereits Palermo (2004, 325) gezeigt hat, eine überwiegend volitiv-modale Lesart gegenüber der aspektuellen Lesart der Imminenz aus. Da essere per + Infinitiv und stare per + Infinitiv allerdings in dem für den Avertiv charakteristischen perfektiven Tempus passato prossimo in der polysemen Form (i.e. sono stato) zusammenfallen, ist die Avertivbedeutung beeinflusst durch den verstärkt modalen Gebrauch der Periphrase essere per + Infinitiv entsprechend kontextabhängiger als dies in den iberoromanischen Sprachen der Fall ist. Die von essere sul punto di + Inf. ausgedrückte dominante Avertivbedeutung findet sich im 15. Jahrhundert noch lexikalisch durch quasi unterstützt (Bsp. Gionto era quasi al ponto di morire. LIZ: Matteo Maria Boiardo, 1460–1490, Orlando innamorato). 4.5.2.3 Rätoromanisch Das Rätoromanische224 besitzt analog zum Italienischen ebenfalls sowohl esser per + Infinitiv als auch star per + Infinitiv für den Proximativ. Die nach Scheitlin (1962, 81) das futur approsmo und nach Ganzoni (1983, 168) das futur immediat ausdrückenden Verbalperiphrasen esser per + Infinitiv und star per + Infinitiv verstehen wir in dieser Arbeit entsprechend ihrer imminenten Bedeutung be about to als Proximativ.225 (401) Star per + Inf. und esser per + Inf. im Rätoromanischen (a) E. La granda / gronda prouva staiva per cumanzar. (Ganzoni 1983, 111) (b) La giuventüna sta per celebrar la festa da Nadal. (Ganzoni 1983, 111) (c) Il famagl staiva per murir. (Ganzoni 1983, 111) (d) nus staivan per guadagnar il gö; (Ganzoni 1983, 112)
224 Die Bezeichnung Rätoromanisch rührt bekanntlich von dem Namen der römischen Provinz Raetia her. Zu den Bezeichnungen rätoromanisch, ladinisch und alpenromanisch und ihrer Problematik sei auf die Diskussion in Tagliavini (1998, 301s.) verwiesen. 225 Zur systematischen Abgrenzung von Proximativ und Futur cf. Kapitel 3.1.1.
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(e) els staivan per partir in America. (Ganzoni 1983, 112) (f) el d’eira per mütschir [‘Er war im Begriff zu fliehen.’] el es per mütschir [‘Er ist im Begriff zu fliehen.’] el sarà per mütschir. [‘Er wird im Begriff sein zu fliehen.’] (Ganzoni 1983, 168) (402) Der Proximativ star per + Infinitiv im DRC Da tgé? Aser. Dalla disonour, dagl abiss, an igl cal ia stung per crudar. (DRC: Leonhard Casanova, 1901) ‘Ich bin kurz davor zu fallen.’ In welchem Jahrhundert und auf welche Weise sich die Proximative esser per + Infinitiv und star per + Infinitiv entwickeln, ist bislang nicht ausreichend dokumentiert. Die älteren esser-Infinitivperiphrasen esser + Infinitiv, esser da + Infinitiv und esser a + Infinitiv werden hingegen im Altsurselvischen von Ascoli (1880/83), Decurtins (1956) und Ebneter (1973) erwähnt. Ebneter (1973, 208–209) findet einen einzigen Beleg der eher randständigen Konstruktion esser a + Inf., deren «schwacher Futurwert» [i.e. Prospektiv] zudem lexikalisch durch vegnir unterstützt wird. (403) Esser à domandar im Altsurselvischen e cur che suenter sia mort sees parents, et amigs vegnessen esser à domandar siu chierp, sche dovessen. . . (Glisch V, 145, 2, zitiert nach Ebneter 1973, 209) Zudem verweist Ebneter (1973, 252) ebenfalls auf die Überkompensation mittels der im Futur stehenden prospektiven Periphrase sarà a + Inf. bei Salutz (1650). Esser a + Infinitiv findet sich im Gegenwartsrätoromanischen noch randständig. (404) Esser a + Inf. im Gegenwartsrätoromanischen quels ein a leger ‘Sie sind im Begriffe zu lesen.’ (Ebneter 1973, 252) Ebneter (1973) schreibt esser da + Infinitiv, das vereinzelt noch von älteren Sprechern in der Sutselva in der Form sara da + Infinitiv gebraucht wird,226 zwar die deontischen Modalität (‘müssen, sollen’) zu, allerdings zeigt sich an den von ihm angeführten Beispielen aus dem Alträtoromanischen auch die prospektive Lesart in Verbindung mit gnir (‘kommen’).
226 Cf. Ebneter (1973, 252).
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
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(405) Esser da gnir im Alträtoromanischen BIFRUN NT ilg tijmp chi es da gnîr la uitta aeterna. (Mk 10, 30. GRITI 1640: in l’ muond chi ho da gnir la vita aeterna.); Ist tü aquel chi ist da gnir, (Lk 7, 20. GRITI 1640: Est tü quel chi daiva gnir,) (Ebneter 1973, 252) Im Altsurselvischen findet sich die präpositionslose Infinitivkonstruktion esser + Infinitiv in den Bedeutungsnuancen «significazione alquanto intensiva o risoluta, o dell’accingersi all’azione, e perciò pur come di futuro» (Ascoli 1880/83, 510). (406) Esser + Inf. im Altsurselvischen (a) ei far (ital. fa) (Ascoli 1880/83, 511) (b) la biarezgia della mâr ei se voluer tier tei, la fermezza del pagauns vên à vegnir tier tei (ital. la moltitudine del mare si volge [sta per volgersi, si sarà volta] a te, e la possa dei pagani verrà a te.) (Ascoli 1880/83, 511) Ebneter (1973) sieht in der präpositionslosen Infinitivkonstruktion esser + Infinitiv, die sich nicht zum Futur weiterentwickelte, den Nachfolger von esser + Part. Präs./Gerundium.227 Nach Decurtins (1956) wird die präpositionslose essere-Infinitivperiphrase erstmalig in der Katechismusausgabe von 1698 «durch eine gewöhnliche Verbalform» (Decurtins 1956, 88) ersetzt, wie die folgenden Beispiele zeigen. (407) Esser + Inf. im 17. Jahrhundert (a) ei far (Katech. 1615, zitiert nach Decurtins 1956, 88) las qualas il Christgiaun fa ‘welche der Mensch macht’ (Katech. 1698, zitiert nach Decurtins 1956, 88)
227 «Dieser [i.e. esser + Infinitiv] von A. DECURTINS behandelte altsurselvische (altlugnezische) Aktionsartausdruck, der sich aber nie zu einem eigentlichen Futur entwickelte, dürfte die Nachfolgekonstruktion eines nicht belegten esser + Part. Präs. resp. Gerundium sein. Diese Annahme stützt sich (I) auf die chronologische Folge vegnir + Gerundium und vegnir a + Inf., (2) auf dasselbe Nacheinander von werden + Part. Präs. und werden + Inf. im Deutschen, und (3) auf das Vorhandensein von deutsch sîn + Part. Präs. Dieses deutsche Syntagma findet sich nicht nur im 12. und 13. Jahrhundert, sondern setzt sich nach CLARK bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts fort, wo es dann zusammen mit werden + Part. Präs. zur Hauptsache untergeht. Im Bayrischen und Alemannischen hält es sich aber bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts, im Bernischen bis heute unter der Form sein + Part. Präs.: men isch’s erwarten, z‘ erwarten sin» (Ebneter 1973, 249).
332
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(b) Nel antschiata Dens nus avisa ‘Im Anfang ermahnt uns Gott’ (Katech. 1611, sutselvische Fassung; zitiert nach Decurtins 1956, 88) ei Diaus nus avisar (Katech. 1615, zitiert nach Decurtins 1956, 88) Enta la entschiaira ei Diaus nus avisar (Katech. 1654, zitiert nach Decurtins 1956, 88) Enten Ventschiatta ei Dens nus avisar (Katech. 1668, zitiert nach Decurtins 1956, 88) Enten Ventschiatta nus avisn Dens (Katech. 1698, zitiert nach Decurtins 1956, 88) Die von Decurtins (1956) aufgezeigte Ersetzung der analytischen Konstruktion ser + Infinitiv durch eine synthetische Form (ei far > fa) zeigt insofern eindeutig die R-basierte Implikatur des Eintritts von p der analytischen Konstruktion auf. Die folgende Übersetzung illustriert ebenfalls den von der analytischen Konstruktion implikatierten Eintritt von p (sun tei saliar ‘ich grüße dich’). (408) Esser + Inf. im 17. Jahrhundert 3 iou davart Diu sun tei salidar ‘ich grüße dich von seiten Gottes’ (Canzuns spiritualas, Bibliografia Retoromontscha Nr. 53, zitiert nach Decurtins 1956, 88) Decurtins (1956, 93) spekuliert über eine Entwicklung sum ad*fare > esser a + Infinitiv > esser + Infinitiv, bei der die Präposition a, wie bei der Entwicklung des analytischen Futurs, zunehmend geschwunden ist.228 Die diachrone Untersuchung ist aufgrund der bescheidenen Urkundenlage bis zum 15. Jahrhundert erschwert. In den ältesten Belegen, wie der pseudoaugustinischen Predigt aus dem frühen 12. Jahrhundert aus Graubünden, finden sich keine Belege der zu untersuchenden Konstruktionen. Von dem 13. bis ins 15. Jahrhundert finden sich nahezu keine rätoromanischen Dokumente, sodass die rätoromanische Literatur in ausreichender Dokumentation erst im 16. Jahrhundert mit La 228 «Das Eigentümliche der besprochenen verbalen Umschreibung im Altsurselvischen jeu sun far gegenüber den bekannten gemeinrom. Formeln *ESSERE AD + Inf., *ESSERE PER + Inf. besteht darin, daß hier *ESSERE ohne präpositionalen Übergang (AD, PER) direkt mit den Infinitiv verknüpft wird. Das altsurselvische jeu sun far dürfte auch in der Wiedergabe eines durativen und futurischen Aspektes innerhalb der romanischen Sprachen vereinzelt dastehen. Da das Bündnerromanische noch jetzt allgemein esser per far ‘im Begriffe sein zu tun‘ kennt, ist man geneigt, auch das altsurselv. jeu sun far aus SUM AD *FARE zu erklären. Die Präposition AD wäre hier gefallen, ähnlich wie zuweilen beim analytischen Futur, das uns, allerdings sehr selten und möglicherweise unter deutschem Einfluß, in der Formel aegnel far für vegnel a far < VENIO AD *FARE begegnet» (Decurtins 1956, 93).
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
333
chianzun dalla guerra dagl Chiaste da Müs (1527) von Gian Travers beginnt.229 Für die diachrone Untersuchung zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert wird das bündnerromanische Korpus DRC/CRD230 (Digitale Rätoromanische Chrestomathie/ Crestomazia Retorumantscha Digitala von Caspar Decurtins) mit 2.678.995 Token konsultiert, das insgesamt 7260 Seiten Text von Manuskripten, Chroniken, Prozessakten, Rechtsschriften, Schauspielen, Märchensammlungen, Sagen, Volksliedern, Kinderliedern, Zaubersprüchen und persönlichen Aufzeichnungen in allen bündnerromanischen Idiomen enthält und vier Jahrhunderte der Sprachgeschichte von der Reformation bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts umfasst. In der Konsultation des gesamten DRC-Korpus mit 2.678.995 Token zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert finden sich lediglich 14 Belege von esser per + Infinitiv und 6 Belege von star per + Infinitiv in der absoluten Frequenz. Die frühesten Belege von esser per + Infinitiv im DRC finden sich im 17. Jahrhundert. (409) Esser per + Infinitiv im Präsens ab dem 17. Jh. im DRC (a) acioè chia eau ilg prouva, sch’ el es per chiaminar in mia Ledscha, ù Na. (DRC: vol. 4, Joan Pitschen Salutz, 1650, Oberengadinisch, Unterengadinisch, S. 414) ‘wenn er mein Gesetz übertritt / übertreten wird’ (b) Quai voleir Deis havair & sun per exequir Scha lhura cura ch’ eug pudess als agurbir (DRC: vol. 6: Philomela 625, La Iuvna. Oberengadinisch, Unterengadinisch, 1684.) ‘Was Gott haben möchte und ich werde es ausführen [. . .]’ (c) La notg cur jeu sun per ruassar. (DRC: vol. 2, 2.–3., Volkslieder, Surselvisch, Subselvisch; 1700–1799) ‘Die Nacht, in der ich ausruhen werde.’ Die in Tabelle 74 illustrierte TAM-Distribution zeigt den Gebrauch von esser per + Inf. im DRC im preschaint (‘Präsens’), imperfet (‘Imperfekt’) und passà def. (synthetisches Perfekt) auf.
229 Zu den ältesten Belegen für das Rätoromanische sei verwiesen auf Tagliavini (1998, 397–402). 230 Das Korpus wurde im Rahmen des DFG-Projekts «Werkzeuge für die digitale Tiefenerschließung von Textsammlungen am Beispiel der Rätoromanischen Chrestomathie» (Prof. Dr. Jürgen Rolshoven/ Prof. Dr. Wolfgang Schmitz) entwickelt.
334
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 74: TAM-Distribution von rät. esser per + Inf. im DRC. Jahr TAM
Periphrase
Text
Preschaint
es per chiaminar
DRC: vol. , Joan Pitschen Salutz
Preschaint
sun per exequir
DRC: vol. , Philomela
– Preschaint
sun per ruassar
DRC: vol. , .–., Volkslieder, Surselvisch, Subselvisch.
– Preschaint
sun per morir
DRC: vol. , .–., Volkslieder, Surselvisch, Subselvisch
Preschaint
es per spartir
DRC: vol. , Martin Dorta, Sacra Predgia
Preschaint
es per spartir
DRC: vol. , Martin Dorta, Sacra Predgia
Imperfet
eira per far
DRC: vol. , Scharfa Perchia Oberengadinisch, Unterengadinisch.
Passà def.
fus per far
DRC: vol. , Protocolls della vischnaunca da Trun
Preschaint
sun per far
DRC: vol. ,, Cuortas e devotas Oratiunetas
Preschaint
sun per far
DRC: vol. ,, Cuortas e devotas Oratiunetas
Preschaint
sun per retschaivar DRC: vol. ,, Cuortas e devotas Oratiunetas
Preschaint
sun per mázar
DRC: vol. ,, L. Justinian Lombardin, Wilhelm Tell
Imperfet
eira per güder
DRC: vol. , Gian Tramer, Inscripziuns in Engiadina. (Fögl d’Engiadina. ).
Jh. Imperfet
eira per defender
DRC: vol. , Il Curunel e las tratschoulas da Deta Petz
Analog zu den anderen romanischen Sprachen wird das Auxiliar esser der Proximativperiphrase zunehmend durch star ersetzt, konserviert jedoch (analog zum Italienischen und Sardischen und im Gegensatz zu den iberoromanischen Sprachen) auch die ältere Form esser per + Infinitiv. Im DRC ist star per +
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
335
Infinitiv, und somit die Koexistenz beider Periphrasen, erst ab dem 18. Jahrhundert belegt. (410) Star per + Infinitiv im 18. Jahrhundert E lautra di, jeu stun per far en tocs il letg. Ils mats van per l (DRC: Volkslieder 691) Die Periphrase star per + Infinitiv ist mit lediglich 7 Einträgen im gesamten DRC ab dem 18. Jahrhundert belegt, von denen 3 Belege im preschaint (‘Präsens’) und 4 Belege231 im imperfet (‘Imperfekt’) auftreten. Tabelle 75: TAM-Distribution von rät. star per + Inf. im DRC. Jahr TAM
Periphrase
Text
– Preschaint
stun per far
DRC: vol. , .–., Volkslieder, Surselvisch, Subselvisch.
– Imperfet
steva per murir
DRC: vol. , .–., La Veta da Sointgia Genoveva
– Imperfet
steva per morir
DRC: vol. , .–., La Veta da Sointgia Genoveva
– Imperfet
steva per murir
DRC: vol. , .–., La Veta da Sointgia Genoveva
– Imperfet
stava per müdar
DRC: vol. , Gion Antoni Bühler
– Preschaint
stattan per levar DRC: vol. , Gion Antoni Bühler
Preschaint
stung per crudar DRC: vol. , .–., Leonhard Casanova
Im Imperfekt wird star per + Inf. mit avertivaffinen Verben, wie morir/murir, gebraucht. Da es sich allerdings bei den Belegen 2, 3 und 4 um die gleiche Textstelle (lediglich aus unterschiedlichen Versionen) der La Veta da Sointgia Genoveva handelt, werden die Belege lediglich als ein einziger Beleg berücksichtigt. Die (entsprechend lediglich) zwei Belege der im imperfet stehenden Periphrase star per + Inf. weisen eine Implikatur des Eintritts von p auf. Trotz des avertivaffinen Verbs murir/morir zeigen sich zumindest im DRC-Korpus hingegen keine Belege mit implikatierter Avertivfunktion.
231 Da 3 der 4 Belege allerdings derselben Textstelle entnommen sind, handelt es sich lediglich um zwei unterschiedliche Belege.
336
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(411) Der Proximativ star per + Infinitiv im Imperfekt Rät. (a) [f.10a] Il dolorus bargir de quest miserabel. . . vierm [penetrava elg] cor de sia Chara Muma tal visa, che ella steva per murir; nuotta podeva ella far, per vegnir à gl[i] en agit, e tras quei sto[veva] ella ver quei pauper Affon, orfenet miserablamein [perir] via è morir della fom. (DRC: 62 La Veta da Sointgia Genoveva I.; 18. Jh.) ‘[. . .] dass sie sterben würde [. . .]’ (b) 30 Placi Marun glivret cun agüt de sia familia tot las lavurs, che eran aunc da far nella campagna e se providet cun lenna per l’inviern. Sia camba gli doleva bein aunc beinduras, postut cur l’aura stava per müdar, ma non l'impediva plü bler pro la lavur, da maniera che el saveva ussa puspei far sias lavurs, sco avant quest cas de disgrazia. (DRC: Gion Antoni Bühler, 19. Jh.) ‘[. . .] das Wetter war kurz davor / war dabei sich zu verändern, aber das hinderte ihn nicht mehr bei der Arbeit.’ Weder esser per + Inf. noch star per + Inf. sind im DRC in zusammengesetzten Tempora (wie Perfet, Plücoperfet, Passà anter., Futur cump.), im Modus Conjunctiv oder im Futur im DRC belegt. Aufgrund der nur geringen Belege in dem rätoromanischen Korpus sind weder Generalisierungen noch quantitative Aussagen (insbes. hinsichtlich relativer Frequenzen) möglich. Qualitativ zeigt sich der parallele Gebrauch beider Periphrasen im DRC ab dem 18. Jahrhundert, wenn auch esser per + Inf. gegenüber dem Gebrauch von star per + Infinitiv noch überwiegt (analog zum Italienischen). Das Rätoromanische fügt sich in das konservative Bild der italoromanischen Sprachen, die beide Auxiliare in der Proximativkonstruktion noch bewahrt haben (im Gegensatz zu den iberoromanischen Sprachen). Angesichts der geringfügig nachweisbaren Avertivfunktion entsprechend der konservativen Stellung auf dem Proximativ-Avertiv-Kontinuum werden keine weiteren größeren Untersuchungen angestrebt, sondern lediglich die Existenz und Entwicklung exemplarisch aufgeführt, die sich in das konservative Bild der italoromanischen Sprachen fügt. 4.5.3 Iberoromanische Sprachen Im Folgenden wird die eingangs formulierte Hypothese untersucht, dass die iberoromanischen Sprachen232 hinsichtlich des Proximativ-Avertiv-Kontinuums innovativer als das konservativere Italienisch sind und in perfektiven Tempora
232 Das Katalanische wird in dieser Arbeit den iberoromanischen Sprachen zugeordnet.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
337
eine stärkere Grammatikalisierungstendenz des Avertivs (Stadium IV) aufweisen. Im Gegensatz zu dem Modell von Ziegeler (2000; 2006), das den Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ für almost p zugrunde legt, wird hingegen das in Kapitel 2.2 modifizierte und in Kapitel 3 am Beispiel der romanischen Sprachen synchron illustrierte Modell für den umgekehrten Grammatikalisierungspfad, Proximativ > Avertiv, der diachronen Untersuchung zugrunde gelegt. Tabelle 76: Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006). Ziegeler (; )
Schwellenbach (; )
Stage I:
proximity to X (prediction of X via R-based implicatures)
—
proximative +> p
Stage II:
proximity to X, but Y, therefore not-X (prediction of X is explicitly cancelled, inducing Q-based implicatures)
avertive +> ¬p
proximative +> ¬p
Stage III:
proximity to X (but Y, therefore not-X) (cancellation is omissible, and implicit)
counterfactual
proximative +> ¬p
Stage IV:
proximity to X (‘not X’ generalised as part of the meaning)
proximative +> ¬p (GCI)
avertive [was about to take place but did not take place]
Darüber hinaus wird der in Kapitel 3 aufgezeigte synchrone Unterschied der Proximative estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv sowohl im Spanischen als auch im Portugiesischen auf unterschiedliche Entwicklungen untersucht. 4.5.3.1 Ser- und estar-Periphrasen im Spanischen Gegenstand der diachronen Untersuchung des Spanischen ist die Genese und Entwicklung der iberoromanischen Proximative aus der Grammatikalisierungsquelle ESSERE/SEDERE/STARE sowie die Genese und Entwicklung ihrer Avertivfunktion. Die Avertivfunktion der estar-Periphrasen ist insbesondere in Kapitel 3.2.2 dargelegt worden und wird in dem Gegenwartsspanischen durch die in einem perfektiven Tempus stehenden Verbalperiphrasen estar a punto de + Inf., estar por + Inf. und estar para + Inf. ausgedrückt, wie die folgenen Beispiele aus dem Gegenwartsspanischen illustrieren.
338
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(412) Avertivfunktion der spanischen estar-Periphrasen mit Aufhebungstest Sp. (a) Estuvo para ganar la carrera sein.PST.3SG zu.PRP gewinnen.INF das Rennen (#y, de hecho, la ganó). (#und von Tat es gewinnnen.PST.3SG) Proximale Komponente: Er war kurz davor das Rennen zu gewinnen. Polare Komponente: Er gewann das Rennen nicht. ‘Er hätte beinahe das Rennen gewonnen.’ (#und, in der Tat, er gewann es.) (b) Estuve por caerme sein.PST.1SG zu.PRP fallen.INF-REFL.1SG (#y, de hecho, me caí). (#und von Tat mich.REFL.1SG fallen.PST.1SG) Proximale Komponente: Ich war kurz davor zu fallen. Polare Komponente: Ich fiel nicht. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’ (#und, in der Tat, fiel ich.) (413) Avertivfunktion der sp. estar-Periphrasen in Korpora (a) «A mis 12 años de edad estuve a punto de ser atropellado por una bicicleta», contó el Premio Nobel de Literatura a los asistentes que abarrotaban el antiguo Convento de San Agustín, [. . .]. (CREA: El Nuevo Herald, 1997, EE.UU) (b) Estuve por decirle: «Vayamos a una cocteleria y sigamos hablando de tu pelota», pero pense que igual a el le gustan otros temas mas interesantes y yo venga a darle el conazo con esa pelota que me hace tanta gracia. (Lexis Nexis: El País, 24/03/2002, España) (c) Iñaki Bolinaga confesó que estuvo para salir del campo y marcharse a casa. «Me faltó muy poco para coger el coche y regresar a casa. No podemos tener las lagunas que tuvimos, hemos de estar más centrados y no jugar tan cómodos. [. . .]» (Lexis Nexis: Diario Vasco, 19/09/2007, España) Die qualitativen und quantitativen diachronen Untersuchungen erfolgen auf der Grundlage der beiden einschlägigen diachronen Korpora des Spanischen, Corpus Diacrónico del Español (CORDE) der Real Academia Española (RAE) mit 236.709.914 Token von den Ursprüngen bis zum 20. Jahrhundert und das lemmatisierte Corpus del Español von Mark Davies (CDE) mit 100.255.030 Token vom 12. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert. Da die jeweilige Tokengröße der einzelnen Jahrhunderte unterschiedlich ist, wird neben der absoluten Frequenz jeweils die relative Frequenz ermittelt. Für die relative Frequenz werden die Belege aus
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
339
den unterschiedlichen Korpusgrößen der Jahrhunderte233 jeweils in Relation zu 1.000.000 Token umgerechnet, damit eine Vergleichbarkeit der Daten aus den unterschiedlichen Jahrhunderten gewährleistet ist und ein Anstieg oder Abfall nicht etwa auf unterschiedliche Korpusgrößen zurückzuführen ist. 4.5.3.1.1 Genese der Proximativfunktion Analog zu den italoromanischen und galloromanischen *essere-Infinitivkonstruktionen bilden sich im Altspanischen die auf *essere und sedere (‘sitzen’) zurückgehenden, vorwiegend modal (vorwiegend deontische Modalität) gebrauchten Infinitivkonstruktionen ser + Infinitiv, ser a + Infinitiv und ser de + Infinitiv sowie ser en + Infinitiv heraus.234 Da die präpositionslose Infinitivkonstruktion ser + Inf. allerdings nahezu ausschließlich in den CDE-Belegen lexikalisch gebraucht wird, ist die Konstruktion aufgrund der fehlenden Spezifizierung auf den Proximativ von der Untersuchung auszuklammern. (414) Lexikalischer Gebrauch der präpositionslosen Infinitivkonstruktion235 Altsp. Mas syn estos remedios del filosofo, podemos dar otros corporales: el primero es sueño, ca quando el omne duerme pierde la tristeza; el.ijo. es entrar en baño / El.iijo El.iijo. es fazer leer ante sy estorias buenas en que tome plazer / El.iiijo El.iiijo. es estudiar & poner el entendimiento en alguna otra cosa & arredrarle de aquel pensamjento en que toma tristeza / Mas aqui conuiene de notar que todas las deletaçiones & todas las tristezas se pueden departir segund aquella manera que se departen los bienes & los malos / (CDE: Castigos e documentos de Sancho IV)236
233 Im Corpus del Español (CDE) sind zum Abfragezeitraum 6.905.000 Token im 13. Jahrhundert, 2.820.000 Token im 14. Jahrhundert, 8.515.000 Token im 15. Jahrhundert, 18.001.000 im 16. Jahrhundert, 12.746.000 im 17. Jahrhundert, 10.263.000 im 18. Jahrhundert, 20.465.000 im 19. Jahrhundert und 20.540.030 im 20. Jahrhundert vorhanden. 234 Für einen ersten einzelsprachlichen Hinweis zu den altspanischen Periphrasen sei insbesondere auf Yllera (1980) verwiesen. Für das Galicische und Portugiesische sei auf Kapitel 4.5.3.2 verwiesen. 235 Die zeitliche Fixierung der Korpusbeispiele erfolgt auf Grundlage der klassischen Dreiteilung nach Eberenz (1991) in Altspanisch (ca. 1200–1450), Mittelspanisch (ca. 1450–1650) und Neuspanisch (ca. 1650–heute). 236 Die Kodierung wird aus den Korpora 1:1 übertragen und nur an entscheidenden Stellen (i.e. bei für die Fragestellung relevanten Abweichungen vom Originalmanuskript) nachträglich unter Kenntlichmachung korrigiert.
340
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Die altspanische Konstruktion ser a + Infinitiv liegt in deontischer Modalität bis zum 15. Jahrhundert sowohl mit transitiven als auch intransitiven Verben vor und baut sich erst, wie im Laufe des Kapitels gezeigt wird, ab dem 13. bis zum 15. Jahrhundert kontinuierlich durch die Zunahme der estar-Infinitivperiphrasen ab. (415) Ser a + Inf. zum Ausdruck deontischer Modalität (a) Por juvizio lo damos ant’el rey don Alfonso: páguenle en apreciadura e préndalo el Campeador. – Ya vieron qué es a fer los ifantes de Carrión. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘Schon sahen sie, was zu tun war, die Infanten von Carrión.’ (b) Vós nos engendrastes, nuestra madre nos parió; delant sodes amos, señora e señor, agora nos enviades a tierras de Carrión, debdo nos es a cunplir lo que mandáredes vós. (CORDE: Anónimo, c 1140, Poema de Mio Cid) ‘[. . .] jetzt schickt ihr uns in das Land von Carrión, unsere Pflicht ist zu erfüllen, was ihr befehlen mögt.’ Die altspanische Periphrase ser de + Infinitiv weist im CDE-Korpus die aus dem Vulgärlateinischen übernommene und bereits anhand der italo- und galloromanischen Sprachen aufgezeigte deontische Modalität auf. Neben der deontischen Modalität lässt sich allerdings bereits vermehrt der Ausdruck einer prospektiven Bedeutung insbesondere in Verbindung mit intransitiven Verben (besonders in Verbindung mit der lexikalischen Verstärkung von venir) nachweisen, wie folgende Korpusbelege illustrieren. (416) Ser de + Inf. im 13. Jahrhundert (a) quando y acaescieron. & quando acaesçieren enel tiempo que es de uenir. (CDE: Estoria de España II) (b) fijo dela Reyna donna vrraca. varon muy bueno. & muy largo. muy dador. muy mansso. Sesudo. & libre en las cosas que eran de fazer. Et diz que en los sus tiempos del. (CDE: Alfonso X., Estoria de España II) (c) ca el sennor connoscio todo saber. & cato ensennal de la edad & anuncio las cosas que passaron & las que son de uenir demostrando. & descrubiendo los rastros & las sennales de las cosas ascondudas. (CDE: Alfonso X., General Estoria IV) Die Inferenz der prospektiven Bedeutung erfolgt auf nahezu analoge Weise zu der in Verbindung mit venir auftretenden prospektiven Inferenz der Konstruktion ser por + Inf., wie der folgende Beleg illustriert.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
(417)
341
Ser por venir im 13. Jahrhundert omnes que si el mesquino omne sopiesse lo quel acaesçrie en el tiempo que es por uenir en aquel tiempo en que esta al se cuedarie. ca en punto de (CDE: Alfonso X el sabio, General Estoria IV, 1252–1284)
Bevor sich der ausführlichen Untersuchung der prospektiven Bedeutung von ser por + Inf. und estar por + Inf. angenommen wird, bei der im Falle von estar por + Inf. eine spätere Konventionalisierung der Imminenz nachgewiesen werden wird, werden im Folgenden die frühen ESSERE/SEDERE/STARE-Infinitivperiphrasen zum Ausdruck der Imminenz untersucht. Als pragmatische Inferenz kann die Imminenz im Altspanischen anhand unterschiedlicher ESSERE/SEDERE/STAREInfinitivperiphrasen mit zudem optionaler Präposition (en, a, por, para, etc.) gezogen werden. In Analogie zu den unterspezifizierten altitalienischen Infinitivkonstruktionen essere in + Infinitiv und stare in + Infinitiv bilden sich im Altspanischen die ebenfalls unterspezifizierten lexikalischen Infinitivkonstruktionen ser en + Infinitiv und estar en + Infinitiv heraus, die allerdings in sehr marginalen Kontexten des CDE-Korpus den Ausdruck einer imminentiellen Lesart annehmen237 und entsprechend ihrer Kontextabhängigkeit auch ingressive und progressive Inferenzen zulassen. (418) Ser en + Infinitiv Altsp. (a) Aqueste muy valeroso Maestre e Condestable fué en cercar con el Rey su señor muchas çibdades (Gonzalo Chacón, Crónica de D. Alvaro de Luna, zitiert nach Yllera 1980, 334) (b) E aun oviera seydo en ganar con el Rey su senor dentro de poco tienpo universalmente todo aquel reyno de Granada (Gonzalo Chacón, Crónica de D. Alvaro de Luna, zitiert nach Yllera 1980, 334) (419) Estar en + Infinitiv Altsp. Mas en Raphadin diz que non auie agua poca njn mucha. njn y. njn anjnguna parte dalli. njn de pozo njn de fuent. njn dotra manera. Et començaron de baraiar & adezir mal & assannar se contra Moysen. / & dixieron. danos agua que beuamos. ca todos estamos en perder nos de sed que non ay al. (CDE: Alfonso X., General estoria I)
237 Für einen ersten (noch nicht korpusbasierten) Hinweis zur marginalen imminentiellen Lesart der Konstruktionen cf. Yllera 1980, 334.
342
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
In Analogie zu ser en punto de + Inf. bildet sich auf der Basis des Location Schema im Altspanischen estar en punto de + Infinitiv (> estar a punto de + Infinitiv) heraus, wie die folgenden CDE-Belege mit imminentieller Inferenz illustrieren. (420) Ser en punto de + Inf. Commo los griegos fueron en punto de matar a eneas por que les auja mentido en rrazon de Poliçena (CDE: Sumas de la historia troyana) (421) Estar en punto de + Inf. & dixo a vn su tio que comia ay conel que estaua en punto de salir se de su seso por que aquel xpistiano grande matara a su padre (CDE: Anónimo, Gran conquista de Ultramar) Dass ser PRP (en/a) punto de + Infinitiv zunehmend durch estar PRP (en/a) punto de + Infinitiv ersetzt wird, illustriert die folgende CDE-basierte Untersuchung. Die in Tabelle 77 illustrierte relative Frequenz zeigt den Abbau von ser PRP (en/a) punto de + Infinitiv bis zum 19. Jahrhundert zugunsten des signifikanten Anstiegs von estar PRP (en/a) punto de + Infinitiv.
Tabelle 77: Relative Frequenz von ser PRP (en/a) punto de + Inf. und estar PRP (en/a) punto de + Inf. im CDE bei 1.000.000 Token. . Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
Ser PRP + punto de + Inf.
,
,
,
,
,
,
,
,
Estar PRP + punto de + Inf.
,
,
,
,
,
,
,
,
Abbildung 21 (Seite 343) illustriert auf der Basis der erhobenen Daten den signifikanten Anstieg von estar PRP (en/a) punto de + Infinitiv in Relation zu ser PRP (en/a) punto de + Infinitiv ab dem 19. Jahrhundert. Im 13. Jahrhundert weist die entsprechend lexikalische Konstruktion estar en punto de + Inf. noch Stellungsfreiheit (syntagmatische Variabilität) auf, wie das Beispiel (422), Seite 343, illustriert.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
343
25.00
20.00
15.00 Ser PRP + punto de + Inf. 10.00 Estar PRP + punto de + Inf. 5.00
12 00 –1 30 13 0 01 –1 40 14 0 01 –1 50 15 0 01 –1 60 16 0 01 –1 70 17 0 01 –1 80 18 0 01 –1 90 19 0 01 –2 00 0
0.00
Abbildung 21: Relative Frequenz von ser PRP (en/a) punto de + Inf. und estar PRP (en/a) punto de + Inf. bei 1.000.000 Token.
(422) Optionale Stellung von estar en punto de + Inf. im 13. Jahrhundert E señor yo vos juro por mahoma que tan grande pesar he enel mi ij coraçon por su muerte que por poco no me muero por el & pido la muerte & no me viene que en punto estoy de matar me yo mismo por mis manos: & agora reptays me vos de traycion sobre mi fatiga & trabajo passado pues señor vedes aqui mi cuerpo con buenos fiadores & con rehenes en tal manera que yo lidie: (CDE: Anónimo, 1295, Gran conquista de Ultramar) Im Gegensatz zu dem ingressiven Gebrauch der Metapher für das tatsächliche Einsetzen der Handlung, wie in dem altitalienischen Beispiel (423), (423) In un punto in ingressiver Verwendung però che l’occhio m’avea tutto Und zwar weil meine Blicke ganz tratto und gar zu dem Turm mit der glü36 ver l’alta torre alla cima rovente, henden Zinne hingezogen wurden, dove in un punto furon dritte wo im selben Augenblick, bluttrieratto fend, drei höllische Furien emportre furie infernal di sangue tinte fuhren (Dante, Commedia, Inferno, Canto IV, 134s.)
344
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
verlagert sich die Bedeutung zunehmend von einem ingressiven Punkt zu einem imminentiellen Punkt der Handlung, die im Spanischen zunächst mit der Präposition en und später durch die Präposition a ersetzt wird (im Italienischen sul, cf. Kapitel 4.5.2.2). Die Optionalität der Präpositionalphrasen en punto de und a punto de schwindet zugunsten der zunehmenden Obligatorisierung von a punto de, die nach dem Auftreten als Hapax im 14. Jahrhundert en punto de im 16. Jahrhundert überholt.238
Tabelle 78: Absolute Frequenz von estar PRP punto de + Inf. im CDE. . Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
Estar en punto de + Inf.
Estar a punto de + Inf.
Wie Abbildung 22 (Seite 345) auf der Basis der absoluten CDE-Daten illustriert, ist ab dem 18. Jahrhundert ein zunehmender Anstieg von estar a punto de + Inf. nachweisbar. In Berechnung der Daten aus den unterschiedlichen Korpusgrößen der Jahrhunderte239 auf 1.000.000 Token ergibt sich die in Tabelle 79 (Seite 345) illustrierte relative Frequenz, die den Anstieg im 19. Jahrhundert von estar a punto de + Inf. nachweislich belegt. Abbildung 23 (Seite 346) illustriert insbesondere den signifikanten Anstieg von estar a punto de + Inf. ab dem 19. Jahrhundert. Neben der Periphrase mit der die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückender PP en/a punto de finden sich im Altspanischen weitere Infinitivkonstruktionen mit estar, die noch stark unterspezifiziert ebenfalls bereits imminentielle Inferenzen aus der Finalität zulassen. Das Auxiliar steht in diesem frühen Entwicklungsstadium oftmals im Gerundium, wie auch bereits analog insbesondere im Altsardischen aufgezeigt wurde (cf. Kapitel 4.5.2.1) und die Beispiele (424), Seite 345–346, illustrieren.
238 In dem Katalanischen wird a punt korpusbasiert bereits im 15. Jahrhundert frequenter gebraucht als en punt (cf. Kapitel 4.5.3.3). 239 Für die Angaben zu den jeweils konsultierten Korpusgrößen in Token sei auf Kapitel 7 verwiesen.
345
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
500 450 400 350 300 250
Estar en punto de + Inf.
200 150
Estar a punto de + Inf.
100 50
12 00 –1 29 13 9 00 –1 39 14 9 00 –1 49 15 9 00 –1 59 16 9 00 –1 69 17 9 00 –1 79 18 9 00 –1 89 19 9 00 –1 99 9
0
Abbildung 22: Absolute Frequenz von estar PRP punto de + Inf. im CDE.
Tabelle 79: Relative Frequenz von estar PRP punto de + Inf. im CDE bei 1.000.000 Token. . Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
Estar en punto de + Inf.
,
,
,
,
,
,
,
,
Estar a punto de + Inf.
,
,
,
,
,
,
,
,
(424) Estando (a/por/para) + Inf. (a) Et començe la a rogar quanto yo podie que me non desamparasse. / Mas ya non auie fuerça en ella. & estando a morir aquexe la a fablar. & dixo me estas pocas palabras. / (CDE: Alfonso X., General estoria I.) (b) / E otrossi pusieron le enel mercado que a nombre traiano del su nombre; una Jmagen fecha a manera de cuemo el estando por entrar en la batalla; descendio del cauallo & oyo el pleyto de la bibda & diol derecho del tuerto que auie recebido. / (CDE: Alfonso X, 1270–1274, Estoria de España)
346
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(c) Et agora sobre todo esto trayendo yo et mios amigos nuestra gente ayuntada muy grande et muy buena et non los podiendo partir de nos fasta que nos ouiesen librado nuestras fasiendas porque les diesemos recabdo de sus dineros libraron nos lo todo con mentira nos cuydando que era todo verdat et dimos a estas gentes que teniemos el meior rrecabdo que podimos en guisa que fincamos con los mas pocos que pudimos. Et yo estando para me yr veer con don Johan mio cormano et con don Johan Alfonso de Haro a sosegar nuestro amor con el infante don Pedro et yo yendo en esta fiusa a la vista asonose don Johan Nunnes con muy grandes gentes que auia ya quinse dias que se andaua asonando a furto. (CORDE: Anónimo, 1311, Del infante Don Juan al rey de Aragón, dándole cuenta de nuevos disturbios en Castilla y lamentándos . . .) 25.00
20.00
15.00 Estar en punto de + Inf. 10.00 Estar a punto de + Inf. 5.00
12 00 –1 29 13 9 00 –1 39 14 9 00 –1 49 15 9 00 –1 59 16 9 00 –1 69 17 9 00 –1 79 18 9 00 –1 89 19 9 00 –1 99 9
0.00
Abbildung 23: Relative Frequenz von estar PRP punto de + Inf. im CDE bei 1.000.000 Token.
Dem Ausdruck des Proximativs aus den jeweils polysemen Formen estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv, die neben ihrer periphrastischen Bedeutung des Proximativs in den Gegenwartssprachen auch lexikalisch gebraucht werden können, geht entsprechend des Location Schema (‘X is at Y’) diachron die lexikalische Bedeutung der Finalität in der wörtlichen Bedeutung ihrer drei Glieder ‘dort sein, um etwas zu tun’ (Stage 0) voraus, für die exemplarisch die folgenden Beispiele aus dem Altspanischen angeführt werden können.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
347
(425) Finalität: estar [por + Infinitiv] (a) por que la otra uez que fuera Rey non se allegaua ninguno a ell. njn le dexauan otrossi a ninguno entrar do ell estaua por guardarle. por que uinie dell linnage de los Reys. / Mas assi se sabie ell abenir con ellos que todos le obedescien yl amauan. / (CDE: Alfonso X, 1270–1274, Estoria de España II) (b) & quando los turcos llegaron ala fortaleza que era desbastecida hizieron cauas de baxo de tierra por todas partes & cauaron el castillo & descubrieron toda la peña en que estaua por meter el fuego que luego que la peña tremiesse caerian las torres & los muros en tierra: & los que estauan dentro ouieron grande miedo (CDE: Anónimo, 1295, Gran conquista de Ultramar) ‘Sie entdeckten (erklimmten) den ganzen Berg, auf dem sie [die Burg] sich befand, um ein Feuer zu machen [. . .]’ (c) ellos dieron le por consejo que sola mente non se moujese del logar en que estaua para yr a bretanna por aquello que le enbiaua dezjr el duque menos que non (CDE: Alfonso X, 1252–1284, General Estoria V) Analog zu estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv sind die konkurrierenden, ebenfalls jeweils polysemen Formen ser por + Infinitiv und ser para + Infinitiv zu betrachten, denen dem Ausdruck des Proximativs diachron ebenfalls die lexikalische Bedeutung der Finalität in Form der folgenden Beispiele vorausgeht. (426) Finalität: ser [por + Infinitiv] (a) & guarden se de derraygar njn de cortar arboles que son pora leuar fructo o pora madera. Et si alguno destos lugares los sacare & los accorralare, peche por cada cabeça .i. s. (CORDE: Anónimo, c 1196, Fuero de Soria) (b) Vii.dias combredes pan sancenno e non comades liebdo, e el que lo comiere sera desraygado. Ny nulla obra non fagades si non lo que es pora comer. (CORDE: Almerich, c 1200, La fazienda de Ultra Mar) (c) // Que cosa es la ley. ija. // La ley es por demostrar las cosas de dios. & que demuestren bien biuir. & es fuente [. . .] (CDE: 1241, Fernando III, Fuero Juzgo) (d) los sacramentos & los articulos son para guardar esta creençia & tenerla conplidamente porque son commo pilares dela fe. (CDE: Alonso X, c. 1251–1265, Siete partidas)
348
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Die in Kapitel 3 systematisch behandelte volitiv-modale Bedeutung, die als lexikalische Nebenbedeutung von estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv im Gegenwartsspanischen (bzw. in den iberoromanischen Sprachen) insbesondere in Verbindung mit der Negationspartikel auftritt (z.B. No estoy para salir de marcha. ‘Ich bin nicht zum Ausgehen aufgelegt.’), wird im 13. Jahrhundert noch in Verbindung mit dem Auxiliar ser in Form der Infinitivkonstruktion (non) ser para + Infinitiv ausgedrückt. (427) Non ser para + Inf. im 13. Jahrhundert (a) E dixo el que va conel mundo segund el va: non es para recebir ningund consejo: pues que no vsa segund su voluntad / que el que [. . .] (CDE: Alfonso X, 1257, Bocados de oro) (b) sos fijos e sos mugieres e sos amigos. e todos aquellos que no eran pora ayudarse darmas. e dieron fuego ala uilla. Desi salieron anno dizeochauo que // (CDE: Alfonso X, 1270–1274, Estoria de España I) Im Gegensatz zu ser para + Infinitiv ist estar para + Infinitiv in Verbindung mit der Negationspartikel no(n) zumindest im Corpus del Español nicht vor dem Beginn des 15. Jahrhunderts und lediglich in der lexikalischen Bedeutung ‘nicht in der Lage sein’ belegt. (428) Non estar para + Infinitiv im 15. Jahrhundert / Et ellos le enbiaron dezir que bien veya el quales venjan que non estauan para andar & queles Rogauan queles quisiesen dexar estar alli dos dias si quier que folgasen vn poco & el les enbio dezir que solo vn Rato que non osaria alli detenerlos que si el señor lo sopiese non le costaria al saluo la vida / (CDE: Ruy González de Clavijo, 1403–1406, Historia del gran Tamorlán) ‘[. . .] dass sie nicht in der Lage waren zu laufen [. . .]’ Im 13. Jahrhundert wird die Form estar para + Infinitiv im Zuge dieses frühen Grammatikalisierungsstadiums noch zu 78,57% (11 / 14 Belegen) lexikalisch (in den Bedeutungen Finalität, Disposition und Intention) ausgedrückt sowie zu 100% (14 / 14 Belege) mit belebtem Subjekt (im Gegensatz zu estar por + Inf.) und ausschließlich affirmativ gebraucht. In 2 / 14 CDE-Korpusbelegen des 13. Jahrhunderts tritt estar para + Infinitiv allerdings bereits mit den typischen Avertivverben caer (‘fallen’) und morir (‘sterben’) auf, wobei der Eintritt der Handlung entsprechend der Imminenz noch aussteht.
349
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
(429) Estar para + Inf. im 13. Jahrhundert (a) otras cosas los aquexauan tan bien: assi como calor & poluo & sed que estauan para morir & tan fatigados estauan que en toda aquella tierra no hauia fuentes ni (CDE: Gran conquista de Ultramar) (b) a njñas & a donzellas aqui notaras primera mente segund que pone tullio enel & estaua para caer del cauallo / E los sus vasallos quando lo vieron estar enaquella tan (CDE: Castigos e documentos del rey don Sancho IV) Die im Altspanischen noch koexistierenden Verbalperiphrasen ser por + Infinitiv und estar por + Infinitiv werden bis zum 15. Jahrhundert von der älteren Periphrase ser por + Inf. dominiert und erst im Zuge ihres kontinuierlichen Abbaus ab dem 16. Jahrhundert von estar por + Inf. überholt,240 wie Tabelle 80 mit sowohl absoluten Daten der Verbalperiphrasen (in Relation zu der in Klammern stehenden Gesamtzahl der konsultierten Form von ser por + Inf. und estar por + Inf.) als auch ihrer relativen Frequenz (in Umrechnung der unterschiedlichen Korpusgrößen der Jahrhunderte auf 1.000.000 Token) illustriert. Tabelle 80: Distribution der Frequenz von ser por + Inf. und estar por + Inf. im CDE. Paradigma Absolute Frequenz
Relative Frequenz (.. Token)
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
.Jh.
.Jh.
. Jh.
.Jh.
Ser por + Inf.
()
()
()
()
()
()
()
()
Estar por + Inf.
()
()
()
()
()
()
()
()
Ser por + Inf.
,
,
,
,
,
,
,
,
Estar por + Inf.
,
,
,
,
,
,
,
,
240 Das Auxiliar ser wird nicht nur hinsichtlich des Proximativs abgebaut, indem es durch das Auxiliar estar ersetzt wird, sondern bekanntlich auch zugunsten von haber (‘haben’) hinsichtlich der Perfekt-Auxiliarselektion bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. 241 Das Paradigma bezieht sich auf das zur Verbalperiphrase gehörende Paradigma. Die Belege, die auf die lexikalische Bedeutung der Elemente zum Ausdruck der Finalität referieren, werden entsprechend aus der Untersuchung ausgeklammert. Die in Klammern aufgeführte Zahl bezieht sich auf die jeweiligen Gesamtbelege der Form (sowohl mit lexikalischer Bedeutung als auch mit periphrastischer Bedeutung).
350
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Die relative Frequenz von ser por + Inf. und estar por + Inf. in Abbildung 24 illustriert, nach einem ersten Anstieg bis zum 14. Jahrhundert, den kontinuierlichen Abbau von ser por + Inf. sowie den zunehmenden Anstieg von estar por + Inf., der im 16. Jahrhundert einen Kulminationspunkt von 16,05 Belegen erreicht und nach einem kurzen Abfall bis zum 18. Jahrhundert wieder kontinuierlich ansteigt. 18 17.02 16.05
16
14.36
14 12
12.51 11.59
10 8
ser por + Inf.
8.01
estar por + Inf.
6.82 6 5 4 3.17 2
1.88
1.77 0.94 0.24
0.29
0.29
0.19
12 00 –1 29 9 13 00 –1 39 9 14 00 –1 49 9 15 00 –1 59 9 16 00 –1 69 9 17 00 –1 79 9 18 00 –1 89 9 19 00 –1 99 9
0
Abbildung 24: Distribution der relativen Frequenz von ser por + Inf. und estar por + Inf. im CDE bei 1.000.000 Token.
Hinsichtlich der Verbalperiphrasen ser por + Infinitiv und estar por + Infinitiv wird im Folgenden zudem die Hypothese Prospektiv > Proximativ (Spezifizierung) verifiziert. Diesbezüglich wird die Entwicklung von ser por + Inf. und estar por + Inf. in der Kombination mit dem venitiven Verb venir (‘kommen’) im Infinitiv im CDE-Korpus untersucht. Dabei erweist sich die Verbindung mit dem venitiven Verb venir (‘kommen’) in infiniter Form zum Ausdruck der Prospektivität 242
242 Menéndez Pidal (1911, 893) erwähnt diesen venitiven Gebrauch in der Bedeutungsnuance «acercarse el tiempo» im Altspanischen. «‹acercarse el tiempo›, vinida es la man 425, 323, 456, 1122; çerca viene el plazo 212, 321, 392, ‹cerca vinie el termino› SDom 488, 489, ‹çerca vinie el dia› SMill 283» (Menéndez Pidal 1911, 893).
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
351
bis zum 15. Jahrhundert mit einer Kulmination von 86,27% (i.e. 44 von 51 Belegen der Periphrase ser por + Infinitiv) bzw. 40,74% (i.e. 11 von 27 Belegen der Periphrase estar por + Infinitiv) als signifikant, wie Tabelle 81 illustriert.243
Tabelle 81: Prozentuale Distribution von ser por venir und estar por venir im CDE. . Jh. Ser por + venir Estar por + venir
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
% ,% ,% ( / ) ( / ) ( / )
,% ( / )
,% ( / )
% ( / )
% ( / )
% ( / )
,% ( / )
. Jh.
% ,% ,% % ,% ,% ,% ( / ) ( / ) ( / ) ( / ) ( / ) ( / ) ( / )
Mit dem Abbau von ser por + Inf. ab dem 16. Jahrhundert kommt es zur Zunahme des Paradigmas der ursprünglich noch von venir dominierten prospektiven Konstruktion estar por + Inf. Der prospektive Gebrauch in Verbindung mit venir nimmt kontinuierlich ab und das Verbparadigma von estar por + Inf. steigt entsprechend seiner weiteren Grammatikalisierung, die unten eingehend dargelegt wird, stetig an. Abbildung 25 (Seite 352) illustriert die prozentuale Distribution von venir als infinite Form der Verbalperiphrase estar por + Inf. vom 13. bis 20. Jahrhundert. Zu berücksichtigen ist allerdings auch der generell frequentere Gebrauch des Verbs venir im Altspanischen, der ebenfalls Konsequenzen für die Wahl der Konstruktion hat, in eine Kombination mit venir zu treten. Mit 13.212 CDEKorpusbelegen (lemmatisierte Recherche) nimmt venir den 9. Platz der frequentesten Verben im 13. Jahrhundert ein. (430) Frequenteste Verben im 13. Jahrhundert im CDE 1 ser 183.187 10 ir 11.329 2 hacer/fazer 61.367 11 guardar 8.363 3 decir/dezir 61.203 12 estar 9.703 4 haber 59.839 13 caer 9.703
243 Die Entwicklung zeigt sich in Analogie zum Galicisch-Portugiesischen, das ebenfalls den dominierenden Gebrauch mit vir (‘kommen’) zur Unterstützung der Prospektivität von ser por + Infinitiv und estar por + Infinitiv aufweist (cf. Kapitel 4.5.3.2).
352
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
5 6 7 8 9
poder dar deber saber venir
32.226 31.112 25.673 14.270 13.212
14 15 16 17 18
matar morir tornar llegar caer
7.447 7.442 6.723 5.335 2.573
estar por venir 45.00% 40.00%
40,00%
40,74%
35.00% 30.00% 25,61%
25.00% 20.00% 15.00% 10.00% 7,69%
6,00%
5.00%
7,14% 3,66%
3,11%
19 00 –1 99 9
18 00 –1 89 9
17 00 –1 79 9
16 00 –1 69 9
15 00 –1 59 9
14 00 –1 49 9
13 00 –1 39 9
12 00 –1 29 9
0.00%
Abbildung 25: Prozentuale Distribution von estar por venir im CDE.
Hinsichtlich der im Infinitiv stehenden frequentesten Verben im 13. Jahrhundert im Corpus del Español von Mark Davies nimmt venir den 10. Platz auf der Liste ein, von der lediglich die ersten 12 aufgeführt werden: (431) Frequenteste Verben im Infinitiv im 13. Jahrhundert im CDE 1 fazer/hazer 16.472 7 yr/ir 2 ser/seer 10.837 8 guardar 3 dar 8.061 9 tomar 4 dezir 6.571 10 uenir/venir/venyr/venjr/uenjr 5 saber 5.753 11 demandar 6 poder 5.588 12 tornar
3.622 2.896 2.869 2.532 2.060 1.650
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
353
Nichtsdestotrotz zeigt sich keine Signifikanz der frequenteren Verben bei den CDE-Belegen der Verbalperiphrase im 13. Jahrhundert, sodass der generell erhöhteren Frequenz von venir ebenfalls kein entscheidender Einfluss auf die erhöhte Frequenz in der Verbalperiphrase beigemessen wird. Im Gegensatz zu der signifikanten Frequenz der Periphrasen ser por + Infinitiv und estar por + Infinitiv mit dem intransitiven Verb venir ist hingegen der Gebrauch der Periphrasen ser para + Infinitiv und estar para + Infinitiv (sowie ser/ estar PRP punto de + Inf.) in Verbindung mit venir in den CDE-Belegen nicht signifikant,244 sodass bei diesen Periphrasen von einer von ser por + Infinitiv und estar por + Infinitiv unterschiedlichen Entwicklung ausgegangen werden kann. Aus dem prospektiven Gebrauch der Periphrase ser por venir entwickelt sich zudem eine Substantivierung der Prospektivität in Form des Kompositums porvenir (< por venir ‘Kommenwerden’, ‘Zukunft’245). Zwar ist porvenir im CDE-Korpus erst im 15. Jahrhundert als Hapax mit zunehmender Frequenz ab dem 16. Jahrhundert belegt, jedoch findet sich im CORDE-Korpus porvenir als Hapax im 14. Jahrhundert mit zunehmender Frequenz ab dem 15. Jahrhundert. (432) Porvenir im 14. und 15. Jahrhundert (a) A esto rrespondemos quelo tenemos por bien e sobre esto ffaremos ley e ordenamiento qual vieremos que cunple, porque se escarmiente lo passado e sse guarde lo porvenir. Et otrosy enlo que piden que mandemos alos perlados que ffagan guardar esto e lo estrannen alos que lo ffizieron, quelo tenemos por bien e gelo rrogamos e gelo mandamos. (CORDE: Anónimo, 1348, Ordenamiento de las cortes celebradas en Alcalá de Henares, España) (b) 894. Los hombres miran a lo pasado, presente, y porvenir. (CORDE: Anónimo, c 1430, Floresta de philósophos, España) Die in Tabelle 82 (Seite 354) illustrierten Daten zeigen die absolute und relative Frequenz von porvenir im Corpus del Español (CDE).
244 ser para + Infinitiv ist im 13. Jahrhundert mit venir lediglich als Hapax belegt und estar para + Infinitiv weist von den CDE-Belegen des 13. bis 15. Jahrhundert keinen einzigen mit venir auf. 245 Für eine philosophische Betrachtung des Unterschieds zwischen futuro (‘Zukunft’) und porvenir (‘Kommenwerden’) sei verwiesen auf Rocha (2010).
354
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 82: Porvenir im CDE. –
–
absolute Frequenz
relative Frequenz (.. Token)
,
,
sp. Porvenir (‘Zukunft’)
–
–
Hinsichtlich der spanischen Verbalperiphrase estar por + Infinitiv (< ser por + Infinitiv)247 wird, entgegen des von Cinque (1999, 106) theoretisch postulierten Grammatikalisierungspfad poximative (paraphrasiert mit soon) > prospective (paraphrasiert mit almost) im Sinne einer Generalisierung, die entgegengesetzte Grammatikalisierungsrichtung Prospektiv > Imminenz (Spezifizierung)248 korpusbasiert nachgewiesen. Nach Schwellenbach (2013) wird die bis zum 15. Jahrhundert anhaltende Rivalität zwischen ser por + Infinitiv und estar por + Infinitiv mit einem ausgeprägten Paradigma venitiver Verben (wie venir) mit dem Ausdruck des ersten Stadiums (i.e. prediction of X via an R-based implicature) nach Ziegeler (2000) in Verbindung gebracht. Der Sprecher R-implikatiert die Prädiktion bzw. Erfüllung der Handlung, wie die folgenden Belege illustrieren. (433) Ser por venir im 13. Jahrhundert (a) Conoscuda cosa sea a todos los omnes que esta carta vieren, a los que son agora e a los que son por venir, cómo yo la condessa doña Urraca dó al conviento de Cañas quanto é en Ballvertanes por mío, quanto e heredamientos, con el castellar, con entradas e con exidas, con fuentes, e con puentes, e con montes, e con aguas e con quanto ý é del cielo a la tierra para vestiario; (CORDE: Anónimo, c 1162, Carta de entrega de unos bienes [Documentos del Archivo Histórico Nacional (a1200–a1492)]
246 Im CORDE-Korpus findet sich porvenir bereits im 14. Jahrhundert als Hapax. 247 Zur Verifizierung der portugiesischen Verbalperiphrasen sei verwiesen auf Kapitel 4.5.3.2. 248 Dieser «venitive Gebrauch» bereitet einen Grammatikalisierungspfad in den Proximativ, wie ihn bereits König (1993) anhand der afrikanischen Sprachen, insbesondere im Maa, nahegelegt hat.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
355
(b) omnes que si el mesquino omne sopiesse lo quel acaesçrie en el tiempo que es por uenir en aquel tiempo en que esta al se cuedarie. ca en punto de (CDE: Alfonso X el sabio, General Estoria IV, 1252–1284) (c) todas las hedades delo pasado & delo que era entonçes & de lo que era por venjr & todas se ayuntaron en vno & todas se asentaron en el pecho de (CDE: Alfonso X el sabio, General Estoria V, 1252–1284) (d) prophetar las cosas que son por uenir. (CDE: Alfonso X, Siete Partidas I, 1252–1284) Hinsichtlich des Ausdrucks an Prospektivität wird ebenfalls die Rivalität von estar und ser erkennbar, bei dem ser por venir zunehmend durch estar por venir ersetzt wird. Bereits im 13. Jahrhundert finden sich Beispiele mit estar por + Infinitiv in analogen Kontexten zu den obigen Kontexten mit ser por + Infinitiv. (434) Estar por venir im 13. Jahrhundert (a) commo querer tomar el poder de dios para wie möchten.INF nehmen.INF die Macht von Gott für saber las cosas que estan por venir. wissen.INF die Dinge die sein.PRS.3PL zu.PRP kommen.INF (CDE: Alfonso X el sabio, Siete partidas, 1252–1284) ‘wie die Macht Gottes nehmen zu wollen, um die Dinge zu wissen, die bevorstehen.’ (b) dicho ante todos los que enel consejo estauan. E considerando enlos daños que le estauan por venir & no sabiendo que consejo se tomase. por lo qual fue entrellos (CDE: Historia troyana polimétrica, traducción de 1270) (c) ventura menospreciaras aquello que te dezimos auisate & piensa en ti quantos males & daños estan por venir a ti & alos tuyos que tu ten por firme que padesceras la (CDE: Historia troyana polimétrica, traducción de 1270) Ser por + Infinitiv drückt neben der Prospektivität auch die Imminenz aus. Auch im pretérito perfecto simple drückt ser por + Infinitiv bereits die Imminenz (i.e. die proximale Komponente) aus. Der Kontext gibt Aufschluss, ob sich die Handlung realisiert oder nicht. In dem folgenden Beispiel, in dem die -ra-Form bekanntlich noch den Indikativ Plusquamperfekt ausdrückt (und entsprechend
356
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
noch nicht den Konjunktiv Imperfekt),249 wird die Handlung bzw. p durch den anschließenden Kotext explizit realisiert. (435) Ser [PPS] por + Infinitiv Scilla, quandol uio uenir, entendio como por spirito que so padre podrie seer aquel. Et con grant miedo que ouo del desamparos dalli dont se tenie a la naue, & fue por caer en la mar; & cayera mas dize /2/ aqui ell Autor que por la uertud de los sus dioses que uino adessora un uiento, & sostouo la que la non dexo llegar al agua. Et alli estando, diz que fue luego cubierta de pluma & mudada en aue. (CORDE: Alfonso X, c 1275, General Estoria. Segunda parte) Hinsichtlich estar por + Infinitiv erscheint die Imminenz ebenfalls noch nicht konventionalisiert, wie sich an dem Kontext des folgenden Beispiels rekonstruieren lässt. (436) Imminenz wird im anschließenden Kotext explizit gemacht & Muerto Pharaon achor que regno empos ascener. / & muerto aun otrossi Pharaon Cencres. que regno despues de achor. / & murio ya otrossi Phua fija del derechero obispo dela çibdad eliopoleos. que desseaua la tu muert. / & el regno esta agora assi. que estan por poner Rey. & nol an aun puesto. mas agora le pornan & pero puesto le fallaras ya tu. / Mas por tod esso non dexes de yr te luego pora alla. ca el ffaraon sera nueuo. & non sabra aun tanto de mal. & aun quelo sepa. & quiera non podra. (CDE: Alfonso X, 1252–1284, General Estoria I) ‘Sie haben die Absicht, einen König aufzustellen. Sie haben ihn noch nicht aufgestellt.’ In dem Kontext des obenstehenden Beispiels (436) wird die Information gegeben, dass Sie den König zudem noch nicht aufgestellt haben, aber ihn jetzt bald (i.e. in naher Zukunft) aufstellen werden. Aus dem sich an die Periphrase estar por + Infinitiv anschließenden Kotext (& nol an aun puesto ‘Sie haben ihn noch nicht aufgestellt.’) lässt sich rekonstruieren, dass der Ausdruck der Imminenz aufgrund der ohne Redundanz zu erzeugenden Verstärkung von der Konstruktion noch nicht vollständig konventionalisiert sein kann. Die Imminenz wird explizit durch den anschließenden Kotext ausgedrückt, sodass die
249 Zur Diachronie der -ra-Form sei verwiesen auf Klein-Andreu (1991), Veiga (1996) und Becker (2008a).
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
357
Imminenz noch nicht alleine von estar por + Infinitiv inferiert werden kann, sondern kontextuell explizit gemacht werden muss. Weitere Kontexte im 13. Jahrhundert zeigen die Vorphase der Imminenz (i.e. die proximale Komponente) als Zustand, bei dem das Eintreten der Handlung R-implikatiert wird. (437) Estar por + Infinitiv (a) La fama deste Rey don Alffonsso les ençerro la mar. El nombre del detouo. alos que estauan por passar que non passaron. fasta quel fue dada. la fortaleza de Cuenca. (CDE: Alfonso X, 1270–1274, Estoria de España II) (b) Herigone parol mientes. & quando cato como se yua. fue empos ella fasta que llego assu padre. Et quandol fallo muerto messos & rascos. et rompios toda por duelo de su padre que fallaua assi muerto. & ya auie bien quatro dias quel mataran. & lloro alli tanto. que fallescie ya & estaua por morir se (CDE: Alfonso X, 1252–1284, General estoria I) ‘Es ist schon gut vier Tage her, dass sie ihn (den Vater) umbrachten. Und sie (Erigone) weinte so sehr. Dass sie schon ablebte und sich im Zustand des Sterbens befand.’ Wie bereits oben und im Altsardischen (cf. Kapitel 4.5.2.1) gezeigt wurde, wird auch im Altspanischen die R-Implikatur des Eintrittes von p zudem noch durch den progressiven Charakter des oftmals im Gerundium stehenden Auxiliar hervorgehoben. (438) Estando por/para + Infinitiv / E otrossi pusieron le enel mercado que a nombre traiano del su nombre; una Jmagen fecha a manera de cuemo el estando por entrar en la batalla; descendio del cauallo & oyo el pleyto de la bibda & diol derecho del tuerto que auie recebido. / (CDE: Alfonso X, 1270–1274, Estoria de España) Von der prospektiven Bedeutung, die, wie oben verifiziert, zu Beginn noch lexikalisch durch venir unterstützt wurde, entwickelt sich zunehmend die Imminenz (Spezifizierung). Die R-basierte Implikatur des Eintrittes von p wird noch nicht durch Adversativsätze aufgehoben (be on the point of doing but [...]), die entsprechend die Avertivbedeutung implikatieren würden. Der Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ ist daher ebenfalls für den ESSERE/SEDERE/STAREProximativs im Spanischen auszuschließen. Inwiefern der Proximativ hingegen die Avertivfunktion entwickelt, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
358
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
4.5.3.1.2 Genese der Avertivfunktion 4.5.3.1.2.1 Proximativ > Avertiv Im Gegensatz zu estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv, denen das Vorstadium der Finalität vorausgeht, weist die Proximativperiphrase mit der die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden PP a punto de (a) punto de + Inf. mit Adversativsatz Altsp. muchas vezes estoujeron en punto de vençer la viele Male sein.PST.3PL in Punkt von siegen.INF die
250 Progressiv-imminentielle Lesart bedeutet in diesem Fall, dass noch nicht zwischen progressiver und imminentieller Lesart unterschieden wird, da die Konstruktion noch nicht für die imminentielle Phase spezifiziert ist.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
359
batalla /. mas los Romanos eran muy pocos & Schlacht aber die Römer sein.IMPF.3PL sehr wenige und los otros eran muchos die anderen sein.IMPF.3PL viele (CDE: Pedro Alfonso de Barcelos, anonymous translation, Crónica de 1344) ‘viele Male waren Sie kurz davor die Schlacht zu gewinnen, aber die Römer waren sehr wenige und die anderen waren viele.’ Die polare Komponente ist in diesem Stadium noch kontextabhängig, wie der folgende Beleg illustriert. (441) Kontextabhängigkeit der polaren Komponente des Proximativs Altsp. Commo los griegos fueron en punto de matar a eneas por que les auja mentido en rrazon de Poliçena Poliçena / /. . . // Los prinçipes delos griegos que quedaron ally acordaron de se yr todos a sus tierras. E por quanto eneas les auja mentido en rrazon de poliçena entendieron que les auja falsado las posturas & que non deujera gozar del seguro que conellos tenja & fueron en punto de lo destruyr & fezjeranlo sy non por diomedes que le fue buen amigo / mas al cabo mandaronle que non quedase en troya. (CDE: Leomarte, 1300–1400, Sumas de la historia troyana) Die Avertivbedeutung von estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv entwickelt sich diachron später als die Proximativbedeutung. Im 14. Jahrhundert finden sich in den Korpora Beispiele, die noch die Imminenz mit implikatiertem Eintritt (Implikatur der Prädiktion) betonen, wie das folgende Beispiel der Verbalperiphrase estar para + Inf. aus dem 14. Jahrhundert im CORDE-Korpus251 illustriert. (442) Estar para + Inf. Altsp. E estando en esta priesa, vino a el vn ome e dixole que el muro era caydo en la otra parte e que fazian mucho los moros por entrar por alli, e /A, f. 209v si no fuesen ay algunos omes de los sobre salientes, que los de la quadrilla non podrian defender. E como quier que esto le dixo aquel ome non era caydo el muro, mas estaua para caer. E Martin Alonso, desque lo oyo, quisiera enbiar algunos de los que estauan con el, e desque paro mientes a quien enbiara vido que non
251 Aufgrund der sehr geringen Anzahl von nur 3 periphrastischen Beispielen im CDE-Korpus konsultieren wir zudem zusätzlich das CORDE-Korpus für die qualitative Untersuchung.
360
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
podia ser, ca bien entendia que si alguno de alli partiese que antes que se arredrase vn poco serie el muerto e el lugar entrado; (CORDE: Anónimo, c. 1348–1379, Gran crónica de Alfonso XI) Ab dem 15. Jahrhundert erscheint der spanische (sowie portugiesische, cf. Kapitel 4.5.3.2) Proximativ estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv mit der Qbasierten kontrafaktischen Implikatur, wie das folgende Beispiel illustriert, bei dem die R-basierte Implikatur durch den Adversativsatz explizit aufgehoben und dadurch eine Q-basierte Implikatur entsteht, die Kontrafaktizität ausdrückt. (443) Estar por + Inf. mit Adversativsatz Msp. Y assí la tuvo Ruberto un rato, a cabo del cual le vino al encuentro el hijo del duque de Borgoña. E diéronse tan grandes encuentros que Ruberto cayó en tierra. Y el hijo del duque de Borgoña estuvo por caer, mas túvose en la silla. Y luego vino otro cavallero y tanbién fue derribado. Después vino Godo, hijo de Micer Antoneto de Villolbi, y tanbién le derribó. (CDE: Anónimo, 1517, Arderique) Ab dem 16. Jahrhundert benötigt die polare Komponente von estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv nicht länger eine kontextuelle Verstärkung, sondern die Avertivfunktion wird in dem indefinido nahezu konventionalisiert (Proximativ > Avertiv), wie in den Beispielen (444a) und (444b) ersichtlich ist. In Beispiel (444a) wird in einer aneinander gereihten kontrafaktischen Handlungskette die im Indikativ stehende Avertivperiphrase (Cuántas vezes estuvo por tornarse ‘Wie oft wäre er beinahe umgekehrt,’) mit den im Konjunktiv stehenden verbalen Sachverhalten (cuántas vezes quisiera hallar estorvo, y cuántas no quisiera ser nacido) äquivalent zum Ausdruck der Kontrafaktizität gebraucht. (444) Avertivfunktion von estar por + Inf. und estar para + Inf. im 16. Jahrhundert Msp. (a) ¡Cuántas vezes estuvo por tornarse, Wie viele Male sein.PST.IND.3SG zu.PRP sich-umdrehen.INF cuántas vezes quisiera hallar estorvo, wie viele Male wollen.IMPF.SUBJ.3SG finden.INF Hindernis y cuántas no quisiera ser nacido und wie viele nicht wollen.IMPF.SUBJ.3SG sein.INF geboren.PTCP (CDE: Juan Boscán, Poesías, 1514–1542) ‘Wie oft wäre er beinahe umgekehrt, wie oft wollte er das Hindernis aufspüren, und wie oft wollte er nicht geboren worden sein.’ Msp. (b) le dio una gran cuchillada en el pescueço ihm geben.PST.3SG einen groß Messerstich in den Genick
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
361
para morir de que estuvo von dem sein.PST.3SG zu.PRP sterben.INF (CDE: Garcilaso de la Vega, El Inca, La Florida, 1578) ‘er verpasste ihm einen großen Messerstich ins Genick, an dem er beinahe gestorben wäre.’ Dass die Avertivfunktion der Verbalperiphrasen estar por + Inf. und estar para + Inf. sich diachron später entwickelt als die Avertivfunktion von estar a punto de + Inf. geht mit einem späteren Gebrauch der Verbalperiphrasen in Tempora mit perfektiven Aspekt einher. Bis zum Jahre 1500 ist in dem CDE-Korpus ein ausschließlicher Gebrauch der Verbalperiphrasen estar por + Infinitiv und estar para + Infinitiv in Tempora mit imperfektivem Aspekt verzeichnet, was die in dem synchronen Teil dieser Arbeit aufgestellte These nach der Affinität des Proximativs zu Tempora mit imperfektivem Aspekt und der Affinität des Avertivs zu Tempora mit perfektivem Aspekt auch diachron hinsichtlich des Grammatikalisierungspfades Proximativ > Avertiv verifiziert. Wie die Untersuchung der TAM-Distribution in Tabelle 83 (Seite 362) illustriert, ist die Verbalperiphrase estar para + Inf. erst ab dem 15. Jahrhundert im indefinido (PPS) belegt. Die Verbalperiphrase estar por + Inf. ist im CDE zwar erst ab dem 16. Jahrhundert im indefinido (PPS, pretérito perfecto simple) und pretérito perfecto compuesto (PPC) belegt. Allerdings findet sich im 16. Jahrhundert bereits ein überraschend hoher Gebrauch von 37 Belegen im indefinido, sodass auch ein früheres Auftreten im 15. Jahrhundert in einem anderem Korpus nicht ausgeschlossen wird. Die in Tabelle 84 (Seite 363) illustrierten Daten verifizieren jedoch die Vermutung, dass der imperfektive Gebrauch dem perfektiven Gebrauch der Periphrasen diachron vorausgeht. Der diachron spätere perfektive Gebrauch begünstigt die in dieser Arbeit vertretene Ansicht der späteren Entwicklung der Avertivfunktion aus dem Proximativ. Im Gegensatz zu estar por + Inf. und estar para + Inf. zeigt die auf dem CDEKorpus basierte diachrone Untersuchung der TAM-Distribution von estar PRP punto de + Inf. in Tabelle 85 (Seite 364) analog zum Portugiesischen (cf. Kapitel 4.5.3.2) einen früher einsetzenden und konstanten Gebrauch im indefinido, das zudem das frequenteste Tempus in der Diachronie bis in das Gegenwartsspanische darstellt.252 Neben der qualitativen Untersuchung wird im Folgenden eine quantitative Untersuchung Aufschluss über die Frequenzen der Avertivfunktion der drei Verbalperiphrasen geben.
252 In Analogie sei insbesondere auf unsere durchgeführten Untersuchungen zum Italienischen (cf. Kapitel 4.5.2.2) und Portugiesischen (cf. Kapitel 4.5.3.2) verwiesen.
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Presente
Imperfecto
Gerundio
Infinitivo
Indefinido (PPS)
Imperfecto de subjuntivo (-se)
-ra-Form
Futuro
Futuro de subjuntivo
PPC
Condicional simple
Pluscuamperfecto
Presente de subjuntivo
. Jh.
. Jh.
Estar para + Inf.
Tabelle 83: TAM-Distribution von estar para + Inf. im CDE.
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362 4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
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Presente
Imperfecto
Gerundio
Infinitivo
Indefinido (PPS)
Imperfecto de subjuntivo (-se)
-ra-Form
Futuro
Futuro de subjuntivo
PPC
Condicional simple
Presente de subjuntivo
.Jh.
.Jh.
Estar por + Inf.
Tabelle 84: TAM-Distribution von estar por + Inf. im CDE.
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Jh.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
363
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Presente de subjuntivo
Gerundio
Infinitivo
Indefinido (PPS)
Imperfecto de subjuntivo (-se)
-ra-Form
Futuro
Futuro de subjuntivo
PPC
Condicional simple
Pluscuamperfecto
Pluscuamperfecto de subjuntivo
Imperfecto
Presente
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. Jh.
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Estar PRP punto de + Inf.
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Tabelle 85: TAM-Distribution von estar PRP punto de + Inf. im CDE.
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. Jh.
364 4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
365
3 2
Tokens per million words
4
6
7
6 4
1850
1550
1250
0
0
1
2
Distance in summed standard deviations
8
9
8
Hinsichtlich der Periphrase mit der die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden Präpositionalphrase a punto de setzt die Avertivbedeutung, wie bereits oben gezeigt, bereits im 14. Jahrhundert ein. Die auf dem CDE-Korpus basierte quantitative Untersuchung belegt ein Auftreten der Avertivfunktion von estar a punto de + Infinitiv mit einer relativen Frequenz von 1,77 auf 1.000.000 Token im 14. Jahrhundert. Während in den sich anschließenden vier Jahrhunderten (15.–18. Jahrhundert) noch kein Anstieg der Avertivfunktion belegbar ist, zeigt sich im 19. Jahrhundert ein signifikanter Anstieg der Avertivfunktion. In Abbildung 26 wird die obenstehende Frequenz der
Time Abbildung 26: Relative Frequenz der Avertivfunktion von estar PRP punto de + Inf. in R bei 1.000.000 Token.
366
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Avertivfunktion von estar a punto de + Inf. im CDE bei 1.000.000 Token in R illustriert.253 Im Gegensatz zu der bereits im 14. Jahrhundert belegten Avertivfunktion von estar a punto de + Inf. ist die Avertivfunktion von estar por + Inf. und estar para + Inf. erst ab dem 16. Jahrhundert belegt, wie Tabelle 86 illustriert. Tabelle 86: Distribution der Avertivfunktion der estar-Periphrasen im CDE bei 1.000.000 Token. . Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
Estar PRP punto de + Inf.
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Estar por + Inf.
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Estar para + Inf.
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,
,
AVERTIV
. Jh.
. Jh.
. Jh.
Die Frequenz der Avertivfunktion von estar por + Inf. und estar para + Inf. steigt allerdings nicht, wie für eine Grammatikalisierung zu erwarten wäre, kontinuierlich an, sondern verliert bis zum 20. Jahrhundert hingegen wieder an Frequenz. Estar por + Inf. nimmt nach dem Anstieg im 16. Jahrhundert von 2,11 wieder kontinuierlich ab und ist im 20. Jahrhundert lediglich noch mit einer Frequenz von 0,29 auf 1.000.000 Token belegt, wie die mit R erstellte Abbildung 27 (Seite 367) illustriert. Estar para + Inf. ist im 16. Jahrhundert mit einer Frequenz von 1 auf 1.000.000 Token belegt und steigt bis zum 18. Jahrhundert auf eine Frequenz von 2,44 an. Analog zu estar por + Inf. sinkt allerdings auch die Frequenz von estar para + Inf. bis zum 20. Jahrhundert wieder auf eine Frequenz von 0,1 ab, wie die mit R erstellte Abbildung 28 (Seite 368) illustriert. Die diachron spätere Genese und geringere Beständigkeit der Avertivfunktion von estar por + Inf. und estar para + Inf. liegt in der Spezifikation auf die Imminenz durch die die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückende PP a punto de begründet, die ohne Umwege und sekundäre lexikalische Nebenbedeutungen der Modalität eine direkte Entwicklung von der Imminenz in die Avertivbedeutung ermöglicht.
253 Die nachfolgenden Frequenzdarstellungen werden in «R» in Anlehnung an die Methodik von Hilpert/Gries (2009) illustriert.
1850
1550
1250
0
0.0
0.5
1
Tokens per million words
1
Distance in summed standard deviations 1.0 1.5 2.0
2.5
2
3.0
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
Time Abbildung 27: Relative Frequenz der Avertivfunktion von estar por + Inf. in R.
367
368
1
Tokens per million words
1
2.0 1.5 1.0
1850
1550
1250
0
0.0
0.5
Distance in summed standard deviations
2.5
2
3.0
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Time Abbildung 28: Relative Frequenz der Avertivfunktion von estar para + Inf. in R.
4.5.3.1.2.2 Entwicklung der Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel Wie in Kapitel 3 illustriert, ist der Avertiv mit der Negationspartikel kompatibel, indem die Negationspartikel im Skopus der Verbalperiphrase zur Umkehrung der Polarität (‘p war kurz davor sich nicht zu realisieren, aber hat sich letztlich realisiert’) führt. Die Negationspartikel ist in Verbindung mit dem Avertiv ausschließlich dem Infinitiv vorangestellt.254 Die Kompatibilität des Avertivs mit
254 Ist die Negationspartikel dem Auxiliar hingegen vorangestellt und hat Skopus über die Verbalperiphrase, kommt es neben der eher seltenen Verneinung der proximalen Komponente oftmals zu der in Kapitel 3 beschriebenen modalen Nebenbedeutung, deren Entwicklung bereits in Kapitel 4.5.3.1 dargelegt wurde.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
369
estar por + Inf. und der Negationspartikel lässt sich in den CDE-Belegen ab dem 16. Jahrhundert nachweisen. Die Proposition wird durch die doppelte Negation (¬¬p) positiv und muss im Deutschen und Englischen lexikalisch paraphrasiert werden, wie die folgenden Übersetzungen illustrieren. (445) Kompatibilität der Avertivfunktion mit der Negationspartikel Msp. Admirado quedó don Quijote de la virtud y propiedad de la cabeza, y estuvo por no creer a don Antonio; pero, por ver cuán poco tiempo había para hacer la experiencia, no quiso decirle otra cosa sino que le agradecía el haberle descubierto tan gran secreto. (CORDE: Miguel de Cervantes Saavedra, 1582, Don Quijote de la Mancha, Parte II, Capítulo LXII) Deutsche Übersetzung: beinahe p [Konjunktiv II] ‘Don Quijote staunte ob der zauberischen Kraft und Eigenschaft des Kopfes, und beinahe hätte er Don Antonio keinen Glauben geschenkt; aber da er bedachte, wie wenig Zeit nur noch fehle, um den Versuch anzustellen, wollte er ihm nichts weiter sagen, als daß er ihm dafür danke, ein so großes Geheimnis ihm entdeckt zu haben.’ (MGARCI: Miguel de Cervantes Saavedra, 1582, Don Quijote de la Mancha, Parte II, Capítulo LXII, übers. v. Ludwig Braunfels) Englische Übersetzung: almost didn’t p ‘Don Quixote marveled at the power and properties of the head, and almost didn’t believe don Antonio. But when he saw how little time he had to wait to find out, he decided not to say anything else except to thank him for telling him such a great secret.’ (Cervantes Project, Texas A&M University, Don Quixote, Part I, 1605, and Part II, 1615, English translation by John Ormsby, London, 1885) In der französischen Übersetzung wird zwar nicht auf den zu erwartenden periphrastischen Avertiv (avoir failli + Infinitiv) zurückgegriffen, aber es erfolgt analog zur deutschen und englischen Übersetzung ebenfalls eine lexikalische Paraphrasierung, die neben der aspektuellen Bedeutung auch die modale Bedeutung (in der französischen Übersetzung unter Zuhilfenahme eines Modalverbs) einschließt, was ebenfalls Rückschlüsse zulässt, dass die kontrafaktische Komponente des spanischen Ausdrucks bereits als inhärent empfunden wird.
370
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Französische Übersetzung ‘Don Quichotte fut étrangement surpris de la vertu et des propriétés de la tête, au point qu’il n’en pouvait croire don Antonio. Mais voyant quel peu de temps restait jusqu’à l’expérience à faire, il ne voulut pas lui dire autre chose, sinon qu’il lui savait beaucoup de gré de lui avoir découvert un si grand secret. Ils sortirent de la chambre; don Antonio en ferma la porte à la clef, et ils revinrent dans la salle d’assemblée, où les attendaient les autres gentilshommes, à qui Sancho avait raconté, dans l’intervalle, plusieurs des aventures arrivées à son maître.’ (Miguel de Cervantes Saavedra, 1837, Don Quichotte de la Manche, übers. v. Louis Viardot, Chapitre LXII, p. 643) Neben estar por + Inf. findet sich auch estar para + Inf. in der Avertivfunktion mit der Negationspartikel, die die modale Bedeutung der Konstruktion in den Vordergrund rückt. Das zumindest im CDE-Korpus früheste belegte Beispiel findet sich im 18. Jahrhundert. (446) Kompatibilität der Avertivfunktion von estar para + Inf. mit der Negationspartikel pero habiéndosele respondido que el rey Estanislao había salido secretamente dos días antes sin ser sabedores de cosa ninguna, el general moscovita entró en furor y estuvo para no dar oídos a proposición alguna; volvió a empezar el bombardeo con más viveza que nunca, y según el ímpetu de su cólera parecía quería reducir esta ciudad a cenizas; (CDE: Vicente Bacallar y Sanna, 1700–1746, Comentarios de la guerra de España e historia de su rey Felipe V, El animoso.) Basierend auf den Korpora CORDE und CDE tritt die Periphrase estar a punto de + Infinitiv in Verbindung mit der Negationspartikel no sowohl in der Proximativals auch in der Avertivfunktion ab dem 19. Jahrhundert sowie mit zunehmender Frequenz ab dem 20. Jahrhundert auf. Wie das folgende Beispiel aus dem 19. Jahrhundert illustriert, erlangt der Proximativ Skopus über die Negationspartikel. (447) Kompatibilität des Proximativs mit der Negationspartikel ¡Oh, la decadencia de las mujeres bellas tiene un mérito singular para las almas sensibles! Es el hechizo del otoño con sus celajes rojizos y sus hojas secas que el viento va dejando caer una por una. Nunca es acaso la mujer tan bella como cuando está ya a punto de no serlo. (CORDE: Antonio Cánovas del Castillo, 1852, La campana de Huesca. Crónica del s. XII, España) ‘Niemals ist die Frau vielleicht so schön, wie wenn sie schon kurz davor ist, es nicht mehr zu sein.’
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
371
In dem folgenden Beispiel erlangt hingegen der Avertiv Skopus über die Negationspartikel und darüber hinaus über die iterative Periphrase volver a + Infinitiv. (448) Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel Esto me ha desanimado de tal suerte, que he estado a punto de no volver a escribirlas. (CORDE: Juan Valera, 1877, El comendador Mendoza, España) ‘Dies hat mich derart entmutigt, dass ich ihnen beinahe nicht mehr geschrieben hätte.’ Da in dem CDE-Korpus ausschließlich Beispiele in der Avertivfunktion zu finden sind und dies zu der Annahme verleiten könnte, dass lediglich der Avertiv mit der Negationspartikel kompatibel sei, werden lediglich für die qualitative Untersuchung der Kompatibilität der Proximativfunktion Belege aus beiden Korpora (i.e. sowohl CDE als auch CORDE) angeführt. Bei der Konsultierung beider Korpora finden sich 16 Belege unterschiedlicher Primärquellen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, von denen 4 Belege den Proximativ (alle 4 Belege stammen aus dem CORDE) und 12 Belege die Avertivbedeutung ausdrücken, wie Tabelle 87 illustriert. Tabelle 87: Distribution von estar a punto de NO + Inf. im CORDE und CDE. CORDE
CDE
Proximativ
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/
Avertiv
/
/
Erst unter Hinzunahme beider Korpora, CDE und CORDE, lässt sich sowohl die Kompatibilität des Proximativs mit der Negationspartikel, die ausschließlich im CORDE-Korpus belegt ist, als auch die Kompatibilität der Avertivfunktion mit der Negationspartikel nachweisen. Wie die diachrone Untersuchung in Tabelle 88 illustriert, zeigt sich die Kompatibilität mit der Negationspartikel erstmals ab dem 19. Jahrhundert. Tabelle 88: Diachronie von estar a punto de NO + Inf. im CORDE und CDE. bis . Jh.
. Jh.
. Jh.
Proximativ
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Avertiv
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/
/
372
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Anhand der bereits geringen absoluten Frequenzen, die ebenfalls die Konsultierung weitaus größerer Korpora notwendig machen würden, ergibt sich folgende Tabelle 89, in der lediglich die absoluten Belege eines Korpus, des CDE-Korpus, aufgeführt werden, damit eine relative Betrachtung zu den Verbalperiphrasen estar por + Inf. und estar para + Inf. gewährleistet ist.
Tabelle 89: Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel im CDE. . Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
Estar PRP punto de NO + Inf.
Estar por NO + Inf.
Estar para NO + Inf.
AVERTIV + NEG
Im Folgenden werden das Portugiesische und Galicische kontrastiv zum Spanischen untersucht. 4.5.3.2 Ser- und estar-Periphrasen im Galicischen und Portugiesischen Das Kapitel hat die Entwicklung der STARE-Proximative im Galicischen und Portugiesischen zum Gegenstand (i.e. estar preto/perto de + Inf., estar a ponto de + Inf., estar a piques de + Inf., estar para/por + Inf., etc.), die kontrastiv zum Spanischen betrachtet werden. Neben der Proximativfunktion wird auch die Genese und Entwicklung der Avertivfunktion der Periphrasen in Tempora mit perfektivem Aspekt untersucht, deren fortgeschrittenstes Stadium insbesondere in der konventionalisierten Avertivimplikatur mit prototypischen Achievements ausgedrückt wird (cf. Kapitel 3.2.2). (449) Avertivfunktion der pg. estar-Periphrasen EP/BP Esteve para morrer (#e, de fato, morreu). sein.PST.3SG zu.PRP sterben.INF (#und, von Tat, sterben. PST.3SG) Proximale Komponente: Er war kurz davor zu sterben. Polare Komponente: Er starb nicht. ‘Er wäre beinahe gestorben.’ (#und, in der Tat, starb er.) Dass sich die Avertivimplikatur der drei Verbalperiphrasen im PPS insbesondere in Verbindung mit Achievements konventionalisiert hat, illustrieren zudem diverse Belege der brasilianischen Korpora der Linguateca.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
373
(450) Avertivfunktion der pg. estar-Periphrasen in brasilianischen Korpora BP Com tanta indisciplina, o projeto de união monetária esteve por ruir. (Linguateca: Subcorpus: Todos, Folha de S. Paulo, Câmbio e retórica, 3/12/1996) BP O Bella Vista, inclusive, esteve a ponto de abandonar a competição, devido ao desacerto com os atletas. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) BP Veteranos Mesmo com a pífia campanha da equipe, Dario nem parece o técnico intranquilo e nervoso, que esteve para perder o emprego no mês passado. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) Wie in Kapitel 3.2.2 untersucht, ist eine redundanzlose Verstärkung der polaren Komponente durch den sich anschließenden Adversativsatz möglich, wie das folgende Beispiel des europäischen Portugiesisch aus dem CETEMPúblico-Korpus illustriert. (451) Avertivfunktion von pg. estar para + Inf. mit Adversativsatz EP A série já esteve para estrear, mas depois foi retirada da programação à última hora. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) Im Galicischen werden insbesondere die Verbalperiphrasen estar para + Inf., estar a piques de + Inf. und estar preto ( Proximativ > Avertiv
375
4.5.3.2.1 Genese der Proximativfunktion Im Galicisch-Portugiesischen wird die Imminenz lexikalisch mittels eines Ausdrucks der Nähe (gl. preto ‘nahe’ > pg. perto) inferiert, dem in einem ersten Stadium der Ausdruck der Nähe, wie in folgenden Beispielen in Verbindung mit einem Substantiv, vorangeht. (455) Estar preto de + Substantiv im Galicisch-Portugiesischen (a) h~ua aldea que é preto de Sevilla. (GMHP: Alfonso X, 1221–1284, Cantigas de Santa Maria) (b) Quand’ el diss’ esta paravla, mui preto del Rei estava, (GMHP: Alfonso X, 1221–1284, Cantigas de Santa Maria) In dem sich anschließenden Stadium wird der Ausdruck der Nähe preto (>pg. perto) auf einen durch das Verb ausgedrückten Sachverhalt bezogen, sodass der Proximativ lexikalisch (preto de morrer ‘nahe [daran] zu sterben’) ausgedrückt wird. Der Proximativ drückt Prädiktion bzw. den erwarteten Eintritt der Handlung via einer R-basierten Implikatur (R+> Er wird sterben) aus. (456) Optionale Stellung von estar preto de + Inf. im Galicisch-Portugiesischen (a) Aquest’ om’ está já morto ou mui preto de morrer. (GMHP: Alfonso X, 1221–1284, Cantigas de Santa Maria) ‘Jener Mann ist schon tot oder ist sehr nahe daran zu sterben.’ R+> ‘Er wird sterben’ (b) o que querades per rem entender: Com eu estou muj preto de morrer e muj longi d oyr uosso mandado. Pero [. . .] (GMHP: Fernão Rodrigues de Calheiros, ca. 1252, Cantigas Medievais) ‘ich bin sehr nahe daran, zu sterben.’ R+> ‘Ich werde sterben.’ (c) e que eu sempr(e) andei enganado. E moir’! e pois preto da mort’ estou, muito me praz; que enfadado vou d (João Lopes d’ Ulhoa, 1265–1286, Cantigas Medievais) Mit der Trennung von Galicisch und Portugiesischem kommt es auch zu einer unterschiedlichen Entwicklung von estar preto de + Inf., zumal lediglich das Galicische, im Gegensatz zum Portugiesischen (gl.-pg. preto > pg. perto256), das galicisch-portugiesische preto (gl. ‘nahe’, pg. ‘schwarz’) konserviert, wie die
256 Während das Galicische die Bedeutung ‘nahe’ des galicisch-portugiesischen preto (< gl.pg. apretar < vlat. *appĕctŏrāre) konserviert, vollzieht es im Portugiesischen den Wandel zu perto (‘nahe’, < pg. apertar) und preto (‘schwarz’) bedeutet.
376
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Korpusbeispiele des Gegenwartsgalicischen mit sowohl Substantiv als auch als Infinitivkonstruktion illustrieren. (457) Estar preto de + Substantiv im Gegenwartsgalicischen Gl. (a) No tempo seguinte tratei de reter a Paula máis horas na casa, pero a condanada fuxía sempre que podía e ía e corría a unha granxa que estaba preto da nosa casa. (CORGAetiquetado: Úrsula Heinze, 1984, Remuíños en coiro Metamorfose, España/Galicia) (b) O hotel estaba preto da Place Vendome. (CORGAetiquetado: Ricardo X.Losada, 2005, O xene da chuvia Pont des Arts, España/Galicia) (c) Este establecemento estará pechado ata novo aviso dicía un cartel pegado na porta da carnicería, e iso que estabamos preto das festas do Nadal para as que a xente necesitaba un bo subministro de carne. (CORGAetiquetado: Alfonso Álvarez Cáccamo, 1995, Catapulta Hai que salvar a Toñito, España/Galicia) (d) Tratei de solta-la miña indignación nos que estaban preto de min, gañalos coma cómplices da miña propia impaciencia. (CORGAetiquetado: Úrsula Heinze, 1984, Remuíños en coiro Volva vostede mañá, España/Galicia) (e) ¿Alguén de vostedes estivo tan preto da morte? (CORGA: Roberto Salgueiro, 1996, Todo é horrible, moi horrible e eu tamén, España/Galicia) (458) Estar preto de + Infinitiv im Gegenwartsgalicischen Envolveuse unha outra vez máis nos recordos da memoria e soubo que tivo claro que endexamais estivo tan preto de caer nas mans da Benemérita como aquel día que merendaba no cimal da Besta. (CORGA: Hixinio Puentes, 2000, O bandido Casanova, España/Galicia) Im Gegensatz zum konservativen Galicischen findet sich estar preto de + Infinitiv im Portugiesischen lediglich bis in die CDP-Belege des 15. Jahrhunderts, wie Beispiel (459) illustriert. (459) Estar PRETO de + Inf. im Período pre-classico E, pois virom que nom achavam rem de sûû, partirom-se e filhou cada ûû sa carreira. Galaaz andou pois muitas jornadas que nom achou rem. Uû serão lhi aveo que aventura o levou a ûa capela velha e erma que estava preto de caer. E pois deceu ali por folgar i aquela noite, adormeceu depois que fez sa oraçom. E ele jazendo dormindo ouiu ûa voz que lhi disse: Galaaz, leva-te toste e filha tas armas e cavalga e vai-te ao mar e acharás
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
377
ûa aventura com que te aprazerá muito. (CDP: 1400–1500, A Demanda do Santo Graal, cópia do século XV)257 Neben dem galicisch-portugiesischen preto koexistiert im Portugiesischen des 15. Jahrhunderts bereits perto zum Ausdruck der Nähe, wenn auch zunächst noch in Verbindung mit Substantiven, wie die zwei CDP-Belege der Form estar perto + Substantiv illustrieren. (460) Estar PERTO de + Substantiv im 15. Jahrhundert (a) porë se segue ëxalçalloha antre seos proximos scilicet antre seus sanctos. os quaaes estam perto de deos. que o tal nõ soomëte aproueita a sy. mas aynda aos (CDP: SantaMaria, Evangelhos) (b) e disserom-lhe: Senhor, como vos sentides? E o conde, que estava perto de morte, lhes disse: Quem sodes vós que me preguntades? Nós somos (CDP: CIPM: Demanda) Erstmalig im 16. Jahrhundert ist die portugiesische Infinitivkonstruktion estar perto de + Inf. als Hapax im CDP-Korpus belegt. (461) Estar PERTO de + Inf. im Período classico Que, vindo o Castelhano devastando Às terras sem defesa, esteve perto De destruir-se o Reino totalmente (CDP: Luis de Camões, c. 1524–1580, Obras) Aufgrund der geringen Token im Corpus do Português ist die portugiesische Entwicklung preto > perto lediglich marginal dokumentierbar, sodass wir aufgrund der randständigen Belege ausschließlich die absolute Frequenz in Tabelle 90 anführen können und von relativen Frequenzen absehen müssen. Tabelle 90: Estar perto ( Proximativ > Avertiv
Tabelle 91: Estar PRP ponto de + Inf. im CDP. . Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
Estar em ponto de + Inf.
Estar a ponto de + Inf.
Absolute Frequenz
Der bereits für das Spanische aufgezeigte Abbau von sp. ser en/a punto de + Inf. (pg. ser em/a ponto de + Inf..) zugunsten von sp. estar en/a punto de + Inf. (pg. estar em/a ponto de + Inf.) lässt sich auf der Basis des kleineren CDPKorpus nur randständig in Tabelle 92 für das Portugiesische dokumentieren, sodass lediglich noch ein brauchbarer Beleg (cf. Beispiel 464) aus dem 15. Jahrhundert von ser PRP ponto de + Inf. angeführt werden kann. (464) Ser a ponto de + Inf. im 15. Jahrhundert e he tam forte e tam noble que, quando o castello do coraçom treme e he a ponto de cair ou que os imiigos sam entrados per algûu maao conssintimento ou per pecado (CDP: Castelo Perigoso, século XV) Tabelle 92: Absolute Frequenz von ser (em/a) ponto de + Inf. und estar (em/a) ponto de + Inf.. . Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
ser PRP ponto de + Inf.
estar PRP ponto de + Inf.
Absolute Frequenz
Im CIPM-Korpus finden sich allerdings auch weitere bereits zu erwartende Beispiele mit ser em ponto de + Inf., wie das folgende Beispiel illustriert. (465) Ser em ponto de + Inf. im 15. Jahrhundert Ora – disse elle – dom P(edr)o amigo, eu som em ponto de me tornar pera meu rregno & de vos leixar em esta çidade, em que fica muy gramde p(ar)te de minha homrra, & vos tenho ordenados, pera vos ajudarem a soportar vosso emcarrego, aaquelles fidallgos & gemtes que semty que vos compria, dos quais eu comfio tamto que me servira~ ((p035)) com tamta bo~a vomtade como elles poderem. (CIPM: Crónica do Conde D. Pedro de Meneses, século XV)
380
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Neben den die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden Periphrasen estar a ponto de + Inf., estar preto/perto de + Inf. oder gl. estar a piques de + Inf., die eine geringere Periphrastizität der Imminenz nicht zuletzt aufgrund der Ableitbarkeit ihrer Bedeutung der sie bildenden Elemente sowie aufgrund der Trennbarkeit ihrer Glieder aufweisen, (466) Trennbarkeit der Glieder Gl. O cura, que co espanto non morreu pero estivo a piques, antes de caer sobre o cadaleito que abandonara Don Quixote, soltou o incensario que, coa inercia, foi polo aire cara á xente espallando tódalas brasas para rebotar no chan. (CORGA: Lalo Vázquez Xil, 1996, A da alba sería, España/Galicia) sind die Entwicklungen der Verbalperiphrasen estar por + Inf. und estar para + Inf. analog zum Spanischen entsprechend gesondert zu betrachten. Hinsichtlich der Periphrase estar por + Infinitiv wird analog zur Untersuchung des Spanischen die galicisch-portugiesische Periphrase ser por + Infinitiv mit in die Untersuchung einbezogen. Analog zum Altspanischen wird die These belegt, dass die Auxiliarvariation der Verbalperiphrasen ser por + Inf. und estar por + Inf. im Galicischen-Portugiesischen noch von ser dominiert wird. Erst im 17. Jahrhundert dominiert die Periphrase estar por + Inf. auch im Portugiesischen gegenüber ser por + Inf., wie die folgende auf dem CDPKorpus basierende Untersuchung in Tabelle 93 und Abbildung 29 (Seite 381) illustriert. Tabelle 93: Absolute und relative Frequenz von ser por + Inf. und estar por + Inf. im CDP. . Jh.
Paradigmaa Absolute Frequenz
Relative Frequenz a
Ser por + Inf.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
() () ()
()
()
()
()
Estar por + Inf.
() () () ()
() () ()
Ser por + Inf.
,
,
,
,
,
Estar por + Inf.
,
,
,
,
,
,
,
Das Paradigma bezieht sich auf das zur Verbalperiphrase gehörende Paradigma. Die Belege, die auf die lexikalische Bedeutung der Elemente zum Ausdruck der Finalität referieren, werden entsprechend aus der Untersuchung ausgeklammert.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
381
18 16.34
16 14 12 10
11.72 9.88 8.57
8 6
5.56
4 2 0
1.52
Ser por + Inf. Estar por + Inf.
4.4 0.59
4.19 2.24
2.5
0
0.2
0
Abbildung 29: Distribution der relativen Frequenz von ser por + Inf. und estar por + Inf. im CDP.
Analog zu dem bereits für die spanische Verbalperiphrase estar por + Infinitiv gezeigten Grammatikalisierungspfad Prospektiv > Imminenz (Spezifizierung), ist dieser Pfad ebenfalls für die portugiesische Verbalperiphrase estar por + Infinitiv (< ser por + Infinitiv) zu verifizieren. Die diachron früher einsetzende Verbalperiphrase ser por + Infinitiv wird, analog zum Spanischen, zunächst neben einer lexikalischen Bedeutung der Finalität, bereits in Verbindung mit dem venitiven Verb vir (‘kommen’) gebraucht, das entsprechend die prospektive Bedeutung lexikalisch unterstützt. (467) Ser por vir (a) Antenor qual segurãça et qual fiança oiemais podemos auer en uós! Eýnda he por vïjnr, et quiçays nõ tardará longo tenpo, o que uoso coraçõ deseia et (CDP: Cronica Troyana) (b) mas livra-nos de mal, de todo mal, [. . .] Ou: de aber befreie-uns von Bösem von allem Bösem Oder von todo mal, passado, presente e que allem Bösen Vergangenem Gegenwärtigem und was he por vir. (CDP: Livro de vita Christi, 1446) sein.PRS.3SG zu.PRP kommen.INF ‘aber befreie uns von Bösem, von allem Bösen [. . .]. Oder: von allem Bösen, Vergangenem, Gegenwärtigem und dem, was kommen wird.’
382
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(468) Estar por vir im 15. und 16. Jahrhundert (a) lhes muytas vezes nam fiqua que comer e assy perdem a sementeira e noujdade que estaa por vïjr e conpasando vossa alteza vossa cassa seraa enxenpro a vossos moradores e cortessaãos (CDP: Manuel, 1498) (b) discípulos: «Não convém a vós outros saber o que está por vir, porque isso pertence à omnipotência do Padre.» (GMHP: Gil Vicente, 1503–1536) (c) Com doce voz está subindo ao Céu Altos varões que estão por vir ao mundo, Cujas claras Ideias viu Proteu Num globo vão, diáfano, rotundo, Que Júpiter em dom lho concedeu Em sonhos, e despois no Reino fundo, Vaticinando, o disse, e na memória Recolheu logo a Ninfa a clara história. (COLONIA: Luis de Camoes, 1572, Os Lusíadas) (d) AMADOR: Quem enfermo for d’amor, como eu contino são, faça autos de cristão, confesse-se, tome o Senhor, pois tem a morte na mão. E pera tão prestes partir, ande tão triste como ando, desejando a pena que está por vir. Quem quiser vida serena nunca queira o que queria, porque das horas do dia a que me dá maior pena me traz maior alegria. (COLONIA: Gil Vicente, 16. Jh., Mixed Texts) Analog zum Altspanischen werden sowohl ser por + Inf. als auch estar por + Inf. noch von der Verbindung mit vir (‘kommen’) dominiert. Tabelle 94 und Abbildung 30 (Seite 383) illustrieren die prozentuale Distribution mit vir (‘kommen’) in den einzelnen Jahrhunderten. Während ser por + Inf. insbesondere im 15. Jahrhundert zu 36,17% mit vir (‘kommen’) auftritt, zeigt estar por + Inf. bereits ab dem 15. Jahrhundert einen kontinuierlich dominanten Gebrauch von vir, der erst ab dem 19. Jahrhundert durch den zunehmenden Gebrauch mit anderen Verben in infiniter Form relativiert wird. Tabelle 94: Prozentuale Distribution von ser por vir und estar por vir im CDP.
Ser por + vir Estar por + vir
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
,%
,%
,%
%
%
%
%
%
,%
,%
,%
%
%
%
Im Gegensatz zu der Signifikanz von vir innerhalb der paradigmatischen Entwicklung der Periphrase estar por + Inf. weist die Entwicklung der portugiesischen Periphrase estar para + Infinitiv, in Analogie zur spanischen
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
383
90.00% 80.00%
80.00% 70.00% 60.00%
53.33% 47.37%
50.00% 40.00%
50.00% 31.25%
30.00% 20.00% 10.00% 0.00%
Ser por + vir
36.17% 23.00%
Estar por + vir
7.69% 0.00%
3.85%
0.00% 0.00% 0.00%
Abbildung 30: Prozentuale Distribution von ser por vir und estar por vir im CDP.
Periphrase estar para + Inf., keinerlei Signifikanz des Verbs vir (‘kommen’) auf. Lediglich estar por + Inf. wird zu Beginn noch lexikalisch durch vir unterstützt, bevor es zur Spezifizierung der Imminenz kommt. Die R-basierte Implikatur des Eintrittes von p wird noch nicht durch Adversativsätze aufgehoben, die die Avertivbedeutung entsprechend implikatieren würden. Analog zum Spanischen ist auch für das Portugiesische der Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ auszuschließen. Inwiefern und in welcher Quantität der Proximativ die Avertivfunktion entwickeln kann, ist Gegenstand des folgenden Kapitels. 4.5.3.2.2 Genese der Avertivfunktion 4.5.3.2.2.1 Proximativ > Avertiv Analog zur spanischen Periphrase estar a punto de + Inf. weist die portugiesische Periphrase estar a ponto de ( Proximativ > Avertiv
385
Wie bereits im Altsardischen (cf. Kapitel 4.5.2.1) und Altspanischen (cf. Kapitel 4.5.3.1) aufgezeigt wurde, steht das Auxiliar zu Beginn oftmals noch im Gerundium. Die polare Komponente der Avertivbedeutung wird noch kontextuell ausgedrückt (+> Er ist nicht losgegangen.), wie am Beispiel des Inzidenzschemas Estando para partir, chegou Fernam dAndrade com carta del Rey (‘Er war kurz davor loszugehen, als Fernam dAndrade mit einem Brief des König kam.’ +> Er ist nicht losgegangen.) illustriert wurde. Eine zunehmende Konventionalisierung der polaren Komponente finden wir zumindest in den Belegen des CDPKorpus und der Korpora der GMHP erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts (período moderno). (472) Avertiv mit estar para + Inf. im PPS im 17. Jahrhundert despois de bem açoutado, & pingado com huas nach von gut auspeitschen.PTCP und tropfen.PTCP mit einigen torcidas de azeite, de que esteue para Tropfen von Olivenöl von denen sein.PST.3SG zu.PRP morrer, (CDP: Fernão Mendes Pinto, 1603, Peregrinação) sterben.INF ‘nachdem er gut ausgepeitscht und mit einigen Tropfen Olivenöl betropft wurde, an denen er beinahe gestorben wäre’ Im Gegensatz zu estar para + Inf. finden wir vor dem 19. Jahrhundert noch keine Belege von estar por + Inf. mit Avertivfunktion. Die Verbalperiphrase estar por + Inf. im PPS ist lediglich mit implikatierter Prädiktion belegt, wie das folgende Beispiel aus dem 15. Jahrhundert illustriert. (473) Estar por + Inf. im PPS mit implikatierter Prädiktion im 15. Jahrhundert E Galaaz, que cuidou que era morto, esteve por veer se se erguiria. (CDP: CIPM, 1400–1499, A Demanda do Santa Graal) Der erste Beleg von estar por + Inf. mit Avertivfunktion findet sich sowohl im CDP als auch im GMHP erstmals im 19. Jahrhundert bei Aluísio Azevedo. (474) Estar por + Inf. im PPS mit Avertivfunktion im 19. Jahrhundert Dizia o número da casa e o nome da rua. A pobre mãe esteve por perder a cabeça. Pois seria concebível que Ambrosina lhe fugisse, daquela forma, de casa?!. . . (CDP: Aluísio Azevedo, 1882, Memórias de um condenado)
386
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Neben estar por + Inf. ist auch estar a pique(s) de + Inf. erst ab dem 19. Jahrhundert im CDP belegt. Während im 17. und 18. Jahrhundert keine CDP-Belege von estar a pique(s) + Inf. zu finden sind, finden sich im 19. Jahrhundert 15 CDP-Belege von estar a piques, von denen 12 Belege in Form der Infinitivkonstruktion estar a piques de + Inf. auftreten. Auffällig ist, dass alle 15 Gesamtbelege (i.e. die genannten 12 Belege mit Infinitiv sowie 3 Belege mit Substantiv) bereits in Vergangenheitstempora stehen: 11 Belege im PPS, 1 Beleg im pretérito mais-que-perfeito simples bzw. der -ra-Form, 2 Belege im imperfeito (mit Substantiv) und 1 Beleg im pretérito mais-que-perfeito composto («tinham estado a pique de o perder»). Sowohl das Vorstadium in Verbindung mit dem Substantiv als auch die anschließenden Infinitivkonstruktionen können bereits die Avertivbedeutung implikatieren. (475) Avertivbedeutung von pg. estar a pique de + Substantiv im 19. Jahrhundert Aponte-se um exemplo. Em 1841 a República estava a pique das maiores catástrofes. (CDP: Euclides da Cunha, À Margem da História, Brasil) In den CDP-Belegen des 19. Jahrhunderts finden wir die Konstruktion als Infinitivperiphrase, bei der vermehrt Avertivbeispiele mit Adversativsatz auftreten. (476) Avertivbedeutung mit Adversativsatz im 19. Jahrhundert (a) o mesmo ar d princípio, meio subserviente, meio velhaco. Rubião esteve a pique de o interrogar, mas recuou a tempo. Foi o outro que reatou a (CDP: Machado de Assis, c. 1886–1891, Quincas Borba, Brasil) (b) Esteve a pique de revelar-lhe o descobrimento do dinheiro; mas, por um justo egoísmo, desejava reservar para si, exclusivamente, a caridosa iniciativa da libertação do prisioneiro, se bem que não houvesse ainda atinado como tirar partido do que vira, ou tornar valioso o seu testemunho único, porque não ousara verificar se a bolsa ficara no lugar onde Crapiúna a escondera. (CDP: Domingos Olímpio, Luzia-Homem, Capítulo XVIII, Brasil) Es zeigen sich allerdings auch bereits Avertivbeispiele ohne Bindung an den Adversativsatz, wie der folgende Beleg aus dem brasilianischen Portugiesisch illustriert. (477) Avertivbedeutung ohne Adversativsatz im 19. Jahrhundert se houvessem de consultar só a razão, e mais de uma vez estiveram a pique de o fazer; raro lampejo, que para logo desaparecia. A ausência era (CDP: Machado de Assis, c. 1899, Esaú e Jacó, Brasil)
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
387
Im 20. Jahrhundert finden sich sowohl im Galicischen als auch im Portugiesischen Avertivbeispiele. Im Galicischen drückt estar a piques de + Inf. sowohl im PPS als auch im Plusquamperfekt die Avertivbedeutung aus. Die folgenden Belege aus dem CORGA-Korpus illustrieren die Avertivbedeutung von gl. estar a piques de + Inf. im PPS. (478) Avertivbedeutung von gl. estar a piques de + Inf. im PPS Gl. (a) Blas sorriu para si e, xa que non podía responder que outra, estivo a piques de dicir: ¡Compañía! Pero tan só respondeu: [. . .] (CORGA: Alfredo Conde, 1995, Sempre me matan, España/Galicia) (b) Pasados trinta segundos, o malfadado escoitou un berro xordo, como de alegría, que proviña de todos os andares do edificio, e pouco despois unha chuvia de patacas que celebraba con euforia o paradón que realizara o gardameta do equipo preferido rebotou na rúa, preto dos seus pés e nas pólas das árbores e deprimiu tanto o seu ánimo que o salvador de criaturas estúpidas estivo a piques de abandonar o barrio. (CORGA: Alfonso Álvarez Cáccamo, 1993, Xente de mala morte. Na corda frouxa, Editorial Galaxia, España/Galicia) Dass die Avertivbedeutung von gl. estar a piques de + Inf. zudem im Plusquamperfekt belegt ist, illustrieren die folgenden Beispiele des CORGA-Korpus. (479) Avertivbedeutung von estar a piques de + Inf. im Plusquamperfekt Gl. (a) Pero Daniel Linde ficou pensando en que razóns tiña el para fiarse de Mira, un tafur, un aventureiro que, con toda posibilidade, estivera a piques de metelo nun bo fregado, cando aínda non estaba claro de todo que non volvese a tencionar metelo. (CORGA: Ramiro Fonte, 1993, Os leopardos da lúa. Unha traxedia particular, España/ Galicia) (b) Estivera a piques de ver como Estrela desaparecía para sempre, pero a sorte devolvéralle unha nova cita. (CORGA: Ramiro Fonte, 1993, Os leopardos da lúa. Unha traxedia particular, España/ Galicia) Im Portugiesischen finden sich auf der Grundlage des CDP-Korpus lediglich zwei Belege der Periphrase estar a pique de + Inf. im 20. Jahrhundert, von denen ein Beleg aus dem europäischen Portugiesisch (im PPS) und ein Beleg aus dem brasilianischen Portugiesisch (im imperfeito) stammt.
388
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(480) Estar a pique de + Substantiv/Infinitiv im 20. Jahrhundert BP (a) quanto os maculasse com um leve traço da vaidade. Todas as fortunas estavam a pique da catástrofe iminente e fora temeridade inútil conservá-las. Que abdicassem as venturas mais fugazes (CDP: Euclides da Cunha, 1902, Os Sertões, Brasil) EP (b) «[. . .] Fonseca-das-barbas», nesse capítulo, dava-se por vencido. Mais tarde, esteve a pique de se despedir da Viúva Reis por causa de uns tabefes dados num aprendiz. (CDP: Alexandre Cabral, 1961, Margem Norte, Portugal) Um die Repräsentativität der Beispiele zu erhöhen, wird daher auf größere Referenzkorpora der Linguateca, wie das CETEMPúblico für das europäische Portugiesisch und das Corpus Brasileiro für das brasilianische Portugiesisch, zurückgegriffen. Während sich im europäischen Portugiesisch auf der Grundlage des Korpus CETEMPúblico kein einziger Beleg mehr der Periphrase estar a pique de + Inf. findet, ist die Periphrase aus dem Galicisch-Portugiesischen konserviert worden und weist im Corpus Brasileiro zumindest 38 Belege auf, von denen 27 Belege (71,05%) die Avertivlesart enthalten (cf. Tabelle 95, Seite 389). Mit 71,05% Avertivlesart (27 / 38 Belegen) der Periphrase ist die Avertivbedeutung keine sekundäre Nebenbedeutung, sondern ebenfalls als grundlegende Bedeutung der Konstruktion zu betrachten. Die Konstruktionen mit lexikalischer PP, wie a pique(s) de und a ponto de weisen analog zum Spanischen (cf. sp. estar a punto de + Inf. in Kapitel 4.5.3.1) und den italoromanischen Sprachen (cf. besonders die Entwicklung von essere sul punto di + Inf. in Kapitel 4.5.2.2) eine vergleichsweise stärkere Avertivfrequenz gegenüber estar por + Inf. und estar para + Inf. im Gegenwartsportugiesischen auf. Diese stärkere Avertivfrequenz geht mit einer früheren Avertiventwicklung einher. Analog zum Spanischen entwickelt sich die Avertivfunktion von estar a ponto de + Inf. diachron früher als die Avertivfunktion von estar por + Inf. und estar para + Inf.. Die spätere Avertiventwicklung von estar para + Inf. und estar por + Inf. geht analog zum Spanischen mit einem späteren Gebrauch der Verbalperiphrasen in Tempora mit perfektiven Aspekt einher. Die Entwicklung der TAM-Distribution von estar PRP ponto de + Inf. zeigt in Analogie zum Spanischen (cf. Kapitel 4.5.3.1) von Beginn an einen konstanten Gebrauch im PPS (pretérito perfeito simples) auf, der sogar im 19. Jahrhundert mit 27 / 47 Belegen als frequenteste TAM-Affinität signifikant ist (cf. Tabelle 96, Seite 390).
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
389
Tabelle 95: TAM-Distribution von estar a pique de + Inf. im EP und BP im 20. Jahrhundert. Estar a pique de + Inf.
Gesamt
Europäisches Portugiesisch CETEMPúblico
Brasilianisches Portugiesisch Corpus Brasileiro
Presente
—
Imperfeito
—
PPS
—
Infinitivo
—
Imperfeito do subjuntivo
—
Mais-que-perfeito simples (-ra)
—
Für die Untersuchung der TAM-Distribution im 20. Jahrhundert wird für das europäische Portugiesisch das Zeitungskorpus CETEMPúblico (190.000.000 Token) und für das brasilianische Portugiesisch das Corpus Brasileiro (989.012.584 Token) der Linguateca hinzugezogen. Wie Tabelle 97 (Seite 391) illustriert, zeigt sich die Periphrase estar a ponto de + Inf. auch im PPS zahlreich gegenüber estar por/para + Inf. Analog zu unseren Untersuchungen des Italienischen (cf. Kapitel 4.5.2.2) und Spanischen (cf. Kapitel 4.5.3.1) zeigt sich eine deutlich höhere Affinität der Periphrase mit der die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden PP (sp. a punto de/it. sul punto di/pg. a ponto de) zum synthetischen Perfekt (sp. pretérito perfecto simple/indefinido, it. passato remoto, pg. pretérito perfeito simples), was auch mit einem stärkeren Gebrauch der Avertivfunktion einhergeht, als es bei den Periphrasen estar por + Inf. und estar para + Inf. der Fall ist. Die in Tabelle 98 (Seite 393) illustrierte diachrone Untersuchung der TAMDistribution von estar para + Inf. auf der Basis des CDP-Korpus ergibt eine bis zum 17. Jahrhundert anhaltende Affinität zum imperfecto. Ab dem 17. Jahrhundert tritt die Verbalperiphrase auch vermehrt in dem PPS auf, was die Entstehung der Avertivfunktion begünstigt. Im Gegensatz zu estar para + Inf. weist die in Tabelle 99 (Seite 393) illustrierte TAM-Distribution der Verbalperiphrase estar por + Inf. lediglich (zumindest im CDP-Korpus) 4 Belege im PPS auf, von denen 2 Belege bereits aus dem 15. Jahrhundert stammen.
390
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 96: TAM-Distribution von estar PRP ponto de + Inf. im CDP. . Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
—
/
—
—
—
/
/
/
/
/
/
—
/
/
Gerúndio
—
—
—
—
—
—
/
-ra-Form
—
/
—
—
–
/
—
/
—
/
/
—
/
/
Imperfeito do subjuntivo
—
—
—
—
—
/
—
Perfeito
—
—
—
—
—
/
—
Infinitivo
—
—
—
—
—
/
—
Condicional
—
—
—
—
—
—
/
Estar a ponto de + Inf. Presente Imperfeito
PPS
Da in dem 20. Jahrhundert kein einziger Beleg der Verbalperiphrase estar por + Inf. im PPS im CDP-Korpus zu finden ist, werden weitere größere Referenzkorpora des europäischen und brasilianischen Portugiesisch zur Verifizierung des lediglich marginalen Gebrauchs konsultiert. Für den europäisch-portugiesischen Gebrauch von estar por + Inf. im PPS konsultieren wir das Zeitungskorpus CETEMPúblico (191.274.451 Token, Jahre 1991–1998), das allerdings von den rund 1491 Belegen der Periphrase estar por + Inf. ebenfalls lediglich 2 Belege im PPS (beide esteve por + Inf.) mit R-basierter Implikatur von p enthält. (481) Estar [PPS] por + Inf. im CETEMPúblico EP (a) Acontece porém que a origem do pinhal bravo em Portugal esteve por esclarecer até agora. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) EP (b) Com a vitória conseguiu uma margem de segurança ainda maior, distanciando-se largamente dos mais próximos no «ranking» nacional, o que não sucedeu no ano passado, quando tudo esteve por decidir até ao último dia. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal)
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
391
Tabelle 97: TAM-Distribution von estar a ponto de + Inf. im EP und BP im 20. Jahrhundert. Estar a ponto de + Inf.
Europäisches Portugiesisch CETEMPúblico
Brasilianisches Portugiesisch Corpus Brasileiro
Gesamt
Presente
Imperfeito PPS Infinitivo
Imperfeito do subjuntivo
—
Condicional simple
—
Presente do subjuntivo
Futuro do subjuntivo
—
Gerúndio
—
Mais-que-perfeito composto (mit ter)
—
Mais-que-perfeito composto (mit haver)
—
Mais-que-perfeito simples (-ra)
—
Futuro
—
Das Corpus Brasileiro v. 2.3 (989.012.584 Token) weist von den 2599 brasilianischen Belegen der Verbalperiphrase estar por + Inf. ebenfalls lediglich 10 Belege im PPS auf, die sowohl die R-basierte Implikatur von p als auch die kontrafaktische Implikatur enthalten. (482) Estar [PPS] por + Inf. im Corpus Brasileiro BP (a) Esse foi o aspecto mais polêmico quando a mostra esteve por ser exibida nos Estados Unidos. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) (b) O time esteve por marcar aos 24 min, quando o volante Mancuso acertou um chute no travessão. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) (c) Feminino Horas antes da virada do masculino, o mesmo esteve por acontecer com a dupla Mônica Paludo e Adriana Bento. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) (d) Com tanta indisciplina, o projeto de união monetária esteve por ruir. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil)
392
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(e) Fosse como fosse, antecipara quase tudo que esteve por acontecer enquanto se manteve engajada em sua arte. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) (f) O extraordinário esteve por acontecer duas vezes nos últimos minutos. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) (g) Roth esteve por cair, chamado de «burro» por torcedores. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) (h) Idealizado para controle ostensivo da Amazônia brasileira, o Sivam seria apenas a quarta etapa do Projeto Cindacta12 se o monitoramento da região amazônica não envolvesse questões políticas e estratégicas importantes como a vigilância ambiental (biotecnologia), a repressão ao narcotráfico e a possibilidade de concretização da posse definitiva do Estado brasileiro sobre um imenso território que sempre esteve por ser de fato conquistado. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) (i) Segundo frei Vicente do Salvador, os franceses chegaram ao Rio de Janeiro no ano de 1556, terra que «esteve por povoar até que Nicolau Villaganhon, homem nobre de França e cavaleiro do hábito de São João», fortificou-lhe a entrada, \\ «solicitou o gentio e fez liga e amizade com eles. [. . .]» (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) (j) Era um banco forte, seguidas vezes esteve por falir, mas foi sustentado pela economia maranhense. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) Analog zur Diachronie des Spanischen entstehen die Avertivimplikaturen von estar a ponto de + Inf., estar por + Inf. und estar para + Inf. diachron später als der Proximativ mit implikatierter Prädiktion. Hinsichtlich der Entwicklung der Avertivfunktion wird im Folgenden noch ein Hinweis zur relativen Frequenz der Konstruktionen gegeben. Die Frequenz der Avertivfunktion von estar para + Inf. nimmt ab dem ersten Auftreten des Avertivs im 17. Jahrhundert kontinuierlich in den CDPBelegen zu, bevor sie in dem 20. Jahrhundert unter Betrachtung der relativen Frequenz wieder geringfügig abnimmt, wie Tabelle 100 (Seite 394) und Abbildung 31 (Seite 394) illustrieren. Die Avertivfunktion von estar para + Inf. ist zumindest im CDP zwar erst ab dem 17. Jahrhundert belegt, dennoch entwickelt auch das sich trennende Galicische die Avertivfunktion von estar para + Inf., die bis in das Gegenwartsgalicische (cf. Beispiele 483, Seite 395) erhalten bleibt.
393
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
Tabelle 98: TAM-Distribution von estar para + Inf. im CDP. Estar para + Inf.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
Presente
—
—
/
/
/
/
/
Imperfeito
—
/
/
/
/
/
/
Gerúndio
—
/
/
/
/
/
/
PPS
—
—
—
/
/
/
/
Presente do subjuntivo
—
—
—
/
—
—
—
Imperfeito do subjuntivo
—
—
—
—
/
/
/
Futuro
—
—
—
—
—
—
/
Futuro do subjuntivo
—
—
—
—
—
/
/
Infinitivo
—
—
/
/
/
/
/ /
Condicional
—
—
—
—
/
—
Pretérito perfeito
—
—
—
—
—
/
/
Mais-que-perfeito composto (mit ter)
—
—
—
—
—
/
/
Mais-que-perfeito composto (mit haver)
—
—
—
—
—
—
/
Tabelle 99: TAM-Distribution von estar por + Inf. im CDP. Estar por + Inf. Presente Imperfeito Gerúndio PPS
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
/
/
/
/
/
/
/
—
/
/
/
—
/
/
/
—
—
—
—
—
—
—
/
—
—
—
/
—
Presente do subjuntivo
—
—
/
—
—
—
/
Imperfeito do subjuntivo
—
—
/
—
—-
—
—
Futuro do indicativo
—
—
—
/
—
—
—
Futuro do subjuntivo
—
—
—
—
—
/
—
Infinitivo
—
—
—
—
—
—
/
Condicional
—
—
—
—
—
—
/
394
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 100: Distribution der Avertivfunktion der estar-Infinitivperiphrasen im CDP bei 1.000.000 Token. Avertiv
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
. Jh.
,
,
,
,
1
Tokens per million words
2
2.0 1.5 1.0
1850
1550
1250
0
0.0
0.5
Distance in summed standard deviations
2.5
3
3.0
Estar para + Inf.
. Jh.
Time Abbildung 31: Relative Frequenz der Avertivfunktion von estar para + Inf. in R.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
395
(483) Avertiv mit estar [PPS] para + Inf. im Galicischen Gl. (a) Un ano desque cheguei. ¿Estiven para agardar ou fuxir? Era un lugar absurdo para as dúas cousas. (CORGA: David Pérez Iglesias, 1993, Estación Término Georgette, Relato curto, España/Galicia) (b) Estiven para preguntar se Anxo non tiña que facer nada, pero sabía que era mellor calar. (CORGA: Miguel Suárez Abel, 1987, Premios Pedrón de Ouro 1985/1986 A alemana, Relato curto, España/ Galicia) (c) Tamén o avó Paco e mais a avoa Andrea estiveran para vir, pero cambiaran de idea a última hora; seica a avoa explicara que ía demasiado frío, non daba parado de chover e, ademais, levaba un par de días pouco católica, tusía, espirraba e acaso poida que tivese incluso unhas décimas. (CORGA: Xosé Ramón Pena, 1997, A era de Acuario, España/Galicia) (d) ¿Non me digades que non vos acorda o día aquel que estivemos para ir ao barrio? (CORGA: Xosé Ramón Pena, 1997, A era de Acuario, España/Galicia) (e) Nun intre lembrou o medo de cando o fouciño fervente o ameazaba diante dos ollos. Estivo para fuxir correndo. Pero de súpeto, coma un resplandor, vi [. . .] (CORGA: Miguel Suárez Abel, 1994, Selva negra, España/Galicia) In vergleichender Betrachtung der drei portugiesischen Verbalperiphrasen untereinander ist die Avertivfunktion von estar a ponto de + Inf. und estar para + Inf. deutlich stärker ausgeprägt als die sowohl im CDPKorpus als auch in den oben angeführten größeren Korpora der Linguateca (CETEMPúblico und Corpus Brasileiro) lediglich marginal belegte Avertivfunktion von estar por + Inf. Zur Übersicht seien in Tabelle 101 (Seite 396) die CDP-Belege der Avertivfunktion der drei Konstruktionen einander gegenübergestellt. Um die Grammatikalisierungsgrade der nachweislich frequenteren Periphrasen im Hinblick auf ihre jeweilige Konventionalisierung der Avertivimplikatur noch differenzierter betrachten zu können, wird im Folgenden noch das Stadium der Kompatibilität mit der Negationspartikel untersucht.
396
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 101: Distribution der Avertivfunktion der STARE-Periphrasen im CDP. . Jh. .Jh. .Jh.
Portugiesisch Absolute Frequenza
Relative Frequenz (.. Token)b
. Jh. .Jh. /
.Jh.
.Jh.
.Jh.
/
/
/
/
estar PRP ponto de + Inf.
/
/
/
estar para + Inf.
/
/
/
/ /
/
/
/
estar por + Inf.
/
/ /
/ /
/
/
/
estar PRP ponto de + Inf.
,
,
,
estar para + Inf.
,
,
,
,
estar por + Inf.
,
a Die absolute Frequenz bezieht sich auf die Anzahl der Korpusbelege mit unveränderter Tokengröße der einzelnen Jahrhunderte im CDP-Korpus. b Da die jeweilige Tokengröße der einzelnen Jahrhunderte unterschiedlich ist, wird neben der absoluten Frequenz jeweils die relative Frequenz ermittelt. Relative Frequenz bedeutet, dass die Belege aus den unterschiedlichen Korpusgrößen der Jahrhunderte jeweils in Relation zu 1.000.000 Token umgerechnet werden, damit eine Vergleichbarkeit der Daten aus den unterschiedlichen Jahrhunderten gewährleistet ist und ein Anstieg oder Abfall nicht etwa auf unterschiedliche Korpusgrößen zurückzuführen ist.
4.5.3.2.2.2 Entwicklung der Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel Wie in den Kapiteln 3.2, 4.3 und 4.6 erläutert, entwickelt sich nach zunehmender Konventionalisierung der Avertivimplikatur eine Kompatibilität mit der Negationspartikel, indem die Negationspartikel im Skopus der Periphrase die Polarität umkehrt (was on the verge of not taking place but did take place). Bevor es zu dieser Kompatibilität kommt, ist die Periphrase estar para + Inf. im Skopus der Negationspartikel não im CDP ab dem 16. Jahrhundert belegt und zeigt sowohl die überwiegende und typische Inferenzziehung der modalen Nebenbedeutung auf als auch die Kompatibilität mit der aspektuellen Bedeutung (i.e. des Proximativs) mit der Negationspartikel.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
397
(484) Modale Nebenbedeutung von pg. não estar para + Inf. Pg. aquele destroço, porque não auia em que pór os olhos, E porque não estaua para nauegar, lhe deu algûs pedaços de entena E algûas cordas com que fez (CDP: Diogo do Couto, c. 1600–1699, Decada 8) (485) Proximativ não estar para + Inf. Pg. (a) elles com muitos mantimentos e do mais necessario para o junco. Mas como não estava para poder navegar, nem tinhão já tempo para poderem hir para a parte de (CDP: Luís Fróis, c. 1500–1599) (b) Fugite, encantadores! Que me quereis? Não me fecheis os olhos, que ainda não estou para morrer. Mecenas. Cale-se aí! (COLONIA: Antonio José da Silva, 1738, Precipício de Faetonte,) (486) Modale Nebenbedeutung von gl. não estar para + Inf. Gl. Para cando lles chegue esta carta xa terán feito a malla do trigo, casa por casa, e aínda que eu non estivese para axudar aos outros, coido que serían quen de lles ir axudar a vostedes. (CORGA: Bernardo Máiz, 1994, Nautilus 1892–94, España/Galicia) Die Kompatibilität der Avertivbedeutung mit der Negationspartikel não in der Diachronie des Portugiesischen ist auf der Basis des CDP-Korpus sehr marginal verifizierbar, sodass sich mit einem ersten Vorstadium im 16. Jahrhundert (Beispiel a) erst marginale Beispiele im 19. Jahrhundert (Beispiel b) des CDP-Korpus finden lassen. (487) Kompatibilität mit der Negationspartikel (a) A segunda-feira, que forão 7 de Maio, foi Dario vizitar hum senhor como elle a huma fortaleza, quatro ou sinco legoas daqui, sobre hum negocio de muita importancia; e era que estava para não obedecer a seo rey e pôr-se da banda de seos inimigos. E não era pequeno perigo aventurar-se Dario a hir fallar com elle, como fez, de maneira que todos ficamos aqui rogando a Deos que lhe não acontecesse algum desastre. (CDP: Frois, 1560–1580, Historia do Japam 2) (b) Instinctivamente deu um passo para ele: e ficaram um instante isolados, falando baixo, em quanto D. Maria os observava, sorrindo, cheia já de benevolência, pronta já a abençoa-los maternalmente. – Estive para não vir, dizia a condessa, que parecia nervosa. O Gastão fez-se tão desagradável hoje! (CDP: Eça de Queirós, c. 1888, Os Maias)
398
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Neben den marginalen Belegen im diachronen CDP-Korpus finden sich in den größeren Referenzkorpora der Linguateca, wie in dem Korpus CETEMPúblico für das europäische Portugiesisch, zahlreiche Belege des Gegenwartsportugiesischen, die die Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel (was on the verge of not taking place but did take place) im europäischen Portugiesisch belegen. (488) Die Negationspartikel im Skopus des Avertivs im europäischen Portugiesisch EP (a) Contudo, Marinho Peres não deixou de se manifestar surpreso com a decisão de Sousa Cintra, uma vez que esperava por ela na sequência dos acontecimentos do Funchal, em finais de Fevereiro, quando quase esteve para não acompanhar a equipa devido às criticas do presidente (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) (b) Já estamos a trabalhar, disse ao Público, António Lagarto, director do FIT, explicando que o certame esteve para não se realizar. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) (c) E nos 5000m, Eduardo Henriques (Maratona), que esteve para não correr depois de no dia anterior ter estado na milha urbana da Expo, foi quinto com 13m26, 91s, quando antes nunca havia baixado dos 13m40s. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) (d) E o concerto – que esteve para não se realizar – revelou uns GNR em forma, com o recém-chegado a dar cartas e Rui Reininho a somar aos seus dotes vocais os de guarda-redes. (Linguateca: CETEMPúblico, Portugal) Im Gegensatz zu dem europäischen Portugiesisch, das die Kompatibilität der Avertivfunktion von estar para + Inf. mit der Negationspartikel aufweist, zeigt sich im brasilianischen Portugiesisch eine Inkompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel, insofern das Corpus Brasileiro (989.012.584 Token) lediglich 5 Belege mit der Negationspartikel aufweist, von denen kein einziger Beleg die Avertivbedeutung zeigt. Da es sich allerdings bei 2 von 5 Beispielen zudem um die gleiche Textstelle handelt, werden lediglich die 4 folgenden Belege berücksichtigt. (489) Inkompatibilität der Avertivbedeutung mit der Negationspartikel im BP BP (a) A ofegante epidemia do Carnaval. esse espantoso vulcão de euforia com data marcadaaí está para não me deixar mentir. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil)
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
399
(b) Analistas avaliam que, se Armínio Fraga tiver dúvidas sobre a tendência inflacionária, deixará tudo como está para não comprar uma briga. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) (c) Não importa que doa: É tempo Sabendo que não vou ver de avançar de mão dada o homem que quero ser com quem vai no mesmo rumo, Já sofri o suficiente mesmo que longe ainda esteja para não enganar a ninguém: de aprender a conjugar Principalmente aos que sofrem o verbo amar. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) (d) Deixo esse registro porque acho injusto generalizar e chamar de gazeteiros os Parlamentares, particularmente aqueles que por decisão política aqui não estão para não ajudar o Governo a aprovar desvios de recursos do bolso do aposentado, dos hospitais e das escolas para transferi-los diretamente ao capital financeiro e aos bancos, particularmente os internacionais. (Linguateca: Corpus Brasileiro, Brasil) Die Inkompatibilität der Avertivfunktion mit der Negationspartikel im brasilianischen Portugiesisch könnte zu der Annahme eines früheren Grammatikalisierungsstadiums als das erreichte Stadium des europäischen Portugiesisch schließen lassen. Analog zu der Kompatibilität der Avertivfunktion mit der Negationspartikel im europäischen Portugiesisch ist auch im Galicischen die Avertivfunktion der Periphrase estar para + Inf. mit der Negationspartikel kompatibel geworden. (490) Die Negationspartikel im Skopus von gl. estar para + Inf. Gl. Que hoxe xa estiven para non lle poñer cubata nin nada, pero aguanteime e aínda fixen por ser amable con el, como tampouco non hai moito onde escoller, pero ben o sabe Deus. . . (CORGA: Miguel Suárez Abel, 1994, Selva negra, España/Galicia) Neben der Avertivfunktion der galicischen Periphrase estar para + Inf. ist die Avertivfunktion der sowohl galicischen Periphrase estar a piques de + Inf. als auch der Periphrase estar a punto de + Inf. mit der Negationspartikel kompatibel, wie die Belege aus dem CORGA-Korpus illustrieren. (491) Die Negationspartikel im Skopus der Avertivfunktion von gl. estar a piques de + Inf. und gl. estar a punto de + Inf. Gl. (a) Pouco despois de iniciarse as conversas, que estiveron a punto de non celebrarse, o ministro de Exteriores, Andrei Kózirev, dixo que a CEI non escatimará esforzos para controlar a fronteira tayiko-afgana,
400
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
onde teñen lugar as hostilidades, e engadiu que non tolerará a matanza dos seus militares. (CORGA: La Voz de Galicia, 1995, España/Galicia) ‘Kurz nach Beginn der Gespräche, die beinahe nicht abgehalten worden wären, [. . .]’ (b) O crítico da arte povera, Germano Celant, só tivo algo máis de tres meses para preparala (a Biennale estivo a piques de non celebrarse este ano) e, sen embargo, sae airoso no reto, que centra nas mostras do Pavillón Central dos Giardini _o [sic!] italiano_ [sic!], e no longuísimo edificio da Cordería. (CORGA: Xosé Antón Castro, 1997, Tempos Novos, España/Galicia) ‘Die Biennale hätte dieses Jahr beinahe nicht stattgefunden.’ Die Kompatibilität mit der Negationspartikel spricht für ein fortgeschrittenes Grammatikalisierungsstadium. Unterschiede ergeben sich allerdings, wie deutlich wurde, insbesondere hinsichtlich ihrer Frequenz, die im Folgenden anhand der CDP-Belege des Portugiesischen und der CDE-Belegen des Spanischen aus Kapitel 4.5.3.1 kontrastiv untersucht wird. 4.5.3.2.2.3 Kontrastive Untersuchung Portugiesisch-Spanisch In kontrastiver Betrachtung zu der untersuchten Avertivfunktion der spanischen Verbalperiphrase estar por + Inf., ist die Avertivfunktion der portugiesischen Tabelle 102: Distribution der Avertivfunktion von estar por + Inf. kontrastiv im CDE und CDP. .Jh. .Jh. Absolute Frequenz
Relative Frequenz (.. Token)
.Jh. .Jh. .Jh. .Jh. .Jh. .Jh.
Sp. estar por + Inf.
Pg. estar por + Inf.
a
Sp. estar por + Inf.
Pg. estar por + Inf.
, ,
, ,
,
,
a Im 15. Jahrhundert treten bereits zwei Beispiele der portugiesischen Verbalperiphrase estar por + Inf. im pretérito perfeito composto auf, die allerdings noch keine Avertivfunktion ausdrücken. Der erste Beleg illustriert vielmehr den Proximativ mit R-basierter Implikatur (+> p).
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
401
Verbalperiphrase estar por + Inf. auf der Basis des CDP-Korpus nur sehr marginal vertreten, wie die zwei Belege im 19. Jahrhundert in Tabelle 102 (Seite 400) illustrieren. Während sich im Spanischen auf der Grundlage des CDE-Korpus Avertivbelege von estar para + Inf. ab dem 16. Jahrhundert finden, ist die Avertivfunktion der portugiesischen Verbalperiphrase estar para + Inf. im CDP-Korpus erstmalig ab dem 17. Jahrhundert belegt. Beide erreichen nach jeweils zwei Jahrhunderten (i.e. die spanische Konstruktion im 18. Jahrhundert und die portugiesische Konstruktion im 19. Jahrhundert) ihren relativen Kulminationspunkt, bevor ihre relative Frequenz jeweils wieder abnimmt. Im 20. Jahrhundert weist die portugiesische Verbalperiphrase estar para + Inf. allerdings noch eine relativ höhere Avertivfrequenz als die spanische Verbalperiphrase estar para + Inf. auf, wie Tabelle 103 illustriert. Tabelle 103: Distribution der Avertivfunktion von estar para + Inf. kontrastiv im CDE und CDP. .Jh. .Jh. .Jh. Absolute Frequenz
Relative Frequenz (.. Token)
. Jh.
.Jh.
.Jh. .Jh.
.Jh.
Sp. estar para + Inf.
Pg. estar para + Inf.
Sp. estar para + Inf.
,
,
Pg. estar para + Inf.
,
,
,
,
,
,
Im Gegensatz zu der Avertivfunktion der portugiesischen Verbalperiphrasen estar por + Inf. und estar para + Inf., die nicht vor dem 17. Jahrhundert belegt ist, ist die Avertivfunktion von estar a ponto de + Inf., analog zu der spanischen Verbalperiphrase estar a punto de + Inf., diachron früher belegt. Im CDP findet sich die Avertivfunktion von estar a ponto de + Inf. im 16. Jahrhundert als Hapax. Im 19. Jahrhundert zeigt sich ein relativ hoher Avertivgebrauch der portugiesischen Verbalperiphrase estar a ponto de + Inf. von 76,6%, der auch im 20. Jahrhundert zumindest noch mit 52,94% belegt ist. Neben estar a ponto de + Inf. weist auch die oben untersuchte Periphrase estar a pique de + Inf. einen relativ hohen Avertivgebrauch im 20. Jahrhundert von 71,05% (i.e. 27 von 38 Belegen) im Corpus Brasileiro auf (cf. Tabelle 104, Seite 402).
Relative Frequenz (.. Token)
Absolute Frequenz
. Jh. / (,%) /
,
. Jh.
/
Sp. estar PRP punto de + Inf.
Pg. estar PRP ponto de + Inf.
Sp. estar PRP punto de + Inf.
Pg. estar PRP ponto de + Inf.
,
/
/ (%)
. Jh.
,
,
/ (%)
/ (,%)
. Jh.
,
/
/ (,%)
. Jh.
Tabelle 104: Distribution der Avertivfunktion von estar PRP ponto/punto de + Inf. kontrastiv im CDE und CDP.
,
/
/ (,%)
. Jh.
,
,
/ (,%)
/ (,%)
. Jh.
,
,
/ (,%)
/ (,%)
. Jh.
402 4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
403
Wie in Kapitel 4.5.3.1 und 4.5.3.2 dargelegt, weisen die ESSERE/SEDERE/STAREProximativperiphrasen im Spanischen, Galicischen und Portugiesischen eine nahezu analoge qualitative Entwicklung auf, die sich lediglich in der diachronen Verzögerung von einem Jahrhundert unterscheidet. Um das Bild der iberoromanischen Sprachen zu vervollständigen, wird noch ein Ausblick auf die Brückensprache des Katalanischen gegeben. 4.5.3.3 Ausblick auf das Katalanische Bevor auf den ESSE-Proximativ in den galloromanischen Sprachen eingegangen wird, wird im Folgenden noch ein Ausblick auf die Entwicklung der katalanischen Proximative estar a punt de + Inf. und estar per + Inf. gegeben. Ausgangspunkt der diachronen Untersuchung ist die bereits in Kapitel 3 dargelegte Differenzierung hinsichtlich ihrer im imperfet und pretèrit perfet perifràstic ausgedrückten Avertivbedeutung. Im imperfet können die Proximative estar a punt de + Inf. und estar per + Inf. zwar ebenfalls die Avertivbedeutung implikatieren, allerdings ist diese in stärkerem Maße kontextabhängig, wie das folgende Beispiel im Inzidenzschema illustriert (cf. Kapitel 3). (492) Estar a punt de + Inf. im imperfet Kat. Estava a punt de marxar quan va gehen.PRS.3SG sein.IMPF.3SG auf Punkt von gehen.INF als sonar el telèfon. klingeln.INF das Telefon ‘Er wollte gerade gehen, als das Telefon klingelte.’ Im pretèrit perfet perifràstic ist die Avertivimplikatur von estar a punt de + Inf. und estar per + Inf. nahezu konventionalisiert und nicht aufhebbar (cf. Kapitel 3). (493) Estar a punt de + Inf. im pretèrit perfet perifràstic Kat. Vaig estar a punt de comprar-lo gehen.1SG.PRS sein.INF auf Punkt von kaufen.INF-es (#i, de fet, el vaig comprar.). (#und von Tat es gehen.1SG.PRS kaufen.INF) Proximale Komponente: Ich war kurz davor es zu kaufen. Polare Komponente: Ich kaufte es nicht. ‘Ich hättes es beinahe gekauft.’ (#und, tatsächlich, kaufte ich es.)
404
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(494) Estar per + Inf. im pretèrit perfet perifràstic Kat. Vaig estar per dir-li la veritat gehen.1SG.PRS sein.INF zu.PRP sagen.INF-ihm die Wahrheit. (#i, de fet, li vaig dir.). sagen.INF) (#und von Tat ihm gehen.PRS.1SG Proximale Komponente: Ich war kurz davor ihm die Wahrheit zu sagen. Polare Komponente: Ich erzählte ihm nicht die Wahrheit. ‘Ich hätte ihm beinahe die Wahrheit erzählt.’ (#und, tatsächlich, erzählte ich ihm die Wahrheit.) Der diachronen Untersuchung des Katalanischen wird das Corpus digitalitzat del Català antic (CICA) von Joan Torruella der UAB zugrunde gelegt, das Texte vom 11. Jahrhundert bis zum 18. Jahrhundert enthält. Bis zum 13. Jahrhundert findet sich im CICA-Korpus noch kein Beleg des Proximativs mit dem Auxiliar aus ESSERE/STARE/SEDERE. Die folgenden beiden Belege illustrieren noch die finale, lexikalische Bedeutung von (és)ser/estar per. (495) Lexikalische Bedeutung im 13. Jahrhundert des CICA (a) La causa final significa les perfeccions de les causes e les fins per què són, axí com Déu qui és perffecció d’ome e home de ànima e de cors, e home qui és per amar e conèxer Déu, e uylls qui són per veer, e enaxí de les altres coses. (CICA: Segle XIIIb, Taula general) (b) la sua ànima en lo seu sant pitz; e no estava per so que ela no dixés aytals verses, així co [. . .] (CICA: Segle XIIIb, Vides de Sants Rosselloneses) Dem Proximativ estar per + Inf. geht, in Analogie zu den anderen iberoromanischen Sprachen (gl.-pg., altsp. ser por/para + Inf.), die Periphrase ser per + Inf. diachron voraus. Analog zum Spanischen und Portugiesischen, an denen wir den Grammatikalisierungspfad (Venitiv >) Prospektiv > Proximativ (Spezifizierung) am Beispiel der Verbalperiphrase estar por + Infinitiv (< ser por + Inf.) durch die anfängliche Verbindung mit dem venitiven Verb sp. venir (‘kommen’) bzw. pg. vir (‘kommen’) aufgezeigt haben, finden wir die ersten Belege von kat. (és)ser per + Inf. mit dem venitiven Verb venir zum Ausdruck des Prospektivs. (496) (És)ser per + venir im 14. Jahrhundert Certa cosa és que los establiments e les constitucions s’estenen als feyts qui són per venir e no s’estenen als feyts qui són passats, si donchs nomenadament no era dit que s’estesessen als temps passats e, encara, als feyts que penjen, ço és, que són començats e no són termenats. (CICA: Segle XIVa Furs de València)
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
405
Analog zu unseren bereits aufgezeigten Untersuchungen auf der Iberischen Halbinsel (cf. Kapitel 4.5.3.1 und Kapitel 4.5.3.2) erweitert sich das Verbparadigma der Periphrase ser per + Inf. zunehmend, wie der folgende CICA-Beleg aus dem 15. Jahrhundert illustriert. (497) Proximativ (és)ser per + Infinitiv im 15. Jahrhundert no hoïm si no «tal és mort e tal és per morir» e hoint açò, hoïm per tot dolorosos plants. (CICA: Segle XVa, Decameró, 1 part, Central) Ab den CICA-Belegen des 14. Jahrhunderts wird ser per + Inf. bereits zunehmend durch estar per + Inf. ersetzt, wie die folgenden Beispiele illustrieren. (498) Estar per + Infinitiv in dem 14., 15. und 16. Jahrhundert (a) E vengren-hi e faem-los saber en qual manera nos havia pres e·l feyt de la mar, que paria que Nostre Seyor no volgués que nós hi passàssem, car ja ho havíem altra vegada provat; car nós, qui érem en Barcelona per passar altra vegadaen Oltramar, que ·xvii· dies e ·xvii· nuyts estiguem que les naus estaven per venir a terra per la gran mar que hi faÿa, d’axeloch e de vent a la Proença, e no y podíem entrar. (CICA: Segle XIVa, Llibre dels fets del rei en Jaume) (b) graciosa e dotada de bons costums, apellada Violant, la qual estava per maridar. (CICA: Segle XVa, Decameró, 1 part, Central) (c) Cartes triades del. . . qui volen ésser franceses, e que Pietro de Lusinyan està per morir, e tota sa companyia s’és fugida. Etiam tinc una (CICA: Segle XVb, I, Valencià) (d) fins a que sapiam que està del tot bona. Jo estava per enviar un moso ý, pux se m’à ofert [. . .] (CICA: Segle XVIa, Epistolaris d’Hipòlita Roís de Liori i d’Estefania de Requesens) (e) l’avia ben menester segons ab l’ànsia que jo estava per aver tant que no tenia lletres. (CICA: Segle XVIa, Epistolaris d’Hipòlita Roís de Liori i d’Estefania de Requesens) In Analogie zu den italoromanischen Sprachen und den anderen iberoromanischen Sprachen (cf. Kapitel 4.5.2, Kapitel 4.5.3.1 und Kapitel 4.5.3.2) ist im CICA-Korpus ser en punt de + Inf. als Vorläuferkonstruktion von estar en punt de + Inf. belegt, wie die folgenden Belege des 14. Jahrhunderts illustrieren. (499) (És)ser en punt de + Infinitiv im 14. Jahrhundert (a) soldats que ·ns aporten a tan gran afronta que som en punt de lexar-ó tot. E axí cuytats-nos de trametre [. . .] (CICA: Segle XIVa, D, La reintegració de la Corona de Mallorca a la Corona d’Aragó, Català)
406
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(b) Castella, e diu-se que·l mont de Jubaltar és en punt de perdre e és ja aplazat. Si les galees dels [. . .] (CICA: Segle XIVa, D, Documents de la Cancelleria d’Alfons, Català) Der folgende Beleg aus dem 15. Jahrhundert illustriert eine ausgedrückte Avertivbedeutung, deren Kontrafaktizität noch durch den Konjunktiv Imperfekt unterstützt wird. (500) (És)ser (Konjuntiv Imperfekt) en punt de + Infinitiv im 15. Jahrhundert E, com strangolís e fos ja en punt de morir, a una porta víu una dona tan bella [. . .]E, com strangolís e fos ja en punt de morir, a una porta víu una dona tan bella que Venus fóra estada contenta de tanta bellesa com aquesta havia. Era aquesta dona vestida tota de negre e en àbit de viuda; e sens que lo fadrí no li demanava almoyna ne li gosava parlar —tant la veya de reverència digna—, ella·l cridà e li dix: —Fadrí, ¿què cerques? Lo fadrí respòs: —Senyora, muyr de fam e de fret. E tantost la dona despullà·s la sua roba, e vestí-la-y e fonch-li vijares que bé li venia. E mès-se la mà al si, e, arrancant-se lo cor, li dix: —Menja aqueix pa, e sies content, car bastant és a toldre·t la fam. E que lo fadrí menjava aquell cor, e fonch-li vijares que tan dolça vianda no hagués en lo món. (CICA: Segle XVb, A Curial e Güelfa, Català) Bereits ab den CICA-Belegen des 14. Jahrhunderts wird ser en punt de + Inf. zunehmend durch estar en punt de + Inf. ersetzt, wie die folgenden Belege illustrieren. (501) Estar en punt de + Infinitiv im 14. Jahrhundert (a) ho faheren ab aquells del castell, que tots jorns estaven en punt d’espessejar e açò s’esdevenia per les muylers o (CICA: Segle XIVb, B, Crònica R. Muntaner, Central) (b) com lo reffretor dels frares de la dita ciutat stigués en punt de caure e aquells volguessen derruir lo dit reffretor e [. . .] (CICA: Segle XIVb, F, Manual de consells de la ciutat de València, Valencià) Die Avertivbedeutung von estar en punt de + Inf. ist ebenfalls noch an kotextuelle Verstärkungen gebunden, wie der folgende Beleg mit der lexikalischen Verstärkung casi aus dem 15. Jahrhundert illustriert. (502) Casi estar en punt de + Inf. im 15. Jahrhundert per la serventa, de tanta meravella foren que casi estaven en punt de creure elles matexes que aquella nit allò no fos (CICA: Segle XVa, Decameró, part 1, p. 358, lin. 13, Central)
407
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
Analog zu den anderen iberoromanischen Sprachen (cf. Kapitel 4.5.3.1 und Kapitel 4.5.3.2) wird die Präposition(alphrase) en (punt de) zunehmend durch a (punt de) ersetzt (im Italienischen hingegen durch sul punto di, im Französischen durch sur le point de). (503) Estar a punt de + Inf. im 15. bis 18. Jahrhundert (a) gent hic havia, e si cars ó requeria, que stiguessen a punt de restar en la ciutat e de exir fora la (CICA: Segle XVb, I, Llibre de les Solemnitats de Barcelona, Central) (b) a Montserrat i que el mestre de Lluïset ha estat a punt de deixar-los per anar-se’n al monestir de [. . .] (CICA: Segle XVIa, I, Epistolaris d’Hipòlita Roís de Liori i d’Estefania de Requesens, Valencià) (c) que no tenia la Església u Retoria. Tot ha estat a punt de experimentar-se en mon temps per falta de este [. . .] (CICA: Segle XVIIIa, I, Memòries d’un capellà del segle XVIII, Valencià) Im Altkatalanischen, untersucht auf der Grundlage des CICA-Korpus, dominiert bis zum 18. Jahrhundert noch en punt de gegenüber a punt de. Die Abbildung 32 des CICA-Korpus illustriert die absoluten Gesamtbelege bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.
en punt de (Diacronia)
0.0020
40
0.0018
35
0.0016
0.0012
25
0.0010
20
0.0008
15
0.0006 10 0.0004 5
0.0002 0.0000
Abbildung 32: Diachronie von en punt de im CICA.
b VI eX
Se gl
VI
a
Vb
eX gl
eX Se gl
Se
Va
b
eX
eX gl Se
Se gl
IV
IV a
b III
Se gl
eX gl Se
eX
a III
IIb eX
eX Se gl
eX
eX
IIa gl Se
gl Se
gl Se
Se
gl
eX
Ia
Ib
0
Freqüència Absoluta
Freqüència Relativa
30 0.0014
408
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts finden sich noch 7 CICA-Belege von en punt de, die das CICA-Korpus allerdings in der automatisch generierten Graphik nicht darstellt. Bis zum 18. Jahrhundert überwiegen die Korpusbelege von en punt de noch gegenüber a punt de. Erst im 18. Jahrhundert wird en punt de von a punt de im CICA-Korpus überholt, wenn die Anzahl der Korpusbelege auch insgesamt gering ist: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich 3 absolute CICA-Belege von a punt de, die das CICA-Korpus allerdings in der automatisch erstellten Abbildung 33 ebenfalls nicht anzeigt. a punt de (Diacronia)
0.00055
4.5
0.00050
4.0 3.5
0.00040 3.0
0.00035 0.00030
2.5
0.00025
2.0
0.00020
1.5
0.00015
Freqüència Absoluta
Freqüència Relativa
0.00045
1.0
0.00010
b
a
VI
VI eX
eX gl Se
eX gl
gl Se
Va Se
b
eX
IV eX
gl Se
gl Se
b III
gl Se
eX
eX
a III gl Se
eX
eX gl Se
IIa gl Se
eX
eX gl Se
eX
Ia gl Se
gl Se
Vb
0.0 IV a
0.00000 IIb
0.5
Ib
0.00005
Abbildung 33: Diachronie von a punt de im CICA.
Hinsichtlich der diatopischen Variation des Katalanischen liegt anhand der geringen Belege die (in historisch-sprachvergleichender Perspektive erwartbare) Nullhypothese insofern nahe, als keinerlei Restriktionen auf bestimmte Dialekte vorliegen, wie die Abbildungen 34 (Seite 409) und 35 (Seite 410) zur diatopischen Distribution von en punt de und a punt de auf der Grundlage des CICA-Korpus illustrieren. Wie die Abbildungen 36 (Seite 410) und 37 (Seite 411) illustrieren, weisen sowohl die Belege von en punt de als auch die Belege von a punt de keine restriktive Distribution auf gewisse Texttypen auf, sodass an dieser Stelle ebenfalls die Nullhypothese (i.e. keine Restriktion auf bestimmte Texttypen) anzunehmen ist. Im Gegensatz zu der Entwicklung der Periphrase mit der PP a punt de (< en punt de), die analog zu den anderen romanischen PUNCTUM-Periphrasen diachron
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
409
en punt de (Dialecte) OR:B (0.00%) OR:S (0.00%) OR (11.11%)
OR:C (15.28%)
CAT (26.39%)
OC:V (41.67%)
OR:A (0.00%) OC (1.39%) OC:NO (4.17%)
Abbildung 34: Distribution von en punt de in katalanischen Dialekten258 im CICA.
früher in den Avertiv konventionalisiert,259 wird der Gebrauch von estar per + Inf. hinsichtlich der Vergangenheitstempora noch von dem Indikativ Imperfekt dominiert.260 Im CICA-Korpus, das Texte bis zum 18. Jahrhundert enthält, liegt die Periphrase estar per + Inf. weder im pretèrit perfet perifràstic (vaig estar per + Inf.) noch im Perfet (i.e. zusammengesetztes Perfekt), unter Berücksichtigung der diachronen Entwicklung der sein/haben-Auxiliarselektion, vor. Im imperfet finden wir hingegen bereits 10 Belege der Periphrase estar per + Inf. in der 1./3. Person Singular von den in Abbildung 38 (Seite 411) illustrierten 21 Gesamtbelegen. In Relation zu dem 45.606.959 Token großen CDP-Korpus für das Portugiesische oder dem 100.255.030 Token großen CDE-Korpus für das Spanische fallen die katalanischen Belege im lediglich 8.656.847 Token großen CICA-Korpus entsprechend weniger repräsentativ aus. Allerdings zeigt sich eine bereits in den anderen romanischen Sprachen aufgezeigte besondere Vorkommenshäufigkeit der imminentiellen Periphrase im 16. Jahrhundert.261 Von den 17 CICA-Belegen der periphrastischen Bedeutung von estar per + Inf. im imperfet liegen 13 Belege 258 Die Siglen bezeichnen die folgenden Dialekte: Cat = Català Oc = Occidental; Oc:NO = Nord Occidental; Oc:V = Valencià Or = Oriental; Or:S = Septrentional; Or:B = Balear; Or:C = Central; Or:A = Alguerès. 259 Cf. insbesondere Kapitel 4.5.3.1, Kapitel 4.5.3.2 und Kapitel 4.5.5. 260 Cf. analog für das Spanische Kapitel 4.5.3.1 und für das Portugiesische Kapitel 4.5.3.2. 261 In sprachvergleichender Betrachtung stellt sich das frühe 16. Jahrhundert in dieser Arbeit als Wendepunkt zentraler Avertivperiphrasen heraus, der sich u.a. durch den fortgeschrittenen Abbau der HABERE-Avertivperiphrasen und ihr Ersatz durch die Konventionalisierung des STARE-Avertivs in perfektiven Tempora im Spanischen und Portugiesischen einerseits sowie durch die Konventionalisierung des französischen Avertivs faillir + Inf. andererseits zeigt.
410
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
en punt de (Dialecte) OR:B (15.38%) OR:S (0.00%) OR (7.69%)
OR:C (15.38%)
CAT (15.38%) OR:A (0.00%) OC (0.00%) OC:NO (0.00%)
OC:V (46.15%)
Abbildung 35: Distribution von a punt de in katalanischen Dialekten im CICA.
APr os ad Bef Cr icc ò his niq ió C-O tor ues i br o i o g es ràf br rel iqu es igi es os es im DPr or os als ac an ce E-T lle ex res tos ca ad mi nis tra tiu F-T s ex tos jur idi Gcs Lli Hbr Te es xto de sc co ien rt tif ics i tè I- E pis cn ics tol ar is id iet ar is L-O J-P br oe es sia lex gram ico at gr ica afi ls qu i es
Abbildung 36: Texttypen von en punt de im CICA.
30 28 26 24 22 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0
Freqüència Absoluta
Freqüència Relativa
en punt de (Tipologia) 0.0026 0.0024 0.0022 0.0020 0.0018 0.0016 0.0014 0.0012 0.0010 0.0008 0.0006 0.0004 0.0002 0.0000
a punt de (Tipologia)
0.00060
8.0 7.5 7.0 6.5 6.0 5.5 5.0 4.5 4.0 3.5 3.0 2.5 2.0 1.5 1.0 0.5 0.0
Freqüència Relativa
0.00055 0.00050 0.00045
0.00040 0.00035 0.00030
0.00025 0.00020 0.00015
L-O J-P br oe es sia g lex ram ico at gr ica afi ls qu i es
A-
Pr os ad Bef Cr icc òn ió h ist iqu C-O e o rio s i br es gr ob àfi re rel qu s igi es os es i Dm Pr or os als ac an ce E-T lle ex res tos ca ad mi nis tra tiu F-T s ex tos jur idi cs GLli Hb Te r e sd xto ec sc or ien t tif ics i tè I-E pis cn ics tol ar is id iet ar is
0.00010 0.00005 0.00000
Freqüència Absoluta
411
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
Abbildung 37: Texttypen von a punt de im CICA.
13 12 11 9 8 7 6 5 4 3 2 1
Abbildung 38: Estava per im CICA.
Se gl eX Vb Se gl eX VI a Se gl eX VI b
b
eX Va
IV eX
Se gl
Se gl
b
Se gl
eX IV a
a
eX III
Se gl
IIb
eX III
eX
Se gl
Se gl
eX
Ib
Se gl
Se gl
Se gl
eX IIa
0
Freqüència Absoluta
10
eX Ia
Freqüència Relativa
estava per (Diacronia) 0.0017 0.0016 0.0015 0.0014 0.0013 0.0012 0.0011 0.0010 0.0009 0.0008 0.0007 0.0006 0.0005 0.0004 0.0003 0.0002 0.0001 0.0000
412
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 105: Diachronie von estar per + Inf. im imperfet im CICA (1000–1749). Estar per +
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
Inf.
,
(imperfet) Absolute
,
Frequenz Relative
,
,
,
,
,
Frequenz
(davon 8 in der ersten Hälfte und 5 in der zweiten Hälfte) aus dem 16. Jahrhundert vor, wie Tabelle 105 illustriert. Analog zu den anderen iberoromanischen Sprachen zeigt sich in dem 16. Jahrhundert ein vermehrter Gebrauch des Proximativs im Inzidenzschema als Vorstadium für die Avertivimplikaturen: (504) Estar per + Infinitiv im Inzidenzschema (a) E feta dita electió, al temps estaven per a partir, vingué embaxada del bras militar deduhint en effecte lo que havie reportat lo bras ecclesiàstich ab la propdita embaxada, encarregant al dit bras real se prefegissen dos o tres dies per als qui voldrien presentar nous agravis, per lo que la tardansa o dilació de presentar dits agravis impadeix en alguna manera lo progrés de dites Corts. (CICA: Segle XVIb, Corts generals de Montsó) (b) Anaren a la tarda ý, quant estaven per entrar, trobaren los consellés que n’axien ý eren-y anats per lo matex, ab gramalles de dol ý ab lo cap cubert ý ab pròmens ab lo cap cubert també, (1598 Don Felip 2, rey de Espanya) ý los portés axí matex; (CICA: Segle XVIb, Diari de Frederic Despalau) Der folgende Beleg aus dem 16. Jahrhundert illustriert darüber hinaus die Avertivimplikatur von estar per + Inf. im imperfet mit dem prototypisch avertivaffinen Achievement morir-se (‘sterben’). (505) Estar per + Infinitiv im imperfet mit Avertivimplikatur im 16. Jahrhundert No podia suffrir-los ni lansar-los estava per a morir-me com vingué l’amich qui·ls (CICA: Segle XVIa, Obres catalanes)
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
413
Da die Periphrase im altkatalanischen CICA-Korpus noch nicht im pretèrit perfet perifràstic belegt ist, kann der sich später entwickelnde Gebrauch im pretèrit perfet perifràstic (z.B. Vaig estar per dir-li la veritat. ‘Ich hätte ihm beinahe die Wahrheit gesagt.’), der die Avertivimplikatur zunehmend konventionalisiert, entsprechend nicht auf der Grundlage dieses Korpus illustriert werden. Allerdings illustrieren die CICA-Untersuchungen, dass sich das Katalanische vielmehr in das Bild der hinsichtlich der ESSERE/SEDERE/STARE-Infinitivperiphrasen progressiveren iberoromanischen Sprachen als den galloromanischen Sprachen einfügt, auf die im Folgenden eingegangen wird.
4.5.4 Galloromanische Sprachen In den galloromanischen262 Sprachen Okzitanisch und Französisch hat sich der Proximativ aus der Grammatikalisierungsquelle ESSE herausgebildet. Die von Alibèrt (1976, 324) als futur perifrastic bezeichneten Verbalperiphrasen èsser per + infinitiu und esser suu punt de + infinitiu im Gegenwartsokzitanischen verstehen wir in dieser Arbeit als Proximativ.263 (506) Proximativ èsser per + infinitiu im Okzitanischen Vos sètz per esposar de vèspre l’ataüt (Teatre de Besièrs, zitiert nach Alibèrt 1976, 324) (507) Proximativ esser suu punt de + infinitiu im Okzitanischen (Gaskognischen) Es suu punt de partir. (Romieu/Bianchi 2005, 245) Der Proximativ im Okzitanischen ist mit der Negationspartikel kompatibel, wie das folgende Beispiel illustriert. (508) Kompatibilität des okzitanischen Proximativs mit der Negationspartikel Es pas per morir (Cent., zitiert nach Alibèrt 1976, 324) ‘Er ist nicht im Begriff zu sterben.’
262 Zu den galloromanischen Sprachen zählen wir insbesondere das Okzitanische und das Französische. Das Katalanische, das bekanntlich als Brückensprache zwischen galloromanischen und iberoromanischen Sprachen gilt, ordnet sich hinsichtlich Proximativ und Avertiv vielmehr in die iberoromanischen Sprachen ein (cf. Kapitel 4.5.3). 263 Zur systematischen Differenzierung zwischen Futur und Proximativ sei auf Kapitel 3.1.1 verwiesen.
414
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Während être sur le point de + Infinitiv auch im französischen Verbalsystem fest etabliert ist, gilt die Verbalperiphrase être pour + Infinitiv im Gegenwartsfranzösischen als nahezu ausgestorben (cf. u.a. Meyer-Lübke 1890–1902, vol. 3, 349s.; Rickard 1974; Yllera 1980; Detges/Waltereit 2016, 641). Entgegen dieser weit verbreiteten Auffassung findet sich der Proximativ être pour + Infinitiv im Korpus Frantext allerdings noch vereinzelt in insbesondere literarischen Texten des Gegenwartsfranzösischen. Im Gegensatz zu den iberoromanischen Verbalperiphrasen der Imminenz, die in Tempora mit perfektivem Aspekt den Avertiv auszudrücken vermögen, weist die im passé simple stehende französische Verbalperiphrase ein geringeres Grammatikalisierungsstadium hinsichtlich des Proximativ-Avertiv-Kontinuums auf, bei dem der Proximativ im passé simple mit p-Implikatur im Temporalsatz steht (Beispiel a) oder mit imparfait im Inzidenzschema sowohl die Implikatur von p als auch von ¬p zulässt (Beispiel b). (509) Être pour + Inf. im Gegenwartsfranzösischen (a) Quand elle fut pour mourir, elle ordonna qu’on ne laissât entrer dans sa chambre, elle morte, qu’après lui avoir mis la mentonnière. Eh bien! Je suis son fils. (Frantext: Henry de Montherlant, Les Jeunes filles, 1936, p. 987s.) (b) Sur la motte la plus basse, un bouvreuil. . . Sa gorge a la couleur de la lune d’avril. Il était pour partir quand je suis arrivé. (Frantext: René Char, Fenêtres dormantes et portes sur le toit, 1979, p. 587ss.) Dem französischen Proximativ aus der Grammatikalisierungsquelle ESSERE/SEDERE/STARE liegen wenige diachrone Untersuchungen zugrunde, deren Ergebnisse kurz angeführt und anschließend verifiziert werden müssen: Werner (1980, 308–319) datiert die Genese von être + Infinitiv, être pour + Infinitiv sowie être a + Infinitiv auf das 15. Jahrhundert. Auf der Basis des altfranzösischen Korpus NCA (11– 14. Jahrhundert, 3.000.000 Tokens) und der Korpora des Frantext (Moyen français, Frantext intégral mit diversen Subkorpora, wie Ancien français, und Frantext categorisée) sowie unter Hinzunahme einschlägiger Primärwerke gilt es das erstmalige Auftreten und die semantische Entwicklung erneut zu verifizieren. Die präpositionslose Infinitivkonstruktion, estre + Infinitiv, findet sich zwar mit 23 Beispielen264 im NCA (11– 14. Jahrhundert),
264 Ausgenommen sind Belege, in denen die zum Infinitiv analoge Graphie ein participe passé darstellt oder eine Präposition enthält sowie Belege, in denen sich estre auf den vorangegangenen Kotext bezieht.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
415
von denen allerdings 21 Belege unpersönlich und lediglich 2 Belege in prospektiver Bedeutung vorliegen, die keine Lesart des Proximativs aufweisen. Estre a + Infinitiv ist im NCA-Korpus mit 333 Nachweisen belegt, von denen 203 Belege unpersönlich (wie c’est à savoir, c’est à dire), 122 Belege prospektiv (insbesondere mit venir), 3 Belege progressiv sind, 2 Belege Obligation ausdrücken und 3 Belege lexikalisch durch prestes/pret unterstützt bzw. verstärkt sind, wie Tabelle 106 illustriert.
Tabelle 106: Estre a + Inf. im altfranzösischen NCA-Korpus. Estre a + Inf.
Belege im NCA-Korpus
Unpersönlich (z.B. c’est à savoir, c’est à dire)
/
Prospektiv (z.B. est à venir)
/
Progressiv
/
Obligation
/
Lexikalisch verstärkt mit prestes/pret
/
Wie in sprachvergleichender Perspektive für die romanischen Sprachen üblich (cf. Kapitel 4.5.5), treten auch im Französischen die être-Infinitivperiphrasen mit intransitiven Verben (insbesondere venir) zum Ausdruck einer prospektiven Handlung auf. (510) Estre a venir im NCA (a) a leur voloir, a leur plaisir, destinent puis qu est a venir, si com el faignent et controevent, car as destinees se proevent. (NCA: Anonyme, ca. 1210, Amadas et Ydoine) (b) et de joiaus et de vaselemente et si metés tout en mes grans cofres, car je ne sai quel chose est a venir de mon chastel ains que je revigne (NCA: ca. 1220, Lancelot, roman en prose du XIIIe siècle)
416
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(511) Estre a venir im Roman de la Rose Mes tens jolis est touz Meine vergnügten Tage sind längst veralez, gangen 12743 E li vostres est a venir. und Eure kommen erst noch. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 700s.) 17323 Come eles sont a avenir
wie sie eintreffen werden (De Lorris/De Meun 1976, vol. 3, 930s.)
Bereits im Altokzitanischen zeigt sich die Periphrase esser a + Inf. in prospektiver Bedeutung mit implikatierter Prädiktion. (512) Esser a + venir im Altokzitanischen Altokzitanisch (a) De czo que era a venir el lor vay annunciar, Cossi el devia morir e pois rexucitar,
Altokzitanisch (b) Meillz m’en degra lo pels sezer Car chai vinc vostra cort vezer, Q’eu farai loing e pres saber Lo joi que vos es a venir.
(513) Esser a + morir im Altokzitanischen Altokzitanisch (a)
er joi que d’amor m’avegna nom calgr’ ogan esbaudir, Qu’eu non cre qu’en grat me tegna cel c’anc non volc hobesir mos bos motz ni mas chansos, ni anc no fon la sazsos qu’iem pogues de lui sofrir; ans tem quem n’er a morir,
Französische Übersetzung De ce qui était à venir il leur va annoncer, comme il devait mouriret puis ressusciter, (La nobla Leyczon, zitiert nach Raynouard 1816–1821, vol. 2, 90) Französische Übersetzung En meilleur état devrait être mon poil du fait que je vins ici voir votre cour, car je ferai connaître près et loin, la joie que l’avenir vous reserve. (Marcabru, Emperaire per vostre prez)
Deutsche Übersetzung An Freude, die mir aus Liebe entstünde, will ich mich nunmehr nicht erfreuen, denn ich glaube nicht, daß mir jener Dank erweist, der meinen lieben Worten und meinen Liedern nicht hat folgen wollen; und es ist auch noch nicht die Zeit
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
c’ab tal autra regna don per mi nos vol partir.
Altokzitanisch (b) E si per mi no us venz Merces e chausimenz, Tem que m’er a morir.
417
gekommen, daß ich ihn entbehren könnte; ich fürchte vielmehr, daß ich werde sterben müssen, denn er weilt bei einer bestimmten anderen Frau, von der er sich um meinetwegen nicht trennen will. (Clara d’Anduza, En greu esmay ez en greu pessamen 58s.) Französische Übersetzung Et si pour moi ne vous vainc Merci et préférence, Crains que me sera à mourir. (Arnaud de Marueil, La franca captenensa, zitiert nach Raynouard 1816–1821, vol. 1, 222)
Wie bereits Gamillscheg (1957, 464) anmerkt,265 wird à venir im Französischen zu avenir (okz. avenidor) substantiviert. Wie wir in den vorangegangen Kapiteln bereits für die iberoromanischen Sprachen gezeigt haben, handelt es sich auch in diesem Fall um eine nahezu analog verlaufende innerromanische Entwicklung (cf. z.B. sp. por venir → porvenir, cf. Kapitel 4.5.3.1, etc.). Neben dieser an intransitive Verben (und nahezu ausschließlich an venir) gebundenen prospektiven Bedeutung von estre a + Infinitiv, entwickelt die Infinitivkonstruktion bis zum Gegenwartsfranzösischen keinen Proximativ. Estre de + Infinitiv entwickelt ebenfalls keinen Proximativ, sodass die Periphrase von der Untersuchung auszuklammern ist. Lexikalisch wird die Imminenz hingegen bereits im Altfranzösischen durch die PP sur le point de ausgedrückt.
265 «Eine Verbindung wie tant cum il ad a vivre ‘es ist ihm bestimmt zu leben’, führt zu estre a mit dem Infinitiv hinüber, das auch ein vom Subjekt nicht beeinflußtes Kommen eines Geschehens andeutet. Il savoit bien que ert a estre, (Trist. 325) ‘Er wußte wohl, was noch bestimmt war zu kommen’, ‘was noch kommen würde’. So wird estre + Inf. zu einer medialen Futurumschreibung: Car par les choses passees puet l’on mout jugier de celes qui sunt a avenir, (Troie en prose), Gougenheim 210. Son premier mari, qui est encore à revenir, (Sévigné). Aus le temps à venir ‘die Zeit die noch kommen muß’, so noch bei Racine, entsteht durch Verschmelzung avenir ‘Zukunft’». (Gamillscheg 1957, 464)
418
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(514) Sur le point de (a) por cause de bone foi si comme se je voi mon cousin ou mon ami ou mon voisin sur le point d avoir grant damace et je le destorne d avoir le si comme se se (NCA: Philippe de Beaumanoir, 1250, Les coutumes du Beauvoisis) (b) Et il seront commandé que, quant il seront et qu’il vendront sur le point de combatre et d’assembler aux lances a leurs anemis, [. . .] (Frantext intégral: Ancien français, Anonyme, Chronique de Morée, 1322, p. 188) Die PP sur le point der Periphrase être sur le point de + Infinitiv ist ebenfalls bis 1350 optional, indem sie in Analogie zu den älteren Sprachstufen der iberoromanischen Sprachen (en punto de) noch durch en point de ersetzt wird, wie wir anhand des Frantext belegen. (515) En point de trestous les pelerins qui avoient la crois prinse pour aler avec lui, si furent moult dolans et desconfis, car ils furent en point de non faire le passage. (Frantext intégral: Ancien français, Anonyme, Chronique de Morée, 1322, p. 3) Das obige Beispiel belegt zudem bereits die Kompatibilität mit der Negationspartikel zum Ausdruck der negierten Avertivbedeutung (was on the verge of not taking place but did take place). Bereits um 1350 hat sich die PP sur le point de der Periphrase konventionalisiert. In der Vergangenheit wird bereits die Avertivimplikatur gebraucht, wie die folgenden Beispiele im imparfait illustrieren. (516) Estre sur le point de p +> p ᴠ ¬p (a) que le demourer pour plaidier a celle journee a celle male gent qui sont advisé de leur malice. Ainsi qu’il estoient sur le point de eulx mettre au retour, Berinus se prist garde et vit venir Gieffroy grant aleüre, si s’esvigora un peu, ne il ne peut mie attendre qu’il fust jusques a eulx (Frantext Moyen Français, Anonyme, Bérinus, vol. 1, 1350, p. 72) (b) il n’avoit en lui sens ne contenance, ains estoit si esperdu qu’il estoit sur le point de transir. (Frantext Moyen Français, Anonyme, Bérinus, vol. 1, 1350, p. 113) (c) tant qu’il avint qu’il prist a Dieu pitié de moy. Et estoie sur le point de desesperer, quant Dieu me tramist secours et vi venir une nef grant aleüre ceste part. (Frantext Moyen Français: Anonyme, Bérinus, vol. 1, 1350, p. 219)
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
419
Neben dem Inzidenzschema wird die Avertivbedeutung auch besonders in iterativen Propositionen kontextuell verstärkt, wie der folgende Beleg illustriert. (517) Estre sur le point de p +> p ᴠ ¬p Et nonpourquant ilz l’angoisserent si, que plusieurs foiz il estoit sur le point de cheoir, de quoy tous les barons furent en moult grant doubtance pour l’amour de lui, car il n’y avoit cellui qui n’en feust courrouciez (Frantext Moyen Français: Anonyme, Bérinus, vol. 1, 1350, p. 315) Eine ebenfalls in innerromanisch-sprachvergleichender Perspektive analoge Entwicklung ist die kontextuelle Unterstützung mit vorangestelltem preste zum lexikalischen Ausdruck der Imminenz. (518) Preste estre Afrz. d une lisse vos vuel conter qui preste estoit de chaeler mais ne sout ou estre peust ne ses cheaus avoir deust (NCA: Marie de France, ca. 1180, Fables) Mfrz. Et de tous maulx sy detiree Que toute preste est pour morir S’elle n’eust sy tres parfait meurir. (Frantext: Anonyme, Ysaÿe le triste, 1400, p. 225) Bis zum 14. Jahrhundert zeigt sich hingegen être pour + Infinitiv ausschließlich in der lexikalischen Bedeutung der Finalität ‘da sein, um zu + Infinitiv’, die entsprechend der sich anschließend entwickelten Polysemie der Form bis zum Gegenwartsfranzösischen erhalten bleibt. (519) Finalität von être pour + Inf. quant le bacin et l eau oveques seront pour laver mis illecques pren par la main ta dame chiere pour prendre l eve la premiere en touchant peus fere semblant (NCA: ca. 1280, La clef d’amors, imitation de l’Ars Amatoria d’Ovide) Weder im NCA-Korpus (0 / 6) noch im Subkorpus Ancien français des Frantext intégral (0 / 4) liegt estre po(u)r + Infinitiv in der Proximativfunktion vor, sondern tritt erstmalig in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf.
420
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 107: Diachronie des Proximativs être pour + Inf. im Frantext intégral. Ancien français (–) (.. Token)
Moyen français (–) (.. Token)
Moyen français (–) (.. Token)
Moyen français (–) (.. Token)
Moyen français (–) (.. Token)
/ ()a
/ ()
/ ()
/ ()
/ ()
a
Die Zahlen werden, wie folgt gelesen: Im Altfranzösischen bis 1400 findet sich kein einziger Beleg des Proximativs der insgesamt 4 Infinitivkonstruktionen estre pour/por + Infinitiv. Die Zahl in Klammern entspricht der Gesamtzahl der abgerufenen Belege von estre pour/por.
Die Frequenz der Verbalperiphrase être pour + Infinitiv im Mittelfranzösischen fällt allerdings in Relation zu den stärker grammatikalisierten prospektiven Periphrasen, wie aller + Infinitiv, gering aus, wie bereits Werner (1980) zeigt. Tabelle 108: Distribution der Verbalperiphrasen im Mittelfranzösischen nach Werner (1980). aller + Infinitiv
,%
être + participe présent
,%
aller + participe présent
,%
devoir + Infinitiv
,%
s’en aller + participe présent
,%
s’en aller + Infinitv
,%
venir + Infinitiv
,%
vouloir + Infinitiv
,%
venir + participe présent
,%
s’en venir + Infinitiv
,%
venir à + Infinitiv
,%
être à + Infinitiv
,%
être + infinitiv
,%
s’en venir + participe présent
,%
être pour + Infinitiv
,%
venir de + Infinitiv
,%
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
421
Im Frantext intégral finden sich im 15. Jahrhundert 10 Belege des Proximativs être pour + Infinitiv. In Relation zu den wenigen 10 Belegen erscheint der Parameter «Autor» relevant, zumal 5 / 10 aus (unterschiedlichen) Werken von Antoine de la Sale stammen. Darüber hinaus ist der Parameter «Kotext» signifikant, indem 7 / 10 Beispiele in einen Temporalsatz eingebettet sind und die Imminenz insofern noch kontextuell induziert wird. Das durch den Kontext induzierte Merkmal [punktuell] durch Adverbien, wie soudain, oder syntaktischen Mitteln, wie Temporalsatz, wird im Zuge der Herausbildung des Proximativs être pour + Inf. signifikant in der Selegierung der Verbklasse, zumal in 100% (10 / 10) der in Tabelle 109 (Seite 421) illustrierten Belege die infinite Form als Achievement auftritt. Tabelle 109: Proximativ être pour + Inf. im 15. Jahrhundert im Frantext intégral. Jahr
TAM
PSa
Aktionsart Kotext
Autor
présent
.SG
ACH
TS
Anonyme
imparfait
.SG
ACH
HS
Antoine de la Sale
cond.prs
.SG
ACH
TS
Antoine de la Sale
imparfait
.SG
ACH
TS
Antoine de la Sale
imparfait
.SG
ACH
HS
Pierre Crapillet
passé simple
.SG
ACH
TS
Antoine de la Sale
passé simple
.PL
ACH
TS
Antoine de la Sale
présent
.SG
ACH
HS
Jean de Bueil
présent
.PL
ACH
TS
Fouquart de Cambray/Antoine Duval/Jean d’Arras
–
imparfait
.SG
ACH
TS
Anonyme
a
b
Dass der Parameter «Person» überwiegend in der 3.PS.SG erscheint, wird aufgrund des allgemein frequenteren Gebrauchs der 3.PS.SG (zudem insbes. in literarischen Werken) als nicht signifikant erachtet. b TS = Temporalsatz, HS = Hauptsatz.
422
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(520) Être pour + Inf. mit Achievements (a) Et pour tant, quant l’oste du souldain est pour sallir du Caire, premièrement il se pourvoye et mande lez eaues, avecque grant nombre de gambels, de lieu en lieulx. (Frantext intégral: Anonyme, Traité d’Emmanuel Piloti sur le Passage en Terre Sainte, 1441, p. 237) (b) quant seroient pour venir a eulx, gastassent les vivres et habandonnassent les places et venissent a lui, en la cité de Sarragousse, le plus celeement qu’ilz porroient; et (Frantext intégral: Antoine de la Sale, La Salade, 1442, p. 51) Während die Ereigniszeit unmittelbar nach der Referenzzeit liegt, kann auch die Ereigniszeit durch Temporaladverbien fokussiert werden. (521) Kompatibilität von être pour + Inf. mit Temporaladverbien car seurement le duc Baudouyn ne partira pas qu’il ne soit grant jour. Mais de vray ilz se esmeuvent et font le plus grant bruit du monde en leurs logeiz. Et est pour partir demain. «--» Il fault mander, dist le conte, que chascun soit prest. (Frantext intégral: Jean de Bueil, Le Jouvencel t.1, 1461, p. 208, seconde partie, chapitre 11) Im passé simple ist bereits sowohl die Implikatur von p als auch von ¬p in Form der Avertivbedeutung möglich. (522) Être [passé simple] pour + Inf. +> p ᴠ ¬p (a) «Et quant je fus pour monter a cheval, il m’envoia quarante florins d’Arragon.» (Frantext intégral: Antoine de la Sale, Jehan de Saintre, 1456, p. 105) (b) Et quant il furent pour saillir tous hors de l’ostel, la furent les X tous blans, tresbeaux et fringans coursiers que il avoit secretement acheter (Frantext intégral: Antoine de la Sale, Jehan de Saintre, 1456, p. 235) Im Gegensatz zu der bereits im 14. Jahrhundert mit Negationspartikel belegten lexikalischen Konstruktion estre en point de non p (Bsp. ils furent en point de non faire le passage) ist être pour + Inf. mit Negation erstmalig im 16. Jahrhundert, jedoch ausschließlich in Verbindung mit der volitiv-modalen Nebenbedeutung von être pour + Infinitiv, belegt und weist in Analogie zu den romanischen
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
423
Sprachen (und in typologischer Perspektive) noch eine Inkompatibilität des Proximativs mit der Negation auf. (523) Être pour + Inf. im Skopus der Negationspartikel (a) Si quelques uns vouloient renouveler la farce de Marot et de Sagon, je ne suis pour les en empescher: mais il fault qu’ilz cherchent aultre badin pour jouer ce rôle avecques eux. Voylà ung petit desseing, Lecteur, (Frantext intégral: Joachim Du Bellay, L’Olive, 1550, p. 238) (b) Mais, puisque ainsy il vous plaist, Madame, je ne suis pour vous contredire. (Frantext intégral: Marguerite de Navarre, L’Heptaméron, 1550, p. 865) Die bereits in spätlateinischer Zeit gebrauchten Infinitivkonstruktionen werden auch im Altfranzösischen (estre + Infinitiv, estre a + Infinitiv, estre de + Infinitiv) übernommen, vollziehen allerdings einen unterschiedlichen semantischen Wandel, während être sur le point de + Infinitiv aufgrund der die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden PP in den romanischen Sprachen nahezu analog verläuft. Es wurde gezeigt, dass das vermeintlich ausgestorbene être pour + Inf. auch im Gegenwartsfranzösischen noch (wenn auch marginal) zum Ausdruck der Imminenz gebraucht wird. Im Gegensatz zu den iberoromanischen Sprachen nimmt das Französische hinsichtlich des Proximativ-Avertiv-Kontinuums allerdings eine konservativere Stellung ein.
4.5.5 Fazit In Kapitel 4.5 ist sowohl die frühe Genese des Proximativs als auch der zu Kuteva (1998; 2001) entgegengesetzte Pfad Proximativ > Avertiv anhand der romanischen ESSE*RE/STARE/SEDERE-Periphrasen korpusbasiert untersucht worden. Der in Kapitel 3.2.2 aufgezeigten synchronen Variation der ESSE*RE/STARE/SEDEREPeriphrasen in den romanischen Sprachen liegen unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade hinsichtlich der Kategorien Proximativ und Avertiv zugrunde. Die dargelegte diachrone Untersuchung des Proximativs und Avertivs aus der Kopula verifiziert die folgenden Thesen. Die ESSE*RE-Infinitivkonstruktionen vollziehen im Spätlateinischen einen modal-aspektuellen Wandel. Während im Spätlateinischen für die Prospektivität im weiteren Sinne (i.e. sowohl prospektiv als auch imminentiell) noch das PFA + esse im System etabliert war (bis zu seiner zunehmenden Ersetzung durch die HABERE-Periphrasen ab dem 3. Jahrhundert) und demzufolge keine Notwendigkeit einer weiteren aspektuellen Periphrase bestand, wird die lateinische
424
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
präpositionslose esse-Infinitivkonstruktion noch überwiegend modal (est videre ‘man kann sehen’; ‘es ist zu sehen’) gegenüber marginaler aspektueller (sowohl prospektiver als auch progressiver) Inferenzen gebraucht. Die präpositionslose lat. esse-Infinitivkonstruktion konventionalisiert allerdings weder die Prospektivität noch die Progressivität, sondern wird im Gegensatz zu den präpositionalen esse-Infinitivperiphrasen (esse*re ad/de + Inf) in den frühen romanischen Sprachen weitestgehend aufgegeben bzw. ersetzt, wie beispielsweise im Altsurselvischen, in dem sie erstmalig in der Katechismusausgabe von 1698 «durch eine gewöhnliche Verbalform» (Decurtins 1956, 88) ersetzt wird. Zu der in den meisten romanischen Sprachen relativ früh abgebauten präpositionslosen Konstruktion kamen bereits ab dem Spätlateinischen die beiden präpositionalen Periphrasen esse ad/de + Inf. hinzu, von denen das Sardische den Proximativ der Form essere de + Inf. zum Proximativ entwickelt (Kapitel 4.5.2.1). Es ist gezeigt worden, dass in den frühen romanischen Sprachstufen noch keine Spezifizierung hinsichtlich der Aspektualität vorlag, insbesondere zwischen imminentieller, ingressiver und progressiver Phase, und die phasale Bedeutung noch entsprechend der Aktionsart des im Infinitiv stehenden Verbs inferiert wurde. Die in Kapitel 4.5.1 diskutierten Hyperkorrektismen im Spätlateinischen zeigen sich auch in altsardischen Dokumenten (sowie frühen Texten der iberoromanischen Sprachen), insofern die Imminenz sogar über eine Infinitivkonstruktion mit dem Auxiliar in Gerundialform inferiert wurde. Die ESSE*RE-Periphrasen entstehen durch ihre Genese im Spätlateinischen diachron früher als die sich anschließend in Analogie herausbildenden innovativeren STARE-Periphrasen, die nicht nur für modale, sondern insbesondere auch für aspektuelle Funktionen zunehmend erstere ersetzen und weiterentwickeln: Neben esse + Inf. werden die sich bereits im Spätlateinischen herausbildenden Periphrasen esse ad + Infinitiv und esse de + Inf. in den romanischen Einzelsprachen übernommen, die eine unterschiedliche einzelsprachliche pragmatisch-semantische Entwicklung durchlaufen. Während sich im Italienischen und Rätoromanischen eine modale Grundbedeutung von esser(e) de + Inf. durchsetzt, entwickelt das Sardische diese ältere Form essere de + Infinitiv im Zuge eines modal-aspektuellen Wandels zum Proximativ weiter. Im Gegensatz zu dem hinsichtlich des Proximativ-Avertiv-Kontinuums konservativen Sardischen, das (noch) nicht zu einer Auxiliarvariation zwischen dem älteren essere und dem innovativeren (i)stare hinsichtlich des Proximativs gelangt ist (im Gegensatz zur sardischen partialisierenden Winkelschau, die bereits marginal mit dem Auxiliar istare neben dem frequenteren essere gebraucht wird, cf. Kapitel 4.5.2.1), setzen sich im Italienischen und Rätoromanischen die gegenüber sard. essere de + Inf. innovativeren Konstruktionen esser(e) per +
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
425
Infinitiv266 und star(e) per + Infinitiv für den Proximativ durch. Im Italienischen entwickelt sich essere per + Infinitiv diachron früher als die Periphrase stare per + Infinitiv, die erst im 19. Jahrhundert essere per + Inf. an Frequenz überholt und im Gegenwartsitalienischen bereits deutlich überwiegt: Es finden sich in dem 130.000.000 Token großen CORIS-Korpus des Gegenwartsitalienischen 5457 Belege von stare per + Infinitiv, denen lediglich 468 Belegen von essere per + Inf. gegenüberstehen. Im Gegensatz zu den die Periphrase esser(e) per/ pa’ + Inf. noch konservierenden italoromanischen Sprachen, werden ser por/ para + Inf. in den hinsichtlich des Proximativ-Avertiv-Kontinuums innovativeren iberoromanischen Sprachen gänzlich abgebaut zugunsten von estar para + Inf. und estar por + Inf. (gl., sp., pg.) bzw. estar per + Inf. (kat.), wie in Kapitel 4.5.3 dargelegt worden ist. Dem synchronen Unterschied von estar por + Inf. und estar para + Inf. in den iberoromanischen Gegenwartssprachen Spanisch, Portugiesisch und Galicisch (Katalanisch entwickelt hingegen bekanntlich lediglich estar per + Inf.) liegt auch eine unterschiedliche diachrone Entwicklung zugrunde. Der Grammatikalisierungspfad (Venitiv >) Prospektiv > Proximativ (Spezifizierung) konnte anhand der Verbalperiphrase estar por + Infinitiv (< ser por + Inf.) durch die anfängliche Verbindung mit dem venitiven Verb sp. venir (‘kommen’) bzw. pg. vir (‘kommen’) sowohl für das Portugiesische als auch das Spanische aufgezeigt werden. Im Spanischen erlangte die Kombination mit venir im Infinitiv zum Ausdruck der Prospektivität bis zum 15. Jahrhundert eine Kulmination von 86,27% (i.e. 44 von 51 CDE-Belegen der Periphrase ser por + Infinitiv im 15. Jahrhundert) bzw. 40,74% (i.e. 11 von 27 CDE-Belegen der Periphrase estar por + Infinitiv im 15. Jahrhundert). Im Portugiesischen erlangte die analoge Kombination mit vir im Infinitiv innerhalb der CDP-Belege von ser por + Inf. im 15. Jahrhundert 36,17%, während estar por + Inf. ab dem 15. Jahrhundert eine kontinuierlich dominante Distribution von vir in der Infinitivselektion aufzeigte. Während es im Spanischen bereits ab dem 16. Jahrhundert (mit dem Abbau von ser por + Inf.) zu einer verstärkten Paradigmatizität der ursprünglich noch von venir dominierten prospektiven Konstruktion estar por + Inf. kommt, weist die portugiesische Periphrase erst in den CDP-Belegen des 19. Jahrhunderts eine erhöhte Paradigmatizität auf, indem sie auch weitere Verben in der infiniten Form aufweist. Die Untersuchung der PUNCTUM-Periphrasen mit der die Imminenz bereits lexikalisch ausdrückenden PP fr. sur le point de, it. sul punto di, sp.; gl. a punto
266 Wie gezeigt worden ist, gelangt essere pal/pa’ + Inf. vereinzelt ins Sardische, wie in sard. «La notti è pal viné» (Gavinu Pes, Lu Tempu, 18. Jh.).
426
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
de, pg. a ponto de, kat. a punt de, etc. zeigte die folgende Entwicklung: Sowohl die PUNCTUM- Präpositionalphrase (PP) als auch das Auxiliar (ser > estar) vollziehen einen sowohl semantischen als auch syntaktischen Wandel: Hinsichtlich der PUNCTUM-PP der SEDERE/ESSERE/STARE-Infinitivkonstruktion vollzieht sich in den iberoromanischen Sprachen ein Wandel von ser in/en/em p(u/o)nt(o) de + Inf. zu ser a p(u/o)nt(o) de + Inf. (im Italienischen hingegen zu essere sul punto di + Inf., im Französischen zu être sur le point de + Inf., im Rumänischen a fi pe punctul de + Inf./Subj., etc.). Was den Wandel des Auxiliars anbelangt, zeigt sich analog zu ser por/para + Inf. auch bezüglich der Periphrase mit der PUNCTUM-PP eine kontinuierliche Ersetzung des Auxiliars ser durch estar in den iberoromanischen Sprachen: sp. ser en punto de + Inf., gl.-pg. ser em ponto de + Inf. und kat. ser en punt de + Inf. werden in den älteren Sprachstufen zunehmend durch sp. estar en punto de + Inf., gl.-pg. estar em ponto de + Inf. und kat. estar en punt de + Inf. ersetzt, bei den sich die PP von sp. en punto de, gl.-pg. em ponto de und kat. en punt de zur Präposition a punto de, a ponto de und a punt de wandelt (cf. Tabelle 110, Seite 427). Der zu Kuteva (1998; 2001) und Ziegeler (2000; 2006) entgegengesetzte Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv ist anhand des in Kapitel 2.2. modifizierten und in Kapitel 3 anhand der romanischen Sprachen synchron illustrierten Modells diachron korpusbasiert untersucht worden (cf. Tabelle 111, Seite 428). Die PUNCTUM-Periphrasen zeigten gegenüber den präpositionalen ESSERE/ STARE/SEDERE-Periphrasen eine unterschiedliche semantisch-pragmatische Entwicklung in der Grammatikalisierung auf. Während die PUNCTUM-Periphrasen einen direkten Pfad in den Proximativ via eines metaphorischen Bedeutungswandels auf der Basis des Location Schema zurücklegen, der nach einer früheren Grammatikalisierung in den Proximativ auch zu einer sich anschließend früheren Herausbildung der Avertivbedeutung führt, zeigt sich bei den Periphrasen mit den Präpositionen por, para und per ein getrennter und sich erst über die lexikalischen Bedeutungen der Finalität, Disposition, Volition etc. entwickelnder Pfad in den Prospektiv sowie in den Proximativ und entsprechend auch eine diachron spätere Genese der Avertivfunktion. Die Genese der Avertivfunktion vollzieht sich im Zuge der Konventionalisierung der aufgezeigten kontrafaktischen Implikatur. Diesbezüglich wurde gezeigt, dass die Genese der Avertivfunktion der PUNCTUMPeriphrasen diachron weitaus früher entsteht als die der Periphrasen von estar por + Inf. und estar para + Inf., die sich erst im 16. Jahrhundert konventionalisieren und nicht annähernd die starke aufgezeigte Avertivdistribution der PUNCTUMPeriphrasen in den Gegenwartssprachen erreichen. Der Avertivgenese der Periphrasen estar por + Inf. und estar para + Inf. in den iberoromanischen Sprachen geht ein Wandel der TAM-Distribution voraus, insofern als sich der ursprünglich ausschließliche Gebrauch der Periphrasen mit Tempora mit imperfektivem Aspekt
Essere a puntu de + Inf.
Essere de + Inf.
(essere de + Inf.)
Sard.
It. Esser per + Inf. Être pour + Inf. Èsser per + Inf. Ser per + Inf. †
Ser por + Inf. † Ser para + Inf. † Ser por + Inf. † Ser para + Inf. † Ser por + Inf. † Ser para + Inf. †
Être sur le point de + Inf. Esser suu punt de + Inf. Ser (en>)a punt de + Inf. † > Estar a punt de + Inf. Ser (em>)a ponto de + Inf. † > Estar a ponto de + Inf. Ser (em>)a ponto de + Inf. † > Estar a punto de + Inf. Ser (en>)a punto de + Inf. † > Estar a punto de + Inf.
Fr.
Okz.
Kat.
Pg.
Gl.
Sp.
Essere per + Inf.
(Essere pa’ + Inf.)
Rät.
Essere sul punto di + Inf.
A fi pe punctul de + Inf.
Esse*re (ad/de) + Inf.
Rum.
Lat.
Tabelle 110: ESSERE/STARE/SEDERE-Proximativperiphrasen in den romanischen Sprachen.
Estar por + Inf.; Estar para + Inf.
Estar por + Inf.; Estar para + Inf.
Estar por + Inf.; Estar para + Inf.
Estar per + Inf.
Star per + Inf.
Stare per + Inf.
4.5 Kopula (ESSE*RE/SEDERE/STARE) > Proximativ > Avertiv
427
428
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 111: Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006). Ziegeler (; )
Schwellenbach (; )
Stage I:
proximity to X (prediction of X via R-based implicatures)
—
proximative +> p
Stage II:
proximity to X, but Y, therefore not-X (prediction of X is explicitly cancelled, inducing Q-based implicatures)
avertive +> ¬p
proximative +> ¬p
Stage III:
proximity to X (but Y, therefore not-X) (cancellation is omissible, and implicit)
counterfactual
proximative +> ¬p
Stage IV:
proximity to X (‘not X’ generalised as part of the meaning)
proximative +> ¬p (GCI)
avertive [was about to take place but did not take place]
zur Kompatibilität der Periphrasen mit Tempora mit perfektivem Aspekt wandelt. Ab dem 16. Jahrhundert werden die Periphrasen vermehrt mit Adversativsätzen gebraucht, die die R-basierte Implikatur aufheben und die für den Avertiv typische Q-basierte Implikatur auslösen, die sich in Tempora mit perfektiven Aspekt zunehmend konventionalisiert. Lediglich die PUNCTUM-Periphrasen erreichen allerdings eine hohe Avertivfrequenz, die sich sogar in der Grundbedeutung der Periphrase manifestiert (cf. Kapitel 3.2.2; für Italienisch cf. Kapitel 4.5.2.2., für Spanisch Kapitel 4.5.3.1 und für Portugiesisch Kapitel 4.5.3.2). Nach der Genese der Avertivfunktion der drei SEDERE/ESSERE/STAREInfinitivkonstruktion entwickelt die Avertivfunktion eine Kompatibilität mit der Negationspartikel, die sowohl hinsichtlich der PUNCTUM-Periphrase als auch bei den präpositionalen Periphrasen estar por + Inf. und estar para + Inf. diachron korpusbasiert untersucht wurde. Wie in den synchronen Teil aufgezeigt wurde, wird die Kompatibilität mit der Negationspartikel im Skopus der Avertivkonstruktion in dieser Arbeit als ein fortgeschrittenes Grammatikalisierungsstadium betrachtet, das zur Umkehrung der Polarität des Avertivs (‘p war kurz davor sich nicht zu realisieren, aber hat sich letztlich realisiert’) führt. Wie in Kapitel 3.2.2 dargelegt wurde, handelt es sich allerdings bei den in Tempora mit perfektivem Aspekt stehenden STARE-Avertivperiphrasen um schwächer grammatikalisierte Avertivperiphrasen als die stärker grammatikalisierte französische Avertivperiphrase faillir + Inf., die im passé composé nahezu defektiv geworden
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
429
ist (mit Ausnahme der weniger gebräuchlicheren literarisch-konservativen Verwendung im passé simple) und Gegenstand des folgenden Kapitels ist.
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv Der Avertiv aus lat. FALLERE/MANCUS/PECCARE267 existiert gegenwärtig noch in Form der Verbalperiphrasen fr. faillir + Inf. ( aber p war kurz davor, sich zu realisieren)
¬p
+> Imminenz
Stadium IV:
‘p wurde nicht realisiert, aber p war kurz davor, sich zu realisieren’
¬p
Imminenz
Die Grammatikalisierungsstadien des Pfads FALLERE/MANCUS/PECCARE > Avertiv werden in Tabelle 113 (Seite 431) in das Englische übertragen.
270 Cf. «Grammaticalization path of the avertive in French» nach Schwellenbach (2012a; 2012b) und den Hinweis in Schwellenbach (2013, 130): «The French avertive will not be considered in greater detail, but this [i.e. the grammaticalization into the avertive without requiring a detour through th proximative] is due to the fact that the polar component is grammaticalized earlier than the proximal component (i.e. imminence).» (Schwellenbach 2013, 130).
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
431
Tabelle 113: Stages of grammaticalization of FALLERE/MANCUS/PECCARE > Avertive. Stages
Polar Component
Proximal Component (i.e. imminence)
Stage I:
to fail to do p (+> p didn’t take place)
+> ¬p
—
Stage II:
p didn’t take place
¬p
—
Stage III:
p didn’t take place (+> but p was about to take place)
¬p
+> imminence
Stage IV:
p didn’t take place, but p was about to take place
¬p
imminence
Die Verifizierung eines von der Proximativ > Avertiv-Entwicklung der lat. ESunterschiedlichen Grammatikalisierungspfades aus FALLERE/MANCUS/PECCARE wird darüber hinaus weitere neue Rückschlüsse zur unklaren Verwandtschaft der beiden Grammeme, insbesondere ihrer bislang diskutierten Grammatikalisierungsrichtung, Proximativ > Avertiv oder Avertiv > Proximativ, ermöglichen.
SE*RE/SEDERE/STARE-Periphrasen
4.6.1
FALLERE
>*FALLIRE > Avertiv
Der Avertiv aus der Grammatikalisierungsquelle klat. FALLERE (‘[ent]täuschen’, ‘betrügen’, ‘sich irren’, ‘versagen’, u.a.) bzw. vlat. *fallire hat sich im Französischen in Form der Verbalperiphrase faillir + Infinitiv (< faillir + PRP [à/de] + Infinitiv < faillir [≠ falloir] < afrz. falir < vlat. *fallire < klat. fallere) herausgebildet, die nach einer Trennung von der unpersönlichen Konstruktion falloir im passé composé (avoir failli + Infinitiv) defektiv geworden ist (cf. u.a. Littré 1873, vol. 3, 430s.; 1956, vol. 3, 1346ss.; Backe 1869; Diez 1887, 133; FEW, vol. 3, 386s.; Gougenheim 1929, 138–147; Kuteva 2001; Klump 2007, 179ss.).271 Die Grammatikalisierung des französischen Avertivs faillir + Inf. verläuft streng einzelsprachlich. Die anderen neun romanischen Sprachen gelangen nicht über den Status eines Vollverbs hinaus, wie für die Vollverben fallire (it., sard.), fallar (gl., kat., sp.),
271 Die Genese der Avertivbedeutung von faillir + Infinitiv wird bislang auf das 16. Jahrhundert datiert, wie u.a. bereits Backe (1869) und Gougenheim (1929) anmerken.
432
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
falhar (okz., pg.), Ø (rät., rum.) mit den lexikalischen Bedeutungen ‘scheitern’, ‘misslingen’, ‘versagen’, ‘verfehlen’, ‘nicht funktionieren’, ‘enttäuschen’, it. fallare mit der lexikalischen Bedeutung ‘irren’ und fallecer (sp.), falecer (pg., gl.) mit der Bedeutung ‘(ver)sterben’ argumentiert werden kann. Der lexikalische Gebrauch aus der Quelle vlat. *fallire sei exemplarisch an sardischen Beispielen aus dem Vocabulario sardo Logudorese – Italiano di Pietro Casu einschließlich italienischer Übersetzung illustriert. (525) Sard. fallíre – It. fallire Sard. Medas negosciantes fazzilmente si ch’alzan a sas aèras e fazzilmente fallini. It. ‘Molti negozianti facilmente s’inalzano alle nubi e facilmente falliscono.’ (Casu 2011) Sard. Ma oe no fallin solu sos interessos, fallit puru s’iscienzia, sa morale, su bonu sensu, sa cussenzia, ei sos prinzipios pius santos It. ‘Ma oggi non falliscono solo gli interessi materiali, falliscono anche la scienza, la morale, il buon senso, la coscienza, e i principi più santi.’ (Casu 2011) Aufgrund der streng einzelsprachlichen Grammatikalisierung beschränkt sich die nachfolgende diachrone Untersuchung vorwiegend auf die französische Konstruktion faillir + Inf.. Wie in Kapitel 3.2.2.2 dargelegt, besteht hinsichtlich der Aufhebbarkeit der proximalen und polaren Komponente von faillir + Inf. kein Konsens unter den Linguisten. Im Gegensatz zu anderen theoretischen Ansätzen, wie Vuillaume (2009, 146) oder Dietrich (1973, 72),272 sind im Gegenwartsfranzösischen sowohl die polare als auch die proximale Komponente nicht aufhebbar, wie in Kapitel 3.2.2.2 anhand des folgenden Beispiels illustriert wurde. (526) Unaufhebbarkeit beider Komponenten Jean a failli tomber. ‘Jean wäre beinahe gefallen.’ Polare Komponente: Jean n’est pas tombé. ‘Jean ist nicht gefallen.’
272 Sowohl Dietrich (1973, 72) als auch Vuillaume (2009) erachten hingegen die Imminenz keineswegs als impliziert, ohne allerdings ihre Intuition anhand pragmatischer Tests zu belegen: «La conclusion qui s’impose, c’est que la construction ‹faillir + infinitif› n’implique nullement l’idée d’imminence.» (Vuillaume 2009, 146); «Man kann hier auch nicht von ‹Imminenz› sprechen, da faillir das Nicht-Zustandekommen betont und erst sekundär die Imminenz positiv daraus ableitbar ist.» (Dietrich 1973, 72).
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
433
Test: #Jean a failli tomber et, il est tombé. ‘#Jean wäre beinahe gefallen und er ist gefallen.’ Proximale Komponente: Jean était sur le point de tomber. ‘Jean war kurz davor zu fallen.’ Test: #Jean a failli tomber mais il n’était pas sur le point de tomber. ‘#Jean wäre beinahe gefallen, aber er war nicht kurz davor, zu fallen.’ Dass allerdings die polare Komponente in der Tat prominenter ist als die proximale Komponente, die im Gegensatz zu den imminentiellen STARE-Periphrasen durch eine passive Assertiertheit (cf. Kapitel 3.2.2.2) charakterisiert ist, ist sowohl auf das ursprüngliche Lexem als auch auf die unterschiedliche Diachronie der Komponenten zurückzuführen, wie im Folgenden dargelegt wird. Wie bereits in dem ersten Band der Académie française (1694, 423) ersichtlich ist, wird sowohl die polare Komponente (i.e. ¬p) als auch die proximale Komponente (i.e. die Imminenz) der Avertivperiphrase faillir à + Infinitiv (> faillir + Infinitiv) in der Definition des 17. Jahrhunderts versprachlicht. On dit, qu’Une chose a failli à arriver, pour dire, qu’Elle a esté sur le point d’arriver, qu’il a tenu à peu qu’elle n’arrivast. Il a failli à arriver un grand malheur. On dit dans le mesme sens, Il a failli à estre assassiné. il a failli à mourir. il a failli à estre Pape. j’ay failli à tomber. j’ay failli à le nommer. peu s’en est fallu que . . . il ne s’en est guere fallu. il ne s’en est pas fallu une heure (Académie française 1694, 423).
Welche Stadien der Auxiliarisierung von faillir allerdings zugrunde liegen, wird in der Forschung bislang noch relativ kompakt zusammengefasst. Das durch eine stark polysem geprägte Struktur charakterisierte Verb faillir (< vlat. *fallire; lat. fallere), das in altfranzösischer Zeit je nach kontextueller und syntaktischer Einbindung u.a. die Bedeutungsvarianten ‘fehlen; verfehlen; sich täuschen; versäumen; einen Fehler begehen’ erhielt, wurde seit dem 16. Jahrhundert im Rahmen der Periphrase faillir à + Infinitiv vermehrt mit der Bedeutung ‘etwas knapp versäumen, verpassen’ eingesetzt. Somit war es nur ein kleiner semantischer Schritt zur heutigen Verwendung im Sinne von ‘beinahe etw. getan haben/ erfahren haben/ geschehen sein’ (Klump 2007, 180).
Inwiefern sich dieser, ebenso nach Backe (1869) und Gougenheim (1929, 138–147) auf das 16. Jahrhundert datierte, «kleine semantische Schritt» vollzogen hat, wird im Folgenden eingehender untersucht, angefangen bei lat. fallere. Das Lexem von fallere trägt im Lateinischen u.a. die Bedeutungen ‘zu Fall bringen, enttäuschen, (sich) täuschen, betrügen, sich irren, versagen’, wie das folgende Korpusbeispiel illustriert.
434
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(527) Lat. fallere Di immortales, spem insperatam date mihi quam suspicor. nam nisi me animus fallit, hi sunt gemini germani duo. (PHI Latin Texts: Titus Maccius Plautus, c. 200 v. Chr., Menaechmi, Rom) ‘Denn wenn ich mich nicht irre (wörtl. mein Verstand mich nicht täuscht), sind die Geschwister zwei Zwillinge.’ Diese lexikalischen Bedeutungen wurden von den meisten romanischen Sprachen übernommen, wie die folgenden Belege des Altitalienischen, Altprovenzalischen und Altfranzösischen illustrieren. (528) Lat. fallere > vlat. fallire > it. fallire (‘misslingen, versagen’), fallare (‘irren’) 10 Donka pensare me convene; So muß ich also in Trübsal fallen; Mescina, lo core m’arde, Ich Unglückliche, mir brennt das Herz: Ka, si me falla la spene, Wenn meine Hoffnung mich täuscht, Ogna pulcela se garde Soll sich nur jedes Mädchen vor der d’amore. Liebe hüten. (Mazzeo di Ricco da Messina c. 1252, Suspirava una pulcela, 128s.) così li ciechi a cui la roba falla stanno a’ perdoni a chieder lor bisogna, 63 e l’uno il capo sopra l’altro avvalla,
Geradeso hocken die Blinden, denen es am Nötigsten fehlt, an Ablasstagen auf den Bettelplätzen, und einer legt dem andern das Kinn auf die Schulter. (Dante, La commedia, Purgatorio, Canto XIII, 254s.)
(529) Lat. fallere > vlat. fallire > okz. falhir E s’ieu faill ab motz verais: Selbst wenn ich einen Fehler machen d’Aurenga me moc l’esglais, sollte, indem ich wahre Worte sage (,so sage ich sie doch): Aus Aurenga ist mir per qu’ieu n’estauc esbaida der Schrecken gekommen, über den ich 15 e pert solatz en partida. bestürzt bin und durch den ich einen Teil meiner Freude verliere. (Azalaïs de Porcairagues, c. 1140–1185, Ar em al freg temps vengut, 52s.) 5 Plagues a Dieu ja la nueitz non falhis ni·l mieus amicx lonc de mi no·s partis
‘Wolle Gott, daß die Nacht kein Ende nehme und mein Freund sich nicht von meiner Seite entferne und der Wächter weder Tag noch Morgengrauen sehe!’
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
ni la gayta jorn ni alba no vis!
435
(Clara d’Anduza, En un vergier sotz fuella d’albespi, 64s.)
(530) Lat. fallere > vlat. fallire > afrz. falir > faillir 11974 Ja pour pechié ne le laissasse; Und würde es auch um der Sünde willen nicht lassen; Si vous pourrai je bien faillir und ich könnte Euch sehr wohl hintergehen (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 662s.) 14679 Leur paroles atant faillirent. D’ileuc atant se departirent.
Dann endeten ihre Reden. Von dort sind sie darauf fortgegangen. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 796s.)
Im Altfranzösischen (ca. 842–1350)273 hat sich aus vlat. *fallio lautgesetzlich afrz. fail bzw. im Picardischen fal (Entpalatalisierung) entwickelt, welches u.a. in den lexikalischen Bedeutungen ‘fehlen’, ‘betrügen’, ‘täuschen’, ‘versagen’ und ‘verfehlen’ auftritt (cf. u.a. Littré 1873, vol. 3, 430s.; 1956, vol. 3, 1346ss.; Diez 1887, 133; TL, vol. 3., 1607–1616; FEW, vol. 3, 386s.; Leicht 1909, 9; Gamillscheg 1928, 402; Rheinfelder 1976, vol. 2, 225s.; 268s.). (531) Lexikalische Bedeutung im 11. Jahrhundert Il l’ament tant, ne li faldrunt nient. (Chanson de Roland XXIX, zitiert nach Littré 1956, vol. 3, 1347) Die Trennung von falloir und faillir erfolgt nach Herslund (2003) auf der Grundlage zweier unterschiedlicher intransitiver Verwendungen im Altfranzösischen. Die Herausbildung der deontischen Lesart von falloir geht nach Herslund (2003) auf eine unakkusative274 (auch: ergative), telische und nicht-agentivische
273 Es wird im Folgenden eine geläufige diachrone Einteilung in die vier Epochen Altfranzösisch (ca. 842–1350), Mittelfranzösisch (ca. 1350–1500), Frühneufranzösisch (1500–1600) und Neufranzösisch (ab ca. 1600) zugrunde gelegt. 274 Herslund (2003) legt die Unakkusativ-These nach Perlmutter (1978) zugrunde, nach welcher innerhalb der intransitiven Verben zwischen unergativen Verben (i.e. den «traditionellen» intransitiven) Verben und unakkusativen (auch: ergativen) Verben unterschieden wird, die ihren Erstaktant im Nominativ wie ein direktes Objekt behandeln.
436
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Verwendung mit oftmals unbelebten Subjekten im Altfranzösischen zurück, für die Herslund (2003) das folgende Beispiel aus Erec et Enide anführt. (532) Unakkusative Verwendung von falloir < falir Mes einçois que la corz fausist, li rois a ses chevaliers dist qu’il voloit le blanc cerf chacler (Erec 35, zitiert nach Herslund 2003, 67) Entsprechend einer unakkusativen Verwendung wird das passé composé mit dem Auxiliar être (‘sein’) gebildet.275 (533) passé composé mit être bei unakkusativer Verwendung des que m’espee m’est faillie (Erec 3823, zitiert nach Herslund 2003, 68) Die folgenden Belege aus dem Roman de la Rose (ca. 1235–1280), die insbesondere die für die Herausbildung von falloir relevante Verwendung enthalten, illustrieren die lexikalischen Bedeutungen ‘fehlen’, ‘abhanden kommen’, ‘verlieren’, ‘verschwinden’, ‘entgehen’. (534) Lexikalische Bedeutung im altfranzösischen Roman de la Rose 3300 Mais ore est ses enuiz dob- aber jetzt ist seine Pein verdoppelt; lez; Or est il morz e mal bailliz jetzt ist er todunglücklich, Quant Bel Acueil li est da der SCHÖNE EMPFANG ihm fehlt. failliz. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 234s.) 3727
Je cuit que cuers vos est failliz: Mais vos en seroiz mal bailliz, E en avroiz poine e enui, S’onques Jalosie conui.
Ich glaube, der Mut ist Euch abhanden gekommen; aber dafür wird es Euch übel ergehen, und Strafe und Verdruß werdet Ihr dafür haben, falls ich Frau ARGWOHN jemals kannte. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 254s.)
4409 Si que ja par succession So daß durch die Nachfolge Ne fausist generacion; keine Generation fehle; Car, puis que pere e mere Denn da Mutter und Vater verschwinden, faillent,
275 cf. Herslund 2003, 68; Perlmutter 1978.
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
4653
437
Nature veaut que li fill saillent
will NATUR, daß die Kinder erscheinen (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 288s.)
A ce ne puis je pas faillir. Par l’un me couvient il saillir: Ou j’amerai, ou je harrai;
Dem kann ich nicht entgehen. Jedenfalls werde ich dahin gelangen: ich werde lieben oder hassen; (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 300s.)
4694 Come on fers, sages e celanz, E leiaus, car riens ne vaudrait Li sens ou leiauté faudrait.
als ein fester, weiser und verschwiegener Mann und auch getreuer, denn nichts wäre
10507 S’il n’en ist, je sui maubailliz, Puis que Tibullus m’est failliz, Qui quenoissait si bien mes teches,
Wenn er nicht herauskommt, steht es schlecht mit mir, da ich Tibull verloren habe,
der Verstand wert, wo Treue fehlte. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 302s.)
der meine Eigenschaften so gut kannte, (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 588s.)
Goldschmitt (2007, 178) illustriert den metonymischen Bedeutungswandel von ‘fehlen’ zu ‘brauchen’ über die Konventionalisierung konversationeller Implikaturen an dem folgenden Beispiel mit der wörtlichen Bedeutung ‘Und so fehlt es ihnen an nichts.’, aus dem bereits die Inferenz ‘Sie brauchen nichts.’ gezogen wird. (535) ‘Es fehlt ihnen an nichts.’ +> ‘Sie brauchen nichts.’ Pain lur portet de sun païs: Granz et mult blanz guasteus alis; E si lur falt neüle rien, Tut lur truverat, ço promet bien. (Benedit, 409–412, zitiert nach Goldschmitt 2007, 178) ‘Er bringt ihnen Brot aus seinem Land, große, ganz weiße und ungesäuerte Laibe. Und so fehlt es ihnen an nichts. Um alles wird er sich kümmern, das verspricht er ihnen.’ (Ruhe 1977, 61, zitiert nach Goldschmitt 2007, 178) ‘Es fehlt ihnen an nichts.’ +> ‘Sie brauchen nichts.’ (cf. Goldschmitt 2007, 178)
438
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Der unpersönliche Gebrauch dieser Verwendung ist im Altfranzösischen hinreichend belegbar, wie die folgenden Nachweise aus dem 12. Jahrhundert (Erec et Enide) und 13. Jahrhundert (Le Roman de la Rose) illustrieren. (536) Unpersönlicher Gebrauch von falir (> falloir) im 12. und 13. Jahrhundert 2600 Nule chose ne me failloit ‘Nichts fehlte mir.’ 2587 Il ne me failloit nule chose ‘Es fehlte mir nichts.’ (Erec 2600/2587, zitiert nach Herslund 2003, 69) Sez tu que m’amour te vaudra? 5804 Tant que jamais ne te faudra Nule chose qui te couviegne, Pour mescheance qui t’aviegne:
weißt Du, was meine Liebe Dir einbringen wird? So viel, daß Dir niemals irgendetwas fehlen wird, was Du brauchst, welches Unglück Dir auch widerfahre: (De Lorris/De Meun 1976, vol.1, 354s.)
Weitere Beispiele der unpersönlichen Konstruktion können aus dem altfranzösischen NCA-Korpus (ca. 1150–1350) aufgeführt werden. (537) Unpersönliche Konstruktion im NCA im 13. Jahrhundert (a) si ne sera pas decheu or je t e moustré par reson en quel lieu et en quel seson doiz choisir or faut que je die de qui tu deiz fere t amie garde que t amie soit bele (NCA: ca. 1280, La clef d’amors, imitation de l’Ars Amatoria d’Ovide) (b) carca les garbes dessus dites et les mena en le grange de son segneur et quant il les conta il n i en trouva que et quant li tenans vit ce il dist a son segneur’ sire il me faut une garbe de votre droit je ne sai s ele m est queue ou s ele m est mescontee mes je le vois requerre et larrai ici mes quevaus et (NCA: Philippe de Beaumanoir, 1250, Les coutumes du Beauvoisis) In Verbindung mit einem Infinitiv findet Kjellman (1913, 90) erste Beispiele der unpersönlichen Konstruktion im 13. Jahrhundert, die sich im 14. Jahrhundert konventionalisieren. Im NCA-Korpus finden wir ebenfalls keine früheren altfranzösischen Beispiele der unpersönlichen Konstruktion mit Infinitiv vor dem 13. Jahrhundert.
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
439
Während die deontische Lesart von falloir einer unakkusativen Verwendung von falir entspringe, entstehe die alethische Lesart von faillir, die Herslund (2003) mit «ce qu’on n’atteint pas, c’est ce qui aurait pu être» paraphrasiert, aus einer agentivischen und unergativen Verwendung mit oftmals belebten Subjekt. (538) Alethische Lesart von faillir nach Herslund (2003) (a) Il ne failli mie, ce cuit, ainz a son cop bien emploié (Dole 2682, zitiert nach Herslund 2003, 69) (b) et li tierz a a lui failli (Lancelot 1143, zitiert nach Herslund 2003, 69) Im Gegensatz zu der unakkusativen Verwendung wird das passé composé der unergativen Verwendung mit dem Auxiliar avoir (‘haben’) gebildet. (539) passé composé mit avoir bei unergativer Verwendung Mes cil a a Erec failli (Erec 2859, zitiert nach Herslund 2003, 70) Herslund (2003, 70) beschreibt den Unterschied zwischen den beiden Verwendungen, wie folgt: La difference est qu’avec le datif en construction inaccusative avec un sujet non-agentif, ce qu’il me ‘faut’, est quelque chose qui me manque, quelque chose dont j’ai besoin; en construction inergative avec sujet agentif, celui qui ‘me faut‘ (construction dative), c’est quelqu’un qui me trahit ou m’abandonne, celui qui ‘faut a moi‘ (construction neutre), c’est quelqu’un ou quelque chose qui ne m’atteint pas. (Herslund 2003, 70)
Die Abbildung 39 nach Herslund (2003) illustriert die anfängliche Trennung der Verben faillir und falloir, bei der die Bedeutung von faillir mit y aurait pu (faire) x (i.e. mit der in dieser Arbeit lediglich kontrafaktischen Komponente) wiedergegeben wird.
Topos : « Quand il y a un trou, il faut le combler » (déontique) « x fait défaut à y » à « y doit (faire) x » faillir à falloir Topos : « Quand on n’atteint pas quelque chose, c’est que cela a été possible » (aléthique) « y n’atteint pas x » à « y aurait pu (faire) x » faillir à faillir Abbildung 39: Faillir und falloir nach Herslund (2003, 71).
Die für die Herausbildung von faillir + Infinitiv relevante Verwendung mit oftmals belebten Subjekt erscheint in zahlreichen, u.a. bei Leicht (1909, 40)
440
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
aufgeführten, Bedeutungsnuancen hinsichtlich des frames ‘täuschen’,276 wie in den Kollokationen faillir de couvent (‘sein Versprechen nicht halten’), faillir de serement (‘Schwur nicht halten’), faillir de promesse (‘Versprechen nicht halten’), faillir de paiement (‘Bezahlung nicht leisten’), faillir d’aide oder faillir de secours (‘Hilfe versagen’), faillir de guerre (‘sich nicht am Kriege beteiligen’), faillir de bataille (‘nicht mitkämpfen’), faillir de parlement (‘bei Unterredung nicht erscheinen’), faillir de compagnie (‘nicht begleiten’), etc. In der Paraphrasierung dieser Bedeutungsnuancen wird bereits das gemeinsame Vorstadium einer polaren Komponente (¬p) explizit gemacht, die im Zuge der sich anschließenden Auxiliarisierung von faillir den im Infinitiv ausgedrückten Sachverhalt p der Periphrase faillir + Inf. negiert (‘Sie scheiterten, p zu realisieren’ → ‘Sie realisierten p nicht’; kurz: ¬p) und auf diese Weise bereits einen direkten Pfad (i.e. ohne den in Kapitel 4.5 aufgezeigten Umweg über den Proximativ) in den gegenwärtigen Avertiv erahnen lässt. Es wird im Folgenden die eingangs formulierte Hypothese verifiziert, dass sich zuerst die polare Komponente ¬p und dann die proximale Komponente konventionalisiert. Diesbezüglich wird postuliert, dass der Konventionalisierung der beiden Komponenten die in Tabelle 114 illustrierten Grammatikalisierungstadien zugrunde liegen. Tabelle 114: Stadien des Grammatikalisierungspfads FALLERE > Avertiv. Stadien
Polare Komponente
Proximale Komponente (i.e. Imminenz)
Stadium I:
‘scheitern, p zu realisieren’ (+> p wurde nicht realisiert)
+> ¬p
—
Stadium II:
‘p wurde nicht realisiert’
¬p
—
Stadium III:
‘p wurde nicht realisiert (+> aber p war kurz davor, sich zu realisieren)
¬p
+> Imminenz
Stadium IV:
‘p wurde nicht realisiert, aber p war kurz davor, sich zu realisieren’
¬p
Imminenz
Das Vorstadium (Stadium 0) bilden insbesondere die im Altfranzösischen gut belegten Bedeutungsnuancen ‘scheitern’, ‘versagen’, ‘misslingen’ von faillir. Im Mittelfranzösischen wird faillir vermehrt im Rahmen einer Infinitivkonstruktion
276 «Viel häufiger erscheint faillir in Verbindung mit einer durch de angefügten Bestimmung, die angibt, in welcher Hinsicht das Täuschen erfolgt» (Leicht 1909, 40).
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
441
gebraucht, die das Scheitern einer im Infinitiv stehenden Handlung p zum Ausdruck bringt und insbesondere in Vergangenheitskontexten die generalisierte Implikatur ¬p zulässt, die sich in einem zweiten Stadium konventionalisiert. Die Konventionalisierung der Implikatur ¬p zeigt sich insbesondere an dem vermehrten Gebrauch mit der Negationspartikel, um eine positive Proposition zu äußern (im Sinne von ‘Sie scheiterten nicht, p zu realisieren’ → Sie realisierten p). Da die Bedeutungsnuance des Scheiterns generell einen Versuch präsupponiert, liegt die Inferenzziehung der imminentiellen Bedeutung (Stadium III) bereits nahe, auch wenn sie in der Konstruktion noch nicht konventionalisiert ist und sich erst in Stadium IV, das der Kategorie des Avertivs entspricht, konventionalisiert. Um eine bessere Vergleichbarkeit zu den anderen in dieser Arbeit behandelten Grammatikalisierungsmodellen zu gewährleisten, übertragen wir die Grammatikalisierungsstadien in Tabelle 115 ins Englische. Tabelle 115: Stages of grammaticalization of FALLERE > Avertive. Stages
Polar Component
Proximal Component (i.e. imminence)
Stage I:
to fail to do p (+> p didn’t take place)
+> ¬p
—
Stage II:
p didn’t take place
¬p
—
Stage III:
p didn’t take place (+> but p was about to take place)
¬p
+> imminence
Stage IV:
p didn’t take place, but p was about to take place
¬p
imminence
Die Konventionalisierung der polaren Komponente ¬p (Stadium II) im Zuge einer zunehmend gebrauchten Infinitivkonstruktion vollzieht sich nicht vor dem Mittelfranzösischen. Im Altfranzösischen zeigt sich das Vorstadium (Stadium 0) in einigen Bedeutungsnuancen des Vollverbs falir, wie insbesondere in den Bedeutungen ‘versagen’, ‘scheitern’, ‘misslingen’. (540) Lexikalische Bedeutung im altfranzösischen Cligès (ca. 1176) 770 Or vos reparlerai del dart, Nun werde ich euch wieder von Qui m’est comandez et bailliez, dem Pfeil erzählen, der mir anverComant il est fez et tailliez; traut und in meinen Schutz gegeben Mes je dot mout, que je n’i faille; ist, wie er beschaffen und geschnitzt Car tant an est riche la taille, ist. Aber ich fürchte sehr, dabei zu
442
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
775 Que n’est mervoille, se j’i fail. Et si metrai tot mon travail A dire ce que moi an sanble.
versagen, denn er hat eine so kunstreiche Gestalt, dass es kein Wunder ist, wenn ich versage. Aber ich werde meine ganze Mühe darauf verwenden, um zu sagen, wie er mir erscheint. (Chrétien de Troyes, 2008, 64s.)
Mes ele ne cria qu’un mot; 4105 Qu’erranmant li failli la voiz Et si cheï pasmee an croiz, Si qu’el vis s’est un po bleciee.
Aber nur diesen Schrei brachte sie heraus, danach versagte ihr die Stimme, und sie fiel in Ohnmacht, die Arme zum Kreuz ausgebreitet, wobei sie sich das Gesicht ein wenig verletzt hat (Chrétien de Troyes, 2008, 234s.)
Bevor die Konventionalisierung der polaren Komponente im Mittelfranzösischen anhand unseres Grammatikalisierungsmodells dargelegt wird, soll an dieser Stelle noch eine im Altfranzösischen oftmals gebrauchte und nicht mit dem Avertiv zu verwechselnde besondere Kontextsituation erläutert werden. In der altfranzösischen Literatur findet sich oftmals die Aussage «Li cuers me faut» (in Analogie zu «li cuers me manque» und «li cuers me ment» bzw. «li cuers me mant»)277 in der Bedeutung ‘Das Herz versagt mir’, wie die folgenden Belege aus Erec et Enide illustrieren. (541) Li cuer li faut ‘Das Herz versagt ihm’ Et li sans chauz vermauz an raie D’anbes deus parz parmi la plaie; 3029 l’ame s’an vet, li cuers li faut.
Et fiert le premerain an l’uel Si parmi outre le cervel,
‘und das rote, warme Blut strömt mitten aus der Wunde an beiden Seiten herab; die Seele entweicht, das Herz versagt.’ (Chrétien de Troyes, 1979, 178s.) ‘Und er schlägt dem ersten ins Auge, mitten durch das Gehirn, so
277 Cf. den in Kapitel 4.6.2 dargelegten Mentir-manquer-faillir-falloir complex nach Williams (1957), Orr (1936) und Tobler (1921, vol. 1).
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
Que d’autre part le haterel Li sans et la cervele an saut; 4450 Et cil chiet morz, li cuers li faut. Quant li autres vit celui mort, S’il l’an pesa, n’ot mie tort;
443
daß auf der anderen Seite am Nacken Blut und Hirn herausspritzen, und der Riese fällt tot um, das Herz versagt ihm. Als der andere sah, daß er tot war, ergrimmte er und das nicht ohne Grund; (Chrétien de Troyes, 1979, 256–259)
Entsprechend der lexikalischen Bedeutung ‘versagen’ des Vollverbs faillir wird die Proposition ‘Das Herz versagt ihm’ realisiert. Im Gegensatz zu dieser Proposition des Herzversagens findet sich die gleiche Aussage «Li cuers li faut» allerdings auch zum Ausdruck eines sich nicht tatsächlich realisierenden Herzversagens, wenn sie im Zuge einer metaphorischen Hyperbel, wie in De leesce li cuers li faut (‘Vor Freude bleibt ihr das Herz stehen’ +> ‘Vor Freude ist ihr, als würde ihr das Herz stehen bleiben.’ +> ‘Vor Freude bleibt ihr fast das Herz stehen’), gebraucht wird.278 Die Aussage «Li cuers li faut» (‘Das Herz versagt ihm’) lässt zwar (analog zu «li cuers li manque» und «li cuers li ment», cf. Kapitel 4.6.2) im Zuge einer eingesetzten metaphorischen Hyperbel eine pragmatische Inferenzziehung der Imminenz zu, die allerdings ebenso im Zuge einer eingesetzten metaphorischen Hyperbel mit anderen punktuellen Verben, wie in «Hilfe, ich sterbe» (+> ‘Hilfe, mir ist, als würde ich sterben.’ +> ‘Hilfe, ich bin im Begriff zu sterben’, ‘Hilfe, ich bin kurz davor zu sterben’), gezogen werden kann und dementsprechend keinen speziell dem Vollverb faillir zuzuschreibenden Entwicklungsschritt darstellt. (542) Li cuer li faut +> ‘Das Herz versagt ihm fast’ ‘Sie freute sich so sehr darüber, cele qui tant s’an esjoïst, bevor sie noch mehr erfuhr, dass einz que plus dire li oïst, ihr Schmerz sie nicht mehr beque de son duel mes ne li wegt. chaut. 279 Vor Freude bleibt ihr das Herz steDe leesce li cuers li faut [sic!] 6205 ne ne puet sa joie celer; hen, und sie vermag ihre Freude (Chrétien de Troyes, 2013, 128.) nicht zu verbergen;’ (eigene Übersetzung)
278 Durch den Gebrauch der metaphorischen Hyperbel des Herzstillstands bzw. Herzversagens wird eine auf der Qualitätsmaxime basierende Implikatur ausgelöst. 279 Anstelle der Zeile «De leesce li cuers li faut», die sich in diversen Ausgaben findet, müsste die Zeile sogar vielmehr «De leesce li cuers li saut» (‘vor Freude hüpft ihr das Herz’) lauten, zumal es in der Ausgabe des Manuskriptes von Foerster «De leeſce li cuers li ſaut;» (Foerster, 1896, 161) lautet.
444
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
In einem Kontext der Vergangenheit lässt sich entsprechend auch folgender Beleg mit der pragmatischen Inferenzziehung einer Avertivbedeutung in Verbindung mit dem Vollverb faillir ‘versagen’ finden, die ebenfalls im Zuge einer metaphorischen Hyperbel eingesetzt wird. (543) faillir ‘versagen’ im Roman de la Rose Il a cele floiche a moi traite, Er [i.e. AMOR] hat auf mich jenen Pfeil abSi m’a ou cuer grant plaie faite; geschossen und mir im Herzen eine große Mais li oignemenz s’espandi Wunde geschlagen; doch die Salbe breitete 1860 Par les plaies, si me rendi sich in den Wunden aus und erweckte Le cuer qui m’estoit toz failliz. mein Herz wieder, das schon ganz versagt Je fusse morz e mal bailliz hatte. Tod [sic!] und übel zugerichtet wäre Se li douz oignemenz ne fust. ich ohne die milde Salbe gewesen. (De Lorris/De Meun 1976, vol.1, 166) Faillir trägt zwar auch in dem obigen Beispiel noch die lexikalische Bedeutung ‘versagen’, allerdings kann aufgrund des Kontextes die Avertivbedeutung als pragmatische Inferenz im Sinne einer metaphorischen Hyperbel («Le cuer qui m’estoit toz failliz» ‘das Herz [. . .], das schon ganz versagt hatte’ +> ‘das Herz [. . .], das schon beinahe ganz versagt hätte.’) gezogen werden. Der kontextuell gegebene Zustandswechsel von gänzlichem (+> gänzlich nahem) Herzversagen («qui m’estoit toz failliz» ‘das schon ganz versagt hatte’) und dem Wiedereinsatz des Herzschlages («me rendi le cuer» ‘erweckte mein Herz wieder’) sowie der Konjunktiv (l‘imparfait du subjonctif) im anschließenden Kotext («Je fusse morz e mal bailliz» ‘tot und übel zugerichtet wäre ich’) unterstützen kontextuell die avertive Inferenzziehung. Diese Inferenzziehung im Sinne einer stark durch den Kontext induzierten und aus diesem Grunde noch partikularisierten konversationellen Implikatur (PCI) ist, wie alle konversationellen Implikaturen, entsprechend aufhebbar und daher noch kein fester Bestandteil des zudem noch nicht in einer Infinitivkonstruktion gebrauchten Vollverbs im Altfranzösischen. Analog ist auch in dem folgenden Beleg die ausgedrückte Imminenz ebenfalls nicht faillir zuzuschreiben, da faillir vielmehr im Skopus der in Kapitel 4.3.2 untersuchten die Imminenz ausdrückenden PAUCUS-Konstruktion liegt. (544) faillir ‘versagen’ im Cligès (ca. 1176) Amors li a el cors anclose Une tançon et une rage, 880 Qui mout li troble son corage
Die Liebe hat Tumult und Aufruhr in ihrem Herzen eingeschlossen, die es so schwer erschüttern und
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
Et qui si l’angoisse et destraint, Que tote nuit plore et se plaint Et se degiete et si tressaut, A po que li cuers ne li faut.280
445
sie so quälen und martern, dass sie die ganze Nacht weint und klagt und sich hin und herwirft und zittert, dass ihr fast das Herz versagt. (Chrétien de Troyes, Cligès, 2008, 70s.)
Sowohl eine imminentielle Bedeutung als auch eine Avertivbedeutung in Verbindung mit dem Vollverb faillir können entsprechend im Altfranzösischen lediglich über den Kontext ausgedrückt werden. Die folgenden altfranzösischen Beispiele illustrieren das bereits erwähnte Vorstadium einer polaren Komponente in Form der noch lexikalischen Bedeutungen ‘scheitern’, ‘verfehlen’, ‘mißlingen’, ‘einen Fehler machen’, die das Misslingen bzw. Scheitern im Rahmen eines Vollverbs in den Vordergrund stellen und noch nicht in einer Infinitivkonstruktion gebraucht werden. (545) Lexikalische Bedeutung im Roman de la Rose 6627 E se tu sez riens de loqique, Und wenn Du etwas von Logik verQui bien est science stehst, die eine glaubwürdige Wissenautentique, schaft ist, Puis que li grant seigneur dann werden, da die großen Herren i faillent dabei scheitern, Li petit en vain s’i travaillent. die kleinen Leute sich ganz vergeblich abmühen. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 394s.) 7428
Car il sont de tele poissance, denn jene sind so mächtig, Qui en apart les assaudrait, daß, wer sie offen angreifen würde, A son propos, ce crei, faudrait. seinen Zweck, wie ich glaube, verfehlte. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 432s.)
9100
Que j’en devieng si poereus Que je ne vous ros assaillir, Tant ai grant peeur de faillir, Quant après dormir me resveille.
daß ich dadurch so ängstlich werde. daß ich Euch nicht wieder anzugehen wage, vor lauter Angst, einen Fehler zu machen, wenn ich im Schlaf wieder aufwache. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 516s.)
280 Zur Diachronie der PAUCUS-Konstruktion cf. Kapitel 4.3.2
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
10202 Vers Povreté lasse e despite, zu der elenden und verachteten ARMUT zu gehen, Pour le fort chastel assaillir, um die starke Burg anzugreifen, Bien pourreiz au prendre so könnte ihre Einnahme Euch wohl faillir. mißlingen. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 572s.) 17180 Ainsinc seraient bien honi Cil qui d’amer Deu se travaillent, S’il a s’amour en la fin faillent. E faillir les i couvendrait, Puis que la chose a ce vendrait Que nus ne pourrait recouvrer La grace Deu par bien ouvrer.
Auf diese Weise wären jene sehr getäuscht, die GOTT zu lieben bemüht sind, wenn sie am Ende seine Liebe doch verfehlen. Und sie würden sie notwendig verfehlen, da die Sache darauf hinausliefe, daß niemand die Gnade GOTTES durch gute Taten erlangen könnte. (De Lorris/De Meun 1976, vol 3, 924s.)
Im Mittelfranzösischen (ca. 1350–1500) werden weiterhin noch überwiegend lexikalische Bedeutungen von faillir ausgedrückt, wie beispielsweise in der Kollokation faillir de promesse (‘Versprechen nicht halten’) in (a) oder in der Bedeutung ‘scheitern’ in (b). (546) Faillir de promesse ‘Versprechen nicht halten’ (a) und faillir ‘scheitern’ (b) (a) Dame Jehanne, esmeue de toute pitié, ne prenant pas garde – non faisoient nulle des autres – la ou Madame vouloit saillir, ly dist: «Helas! Ma dame, se il a failly de sa promesse, vous avez oy son excuse pour les grans affaires qu’il a euz, dont vous en requiert a genoulz et a mains joinctes si treshumblement mercy, et aussi [. . .]» (Frantext Moyen Français: Antoine de la Sale de, Jehan de Saintre, 1456, p. 13) ‘Meine Dame, wenn er sein Versprechen nicht gehalten hat, [. . .]’
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
447
(b) car tous sailloient par deux portes, dont l’une estoit près de l’ost dudict duc de Bourgongne et, s’ilz eussent failli à la desconfire d’entrée et qu’ilz eussent esté à pied, ilz eussent esté en dangier d’eulx perdre et de perdre la ville. (Frantext Moyen Français, Philippe de Commynes, Mémoires, t.1, 1489–1491, 186) ‘denn sie mußten alle aus zwei Toren ausfallen, von denen eines dem Lager des Herzogs sehr nahe war; wenn sie gleich zu Beginn geschlagen würden, gerieten sie, da sie zu Fuß ausfallen sollten, in Gefahr, sich und die Stadt zu verlieren.’ (Ernst 1972, 98) In dem ersten Stadium unseres Modells wird faillir zunehmend in der Infinitivkonstruktion faillir à + Infinitiv gebraucht, bei der die lexikalischen Bedeutungsnuance des Misslingens bzw. Scheiterns zunehmend Skopus über die im Infinitiv stehende Handlung erlangt in der Bedeutung ‘es misslang, die Handlung zu realisieren’, ‘X scheiterte, die Handlung zu realisieren’ und bei dieser die Inferenz einer polaren Komponente ¬p in der Bedeutung ‘die Handlung wurde nicht realisiert’281 entstehen lässt. (547) Faillir à + Inf. mit polarer Komponente ¬p La cause estoit pour ce que, si ledict duc failloit à prendre ceste cité d’assault, que le mal en tumberoit sur luy, et qu’il seroit arresté ou prins de tous pointz, car ledict duc auroit paour que s’il partoit, qu’il ne luy feïst la guerre d’autre costé. (Frantext Moyen Français, Philippe de Commynes, Mémoires, t.1, 1489–1491, 158) ‘Der König geriet in große Furcht, daß das Unglück auf ihn kommen würde, wenn der Herzog diese Stadt im Sturm nicht einnehmen könnte, und daß er entweder in Gefahr bleiben oder in jedem Fall festgenommen würde, da der Herzog Angst haben würde, daß er abzöge oder ihn von der anderen Seite bekriegte.’ (Ernst 1972, 83) Die zunehmende Konventionalisierung der polaren Komponente (¬p) von faillir zeigt sich insbesondere im Skopus der Negationspartikel (¬p), die zu einer Umkehrung der Polarität der Proposition führt (¬¬p → p), wie die Inferenzziehung des folgenden negierten Beispiels illustriert.
281 Cf. Schwellenbach (2012a; 2012b).
448
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(548) Faillir im Skopus der Negationspartikel im 15. Jahrhundert Or sus! dit le Jouvencel. C’est du moins [?] Allez faire dilligence de vostre costé et a je la feray bonne du mien. Et ne failliez pas à venir à quatre heures. Et ainsi se despartirent et allerent faire ce qui leur estoit en charge, comme devisé avoient. (Frantext Moyen Français: Jean de Bueil, Le Jouvencel, t.1, 1461, zitiert nach Schwellenbach 2012a; 2012b) ‘Und versäumt es nicht, um vier Uhr zu kommen.’ (+> ‘Kommt um vier Uhr.’) In der Korpusrecherche des Frantext Moyen Français wird deutlich, dass das bereits im Altfranzösischen gut belegte Auftreten von faillir mit der Negationspartikel nun im Mittelfranzösischen oftmals in der Vergangenheit realisiert wird, um eine positive Proposition auszudrücken (im Sinne von ‘es misslang nicht’ → ‘es gelang’). Im Zuge dieses frühen Stadiums liegt faillir noch als Vollverb im Skopus der Negationspartikel. Der folgende Beleg aus dem 14. Jahrhundert illustriert faillir im Skopus der Negationspartikel («a ce n’avez vous pas failly»), bei dem die Verbindung von der durch faillir ausgedrückten polaren Komponente ¬p mit der Negationspartikel (¬p) eine positive Proposition ergibt, wie in der gegenwartsfranzösischen Übersetzung («vous avez obtenu ce que vous désirez») ersichtlich wird. (549) Faillir im Skopus der Negationspartikel (¬¬p → p) im 14. Jahrhundert Je desire tant que nulle autre chose plus, d’avoir vostre bonne amour et vostre bonne grace. Par ma foy, dist la dame, a ce n’avez vous pas failly, mais que vous n’y pensez fors toute honneur, car ja homme n’aura m’amour en soingnentaige. (Frantext Moyen Français: Jean d’Arras, Melusine, 1392, p. 9) ‘Eh bien, dit la dame, vous avez obtenu ce que vous désirez, à condition que vos intentions soient honnêtes, car jamais un homme ne fera de moi sa maîtresse.’ (Perret 1979, 22) Die folgenden Belege aus dem 15. Jahrhundert illustrieren das bereits fortgeschrittenere Stadium in Verbindung mit der Infinitivkonstruktion, bei dem die im Infinitiv stehende Handlung einer sich aus der Verbindung von faillir (¬p) und Negationspartikel (¬p) ergebenen positiven Proposition (¬¬p → p) unterliegt (im Sinne von ‘Sie scheiterten nicht, X zu realisieren’ → ‘Sie realisierten X’; ‘es misslang nicht, X zu realisieren’ → ‘X wurde realisiert’, etc.).
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
449
(550) Faillir à + Inf. im Skopus der Negationspartikel (¬¬p → p) im 15. Jahrhundert (a) Ilz ne faillirent point à avoir bonne responce et promesse de tout ce qu’ilz demandoient, et davantaige promectoit le roy par seelléz, tant à l’empereur que à plusieurs des princes et villes, que, dès ce que l’empereur seroit à Coulongne et mis aux champs, qu’il envoyeroit joindre avecques luy vingt mil hommes soubz la conduite de monsr de Craon et de Sallezart. (Frantext Moyen Français: Philippe de Commynes, Mémoires, t.2, 1489–1491, 12) ‘Sie bekamen [i.e. ¬¬p → p] gute Antwort und ein Versprechen für alles, was sie forderten. Außerdem versprach der König durch Urkunden sowohl dem Kaiser als auch mehreren Fürsten und Städte, zwanzigtausend Mann unter dem Befehl des Herren Craon und de Salazar in dem Augenblick zu ihm stoßen zu lassen, in dem der Kaiser kriegsbereit in Köln sei.’ (Ernst 1972, 138) (b) à quoy fault respondre que nous sommes tous hommes, et qui les vouldroit cercher telz que jamais ne faillissent à parler saigement, ne jamais ne se meüssent plus une fois que aultre, il les fauldroit cercher au ciel, car on ne les trouveroit pas entre les hommes. (Frantext Moyen Français: Philippe de Commynes, Mémoires, t.1, 1489–1491, p. 103) ‘Darauf aber muß man antworten, daß wir alle nur Menschen sind, und daß diejenigen, die solche suchen wollen, die immer weise sprechen [i.e. ¬¬p → p] und die sich zu allen Zeiten in der gleichen Ruhe befinden, solches nur im Himmel tun können, denn unter den Menschen findet man sie nicht.’ (Ernst 1972, 52s.) (c) Il luy vint à memoire les parolles que le herault d’Angleterre luy avoit dictes, qui fut qu’il ne faillist point à envoyer querir ung sauf conduyt pour envoyer devers le roy d’Angleterre, (Frantext Moyen Français: Philippe de Commynes, Mémoires, t.2, 1489–1491, p. 40) ‘Ihm kamen die Worte wieder in den Sinn, die der englische Herold ihm gesagt hatte, er solle nicht versäumen [i.e. ¬¬p → p], um freies Geleit für seine Gesandtschaften beim König von England nachzusuchen’ (Ernst 1972, 150s.) (d) L’une fut que le duc de Lorraine, qui estoit en paix avecques luy, l’envoya deffier devant Nuz, par le moyen de monsr de Craon, lequel s’en vouloit ayder pour le service du roy, et ne faillit pas à luy promectre que on en feroit ung grant homme. (Frantext Moyen Français: Philippe de Commynes, Mémoires, t.2, 1489–1491, p. 15) ‘Zuerst sandte ihm der Herzog von Lothringen, der in Frieden mit ihm war, den Absagebrief vor Neuß unter dem Einfluß des Herrn de
450
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Craon, der sich seiner im Interesse des Königs bedienen wollte und nicht sparte, ihm zu versprechen [i.e. ¬¬p → p], man wolle aus ihm einen mächtigen Mann machen.’ (Ernst 1972, 139) (e) Cest article entendoit bien le roy nostre maistre, à qui Dieu face pardon; car il estoit tardif et craintif à entreprendre, mais à ce qu’il entreprenoit il y pourvoyoit si bien que à grant peine eust-il sceü faillir à estre le plus fort et que la maistrise ne luy en fust demourée. (Frantext Moyen Français: Philippe de Commynes, Mémoires, t.1, 1489–1491, p. 146) ‘Dieses verstand der König, unser Meister, besonders gut, dem Gott gnädig sei; denn er war zögernd und furchtsam vor seinen Unternehmungen; aber bei dem, was er unternahm, sorgte er so gut vor, daß er kaum verfehlen konnte, der Stärkere zu sein [i.e. ¬¬p → p], und die Oberhand dabei zu behaupten.’ (Ernst 1972, 76) Während faillir vor dem 15. Jahrhundert noch nicht zum Ausdruck des Avertivs gebraucht wird, wird die Avertivbedeutung neben lexikalischen Ausdrücken, wie die Konstruktion près que (ne) (>presque),282 die die polare Komponente noch explizit durch die Negationspartikel283 ausdrücken muss und noch nicht zu presque (‘beinahe’, ‘fast’) grammatikalisiert ist (cf. Kapitel 4.3.2), (551) Près que ne p (> presque p) Pour cui mort ma mere ploura Tant que près qu’el ne s’acoura;
über dessen Tod weinte meine Mutter so sehr, daß sie beinahe gestorben wäre; (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 588s.)
oder als Implikatur der deontisch-modalen Periphrasen,284 auch durch epistemisch-modale Periphrasen, wie cuid(i)er + Infinitiv, ausgedrückt. Der folgenden Belege aus dem Altfranzösischen und dem 16. Jahrhundert illustrieren die
282 Zur Diachronie der lexikalischen Ausdrücke cf. Kapitel 4.3. 283 Die Negationspartikel ist aus diesem Grunde nicht wirklich expletiv. 284 Der Avertiv wird im Altfranzösischen auch vermehrt als Inferenz der modalen Periphrasen ausgedrückt, wie die Beispiele von Buridant (2000, 354) in Kapitel 5.2 zeigen und wie wir auch bereits zum Spätlateinischen und Italienischen hingewiesen haben, cf. Kapitel 4.5.2.2).
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
451
Periphrase cuid(i)er + Infinitiv, die erst ab dem 16. Jahrhundert zunehmend durch penser + Infinitiv ersetzt wurde und im 17. Jahrhundert vollständig verschwand.285 (552) cuid(i)er + Inf. im Altfranzösischen Mais Amors est si corageus doch AMOR ist so unbeständig, Qu’il me toli tot en une eure, daß er mir alles zu der Stunde wieder wegnahm, 3980 Quant je cuidai estre au als ich schon glaubte, gesiegt zu deseure. haben. (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 266s.) (553) cuid(i)er [passé simple] + Inf. im Frühneufranzösischen +> Avertiv Qui fut cause que (comme la douleur a plus de puissance sur une personne solitaire que sur une qui est divertie par frequentations) le miserable *Floradin cuida mourir de despit, estimant bien que l’on faisoit de beaux comptes de luy, puis que personne ne venoit plus le voir : et toutes fois si estoit il réduit à telle extremité (Frantext intégral: Jacques Yver, Le Printemps, 1572, p. 1256) ‘[. . .] dass der bedauernswerte Floradin beinahe an Verdruss gestorben wäre, wohlwissend, dass man mit ihm abrechnen würde [. . .]’ Die Avertivbedeutung aus der Grammatikalisierungsquelle *fallire tritt in Form der Verbalperiphrase faillir à + Infinitiv im Korpus Frantext Moyen Français erstmalig im 15. Jahrhundert und lediglich marginal in Kombination mit Achievements auf, die sich durch ihre punktuelle Eigenschaft besonders als Trigger für die Inferenzziehung der Imminenz eignen. Das durch die polare Komponente ausgedrückte Misslingen einer punktuellen Handlung implikatiert zunächst lediglich konversationell, dass die Handlung kurz davor stand, im Sinne von ‘Die Handlung fand nicht statt (polare Komponente), aber sie stand kurz davor sich zu realisieren (Imminenz).’ Anhand der folgenden beiden Beispiele aus dem 15. Jahrhundert, transitiv in (a) und intransitiv in (b), wird die Imminenz hingegen und auf diese Weise die Avertivbedeutung bereits über den Kontext inferiert.
285 Cf. u.a. Dauzat (1943, 160) oder Gougenheim (1929, 138–147), der bekanntlich bereits auf die périphrases de l’action presque accomplie (‘Periphrasen der beinahe vollendeten Handlung’, i.e. Avertivperiphrasen) cuider, penser + Infinitiv, manquer de + Infinitiv und faillir de + Infinitiv hingewiesen hat.
452
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(554) faillir à + Inf. +> Avertiv (a) Avecques cestui j’ay conversé souvent et ay veu par experience qu’il estoit bon astrologien et de subtil engin et lui feiz son partement pour soy retirer à Romme, pour les envies que aucuns du Daulphiné orent contre lui, qui plusieurs foiz faillirent à le tuer et le firent partir des Celestins de Lion et chacun pensoit qu’il eust pris medicine laxative et fut oultre les mons, avant que nul s’en apperceust. (Frantext Moyen Français: Simon de Phares, Recueil des plus celebres astrologues et quelques hommes doctes, c. 1494–1498, p. 175) ‘die merhmals scheiterten ihn zu töten’ +> ‘die mehrmals kurz davor standen, ihn zu töten’ (b) Comment le duc René de Lorraine vint en France demander la duché de Bar et la conté de Prouvence, que le roy Charles tenoit, et comment il faillit à entrer au royaulme de Naples, qu’il pretendoit sien, comme le roy, et quel droict y avoient tous deux. (Frantext Moyen Français, Philippe de Commynes, Mémoires, t.3, 1495–1498, p. 1) +> ‘Und wie er (i.e. René II, Herzog von Lothringen) beinahe in das Königreich Neapels einfiel, das er für sich beanspruchte, wie der König.’ In dem transitiven Beispiel in (a) ‘scheiterten sie mehrmals, ihn zu töten’, sodass die pragmatische Inferenz gezogen werden kann, dass sie ebenfalls ‘mehrmals kurz davor standen, ihn zu töten’. Insbesondere iterative Propositionen verstärken zudem die Inferenzziehung der Avertivbedeutung.286 In dem intransitiven Beispiel in (b) wird ebenfalls das Scheitern des Eintritts in das Königreich ausgedrückt, das die Möglichkeit der Inferenzziehung der Imminenz zulässt. Da die Bedeutungsnuance des Scheiterns generell einen Versuch präsupponiert, liegt die Inferenzziehung der imminentiellen Bedeutung bereits nahe, auch wenn sie von der Konstruktion noch nicht konventionalisiert ist. Dass sich die Avertivbedeutung noch nicht vollständig konventionalisiert hat, zeigt sich durch die Koexistenz von Belegen, in denen das Vollverb faillir im passé composé lediglich die polare Komponente ausdrückt. Der folgende Frantext-Beleg von Rabelais «ou j’ay failly à entendre» illustriert die Exhaustivität der polaren Komponente ohne Avertivbedeutung (‘Ihr kommt aus Schottland, #oder ich hätte es beinahe verstanden’).
286 Cf. auch Kapitel 4.5 und Kapitel 4.6.2.
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
453
(555) Faillir [passé composé] ≠ Avertiv - Estez vous là, respondit *Eudemon, *Genicoa? À quoy dist *Carpalin: «Sainct *Treignan, foutys vous d’*Escoss, ou j’ay failly à entendre!» Lors respondit *Panurge: «Prug frest strinst sorgdmand strochdt drhds pag brledand *Gravot *Chavigny *Pomardiere rusth pkallhdracg *Deviniere près *Nays, Bcuille kalmuch monach drupp delmeupplistrincq dlrnd dodelb up drent loch minc stzrinquald de vins ders cordelis hur jocststzampenards.» (Frantext intégral: François Rabelais, Pantagruel, 1542, p. 114ss., chapitre 9) ‘«Seid ihr da, Genicoa?» fragte Eudämon. Worauf Carpalim antwortete: «Beim heiligen Ninian, Ihr kommt aus Schottland, oder ich hab schlecht gehört!» Darauf antwortete Panurge: «Prug frest strinst sorgdmand strochdt [. . .]’ (Rabelais 2013) Die Avertivbedeutung von faillir à + Infinitiv zeigt sich im 16. Jahrhundert insbesondere in passiver Diathese, wie die folgenden zwei Belege mit Achievements, sowohl mit belebten (a) als auch unbelebten Subjekt (b), illustrieren. (556) Faillir [passé simple] à + Inf. Avertiv in passiver Diathese im 16. Jahrhundert (a) En ce mois, le seingneur de Grillon, gouverneur de Boulongne sur la Mer, comme lieutenant du duc Desparnon [l.. d’Esparnon], faillist à estre tué par un soldat de la Ligue, qui avoit juré et promis sa mort. (Frantext intégral: Pierre de l’Estoile, Registre-journal du regne de Henri III, vol. 5, 1585–1587, p. 310) ‘er wäre beinahe getötet worden’ (b) *Vallence cité d’*Espaigne, avec tous ses citoyens faillit à estre submergée,287 par une violente, et incongneuë irruption d’eau [. . .] (Frantext intégral: Pierre Boaistuau, Le Théâtre du monde, 1558, p. 197, livre 3) ‘Valencia, Stadt von Spanien, wäre beinahe mit samt seinen Einwohnern von einem gewaltigen und unerwarteten Wassereinbruch überschwemmt worden.’ Im 16. Jahrhundert ist der Avertiv noch ausschließlich mit der Präposition à belegt. In den Texten des 16. Jahrhunderts mit insgesamt 6.290.844 Token lässt
287 Besonders interessant ist an dieser Stelle auch der Vergleich zur spanischen Übersetzung von Pérez del Castillo aus dem Jahre 1564, die die Avertivbedeutung mit der in Kapitel 4.5 untersuchten iberoromanischen Konstruktion estar a pique(s) de + Inf. im indefinido paraphrasiert: «Valencia ciudad de España, estuvo a pique de anegarse con todos sus ciudadanos» (Boaistuau 1564, 98s.).
454
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 116: Faillir (à/de/Ø) + Inf. im Frantext intégral (1500–1599). –
Jahrhundert .. Token
Avertiv
Faillir à + Inf.
/
Faillir de + Inf.
/
Faillir + Inf.
/
7000 6000 5000 4000 3000 2000
kein Avertiv
1000
Avertiv
r
r
ir ill fa
to ir fa ill
m ir ill
m
ou
be
r
rir
à ir ill fa fa
fa
ill
ir
à
ir ill fa
be m
à
to
m
ill
ou
ir
rir
de
be m fa
to ir
ill fa
fa
ill
ir
de
de
m
ou
rir
0
Abbildung 40: Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber im Frantext intégral (1500–1599).
sich faillir à + Inf. mit 3 Avertivbelegen von 147 Gesamtbelegen nachweisen. Die Konstruktion faillir de + Inf. liegt mit insgesamt 106 Belegen im 16. Jahrhundert noch ausschließlich in lexikalischer Bedeutung vor. Die präpositionslose Konstruktion faillir + Inf. liegt mit insgesamt 6316 Gesamtbelegen288 ebenfalls noch nicht in der Avertivbedeutung vor, wie Tabelle 116 illustriert.
288 Die relativ hohe Anzahl an Gesamtbelegen ergibt sich aus der noch formalen Überschneidung mit der sich trennenden unpersönlichen Konstruktion falloir.
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
455
Tabelle 117: Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/tuer im Frantext intégral (1500–1599). Jahrhundert .. Token
– Avertiv
Faillir à mourir
/
Faillir à tomber
/
Faillir à tuer
/
Faillir de mourir
/
Faillir de tomber
/
Faillir de tuer
/
Faillir mourir
/
Faillir tomber
/
Faillir tuer
/
Die prototypischen Avertivverben mourir (‘sterben’), tomber (‘fallen’) und tuer (‘töten’) sind in den Texten des 16. Jahrhunderts noch nicht mit Avertivperiphrase faillir (à/de/Ø) + Inf. belegt, wie die in Abbildung 40 (Seite 454) und Tabelle 117 (Seite 455) illustrierte Untersuchung auf der Grundlage des Frantext intégral zeigt.289 Die lemmatisierte Recherche der Periphrase faillir (à/de/Ø) + Inf. mit dem avertivaffinen Verb mourir weist 19 Gesamtbelege der präpositionslosen Konstruktion faillir Ø + Inf. bei 6.290.844 Token auf, die noch ausschließlich in der Bedeutung von falloir vorliegen. Zu der Avertivperiphrase faillir à + Infinitiv treten in dem 17. Jahrhundert auf der Grundlage des Frantext intégral zunächst die Periphrase faillir de + Infinitiv und anschließend faillir + Infinitiv alternativ hinzu, wobei letztere im 17. Jahrhundert in noch sehr geringer Frequenz gegenüber den ersteren beiden auftritt. In Verbindung mit den prototypischen Avertivtrigger-Achievements, wie tomber (‘fallen’), mourir (‘sterben’) und tuer (‘töten’), wird der noch überwiegende Gebrauch im 17. Jahrhundert mit der Präposition à gegenüber den Avertivkonstruktionen faillir de + Infinitiv und faillir + Infinitiv deutlich.
289 Die Daten beziehen sich auf tuer in aktiver Diathese. In passiver Diathese weist faillir à + Inf. hingegen einen Beleg «faillist à estre tué par un soldat» (Frantext intégral: Pierre de l’Estoile, Registre-journal du regne de Henri III, vol. 5, 1585–1587, p. 310) ‘er wäre beinahe von einem Soldaten getötet worden’ im 16. Jahrhundert auf. Auf die Entwicklung der Avertivperiphrase in passiver Diathese wird weiter unten eingegangen.
456
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
120 100 80 60 40
kein Avertiv Avertiv
20
rir
r
be
ou
m
m
ir ill fa
fa
ill
to
ir
à ir ill fa
r
rir
be m to
rà lli fa i
lli fa i
m
to rd e
rd e lli fa i
ou
m
m
be
ou
r
rir
0
Abbildung 41: Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber im Frantext intégral (1600–1699).
Tabelle 118: Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/tuer im Frantext intégral (1600–1699). Jahrhundert
–
.. Token
Avertiv
Faillir à mourir
/
Faillir à tomber
/
Faillir à tuer
/
Faillir de mourir
/
Faillir de tomber
/
Faillir de tuer
/
Faillir mourir
/
Faillir tomber
/
Faillir tuer
/
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
457
Tabelle 119: Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/tuer im Frantext intégral (1500–1699). Jahrhunderte Token
–
–
–
..
..
..
– ..
Faillir à mourir
,
Faillir à tomber
,
Faillir à tuer
,
Faillir de mourir
,
Faillir de tomber
,
Faillir de tuer
Faillir mourir
,
Faillir tomber
Faillir tuer
Die Periphrase faillir à + Inf. findet sich in Verbindung mit den avertivaffinen Verben mourir, tomber und tuer im 17. Jahrhundert ausschließlich in der Avertivbedeutung, während die präpositionslose Konstruktion faillir + Inf. noch lediglich mit 2 von 118 Gesamtbelegen (die Belege von falloir einschließen) den Avertiv ausdrückt, wie Abbildung 41 (Seite 456) und Tabelle 118 (Seite 456) illustrieren. Für eine anschließende relative Betrachtung der Frequenzzunahme in der Diachronie werden die Avertivbelege von faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/tuer aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die im Frantext intégral in unterschiedlichen Korpusgrößen vorliegen, neben der absoluten Frequenz auch in relativer Frequenz in Tabelle 119 (Seite 457) aufgeführt. Zwischen den drei Avertivkonstruktionen faillir à + Infinitiv, faillir de + Infinitiv und faillir + Infinitiv glaubt Laveaux (1873) einen vermeintlichen semantischen Unterschied zu erkennen, indem die Periphrase mit der Präposition à vermehrt die Finalität und Zielgerichtetheit zum Ausdruck bringe, die Periphrase mit der Präposition de vielmehr Zweifel, Ungewissheit und eine daraus ableitbare Durativität, im Gegensatz zu der wiederum unvermeidbaren, sich plötzlich realisierenden und somit punktuellen präpositionslosen Infinitivkonstruktion, einfließen lasse. L’Académie dit faillir à tomber, et faillir de tomber. Il nous semble que l’on dit il a failli à si le verbe qui suit exprime une action qui s’opère hors du sujet, et qui indique un but auquel tend ce sujet, ou auquel il atteint sans le vouloir: Il a failli à me tuer, il a failli à me ruiner; et que l’on dit il a failli de lorsque l’action exprimée par le verbe suivant s’opère dans le sujet et n’indique pas un but auquel tend le sujet ou qu’il atteint: Il a failli de se
458
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
contredire, il a failli de tomber, le vaisseau a failli d’être submergé. Selon l’Academie, on dit aussi sans préposition, j’ai failli mourir, l’oublier, etc. [. . .] (Laveaux 1873, 284). Si un homme a eu une maladie grave qui l’ait mis pendant quelque temps entre la vie et la mort, on dira bien il a failli de mourir; de exprime le doute, l’incertitude, les chances. Mais si un homme se trouve mal subitement, au point que sa mort paraisse certaine, inévitable, on dira il a failli mourir (Laveaux 1873, 284).
Die von Laveaux (1873) für das 19. Jahrhundert angenommene Differenzierung der drei Avertivkonstruktionen ist allerdings nicht generalisierbar und muss nach korpusbasierter Untersuchung korrigiert werden. Nach der Herausbildung des Avertivs mit der Präposition à, stehen sich bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts die drei Varianten faillir à + Inf., faillir de + Inf. und faillir + Inf. im Frantext intégral in nahezu äquivalenten Kontexten einander gegenüber: In dem Avertivbeispiel mit der Präpositon de in (a), bei der die Frau ‘beinahe vor Lachen gestorben wäre’ wird, im Gegensatz zu Laveaux (1873), weder Zweifel noch Ungewissheit ausgedrückt. Ebensowenig ist dem Avertivbeispiel mit de in (a) mehr Durativität in Verbindung mit dem Accomplishment «mourir de rire» (‘vor Lachen sterben’) als dem präpositionslosen Avertivbeispiel in (b) mit dem Accomplishment «mourir d’aise» (‘vor Bequemlichkeit sterben’) oder dem Avertivbeispiel mit der Präposition à in (c) zuzuschreiben. (557) Avertiv faillir (à/de/Ø) + Inf. im 17. Jahrhundert (a) Mais sans leur dire une seule parole, je vins raconter à *Hermante ma mesaventure, qui faillit d’en mourir de rire, comme à la verité le sujet le meritoit. Ce bruit s’espancha de sorte par toute *Camargue, que je n’osois parler à une seule bergere, qui ne me le reprochast, dont je pris tant de honte, que je resolus de sortir de l’isle pour quelque temps. (Frantext intégral: Honoré d’Urfé, L’Astrée, vol. 1, partie 1, 1612, p. 304s., livre 8) ‘[. . .] die beinahe vor Lachen gestorben wäre [. . .]’ (b) *Astrée n’en receut pas un moindre contentement. *Phillis en faillit mourir d’aise et *Diane mesme, dans les delices qui estoient promises à sa compagne, trouva quelque soulagement à ses ennuis. Mais comme les plus grandes felicitez peuvent quelquefois estre prises pour un presage de quelque grand malheur à venir, à cause de cette liaison trop estroitte, qui attache presque inseparablement le mal avecque le bien, [. . .]. (Frantext intégral: Balthazar Baro, La Conclusion et dernière partie d’Astrée, 1628, p. 475s., livre 11) ‘Phillis wäre beinahe an der Bequemlichkeit gestorben.’ (c) volonté, il en falloit esteindre la cause, il leur jura qu’il m’avoit donnée à *Teombre, et que je recevois ce party fort agreablement.
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
459
*Lucindor en faillit à crever de despit, et repassant par la chambre où j’estois, il se retira sans se souvenir seulement de me donner le bonsoir. Mais soudain qu’il fut arrivé (Frantext intégral: Balthazar Baro, La Conclusion et dernière partie d’Astrée, 1628, p. 190, livre 4) ‘Lucindor wäre beinahe an Verdruss gestorben.’ Ebenso lassen sich nahezu identische Kontexte in ein und demselben Werk sowohl mit der präpositionslosen als auch der Avertivkonstruktion mit der Präposition à finden, wie in den folgenden Beispielen aus La Conclusion et dernière partie d’Astrée mit den nahezu äquivalenten Achievements «mourir d’horreur» und «mourir de frayeur» in der Bedeutung ‘vor Schreck sterben’ ersichtlich wird. (558) Avertiv faillir (à/Ø) + Inf. mit Achievements im 17. Jahrhundert (a) *Adamas en demeura comme ravy, et *Lycidas en fut si surpris qu’il en faillit mourir d’ horreur. Cependant *Bellinde embrassoit le corps de *Diane, et le treuvant sans poulx, et sans mouvement, elle faisoit des regrets capables de toucher la mort mesme. (Frantext intégral: Balthazar Baro, La Conclusion et dernière partie d’Astrée, 1628, p. 393s., livre 9) ‘[. . .] so überrascht, dass er beinahe vor Schreck daran gestorben wäre [. . .]’ (b) Disant cela, elle se desbattoit pour se remettre les bras en liberté, et *Astrée qui avoit failly à mourir de frayeur à la veue de ce cousteau, et du funeste dessein de *Diane, se repentant de luy avoir donné cette fausse allarme: mais ma soeur, luy dit-elle en s’avançant, *Paris est encore en vie. – que m’importe, repliqua *Diane, que *Paris vive, si mon *Silvandre n’est plus ? – il vous importe si fort, reprit *Astrée, que vous ne sçauriez desormais le refuser pour mary. [. . .] (Frantext intégral: Balthazar Baro, La Conclusion et dernière partie d’Astrée, 1628, p. 528s., livre 12) ‘Astrée, die beim Anblick dieses Messers beinahe vor Schreck gestorben wäre.’ Das Merkmal [Imminenz] und damit auch der Avertiv hat sich im 17. Jahrhundert allerdings noch nicht vollständig konventionalisiert, wie das folgende Beispiel mit lexikalischer Bedeutung und der Möglichkeit der syntaktischen Trennung der Glieder, Auxiliar und Präposition, illustriert. (559) Faillir ≠ Avertiv im 17. Jahrhundert *Maurevel fut Catholique si zelé, que en haine des Mescreans, avec un peu d’argent que la Royne lui avoit promis, ayant failli à Montcontour
460
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
de tuer l’Admiral, il fit pourtant un sacrifice sanglant et de bonne odeur à la dite Royne, en tuant à ses affaires *Moüy, qui de long-temps le nourrissoit, le montoit et lui donnoit des chausses. (Frantext intégral: Théodore Agrippa d’Aubigné, Confession catholique du sieur de Sancy, 1630 p. 361s., livre 2, chapitre 8) Bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts findet sich die Avertivkonstruktion sowohl im Inzidenzschema als auch in Verbindung mit einem sich anschließenden Adversativ- oder Temporalsatz, deren Gebrauch die Konventionalisierung der Imminenz begünstigt. Wie bereits in Kapitel 3.2.2.2 und insbesondere in Kapitel 4.5 dargelegt, bilden Inzidenzschemata, Adversativ- und Temporalsätze einen besonders günstigen Kontext für die Konventionalisierung kontrafaktischer Implikaturen (i.e. der Konventionalisierung der polaren Komponente) von Proximativen in dem Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv. Hinsichtlich der faillir-Avertivkonstruktion zeigt sich jedoch ein zu dem Proximativ > Avertiv-Pfad der STARE-Konstruktionen unterschiedlicher Grammatikalisierungspfad, bei dem insbesondere die kontextuelle Umgebung des Inzidenzschemas sowie des Adversativ- oder Temporalsatzes zur Konventionalisierung der proximalen Komponente des Avertivs beitragen können. Die Konventionalisierung der Implikatur der Imminenz wird insbesondere durch den vermehrten Gebrauch in folgendem Inzidenzschema verstärkt, bei dem der im Temporalsatz stehende zweite Sachverhalt den imminentiell zum Ereigniszeitpunkt des ersten (i.e. im ersten Konjunkt stehenden) Sachverhalts liegenden Referenzpunkt in den Fokus stellt. (560) Avertiv faillir à + Inf. im Inzidenzschema im 17. Jahrhundert (a) *Fayet faillit à tomber évanoui, lorsqu’il découvrit ce mystère; il n’en croyoit point à ses yeux; il relut le billet deux ou trois fois, et fit conscience de soupçonner encore. (Frantext intégral: ValentinEsprit Fléchier, Mémoires sur les Grands-Jours d’Auvergne en 1665/ 1710; p. 32s.) ‘Fayet wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als er dieses Geheimnis aufdeckte.’ (b) Le pis fut que ce vieux François, Mareschal d’*Aumont, faillit à tuer ce pauvre homme, quand il lui conta ces choses; Mee *Dieu, dit il, je voudrois estre mort si cela estoit vray; il vous faut faire mettre en prison. (Frantext intégral: Théodore Agrippa d’Aubigné, Confession catholique du sieur de Sancy, 1630, p. 281s., livre 1, chapitre 7) ‘Er hätte beinahe diesen armen Mann getötet, als er ihm diese Dinge erzählte.’
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
461
Neben dem Inzidenzschema wird die Avertivbedeutung auch durch die kontextuelle Umgebung eines sich anschließenden Adversativsatzes ersichtlich, bei dem der konventionell implikatierte Kontrast zwischen den beiden Sachverhalten der Konjunkte nur durch die proximale Komponente semantischpragmatisch akzeptabel wird, wie die folgenden Belege im 17. Jahrhundert illustrieren. (561) Avertiv faillir + Inf. mit Adversativsatz im 17. Jahrhundert (a) La pauvre dame fut fort surprise, croyant qu’ils le vinssent saisir pour le conduire en prison, et oyant qu’ils luy demandoient son nom, elle faillit à le dire elle-mesme, mais mon maistre la devança et se nomma *Ligdamon *Segusien. Elle eut alors opinion qu’il se voulust dissimuler, et pour oster tout soupçon (Frantext intégral: Honoré d’Urfé, L’Astrée, vol. 1, partie 1, 1612, p. 429, livre 11) ‘[. . .] sie hätte es ihm beinahe selbst gesagt, aber mein Gebieter kam ihr zuvor.’ (b) *Madame *Bourgoigne receut vostre lettre et tomba malade le lendemain, d’une griefve maladie, et dangereuse, mais la promptitude des remedes luy aura proffité, s’il plaict à *Dieu. Son bras du cautere s’enflamma soudainement, et faillit à se mettre en gangrene, mais cela fut arresté. Ma niepce va tousjours en meilleur train; je luy envoyay dernierement voz lettres (Frantext intégral: Nicolas de Peiresc, Lettres, vol. 6, Lettres à sa famille, 1602/1625, p. 125s.) Die Entwicklung der Imminenz erscheint als ein wichtiges Stadium der ursprünglich lediglich auf der polaren Komponente (i.e. auf das Misslingen der Handlung) basierenden faillir-Konstruktion,290 bei der, im Gegensatz zu der Entwicklung der imminentiellen STARE-Konstruktionen,291 die primäre Konventionalisierung der zunächst polaren Komponente den anschließenden Kontrast der folgenden Adversativsätze erst durch die zusätzliche Entwicklung der Imminenz semantisch-pragmatisch akzeptabel macht. In einem gegenüber der anfänglich noch von diskursiv geprägter sowie durch Punktualität (inbesondere avertivaffine Achievements, wie tuer, mourir, tomber, etc.) und Telizität der Verben triggernder Avertivumgebung zeigt sich in einem fortgeschritteneren Stadium die Kompatibilität mit States, die sich bereits
290 Cf. auch die analoge Entwicklung der manquer-Avertivkonstruktion in Kapitel 4.6.2. 291 Zur Entwicklung der STARE-Konstruktionen cf. Kapitel 4.5 und zur redundanzlosen Verstärkbarkeit der polaren Komponente cf. Kapitel 3.
462
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
im 17. Jahrhundert nachweisen lässt. Wie in Kapitel 3 synchron dargelegt, werden States im Skopus des Avertivs ingressiv verwendet (shifting), sodass der Avertiv die Imminenz zum Beginn der Handlung sowie dessen Misslingen ausdrückt (X faillit d’être la victime ‘X wäre beinahe das Opfer geworden’). (562) Avertiv [States] → Telizität *Mme *De *Guémené faillit d’être la victime de cette paix fourrée. (Frantext intégral: Jean-François Paul de Gondi de Retz, Mémoires, vol. 1, 1613–1648/1679, p. 108ss., partie 1) Wie die folgenden Belege aus dem 19. Jahrhundert mit äquivalenter Aktionsart (être la victime ‘das Opfer sein’) sowohl im passé simple (a) als auch im plus-que-parfait (b) illustrieren, wird die Präposition de im Zuge der zunehmenden Fügungsenge abgebaut. (563) Faillir d’être la victime > faillir être la victime [verstärkte Fügungsenge] (a) Je faillis être la victime d’un de ces jeux lacédémoniens. (Frantext intégral: François de Chateaubriand, Itinéraire de Paris à Jérusalem, 1812, p. 91, partie 1) (b) L’accusateur public lui ayant demandé des renseignements sur le guet-apens dont il avait failli être la victime dans le parc, et s’il ne s’était pas mépris sur la position du fusil, (Frantext intégral: Honoré de Balzac, Une ténébreuse affaire, 1846, p. 669–670, chapitre 3) Der zunehmende Abbau der Präpositionen à und de lässt sich auch anhand der Avertivbelege in passiver Diathese nachweisen. In passiver Diathese wird der Avertiv im 16. Jahrhundert noch ausschließlich mit der Präposition à ausgedrückt. (564) Avertiv faillir à + Inf. in passiver Diathese ab dem 16. Jahrhundert (a) En ce mois, le seingneur de Grillon, gouverneur de Boulongne sur la Mer, comme lieutenant du duc Desparnon [l.. d’Esparnon], faillist à estre tué par un soldat de la Ligue, qui avoit juré et promis sa mort. (Frantext intégral: Pierre de l’Estoile, Registre-journal du regne de Henri III, vol. 5, 1585–1587, p. 310) ‘Herr Grillon [. . .] wäre beinahe getötet worden [. . .]’ (b) *Vallence cité d’*Espaigne, avec tous ses citoyens faillit à estre submergée, par une violente, et incongneuë irruption d’eau [. . .] (Frantext intégral: Pierre Boaistuau, Le Théâtre du monde, 1558, p. 197, livre 3)
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
463
‘Valencia, Stadt von Spanien, wäre beinahe mit samt seinen Einwohnern von einem gewaltigen und unerwarteten Wassereinbruch überschwemmt worden.’ Im 17. Jahrhundert ist der Avertiv sowohl mit faillir à + Inf. als auch mit faillir de + Inf. in passiver Diathese belegt, wie die folgenden Beispiele des Frantext intégral illustrieren. (565) Avertiv faillir de + Inf. in passiver Diathese ab dem 17. Jahrhundert (a) On nous dict que *Madame *De *Rohan, s’en retournant d’*Avignon à *Castres, faillit d’estre attrapée avec quinze mille pistoles qu’elle a touchées, se dict on, en *Avignon. *Mr *Signier desire avoir de la vaisselle d’argent blanche, c’est à dire bassin, ayguiere, sallieres, flambeaux, et vouldroit sçavoir à l’advance combien elle se vend; (Frantext intégral: Nicolas de Peiresc, Lettres: vol. 6, Lettres à sa famille, 1602/1625, p. 98s.) (b) Comme le page disgracié faillit d’estre assassiné dans sa chambre, et de la prison ou il fut renfermé. (Frantext intégral: Tristan L’Hermite, Le Page disgracié, 1667, p. 198ss., partie 1, chapitre 40) (c) Toutefois, de crainte qu’en donnant quelques tesmoignages de son transport, elle se fist des obstacles à son dessein, elle cacha sa douleur, mais avec une contrainte si grande, que *Silvandre mesme faillit d’y estre trompé. (Frantext intégral: Balthazar Baro, La Conclusion et dernière partie d’Astrée, 1628, p. 476s., livre 11) Die präpositionslose Avertivkonstruktion faillir + Inf. ist in passiver Diathese, zumindest im Frantext intégral, nicht vor dem 18. Jahrhundert belegt. Während sich im 18. Jahrhundert lediglich zwei Belege (Belege a und b) von faillir + Inf. in passiver Diathese finden, steigt der Gebrauch ab dem 19. Jahrhundert (Belege c und d) mit zunehmender Frequenz an. (566) Avertiv faillir + Inf. in passiver Diathese ab dem 18. Jahrhundert (a) Une seule fois il voulut tâcher de secouer le joug de ses maîtres et se donner une existence indépendante, et par cet unique effort l’état faillit être renversé. Ce n’est qu’au seul conseil général que le deux-cent doit encore une apparence d’autorité. (Frantext intégral: Jean-Jacques Rousseau, Lettres écrites de la montagne, 1764, p. 834, lettre 7)
464
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(b) Qui avez failli être pendu comme un espion par les français lorsqu’ils faisaient la guerre en *Lombardie, et qui, à l’âge de trente-neuf ans, êtes venu à *Paris (Frantext intégral: Henri-Joseph Dulaurens, Le Compère Mathieu ou les Bigarrures de l’esprit humain, 1766, p. 180) (c) qui a failli être englouti par les vagues de la mer *Rouge, et a couru des périls dans les flammes de *Moscou, menaçant les *Indes de ces deux points extrêmes. (Frantext intégral: Emmanuel de Las Cases, comte de, Le Mémorial de Sainte-Hélène, 1823, p. 134, chapitre 1) ‘der beinahe von den Wellen des Meeres in die Tiefe gerissen worden wäre’ (d) il avait failli être massacré en défendant le roi aux tuileries. (Frantext intégral: Emmanuel de Las Cases, comte de, Le Mémorial de SainteHélène, 1823, p. 447, chapitre 4) ‘der beinahe massakriert worden wäre’ In aktiver Diathese koexistieren im 18. Jahrhundert weiterhin alle drei Avertivkonstruktionen nebeneinander, wobei der Gebrauch von faillir + Inf. im Frantext intégral gegenüber faillir de + Inf. und faillir à + Inf. bereits überwiegt. (567) Avertiv faillir + Inf. im 18. Jahrhundert (a) Il prit ensuite le cadavre, le porta dans la chambre de sa femme, qui faillit s’évanouir quand elle le vit entrer avec cette fatale charge. (Frantext intégral: Antoine Galland, Les Mille et une nuits, vol. 1, 1715, p. 367) ‘die beinahe in Ohnmacht gefallen ist’ (b) *FORBAN. À propos, de ce jeune homme. Sais-tu qu’il est intrépide? il se bat comme un enragé. *MORNECK. Comment, diable!. . . il a failli tuer notre capitaine. *FORBAN. Lui! (Frantext intégral: Guilbert de Pixerécourt, Victor ou l’Enfant de la forêt, 1798, p. 40, acte 3, scène 3) ‘Er hätte beinahe unseren Kapitän getötet.’ (c) Il faillit se laisser tomber d’effroi. Je le priai poliment de s’asseoir. Il vouloit sortir; mais l’ayant assuré qu’il n’avoit rien à craindre, il céda enfin à mes empressemens, et se jetta tout tremblant sur un sofa, en regardant *Zulime languissamment. Je suis bien mortifiée, lui dit-elle, de ne pouvoir tenir pour cette nuit la parole que je vous ai donnée: (Frantext intégral: Claude Godard d’Aucour, Mémoires turcs, 1743, p. 153ss.) ‘Er hätte sich vor Entsetzen beinahe fallen gelassen.’
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
465
Wie die folgende Untersuchung mit den avertivaffinen Verben mourir und tomber in Abbildung 42 illustriert, überwiegt im 18. Jahrhundert bereits ebenfalls ihre prototypische Verwendung mit faillir + Inf. gegenüber faillir de + Inf. und faillir à + Inf. 60 50 40 30 20
kein Avertiv
10
Avertiv
r
rir
rir
be
be m
m
to
ir
fa
ill
ir
ill fa
ir ill fa
r
ou
m to de
ir ill fa
fa
ill
ir
de
à
m
to
à ir ill fa
ou
m
m
be
ou
r
rir
0
Abbildung 42: Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber im Frantext intégral (1700–1799).
Die Anzahl der Korpusbelege des Avertivs mit den Verben mourir (‘sterben’) und tomber (‘fallen’) ist im 18. Jahrhundert noch gering (cf. Tabelle 120) gegenüber der Frequenzzunahme von faillir + Inf. ab dem 19. Jahrhundert. Tabelle 120: Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber im Frantext intégral (1700–1799). – .. Token
Avertiv
Faillir à mourir
/
Faillir à tomber
/
Faillir de mourir
/
Faillir de tomber
/
Faillir mourir
/
Faillir tomber
/
466
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Hinsichtlich der zugrunde liegenden Informationsstruktur wird die proximale Komponente der faillir-Avertivbedeutung besonders verstärkt, wenn der imminent zu dem Ereignispunkt liegende Referenzpunkt im Fokus steht («et un moment. . .»), wie das folgende Beispiel aus dem 19. Jahrhundert illustriert, bei dem der anschließende Adversativsatz zudem nochmals mit anaphorischem Bezug die Imminenz fokussiert. (568) Fokussierung des Referenzpunktes subit, il est des instants où je perds la tête, où j’ai comme la conviction que tu me trompes. . . et il me prend des tentations de te tuer. . . et un moment elle faillit tuer don *José. Mais cet emportement n’eut que la durée d’un éclair. – je suis folle! Dit-elle, va-t’en! Et elle jeta son poignard. Puis elle s’enfuit brusquement (Frantext intégral: Ponson du Terrail, Rocambole, t.4, 1859, p. 239) Ab dem 19. Jahrhundert sind die Präpositionen à und de in der Avertivkonstruktion faillir (à/de/Ø) + Infinitiv überwiegend abgebaut. Die prototypischen Avertivverben tomber (‘fallen’) und mourir (‘sterben’) werden bereits im Frantext categorisée (ab 1830) ausschließlich mit faillir + Infinitiv gebraucht, wie Abbildung 43 illustriert. 250 200 150 100 kein Avertiv 50
Avertiv
0 rir
r
ou
lir
de
l ai
f
be
m
f
ai
r lli
de
rir
om
r
ou
t
fa
ir ill
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be
m
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be
rm
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i
ill
fa
r
ou
t
ill
fa
rt
lli
i fa
om
Abbildung 43: Faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber im Frantext categorisée (ab 1830).
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
467
Die absolute Frequenz von faillir + Inf. mit den prototypischen Avertivverben weist rund 100 Belege mit mourir (‘sterben’), 103 Belege mit tomber (‘fallen’) und 29 Belege mit tuer (‘töten’) in dem 127.515.681 Token großen Frantext categorisée (1830–2012) auf, wie Tabelle 121 illustriert.
Tabelle 121: Absolute Frequenz von faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/ tuer (1830–2012). Jahrhundert
–
.. Token
Avertiv
Faillir à mourir
/
Faillir à tomber
/
Faillir à tuer
/
Faillir de mourir
/
Faillir de tomber
/
Faillir de tuer
/
Faillir mourir
/
Faillir tomber
/
Faillir tuer
/
Die vom 16. Jahrhundert bis 21. Jahrhundert untersuchte Avertiventwicklung auf der Grundlage der Korpora Frantext intégral und Frantext categorisée (ab 1830) ergibt die in Tabelle 122 (Seite 468) illustrierte absolute Frequenz von faillir (à/ de/Ø) + Inf. mit den prototypischen Verben mourir (‘sterben’), tomber (‘fallen’) und tuer (‘töten’). Um die größtmögliche Anzahl an Belegen für eine optimierte Repräsentativität der Daten zu erhalten, wurden alle verfügbaren Texte eines Jahrhunderts in das jeweilige Arbeitskorpus integriert. In Umrechnung der unterschiedlichen Korpusgrößen der Jahrhunderte auf jeweils 1.000.000 Token ergibt sich die in Tabelle 123 (Seite 468) illustrierte relative Frequenz der Avertiventwicklung mit den prototypischen Avertivverben, die den allmählichen Abbau von faillir à + Inf. und faillir de + Inf. und den Anstieg von faillir + Inf. aufzeigt. Am Beispiel von faillir mourir und faillir tomber lässt sich auch die zunehmende Grammatikalisierung des Avertivs betrachten: Im Frantext intégral ist die Avertivfunktion von faillir mourir im 16. Jahrhundert noch nicht belegt, steigt im 17. Jahrhundert mit einem Anteil von 1,69% geringfügig an, nimmt
468
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 122: Absolute Frequenz von faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/tuer (1500–2012). –
–
–
ab –
..
..
..
..
Faillir à mourir
Faillir à tomber
Faillir à tuer
Faillir de mourir
Faillir de tomber
Faillir de tuer
Faillir mourir
Faillir tomber
Faillir tuer
Jahrhunderte Token
Tabelle 123: Relative Frequenz von faillir (à/de/Ø) + mourir/tomber/tuer (1500–2012). .. Token
–
–
–
ab –
Faillir à mourir
,
,
Faillir à tomber
,
,
Faillir à tuer
,
Faillir de mourir
,
,
Faillir de tomber
,
,
Faillir de tuer
Faillir mourir
,
,
,
Faillir tomber
,
,
Faillir tuer
,
,
darüber hinaus im 18. Jahrhundert mit 9,09% weiter zu und erreicht ab dem Jahre 1830, im Frantext categorisée, 40,82% (inklusive der Formen von falloir) bzw. 100% (abzüglich der Formen von falloir292) der Gesamtbelege. Analog zu
292 Die Prozentzahlen ergeben sich aus einer lemmatisierten Korpusrecherche, bei der noch keine Trennung der Formen von falloir und faillir automatisch erfasst wird. Ein manuelles
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
469
faillir mourir ist die Avertivfunktion von faillir tomber im 16. Jahrhundert sowie auch noch 17. Jahrhundert noch nicht belegt, steigt im 18. Jahrhundert mit 42,86% an und erreicht ab dem Jahre 1830 rund 91,96%, wie Tabelle 124 illustriert. Tabelle 124: Absolute Frequenz in der Grammatikalisierung von faillir (à/de/Ø) + mourir/ tomber/tuer (1500–2012). Jahrhunderte Token
–
–
–
ab –
..
..
..
..
Faillir de mourir
/
/
/
/
Faillir de tomber
/
/
/
/
Faillir à mourir
/
/
/
/
Faillir à tomber
/
/
/
/
Faillir mourir
/ (%)
/ (,%)
/ (,%)
/ (,%)
Faillir tomber
/ (%)
/ (%)
/ (,%)
/ (,%)
Für eine differenzierte Betrachtung der Belege von falloir und faillir, die im lemmatisierten Frantext categorisée zum Abfragezeitpunkt noch unter dem Lemma faillir polysem erfasst werden, wird eine manuelle Überprüfung der Belege erforderlich. Das Lemma faillir ist mit einer absoluten Gesamtzahl von 32.941 Belegen auf 127.515.681 Token (bzw. 258,33 Belegen auf 1.000.000 Token) im Frantext categorisée (ab 1830) vertreten, von denen allerdings 31.485 Belege (i.e. 95,58%) auf falloir und lediglich 1456 Belege (i.e. 4,42%) auf faillir entfallen, wie Tabelle 125 (Seite 470) illustriert. Die in Abbildung 44 (Seite 470) illustrierte TAM-Untersuchung unter Berücksichtigung der sich entwickelnden Defektivität von faillir ergibt, dass falloir lediglich im Präsens, Futur und Konditional und faillir ausschließlich im passé simple, passé composé und plus-que-parfait belegt ist.
Herausfiltern der Korpusbeispiele ohne falloir ergibt, dass die der Form faillir zugeschriebenen Formen ab dem Jahre 1830 zu 100% den Avertiv ausdrücken.
470
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 125: Falloir + Inf. und faillir + Inf. im Frantext categorisée. .. Token
.. Token
Faillir/falloir + Inf.
,
.
Falloir + Inf.
,
.
,
Faillir + Inf. (AVK)
250 200 150 100 50 falloir
0 nt
l
se
é pr
G.
3S
nd
co
. SG
r
ne
o iti
tu
fu G.
3S
e
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3
p
s
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faillir
t
pr
é
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an
G
1S
it
e
és
r .p
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pa
im
s
m
é
ss
co
pa
Abbildung 44: TAM-Distribution von faillir/falloir + Inf. im Frantext categorisée.
Wie Tabelle 126 (Seite 471) illustriert, bildet die stärkste Frequenz mit 25.938 Belegen (bzw. 203,41 Belegen in Umrechnung auf 1.000.000 Token) die unpersönliche Konstruktion in der 3. Person Singular Präsens, gefolgt von der 3. Person Singular Konditional mit 3402 Belegen (bzw. 26,68 Belegen à 1.000.000 Token) und der 3. Person Singular Futur mit 1807 Belegen (bzw. 14,17 Belegen à 1.000.000 Token). Faillir ist im Frantext categorisée (ab 1830) noch mit 747 Belegen (bzw. 5,86 Belegen à 1.000.000 Token) im passé simple und bereits mit 709 Belegen (bzw. 5,56 Belegen à 1.000.000 Token) im passé composé und plus-que-parfait vertreten. Die Belege im passé simple werden erwartungsgemäß im 20. Jahrhundert zunehmend durch das passé composé ersetzt. Die noch relativ hohe Anzahl der Belege im passé simple ist
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
471
Tabelle 126: TAM-Distribution von faillir/falloir + Inf. im Frantext categorisée. .. Token
.. Token
Faut + Inf. [falloir]
SG.PRS.
,
.
Faudrait + Inf. [falloir]
SG.COND.
,
Faudra + Inf. [falloir]
SG.FUT.
,
AVK [faillir]
PS
,
PC/PQP
,
faille + Inf. [falloir]
SUBJ.
,
andere
andere
,
faux + Inf. [falloir]
SG.PRS.
,
faillir/falloir [imparfait] + Inf.
IMPF.
nicht zuletzt auf das vorwiegend literarische Texte enthaltene FrantextKorpus zurückzuführen. Im Zuge der Avertivauxiliarisierung kommt es zudem zu einem Wandel der Skopusinteraktion mit Pronomina und der Negationspartikel, die zunehmend der infiniten Form vorangestellt und in den Skopus des Avertivs verlagert werden. Die folgenden Belege des 17. Jahrhunderts illustrieren noch eine Stellungsfreiheit bezüglich des Pronomens en in der Avertivkonstruktion, insofern als en sowohl der finiten (Beispiele a und b) als auch der infiniten Form vorangestellt (Beispiele c und d) sein kann. (569) En faillir (à/de/Ø) + Inf. und faillir (à/de/Ø) + en Inf. im 17. Jahrhundert (a) *Astrée n’en receut pas un moindre contentement. *Phillis en faillit mourir d’aise et *Diane mesme, dans les delices qui estoient promises à sa compagne, trouva quelque soulagement à ses ennuis. Mais comme les plus grandes felicitez peuvent quelquefois estre prises pour un presage de quelque grand malheur à venir, à cause de cette liaison trop estroitte, qui attache presque inseparablement le mal avecque le bien, [. . .]. (Frantext intégral: Balthazar Baro, La Conclusion et dernière partie d’Astrée, 1628, p. 475s., livre 11) ‘Phillis wäre beinahe an der Bequemlichkeit gestorben.’ (b) volonté, il en falloit esteindre la cause, il leur jura qu’il m’avoit donnée à *Teombre, et que je recevois ce party fort agreablement. *Lucindor en faillit à crever de despit, et repassant par la chambre où
472
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
j’estois, il se retira sans se souvenir seulement de me donner le bonsoir. Mais soudain qu’il fut arrivé (Frantext intégral: Balthazar Baro, La Conclusion et dernière partie d’Astrée, 1628, p. 190, livre 4) ‘Lucindor wäre beinahe an Verdruss gestorben.’ (c) Mais sans leur dire une seule parole, je vins raconter à *Hermante ma mesaventure, qui faillit d’en mourir de rire, comme à la verité le sujet le meritoit. Ce bruit s’espancha de sorte par toute *Camargue, que je n’osois parler à une seule bergere, qui ne me le reprochast, dont je pris tant de honte, que je resolus de sortir de l’isle pour quelque temps. (Frantext intégral: Honoré d’Urfé, L’Astrée, vol. 1, partie 1, 1612, p. 304s., livre 8) ‘[. . .] die beinahe vor Lachen gestorben wäre [. . .]’ (d) Je fus quasi au desespoir de son inconstance; je faillis à en mourir, mais le temps m’en consola, et je suis venu à la fin à ce bien-heureux estat d’ indifference qu’elle meritoit il y avoit long-temps. (Frantext intégral: Roger de Bussy-Rabutin, Les Mémoires de messire Roger de Rabutin, comte de Bussy, vol. 3, 1696, p. 364) Diese Stellungsfreiheit von en in der Avertivkonstruktion wird ab dem 19. Jahrhundert zugunsten der Voranstelllung vor die infinite Form (i.e. il a failli en mourir) weitestgehend aufgegeben, auch wenn sich in der Gegenwartssprache noch vereinzelte Gegenbeispiele (u.a. im Süden Frankreichs293) mit der finiten Form vorangestellten en (i.e. il en a failli mourir) finden lassen.294 Exemplarisch sei dies lediglich anhand der in Tabelle 127 (Seite 473) illustrierten absoluten Daten295 aus dem Frantext intégral aufgezeigt. Analog kommt es zu einem Wandel der Skopusinteraktion mit der Negationspartikel.296 Wie die obigen Belege mit der Negationspartikel illustriert haben, liegt
293 Ein französischer Informant aus Marseille bezeichnet die Voranstellung (i.e. il en a failli mourir) als akzeptabel, aber «literarisch» gegenüber der gebräuchlicheren Form (i.e. il a failli en mourir). 294 Sowohl aus syntaktischer als auch semantischer Perspektive geht dieser Wandel allerdings auch mit den Merkmalen schwacher Grammatikalisierung (im Gegensatz zu den generell stärker grammatikalisierteren temporalen Periphrasen) einher, da durch die zunehmende Positionierung des Pronomens zwischen Auxiliar und Infinitiv nicht zuletzt die Fügungsenge wieder vergößert wird und ein noch nicht gänzlich desemantisiertes Auxiliar widerspiegelt. 295 Von einer Umrechnung der Korpusgrößen der Jahrhunderte zur Ermittlung der relativen Frequenz wird aufgrund der marginalen Belege einerseits und des offensichtlichen Anstiegs im 19. Jahrhundert andererseits an dieser Stelle abgesehen. 296 Cf. Kapitel 3. Zur Diachronie der Skopusinteraktion mit der Negation bei den STAREPeriphrasen cf. Kapitel 4.5.
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
473
Tabelle 127: En faillir (à/de/Ø) + mourir und faillir (à/de/Ø) + en mourir. Frantext intégral
<
–
–
–
–
En faillir à mourir Faillir à en mourir
—
—
—
—
—
—
—
—
—
En faillir de mourir
—
—
—
—
—
Faillir d’en mourir
—
—
—
—
En faillir mourir
—
—
Faillir en mourir
—
—
faillir vor dem 19. Jahrhundert noch im Skopus der Negationspartikel. In einem fortgeschrittenen Grammatikalisierungsstadium erlangt der Avertiv faillir + Inf. Skopus über die Negationspartikel, die zwischen das Auxiliar faillir und der infiniten Form positioniert wird. Die Negationspartikel im Skopus des Avertivs führt schließlich zu der in Kapitel 3 illustrierten Umkehrung der Polarität der Aussage (was on the verge of not taking place but did take place). Dieses fortgeschrittene Grammatikalisierungsstadium des Avertivs mit Negation ist im Frantext intégral erstmalig im 19. Jahrhundert belegt. Die polare Komponente des Avertivs mit Negation ist, analog zu dem Avertiv in affirmativen Aussagen, durch einen Adversativsatz redundanzlos verstärkbar.297 (570) Negationspartikel im Skopus des Avertivs mit Adversativsatz im 19. Jahrhundert Oh! j’ai failli ne pas venir, mais je n’ai pas eu la force de résister; que Dieu me le pardonne! (Frantext intégral: George Sand, Valentine, 1869, p. 175) ‘Ich wäre beinahe nicht gekommen, aber ich hatte nicht die Kraft zu widerstehen.’ Die folgenden Belege illustrieren, dass der Avertiv in Verbindung mit der Negation in diesem fortgeschrittenen Grammatikalisierungsstadium ohne kontextuelle Verstärkung auskommt.
297 Zur pragmatischen Diskussion der Verstärkbarkeit des Avertivs cf. Kapitel 3. Die Redundanzlosigkeit des konventionell implikatierten Kontrastes zwischen den Konjunkten liegt in der grammatikalsierten Imminenz begründet.
474
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
(571) Negationspartikel im Skopus des Avertivs im 19. Jahrhundert (a) «J’aurai des comptes à vous rendre, dit le docteur au jeune homme, je vous apporte toutes vos paperasses. – J’ai failli ne pas partir, dit Savinien, car il m’a fallu me commander des habits et du linge; les Philistins m’ont tout pris, et j’arrive en enfant prodigue.» (Frantext intégral: Honoré de Balzac, Ursule Mirouët, 1842, p. 878) (b) J’ai eu quelques autres chagrins d’argent, car l’argent est une source de peines qui atteignent parfois le coeur. J’ai failli ne pas trouver à emprunter ce qui était nécessaire pour sauver des êtres qui me sont chers. J’en suis venue à bout cependant, j’ai trouvé d’excellents, d’ [. . .] (Frantext intégral: George Sand, Correspondance 1848, 1848, p. 726) (c) ROSA Elle n’a que cette robe-là d’un peu distingué. – Mes enfants, j’ai failli ne pas venir. . . TOUS Oh! ROSA La patronne a eu une crise de nerfs. (Frantext intégral: Alphonse Daudet, Le Nabab, 1881, p. 82, tableau 4, scène 4) (d) – Je suis bien en retard? – Non, pas trop. – Figurez-vous que j’ai failli ne pas pouvoir venir. Ma maison était pleine, et je ne savais comment m’y prendre pour mettre tout ce monde à la porte. (Frantext intégral: Guy de Maupassant, Notre coeur, 1890, p. 409, partie 2) Im 20. Jahrhundert zeigt sich eine deutliche Frequenzzunahme, die das fortgeschrittene Grammatikalisierungsstadium des Avertivs mit der Negationspartikel (was on the verge of not taking place but did take place), sowohl mit belebtem Subjekt als auch unbelebtem Subjekt (Beispiel 572a), bezeugt.298 (572) Avertiv im Skopus der Negationspartikel im 20. Jahrhundert (1900–1950) (a) Pour comble de malchance, il y a eu une panne d’électricité: la voiture a failli ne pas pouvoir revenir. (Frantext intégral: Roger Martin du Gard, Devenir, 1928, p. 194, III) (b) enfin, et qui pis est, *Madame *De *Matefelon a failli ne pas s’en aller. . . (Frantext intégral: René Boylesve, La Leçon d’amour dans un parc, 1902, p. 166) (c) Ah! J’ai bien failli ne pas remonter. Je me haïssais! (Frantext intégral: Henry Bernstein, Le Secret, 1913, p. 12, acte 8, scène 1)
298 Diesbezüglich wird auch der Unterschied zu der schwächer grammatikalisierten Avertivperiphrase manquer (de) + Infinitiv deutlich, die im Frantext categorisée lediglich als Hapax Skopus über die Negationspartikel hat (cf. Kapitel 4.6.2).
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
475
(d) «laisse-moi ici, *Antoine, va-t’en, laisse-moi! J’ai failli ne pas revenir. . .» mais, avant qu’*Antoine eût pu dire un mot, il cria: «taistoi, tais-toi, je sais, ne dis rien. Je partirai avec toi.» (Frantext intégral: Roger Martin du Gard, Les Thibault, La Sorellina, 1928, p. 1245) (e) Le troisième tiroir, presque vide, ne contenait qu’un ancien registre de comptes, qu’*Antoine faillit ne pas ouvrir. (Frantext intégral: Roger Martin du Gard, Les Thibault, La Mort du père, 1929, p. 1334) (573) Avertiv im Skopus der Negationspartikel im 20. Jahrhundert (1951–1999) (a) Col blanc et mallette de simili-cuir. Réelle camelote. J’ai failli ne pas le laisser entrer. (Frantext intégral: Jean-Luc Benoziglio, Cabinet portrait, 1980, p. 10) ‘Ich hätte ihn beinahe nicht eintreten lassen.’ (b) «J’ai failli ne pas te voir. La nuit, j’évite les stoppeurs.» (Frantext intégral: Anne-Marie Garat, L’Insomniaque, 1987, p. 179) ‘Ich hätte dich beinahe nicht gesehen.’ (c) je pense, donc je suis. 2) Kant. Il fait un détour pour acheter un journal mais il a oublié ses sous. 3) Il a failli ne pas voir Napoléon passer. (Frantext intégral: Raymond Queneau, Journaux 1914–1965, 1996, p. 741) ‘Er hätte Napoleon beinahe nicht vorbeigehen sehen.’ Das im Vergleich zu den anderen romanischen Avertivkonstruktionen fortgeschrittene Grammatikalisierungsstadium des Avertivs faillir + Inf. liegt nicht zuletzt in der diachron früher konventionalisierten und (in Relation zu der passiv assertierten299 proximalen Komponente) prominenteren polaren Komponente begründet. Der aufgezeigte Grammatikalisierungspfad faillir > Avertiv illustriert zudem die Unabhängigkeit der Grammeme, insofern weder der Avertiv den Proximativ als Vorstadium benötigt noch der Avertiv in den Proximativ grammatikalisiert. Inwiefern manquer (de) + Inf. eine zu faillir + Inf. nahezu analoge, aber diachron spätere Entwicklung aufweist, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
4.6.2
MANCUS
> Avertiv
In Kapitel 4.6.1 wurde die Hypothese korpusbasiert verifiziert, dass sich im Falle von faillir + Infinitiv zunächst die polare Komponente und anschließend
299 Zur passiven Assertiertheit cf. Kapitel 3.2.2.2.
476
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
die proximale Komponente anhand der in Tabelle 28 illustrierten Grammatikalisierungsstadien konventionalisiert. Tabelle 128: Stadien des Grammatikalisierungspfads FALLERE/MANCUS/PECCARE > Avertiv. Stadien
Polare Komponente
Proximale Komponente (i.e. Imminenz)
Stadium I:
‘scheitern, p zu realisieren’ (+> p wurde nicht realisiert)
+> ¬p
—
Stadium II:
‘p wurde nicht realisiert’
¬p
—
Stadium III:
‘p wurde nicht realisiert (+> aber p war kurz davor, sich zu realisieren)
¬p
+> Imminenz
Stadium IV:
‘p wurde nicht realisiert, aber p war kurz davor, sich zu realisieren’ (Avertiv)
¬p
Imminenz
Im Folgenden wird aufgezeigt, inwiefern manquer (de) + Inf. (< it. mancare < lat. mancus ‘verkrüppelt, schwach, unvollständig, mangelhaft’) eine zu faillir + Inf. semantisch analoge Entwicklung des Avertivs aus einem Ausdruck des Mangels durchlaufen hat. Manquer (de) + Inf. ist allerdings gegenwärtig auf einem (noch) früheren Grammatikalisierungsstadium als faillir + Inf. anzusiedeln, zumal die Periphrase im Gegensatz zu faillir + Infinitiv auch (noch) nicht defektiv geworden ist und hinsichtlich aller Lehmann’schen Parameter (Gewichtsverlust, Kohäsionszunahme und reduzierte Variabilität) schwächer als faillir + Infinitiv grammatikalisiert ist. Insbesondere weist der Avertiv in Form von manquer (de) + Inf. eine (noch) eingeschränkte Paradigmatizität durch den vorrangigen Gebrauch mit Achievements auf, der allerdings keiner Restriktion auf Achievements (bzw. auf die typisch punktuellen Avertivverben) gleichkommt.300 Im Gegensatz zu der früher weit verbreiteten Annahme, dass manquer erst im 16. Jahrhundert aus dem italienischen mancare entlehnt werde,301 finden
300 Wie im Folgenden gezeigt wird, zeigt sich bereits ab dem 18. Jahrhundert eine Kompatibilität mit States (shifting), wenn sich diese auch (noch) durch einen geringeren Gebrauch auszeichnet als dies bei der stärker grammatikalisierten faillir-Avertivperiphrase der Fall ist. 301 Cf. den ursprünglichen (mittlerweile jedoch überholten) Hinweis, dass manquer im 16. Jahrhundert aus dem italienischen mancare entlehnt werde, u.a. bei Gamillscheg (1928, 587).
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
477
sich entsprechend der Angaben im FEW (vol. 6, 1440) bereits Belege im Altfranzösischen, insbesondere in der italianisierten Ystoire des Normands von Aimé du Mont Cassin (cf. FEW, vol. 6, 140; Williams 1957). Nach Williams (1957, 86) liegt im Sinne eines altfranzösischen Mentir-manquer-faillir-falloir complex, der auf die Beobachtungen von Orr (1936) und Tobler (1902, vol. 1, 213s.) bzw. strenggenommen sogar bereits auf einen Hinweis bei Littré (1873, vol. 3, 431) zurückgeht,302 das altfranzösische mentir (< lat. mentiri ‘lügen’) in dem gleichen Frame wie manquer und faillir.303 Insbesondere dieses im Altfranzösischen oftmals gemeinsame Auftreten von faillir und mentir in der Bedeutung ‘faillir, manquer’, wie in «Poi s’en faut/Que li cuers ne me ment e faut» (Troie, v. 18710, zitiert nach Williams 1957, 85), «ne me serait ja reprovei/Qu’en la Bible mente ne faille» (G. de Provins, Oeuvres, B591, zitiert nach Williams 1957, 85) und «Dieu qui ne fault ne ne ment» (Grace de la Buigne, Roman des deduis, v. 2754, zitiert nach Williams 1957, 85), nimmt Williams (1957) zum Anlass, sich dem altfranzösischen Mentir-manquerfaillir-falloir complex nach Orr (1936) und Tobler (1902, vol. 1, 213s.), bzw. strenggenommen nach Littré (1873, vol. 3, 431), anzuschließen. Im Frantext intégral finden wir das gemeinsame Auftretem von faillir und mentir in der Bedeutung ‘faillir, manquer’ insbesondere im Chanson de Roland. Wie der folgende Beleg mit mentir im passé simple illustriert, ist sowohl die Bedeutung ‘lügen, die Unwahrheit sagen’ als auch die Bedeutung ‘fehlen, einen Fehler machen’ möglich, deren semantische Nähe in folgendem Beispiel in der ‘Unfehlbarkeit’ Gottes deutlich wird. (574) Mentir ‘faillir, manquer’ im Chanson de Roland 1865 Aït vos Deus, ki unkes ne mentit! 1866 Oliver, frere, vos ne dei jo faillir. 1867 De doel murra, se altre ne m’i ocit. (Frantext intégral: Anonyme, Chanson de Roland, 1100, p. 146)
302 Bereits bei Littré (1873, vol. 3, 431) finden wir unter manquer die prototypischen Beispiele «li cuers lui mant [. . .] li cors me faut, li cuers me ment» (Littré 1873, vol. 3, 431) sowie die anschließende Frage, «ce mant ou ment ne vient-il pas de mentir?» (Littré 1873, vol. 3, 431; 1957, vol. 4, 1975). 303 «Einen ähnlichen Wandel seines Sinnes hat mentiri, das ja in seiner ursprünglichen Bedeutung von lat. fallere nicht weit abliegt, erfahren, nur da[ss] seine abgeleitete Verwendung nicht Ausgangspunkt für fernere Entwickelung geworden, und selbst wieder aufgegeben ist. Hei[ß]t mentir zunächst ‘wissentlich Unwahrheit sagen’, so ist es in alter Zeit sehr oft auch gebraucht worden von einem Thun, das sich in Widerspruch setzt mit gegebener Zusage, also vom Wortbruch [. . .]. Endlich braucht man es ganz wie faillir auch von dem Verhalten der Person oder Sache, die gehegter Erwartung nicht entspricht, erwarteten Dienst zu leisten aufhört [. . .].» (Tobler 1908, vol. 1, 213).
478
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Im Roman de la Rose tritt mentir sowohl in der Bedeutung ‘faillir, manquer’ als auch vermehrt in seiner Gegenwartsbedeutung ‘lügen’ auf. Der letzte Beleg der folgenden Beispiele («Regle qui ne faut ne ne ment») illustriert zudem erneut das gemeinsame Auftreten in der Bedeutung ‘faillir, manquer’, auch wenn der Übersetzer auf die Übersetzung ‘lügen’ ausweichen kann. (575) Mentir ‘lügen’ im Roman de la Rose 5634 Se Titus Livius ne ment; Wenn Titus Livius nicht lügt (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 346s.) 5752
Si faites veir. – Certes tu – Ihr tut es doch – Jetzt lügst Du sicher; menz; (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 352s.)
6419
Car il, se l’estoire ne ment,
denn, wenn die Geschichte nicht lügt, (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 384s.)
8538
Par icelui Deu qui ne ment,
Bei jenem Gott, der nicht lügt (De Lorris/De Meun 1976, vol. 2, 488s.)
18977 Regle qui ne faut ne ne ment:
Eine Regel, die nicht fehlt noch lügt: (De Lorris/De Meun 1976, vol. 3, 1014s.)
Allerdings lässt sich auch noch ein Beispiel von mentir in äquivalenter Bedeutung zu faillir und manquer ‘fehlen’ bzw. ‘ausfallen, aussetzen’ im Roman de la Rose finden, auf das bereits Williams (1957) hingewiesen hat und bei dem auch der Übersetzer nicht mehr auf die deutsche Übersetzung ‘lügen’ zurückgreifen kann. (576) Mentir ‘fehlen, versagen, aussetzen’ im Roman de la Rose 1701 Li cuers me faut, li cuers Das Herz versagt mir, das Herz setzt aus me ment (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 158s.) Ein weiteres analoges Beispiel für das gemeinsame Auftreten von mentir und faillir findet sich bereits im 12. Jahrhundert, wie der folgende Beleg aus dem Roman d’Eneas illustriert. (577) Mentir ‘fehlen, versagen, aussetzen’ im Roman d‘Eneas 1234 Li cuers li ment et se li falt. Das Herz versagt mir, das Herz setzt aus (Anonyme, Le Roman d’Eneas, 68s.)
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
479
In Analogie zu «li cuers li faut» und «li cuers li ment» lassen sich zudem Belege mit «li cuers li mant» finden, in denen «mant» nicht in der Bedeutung von lat. mandare, sondern eindeutig in der Bedeutung ‘faillir, manquer’ vorliegt, wie der erste Beleg der drei folgenden Beispiele illustriert.304 (578) Mant ‘faillir, manquer’ vs. Mant (< lat. mandare) im Le Conte du Graal 1115 Le fiert parmi l’uel el cervel Trifft er ihn mitten durch das Auge Que d’autre part del haterel ins Gehirn, so daß auf der andern Le sanc et la cervele espant; Seite des Nackens das Blut und das De la dolor li cuers li mant, Gehirn verspritzt; vor Schmerz verSi verse et chiet toz estanduz. sagt ihm das Herz, so stürzt er hin und fällt in voller Länge ausgestreckt. (Chrétien de Troyes, Le Conte du Graal, 126s.) 3975 Celi querras, jel te comant, Si li diras que je li mant Que ja n’anterrai por nul plet An cort que li rois Artus et,
Diese sollst du aufsuchen, ich befehle es dir, und ihr sagen, ich lasse ihr mitteilen, daß ich mich auf keinen Fall an einen Hof begeben werde, den der König Artus hält, (Chrétien de Troyes, Le Conte du Graal, 270s.)
5731 Saluez la premieremant, Puis lui dites que je li mant Par l’amor et par la grant foi Qui doit estre antre li et moi,
Grüßt sie zuerst. Dann sagt ihr, daß ich ihr aufgrund der Liebe und des großen Vertrauens, das zwischen ihr und mir bestehen soll, ausrichten lasse, (Chrétien de Troyes, Le Conte du Graal, 358s.)
304 Dies führte bereits in der Literatur für Verwirrung: Während Littré (1873, vol. 3, 431; 1957, vol. 4, 1975) die Formen mant und ment mit der verwirrten Frage «ce mant ou ment ne vient-il pas de mentir?» (Littré 1873, vol. 3, 431; 1957, vol. 4, 1975) unter dem Eintrag von manquer einordnet, wirft Williams (1957, 85) die Frage auf, ob mentir nicht die provenzalische Form von manquer darstelle.
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4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Eine lediglich auf manquer basierende korpusbasierte Untersuchung erweist sich im Hinblick auf diese aufgezeigte frühe Datierung von manquer hingegen als weniger repräsentativ. Im Frantext Moyen Français findet sich manquer lediglich als Hapax (i.e. ein Beleg der lemmatisierten Recherche von manquer), sodass von quantitativen Untersuchungen des Lexems für unsere Belange an dieser Stelle abgesehen werden kann. (579) Manquer als Hapax im Frantext Moyen Français Bien souvant sont les sepultures; Mais qu’argent et or manque a cuy, Ce sont tresbonnes adventures. (Frantext Moyen Français: André de la Vigne, Le Mystere de Saint Martin, 1496, p. 430) Nach dem ersten Korpusbeleg Ende des 15. Jahrhunderts des Frantext Moyen Français finden sich im 16. Jahrhundert des Frantext intégral bereits zahlreiche Beispiele in ebenfalls noch ausschließlich lexikalischer Bedeutung. (580) Manquer in lexikalischer Bedeutung im 16. Jahrhundert Pour garder son honneur on ne manque point d’aide, Puisqu’on peut par la mort y trouver un remede. (Frantext intégral: Nicolas Filleul, La Lucrèce, 1566, p. 76ss., acte 2) Manquer wird ab den Korpusbelegen des 16. Jahrhunderts zunehmend in einer Infinitivkonstruktion gebraucht, die dem ersten Stadium unseres Modells mit der ‘scheitern, p zu realisieren’ bzw. ‘p scheiterte’ entspricht und aus der sich die Inferenz ‘p wurde nicht realisiert’ ableiten lässt. Unter diesen lexikalischen Belegen findet sich ab dem 16. Jahrhundert (i.e. diachron später als das analoge Entwicklungsstadium von faillir + Inf., cf. Kapitel 4.6.1) bereits eine relativ frequente Kombination von manquer (de/à) + Infinitiv mit der Negationspartikel in Bedeutungsnuancen, wie ‘p scheiterte nicht’, ‘p misslang nicht’, ‘versäumte p nicht’, ‘verfehlte p nicht’, etc, um eine positive Proposition p (i.e. ¬¬p→ p; in Worten: ‘p scheiterte nicht’ → ‘p wurde realisiert’) zu äußern. Analog zu den frühen Belegen von faillir + Inf. umschließen die Negationspartikeln noch das Lexem (ne manquer pas) und werden erst im Zuge der späteren Avertivgrammatikalisierung zwischen Auxiliar und Infinitiv positioniert (avoir manqué ne pas + Infinitiv). Der frequente Gebrauch von manquer (de/à) + Infinitiv mit der Negationspartikel (¬p), um eine positive Proposition (p) zu äußern, zieht eine zunehmende Konventionalisierung der polaren Komponente nach sich (Stadium II: ‘p wurde nicht realisiert’). Die folgenden Korpusbelege illustrieren die
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Periphrase manquer de + Inf. mit polarer Komponente (¬p) im Skopus der Negationspartikel (¬p) und der daraus resultierenden positiven Proposition (¬¬p → p) im 16. Jahrhundert (Beispiel a), 17. Jahrhundert (Beispiele b und c) und 18. Jahrhundert (Beispiel d). (581) Manquer de + Inf. im Skopus der Negationspartikel (¬¬p → p) (a) il s’en sçavoit garder comme si luy-mesme les eust mis; tellement qu’ilz ne sçavoient jamais estre si vigilans de le pouvoir attraper, et ne trouvèrent d’aultre expedient sinon tenir leur gibier serré en lieu où le hère ne peust attaindre; encores pour cela il ne manquoit pas d’en trouver quelqu’un en voye, mais c’estoit peu souvent. (Frantext intégral: Bonaventure des Périers, Les Nouvelles récréations et joyeux devis de feu Bonaventure des Périers 1, 1558, p. 439s., partie 1, nouvelle 29) (b) Mais il est si malaisé qu’un esprit à qui l’amour propose tant de delices, et de gloire, où continuellement il aspire, puisse trouver beaucoup de satisfaction aux plaisirs mediocres d’une commune bienveillance, que dans peu de temps il ne manqua pas de se démentir soy-mesme, et de souspirer auprés d’elle encores plus qu’auparavant. C’est un vain effort pour luy, que de vouloir resister à tant d’appas, et de charmes. (Frantext intégral: Jean de Gombauld, L’Endimion, 1624, p. 179–182, livre 3) (c) Ne manquez pas de l’en remercier sans garimatias. (Frantext intégral: Nicolas de Peiresc, lettres, vol. 5, 1610–1637, Lettres à Guillemin, 1637, p. 36ss.) (d) Depuis le départ du prince Bahman pour son voyage, la princesse Parizade, qui avait attaché à sa ceinture le couteau avec la gaine, qu’il lui avait laissé pour être informée s’il était mort ou vivant, n’avait pas manqué de le tirer et de le consulter, même plusieurs fois chaque jour. (Frantext intégral: Antoine Galland, Les Mille et une Nuits, vol. 2, 1715, p. 578s.) ‘Seit der Abreise des Prinzen Bahman, hatte die Prinzessin Parizade das Messer, das sie in der Scheide ihres Gürtels befestigt hatte und das er ihr zur Abfrage über seinen Tod gelassen hatte, sogar mehrmals täglich hervorgezogen und befragt [i.e. ¬¬p → p], ob er tot oder ob er noch am Leben wäre.’ Analog zu manquer de + Inf. führt manquer à + Inf. im Skopus der Negationspartikel (¬p) zu einer positiven Proposition (p), wie die folgenden Korpusbeispiele aus dem 17. Jahrhundert illustrieren.
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(582) Manquer à + Inf. im Skopus der Negationspartikel (¬¬p → p) im 17. Jahrhundert (a) Ne souhaitant rien si passionnement que de parler à luy, elle s’acquit la connoissance d’une femme qu’il hantoit fort souvent, et sçachant un jour l’heure qu’il devoit venir en son logis, elle ne manqua pas à s’y trouver. Comme il la vit il fut le plus esperdu du monde, et pensa s’en retourner tout court. (Frantext intégral: Charles Sorel, Les Nouvelles françaises où se trouvent divers effets de l’amour et de la fortune, 1623, p. 315ss., nouvelle 3) (b) *Lysandre dedans le sien ainsi que de coustume, ils ne manquerent pas à luy raconter tout ce qu’ils avoient appris à *Paris de ce mariage: (Frantext intégral: Vital d’Audiguier, Histoire trage-comique de nostre temps, sous les noms de Lysandre et de Caliste, 1624, p. 513ss., livre 10) Dass die proximale Komponente (und entsprechend die Avertivbedeutung) noch kein fester Bestandteil der Konstruktion ist und lediglich die polare Komponente konventionalisiert ist, lässt sich neben der negierten Belege auch anhand folgender affirmativer Aussagen illustrieren. (583) Manquer à + Inf. → ¬p ≠ Imminenz im 17. Jahrhundert (a) Et toutefois il se faschoit quand il manquoit à l’honorer, de sorte qu’il y avoit bien de la peine à contenter un si mauvais esprit. (Frantext intégral: Nicolas Coeffeteau, Histoire romaine, 1646, p. 317, livre 3) (b) et, s’il y avait un bon mot à dire sur leurs majestés, elles aimeraient mieux être pendues un quart d’heure après que d’avoir manqué à le dire. On peut dire que les comédiennes sont adorées dans cette cour. (Frantext intégral: Marie-Catherine d’Aulnoy, Relation du voyage d’Espagne, 1691, p. 343ss., lettre 10) ‘[. . .] hätten sie es eher vorgezogen, eine Viertelstunde später gehängt zu werden, als es nicht gesagt zu haben.’ Besonders deutlich wird die Exhaustivität der polaren Komponente zudem in Interrogativsätzen, wie die folgenden Beispiele von manquer à + Inf. illustrieren.
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(584) Manquer à + Inf. in Interrogativsätzen → ¬p (≠ Imminenz) im 17. Jahrhundert (a) Pour l’exode ou l’histoire de la sortie des enfans d’*Israël hors de l’*Egypte, il est indubitable qu’elle a été écrite par *Moïse. Car comment auroit-il manqué à faire une histoire vraye ou fausse, d’un événement qui l’a rendu si illustre? (Frantext intégral: Jacques Abbadie, Traité de la vérité de la religion chrétienne, vol. 1, 1684, p. 311ss., chapitre 11) (b) 12. Inutiles, rejetés. Bonne mine. Richesse, noblesse, etc. Eh quoi! aviez-vous peur qu’on manquât à les recevoir plus tôt? (Frantext intégral: Blaise Pascal, Pensées, 1662, p. 476s.) In dem folgenden Beispiel kann die Konventionalisierung der polaren Komponente durch den Gebrauch von manquer à + Inf. in Verbindung mit einer Einreihung in Antezedenzien mit Negationspartikel rekonstruiert werden. (585) Manquer à + Inf. im 17. Jahrhundert et puisqu’il a ma foi, Vous devez présumer qu’il est digne de moi. Je le désavouerois, s’il n’étoit magnanime, S’il manquoit à remplir l’effort de mon estime, S’il ne faisoit paroître un coeur toujours égal. Mais le voici: voyez si je le connois mal. (Frantext intégral: Pierre Corneille, Nicomède, 1682, p. 589ss., acte 5, scène 7) Analog zu manquer à + Inf. illustrieren die folgenden Belege von manquer de + Inf. in affirmativen Aussagen ebenfalls noch die Exhaustivität der polaren Komponente (i.e. ohne die Inferenz einer proximalen Komponente), die in der deutschen Übersetzung mit der Negationspartikel nicht paraphrasiert wird. (586) Manquer de + Inf. → ¬p (≠ Imminenz) im 17. Jahrhundert (a) Voila, voila mon crime, allons donc au supplice, J’ay manqué d’ayder *Rome, il faut qu’on me punisse. (Frantext intégral: Pierre du Ryer, Scevole, 1647, p. 112ss., acte 4, scène 3) ‘Ich habe Rome nicht geholfen, man muss mich bestrafen.’ (b) Alors, quand les malheurs nous ouvrent les yeux, nous repassons avec amertume sur tous nos faux pas; nous nous trouvons également accablés de ce que nous avons fait, et de ce que nous avons manqué de faire; et nous ne savons plus par où excuser cette prudence
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présomptueuse qui se croyait infaillible. (Frantext intégral: Jacques-Bénigne Bossuet, Oraison funèbre de Henriette Marie de France, reine de la Grand’Bretagne, prononcée le 16 novembre 1669, p. 543s.) ‘[. . .] was wir gemacht haben und das, was wir nicht gemacht haben’ Die proximale Komponente muss in einem ersten Stadium noch über den Kontext inferiert werden, wie in dem folgenden Beispiel durch die verstärkende lexikalische Konstruktion mit presque besonders ersichtlich wird. (587) Verstärkung mit presque zum Ausdruck der proximalen Komponente De *Saize Poëmes Dramatiques, que j’ay exposez au jugement du public, aucun n’a presques manqué d’obtenir son aprobation: et si les aplaudissemens, et les aclamations universelles, sont des marques infaillibles, de la bonté de ces Poëmes, j’ay droit de croire, que les miens ne sont pas mauvais. (Frantext intégral: Georges de Scudéry, Arminius ou les Frères ennemis, 1644, p. 1ss.) ‘Von den sechzehn dramatischen Gedichten, die ich der Beurteilung der Öffentlichkeit vorgelegt habe, haben alle große Zustimmung erhalten.’ In einem zweiten Stadium lässt sich die proximale Komponente hingegen ohne lexikalische Verstärkung aus dem Kontext inferieren. Die proximale Komponente (und in Verbindung mit der bereits konventionalisierten polaren Komponente folglich die gesamte Avertivbedeutung) rekonstruieren wir im 17. Jahrhundert anhand des folgenden Belegs mit Achievement von Scudéry. (588) Avertivbedeutung von manquer de + Inf. mit Achievement im 17. Jahrhundert Le roy le remit au sortir du conseil à luy répondre; mais pendant cela, dom *Pedro qui avoit manqué de faire perir *Alphonse par le feu, fut bien aise de l’exposer à perir dans vn combat naval. (Frantext intégral: Madeleine de Scudéry, Mathilde, 1667, p. 336ss.) ‘Dom Pedro, der Alphonse nicht im Feuer hat umkommen lassen (+> er stand aber kurz davor, ihn im Feuer umkommen zu lassen) +> ‘Dom Pedro, der Alphonse beinahe im Feuer hat umkommen lassen’305
305 Zum Kontext: Der Versuch von Prinz Dom Pedro, den Rivalen Alphonse in einem angelegten Feuer umkommen zu lassen, war misslungen. Dom Pedro war, ganz im Sinne der Avertivbedeutung, entsprechend kurz davor, Alphonse im Feuer umkommen zu lassen, ist aber letztlich gescheitert.
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Allerdings erreicht der Gebrauch keine vollständige Konventionalisierung, i.e. bleibt kontextabhängig. Der lexikalische Gebrauch der polysemen Form bleibt weiterhin erhalten, wie die folgenden Beispiele von manquer (à/de) + Inf. ohne Avertivbedeutung aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts illustrieren.306 (589) Manquer (à/de) + Inf. (≠ Avertiv) im 18. Jahrhundert (1700–1749) (a) «Au premier jour du conseil, reprit-il, si cette femme revient, ne manquez pas de la faire appeler, afin que je l’entende.» Le grand vizir ne lui répondit qu’en se baisant la main et en la portant au-dessus de sa tête, pour marquer qu’il était prêt à la perdre s’il manquait à exécuter l’ordre du sultan. (Frantext intégral: Antoine Galland, Les Mille et une Nuits, vol. 2, 1715, p. 277s.) ‘[. . .] Der Großwesir antwortete ihm nur mit einem Kuss auf die Hand und legte sie auf seinen Kopf, um anzudeuten, dass er nahe daran ist ihn [i.e. den Kopf] zu verlieren, wenn er nicht den Befehl des Sultans ausführte.’ (b) La première fois que je manquai de revenir chez *Mme *De *Selve, où je soupais toujours, elle en fut extrêmement inquiète; elle craignit qu’il ne me fût arrivé quelque accident. (Frantext intégral: Charles Pinot Duclos, Les Confessions du comte de ***, 1741, p. 287s., partie 2) In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt sich ein deutlicher Frequenzanstieg der Avertivbelege. Die implikatierte Avertivbedeutung tritt neben der bereits präpositionslosen Infinitivkonstruktion überwiegend mit der Präposition de und, wie zu erwarten, neben dem passé simple (PS) bereits überwiegend im passé composé (PC) sowie zudem im Plusquamperfekt auf. Die folgenden Belege im Plusquamperfekt (Beispiel a) und PS (Beispiel b) illustrieren den Avertiv mit belebten Subjekt und mit den prototypischen Achievements im 18. Jahrhundert. (590) Avertiv manquer de + Inf. mit Achievements im 18. Jahrhundert (1750–1799) (a) Cette dame me conta qu’elle avait manqué de se noyer en allant en pirogue harponner la tortue sur les brisants. Elle allait dans les bois à la chasse des noirs marrons; elle s’en faisait honneur; mais elle me dit que le gouverneur lui avait reproché de chasser le cerf, ce qui est
306 Im Gegensatz zu manquer de + Inf. kommt es in der pragmatisch-semantischen Entwicklung von manquer à + Inf. zu keiner nennenswerten Avertivfrequenz.
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défendu; (Frantext intégral: Bernardin de Saint-Pierre, Voyage à l’Île de France, 1773, p. 77, lettre 17) ‘Diese Dame erzählt mir, dass sie beinahe ertrunken wäre [. . .].’ (b) Il l’adorait, et la première fois qu’il entra chez elle, ce fut par la fenêtre; il manqua de se tuer: sans doute, la compatissante *Leeman fut attendrie par le danger qu’il avait couru. (Frantext intégral: Nicolas Rétif de la Bretonne, Histoire de Sara, 1796, p. 122s.) ‘Er hätte sich beinahe umgebracht.’ Neben der noch frequenteren Avertivkonstruktion manquer de + Inf. findet sich im 18. Jahrhundert die manquer-Avertivkonstruktion bereits ohne Präposition. Ab den Frantext-Texten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird manquer (de) + Inf. mit anschließendem Adversativsatz gebraucht, dessen semantischpragmatische Akzeptabilität inklusive des redundanzlosen Kontrastes zum ersten Konjunkt den Ausdruck der proximalen Komponente des Avertivs kontextuell erschließen lässt, wie die folgenden Belege des 18. (Beispiel a und b) und 19. Jahrhunderts (Beispiel b) illustrieren.307 (591) Avertiv manquer (de) + Infinitiv mit Adversativsatz im 18. und 19. Jahrhundert (a) c’est que c’était de l’amour: voi siete bella come oun ange: j’ai manqué deux-fois de lui rire au nez: mais le respect pour le lieu où j’étais m’en a empêchée. (Frantext intégral: Nicolas Rétif de la Bretonne, La Paysanne pervertie, ou les Dangers de la ville, 1784, p. 212s., partie 2) (b) *Besançon, ce 5 mai 1791. il a failli t’arriver un grand bonheur: j’ai manqué me tuer, mais je me porte bien, et alors tout est mal car ma voiture est à moitié brisée. (Frantext intégral: Germaine de Stael, Lettres de jeunesse, partie 2, p. 425–428, 1791) (c) J’ai manqué mourir d’une attaque d’apoplexie, mais je me porte bien à présent, on m’a bien vite saignée et j’ai été soulagée tout de suite; (Frantext intégral: George Sand, Correspondance, 1831, p. 976ss.) Dass auch die präpositionslose manquer-Periphrase allerdings im 18. Jahrhundert bereits ohne kontextuell verstärkenden Adversativsatz auskommt, belegen
307 Cf. den analogen Entwicklungsschritt der proximalen Komponente der faillirAvertivkonstruktion in Kapitel 4.6.1, den konträren Entwicklungsschritt der polaren Komponente der STARE-Konstruktionen in Kapitel 4.5 und die Diskussion der redundanzlosen Verstärkbarkeit der polaren Komponente des Avertivs in Kapitel 3.
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die folgenden Korpusbeispiele im passé simple, die weiterhin mit den avertivaffinen prototypischen Achievements auftreten. (592) Avertiv manquer + Infinitiv im 18. Jahrhundert (a) Finissons ce chapitre par une question qui souffre quelques difficultés. Pourquoi dit-on votre ami est un des hommes qui manquèrent périr dans la sédition, quoiqu’on dise votre ami est un des hommes qui doit le moins compter sur moi? (Frantext intégral: Abbé de Condillac, Cours d’étude pour l’instruction du Prince de Parme, vol. 1, Grammaire, 1775, p. 349s., partie 2, chapitre 20) ‘[. . .] einer der Männer, die beinahe in dem Aufruhr umgekommen wären [. . .]’ (b) C’est que les vues de l’esprit ne sont pas les mêmes. On se sert de la première phrase quand on veut mettre votre ami parmi ceux qui manquèrent périr; et on se sert au contraire de la seconde quand on veut le mettre à part (Frantext intégral: Abbé de Condillac, Cours d’étude pour l’instruction du Prince de Parme, vol. 1, Grammaire, 1775, p. 349s., partie 2, chapitre 20) (c) Quel tableau! Comment te peindre trente femmes qui (. . .)? Je manquai enfoncer la fenêtre qui me couvrait et sauter dans la salle. . . tout à coup elles renaissent. . . que vois-je? . . . (Frantext intégral: Honoré-Gabriel de Riquetti, comte de Mirabeau, Le libertin de qualité, ou Ma conversion, 1783, p. 104ss.) ‘Ich hätte beinahe das Fenster eingeschlagen [. . .]’ Analog zu der faillir-Avertivkonstruktion ist die manquer-Periphrase in einem fortgeschrittenen Stadium hingegen nicht (mehr) an avertivaffine und telische Verben gebunden, sondern entwickelt eine Kompatibilität mit States (shifting), die sich ebenfalls bereits im 18. Jahrhundert belegen lässt.308 (593) Avertiv manquer de + Inf. mit States (shifting) im 18. Jahrhundert (1750–1799) Mais quelle stupidité! j’ai manqué d’en être honteux: je les sentais couler entre mes doigts, regarde (Il montre ses doigts écartés.); et je les retenais bêtement! va te promener, la honte! (Frantext intégral: PierreAugustin de Beaumarchais, La Folle journée ou le Mariage de Figaro,
308 Wie zu Beginn des Kapitels erwähnt, ist der Gebrauch mit States allerdings (noch) deutlich geringer ausgeprägt als bei der stärker grammatikalisierteren faillir-Avertivperiphrase (cf. Kapitel 4.6.1).
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1785, p. 333s., acte 3, scène 18) ‘ich wäre beinahe beschämt gewesen.’ Die Fügungsenge zwischen den Gliedern der Periphrase (Auxiliar, Präposition und Infinitiv) ist noch nicht verstärkt, wie die folgenden Beispiele mit der Möglichkeit einer syntaktischen Einbettung sowohl zwischen dem Auxiliar manquer im PC und der Präposition de als auch zwischen der Präposition de und der infiniten Form illustrieren. (594) Avertiv manquer de + Inf. ohne Fügungsenge im 18. Jahrhundert (1750–1799) (a) c’est que c’était de l’amour: voi siete bella come oun ange: j’ai manqué deux-fois de lui rire au nez: mais le respect pour le lieu où j’étais m’en a empêchée. (Frantext intégral: Nicolas Rétif de la Bretonne, La Paysanne pervertie, ou les Dangers de la ville, 1784, p. 212s., partie 2) ‘Ich hätte ihm beinahe zweimal ins Gesicht gelacht: aber der Respekt vor dem Ort, an dem ich mich befand, hinderte mich daran.’ (b) Non, je ne puis plus dissimuler. Forcé de feindre un instant, mon rôle étoit trop dangereux, et j’ai manqué en effet d’y succomber. Voyezmoi donc tel que je suis. (Frantext intégral: Louis-Sébastien Mercier, Jenneval ou le Barnevelt françois, 1769, p. 36s., acte 3, scène 3) ‘[. . .] meine Rolle war zu gefährlich, und ich wäre in der Tat beinahe daran gestorben.’ Pronomina, wie u.a. y und en, befinden sich im 18. Jahrhundert bereits im Skopus der Avertivperiphrase in der dem Auxiliar nachgestellter bzw. der infiniten Form vorangestellter Position,309 wie die folgenden Belege mit manquer de + Inf. (Beispiele a und b) und manquer + Inf. (Beispiel c) illustrieren. (595) Avertiv manquer (de) + Pronomen + Inf. im 18. Jahrhundert (1750–1799) (a) J’ai vu la catastrophe du 28 mai 1770, occasionnée par la foule des voitures qui obstruerent la rue, unique passage ouvert à l’affluence prodigieuse du peuple qui se portoit en foule à la triste illumination des boulevards. J’ai manqué d’y perdre la vie. Douze à quinze cents
309 Cf. die anfängliche Stellungsfreiheit von en und y sowie ihre Entwicklung im Zuge der Grammatikalisierung der Periphrase faillir (à/de/Ø) + Inf. in Kapitel 4.6.1.
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personnes ont péri, ou le même jour, ou des suites de cette presse effroyable. (Frantext intégral: Louis-Sébastien Mercier, Tableau de Paris, vol. 1 à 4, 1782, p. 116–119, chapitre 38) (b) Quand on n’a rien à demander aux femmes, on s’y ennuie; mais on y va pour dire le lendemain, j’ai été hier au bal, et j’ai manqué d’y étouffer. On y danse quelquefois; (Frantext intégral: Louis-Sébastien Mercier, Tableau de Paris, vol. 1 à 4, 1782, p. 129ss., chapitre 242) ‘und ich hätte es dort beinahe totgeschwiegen.’ (c) il avoit amassé de son travail cinquante doubles louis, lorsqu’une nuit sa femme et sa fille s’en allèrent avec son trésor. Il manqua en mourir de douleur. Il n’y pense plus, dit-il, et il pleure encore en m’en parlant. (Frantext intégral: Bernardin de Saint-Pierre, Études de la nature, vol. 3, 1784, p. 323s., étude 13) ‘Er wäre beinahe vor Schmerz daran gestorben.’ Die folgenden Belege illustrieren zudem das Stadium von manquer de + Inf. mit unbelebtem Subjekt, das ebenfalls bereits im 18. Jahrhundert belegt ist. (596) Avertiv manquer de + Inf. mit unbelebtem Subjekt im 18. Jahrhundert (a) ROSINE le regarde aller: Ah! Lindor! Il dit qu’il me plaira!. . . Lisons cette lettre qui a manqué de me causer tant de chagrin. (Elle lit et s’écrie.) Ah!. . . J’ai lu trop tard: il me recommande de tenir une querelle ouverte avec mon tuteur; j’en avais une si bonne, et je l’ai laissée échapper! (Frantext intégral: Pierre-Augustin de Beaumarchais, Le Barbier de Séville ou la Précaution inutile, 1775, p. 321s., acte 2, scène 15) ‘[. . .] diesen Brief, der mir beinahe soviel Kummer bereitet hätte.’ (b) Il est seulement nécessaire que tu y répondes pour que le sort de cet homme soit fixé. Un horrible accident a manqué d’arriver à ma mère. Elle était dans cet état de nerfs que tu connais et que notre solitude augmente, quoiqu’elle ne cesse de dire que c’est un vrai paradis, parce qu’il faut avoir eu raison d’y être venue. (Frantext intégral: Germaine de Staël, Lettres de jeunesse, partie 2, 1791, p. 380s.) ‘Ein furchtbarer Unfall wäre beinahe meiner Mutter widerfahren.’ Insbesondere iterative Propositionen (z.B. in Verbindung mit iterativen Adverbien) verstärken die proximale Komponente des Avertivs, wie die folgenden Belege illustrieren.
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(597) Avertiv manquer de + Inf. in iterativer Proposition im 18. Jahrhundert (a) dans mon enfance, j’ai souvent manqué de me tuer, par la crainte que j’avais d’elle.. (Frantext intégral: Nicolas Rétif de la Bretonne, Histoire de Sara, 1796, p. 40s.) ‘[. . .] in meiner Kindheit hätte ich mich oft beinahe umgebracht aus Furcht, die ich vor ihr hatte [. . .]’ (b) *Julie. Que je la trouvai belle dans son saint habillement! Elle manqua de s’évanouir encore une fois, en m’appercevant. Elle fut obligée de se soutenir aux barreaux de la grille; (Frantext intégral: RobertMartin Lesuire, L’Aventurier françois, ou Mémoires de Grégoire Merveil, 1782, p. 167s., livre 5) ‘Sie wäre beinahe noch einmal in Ohnmacht gefallen, als sie mich erblickte.’ In passiver Diathese ist die Avertivkonstruktion manquer de + Inf. erstmalig in den Frantext-Belegen des 18. Jahrhunderts (i.e. 2 Jahrhunderte später als faillir à + Inf. in passiver Diathese, cf. Kapitel 4.6.1) nachweisbar, wie die folgenden Beispiele illustrieren. (598) Avertiv manquer de + Inf. in passiver Diathese im 18. Jahrhundert (a) Un accident nous troubla: je me tenois sur le bord de la barque, et par un mouvement qu’elle fit, je manquai d’être renversé dans l’eau. *Henriette, effrayée, jette un cri, me tend les bras, et s’éloigne aussi-tôt avec dépit. (Frantext intégral: Nicolas Germain Léonard, La Nouvelle Clémentine, ou Lettres de Henriette du Berville, 1774, p. 36) ‘[. . .] und durch eine Bewegung, die sie machte, wäre ich beinahe ins Wasser gestürzt worden.’ (b) On m’assure que ce propos de *M *C: «j’ai manqué d’être roué pour vous à *Lausanne», n’est pas aussi criminel qu’il paraît l’être, et que ces paroles n’ont de rapport qu’à une insulte qu’on voulut faire à *Lausanne à la prétendue comtesse, dont ce *M *C avait pris la défense. (Frantext intégral: Voltaire, Correspondance, vol. 90–92, 1775, p. 48ss.) ‘ich wäre beinahe wegen Euch in Lausanne gerädert [i.e. hingerichtet] worden’ Mit der Negation ist die Avertivbedeutung im 18. Jahrhundert allerdings noch inkompatibel. Die Negationspartikel hat weiterhin Skopus über manquer und entsprechend über seine lexikalische Bedeutung.
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(599) Manquer im Skopus der Negationspartikel (≠Avertiv) im 18. Jahrhundert (a) Les travaux se faisoient en commun, toujours au profit du chef qui distribuoit les revenus à son gré. Lorsqu’ils mouroient, lui ou sa femme, leurs gardes ne manquoient jamais de se tuer, pour les aller servir dans l’autre monde. (Frantext intégral: Abbé Raynal, Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans les deux Indes, vol. 6, 1770, p. 116s., livre 16) (b) Vous croyez bien que je n’ai pas manqué de dire qu’elle avoit été absolue, et de là plus de tort: (Frantext intégral: Julie de Lespinasse, Lettres à M. de Guibert, 1776, p. 177ss.) ‘[. . .] dass ich nicht versäumt habe, zu sagen, dass [..]’ Auch in Interrogativsätzen zeigt sich das frühe Grammatikalisierungsstadium von manquer, indem es lediglich lexikalisch gebraucht wird. (600) Manquer in Interrogativsätzen im 18. Jahrhundert (a) SAINT-*ALBAN, à lui-même. – S’il en était préféré, dans l’intimité où vivent leurs parents, aurait-on manqué de les unir? *ANDRÉ. – Ils ne sont pas désunis pour ça. Quoiqu’elle le gronde toujours, il ne saurait être une heure sans venir faire le patelin autour d’elle; et, quand il peut attraper quelque morale, il s’en va content!. . . (Frantext intégral: Pierre-Augustin de Beaumarchais, Les Deux amis ou le Négociant de Lyon, 1770, p. 132s., acte 4, scène 2) (b) Hélas! Continue-t-elle avec saint *Augustin, quand on veut se servir de guide à soi-même, peut-on manquer de tomber dans le précipice? (Frantext intégral: Fénelon, Sermons et entretiens sur divers sujets, 1706, p. 300s.) In dem folgenden Beispiel «elle a manqué de mourir.» wird die Exhaustivität der polaren Komponente ¬p («elle n’est pas morte.» ‘Sie ist nicht tot.’) durch den Kontrast zu einer positiven Proposition («elle est morte») im vorangegangenen Kotext besonders deutlich. (601) Prominenz der polaren Komponente *Parangon voyant l’étonnement du pauvre, a confirmé ce que disoit votre fils. – elle est morte (a repris le pauvre). – dites, qu’elle a manqué de mourir (a répondu *Parangon): elle fut blessée par mégarde, de la main d’un homme qu’elle pleure, et que nous pleurons tous; (Frantext intégral: Nicolas Rétif de la Bretonne, Le Paysan perverti ou les Dangers de la ville, 1776, p. 87s., partie 7)
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Ebenso erweisen sich Konditionalsätze als geeignet, um die (insbesondere semantisch-pragmatische) Akzeptabilität des Avertivs zu testen. Das folgende Beispiel illustriert einen Konditionalsatz, bei dem lediglich auf die polare Komponente Bezug genommen wird. Wie die Übersetzung illustriert, ist der Avertiv semantisch-pragmatisch inakzeptabel. (602) Manquer de + Inf. mit lexikalischer Bedeutung im Antezedens Si quelqu’un d’eux a manqué de remplir ces pieux devoirs, la palme lui est refusée. (Frantext intégral: Jean-François Marmontel, Les Incas ou la Destruction de l’Empire du Pérou, 1777, p. 101ss., chapitre 38) ‘Wenn irgendjemand von ihnen diese frommen Pflichten nicht erfüllt hat [#beinahe erfüllt hat], wird ihm der Sieg aberkannt.’ Im 19. Jahrhundert finden sich neben der Avertivkonstruktion manquer de + Inf. bereits zahlreiche Belege der präpositionslosen Avertivkonstruktion manquer Ø + Inf., insbesondere mit den avertivaffinen Achievements mourir ‘sterben’ oder tomber ‘fallen’. (603) Avertiv manquer (de/Ø) + Inf. im 19. Jahrhundert (a) qu’elle le faisait trébucher à tout moment pour lui fourrer ses cornes dans les jambes. – Voilà la vie, disait le philosophe chaque fois qu’il manquait de tomber, ce sont souvent nos meilleurs amis qui nous font choir! Ils descendirent rapidement l’escalier des tours, traversèrent l’église, pleine (Frantext intégral: Victor Hugo, Notre-Dame de Paris, 1832, p. 583s., livre 11) (b) Il nous lit une lâche, une honteuse mort de son médecin juif, à la suite d’un échec à l’académie, un terrible morceau où *Léon s’est inspiré de l’amusante coyonnerie de *Charcot, un certain mardi gras, où il manqua mourir d’une indigestion de boudin. (Frantext intégral: Edmond de Goncourt/Jules de Goncourt, Journal, mémoires de la vie littéraire, vol. 4, 1896, p. 553ss.) (c) moi, le rejeton d’une famille illustre, qui m’étais fié à votre amitié, j’ai manqué mourir de mes blessures d’abord, et de faim ensuite, dans une mauvaise auberge de Chantilly, et cela sans que vous ayez daigné répondre une seule fois aux lettres brûlantes que je vous ai écrites. (Frantext intégral: Alexandre Dumas père, Les Trois mousquetaires, 1844, p. 357s.) (d) J’ai manqué mourir d’autre chose ces jours-ci. J’ai eu un accès de fièvre, qu’on a pris pour une fièvre cérébrale, (Frantext intégral: George Sand, Correspondance, 1830, p. 712)
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
493
In passiver Diathese ist die präpositionslose Avertivkonstruktion manquer + Inf. erstmalig im 19. Jahrhundert nachweisbar (i.e. die bereits im 18. Jahrhundert in passiver Diathese belegte Periphrase manquer de + Inf. koexistiert ab dem 19. Jahrhundert mit der präpositionslosen Avertivkonstruktion), wie die folgenden Belege des Frantext intégral illustrieren. (604) Avertiv manquer + Inf. erstmalig in passiver Diathese im 19. Jahrhundert (a) Le colonel me donna un guide pour me rendre au vasto; mais le guide m’égara, et nous manquâmes être tués dans un village dont les paysans, sortant de la messe et animés par leurs prêtres, voulurent faire la bonne oeuvre de nous assassiner. (Frantext intégral: Paul-Louis Courier, Lettres écrites de France et d’Italie, 1825, p. 689) (b) Cet empire a manqué être perdu par le péché; mais il faut mettre deux sept ensemble; l’un détruira l’autre: (Frantext intégral: Étienne Pivert de Senancour, Obermann, vol. 2, 1840, p. 10) (c) J’ai foutu un soufflet à un douanier et ai manqué être coffré, avoir un procès, etc. il a fallu que je déclarasse par écrit n’avoir pas eu l’intention d’offenser le gouvernement, ce qui était pardieu bien vrai. (Frantext intégral: Gustave Flaubert, Correspondance, supplément, 1852, p. 139) (d) Et elle tomba devant notre nef à noire proue, et l’extrémité de la poupe manqua être brisée, et la mer nous inonda sous la chute de ce rocher qui la fit refluer vers le rivage, et le flot nous remporta jusqu’à toucher le bord. (Frantext intégral: Charles Leconte de Lisle, Odyssée, 1868, p. 166) Im Gegensatz zu faillir, das bereits im 16. Jahrhundert mit der Präposition à die Avertivbedeutung annimmt, finden sich in der Diachronie von manquer keine Avertivbelege mit der Präposition à. Der folgende Frantext-Beleg von Balzac illustriert die weiterhin lexikalische Bedeutung von manquer à + Inf., die im Folgenden zudem im Konditional steht (im Gegensatz zu dem defektiven faillir). (605) manquer à + Inf. ≠ Avertiv im 19. Jahrhundert – Monsieur nous fera sans doute l’honneur d’assister à notre bal? dit Mme César. – Pour passer une soirée avec vous, madame, je manquerais à gagner des millions. (Frantext categorisée: Balzac, Histoire de César Birotteau, 1837, p. 152) ‘Um einen Abend mit Ihnen hinzubringen [i.e. zu verbringen], würde ich den Gewinn von Millionen im Stiche lassen.’ (Balzac 1842, 189)
494
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Im Gegenwartsfranzösischen findet bei manquer (de) + Inf., im Gegensatz zu dem bereits fortgeschrittenen Grammatikalisierungsstadium von faillir + Infinitiv, noch ein allmählicher Abbau der Präposition de statt. Es wird angenommen, dass die Präposition de in Analogie zu faillir + Inf. ebenfalls irgendwann gänzlich abgebaut sein wird. Zur gegenwärtigen Koexistenz von manquer de + Inf. und manquer + Inf. sei der folgende Avertivbeleg des Gegenwartsfranzösischen exemplarisch angeführt. (606) Manquer de + Inf. im 20. Jahrhundert Musset dit que lui aussi a manqué de mourir l’année dernière à Venise. Pour témoigner au poète un intérêt poli, le comte Apponyi observe avec sagacité que l’idée de mourir seul à l’étranger (Frantext intégral: Jean d’Ormesson, La Douane de Mer, 1993, p. 572s.) Im Gegensatz zu dem auch hinsichtlich der Kompatibilität mit der Negationspartikel stärker grammatikalisierten faillir + Infinitiv (Kapitel 4.6.1), findet sich der schwächer grammatikalisiertere Avertiv manquer (de) + Infinitiv mit der Negationspartikel lediglich als Hapax im Frantext categorisée310 und nicht vor dem 20. Jahrhundert, sodass ebenfalls der noch jüngere Entwicklungsstand gegenüber faillir + Infinitiv deutlich wird. (607) Negationspartikel im Skopus des Avertivs manquer + Inf. im 20. Jahrhundert c’est une femme qui caresse le ciel. Ce ne sont pas vos mains qui ont à parler, ni vos lèvres, ni votre joue, c’est votre cerveau. *Agnes. Il a bien manqué ne pas me croire. *Le *Monsieur *De *Bellac. Parce que vous biaisiez. Il vous a eue, avec sa silhouette. Vous n’êtes pas encore au point pour un secrétaire (Frantext categorisée: Jean Giraudoux, L’Apollon de Bellac, 1942, p. 42, scène 4) ‘Eine Frau, die den Himmel schön findet, möchte am liebsten den Himmel liebkosen. Doch nicht Ihre Hände haben zu sprechen, nicht Ihre Lippen, nicht Ihre Wange, sondern allein Ihr Kopf. Agnès Er hätte mir beinahe nicht geglaubt.’ (Giraudoux [1942] 1961, 418) Abschließend sei noch ein Ausblick auf den Avertiv im Okzitanischen gegeben, der ebenfalls mit der Periphrase mancar de + Inf. in einem analytischen Perfekt
310 Im Frantext intégral ist der Avertiv manquer (de) + Infinitiv hingegen nicht mit der Negationspartikel belegt (im Gegensatz zu der lexikalischen Bedeutung von manquer mit der Negationspartikel).
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
495
(aver mancat de + Inf.) oder auch in einem, im Gegensatz zum Französischen weitaus noch gebräuchlicheren, synthetischen Perfekt (manquét de + Inf.) in der Gegenwartssprache realisiert wird. (608) Avertiv aver mancat de + Inf. im Okzitanischen Okz. Dins aquel procès, son jutjadas responsablas de las sasidas immobiliàrias massissas que trucan los ciutadans mai paures. Lo festenal existís dempuèi 1997 mas a mancat de disparéisser per de rasons financièras. L’associacion Regard Nomade a pres los afars en man en 2007. A establit un sistèma de foncionament participatiu amb la mobilizacion d’una trentena de benevòles per aprestar lo festenal pendent l’annada. (La Setmana, Lo setmanièr occitan, Résistances, festenal militant, 10/06/2014, França/Occitània) Analog zum Französischen ist der okzitanische Avertiv mit der Negationspartikel kompatibel (cf. Kapitel 3.2.2.1), wie die folgenden Beispiele illustrieren. (609) Negationspartikel im Skopus des Avertivs okz. manquer de + Inf. Okz. (a) Manquèt de pas arribar a temps. (Rafèu Sichel Bazin, persönliche Mitteilung) ‘Er wäre beinahe nicht rechtzeitig angekommen.’ (b) A mancat de pas arribar a temps. (Rafèu Sichel Bazin, persönliche Mitteilung) ‘Er wäre beinahe nicht rechtzeitig angekommen.’ Im Gegensatz zum Französischen ist die Stellung der Negationspartikel bei dem okzitanischen Avertiv insofern optional, als sie auch der infiniten Form nachgestellt sein kann. (610) Okzitanischer Avertiv mit dem Infinitiv nachgestellter Negationspartikel Okz. (a) Manquèt d’arribar pas a temps. (Rafèu Sichel Bazin, persönliche Mitteilung) ‘Er wäre beinahe nicht rechtzeitig angekommen.’ (b) Ai mancat d’o veire pas. (Rafèu Sichel Bazin, persönliche Mitteilung) ‘Ich hätte ihn beinahe nicht gesehen.’ Die Negationspartikel pas ist dem Infinitiv der Avertivperiphrase entsprechend voran- oder nachgestellt. Bei einer Voranstellung der Negationspartikel vor die finite Form (manquèt) oder zwischen Auxiliar und Partizip, wie in folgendem
496
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Beispiel, erlangt die Negationspartikel hingegen Skopus über mancar und weist entsprechend der resultierenden lexikalischen Bedeutung somit ein älteres Grammatikalisierungsstadium auf. (611) Voranstellung der Negationspartikel ≠ Avertiv Okz. Un fenomèn qu’a pas mancat d’èsser estudiat per nombroses geològues. Seriá possible que foguèsson totes aqueles scientifics qu’aguèsse causat las primièras rumors. (La Setmana, Lo setmanièr occitan, Bugarag es l’Olimp de las Corbièras, 30/04/2012, França/ Occitània) Entsprechend der dargelegten Korpusuntersuchungen können folgende generelle Aussagen hinsichtlich der Verwandtschaft der Kategorien Proximativ und Avertiv gezogen werden: Wie die Grammatikalisierung des Avertivs im Französischen zeigt, muss der Avertiv nicht notwendigerweise aus dem Proximativ entstehen, sondern kann eine Konventionalisierung der polaren Komponente vor der Konventionalisierung der Imminenz beinhalten. Ebensowenig ist eine voraussichtliche Grammatikalisierung in den Proximativ im Sinne des von Kuteva (1998; 2001) postulierten umgekehrten Grammatikalisierungspfades Avertiv > Proximativ im Falle von faillir + Infinitiv denkbar, zumal die Grammatikalisierungsquelle mit der lexikalischen Grundbedeutung eines Mangels nicht gänzlich desemantisiert wird und, im Gegensatz zu der im Hintergrund stehenden Imminenz, stets prominent ist. Der Avertiv im Falle des Französischen ist ein klassisches Beispiel dafür, dass der Avertiv völlig unabhängig von dem Proximativ entstehen kann und eindeutig als eine von ihm getrennte Kategorie anzusehen ist, auch wenn der Avertiv womöglich nur in wenigen Sprachen in vollständig grammatikalisierter Form auftritt. 4.6.3 Ausblick zu PECCARE > Avertiv Aus dem lat. PECCARE (‘fehlen’, ‘etw. verkehrt machen’, ‘sündigen’) hat sich ein Avertiv im Okzitanischen in Form der Verbalperiphrase pecar + Infinitiv herausgebildet, wie die Beispiele in aktiver Diathese (a) und passiver Diathese (b) illustrieren. (612) Avertiv pecar + Inf. im Okzitanischen Okz. (a) Ai pecat tombar. (Rafèu Sichel-Bazin, persönliche Mitteilung) ‘Ich wäre beinahe gefallen.’
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
497
(b) Ai pecat èsser espotit per una veitura. (Rafèu Sichel-Bazin, persönliche Mitteilung) ‘Ich wäre beinahe von einem Auto überfahren worden.’ Analog zu fr. faillir + Infinitiv, fr. manquer (de) + Infinitiv und okz. mancar + Infinitiv ist der Avertiv pecar + Infinitiv mit der Negationspartikel kompatibel: (613) Negationspartikel im Skopus des okzitanischen Avertivs Okz. Ai pecat èsser pas pres. (Rafèu Sichel-Bazin, persönliche Mitteilung) ‘Ich wäre beinahe nicht rechtzeitig gekommen.’ Es wäre demnach noch diachron zu untersuchen, wann sich die Komponenten (proximale und polare Komponente) im Okzitanischen konventionalisiert haben. Dies werden wir allerdings in einer separaten Arbeit behandeln müssen. 4.6.4 Fazit In Kapitel 4.6 ist der Grammatikalisierungspfad Fail > Avertiv der Konstruktionen faillir + Inf. und manquer (de) + Inf. auf der Basis einschlägiger französischer Korpora, wie der Frantext-Korpora (Frantext Moyen français, Frantext intégral mit diversen Subkorpora, wie Ancien français, und Frantext categorisée) und des Nouveau Corpus d’Amsterdam (NCA) sowie zusätzlicher Primärtexte (u.a. Roman de la Rose) untersucht worden. Ausgewählte essentielle Schritte der illustrierten pragmatisch-semantischen und syntaktischen Entwicklung der faillir-Avertivkonstruktion werden im Folgenden noch einmal resümiert dargelegt. Es wurde die Alternativhypothese verifiziert, dass sich die polare Komponente (¬p) diachron vor der proximalen Komponente (Imminenz) auf der Grundlage der in Tabelle 129 illustrierten (Seite 498) Grammatikalisierungsstadien konventionalisiert. Vlat. fallire (< klat. fallere) weist aufgrund seiner Bedeutungsvariation (‘täuschen’, ‘betrügen’, ‘irren’, etc.) noch keine Spezifikation hinsichtlich der polaren Komponente (noch hinsichtlich der anderen beiden Avertivkomponenten, i.e. Imminenz und Vergangenheit) auf, wie in lat. «nam nisi me animus fallit» ‘wenn mich mein Verstand nicht täuscht’ (PHI Latin Texts: Titus Maccius Plautus, Menaechmi). Ab dem Altfranzösischen wird falir, unter Abzweigung des falloir-Gebrauch, mit zunehmender Spezifikation auf Bedeutungsnuancen, wie ‘scheitern’, ‘misslingen’, ‘versagen’, ‘abhanden kommen’, ‘verfehlen’ etc. gebraucht. Die Rekonstruktion der Konventionalisierung der Implikatur der
498
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
Tabelle 129: Stadien des Grammatikalisierungspfads FALLERE/MANCUS/PECCARE > Avertiv. Stadien
Polare Komponente
Proximale Komponente (i.e. Imminenz)
Stadium I:
‘scheitern, p zu realisieren’ (+> p wurde nicht realisiert)
+> ¬p
—
Stadium II:
‘p wurde nicht realisiert’
¬p
—
Stadium III:
‘p wurde nicht realisiert (+> aber p war kurz davor, sich zu realisieren)
¬p
+> Imminenz
Stadium IV:
‘p wurde nicht realisiert, aber p war kurz davor, sich zu realisieren’
¬p
Imminenz
polaren Komponente311 (Stadium I und II) wird insbesondere in mittelfranzösischen Kontexten mit faillir (¬p) im Skopus der Negationspartikel (¬p) ersichtlich, die im Zuge des zunehmenden Gebrauchs in einer Infinitivkonstruktion eine positive Proposition (¬¬p → p) erschließen lassen (‘Sie scheiterten nicht, X zu realisieren’ → ‘Sie realisierten X’). Die im 15. Jahrhundert insbesondere mit Achievements gebrauchten Implikaturen der Imminenz (proximale Komponente) konventionalisieren sich zunehmend in der Avertivkonstruktion faillir à + Infinitiv mit sowohl transitiven als auch intransitiven Verben. Im 16. Jahrhundert ist der Avertiv bereits mit unbelebtem Subjekt und in passiver Diathese belegt, wie in «Vallence [. . .] faillit à estre submergée» (Frantext intégral: Pierre Boaistuau, Le Théâtre du monde, 1558, p. 197, livre 3). Ab dem 17. Jahrhundert treten alternativ zu der bislang noch ausschließlich mit der Präposition à gebrauchten Avertivperiphrase die Avertivkonstruktion mit der Präposition de sowie bereits die präpositionslose Avertivkonstruktion
311 Es wird eine Implikatur im Sinne der pragmatischen Skalen nach Levinson (2000b, 146) angenommen. Einige Linguisten würden an dieser Stelle für eine Präsupposition argumentieren. Problematisch bei der Annahme einer vermeintlich semantischen Präsupposition von ¬p ist allerdings, dass die üblichen Tests für semantische Präsuppositionen, wie die Konstanz unter Negation, nicht erfüllt werden. Aufgrund der Tatsache, dass der grundlegendste Test für semantische Präsuppositionen, die Konstanz unter Negation, nicht erfüllt wird, schließen wir die klassische semantische Präsupposition hinsichtlich ¬p entsprechend aus. Eine semantische Präsupposition liegt allerdings hinsichtlich eines Versuches der Umsetzung von p vor. Zur pragmatischen Debatte cf. Kapitel 3.2.
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
499
faillir + Inf. hinzu, wenn auch der Gebrauch von faillir à + Inf. noch deutlich gegenüber dem Gebrauch der anderen beiden Konstruktionen überwiegt. Der Gebrauch des Avertivs faillir (à/de/Ø) + Inf. in passiver Diathese ist im 16. Jahrhundert entsprechend noch ausschließlich mit der Präposition à belegt, im 17. Jahrhundert zudem mit der Präposition de und ab dem 18. Jahrhundert sowie mit deutlicher Frequenzzunahme ab dem 19. Jahrhundert mit faillir Ø + Inf.. Bisherige Thesen zum vermeintlichen semantischen Unterschied der drei Avertivperiphrasen faillir à + Inf., faillir de + Inf. und faillir + Inf. mussten korrigiert werden: Der von Laveaux (1873) vermutete vermeintliche semantische Unterschied, dass faillir à + Inf. vermehrt die Finalität und Zielgerichtetheit, faillir de + Inf. Zweifel, Ungewissheit und eine gewisse Durativität und faillir + Inf. vielmehr die unvermeidbare und sich plötzlich realisierende Handlung ausdrücke, ist anhand von Gegenbelegen entkräftet worden und vielmehr der Gebrauch der Periphrasen in nahezu äquivalenten Kontexten und in Belegen von demselben Autor illustriert worden. Der Gebrauch im Inzidenzschema sowie mit Adversativ- oder Temporalsatz, der insbesondere zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Frantext belegt werden konnte, begünstigt die Konventionalisierung des Avertivs, die im Falle von faillir mit der noch fehlenden Konventionalisierung der proximalen Komponente einhergeht. Die in Kapitel 3 synchron dargelegte Kompatibilität mit States, die im Skopus des Avertivs ingressiv verwendet werden, konnte ebenfalls bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts belegt werden. Ab dem 18. Jahrhundert zeigt sich eine Zunahme der Fügungsenge, die mit dem kontinuierlichen Abbau der Präpositionen a und de einhergeht und bereits die Dominanz der präpositionslosen Avertivkonstruktion aufzeigt, die ab dem 19. Jahrhundert obligatorisch wird. Die aufgezeigte TAM-Untersuchung von faillir und falloir illustriert die sich zunehmend entwickelnde Defektivität, insofern als faillir im Frantext categorisée lediglich im passé simple, passé composé und plusque-parfait belegt ist. Mit der Grammatikalisierung von faillir geht ein Wandel der Skopusinteraktion mit der Negationspartikel und mit Pronomina einher: Während die Negationspartikel in einem frühen Grammatikalisierungsstadium noch Skopus über das Lexem fr. faillir in der Form ne faillir pas + Inf. hat, erlangt die sich grammatikalisierende Periphrase Skopus über die Negationspartikel im Zuge einer syntaktischen Verlagerung der Negationspartikel zwischen Auxiliar und Infinitiv in der Form fallir ne pas + Inf., wie in Le concert a failli ne pas avoir lieu. (‘Das Konzert hätte beinahe nicht stattgefunden.’). Im Vergleich zu faillir weist manquer ein mit einer diachron späteren Genese einhergehendes schwächeres Grammatikalisierungsstadium auf, das u.a. durch eine geringere Fügungsenge, der Optionalität mit der Präposition de,
500
4 Die Diachronie romanischer Proximativ- und Avertivkonstruktionen
einer geringeren Frequenz des Avertivs mit der Negation, etc. charakterisiert ist. Im Gegensatz zu faillir, das im 15. Jahrhundert bereits mit implikatierter Avertivbedeutung belegt ist, liegt das Vollverb manquer im Frantext Moyen Français noch als Hapax vor. Im 16. Jahrhundert, i.e. diachron später zu der aufgezeigten mittelfranzösischen Entwicklung von faillir (à/de/Ø) + Inf., wird analog zunächst die polare Komponente (¬p) konventionalisiert (Stadium I und II), die im Skopus der Negationspartikel (¬p) zu einer positiven Proposition (¬¬p → p) führt, wie in ‘Sie scheiterten nicht, X zu realisieren.’ → ‘Sie realisierten X.’. Die proximale Komponente und daraus resultierend die vollständige Avertivbedeutung wird im 17. Jahrhundert implikatiert (Stadium III), i.e. zwei Jahrhunderte später als die Avertivimplikatur von faillir, wie der Frantext-Beleg von Madeleine de Scudéry, «dom *Pedro qui avoit manqué de faire perir *Alphonse par le feu» (+> ‘Dom Pedro, der Alphonse beinahe im Feuer hat umkommen lassen’), illustriert. Im 18. Jahrhundert finden sich bereits zahlreiche Avertivbelege von manquer de + Inf. und einige Avertivbelege von manquer Ø + Inf. mit insbesondere telischen Verben und darunter insbesondere mit den prototypischen Achievements, die durch ihre punktuelle Eigenschaft die Avertivimplikatur verstärken. Im 19. Jahrhundert nimmt die Frequenz der Avertivbelege, insbesondere von manquer Ø + Inf., zu. Die passive Diathese zeigt sich entsprechend ebenfalls diachron später als bei faillir (à/de/Ø) + Inf., insofern als manquer de + Inf. erst im 18. Jahrhundert und manquer Ø + Inf. nicht vor dem 19. Jahrhundert im Frantext intégral in passiver Diathese belegt ist. Analog zu faillir geht mit der Grammatikalisierung ein Wandel der Skopusinterakion mit der Negationspartikel einher, bei dem manquer zunehmend der Negationspartikel vorangestellt wird (ne manquer pas + Inf. > manquer ne pas + Inf.), wie in Il a manqué ne pas me croire. (‘Er hätte mir beinahe nicht geglaubt.’). Allerdings ist dieses gegenüber faillir + Inf. deutlich frühere Stadium des Avertivs manquer + Inf. mit der Negation lediglich als Hapax im Frantext categorisée belegt. Im Gegensatz zu dem weiter grammatikalisierten faillir + Infinitiv findet auch noch ein allmählicher Abbau der Präposition de im Gegenwartsfranzösischen statt. Es wird entsprechend angenommen, dass diese ebenfalls irgendwann gänzlich verschwunden sein wird und das gegenüber faillir + Inf. noch frühe Grammatikalisierungsstadium widerspiegeln. Die Untersuchung des Grammatikalisierungspfades Fail > Avertiv im Französischen belegt zudem, dass dem Avertiv weder der Grammatikalisierungspfad Proxi-
4.6 ‘Fail’ (FALLERE/MANCUS/PECCARE) > Avertiv
501
mativ > Avertiv notwendigerweise vorausgeht noch der Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ folgt und insofern von einer diachronen Unabhängigkeit der beiden Grammeme auszugehen ist. Dies lässt die übereinzelsprachlich gültige Schlussfolgerung zu, dass es sich bei Avertiv und Proximativ in der Tat um zwei unterschiedliche und insofern eigenständige Kategorien handelt.
5 Schlussbemerkung und Ausblick 5.1 Schlussbemerkung In dieser Arbeit sind die Kategorien Proximativ [Imminenz] und Avertiv [Imminenz, Vergangenheit, Kontrafaktizität] in sowohl theoretischer als auch sprachhistorischer Perspektive in den romanischen Sprachen (i.e. Französisch, Galicisch, Italienisch, Katalanisch, Okzitanisch, Portugiesisch, Rätoromanisch, Rumänisch, Sardisch und Spanisch) unter Berücksichtigung der Ausgangssituation im Lateinischen auf der Grundlage von über 40 konsultierten elektronischen Korpora sowie unter Hinzunahme zusätzlicher Primärtexte (cf. Kapitel 7) untersucht worden. Die Arbeit verfolgte sowohl das theoretische Ziel einer systematischen Trennung der beiden Grammeme (Kapitel 2 und Kapitel 3) als auch die korpusbasierte diachrone Untersuchung der unterschiedlichen Grammatikalisierungspfade einschließlich der noch ungeklärten Richtung ihrer Grammatikalisierungspfade, Proximativ > Avertiv oder Avertiv > Proximativ (Kapitel 4). In der in Kapitel 2 und Kapitel 3 erfolgten theoretischen Untersuchung ist die von Kuteva (1998; 2001) problematisierte funktionelle Überlappung der beiden Grammeme in Vergangenheitskontexten sowohl formal als auch auf der Basis einschlägiger Aufhebbarkeitstests gelöst worden. Zudem ist auch eine systematische Abgrenzung sowohl des Proximativs zu dem temporalen Grammem Futur und dem aspektuellen Grammem «Prospektiv» als auch des Avertivs zu den in der romanistischen Forschung bestehenden Termini, imperfectum de conatu als Implikatur des Imperfekts einerseits und dem hinsichtlich der semantisch-pragmatischen Realisierung von ¬p unterspezifizierten Terminus der «frustrierten Imminenz» andererseits, vorgenommen worden. In Kapitel 2 ist der bisherige Forschungsstand aus sowohl typologischer als auch sprachhistorischer Perspektive dargelegt worden. Die bisherige sich auf vorwiegend typologische Untersuchungen stützende Identifizierung von Proximativ und Avertiv sowie ihrer Grammatikalisierungspfade ist in Kapitel 2.1 einer kritischen Betrachtung unterzogen worden. Insbesondere bisherige typologisch vermeintlich als Avertiv identifizierte Beispiele, die die kontrafaktische Komponente noch mit Hilfe des anschließenden Kotexts (i.d.R. durch einen sich anschließenden Adversativsatz mit Negationspartikel312) explizit machen mussten, sind vor dem Hintergrund des Avertivs im Sinne einer eigenständigen grammatischen Kategorie in Frage gestellt und einer alternativen differenzierteren Betrachtung
312 Cf. auch die in Kapitel 2.1 angeführten Beispiele von Kuteva (2001) zum Russischen. https://doi.org/10.1515/9783110526745-005
504
5 Schlussbemerkung und Ausblick
unterzogen worden. Weitere hieraus resultierende Interpretationen des Avertivs, wie die von Schmidtke-Bode (2009) vermeintlich als Avertiv identifizierten lestclauses, die sich hingegen lediglich das Merkmal [Kontrafaktizität] mit dem Avertiv teilen und die Imminenz in den gegebenen Beispielen nicht einmal kontextuell inferieren, mussten ebenfalls von der neuen Definition einer eigenständigen Kategorie des Avertivs systematisch differenziert werden. Ebenso zeigten auch die in Kapitel 2.2 angeführten bisherigen sprachhistorischen Untersuchungen zum Proximativ und Avertiv, dass auch in der sprachhistorischen Forschung noch keine systematische Trennung der beiden Grammeme vorgenommen wurde (cf. die bei Kuteva 1998; 2001 aufgeführten Schwierigkeiten der Proximativ/Avertiv-Überlappung). Beispielsweise nimmt u.a. auch Bergs (2005), in Analogie zu zahlreichen bisherigen Ansätzen resultierend aus dem aktuellen Mangel einer systematisch vom Proximativ differenzierten Avertivdefinition und der bei Kuteva (1998; 2001) genannten Schwierigkeit ihrer Trennung, noch keine systematische Trennung der Kategorien Proximativ und Avertiv vor, in dem er die englischen Konstruktionen zwangsläufig «im Sinne des Proximativs oder Avertivs» (Bergs 2005, 169) interpretieren muss. Bevor sich der notwendigen systematischen Trennung der beiden Grammeme und der Etablierung von Tests und Kriterien zur Identifizierung in Kapitel 3 angenommen wurde, ist darüber hinaus in Kapitel 2.2 auch die Problematik der Verwandtschaft der beiden Grammeme bereits theoretisch vorweggenommen worden. Zu der ursprünglich in der Forschung postulierten Grammatikalisierungsrichtung Avertiv > Proximativ (Kuteva 1998; 2001; Ziegeler 2000; 2006) ist eine alternative Position eingenommen worden, die vielmehr in der Postulation der entgegengesetzten Grammatikalisierungsrichtung Proximativ > Avertiv mündete. Diesbezüglich ist das ursprünglich für die Grammatikalisierung Proximativ > Avertiv von engl. almost postulierte Modell von Ziegeler (2000; 2006) vielmehr für die entgegengesetzte Grammatikalisierungsrichtung Proximativ > Avertiv in Anlehnung an Schwellenbach (2009; 2013) modelliert worden sowie für die Entwicklung periphrastischer Konstruktionen in den romanischen Sprachen ausgebaut worden (cf. Tabelle 130, Seite 505). Während das von uns modifizierte Modell anhand romanischer Verbalperiphrasen in der Synchronie in Kapitel 3 theoretisch illustriert wurde, erfolgte die korpusbasierte diachrone Verifizierung des entgegengesetzten postulierten Grammatikalisierungspfades Proximativ > Avertiv auf der Basis der semantischpragmatischen Entwicklung dieses modifizierten Modells anhand ausgewählter Konstruktionen in Kapitel 4. In Kapitel 3 wurde zunächst in Anlehnung an Schwellenbach (2009) der in der aktuellen Forschungssituation noch undifferenzierten Betrachtung von Proximativ und Avertiv ein auf einschlägigen semantisch-pragmatischen Tests
5.1 Schlussbemerkung
505
Tabelle 130: Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006). Ziegeler (; )
Schwellenbach (; )
Stage I:
proximity to X (prediction of X via R-based implicatures)
—
proximative +> p
Stage II:
proximity to X, but Y, therefore not-X (prediction of X is explicitly cancelled, inducing Q-based implicatures)
avertive +> ¬p
proximative +> ¬p
Stage III:
proximity to X (but Y, therefore not-X) counterfactual (cancellation is omissible, and implicit)
proximative +> ¬p
Stage IV:
proximity to X (‘not X’ generalised as part of the meaning)
avertive [was about to take place but did not take place]
proximative +> ¬p (GCI)
basierendes Analysewerkzeug in die Hand gegeben, das die systematische Untersuchung der Grammeme auch in Abgrenzung zu weiteren mit Ihnen verwandten Grammemen, wie Prospektiv und Futur, oder auch in Abgrenzung zu weiteren etablierten (meist modal interpretierten) Funktionen, wie dem imperfectum de conatu oder der «frustrierten Imminenz», ermöglicht. Um der in der temporal-aspektuellen Forschungsdiskussion noch vielfach unklaren Abgrenzung der Nachzeitigkeit ausdrückenden Kategorien «Proximativ», «Futur» und «Prospektiv», die in der Forschung auch generell als future grams bzw. future markers bezeichnet werden (cf. Kapitel 3.1.1; cf. u.a. Bybee et al. 1994, 244s.; Detges/Waltereit 2016), eine systematische Differenzierung entgegenzubringen, wurde in Kapitel 3.1.1 die semantische Beziehung dieser drei Kategorien, ihre funktionelle Überlappung und ihre Grenzen zueinander exploriert. Hierbei wurde vielmehr die Kategorie Futur als ein temporales Grammem, Prospektiv und Proximativ hingegen als aspektuelle Grammeme aufgefasst. Hinsichtlich der beiden aspektuellen Grammeme wurde die funktionale Schnittmenge sowie die Abgrenzung der als unterspezifizierter verstandenen Kategorie des Prospektivs mit der spezifischeren Kategorie des Proximativs (Imminenz) u.a. anhand der Reichenbach’schen Terminologie erforscht. In Kapitel 3.1.2 wurde insbesondere die bislang ungeklärte Forschungsfrage nach dem Unterschied zwischen den von König (1993), Heine (1992) und Kuteva
506
5 Schlussbemerkung und Ausblick
(1998; 2001) typologisch aufgestellten Kategorien Proximativ und Avertiv gegenüber den in der Romanistik bekannten Funktionen der frustrierten Imminenz (bzw. «reale Imminenz» vs. «nicht-reale Imminenz» nach Cartagena/Gauger 1989, vol. 2) oder dem imperfectum de conatu beantwortet. Die Formalisierung von Proximativ und Avertiv wurde nach Schwellenbach (2013) übernommen. Tabelle 131: Formalisierung von Avertiv und Proximativ nach Schwellenbach (2013).
ASPECTUALITY TEMPORALITY MODALITY
AVERTIVE
PROXIMATIVE
λpλx[IMM (R,^p(x)] Pp(x) ¬p
λpλx[IMM (R,^p(X)] Pp(x) ᴠ p(x) ᴠ Fp(x) ◊p ᴠ ◊¬p (¬□¬p)
Nach unserem Modell definiert sich der vollständig grammatikalisierte Avertiv entsprechend der Unaufhebbarkeit aller Komponenten [+Vergangenheit, +Imminenz, + Kontrafaktizität], die wir an dieser Stelle noch einmal am Beispiel von faillir + Inf. aufzeigen. Die Unaufhebbarkeit der Vergangenheitskomponente erübrigt sich in dem Beispiel von faillir + Inf. aufgrund der Defektivität, sodass wir den Aufhebbarkeitstest lediglich für die proximale und polare Komponente noch einmal anführen. (614) Unaufhebbarkeit von polarer und proximaler Komponente Jean a failli tomber. ‘Jean wäre beinahe gefallen.’ Polare Komponente: Jean n’est pas tombé. ‘Jean ist nicht gefallen.’ Test: #Jean a failli tomber et, il est tombé. ‘#Jean wäre beinahe gefallen und er ist gefallen.’ Proximale Komponente: Jean était sur le point de tomber. ‘Jean war kurz davor zu fallen.’ Test: #Jean a failli tomber mais il n’était pas sur le point de tomber. ‘#Jean wäre beinahe gefallen, aber er war nicht kurz davor, zu fallen.’ In Kapitel 3.2 sind sowohl semantisch-pragmatische als auch syntaktische Kriterien zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv als eigenständige Kategorien diskutiert worden. Die synchrone Untersuchung der Avertivbedeutung lexikalischer Konstruktionen in Kapitel 3.2.1 erfolgte auf der Basis der konjunktiven Analyse (Horn 2002; Schwenter 2002; Bordería/Schwenter 2005) von proximaler und
5.1 Schlussbemerkung
507
polarer Komponente. Diesbezüglich wurde die bis heute langanhaltende Debatte um den semantisch-pragmatischen Status (in Form einer semantischen oder pragmatischen Präsupposition, konversationellen [PCI vs. GCI] oder konventionellen Implikatur, entailment, etc.) Imminenz ausdrückender Adverbien erneut diskutiert und am Beispiel der romanischen Sprachen illustriert. Des Weiteren ist die VP der lexikalischen Konstruktionen sowohl hinsichtlich ihrer Aktionsartkompatibilität (u.a. die Auswirkungen des Shiftings) als auch ihrer TAM-Distribution untersucht worden, um die tatsächliche Frequenz der Avertivkonstruktion im Indikativ Präsens in Relation zu anderen Tempora zu ermitteln. Die Skopusinteraktion mit der Negationspartikel wurde sowohl anhand der Konstruktionen mit expletiver Negation (z.B. sp. por poco no p → ¬p) als auch anhand der Konstruktionen mit kanonischer Negation (z.B. sp. por poco no p → ¬¬p) in den romanischen Sprachen dargelegt. In Kapitel 3.2.2 wurden die Analyse und die einschlägigen Tests zur Bestimmung des semantisch-pragmatischen Status auch auf die periphrastischen Konstruktionen in den romanischen Sprachen übertragen, um die in Kapitel 3.1.2 aufgestellte Trennung von Proximativ und Avertiv vorzunehmen. Die in der Periphrasenforschung üblichen syntaktischen Kriterien dienten der Bestimmung der Periphrastizität (bzw. der Grammatikalisierungsstärke) der Proximativ- und Avertivperiphrasen in Bezug auf die Einordnung auf dem Lexikon-SyntaxKontinuum. Diesbezüglich wurden auch Frequenzmessungen im Vergleich zu anderen (insbesondere) aspektuellen Verbalperiphrasen vorgenommen. Es wurde zudem aufgezeigt, dass der periphrastische Avertiv in den romanischen Sprachen eine Affinität zum perfektiven Aspekt und der periphrastische Proximativ eine Affinität zum imperfektiven Aspekt aufweist, die im Zuge einer stärker grammatikalisierten Konstruktion in der Defektivität mündet (z.B. ist der französische Avertiv faillir + Inf. in der gesprochenen Sprache im passé composé bekanntlich nahezu defektiv geworden.). Das Kapitel schloss mit einer Übersicht der erarbeiteten Proximativ- und Avertivperiphrasen in zehn romanischen Sprachen, die in Tabelle 132 (Seite 508–509) noch einmal angeführt wird. In Kapitel 4 ist die Verifizierung des in Kapitel 3 postulierten theoretischen Modells für den Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv anhand einer breit angelegten diachronen Untersuchung der romanischen Sprachen auf der Basis der in Kapitel 7 aufgeführten Korpora und Primärtexte erfolgt. Dass bislang keine diachronen korpusbasierten Untersuchungen zu der Genese und der Verwandtschaft der beiden Kategorien in den romanischen Sprachen vorlagen, wurde in Kapitel 4.1 mit einer vorwiegend am theoretischen Idealfall konzipierten Grammatikalisierungsforschung (cf. Lehmann 2002; Heine/Kuteva 2002, 2; Hopper/Traugott 2003) begründet, deren empirische Verifizierung anhand sprachhistorischer Daten in der Regel stets nachgeliefert werden müssen.
508
5 Schlussbemerkung und Ausblick
Tabelle 132: Aspektuelle Opposition der Proximativ-VPP [+imperfektiv] und Avertiv-VPP [+perfektiv] in den romanischen Sprachen. Proximativ-VPPa [+imperfektiv]
Avertiv-VPP [+perfektiv/ +perfektisch]
*FALLIRE (‘verfehlen’)
―
Fr. faillir + Inf.
MANCUS
―
Fr. manquer (de) + Inf. Okz. mancar + Inf.
PECCARE
―
Okz. pecar + Inf.
(‘sein’)/ (‘stehen’)/ SEDERE (‘sitzen’)
Fr. être sur le point de + Inf.; être pour + Inf. Gl. estar a piques de + Inf.; estar para + Inf. It. essere per + Inf.; essere sul punto di + Inf.; stare per + Inf. (siz. stari pi + Inf.) Kat. estar a punt de + Inf.; estar per + Inf. Okz. èsser per + Inf.; estre a punt de + Inf. Pg. estar a ponto de + Inf.; estar por + Inf.; estar para + Inf. Rät. star (ster) per + Inf. Rum. a sta + să (Konjunktiv)b Sard. essere de + Inf. Sp. estar a punto de + Inf.; estar por + Inf.; estar para + Inf.
Gl. estar a piques de + Inf.; estar para + Inf.; estar a punto de + Inf. Kat. estar a punt de + Inf.; estar per + Inf. Pg. estar a ponto de + Inf.; estar por + Inf.; estar para + Inf. Sp. estar a punto de + Inf.; estar por + Inf.; estar para + Inf.
ESSERE STARE
Gl. haber (de) + Inf.
HABERE
(‘haben’) IRE/ANDARE
(‘gehen’)
VOLERE/ QUAERERE
(‘wollen’)
Sp. ir a + Inf. Kat. anar a Inf. Gl. andar pra + Inf. Pg. ir + gerundioc; gl. ir + xerundio It. volere + Inf.; fr. vouloir + Inf. Sp., gl. querer + Inf. BP estar + querendo + Infinitiv (Está querendo chover. ‘Es ist kurz davor zu regnen.’) Okz. Que vòu plàver. (Romieu/Bianchi , ); Rum. Vreau să cad.
Sp. ir a + Inf.
5.1 Schlussbemerkung
509
Tabelle 132 (fortgesetzt )
FACERE
(‘machen’)
Proximativ-VPPa [+imperfektiv]
Avertiv-VPP [+perfektiv/ +perfektisch]
It. (Piemontese): fare che + Infinitiv
It. (Piemontese): fare che + Infinitiv
a
VPP = Verbalperiphrase; nicht Verbalphrase (VP). Im Rumänischen werden sowohl Proximativ als auch Avertivbedeutung in Verbindung mit der Konjunktivpartikel să (Rum. Era să cad. ‘Fast wäre ich gefallen‘) ausgedrückt, wie in Kapitel 4.5.1 näher ausgeführt wird. c Zu den im Imperfekt ausgelösten Avertivimplikaturen, wie O rapaz ia caindo. (‘Der Junge wäre beinahe gefallen.’), cf. Kapitel 5.2. b
In Kapitel 4.2 ist das Lateinische als gemeinsame Ursprache der romanischen Sprachen hinsichtlich lexikalischer und grammatischer Konstruktionen sowohl für den Proximativ als auch für den Avertiv untersucht worden. Es wurde gezeigt, dass das Lateinische für den Avertiv auf lexikalische Ausdrücke der Nähe, wie insbesondere prope und paene, zurückgegriffen hat, die allerdings keinen Konjunktiv mehr zum Ausdruck der Kontrafaktizität benötigen sowie nicht mehr kompositionell, wie in prope esset ut [. . .], sondern bereits in Verbindung mit dem Indikativ Perfekt für den Avertiv gebraucht wurden (z.B. prope oblitus sum ‘beinahe hätte ich vergessen’). Hinsichtlich des Proximativs musste im Lateinischen insbesondere noch auf das PFA + esse zurückgegriffen werden, das in der Vulgata von der HABERE-Infinitivkonstruktion abgelöst wurde. Es wurde gezeigt, inwiefern sowohl PFA + fui als auch habui + Inf. zwar bereits im Spätlateinischen die Kontrafaktizität, allerdings (noch) keinen Avertiv ausdrücken konnten und sich demzufolge grundlegend von der sich anschließenden Avertiventwicklung in den romanischen Sprachen (wie die Entwicklung des romanischen HABERE-Avertivs, STARE-Avertivs, *FALLIREAvertivs, MANCUS-Avertivs, PECCARE-Avertivs, PUNCTUM-Avertivs, PAUCUS-Avertivs, etc.) unterscheiden. In Kapitel 4.3 ist die Entwicklung der Konstruktionen per poco (non) p und quasi p in den romanischen Sprachen untersucht worden. Es wurde aufgezeigt, dass die paucus-Konstruktionen (z.B. sp. Por poco (no) me caigo. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’) hinsichtlich der Avertivfunktion eine stärkere Grammatikalisierung aufweisen als die quasi-Konstruktionen (z.B. sp. Casi me caigo. ‘Ich wäre beinahe gefallen.’). Es wurde den Konstruktionen eine unterschiedliche Genese des Avertivs zugrunde gelegt, bei der quasi p zunächst die kontrafaktische Komponente herausbildet, bevor es zusätzlich die Imminenz (proximale Komponente)
510
5 Schlussbemerkung und Ausblick
entwickelt und zu der spezifischen Avertivfunktion in den romanischen Sprachen führt. Hingegen konventionalisieren die paucus-Konstruktionen umgekehrt diachron zuerst die proximale und dann die polare Komponente. Es zeigte sich die zu Kuteva (1998; 2001) entgegengesetzte Grammatikalisierungsrichtung Proximativ > Avertiv. In den frühen altokzitanischen Texten des 11. Jahrhunderts wurde die polare Komponente der Avertivbedeutung noch ausschließlich in Verbindung mit der Negationspartikel ausgedrückt. In den Korpusbelegen des 12. Jahrhunderts finden sich bereits Beispiele ohne Negationspartikel, die allerdings noch in Verbindung mit der die Kontrafaktizität ausdrückenden -ra-Form (< lat. Indikativ Plusquamperfekt CANTAVERAM) stehen (cf. insbesondere unsere korpusbasierten Untersuchungen zum Galicisch-Portugiesischen und Altspanischen). Hinsichtlich der von Bordería/ Schwenter (2005) aufgestellten These für das Spanische, dass die Kontrafaktizität der kanonischen Konstruktion sp. por poco p in der Verbindung mit dem Konjunktiv Imperfekt entstehe, wurde in dieser Arbeit vielmehr der Wandel der -ra-Form aus dem Indikativ Plusquamperfekt einbezogen und komparativ durch die korpusbasierte Untersuchung des Portugiesischen, das bekanntlich keinen Wandel zum Konjunktiv Imperfekt vollzieht, verifiziert. Die frühesten Korpusbelege des Galicisch-Portugiesischen illustrierten, analog zum Altspanischen, ein ausschließliches Auftreten der kanonischen Konstruktion (por pouco p) mit der -ra-Form, während die Konstruktion mit expletiver Negation mit dem Indikativ Perfekt auftrat. Der Konjunktiv Imperfekt auf -se (< lat. Konjunktiv Plusquamperfekt CANTAVISSEM) zeigte hingegen keine signifikanten Auswirkungen auf die Entwicklung der Avertivkonstruktion, indem er sowohl in dem spanischen CDE-Korpus als auch in dem portugiesischen CDP-Korpus lediglich marginale Belege aufwies. Die von Bordería/Schwenter (2005) für das Spanische aufgestellte These, die Genese der Kontrafaktizität der kanonischen Konstruktion entstehe in Verbindung mit dem Konjunktiv Imperfekt, muss insofern korrigiert werden, als die Genese der Kontrafaktizität von por poco p vielmehr in Verbindung mit der aus dem Indikativ Plusquamperfekt entstandenen -ra-Form (< lat. Indikativ Plusquamperfekt CANTAVERAM) sowohl im Spanischen als auch im Portugiesischen korpusbasiert verifiziert wurde. Wie die marginalen CDE-Belege und CDP-Belege des Konjunktiv Imperfekt mit -se (< lat. Konjunktiv Plusquamperfekt CANTAVISSEM) illustrierten, sind dem Konjunktiv Imperfekt mit -se keinerlei signifikante Auswirkungen auf die Entwicklung der Avertivkonstruktion beizumessen. In Kapitel 4.4 sind die HABERE-Periphrasen hinsichtlich des eingangs postulierten Grammatikalisierungspfades Possession > Obligation > Prospektiv >
5.1 Schlussbemerkung
511
Proximativ > (Proximativ in der Vergangenheit >) Avertiv anhand der in Tabelle 133 illustrierten Grammatikalisierungsstadien korpusbasiert verifiziert worden. Tabelle 133: Stages of grammaticalization of Possession > Avertive. Stages of grammaticalization Stage :
have
Possession
Stage I:
have to do p
Obligation
Stage II:
have to do p/be going to do p (+> proximity to p, prediction of p via R-based implicature)
Obligation/ Prospective R+> p
Stage III:
proximity to p (but q, prediction of p is cancelled, inducing Q-based implicature)
Proximative Q+> ¬p
Stage IV:
was about to do p but did not p
Avertive (¬p)
Anhand des verifizierten Grammatikalisierungspfades Possession > Obligation > Prospektiv > Proximativ > (Proximativ in der Vergangenheit >) Avertiv wurden darüber hinaus Parallelen zu der Entwicklung von Futur und Konditional (< Prospektiv in der Vergangenheit) insbesondere hinsichtlich der Schnittstelle von Prospektivität/Proximität in der Vergangenheit und Kontrafaktizität aufgezeigt, die in der Abbildung 45 illustriert wurden. Possession > Obligation > Prospektiv > Futur
Prospektiv in der Vergangenheit > Konditional
Proximativ > Proximativ in der Vergangenheit > Avertiv Abbildung 45: Grammatikalisierungspfad aus der Possession.
Wie in Kapitel 4.4.2 kopusbasiert illustriert, zeigt sich der Avertiv aus HABERE bereits in den frühen iberoromanischen Sprachen. Im Altspanischen entsteht eine Avertivfunktion, die sich sogar in der Grundbedeutung der mit der -raForm (< lat. CANTAVERAM) gebrauchten HABERE-Infinitivperiphrase manifestiert. Im Spanischen ist der HABERE-Avertiv im 13. Jahrhundert auf der Grundlage des CDE-Korpus mit 79,2% (38 / 48 Belege) der in der -ra-Form stehenden Konstruktion haber a + Inf. und mit 60,9% (14 / 23) der in der -ra-Form stehenden Konstruktion haber de + Inf. belegt. Im Galicisch-Portugiesischen ist
512
5 Schlussbemerkung und Ausblick
der HABERE-Avertiv im 14. Jahrhundert auf der Grundlage des CDP-Korpus mit 65,22% (15 / 23) der Belege von haver de + Inf. in der -ra-Form (Indikativ Plusquamperfekt) belegt. Im Gegensatz zur Konservierung des Avertivs im Galicischen, wurde ein kontinuierlicher Abbau des HABERE-Avertivs in dem sowohl sich vom Galicischen trennenden Portugiesischen als auch im Spanischen bis in die Gegenwartssprachen korpusbasiert illustriert. Die in der Grundbedeutung der in der -ra-Form stehenden HABERE-Periphrase manifestierte Spezifizierung (Obligation > Prospektiv > Imminenz > Avertiv) wurde entsprechend im Spanischen und dem sich vom Galicischen trennenden Portugiesischen wieder aufgegeben (zugunsten einer Generalisierung der prospektiven Bedeutung). Darüber hinaus wurden in einem Ausblick auf die italoromanischen Sprachen marginale Avertivbeispiele im Italienischen aufgezeigt, die sich nicht bis in die Gegenwartssprachen gehalten haben. Der Abbau der HABERE-Avertivperiphrasen im Spanischen und Portugiesischen bis zum 16. Jahrhundert geht mit dem Anstieg der STAREPeriphrase ab dem 16. Jahrhundert (insbesondere estar a punto de + Inf.) in den iberoromanischen Sprachen einher, die in dem sich anschließenden Kapitel untersucht wurden. In Kapitel 4.5 sind die ESSE*RE/STARE/SEDERE-Periphrasen sowohl hinsichtlich der Genese des Proximativs als auch hinsichtlich des zu Kuteva (1998; 2001) entgegengesetzten Grammatikalisierungspfades Proximativ > Avertiv untersucht worden. Von den in Kapitel 4.5.5 festgehaltenen Ergebnissen werden an dieser Stelle lediglich einige ausgewählte Ergebnisse noch einmal aufgeführt. Aufgrund der frühen Korpusbelege in den romanischen Sprachen ist zunächst die lateinische Ausgangssituation illustriert worden. Es wurde aufgezeigt, dass die esseInfinitivkonstruktionen bereits im Spätlateinischen einen modal-aspektuellen Wandel vollziehen, bei dem es allerdings (noch) nicht zu einer vollständigen Konventionalisierung der Prospektivität kommt. Während die präpositionslosen Infinitivkonstruktionen in den romanischen Sprachen gänzlich abgebaut werden oder durch synthetische Formen ersetzt werden (wie im Rätoromanischen), setzen sich die im Spätlateinischen entstandenen Infinitivperiphrasen esse ad + Inf. und esse de + Inf. mit noch überwiegend modaler Bedeutung in den romanischen Sprachen durch. Hinsichtlich der aspektuellen Bedeutung zeigen sich die Periphrasen essere ad/de + Infinitiv noch unterpezifiziert. Die Proximativbedeutung konnte von uns allerdings bereits in altsardischen Dokumenten nachgewiesen werden, die sich in Form der Infinitivperiphrase essere de + Inf. bis in das Gegenwartssardische erhält und deren Auxiliar essere (noch) nicht durch das Auxiliar istare abgelöst wurde. Das in Relation zum Sardischen hinsichtlich der esse/ stare-Infinitivperiphrase innovativere Italienische weist eine Auxiliarvariation zwischen essere und stare auf, die ab dem 19. Jahrhundert zunehmend von stare dominiert wird. Hinsichtlich der iberoromanischen Sprachen wurde der Abbau
5.1 Schlussbemerkung
513
der ser-Periphrasen zugunsten der estar-Infinitivperiphrasen aufgezeigt: altsp. ser en (>a) punto de + Inf. > estar en (>a) punto de + Inf; gl.-pg. ser em (>a) ponto de + Inf. > estar em (>a) ponto de + Inf.; altsp., gl.-pg. ser por + Inf. > estar por + Inf.; altsp., gl.-pg. ser para + Inf. > estar para + Inf.; altkat. ser per + Inf. > estar per + Inf.. Darüber hinaus wurde ein Wandel der Präposition en/em > a in der PP sp. en punto de > a punto de; gl.-pg. em ponto de > a ponto de zum Ausdruck der Imminenz aufgezeigt, wie in den Periphrasen sp. ser (>estar) en punto de + Inf. > ser (>estar) a punto de + Inf. oder gl.-pg. ser (>estar) em ponto de + Inf. > ser (>estar) a ponto de + Inf (cf. Tabelle 134). Tabelle 134: ESSERE/STARE/SEDERE-Proximativperiphrasen in den romanischen Sprachen. Lat.
Esse*re (ad/de) + Inf.
Rum.
A fi pe punctul de + Inf.
Sard.
Essere de + Inf.
Essere a puntu de + Inf.
(Essere pa’ + Inf.)
It.
(essere de + Inf.)
Essere sul punto di + Inf.
Essere per + Inf.
Stare per + Inf.
Esser per + Inf.
Star per + Inf.
Rät. Fr.
Être sur le point de + Inf.
Être pour + Inf.
Okz.
Esser suu punt de + Inf.
Èsser per + Inf.
Kat.
Ser (en>)a punt de + Inf. † > Estar a punt de + Inf.
Ser per + Inf. †
Estar per + Inf.
Pg.
Ser (em>)a ponto de + Inf. † > Estar a ponto de + Inf.
Ser por + Inf. † Ser para + Inf. †
Estar por + Inf.; Estar para + Inf.
Gl.
Ser (em>)a ponto de + Inf. † > Estar a punto de + Inf.
Ser por + Inf. † Ser para + Inf. †
Estar por + Inf.; Estar para + Inf.
Sp.
Ser (en>)a punto de + Inf. † > Estar a punto de + Inf.
Ser por + Inf. † Ser para + Inf. †
Estar por + Inf.; Estar para + Inf.
Dem synchronen Unterschied der spanischen, galicischen und portugiesischen Proximativ-Verbalperiphrasen estar para + Inf. und estar por + Inf. wurden unterschiedliche Grammatikalisierungspfade zugrunde gelegt. Anhand der Verbalperiphrase estar por + Infinitiv (< ser por + Inf.) ist sowohl für das Portugiesische als auch für das Spanische der Grammatikalisierungspfad (Venitiv >) Prospektiv > Proximativ (Spezifizierung) illustriert worden, der hingegen grundsätzlich von dem Entwicklungspfad von estar para + Inf. abgegrenzt werden konnte. Analog zu den HABERE-Konstruktionen zeigt sich hinsichtlich der Periphrase estar por + Inf. zunächst die Genese der Prospektivität, aus der sich der Proximativ entwickelt
514
5 Schlussbemerkung und Ausblick
und dieser in zunehmender Verwendung in Vergangenheitskontexten zum Ausdruck des Avertivs führt (Generalisierung > Spezifizierung). Die Entwicklung Proximativ > Avertiv wurde anhand der Stadien unseres in Kapitel 2.2 modifizierten und in Kapitel 3 synchron illustrierten Modells diachron aufgezeigt.
Tabelle 135: Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv in modifizierter Anlehnung an Ziegeler (2000; 2006). Ziegeler (; )
Schwellenbach (; )
—
proximative +> p
Stage I:
proximity to X (prediction of X via R-based implicatures)
Stage II:
proximity to X, but Y, therefore not-X avertive (prediction of X is explicitly cancelled, +> ¬p inducing Q-based implicatures)
proximative +> ¬p
Stage III:
proximity to X (but Y, therefore not-X) (cancellation is omissible, and implicit)
counterfactual
proximative +> ¬p
Stage IV:
proximity to X (‘not X’ generalised as part of the meaning)
proximative +> ¬p (GCI)
avertive [was about to take place but did not take place]
Darüber hinaus wurde korpusbasiert illustriert, dass die PUNCTUM-Periphrasen bereits eine stärkere und frequentere Avertivfunktion gegenüber der Proximativfunktion entwickelt haben als die durch lexikalische Nebenbedeutungen beeinträchtigten Konstruktionen stare per + Inf. (bzw. estar por + Inf. und estar para + Inf.), bei denen die Proximativfunktion im Gebrauch (noch) gegenüber der Avertivfunktion in perfektiven Tempora überwiegt. Dies wurde mit der diachron sehr früh auf die Imminenz spezifizierten PUNCTUM-PP begründet, deren implikatierte Avertivbedeutung in Vergangenheitstempora zu einer diachron früheren Konventionalisierung führte als bei den Konstruktionen der Form stare per + Inf. (bzw. estar por + Inf. und estar para + Inf.), die zwar ab dem 16. Jahrhundert die Avertivfunktion analog entwickelten, aber aufgrund der persistierenden Koexistenz lexikalischer modaler Nebenbedeutungen (noch) nicht zu der gleichen Frequenz gelangt sind. In Kapitel 4.6 wurde der Grammatikalisierungspfad Fail > Avertiv am Beispiel der französischen Verbalperiphrasen faillir + Inf. (Kapitel 4.6.1) und manquer (de) + Inf. (Kapitel 4.6.2) auf der Basis einschlägiger französischer Korpora (Frantext Ancien français, Frantext Moyen Français, Frantext intégral,
5.1 Schlussbemerkung
515
Frantext categorisée, Nouveau Corpus d’Amsterdam – NCA) und zusätzlicher Primärtexte (u.a. Roman de la Rose) untersucht sowie ein Ausblick auf die okzitanischen Periphrasen mancar + Inf. und peccare + Inf. gegeben (cf. Kapitel 4.6.3). Es wurde die Alternativhypothese verifiziert, dass sich in dem Grammatikalisierungspfad Fail > Avertiv die polare Komponente (¬p) diachron vor der proximalen Komponente (Imminenz) anhand der folgenden Grammatikalisierungsstadien konventionalisiert. Tabelle 136: Stadien des Grammatikalisierungspfads FALLERE > Avertiv. Stadien
Polare Komponente
Proximale Komponente (i.e. Imminenz)
Stadium I:
‘scheitern, p zu realisieren’ (+> p wurde nicht realisiert)
+> ¬p
—
Stadium II:
‘p wurde nicht realisiert’
¬p
—
Stadium III:
‘p wurde nicht realisiert (+> aber p war kurz davor, sich zu realisieren)
¬p
+> Imminenz
Stadium IV:
‘p wurde nicht realisiert, aber p war kurz davor, sich zu realisieren’
¬p
Imminenz
Die postulierten Grammatikalisierungsstadien des Grammatikalisierungspfades Fail > Avertiv wurden für eine bessere Vergleichbarkeit zu den anderen Grammatikalisierungsmodellen zudem, wie folgt, ins Englische übertragen.
Tabelle 137: Stages of grammaticalization of FALLERE > Avertive. Stages
Polar Component Proximal Component (i.e. imminence)
Stage I:
to fail to do p (+> p didn’t take place)
+> ¬p
—
Stage II:
p didn’t take place
¬p
—
Stage III:
p didn’t take place (+> but p was about to take place)
¬p
+> imminence
Stage IV:
p didn’t take place, but p was about to take place
¬p
imminence
516
5 Schlussbemerkung und Ausblick
Es ist dargelegt worden, dass manquer de + Inf. ein gegenüber faillir + Inf. jüngeres Grammatikalisierungsstadium aufweist (u.a. geringere Fügungsenge, Skopusinteraktion mit der Negationspartikel, etc.), das mit einer diachron späteren Genese als faillir einhergeht. Analog zu faillir (à/de/Ø) + Inf. wird zunächst die polare Komponente (¬p) konventionalisiert (Stadium I und II) und führt im Skopus der Negationspartikel (¬p) zu einer positiven Proposition (¬¬p → p). Die proximale Komponente (und damit die vollständige Avertivbedeutung) wird von faillir à + Inf. bereits im 15. Jahrhundert und von manquer (de) + Inf. im 17. Jahrhundert oftmals implikatiert (Stadium III) und führt im jeweils folgenden Jahrhundert (i.e. 16. Jahrhundert bei faillir à + Inf. und 18. Jahrhundert bei manquer de + Inf.) zu zahlreichen konventionalisierten Avertivbelegen (Stadium IV). Der am Beispiel von fr. faillir > Avertiv und fr. manquer > Avertiv aufgezeigte Grammatikalisierungspfad, bei dem weder eine Grammatikalisierungsrichtung Avertiv > Proximativ noch Proximativ > Avertiv beschritten wurde, belegt insofern auch die diachrone Unabhängigkeit der beiden Grammeme, die folgende Generalisierung zulassen: Weder der Avertiv benötigt das Vorstadium des Proximativs noch ist der Proximativ als ein fortgeschrittenes Grammatikalisierungsstadium aus dem Avertiv zu betrachten. Dass der Avertiv in völliger Unabhängigkeit von dem Proximativ entstehen kann, ist ein eindeutiges Indiz für die ursprünglich von Kuteva (1998; 2001) theoretisch postulierte Trennung der beiden Kategorien. Im Zuge der Grammatikalisierung des Avertivs wurde zudem der Wandel der Kompatibilität mit der Negationspartikel aufgezeigt: Während die Negationspartikel in einem frühen Grammatikalisierungsstadium noch Skopus über das Lexem in der Form ne V[faillir/manquer] pas hat, erlangt im Zuge der Grammatikalisierung des Avertivs die Verbalperiphrase Skopus über die Negationspartikel in Form der Umkehrung der Polarität (z.B. fr. Le concert a failli ne pas avoir lieu ‘Das Konzert hätte beinahe nicht stattgefunden’). Im Zuge der verstärkten Fügungsenge wurde zudem der Abbau der Präpositionen à und de untersucht und bisherige Thesen313 zum semantischen Unterschied der drei Periphrasen faillir à + Inf., faillir de + Inf. und faillir + Inf. ausgeräumt. In sprachvergleichender Betrachtung hat sich insbesondere das frühe 16. Jahrhundert als Wendepunkt zentraler Avertivperiphrasen herausgestellt: Die Konventionalisierung des französischen Avertivs faillir + Inf., der fortgeschrittene
313 Beispielsweise ist die von Laveaux (1873) für das 19. Jahrhundert angenommene Differenzierung der drei Periphrasen faillir à + Inf., faillir de + Inf. und faillir + Inf. nach korpusbasierter Untersuchung in Kapitel 4.6.1 korrigiert worden.
5.1 Schlussbemerkung
517
Abbau der HABERE-Avertivperiphrasen im Spanischen und Portugiesischen und ihr Ersatz durch die Konventionalisierung des STARE-Avertivs in perfektiven Tempora.314 Auch die unterschiedlichen Grammatikalisierungsstärken der Avertivperiphrasen innerhalb der Romania sind deutlich geworden: Die gegenüber den stärker grammatikalisierten galloromanischen Avertivkonstruktionen (fr. faillir + Inf. besitzt das fortgeschrittenste Grammatikalisierungsstadium der in dieser Arbeit untersuchten romanischen Avertivperiphrasen) eher schwächer grammatikalisierten PUNCTUM-Avertivperiphrasen, die wiederum eine stärkere Avertivtendenz gegenüber den STARE-Periphrasen mit einfacher Präposition aufweisen und im Gegensatz zu dem Rückgang des HABERE-Avertivs an Frequenz und Distribution in der Romania zunehmen. Einige zentrale aus dieser Arbeit zu ziehenden Generalisierungen seien für übereinzelsprachliche Untersuchungen noch einmal resümiert: 1) In theoretischer Perspektive wurde gezeigt, dass Proximativ und Avertiv zwei zu trennende eigenständige Grammeme sind, deren Trennung sowohl anhand unserer gegebenen Formalisierung (cf. Tabelle 131, Seite 506) als auch anhand der in Kapitel 3 dargelegten Tests (wie u.a. die Aufhebbarkeit der kontrafaktischen Komponente des Proximativs, Skopusinteraktion mit der Negationspartikel, etc.) erfolgen kann. 2) Proximativ und Avertiv sind anhand der Tests eindeutig von Futur und Prospektiv sowie von Implikaturen des Imperfekts, wie dem imperfectum de conatu, oder dem unterspezifizierten Terminus der ‘frustrierten Imminenz’ abgegrenzt worden (cf. Kapitel 3 sowie zur Diachronie Kapitel 4). 3) In sprachhistorischer Perspektive wurde gezeigt, dass Proximativ und Avertiv zwei zu trennende Grammeme sind, die sich in völliger Unabhängigkeit voneinander entwickeln können. Weder ein Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv noch ein Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ ist im Rahmen einer vollständigen Grammatikalisierung notwendig (cf. Kapitel 4.6). 4) Der zu Kuteva (1998; 2001) entgegengesetzte Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv ist allerdings anhand einiger Grammatikalisierungsquellen in den romanischen Sprachen verifiziert worden, sodass sich der Avertiv durchaus aus dem Proximativ als ein möglicher Pfad entwickeln kann.
314 Interessant ist die typische sein/haben-Konkurrenz in der Auxiliarisierung auch rückblickend in Bezug auf den umgekehrten Ersatz des PFA + esse durch cantare habere im Lateinischen (ab dem 3. Jh. n. Chr.), insofern als sich immer wieder analoge Sprachwandelprozesse nicht nur wiederholen, sondern in unterschiedliche Richtungen bewegen. Dies ließe zudem Rückschlüsse zu, die gegen die verbreitete Unidirektionalitätshypothese sprechen würden.
518
5 Schlussbemerkung und Ausblick
5) Es wurde aufgezeigt, dass es im Zuge der vollständigen Grammatikalisierung des Avertivs zu einer Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel durch die polare Umkehrung der Avertivbedeutung kommt. Die Kompatibilität des Avertivs mit der Negationspartikel wurde als ein fortgeschrittenes Grammatikalisierungsstadium betrachtet und hinsichtlich der untersuchten Avertivkonstruktionen in den romanischen Sprachen diachron untersucht. Dies ließe sich nun in typologischer Hinsicht auch auf weitere Sprachen (oder ganzer Sprachfamilien) anwenden. 6) Im Gegensatz zu der Auffassung, dass die Imminenz als Vorstadium des Prospektivs zu sehen ist, wurde in dieser Arbeit diachron korpusbasiert aufgezeigt, dass vielmehr auch der Prospektiv in den Proximativ münden kann und dieser wiederum in den Avertiv (Generalisierung > Spezifizierung315). Es ist gezeigt worden, inwiefern typologisch identifizierte grammatische Kategorien, am Beispiel von Avertiv und Proximativ, durch eine ergänzende sprachvergleichende diachrone und v.a. korpusbasierte Verifizierung unter Berücksichtigung des Kontextes eine exhaustive Charakterisierung in Bezug auf die semantisch-pragmatische Entwicklung in Grammatikalisierungsprozessen erfahren können. Insbesondere durch die Möglichkeit der Nutzung diachroner romanischsprachiger Korpora, die auch bei den Minderheitensprachen zumindest im Aufbau sind, sollten auch in Zukunft typologische Arbeiten weiterhin um traditionell gesamtromanische Arbeiten mit Rückgriff auf die gemeinsame Ursprache des Lateinischen ergänzt werden.
5.2 Ausblick Angesichts der Breite des Untersuchungsgegenstandes musste diese Arbeit zwangsläufig zahlreichen Beschränkungen auf ausgewählte Grammatikalisierungspfade unterliegen, deren noch offene Fragestellungen erst im Rahmen sich anschließender Projekte behandelt werden können. Aufgrund der Fülle an noch zu behandelnden Fragen seien exemplarisch lediglich einige Themenfelder aufgeführt, die sich bereits von uns in Planung befinden und noch einzelsprachlich zu untersuchen sind:
315 Diese Spezifizierung steht im direkten Gegensatz zu dem ursprünglich von Kuteva (1998; 2001) postulierten Grammatikalisierungspfad Avertiv > Proximativ (Generalisierung). Allerdings sei an dieser Stelle zu den generellen Möglichkeiten der Spezifizierung in Grammatikalisierungsprozessen (Specification in grammar) auf Kuteva (1999; 2001) verwiesen, die einen allgemeinen theoretischen Zugang zu dem von uns aufgezeigten Grammatikalisierungspfad Proximativ > Avertiv (generalisiert > spezifisch) bieten.
5.2 Ausblick
519
Erstens, auf das Rumänische ist in dieser Arbeit aufgrund seiner Sonderstellung in Verbindung mit seiner Konjunktivpartikel să zwar kurz Stellung genommen worden (cf. Kapitel 3, Kapitel 4.4.1 und Kapitel 4.5.1), allerdings bedarf es hinsichtlich seiner Diachronie und nicht zuletzt aufgrund des Einflusses der slavischen Sprachen noch einer ausführlichen gesonderten Betrachtung, der in einer folgenden Arbeit nachgekommen werden muss. Zweitens, eine weitere in dieser Arbeit nur am Rande erwähnte Periphrase fare che + Infinitiv (cf. Ricca 2002; Cerruti 2009) entsteht aus der Grammatikalisierungsquelle fare (‘machen’) im (piemontesischen) Italienischen, deren nahezu ausschließlicher Gebrauch im passato remoto eine zunehmende spezifizierende Tendenz der Avertivbedeutung erhält. Im CORIS-Korpus finden wir analog sogar Avertivbeispiele mit fare per + Inf., wie die folgenden Belege illustrieren. (615) Avertiv it. fare per + Inf. It. La ringraziai e feci per andarmene, ma mi trattenne per un braccio. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) ‘Ich dankte ihr und wollte gerade (weg)gehen, aber sie hielt mich am Arm zurück.’ It. Io feci per parlare, ma lei mi zittì. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarrattrRomanzi) ‘Ich wollte gerade etwas sagen, aber sie zischte mich aus.’ It. Fece per aggiungere qualcosa, s’interruppe, sorpreso per quello che era stato per dire. (CORIS: Subcorpus: Narrativa, Section: NarratRomanzi) ‘Er wollte gerade etwas hinzuzufügen, unterbrach, überrascht von dem, was er beinahe gesagt hätte.’ Drittens, Proximativ und Avertiv können sich auch in den romanischen Sprachen auf der Basis des Motion Schema (lat. VENIRE, IRE) herausbilden, wie in Kapitel 2 und Kapitel 3 aufgezeigt wurde. In Kapitel 4 musste dieser Grammatikalisierungspfad ausgeklammert werden und sei daher zumindest an dieser Stelle erwähnt. Die Avertivbedeutung auf der Basis des Motion Schema nach Heine (1993) wird in den iberoromanischen Sprachen und insbesondere in den hispanoamerikanischen Varietäten sowie dem brasilianischen Portugiesisch ausgedrückt. Sedano (2000) hat die spanischen Verbalperiphrasen mit Bewegungsverben (ire, venire) in Caracas (Venezuela) hinsichtlich der inminencia fallida (‘frustrierte Imminenz’) untersucht, die aufgrund der in Kapitel 3.1.2 behandelten systematischen Trennung auf eine Implikatur zurückzuführen ist.
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5 Schlussbemerkung und Ausblick
(616) Implikatierte Avertivbedeutung im venezuelanischen Spanisch aus Caracas Ven. (a) Los vecinos nos iban matando (cb1fa, zitiert nach Sedano 2000, 42) (b) ese maestro la otra vez me iba dando un cascazo por la cabeza (cb5ma, zitiert nach Sedano 2000, 42) (c) me iba dejando el avión (ca1mb, zitiert nach Sedano 2000, 42) (d) yo me iba muriendo (cb1fb, zitiert nach Sedano 2000, 42) (617) Motion > Avertivbedeutung im kolumbianischen Spanisch aus Bogotá Kol. (a) me iba matando ese hombre (p. 111, Otálora, zitiert nach Sedano 2000, 42) (b) y yo me iba muriendo del susto (p. 111, Otálora, zitiert nach Sedano 2000, 42) Neben den hispanoamerikanischen Varietäten ist allerdings auch in dem peninsularen Spanisch der Gebrauch einer solchen Implikatur der Avertivbedeutung auf der Grundlage des Motion Schema zu finden. (618) Implikatierte Avertivbedeutung im peninsularen Gegenwartsspanisch Sp. Iba a salir cuando sonó el teléfono. ‘Er wollte gerade gehen, als das Telefon klingelte.’ Diese ist analog zu der Implikatur des Imperfekts in Form des imperfectum de conatu aufhebbar (cf. Kapitel 3.1.2) (619) Imperfectum de conatu als Avertivimplikatur des Imperfekts Sp. Salía cuando sonó el teléfono. ‘Er wollte gerade gehen, als das Telefon klingelte.’ Die Aufhebbarkeit dieser Implikaturen wurde bereits in Kapitel 3.2.1 analog zum imperfectum de conatu dargelegt. Avertivimplikaturen auf der Basis des Motion Schema werden insbesondere von den iberoromanischen Sprachen gebraucht, zumal diesen gegenüber den gallo-, balkan- und italoromanischen Sprachen ein bekanntlich breiteres System aspektueller Verbalperiphrasen zur Verfügung steht. Im sowohl europäischen als auch brasilianischen Portugiesisch finden sich weitere Beispiele dieser Avertivimplikaturen.
5.2 Ausblick
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(620) Avertivimplikaturen im Portugiesischen Pg. (a) O rapaz ia caindo. ‘Der Junge wäre beinahe gefallen.’ (b) rosto a expressão de tristeza que lhe haviam deixado as palavras severas de seu pai. A Prece A tarde ia morrendo. O sol declinava no horizonte e deitava-se sobre as grandes florestas, que iluminava com os seus últimos (Linguateca: Literateca v. 2.7, José de Alencar, O Guarani, Brasil) (c) Ele beijou as pistolas ainda fumegantes e ia responder, quando a dois passos surgiu de entre a touça o vulto de uma índia que sumiu-se ligeiramente no mato. (Linguateca: Literateca v. 2.7, José de Alencar, O Guarani, Brasil) (d) O doente vai melhor, mais ia matando o medico! (R. da Silva, Mocidade, 260; Dias 19705, 247, zitiert nach Bellosta von Colbe 2001b, 161) (e) O rapaz atravesou a rua sem olhar e ia sendo atropelado pelo automóvel. (Caetano et al. 1986, 53, zitiert nach Bellosta von Colbe 2001b, 161) ‘Der Junge überquerte die Straße ohne sich umzusehen und wäre beinahe von einem Auto überfahren worden.’ Im Katalanischen finden sich ebenfalls Verbalperiphrasen zum Ausdruck der Imminenz auf der Grundlage des Motion Schema, wie anar a + Inf. und anar per + Inf., die in Vergangenheitskontexten Implikaturen der Avertivbedeutung zulassen. (621) Anar a + Inf. und anar per + Inf. im Katalanischen Kat. (a) Dix-nos que anava per entrar en terra de moros (Jaume I, zitiert nach Moll 2006, 295) (b) Van per muntar-se les tallantes proes (Verdaguer, zitiert nach Moll 2006, 295) (c) Li pega un cop an el coll y anava a pegar-n’hi un altre (Picó, zitiert nach Moll 2006, 295) Im Galicischen finden sich die Periphrasen ir + Infinitiv, ir + Gerundium (xerundio), andar a + Infinitiv, die ebenfalls Inferenzen der Imminenz und des Avertivs zulassen, allerdings ebenfalls kontextabhängig sind, wie die folgenden Beispiele im Gegenwartsgalicischen illustrieren.
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5 Schlussbemerkung und Ausblick
(622) Ir + Gerundium Gl. (a) A porta foi virando engordiño. (Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 410) (b) Tal vez o que aconteceu despois fose madurecendo paseniñamente. (Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 410) (c) Mercaba refugallos que ía triscando pouco e pouco na maquiniña de arranxar mostras para os viaxantes. (Álvarez/Regueira/ Monteagudo 1986, 410) (d) As voces da xente van medrando, vanse achegando ata que falan aquí mesmo. (Álvarez/Regueira/Monteagudo 1986, 410) (e) O rapaz de saúde ía indo, pero non tiña un pataco para gastar. – ¿Que tal andades, compadre? – E, imos indo. (Álvarez/Regueira/ Monteagudo 1986, 410) (623) Andar pra + Inf. Gl. (a) O crego non lle quixo pagar e andivo pra prendelo, mais como era tolo non-o poideron prender. (Calvos de Randín, 57, zitiert nach Rojo 1974a, 99) (b) A cencia anda pra ó desacobillar. (T. Brava, 68, zitiert nach Rojo 1974a, 99) (624) Andar a + Inf. Gl. (a) (. . .) a (filla) do Cesáreo decia que Xurxo Louro andaba a chegar de Cuba pra se casar e reconecer o filho (. . .) (A xente, 46, zitiert nach Rojo 1974a, 99) Viertens, die Infinitivkonstruktionen mit Modalverben mussten in dieser Arbeit ebenfalls von der Diachronie ausgeklammert werden, lassen sich allerdings bis zu ihrer Entstehung im Spätlateinischen zurückverfolgen, die interessante Einblicke hinsichtlich des Proximativs und Avertivs offenbaren. Den in Kapitel 2.1 dargelegten Grammatikalisierungspfad des Proximativs aus dem Volition Schema nach Heine (1992) zeigen Toscano Martelotta/Maura Cezario (2011, 735) am Beispiel des Volitionsverbs querer (‘wollen’) im brasilianischen Portugiesisch auf, das in den Proximativ estar + querer.GER + Infinitiv anhand der folgende vier Stadien grammatikalisiert:
5.2 Ausblick
523
(625) Estar querendo + Inf. im brasilianischen Portugiesisch (a) Ele está quere-ndo fala-r. He is want-GER speak-INF ‘He wants to speak.’ (Toscano Martelotta/Maura Cezario 2011, 735) (b) João está quere-ndo fica-r gripado. João is want-GER get-INF a cold ‘John is about to get a cold.’ (Toscano Martelotta/Maura Cezario 2011, 735) (c) O tempo está quere-ndo muda-r. The weather is want-GER change-INF ‘The weather is about to change.’ (Toscano Martelotta/Maura Cezario 2011, 735) (d) Está quere-ndo chove-r. Is want-GER rain-INF ‘It is about to rain.’ (Toscano Martelotta/Maura Cezario 2011, 735) Im Galicischen finden sich ebenfalls Beispiele des Proximativs, insbesondere in Verbindung des Volitionsverbs mit Witterungsverben, Quería chover (Rojo 1974a, 99) oder Parece que quere nevar (Rojo 1974a, 99). Hinsichtlich der Diachronie ersetzen die Infinitivkonstruktionen mit Modalverb, wie velle (>vlat. volere) + Inf. und debere + Inf., neben HABERE + Inf. bereits im Spätlateinischen das PFA + esse. Wie in Kapitel 4.5.2.2 erwähnt, wird in den altitalienischen Übersetzungen aus dem 14. Jahrhundert des Eneasroman (Roman d’Énéas) das PFA + esse mit den modalen Periphrasen volere + Infinitiv und dovere + Infinitiv wiedergegeben, wie die Tabelle 138 (Seite 524) nach Palermo (2004, 327s.) illustriert. Analog illustrieren die Beispiele aus den Volgarizzamenti der Ovid’schen Metamorphosen von Simintendi, die in Tabelle 139 (Seite 524) nach Palermo (2004, 328s.) zitiert werden, die Wiedergabe durch die modalen Periphrasen volere + Infinitiv und dovere + Infinitiv. Im Altfranzösischen finden sich ebenfalls die Infinitivkonstruktionen mit den Modalverben vouloir und devoir zum Ausdruck sowohl des Proximativs als auch der implikatierten Avertivbedeutung in Vergangenheitskontexten, die bereits im Raoul de Cambrai im Inzidenzschema auftreten, wie Gamillscheg (1957) hinweist (cf. Beispiele 626, Seite 524–525).
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5 Schlussbemerkung und Ausblick
Tabelle 138: Volere + Inf. und dovere + Inf. in altitalienischen Übersetzungen nach Palermo (2004, 327s.). ENEIDE
CIAMPOLO DI MEO DEGLI UGURGIERI
Et taciti uentura uidebant. (, ); [. . .]
E taciti vedevano quello che doveva venire (Ciampolo, p. ); [. . .]
Ipse molam, manibusque piis altaria iuxta unum exuta pedem vinclis, in veste recincta, testatur moritura deos et conscia fati sidera (, );
Essa Dido sacrificò co le pure mani intorno agli altari, spogliata l’uno de’ piedi, e nella veste distinto, come che doveva morire, parla agli Dei, ed alle stelle che sapevano il fine suo; (p. );
quem metui moritura? (, ); tua clara, Polite, progenies, auctura Italos; (, );
cui temette io dovendo morire? (p. ), Polite, tua chiara progenie, che doveva accrescere l’Italiani; (p. )
ANGELO DI CAPULA
Intratanto la regina Dido ipsa midemmi abrazau li autari et standu scauza di l’unu pedi et chinta di una ligaza, comu pirsuna ki vulia muriri incumminzau a scuniurari li dei e li stilli li quali sapianu la sua fortuna; (p. );
Tabelle 139: Volere + Inf. und dovere + Inf. in den Volgarizzamenti (Simintendi) nach Palermo (2004, 329). Metamorphoseon libri (Ovid)
Volgarizzamenti del Due e Trecento (Arrigo Simintendi)
liceat periturae viribus ignis / igne perire tuo Sia licito a me che debbo perire per le forze del (II, –) fuoco, perire per lo tuo fuoco (p. ); Ut vero vultus et cornua vidit in unda, / «Me miserum!» dicturus erat (III, –).
Ma poi ch’egli vide lo volto e le corna nell’acqua, voleva dire «Omè misero» (p. )
(626) Vouloir + Inf. im Altfranzösischen (a) Navrés estoit d’un roit espieu burni; chaoir voloit del destrier arabi, qant uns borgois en ses braz le saisi, (RCambrai 3527, zitiert nach Gamillscheg 1957, 534s.) ‘Er war im Begriff von seinem arabischen Streitroß herunterzufallen, als ein Bürger ihn in seinen Armen auffing’ (Gamillscheg 1957, 535)
5.2 Ausblick
525
(b) Ainz que sus vousissent monter, commencerent a apeler, (Grég. Le Grand, zitiert nach Gamillscheg 1957, 535) ‘Bevor sie sich daran machten, aufzusteigen’ (Gamillscheg 1957, 535) (c) Lorsqu’il voulut mourir, (Brantôme, zitiert nach Gamillscheg 1957, 535) ‘Als er im Begriffe war, zu sterben.’ (Gamillscheg 1957, 535) Im Roman de la Rose zeigt sich bereits auch die Avertivbedeutung von vouloir (passé simple) ohne explizites Inzidenzschema, wenn sie auch kontextuell (par poi) unterstützt wird. (627) Vouloir (passé simple) + Inf. Si come Amors m’avoit loe, E me plains a lui de Dangier, 3116 Qui par poi ne me vost mangier, E Bel Acueil en fist aler
so wie AMOR es mir empfohlen hatte, und bei ihm beklagte ich mich über WIDERSTAND, der mich beinahe aufgefressen hätte und den SCHÖNEN EMPFANG davonjagte (De Lorris/De Meun 1976, vol. 1, 226s.)
Neben vouloir + Inf. wird auch die modale Periphrase devoir + Infinitiv im Altfranzösischen für den Proximativ bzw. die Imminence non aléatoire ‘être sur le point de, près de’ nach Buridant (2000, 354) gebraucht. (628) Devoir (passé simple) + Infinitiv im Altfranzösischen (a) . . .Tote nuit font le conte garder, Jusqu’au demein, que il dut ajourner (GirartV, 3778-79, zitiert nach Buridant 2000, 354) ‘Ils font garder le comte toute la journée jusqu’au lendemain, où l’aube allait poindre: juste avant l’aube’ (Buridant 2000, 354) (b) Quant li navies dut ariver, si prisent boins caauvles (ConquesteC, LXXI, 1–2, zitiert nach Buridant 2000, 354) ‘Au moment où la flotte allait aborder, ils prirent de solides cables’ (Buridant 2000, 354) Daneben kann die im imparfait oder passé simple stehende ProximativPeriphrase devoir + Infinitiv im Altfranzösischen auch kontextuell die Avertivbedeutung (imminence contrecarrée nach Henry 1952), die von Buridant (2000, 355)
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5 Schlussbemerkung und Ausblick
paraphrasiert wird als «a été sur le point de se réaliser mais qui ne s’est pas réalisé effectivement par suite d’une péripétie qui l’a contrecarré» (Buridant 2000, 355), in Form einer konversationellen Implikatur in dem Inzidenzschema (a) oder in der Verbindung se. . .ne + subjonctif du passé (b) annehmen: (629) Devoir (imparfait) + Infinitiv im Altfranzösischen (a) Ja devoient la mer passer Quant de Grece vindrent message Qui respitierent le passage. (Cligés, 6586–6588, zitiert nach Buridant 2000, 355) ‘Déjà ils s’apprêtaient à passer la mer, quand de Grèce arrivèrent des messagers qui différèrent la traversée. . .’ (Buridant 2000, 355) (b) Ja se devoit [Anna] ferir Se ses mechines ne l’eussent tenue (var. de l’exemple infra, zitiert nach Buridant 2000, 355) ‘Elle allait se frapper si ses suivantes ne l’avaient pas retenue’ (Buridant 2000, 355) Fünftens, sei darüber hinaus auf die Semiauxiliare sp. prometer (‘versprechen’) und sp. amenazar (‘drohen’) hingewiesen, die bekanntlich auch Grammatikalisierungspfade des Proximativs aufzeigen (cf. Heine/Miyashita 2007; Cornillie 2007) und im Folgenden auf die in dieser Arbeit dargelegte sowohl synchrone als auch diachrone Beziehung von Proximativ und Avertiv weiterentwickelt werden könnten.
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7 Korpora und Primärtexte 7.1 Brasilianisches und europäisches Portugiesisch 7.1.1 Primärtexte Do Vinhal, Gonçal’Eanes, Quand’ eu sobi nas torres (c. 1240–1280), in: Mölk, Ulrich, Romanische Frauenlieder, München, Fink, 1989, 180–182. Eco, Umberto, O Nome da Rosa, trad. Pinto, Maria Celeste, Porto, Colecção Mil Folhas, 2002. Schuldes, Ulrike (ed.), Contos portugueses modernos/Moderne portugiesische Kurzgeschichten, München, dtv, 2011. Sobral de Almada-Negreiros, José, O cágado/Die Schlammschildkröte, in: Schuldes, Ulrike (ed.), Contos portugueses modernos/Moderne portugiesische Kurzgeschichten, München, dtv, 2011, 6–17.
7.1.2 Korpora CDP = Corpus do português, Mark Davies, 45.606.959 Token, < 57.000 Texte, davon im 13. Jahrhundert: 550.968 Token, im 14. Jahrhundert: 1.316.268 Token, im 15. Jahrhundert: 2.875.653 Token, im 16. Jahrhundert: 4.435.031 Token, im 17. Jahrhundert: 3.407.741 Token, im 18. Jahrhundert: 2.234.951 Token, im 19. Jahrhundert: 10.008.622 Token, im 20. Jahrhundert: 20.777.725 Token, http://www.corpusdoportugues.org/ CETEMPúblico = Corpus de Extractos de Textos Electrónicos MCT/Público, 180.000.000 Token, europäisches Portugiesisch, https://www.linguateca.pt/CETEMPublico/ CETENFolha = Corpus de Extractos de Textos Electrónicos NILC/Folha de São Paulo, 24.000.000 Token, brasilianisches Portugiesisch, criado pelo projecto Processamento computacional do português com base nos textos do jornal Folha de S. Paulo que fazem parte do corpus NILC/São Carlos, compilado pelo Núcleo Interinstitucional de Lingüística Computacional (NILC) https://www.linguateca.pt/cetenfolha/index_info.html. CIPM = Corpus Informatizado do Português Medieval, Centro de Linguística da Universidade Nova de Lisboa, http://cipm.fcsh.unl.pt COLONIA = Zampieri, Marcos/Becker, Martin, Colonia. Corpus of Historical Portuguese, in: Special Volume on Non-Standard Data Sources in Corpus-Based Research, vol. 5, Köln, Shaker, 2013. Corpus Brasileiro, O projeto Corpus Brasileiro do grupo GELC, Recursos e Informação de Linguagem (CEPRIL), Programa de Pós-Graduação em Linguística Aplicada (LAEL) da PUCSP, com apoio da FAPESP, 992.500.000 Token, brasilianisches Portugiesisch, https://www.linguateca.pt/acesso/corpus.php?corpus=CBRAS
https://doi.org/10.1515/9783110526745-007
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7 Korpora und Primärtexte
CORPUS XELMÍREZ = Corpus lingüístico da Galicia medieval (Xelmírez), Universidade de Vigo/ Universidade de Santiago de Compostela, http://sli.uvigo.es/xelmirez/. GMHP = Corpus do Grupo de Morfologia Histórica do Português, Mário Eduardo Viaro, Universidade de São Paulo, http://www.usp.br/gmhp/Corp.html LINGUATECA = Instituto Superior Técnico da Universidade Técnica de Lisboa, Instituto Superior de Línguas e Administração de Lisboa, Pontifícia Universidade Católica do Rio de Janeiro, Universidade de Coimbra (Portugal), Sammlung verschiedener Korpora für brasilianisches und europäisches Portugiesisch, http://www.linguateca.pt/ Tycho Brahe, Corpus Histórico do Português, projeto temático Padrões Rítmicos, Fixação de Parâmetros & Mudança Linguística, annotiertes Korpus geschriebener portugiesischer Texte zwischen 1380 und 1845, 53 Texte, 2.464.191 Token, http://www.tycho.iel.uni camp.br/~tycho/corpus/
7.2 Deutsch Bibelwissenschaft: Das wissenschaftliche Bibelportal der Deutschen Bibelgesellschaft, www.bibelwissenschaft.de
7.3 Französisch 7.3.1 Primärtexte Anonyme, Le Roman d’Eneas, übers. Schöler-Beinhauer, Monica, München, Fink, 1972. Balzac, Honoré de, Sämmtliche Werke. Geschichte der Grösse und des Verfalles des Cäsar Birotteau, vol.1, aus dem Französischen übersetzt, Quedlinburg, Basse, 1842. Chrétien de Troyes, Le Conte du Graal, übers. Schöler-Beinhauer, Monica, München, Fink, 1991. Chrétien de Troyes, Cligès, übers. Kasten, Ingrid, Berlin/New York, De Gruyter, 2008. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, übers. Kasten, Ingrid, München, Fink, 1979. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, édité par Pierre Kunstmann, Ottawa/Nancy, Université d’Ottawa / Laboratoire de français ancien, ATILF, 2009. Publié en ligne par l’ENS de Lyon dans la Base de français médiéval, dernière révision le 16–6–2013, http://txm.ish-lyon. cnrs.fr/bfm/pdf/ErecKu.pdf, 2013. De Lorris, Guillaume/De Meun, Jean, Der Rosenroman (Le Roman de la Rose), übers. Ott, Karl August, 3 vol., München, Fink, 1976. Eco, Umberto, Le nom de la rose, übers. Schifano, Jean-Noël, Paris, Gasset, 1986. Ernst, Fritz (ed.), Philippe de Commynes, Memoiren. Europa in der Krise zwischen Mittelalter und Neuzeit, Stuttgart, Kröner, 1972. Foerster, Wendelin (ed.), Kristian von Troyes. Erec et Enide, Halle, Niemeyer, 1896. Giraudoux, Jean, Dramen, ed. Best, Otto F. in Verbindung mit Jean-Pierre Giraudoux, Frankfurt am Main, Fischer, 1961. Louis Le Germanique, Serment de Louis Le Germanique (842), in: Raynouard, François Juste Marie, Choix des poésies originales des Troubadours, vol. 2, Paris, Didot, 1816–1821.
7.4 Galicisch
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Martin, Ernest (ed.), Le Roman de Renart, Berlin/New York, De Gruyter, 1973. Nabokov, Vladimir, Lettres à Véra, Paris, Fayard, 2017. Nithard. Histoire des fils de Louis le Pieux, éd. et trad. de Philippe Lauer, revues par Sophie Glansdorff, Paris, Les Belles Lettres, 2012. Perret, Michèle, Le roman de Mélusine ou l’histoire des Lusignan, Paris, Stock, 1979. Rabelais, François, Gargantua. Pantagruel, übers. Steinsieck, Wolf/Hausmann, Frank-Rutger, Stuttgart, Reclam, 2013.
7.3.2 Korpora Ancien français, Subkorpus des Frantext intégral, Version von 2013, http://www.frantext.fr. Frantext categorisée, 1940 Texte ab 1830, 127.515.681 Token, Base textuelle Frantext, ATILF (Analyse et Traitement Informatique de la Langue Française), CNRS/Université de Lorraine, Version von 2013, http://www.frantext.fr. Frantext intégral, 3985 zentrale Texte und ca. 240.000.000 Token mit weiteren diversen Subkorpora, wie u.a. Ancien français. Base textuelle Frantext, ATILF (Analyse et Traitement Informatique de la Langue Française), CNRS/Université de Lorraine, Version von 2013, http://www.frantext.fr Frantext Moyen Français, 218 Texte von 1330–1500, Base textuelle Frantext, ATILF (Analyse et Traitement Informatique de la Langue Française), CNRS/Université de Lorraine, Version von 2013, http://www.frantext.fr. Lexis Nexis, Presse – Frankreich, http://www.lexisnexis.com/de/business/search/newssub mitForm.do NCA = Stein, Achim, et al. (edd.), Nouveau Corpus d’Amsterdam. Corpus informatique de textes littéraires d’ancien français (ca. 1150–1350), établi par Anthonij Dees (Amsterdam 1987), remanié par Achim Stein, Pierre Kunstmann et Martin-D. Gleßgen, Stuttgart, Institut für Linguistik/Romanistik, version 3, 2011.
7.4 Galicisch 7.4.1 Primärtexte Do Vinhal, Gonçal’Eanes, Quand’ eu sobi nas torres (c. 1240–1280), in: Mölk, Ulrich, Romanische Frauenlieder, München, Fink, 1989, 180–182.
7.4.2 Korpora CLUVI Corpus literario tectra inglés-galego, 2.407.539 Token, 84488 Übersetzungseinheiten: 1.224.247 Token in Englisch und 1.183.292 Token in Galicisch, Universidade de Vigo, http://sli.uvigo.es/CLUVI/index_en.html#correo CODOLGA Centro Ramón Piñeiro para a Investigación en Humanidades, Texte bis 1500, http://corpus.cirp.es/codolga/
550
7 Korpora und Primärtexte
CORGA = Corpus de Referencia do Galego Actual, Galicisches Referenzkorpus, 25.800.000 Token, http://corpus.cirp.es/corga/ CORPUS XELMÍREZ = Corpus lingüístico da Galicia medieval (Xelmírez), Intituto da Lingua Galega, http://sli.uvigo.es/xelmirez/ GMHP = Corpus do Grupo de Morfologia Histórica do Português, Mário Eduardo Viaro, Universidade de São Paulo http://www.usp.br/gmhp/Corp.html
7.5 Italienisch 7.5.1 Primärtexte Compagnetto da Prato, L’amor fa una donna amare (c. 1200–1300), in: Mölk, Ulrich, Romanische Frauenlieder, München, Fink, 1989, 130–133. Dante, Alighieri, La commedia. Die Göttliche Komödie, I–III. Italienisch/Deutsch, übers. Köhler, Hartmut, Stuttgart, Reclam, 2009. Eco, Umberto, Il nome della rosa, Milano, Fabbri, 1980. Giglaris, Luigi, Qvaresimale del Padre Lvigi Givglaris della compagnia di Gies V, Venetia, 1669. Li Gotti, Ettore, Volgare nostro siculo. Crestomazia di testi in antico siciliano del sec. XIV, Firenze, La Nuova Italia, 1951. Mazzeo di Ricco da Messina, Suspirava una pulcela (c. 1252), in: Mölk, Ulrich, Romanische Frauenlieder, München, Fink, 1989, 128–129. Neapolitana beatificationis, et canonizationis V.S.D. Caroli Caraffa, Cathalogus Testium, 1740–1743, 1830. Rinaldi, Gaetana Maria, Capitoli di pace e lettere in volgare siciliano (1349–1351), in: Atti dell’Accademia di Scienze Lettere e Arti di Palermo 5: 3(1982–83), 209–232. Starrabba, Raffaele, Di un documento riguardante la Giudecca di Palermo, Archivio Storico Siciliano 1 (1873), 89–102.
7.5.2 Korpora CORIS = Corpus di Italiano Scritto, R. Rossini Favretti, 120.000.000 Token, http://dslo.unibo. it/coris_ita.html. DIVO = Corpus del Dizionario dei Volgarizzamenti, Subkorpus des OVI, http://divoweb.ovi.cnr. it/%28S%28rlkjdy5500kctqufnt0ifkej%29%29/CatForm01.aspx La Stampa, https://www.lastampa.it. Lexis Nexis, Presse – Italien http://www.lexisnexis.com/de/business/search/newssubmit Form.do LIZ = Letteratura Italiana Zanichelli 4.0, CD-Rom, Stoppelli, Pasquale/Picchi, Eugenio. OVI = Opera del Vocabulario Italiano, Altitalienisches Korpus, 2316 Texte, 116.411 Lemmata, 21.911.171 Token. http://www.ovi.cnr.it/index.php?page=banchedati. Paisà, webbasiertes italienisches Korpus http://www.corpusitaliano.it
7.7 Latein
551
7.6 Katalanisch CICA = Corpus Informatitzat del Català Antic, Joan Torruella, Universitat Autònoma de Barcelona, 8.656.847 Token, davon in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts (Segle XIa): 798 Token zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts (Segle XIb): 3.296 Token ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts (Segle XIIa): 1.238 Token zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts (Segle XIIb): 2.107 Token ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Segle XIIIa): 22.096 Token zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Segle XIIIb): 937.067 Token ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Segle XIVa): 934.994 Token zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Segle XIVb): 1.323.976 Token erste Hälfte des 15. Jahrhunderts (Segle XVa): 1.462.865 Token zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts (Segle XVb): 1.897.994 Token ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Segle XVIa): 742.595 Token zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Segle XVIb: 881.358 Token ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Segle XVIIa): 363.289 Token zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Segle XVIIb): 16.069 Token ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Segle XVIIIa): 67.105 Token zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Segle XVIIIb): 0 Token http://webs2002.uab.es/sfi/cica/.
7.7 Latein 7.7.1 Primärtexte Biblia Sacra Vulgata, Bibelwissenschaft. Das wissenschaftliche Bibelportal der Deutschen Bibelgesellschaft, www.bibelwissenschaft.de Tacitus, Germania. Lateinisch und Deutsch, übers. Fuhrmann, Manfred, Stuttgart, Reclam, 1972. Titus Livius, Ab urbe condita (c. 30 v. Chr.–10 n. Chr.), Stuttgart, Reclam, 2008.
7.7.2 Korpora Bibelwissenschaft: Das wissenschaftliche Bibelportal der Deutschen Bibelgesellschaft, www.bibelwissenschaft.de. Biblia Poliglota: Latin/Español Antiguo/Español Moderno, Mark Davies, Brigham Young University, http://davies-linguistics.byu.edu/span3/. LLT-A = Library of Latin Texts – Series A, 3.200 Texte von 240 v. Chr. bis zum 2. Vatikanischen Konzil, Brepolis. LLT-B = Library of Latin Texts – Series B, Database by CTLO and Brepols Publishers, Turnhout, 2009.
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Patrologia Latina Database, The main chronological sequence of authors in the Patrologia Latina therefore runs from about AD 200 to AD 1216. Perseus Digital Library, http://www.perseus.tufts.edu/hopper/ PHI = The Packard Humanities Institute, Latin Texts (Classical Latin Texts) http://latin.pack hum.org/index.
7.8 Okzitanisch 7.8.1 Primärtexte Azalaïs de Porcairagues, Ar em al freg temps vengut (c. 1140–1185), in: Mölk, Ulrich, Romanische Frauenlieder, München, Fink, 1989, 52–55. Bec, Pierre (ed.), Guilhem de Peitieus. Duc d’Aquitaine, prince du trobar, Moustier-Ventadour, Carrefour Ventadour, 2015. Bernard, Katy, Le néant et la joie. Chansons de Guillaume d’Aquitaine, édition bilingue occitan-français, Gardonne, Fédérop, 2013. Clara d’Anduza, En greu esmay ez en greu pessamen, in: Mölk, Ulrich, Romanische Frauenlieder, München, Fink, 1989, 56–59 (=1989a). Clara d’Anduza, En un vergier sotz fuella d’albespi, in: Mölk, Ulrich Romanische Frauenlieder, München, Fink, 1989, 64–65 (=1989b). Clara d’Anduza, Quan vei les praz verdesir, in: Mölk, Ulrich, Romanische Frauenlieder, München, Fink, 1989, 68–71 (=1989c). Guilhem, Farai un vers de dreit nïen (=Guilhelm d’Aquitania; 1071–1127), in: Rosenberg, Samuel N./Switten, Margaret/Le Vot, Gérard (edd.), Songs of the Troubadours and Trouvères. An Anthology of Poems and Melodies, Garland Reference Library of the Humanities 1740, New York, Garland Publishing, 1998, 38 (=1998a). Guilhem, Pos de chantar m’es pres talentz, in: Rosenberg, Samuel N./Switten, Margaret/Le Vot, Gérard (edd.), Songs of the Troubadours and Trouvères. An Anthology of Poems and Melodies, Garland Reference Library of the Humanities 1740, New York, Garland Publishing, 1998, 39–40 (=1998b). Guilhem, Farai un vers, pos mi sonelh, in: Kehew, Robert (ed.), Lark in the morning. The verses of the troubadours, Chicago, University of Chicago Press, 2005, 28–29. Kehew, Robert (ed.), Lark in the morning. The verses of the troubadours, Chicago, University of Chicago Press, 2005. Marcabru, Emperaire per vostre prez (c. 1100–1150), in: Dejeanne, Jean-Marie-Lucien (ed.), Poésies complètes du troubadour Marcabru, publiées avec traduction, notes et glossaire, Toulouse, 1909, 112–113. Raynouard, François Juste Marie, Choix des poésies originales des Troubadours, vol. 2, Paris, Didot, 1816–1821. Rosenberg, Samuel N./Switten, Margaret/Le Vot, Gérard (edd.), Songs of the Troubadours and Trouvères. An Anthology of Poems and Melodies, Garland Reference Library of the Humanities 1740, New York, Garland Publishing, 1998.
7.11 Sardisch
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Vidal, Peire, Baron, de mon dan covit (c. 1175–1205), in: Rosenberg, Samuel N./Switten, Margaret/Le Vot, Gérard (edd.), Songs of the Troubadours and Trouvères. An Anthology of Poems and Melodies, Garland Reference Library of the Humanities 1740, New York, Garland Publishing, 1998, 112.
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7.9 Rätoromanisch 7.9.1 Primärtexte Salutz, Joan Pitschen, Capuciner, Hamberger, 1650.
7.9.2 Korpora DRC = Digitale Rätoromanische Chrestomathie (DRC)/Crestomazia Retorumantscha Digitala (CRD), http://www.crestomazia.ch/
7.10 Rumänisch Europarl: http://www.europarl.europa.eu Ziarul românesc, http://www.ziarulromanesc.de/
7.11 Sardisch 7.11.1 Primärtexte Ardau Cannas, Battista, Farendi in Turritana, Atto II, Scena IV, in: Tola, Salvatore, La letteratura in lingua sarda. Testi, autori, vicende, Milano, CUEC, 2006, 373–375. Canu, Piero, Un linzolu di tarra. Pani saldu, in: Tola, Salvatore, La letteratura in lingua sarda. Testi, autori, vicende, Milano, CUEC, 2006, 505–506. Dessanay, Pasquale, A Lia, in: Tola, Salvatore, La letteratura in lingua sarda. Testi, autori, vicende, Milano, CUEC, 2006, 220.
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7 Korpora und Primärtexte
Documento 2 = Privilegio concesso da Marino di Torres ai Pisani, 1080–1085, «Privilegio Logudorese», Archivio di Stato di Pisa, Diplomatico Coletti, secolo XI, in: Maninchedda, Paolo, Medioevo latino e volgare in Sardegna, Nuova edizione ampliata, riveduta e corretta, Cagliari, CUEC, 2012, 167. Documento 5 = Carta sarda in caratteri greci (ante 1089), in: Maninchedda, Paolo, Medioevo latino e volgare in Sardegna, Nuova edizione ampliata, riveduta e corretta, Cagliari, CUEC, 2012, 168–171. Gavino Pes, Lu Tempu, in: Tola, Salvatore, La letteratura in lingua sarda. Testi, autori, vicende, Milano, CUEC, 2006, 126. Il condaghe di San Gavino, Condaghes Sancti Gauini, Prothi & Ianuarij, in: Francesco Rocca (ed.): Historia muy antigua, llamada el Condaghe o Fundaghe: de la fundacion, Consecracion e Indulgencias del Milagroso Templo de Nuestros Illustriss. Martyres y Patronos S. Gavino, S. Proto y S. Januario en lengua sarda antigua, Sassari, 1620. http://www.filologiasarda.eu/files/documenti/pubblicazioni_pdf/cfssangavino/02con daghe.pdf. Il condaghe di san nicola di trullas (1115–1176), ed. Merci, Paolo, Nuoro, Ilisso Edizioni (Biblioteca sarda), 2001. Il condaghe di santa maria di bonarcado (1120–1146), ed. Virdis, Maurizio, Nuoro, Ilisso Edizioni (Biblioteca sarda), 2003. Il condaghe di san pietro di silki (1065–1180), ed. Soddu, Alessandro/Strinna, Giovanni, Nuoro, Ilisso Edizioni (Biblioteca sarda), 2013. L’ultima cena (Comedia de la Passion), in: Tola, Salvatore, La letteratura in lingua sarda. Testi, autori, vicende, Milano, CUEC, 2006, 104–105. Lu pientu di Lauretta in prisgioni pa’ abè Mosthu l’ommu chi l’ha tradidda, in: Tola, Salvatore, La letteratura in lingua sarda. Testi, autori, vicende, Milano, CUEC, 2006, 275. Maninchedda, Paolo, Medioevo latino e volgare in Sardegna, Nuova edizione ampliata, riveduta e corretta, Cagliari, CUEC, 2012. Mossa, Paolo, S’isula de sa Fortuna. A Flora, in: Tola, Salvatore, La letteratura in lingua sarda. Testi, autori, vicende, Milano, CUEC, 2006, 200–202. Tola, Salvatore, La letteratura in lingua sarda. Testi, autori, vicende, Milano, CUEC, 2006. Un linzolu di tarra pani saldu, in: Tola, Salvatore, La letteratura in lingua sarda. Testi, autori, vicende, Milano, CUEC, 2006, 505–506.
7.11.2 Korpora Limba Sarda 2.0, http://salimbasarda.net/
7.12 Spanisch 7.12.1 Primärtexte Boaistuau, Pierre, El Theatro del Mundo, trad. Perez del Castillo, Baltasar, 1564.
7.12 Spanisch
555
Clément, Catherine/Kristeva, Julia, Lo femenino y lo sagrado, trad. García Sánchez, Maribel, València, Cátedra, 2000. Eco, Umberto, El nombre de la rosa, trad. Pochtar, Ricardo, Barcelona, Debolsillo, 2011. El Cantar de mio Cid, El manuscrito del cantar, ed. Riaño Rodriguez, Timoteo/Gutiérrez Aja, Ma del Carmen, Alicante, Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes, 2003. García Márquez, Gabriel, El general en su laberinto, Bogotá, Oveja negra, 1989 (=1989a). García Márquez, Gabriel, Der General in seinem Labyrinth. Aus dem kolumbianischen Spanisch von Dagmar Ploetz, Köln, Kiepenheuer/Witsch, 1989 (=1989b). Grass, Günter, Años de perro, trad. Gerhard, Carlos, Madrid, Alfaguara, 2016.
7.12.2 Korpora Biblia Poliglota: Latin/Español Antiguo/Español Moderno, Mark Davies, Brigham Young University, http://davies-linguistics.byu.edu/span3/. CDE = Corpus del Español, Mark Davies, Brigham Young University, 100.255.030 Token, davon im 13. Jahrhundert: 6.905.000 Token, 71 Texte, im 14. Jahrhundert: 2.820.000 Token, 50 Texte, im 15. Jahrhundert: 8.515.000 Token, 160 Texte, im 16. Jahrhundert: 18.001.000 Token, 323 Texte, im 17. Jahrhundert: 12.746.000 Token, 499 Texte, im 18. Jahrhundert: 10.263.000 Token, 159 Texte, im 19. Jahrhundert: 20.465.000 Token, 392 Texte, im 20. Jahrhundert: 20.540.030 Token, > 12.631 Texte (gesprochener und geschriebener Sprache) http://www.corpusdelespanol.org CREA = Corpus de referencia del español actual, Real Academia Española, http://corpus.rae. es/creanet.html CORDE = Corpus diacrónico del español, Real Academia Española, 236.709.914 Token, http://corpus.rae.es/cordenet.html El cultural, https://www.elcultural.com El País, el periódico global, https://elpais.com. El Periódico, https://www.elperiodico.com/es/ El universo, https://www.eluniverso.com La vida en rojiblanco, La web de los periodistas del Atleti, http://www.lavidaenrojiblanco.com Lexis Nexis, Presse – Spanien http://www.lexisnexis.com/de/business/search/newssubmit Form.do LBLA = La Biblia de las Américas, The Lockman Foundation; Scripture taken from La Biblia de las Américas®,Copyright ©1986, 1995, 1997 by The Lockman Foundation; Used by permission (www.LBLA.com). Reina Valera Gómez, http://www.reinavaleragomez.com
Register Adversativsatz (adversativ) 4, 17, 18, 20, 26, 32, 33, 98, 137, 138, 255, 256, 258, 259, 289, 302, 357, 358, 360, 373, 383, 384, 386, 428, 460, 461, 466, 473, 486, 499, 503 Asturleonesisch 220 – Asturianisch (Asturien) 220, 261 – Leonesisch 106, 220, 238, 239, 261, 265 Bulgarisch 3, 11, 23, 25, 125 conatu (conato, konativ) 2, 5, 21, 35, 37, 47–55, 57, 58, 74, 90, 139, 160, 182, 194, 208, 264, 503, 505, 506, 517, 520 Deutsch (deutsch) 62, 72, 166, 169, 172, 184, 234, 297, 331, 369, 416, 478, 483 Diathese 122, 124, 453, 455, 462–464, 490, 493, 496, 498, 499, 500 – Reflexivpassiv 120, 121, 124 – Vorgangspassiv 122 Englisch (englisch) 15, 27, 29, 62, 145, 246, 369, 504 – Frühneuenglisch 27, 28 – Mittelenglisch 28, 29, 56 Estnisch 12 expletive Negation (expletiv) 74, 76, 78, 85–89, 162, 164, 192–194, 198, 201–207, 209, 212, 214, 216–219, 507, 510 – expletive Negationspartikel 192, 217, 219 Finnisch 15, 18 „frustrierte Imminenz“ („frustrierte imminente Handlung“, frustrative, Frustrativ) 2, 5, 35, 37, 47, 48, 49, 57, 139, 160, 194, 503, 505, 506, 517, 519 haitianisches Kreol (hait.K.) 429, 430 hispanoamerikanische Varietäten 114, 118, 261, 262, 264, 519, 520
https://doi.org/10.1515/9783110526745-008
– argentinisches Spanisch (Argentina) 71, 115, 118, 121, 128, 129, 220, 264, 276 – bolivianisches Spanisch (Bolivia) 118 – chilenisches Spanisch (Chile) 89, 105, 114, 118 – costaricanisches Spanisch (Costa Rica) 114, 265 – cubanisches Spanisch (Cuba) 261 – ecuadorianisches Spanisch (Ecd.) 45, 126 – guatemaltekisches Spanisch (Guatemala) 114, 118 – kolumbianisches Spanisch (Bogotá) 118, 215, 520 – mexikanisches Spanisch (México) 112, 114, 118, 128, 263 – venezuelanisches Spanisch (Venezuela) 114, 519, 520 Inzidenzschema (Inzidenzschemata) 20, 50, 51, 54, 137, 138, 139, 289, 311, 312, 384, 385, 403, 412, 414, 419, 460, 461, 499, 523, 525, 526 Isländisch (isländisch) 14 Italienisch – sizilianisches Italienisch 159, 284, 306, 313, 508 – Altsizilianisch 286, 316, 317, 324, 328 Katalanisch (katalanisch, Kat., kat., cat.) 1, 38, 40, 43, 47, 49, 51, 54, 59, 69, 75, 89, 93, 94, 96–99, 103, 107, 110–113, 116, 117, 122–124, 128, 140, 144, 146, 150, 159, 173, 191, 216, 222, 224, 226, 292, 294, 296, 301, 336, 344, 403, 404, 408–410, 413, 425–427, 431, 503, 508, 513, 521 – Altkatalanisch 190, 217, 218, 407, 413, 513 Konditionalsatz 56, 73, 170, 235, 256, 258, 272, 592 – Antezedens 73, 258, 273, 274, 492 – Antezedenstest 66, 67 – Apodosis 30, 235, 256 – Konsequenz 73, 170, 235, 256, 351
558
Register
– Protasis 30, 272, 273 Koreanisch 13, 21, 22 Lahu 14 Lest-clauses (Lest-Avertiv) 2, 48, 55, 56, 69, 192, 504 Litauisch 15, 16, 18, 19, 20 – Altlitauisch 19 Location (Lokationsmarker) 9, 13, 15, 28, 31, 165, 342, 346, 426 Maa 9, 10, 42, 354 – Chamus 9, 10 Okzitanisch (okzitanisch, okz.) 1, 7, 107, 113, 124, 127, 128, 158, 159, 222, 224, 291, 413, 417, 427–429, 432, 434, 494–497, 503, 508, 513, 515 – Altokzitanisch 201, 218, 219, 241, 416, 417 – Altprovenzalisch 199, 201, 203, 204, 434 – Altokzitanisch 197, 198, 510 – Gaskognisch 413 – Gegenwartsokzitanisch 413 – Provenzalisch 479 Prädiktion 133–138, 231, 232, 258, 266, 269, 270, 290, 304, 311, 354, 359, 375, 384, 385, 392, 416 Prospektiv (prospektiv) 2, 5, 6, 35, 37–39, 41–43, 46, 47, 91, 94, 96, 97, 99, 103–105, 107, 115, 134, 137, 144, 160, 163, 164, 168, 169, 240, 241, 243, 251–253, 261, 272, 275, 276, 277, 281, 283–286, 288–292, 297, 298, 315–317, 325, 330, 340, 341, 350, 351, 353, 354, 357, 381, 404, 415, 416, 417, 420, 423–426, 503, 505, 510–513, 517, 518 Prospektivität 173, 221, 232, 249, 267, 288, 289, 317, 350, 351, 355, 423–425, 511–513 – ra-Form 193, 204, 206–213, 219, 220, 255, 256, 270–272, 275, 276, 284, 355, 356, 362–364, 386, 390, 510–512
Rätoromanisch (rätoromanisch, rät.) 1, 113, 159, 183, 223, 277, 329, 332, 333, 336, 424, 427, 432, 503, 508, 512, 513 – Altlugnezisch 331 – Alträtoromanisch 330, 331 – Altsurselvisch 330–332, 424 – Bündnerromanisch 277, 332, 333 – Oberengadinisch 333, 334 – Rumantsch Grischun 223, 277 – Subselvisch 333–335 – Surselvisch 223, 333–335 – Unterengadinisch 333, 334 Rumänisch (rum.) 1, 18, 49, 107, 112, 159, 167, 223, 226, 233, 239–241, 291, 298–300, 426, 427, 432, 503, 508, 509, 513 Russisch 17, 503 Sardisch (sardisch, sard.) 1, 64, 65, 159, 196, 223, 239, 277, 279–281, 283, 284, 291, 300–306, 317, 329, 424, 425, 508, 512, 513 – Altsardisch 196, 280–282, 298, 304–306, 323, 334, 344, 357, 385, 424, 427, 431, 432, 503, 512 – Campidanesisch (Sardu Campidanèsu) 277 – Logudoresisch (Sardu Logudorèsu) 277, 278 – Nuoresisch (Sardu Nugorèsu) 277 Seychellenkreol (seychellenkreolisch) 15 Tchien Krahn 14 Temporalsatz 32, 137, 304, 384, 414, 421, 460, 499 Tok Pisin 11, 12 Türkisch 3, 25 Venitiv (venitiv) 14, 350, 354, 381, 404, 425, 513 Volition (volitiv) 9–13, 23–25, 31, 44, 125, 129, 148, 149, 165, 317, 325, 329, 348, 422, 426, 522, 523