Teleologisches Rechtsverständnis: Wissenschaftstheoretische und geistesgeschichtliche Grundlagen einer zweckorientierten Rechtswissenschaft [1 ed.] 9783428465439, 9783428065431


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German Pages 440 Year 1988

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Teleologisches Rechtsverständnis: Wissenschaftstheoretische und geistesgeschichtliche Grundlagen einer zweckorientierten Rechtswissenschaft [1 ed.]
 9783428465439, 9783428065431

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INGO MITTENZWEI

Teleologisches Rechtsverständnis

Schriften zur Rechtstheorie Heft 130

Teleologisches Rechtsyerständnis Wissenschaftstheoretische und geistesgeschichtliche Grundlagen einer zweckorientierten Rechtswissenschaft

Von Dr. Ingo Mittenzwei

Duncker & Humblot · Berlin

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albertus-Magnus-Universität zu Köln gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Mittenzwei, Ingo: Teleologisches Rechtsverständnis : wissenschaftstheoretische und geistesgeschichtliche Grundlagen einer zweckorientierten Rechtswissenschaft / von Ingo Mittenzwei. — Berlin : Duncker u. Humblot, 1988 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 130) Zugl.: Köln, Univ., Habil.-Schr, 1987 ISBN 3-428-06543-3 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz : Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06543-3

Vorwort Die Arbeit ist im Wintersemester 1986/87 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Habilitationsschrift angenommen worden. Das Manuskript wurde bereits im Frühjahr 1984 abgeschlossen; später erschienene Literatur habe ich, soweit sie zum Überdenken des eigenen Standpunktes herausforderte, nach Möglichkeit noch berücksichtigt. Danken möchte ich den Gutachtern der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, den Herren Professoren Dr. Alexander Lüderitz, Dr. Martin Kriele und Dr. Klaus Luig für die anregende und wohlmeinende Kritik der Schrift. Besonderen Dank schulde ich jedoch Herrn Professor Dr. Jens Peter Meincke, der mir als Seminardirektor mit Geduld und aufmunterndem Zuspruch die Möglichkeit offengehalten hat, meine methodischen und historischen Gedankengänge abzuschließen. Dank schulde ich auch Frau Sigrid Barth und meiner Frau für die mühevolle Reinschrift des Manuskriptes. Der Forschungsgemeinschaft danke ich für die Gewährung eines Zuschusses zu den Druckkosten der Arbeit. Köln, im Oktober 1988 Ingo Mittenzwei

Inhaltsübersicht Einleitung

13 1. Teil

Methodologische and werttheoretische Bedingungen eines teleologischen Rechtsverständnisses

25

A. Entwurf eines rechtsphilosophischen Bezugsrahmens I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon

25 25

II. Teleologisches und kausales Denken

45

III. Logik contra Dialektik

70

B. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft I. Ziel und Eigenart der Rechtswissenschaft

93 93

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns im modernen Wissenschaftsverständnis 108 III. Die ethische Problematik materialer Orientierung des Zweckhandelns IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion V. Offene Fragen — Wegweisungen

. . . 138 165 196

2. Teil

Die historischen Grundlagen teleologischer Rechtswissenschaft C. Entwurf eines wissenschaftsgeschichtlichen

228

Bezugsrahmens

228

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

228

II. Historische Rekonstruktion des Unternehmens Wissenschaft

273

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion IV. Tradition und Neuerung in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft

290 . . . 318

8

Inhaltsübersicht

D. Die Entwicklung neuzeitlicher Rechtsverständnisse

Rechtswissenschaft

als Abfolge paradigmatischer 325

I. Die unbezweifelbare Autorität überlieferter Texte II. Die Begründung des Rechts aus logischen Systemen der Vernunft III. Geschichte des Rechts als positive Wissenschaft

325 340 361

IV. Gesetzespositivismus und das Problem der Begründung richtigen Rechts . . . 377 Literaturverzeichnis

399

Sachverzeichnis

436

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

13

1. Teleologische Auslegung als interessenjuristisches und philosophisches Problem (S. 13). 2. Zur zeitgenössischen Gerechtigkeitsdiskussion (S. 14). 3. Gesetz und überpositives Recht (S. 16). 4. Die wertgebundene Ordnung des Grundgesetzes (S. 20). 5. Systematische und historische Betrachtung des Gegenstandes als Einheit eines theoretischen Rahmenwerkes (S. 22).

1. Teil Methodologische und werttheoretische Bedingungen eines teleologischen Rechtsverständnisses

25

A. Entwurf eines rechtsphilosophischen Bezugsrahmens I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon

25 25

1. Kants WissenschaftsbegrifF und Erkenntnislehre (S. 25). 2. Die Frage der Gegenstandskonstitution (S. 28). 3. Spontaneität und Rezeptivität des Bewußtseins in Fichtes Wissenschaftstheorie (S. 33). 4. Konsequenzen für die Begründung einer naturrechtlichen Position (S. 35). 5. Schwierigkeiten eines subjektivformalen Idealismus (S. 38). 6. Denken und Sein bei Hegel (S. 43). II. Teleologisches und kausales Denken

45

1. Teleologie als Entfaltung von Ganzheiten (S. 45). 2. Zwecktätigkeit bei Aristoteles (S. 46). 3. Finalität als umgekehrte Kausalität (S. 48). 4. Finalität und Normativität als Determinationen des geistigen Seins (S. 51). 5. Interventionistische Kausaltheorie (S. 52). 6. Die aristotelische Entelechie (S. 53). 7. Nicolai Hartmanns Einwände (S. 55). 8. Eine falsche Alternative und ihre aporetischen Folgen (S. 58). 9. Die Differenz von Äußerem und Innerem (S. 65). 10. Arten der Zweckmäßigkeit und der Übergang zur Dialektik der Begriffe (S. 68). III. Logik contra Dialektik

70

1. Analytik und Dialektik bei Aristoteles und Kant (S. 70). 2. Die Entstehung des dialektischen Dreischrittes und seine Entfaltung bei Fichte (S. 76). 3. Dialektik als Bewegung sprachlicher Gehalte bei Hegel (S. 80). 4. Relativierung der aristotelischen Logik (S. 87). 5. Ganzheitliche und kausal-mechanische Wirklichkeitsbetrachtung (S. 91).

10

Inhaltsverzeichnis

Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

93

I. Ziel und Eigenart der Rechtswissenschaft

93

1. Der Ertrag der bisherigen Erörterung (S. 93). 2. Die Aufgaben der Rechtswissenschaft (S. 95). 3. Recht als wissenschaftlicher Gegenstand (S. 97). 4. Das Verhältnis zur Rechtsdogmatik (S. 103). 5. Unverzichtbarkeit der Sinnfrage (S. 105). 6. Die fragwürdige Trennung von Erkennen und Handeln (S. 106). II. Formale Rationalität des Zweckhandelns im modernen Wissenschaftsverständnis 108 1. Höhere Effektivität als Ziel formaler Teleologie (S. 108). 2. Deskriptive und normative Entscheidungstheorie (S. 109). 3. Bedingungen rationaler Entscheidung (S. 112). 4. Die sog. Spieltheorie (S. 115). 5. Informationsgewinnung und -Verarbei-

tung (S. 118). 6. Die Problemdefinition als Ausgangspunkt (S. 120). 7. System- und Interdependenzanalyse (S. 122). 8. Kritik der logischen Rationalität (S. 124). 9. Nutzen- und Präferenztheorie (S. 125). 10. Schwierigkeiten der Wahrscheinlichkeitsberechnung (S. 128). 11. Zur Rationalität sog. Sozialwahlen (S. 131). 12. Verdienste der Entscheidungslogik und unerfüllbare Erwartungen (S. 136). III. Die ethische Problematik materialer Orientierung des Zweckhandelns

138

1. Ethischer Emotivismus (S. 138). 2. Die Begründung von Wert- und Normaussagen (S. 141). 3. Skeptizismus, Relativismus und Ideologieverdacht (S. 145). 4. Die Idee der Freiheit als transzendentale Letztbegründung der Ethik (S. 149). 5. Freiheit als Aufgegebenheit (Sollen) und Anerkennung von Freiheit (S. 155). 6. Die anthropologische Basis der Ethik (S. 157). 7. Schwächen des individualistischen Utilitarismus (S. 160). IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

165

1. Vernunft- und Moralprinzip als Grundsätze teleologischer Systembildung (S. 165). 2. Hegels Kritik an Kant und seine dialektische Rekonstruktion sittlichen Rechts (S. 167). 3. Sittlichkeit in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat (S. 173). 4. Ethik als dialogische Konfliktbewältigung (S. 178). 5. Regeln und Grundsätze eines rationalen Diskurses über Werte (S. 180). 6. Das Ideal einer Kommunikationsgemeinschaft (S. 189). 7. Rechtfertigung von praktischen Beschlüssen (S. 191). 8. Das Postulat produktiver Diskurseröffnung (S. 194). V. Offene Fragen — Wegweisungen

196

1. Zur Ursache des Wertpluralismus (S. 196). 2. Der Unterschied zwischen Individual· und Sozialethik (S. 200). 3. Kritische Normgenese anhand einer empirisch ermittelten Bedürfnisstruktur (S. 202). 4. Einige Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffes in historischer Sicht (S. 206). 5. Das Problem sprachlicher Verständigung, dargestellt am Beispiel der Sprachphilosophie L. Wittgensteins (S. 215).

Inhaltsverzeichnis

2. Teil Die historischen Grundlagen teleologischer Rechtswissenschaft C. Entwurf eines wissenschaftsgeschichtlichen

228

Bezugsrahmens

228 228

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

1. Das Anliegen (S. 228). 2. Wortgetreue Auslegung (S. 230). 3. Prädikation, Extension und Intension von Ausdrücken (S. 232). 4. Die Unzulänglichkeit sprachlicher Interpretation (S. 238). 5. Eine semantische Wurzel theoretischer Streitigkeiten (S. 240). 6. Möglichkeiten systematischer Auslegung (S. 241). 7. System und Wissenschaft im Wandel (S. 243). 8. Folgerungen für das Systemverständnis im Normbereich (S. 251). 9. Die historisch-systematische Methode in der Deutung Fr. C. v. Savignys (S. 253). 10. Historische contra rationalistische Aufklärung und ihr Dilemma (S. 257). 11. Für und wider die subjektiv-teleologische Auslegung (S. 261). 12. Das Ziel objektiv-teleologischer Interpretation (S. 267). II. Historische Rekonstruktion des Unternehmens Wissenschaft

273

1. Analytische Wissenschaftstheorie (S. 273). 2. Thomas S. Kuhns Schilderung paradigma-geleiteter Normalwissenschaft (S. 275). 3. Zum Begriff des Paradigmas (S. 279). 4. Die Struktur außerordentlicher Wissenschaft (S. 283). 5. Die Frage des wissenschaftlichen Fortschritts (S. 288). ΠΙ. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

290

1. Zum veränderten, wissenschaftlichen Selbstverständnis (S. 290). 2. Karl R Poppers Wissenschaftskonzept (S. 293). 3. Poppers Kritik an Kuhns Normalwissenschaft (S. 299). 4. Die Rationalitiät der Theorienwahl (S. 302). 5. Weitere Einwände gegen die Normalwissenschaft (S. 303). 6. Was heißt „wissenschaftliche Revolution"? (S. 308). 7. Eine Neuinterpretation wissenschaftlicher Theorien (S. 311). 8. Die Erforschung kultureller Regelsysteme als wissenschaftsgeschichtliche Leitidee (S. 315). IV. Tradition und Neuerung in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft

318

1. Rechtswissenschaft als Normalwissenschaft (S. 318). 2. Strukturkerndiskussion und Paradigmakrise (S. 322). D. Die Entwicklung neuzeitlicher Rechtswissenschaft Rechtsverständnisse

als Abfolge paradigmatischer 325

I. Die unbezweifelbare Autorität überlieferter Texte 1. Das Justinianische Recht als Forschungsgegenstand einer entstehenden Rechtswissenschaft (S. 325). 2. Die wissenschaftliche Arbeitsweise der Glossa-

325

12

Inhaltsverzeichnis

toren und Kommentatoren (S. 329). 3. Die scholastischen Wurzeln der Semantik (S. 334). 4. Der Einfluß der Scholastik auf das zeitgenössische Rechtsverständnis (S. 337). 5. Humanistische Kritik und beginnende Krise (S. 339). II. Die Begründung des Rechts aus logischen Systemen der Vernunft

340

1. Schulenstreit und Experimentierphase (S. 340). 2. Humanistische Rechtswissenschaft (S. 342). 3. Die ramistische Logik und Wissenschaftslehre (S. 343). 4. Hermann Vultejus' Iurisprudentia Romana (S. 345). 5. Die systematische Erfassung des Rechts durch Johannes Althusius (S. 347). 6. Hugo Grotius' Versuch einer Grundlegung des Rechts (S. 351). 7. Die Erweiterung der naturwissenschaftlichen Methode durch René Descartes (S. 356). III. Geschichte des Rechts als positive Wissenschaft

361

1. Systematisches Naturrecht (S. 361). 2. Empiristische Kritik und Erkenntnislehre (S. 362). 3. Kants Einfluß auf die Erneuerung der Rechtswissenschaft (S. 367). 4. Das neue Paradigma (S. 371). 5. Die Problematik des inneren Systems und ungenutzte Forschungsansätze (S. 374). IV. Gesetzespositivismus und das Problem der Begründung des richtigen Rechts 377 1. Zum methodischen Verständnis der Historischen Rechtsschule (S. 377). 2. Erfahrung als Wissenschaftskriterium (S. 381). 3. Die Grundlagen des Utilitarismus bei J. St. Mill und J. Bentham (S. 385). 4. Der utilitaristische Einfluß auf R v. Ihering und die lnteressenjurisprudenz (S. 389). 5. Die Krise des szientistischen Rechtsverständnisses (S. 392). 6. Zur Rationalität der juristischen Interpretation (S. 393). 7. Das höchste Ziel (S. 395). Literaturverzeichnis

399

Sachverzeichnis

436

Einleitung i. Teleologische Auslegung als interessenjuristisches und philosophisches Problem Recht teleologisch verstehen heißt, es von seinen Zwecken her deuten und auslegen. Vordergründig scheint es dabei um die Ermittlung und Interpretation der subjektiven, politischen Zwecke des jeweiligen historischen Gesetzgebers zu gehen, und in der Tat wird vielfach der Versuch unternommen, den Rechtsanwender bei der Auslegung von Rechtstexten hierauf zu beschränken. Wer das akzeptiert und sich in diese Richtung lenken läßt, wird die Rechtspraxis zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nehmen und systematisch prüfen, wie dort Sinn und Zweck von Gesetzen oder Normen argumentativ herangezogen werden; wahrscheinlich wird er Fallgruppen bilden, Regeln ableiten und Vorschläge zur Verbesserung der Argumentationsmuster unterbreiten. Die vorrechtliche Basis einer solchen, rechtlichen Betrachtungs- und Verfahrensweise ist mit den Begriffen Interessen- und Wertungsjurisprudenz hinreichend deutlich bezeichnet. Man kann sich dem Thema allerdings auch von einer anderen, problematischeren Seite her nähern und fragen, warum es überhaupt gerechtfertigt ist, den Sinn und Zweck von Normen zu berücksichtigen, welchen Grund es hat, daß Gesetzeszwecke auf die Rechtsanwendung Einfluß gewinnen, obwohl sie doch häufig gar nicht ausdrücklich formuliert oder umstritten sind und sich im Laufe der Zeit sogar verändern können. Die Fragen nach Grund und Begründung, nach Möglichkeit und Rechtfertigung der Zweckeinwirkung auf rechtliche Entscheidungen sind keine spezifisch juristischen Fragen mehr, die auf herkömmliche Weise, sozusagen systemimmanent, beantwortet werden können. Wer sich fragt, warum es sinnvoll ist, teleologisch zu denken, wie diese Denkweise richtig abläuft, welche Gründe es gibt, nach Zwecken zu forschen, um sich von ihnen leiten zu lassen, überschreitet den Rahmen gefestigter, dogmatischer Tradition und wendet sich einem philosophischen Problembereich zu. Letztlich geht es ihm nicht mehr um die Legalität von Judikaten, die sich aus der Übereinstimmung von gesetzgeberischem Willen und konkreter, rechtlicher Entscheidung ergibt, sondern um die tiefere Einsicht in die Legitimität der Herrschaft des Rechts im Kampf der Interessen schlechthin, welche nur durch Orientierung an einer Idee des Rechts gewonnen werden kann. Sein Blick wird sich deshalb vorderhand auf die objektiven Zwecke bzw. Rechtsprinzipien richten, welche zwar heute in vielen entwickelten Rechtsordnungen ihren Niederschlag gefunden haben, ihrer Natur nach aber vor aller willentlichen Setzung und vor allem gesetzten Recht Gültigkeit beanspruchen. Ihm stellt sich

14

Einleitung

als erstes zwingend das erkenntnistheoretische Problem, wie diese vorrechtlichen, sittlichen Zwecke erkannt und objektiv einsichtig gemacht werden können, und ob es Wege der Zweckermittlung und Zweckentfaltung gibt, welche die Zusammenhänge einer Wertordnung erkennen lassen. I m Hinblick auf die Rechtsidee formuliert, wird er sich fragen müssen, ob Gerechtigkeit ein mögliches Ziel von Recht ist oder ob es sie, objektiv, vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus betrachtet, gar nicht gibt, weil sie etwa schon begrifflich, d.h. als Vorstellung von einem bestimmten Inhalt, nicht gefaßt werden kann. Der Blick auf Recht und Staat aus sittlicher Perspektive, manifest geworden in den abstrakten Begriffen der Gerechtigkeit und der Rechtsidee, gehört seit den Anfangen europäischer Philosophie in Griechenland bis weit in die Zeit der Aufklärung hinein zum eisernen Bestand philosophischer Erörterung. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, nach Hegels Tod, verliert dieses Grundthema philosophischer Besinnung und politischer Kritik an bestehenden Verhältnissen allmählich an Gewicht und wird durch eine Gesellschaftskritik im Geiste von Utopien der Rechts- und Herrschaftsfreiheit in den Hintergrund gedrängt. In jüngster Zeit freilich scheint die Bereitschaft, Möglichkeiten und Grenzen eines interdisziplinären Gerechtigkeitsdiskurses neu auszumessen, angesichts einer radikalen Institutionenkritik, die prinzipiell die Legitimität von Recht und Staat im menschlichen Zusammenleben verneint, wieder zu wachsen. Die weitläufige Diskussion, deren Kardinalproblem die richtige Bestimmung des Bezugspunktes der Gerechtigkeitsprinzipien ist, bildet in ihrer gegenwärtigen Unabgeschlossenheit den Hintergrund des ersten, wissenschaftstheoretischen Teils dieser Abhandlung, in dem es um eine Bestandsaufnahme teleologischen Denkens und eine Vergewisserung des Verhältnisses von Recht und Ethik als des Inbegriffes höchster Zwecke individuellen und kollektiven, menschlichen Handelns geht. 2. Zur zeitgenössischen Gerechtigkeitsdiskussion Unter den verschiedenen methodologischen Strömungen innerhalb der Rechtswissenschaft wissen sich die Anhänger der lnteressenjurisprudenz, wie bereits erwähnt, der teleologischen Interpretation des Rechts besonders verpflichtet. Philosophische Grundlage dieser methodologischen Richtung ist der ethische Utilitarismus, der in seiner geistigen Heimat, der englischsprachigen Welt, in langer Tradition zu einem differenzierten Instrument empirischrationaler Normenbegründung ausgebaut wurde. Höchstes Gut und oberster Orientierungspunkt ist ihm das menschliche Glück und Wohlergehen, Leitziel dementsprechend die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Interessen, wobei allerdings nicht das Glück bestimmter Individuen oder Gruppen, sondern das aller von den Folgen der zu beurteilenden Handlungen Betroffenen ausschlaggebend ist. Sieht man davon ab, daß die inhaltliche Qualifikation des als Endzweck menschlichen Strebens bestimmten, vollendeten Zustandes der Glückseligkeit und die Wahl der dazu vorzüglich geeigneten Mittel höchst unterschiedlich beantwortet werden kann (und wird), legt diese am Prinzip der Nützlichkeit ausgerichtete, ethische Betrachtungsweise, gleichgültig, ob sie nun über einzelne

Einleitung

Handlungen oder Handlungsmaximen ihr Urteil fallt, fundamentale Strukturen unseres Strebens frei: einmal die Unterscheidung nach dem Schema von Mittel und Zweck (wir wollen etwas um eines anderen willen; wir wollen etwas, teils um seiner selbst, teils um eines anderen willen; wir wollen etwas allein um seiner selbst willen); zum anderen die Unterscheidung nach dem Schema von Teil und Ganzem (Gegenstand unseres Strebens ist ein Ziel, das sich aus mehreren Gütern, Zuständen, Handlungen etc. zusammensetzt); schließlich die Unterscheidung nach dem Schema der Rangordnung (unter verschiedenen Zwecken bevorzugen wir einige vor anderen), welches uns zusammen mit den anderen die Idee einer Hierarchie oder eines Ordnungszusammenhangs innerhalb der Pluralität der Werte nahelegt. Die Stärke des Utilitarismus und seine weite Verbreitung beruhen auf der einsichtigen Verbindung des rationalen Prinzips der Nützlichkeit mit empirischen Erkenntnissen über die Folgen von Handlungen und deren Bedeutung für das Wohlergehen der von ihnen Betroffenen, auch auf der weitgehenden Übereinstimmung der abgeleiteten ethischen Pflichten mit den gewöhnlichen moralischen Überzeugungen; seine Schwäche dagegen auf der mangelnden, theoretischen Begründung des Nützlichkeitsprinzips und der unzureichenden Antwort auf das Gerechtigkeitsproblem. Wenn das menschliche Glück, so muß man fragen, in so unterschiedlichen Zielen wie Reichtum, Macht, Ruhm, Freundschaft, Liebe, Wissen, Kunst, Meditation (Gemeinschaft mit dem Göttlichen) gesucht und gefunden wurde, wenn es also nicht die Spitze einer Hierarchie von Zwecken, sondern der Inbegriff der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche ist, kann es dann der Bezugspunkt von Gerechtigkeitsprinzipien bei der Verteilung gesellschaftlicher Grundgüter sein? Geht es in einer gerechten Gesellschaftsordnung um die Verteilung von Glücks- oder um die Verteilung von Freiheitschancen? Was leistet der Glücksbegriff für die Legitimation von Recht und Staat angesichts einer extensiven Kritik an politischen Institutionen im Lichte der Utopien von Herrschaftsfreiheit? Gerechtigkeit als rechtsphilosophischer und ethischer Grundbegriff in seiner objektiven, institutionellen, politisch-sozialen Bedeutung ist das oberste, normative Prinzip einer Gesellschaft, die das Zusammenleben ihrer Mitglieder trotz aller wirtschaftlichen und geistigen Gegensätze kooperativ zum Wohle aller gestalten will. Als Ideal ist sie das primäre Kriterium für die Beurteilung sowohl der politischen und rechtlichen Institutionen (Gesetzgebung, Rechtsprechung, vollziehende Gewalt) als auch aller individuellen Handlungen in den informell geregelten Bereichen wie etwa Familie und Nachbarschaft. Ihren Kern bilden nach unseren heutigen Vorstellungen die Ideen der unantastbaren Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Wie aber werden diese Ideen in der Praxis umgesetzt, wie werden Recht und Staat aus ihnen sittlich gerechtfertigt? Ist es überhaupt legitim, menschliches Zusammenleben rechtlichen Regelungen zu unterwerfen, sind Recht und Staat der Idee nach nicht vielmehr nur vorübergehender Natur und langfristig zum Absterben verurteilt? Die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft, in der die individuellen und

16

Einleitung

kollektiven Interessen ohne Freiheitseinschränkungen durch Staat und Recht zu einem geordneten Ganzen zusammenstimmen, wird vom Utilitarismus (und von vielen Anhängern im Rechtsbereich) zu leicht genommen; jedenfalls sind menschliches Glück und die Erfüllung von Bedürfnissen und Interessen als Bezugspunkt der Gerechtigkeitsprinzipien kein geeigneter Ansatzpunkt, um eine Rechts- und Staatsordnung philosophisch zu legitimieren. Obwohl man die große Bedeutung des Bedürfnis- und Kooperationsgesichtspunktes für die Rechtfertigung staatlicher Institutionen bis in die Antike zurückverfolgen kann, ist es bis heute zweifelhaft geblieben, ob sich aus dieser Modellvorstellung mehr als eine differenzierte Gesellschaft begründen läßt. A u f der Fundamentalebene der Gerechtigkeit, der Ebene der philosophischen Legitimation von Recht und Staat, gebührt als Bezugspunkt der Gerechtigkeitsideen den Begriffen Freiheit und Konflikt gegenüber dem des Glücks offenbar der Vorrang; ob es für Freiheit allerdings eine Möglichkeit letzter Begründung gibt, welche die Herstellung eines Modells und eines Ableitungszusammenhanges zuläßt, wird sich erst zeigen müssen. Legitimationsfragen sind normativer Natur und ohne normative Prämissen letztlich nicht zu beantworten. I m Zeichen einer Tendenz zum Naturalismus und zur Deskription neigen moderne Institutionstheorien dazu, die unverzichtbaren normativen Elemente in formalen Zielen zu verbergen, die wie etwa der Gedanke der Selbsterhaltung scheinbar als problemlos gelten. Mindestens im Bereich des Humanen differenziert sich jedoch der Zweck der Selbsterhaltung in diejenigen eines bloßen Überlebens und eines lebenswerten Lebens, d.h. in Zielsetzungen, die durchaus einander widerstreiten können und von denen weder im einen noch im anderen Fall vermutet werden kann, individuelle und kollektive Interessen würden jemals übereinstimmen. Aus beiden Gründen kommen reflektierte Institutionstheorien ohne den Versuch einer ethischen Grundlegung für ihre normativen Prämissen nicht länger aus, oder, im Hinblick auf den Ausgangspunkt formuliert, die Rechtfertigung von Staat und Recht, um die sich der Gerechtigkeitsdiskurs in den letzten Jahren erweitert hat, stellt nicht nur ein institutionstheoretisches, sondern ebenso ein ethisches Problem dar. 3. Gesetz und überpositives Recht Auf der verfassungsrechtlichen Ebene zeigt ein Blick auf die ungelösten Interpretationsprobleme, die Art. 20 I I I G G mit der Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht" aufwirft, die Relevanz ethischer Gerechtigkeitsteleologie, sofern man die beiden Begriffe nicht bloß tautologisch, sondern als Ausdruck eines Spannungsverhältnisses begreift, wie es bekanntlich das BVerfG und die überwiegende Meinung im verfassungsrechtlichen Schrifttum tun 1 . Versteht man unter „Gesetz" alle Rechtsvorschriften im 1 Vgl. Herzog in: Maunz/Dürig/Herzog: Grundgesetz. Komm. Art. 20. Abschn. V I Rdnr. 53 f,; Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. I. 2. Aufl. München 1984. § 20 IV a m. weit. Nachw.

Einleitung

formellen und materiellen Sinn, d.h. jede abstrakt-generell gefaßte Rechtsnorm, unabhängig davon, ob sie in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen worden ist oder nicht, dann dürfte mit dem Begriff „Recht" schwerlich bloß ein Hinweis auf das ungeschriebene Gewohnheitsrecht gemeint sein. Das Grundgesetz gibt schon in Art. 1 I I GG mit dem Bekenntnis zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder rechtlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" zu erkennen, daß ihm der Gedanke: „Recht geht vor Gesetz!" nicht fremd ist. Durch die Formel „Gesetz und Recht" dokumentiert der Verfassungsgeber seine Absage an einen Begriff von Rechtsstaatlichkeit, für dessen Gewährleistung es genügt, wenn überhaupt Gesetze vorhanden sind, und erinnert an die Erfahrung, daß beide Begriffe sich widersprechen können 2 . Er bekundet damit ein Rechtsstaatsverständnis höherer Ordnung, in dem das Gesetz nicht von vornherein mit Recht identifiziert wird, weil ein Auseinanderklaffen von Form und Inhalt jedenfalls nicht denkunmöglich ist 3 . Bedeutet „Recht" demnach nicht nur verfahrensmäßig gesetztes oder sonst auf irgendeine Weise sozial wirksames Recht, sondern zugleich einen Hinweis auf eine der menschlichen Vereinbarung und Setzung vorausliegende Gesetzmäßigkeit, so stellt sich die Frage nach Begriff und Begründung dieser vorpositiven Ordnung, die in der philosophischen Tradition seit alters als „Natur" angesprochen wird. Mindestens drei, heute noch relevante Richtungen eines Naturrechtsverständnisses lassen sich ausmachen: Die älteste Konzeption versteht unter Natur eine sinnvolle Weltordnung (Kosmos), in der sich die göttliche Schöpfungsabsicht verbindlich dokumentiert und die als zweckgerichtetes Ordnungsgefüge auch das menschliche Zusammenleben und Handeln in normativer Weise präformiert. Alle menschlichen Regeln, gleichgültig ob sie sich ausdrücklicher Vereinbarung, willkürlichem Erlaß oder naturwüchsiger Tradition verdanken, werden durch das natürliche Recht als sinngemäße Entsprechungen oder konkretisierende und spezifizierende Fortsetzungen entweder gerechtfertigt oder als Abweichung und Fehlleistung diskreditiert. Seit den Anfangen der griechischen Philosophie, besonders aber bei Piaton und Aristoteles, in Stoa, Neuplatonismus und mittelalterlicher, christlicher Scholastik gilt, bei aller Unterschiedlichkeit der Darstellung in Einzelfragen, Natur stets als der Inbegriff einer hierarchisch gestuften, sinnhaften, von Zwecken gesteuerten Ordnung (Kosmos, Schöpfung), in der jedem Seienden, auch dem Menschen, gemäß seinem Wesen der ihm gemäße Platz zugewiesen ist. Durch Bewußtsein und Freiheit vermittelte, menschliche Existenz kann und soll in vernünftiger Einsicht in natürliche Ordnungsprinzipien und zwecktätige Entwicklungsformen ihre aus vorgegebenen Anlagen erkennbare, je eigene Aufgabe übernehmen und ihr Wesen selbsttätig vollenden. 2

Stern aaO. Entsprechend sieht das BVerfG (E 3,225,232) auch den ursprünglichen Verfassungsgeber „der Gefahr, jene äußersten Grenzen der Gerechtigkeit zu überschreiten, nicht denknotwendig entrückt." 3

2 Mittenzwei

18

Einleitung

Die im 17. Jahrhundert aufkommende, alsbald die Oberhand gewinnende, neuzeitlich-rationalistische Konzeption des Naturrechts betrachtet als Grundlage der praktischen Philosophie (Ethik, Sozial-, Rechts- und Staatsphilosophie) das nach dem Vorbild von Physik und Geometrie gewonnene Wissen um die Natur des Menschen, als dessen Grundtendenz das Streben nach Selbsterhaltung analytisch ermittelt wird. Recht wird nicht mehr aus einer naturhaftzweckvoll vorgegebenen Gemeinschaftsordnung begriffen, sondern mit Hilfe eines resolutiv (induktiv)-kompositiven (deduktiven) Verfahrens rational konstruiert. Mittels der induktiven Methode werden letzte Prinzipien höchster Gewißheit aufgesucht, aus denen dann als vorgegebenen Prämissen der Natur (der Mensch als gesellig-ungeselliges, auf Selbsterhaltung erpichtes Bedürfnisund Triebwesen, die begrenzten Mittel der Befriedigung, die vernünftigen Rechte aller Individuen) mit Hilfe der deduktiven Methode der gesamte Umfang rechtlicher Erfahrung systematisch erschlossen und begründet wird. Aus der Verbindlichkeit objektiv erkennbarer Natur wird eine Verbindlichkeit intersubjektiver Vernunft, die dort eine Preisgabe bzw. Kontrolle vorgefundener, naturhafter Zustände verlangt, wo deren Mechanik gerade nicht vernünftige Ordnung garantiert, sondern wegen der fehlenden sozialen Instinkte des Menschen einen Zustand der Aggressivität und Destruktion hervorruft. Naturrecht wird damit zum Inbegriff aller Verhaltensnormen, die eine schlußfolgernde Vernunft (recta ratio) im Blick auf die Natur und die historische Situation des Menschen in der Welt zur Errichtung des primum bonum optimaler Selbsterhaltung als notwendig erkennt. In der Bestimmung der vernunftrechtlich zu sichernden Ansprüche bleibt das neuzeitlich-rationalistische Naturrecht indessen einem schillernden Naturalismus verhaftet, der die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten und wissenschaftstheoretischen Einwände ebensowenig meistert wie die bekämpfte, ältere Konzeption. Die dritte, unterscheidbare, naturrechtliche Strömung entwickelt sich zunächst als Opposition gegen ein angeblich empirisch-analytisch begründetes Menschenbild, das neben einem ambivalenten Verstand nur egoistische Triebe, Bedürfnisse und Affekte als anthropologisch gesichert und damit naturhaft vorgegeben anerkennt. Ihr Grundanliegen ist zunächst die Bestimmung eines inneren, von der Sphäre des Gesellschaftlichen und Staatlichen unabhängigen Prinzips durch Aufweis einer natürlichen, inneren Anlage des Menschen zur Einsicht in und Anerkennung von ethischen Grundsätzen, welche eine vernünftige Harmonie von Selbstinteresse und Gemeinschaftssinn (Nächstenliebe) zum Inhalt hat und als geistige Disposition von dem animalischen Streben nach Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung zu unterscheiden ist. Die damit eingeleitete Trennung der auf die innere Konstitution der menschlichen Natur gegründeten Ethik von dem durch äußere Bedingungen bestimmten Naturrecht wird in der praktischen Philosophie Kants ansatzweise dadurch überwunden, daß die Recht und Tugend umfassende Sittenlehre insgesamt statt auf die natürliche Veranlagung des Menschen auf das Prinzip der Selbstbestimmung eines vernünftigen Wesens in Freiheit gestützt wird. Den bei ihm noch

Einleitung

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unvermittelt zurückbleibenden Dualismus von intelligibler Freiheit und empirischer Natur bzw. von Moralität und Legalität hebt Hegel später im Gedanken einer politisch-institutionell gewordenen Sittlichkeit auf. Naturrecht in diesem neuen Sinne ist der Inbegriff aller Rechte und Pflichten, die sich aus dem Begriff eines freien Vernunftwesens ergeben, das zu anderen freien Personen in ein Verhältnis der Interaktion tritt. Prinzip und Maßstab allen positiven Rechts ist damit nicht mehr die „lex naturalis" als ein Gesetz naturhaft vorgegebener, erkennbarer Zwecke, sondern die vernünftige Freiheit aller und ihr empirisches Korrelat miteinander vereinbarer Handlungswillkür. Solange zwischen den eben skizzierten, konkurrierenden Naturrechtsauffassungen weder ein allseits akzeptiertes Einverständnis über grundlegende Probleme der Bestimmung des Menschen als Selbstzweck und Glied eines Ganzen erzielt noch ein theoretisch befriedigendes Verhältnis zueinander gefunden worden ist, mag man Bedenken tragen, unter „Recht" in Art. 20 I I I G G einfach Naturrecht und unter „Gesetz" positives Recht zu verstehen. Zumindest muß aber gefragt werden, ob der Ausdruck „Recht" in der oben genannten Formel im Sinne eines positivistischen, d.h. wegen behaupteter Unbegründbarkeit der Ethik wertungsfreien, oder eines an der Gerechtigkeitsidee orientierten, ethisch bestimmten Begriffs des positiven Rechts auszulegen ist 4 . Es geht mit anderen Worten auch um die These des juristischen Positivismus, daß der Rechtsbegriff zwar Gesetzheit und/oder soziale Wirksamkeit, nicht aber eine Orientierung der Normen an der Rechtsidee, d.h. materiale Richtigkeit, erfordere, weil zwischen Recht und Ethik, bzw. positivem Recht und Gerechtigkeit kein notwendiger Zusammenhang bestehe. Ob diese These widerlegt werden kann, hängt davon ab, inwieweit es gelingt, eine gültige Struktur objektiver Zwecke einsichtig zu machen und dem Begriff des positiven Rechts eine auf Gerechtigkeit zielende Klausel hinzuzufügen. In der gegenwärtigen rechtstheoretischen Diskussion spielen im Hinblick auf eine solche Gerechtigkeitsklausel zwei Beweisführungen eine herausragende Rolle: Die erste, auf der Erfahrung des Totalitarismus beruhende, macht geltend, daß es förmlich erlassene Rechtsvorschriften und Normensysteme geben kann, die in einem solchen Maße gegen die Rechtsidee verstoßen, daß ihnen Rechtscharakter und -geltung abgesprochen werden muß 5 . Die zweite, auf die Unterscheidung von Rechtsnorm und Rechtsprinzip gestützte Argumentation fußt auf der Einsicht, daß allen entwickelten Rechtsordnungen Rechtsprinzipien innewohnen, die kraft ihrer philosophisch begründbaren Geltung und ihres strukturbildenden Charakters nach einem ständig zu überdenkenden Ausgleich zwischen positivem Recht und aus der Rechtsidee abgeleiteten Sollensanforderungen verlangen 6. Beide Argumentationsweisen haben in der 4 Vgl. etwa Dreier: Recht — Moral — Ideologie. Studien zur Rechtstheorie. Frankfurt/M. 1981. S.180fT. 5 Vgl. Radbruch: Rechtsphilosophie. 8. Aufl. Stuttgart 1973. S. 339ff., 345f.; Herzog aaO. Rdnr. 53; Stern aaO. S. 799; BVerfGE 3, 225, 233.

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Rechtsprechung des BVerfG ihren Niederschlag gefunden, die erste ausdrücklich, die zweite der Sache nach in der vom BVerfG entwickelten Wertordnungstheorie, in welcher das behauptete Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Recht in der Normalsituation des Rechtsstaats exemplarisch seinen Ausdruck findet. 4. Die wertgebundene Ordnung des Grundgesetzes Gemäß dieser zum Teil heftig kritisierten Theorie hat der Verfassungsgeber mit dem Grundgesetz auch eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die sich über die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entfaltet und sowohl bei der Auslegung des Grundgesetzes selbst als auch bei der Anwendung aller übrigen nachrangigen Rechtsvorschriften zu beachten ist 7 . Grundrechtsnormen haben danach einerseits die Aufgabe, gegenüber der Staatsgewalt bestimmte Rechte der Bürger festzulegen, andererseits den Sinn, für alle Bereiche des Rechts entscheidungsleitende Wertgesichtspunkte zur Verfügung zu stellen. Die Ausstrahlung des Grundgesetzes manifestiert sich nach Auffassung des BVerfG in der Wechselwirkung zwischen Grundrechten und grundrechtsbeschränkenden Gesetzen, die jeweils im Lichte der ersteren zu interpretieren sind, und in der nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorzunehmenden Güterabwägung zwischen allen grundgesetzlich geschützten Individual- und Gemeinschaftswerten. Neuerdings hat das BVerfG im Rahmen einer Entscheidung zum Kriegsdienstverweigerungsrecht auch bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften (Art. 73 Nr. 1, 87 a GG), Organisationsregeln (Art. 115b GG) und bloßen Ermächtigungsnormen (Art. 12 a GG) den in Rede stehenden Doppelcharakter zugesprochen und in ihnen eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung (für eine wirksame, militärische Landesverteidigung) mit eigenem, normativen Gehalt gefunden, um eine Abwägung zwischen individuellen Schutzansprüchen und Gemeinschaftsgütern mit daraus abgeleiteten, gleichrangigen Grundpflichten vornehmen zu können 8 . Die wichtigste Konsequenz eines solchen Verfassungsverständnisses ist, wie oft kritisch bemerkt wurde, eine grundsätzliche Wandlungsbereitschaft der gesamten Rechtsordnung. Ein solches „offenes System" erzeugt ein grundsätzliches Spannungsverhältnis innerhalb des Grundgesetzes sowie zwischen diesem und nachrangigem Recht: Jedes Gesetz in seiner abstrakten Geltung steht nicht nur, was sich allein schon aus der Rangordnung der Normen ergibt, unter dem Vorbehalt seiner formellen und materiellen Verfassungsmäßigkeit, sondern muß auch in seiner täglichen Anwendung in der gerichtlichen Praxis im Lichte der grundgesetzlichen Wertordnung gesehen werden. Die damit aufgeworfenen 6 Vgl. etwa Dworkin : Bürgerrechte ernstgenommen. Frankfurt/M. 1984. Insbes. Kap. 2, 4; Alexy: Theorie der Grundrechte. Baden-Baden 1985. S. 71 ff. 7 Vgl. etwa BVerfGE 2, Iff. (KPD-Urteil); 6, 32ff. (Elfes-Urteil); 7, 198ff. (LüthUrteil). 8 BVerfG NJW 1985, 1519ff.

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Fragen gehen weit über das hinaus, was herkömmlicherweise in der zivilrechtlichen Methodenliteratur behandelt wird, und sind durch die Kollision von verfassungsrechtlich verankerten Werten und Prinzipien (Freiheit — Gleichheit; Würdeschutz — Staatsschutz; Persönlichkeitsrechte — Pressefreiheit u.ä.) und die unauflösbaren Spannungen zwischen der Ebene der Werte (Zweckpräferenzen) bzw. Prinzipien und der Regelebene des Verfassungsrechts und den nachgeordneten Rechtsschichten nur andeutungsweise umrissen. Gerade das Verhältnis von objektiven Zwecken, Zielbestimmungen, Werten und Prinzipien auf der einen Seite und Rechtssätzen der Verfassung oder nachgeordneten Regelungsebenen auf der anderen Seite ist weitgehend unerforscht. Versteht man unter Rechtsnormen Regeln, bei denen die Erfüllung eines genau umschriebenen Tatbestandes die Auslösung einer bestimmten Rechtsfolge nach sich zieht, und unter Zwecken Maximen, welche die Verfolgung eines Zieles zur Pflicht machen, so ist Zwecken (Zielen), Werten (Zweckpräferenzen) und Prinzipien (ersten Zwecken) das Gebot, einen Gehalt zu optimieren, gemein; letzteres kann nicht unmittelbar in Praxis umgesetzt werden und ist deshalb zur Rechtsanwendung im traditionellen Sinne ungeeignet. Unter diesem Aspekt läßt sich der vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung herausgearbeitete Doppelcharakter der Grundrechte als die doppelte Zuordnung sowohl eines Zweckes als auch einer subsumtionsfahigen Regel zu ein und derselben Verfassungsnorm verstehen; die gesamte Rechtsprechung des BVerfG zu den Grundrechten von ihren ersten Anfangen bis zur Gegenwart würde unter diesem Blickwinkel einen Prozeß dokumentieren, in dem durch Güterabwägung und Festsetzung relationaler Abhängigkeiten in einem System der Über- und Unterordnung konkurrierende Zwecke allmählich in juristisch handhabbare Regeln überführt worden sind 9 . Vergegenwärtigt man sich, daß das Grundgesetz nach dem Willen des Verfassungsgebers, was die anzustrebenden Zwecke betrifft, voll an die Rechtsstaatstheorie des 18. und 19. Jahrhunderts und ihre vernunftmäßig begründeten, materialen Prinzipien (erweitert um das Sozialstaatsprinzip) und Verfahrensgrundsätze anschließt, so leuchtet ein, daß die Grundrechtsnormen einen überschießenden Gehalt haben, der als ein idealer (etwa im Sinne der Prinzipien der Menschenwürde, der Freiheit und Gleichheit, der Demokratie, der Rechtsund Sozialstaatlichkeit) unter den jeweils bestehenden historischen Bedingungen immer bloß annäherungsweise verwirklicht werden kann. Die daraus resultierende Unruhe und Dynamik läßt sich nur dann ohne Schaden für die Rechtssicherheit und ohne ideologische Überforderung der drei Staatsgewalten steuern, wenn es gelingt, die Zweckzusammenhänge faßbarer und die Umsetzung in positive Vorschriften rational nachvollziehbar zu machen. Im Rückblick auf Art. 20 I I I GG kann man also mit gutem Grund die These vertreten, daß der Begriff „Recht" nicht allein subsumtionsfahige, materielle Rechtsnormen, sondern als Ergänzung des Gesetzesbegriffes darüber hinaus auch nicht 9

Ähnlich Alexy aaO.

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subsumtionsfahige Maximen umfaßt, die aus einem vorgegebenen, als Ganzes nicht vollkommen begriffenen Zweckzusammenhang unter Berücksichtigung der geschichtlichen Gegebenheiten immer erst noch zeitgemäß in einer für Juristen brauchbaren Weise herausgearbeitet werden müssen. 5. Systematische und historische Betrachtung des Gegenstandes als Einheit eines theoretischen Rahmenwerkes Wer mit „Naturrecht" keinen subsumtionsfahigen Normenkomplex meint, sondern einen geschichtlichen Prozeß dialektischer Rechtfertigung positiven Rechts im Lichte der Rechtsidee und mit „Dialektik" die Verwirklichung des Naturrechts im Fortgang geschichtlicher Erfahrungserweiterung 10, der wird sich bei der Betrachtung seines Gegenstandes mit dem theoretischen, d.h. logisch-systematischen Aspekt nicht zufrieden geben und ihn auch historisch verstehen wollen. Generalisierende, abstrahierende, von vernünftigen Prinzipien geleitete, strukturelle Aussagen über Erscheinungen der Welt und des Geistes lassen sich nur machen, wenn man das Moment der Zeit, das wegen unserer kategorialen Erfassung der Realität allen wirklichen Gegenständen anhaftet, für eine Weile ausschaltet. Systematische Betrachtung des Gegenstandes fördert zeitlose Bedingungszusammenhänge, statische Strukturen zu Tage, erklärt, Gesetzmäßigkeiten aufzeigend, das Einzelne funktional aus dem Ganzen, verfolgt, indem es erdachte Maßstäbe von außen an die Dinge anlegt, analysiert und synthetisiert, ein auf den Ist-Zustand gerichtetes Ziel. Erkenntnis systematischer Zusammenhänge, auf der Vorstellung eines mit Tiefendimension ausgestatteten Ganzen gegründetes Strukturwissen ist vorderhand das, was von vielen allein als wissenschaftliche Erkenntnis betrachtet wird, weil nur auf diese Weise das stets sich Gleichbleibende, das Unwandelbare, in einem sehr alten Sinn des Wortes „Wahre" des Seins erfaßt werden könne. Systematische Erkenntnis wird allerdings erkauft durch eine künstliche Vereinseitigung des Denkens, durch eine Verkürzung des perspektivischen Blickwinkels, vor allem durch Absonderung von den Problemen der Praxis, welche nun einmal vom Zeitmoment, von der Tatsache des Werdens und Vergehens, des fortwährenden Wandels, nicht abzusehen vermag. Zumindest dem Geisteswissenschaftler stellt sich die Aufgabe, seinen Gegenstand immer zugleich einer historisch-verstehenden Betrachtung zu unterziehen. Die historisch-genetische Untersuchung des Gegenstandes verfolgt dabei das Ziel, die allmähliche Entfaltung des Rechts durch einen geeigneten historischen Bezugsrahmen so zu erschließen, daß eine einleuchtende Stoffauswahl, eine angemessene Periodisierung und tunlichst strukturelle Vergleiche möglich werden. Die Einführung eines hypothetischen Bezugsrahmens bannt die Gefahr der Wiedererweckung beliebiger, historischer Bildungen und den ermüdenden Eindruck einer zur bloßen Stoffhuberei ausartenden Tatsachenforschung, 10

Vgl. Kriele: Legitimationsprobleme der Bundesrepublik. München 1977. S. 26f.

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welche sich nicht scheut, die ganze Fülle geschichtlicher Fakten und die weder Grenzen noch Gestalt erkennen lassende Breite historischer Ereignisse zu thematisieren. Kann der gewählte, hypothetische Bezugsrahmen Kriterien zur Auswahl des Untersuchenswerten, überzeugende Annahmen zur Verknüpfung der erörterten Vorgänge, Hinweise zur angemessenen Periodisierung und begriffliche Instrumente für synchrone und diachrone Vergleiche liefern, ohne speziellere Theorien und Erklärungsmuster auszuschließen, dann erscheint es sinnvoll, systematische und historische Betrachtung eines Gegenstandes zu verflechten, eine Auffassung übrigens, die gerade in Deutschland in der Nachfolge Hegels auf philosophischem und v. Savignys auf rechtlichem Gebiet eine eindrucksvolle Tradition besitzt. Hegel stellt bekanntlich das für seine Theorie der Geschichte der Philosophie zentrale Prinzip auf, „daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee" 1 1 . Hierbei setzt er systematisch die Kategorienfolge in seiner Geisteslogik als gültig voraus und konzipiert die Dialektik in einer Weise, daß man mit ihr als Begriffsbewegung mittels Setzung, Widerspruch und bestimmter Negation logische und historische Prozesse einheitlich zu begreifen vermag. Ist die These richtig, für Hegel sei die Geschichte der Philosophie das innere Gesetz der Geschichte überhaupt 12 , dann entspricht es durchaus seinem Geschichtsverständnis, wenn man die Geschichte der Rechtswissenschaft, die eine Geschichte der Versuche, positives Recht zu legitimieren, ist, unter Aufnahme moderner, wissenschaftstheoretischer Begriffe als eine Abfolge forschungsleitender Paradigmen schildert, die bei allem Widerstreit untereinander durchweg eine gewisse Geltung bewahrt haben, weil sie, gleichermaßen an der einen Idee orientiert, philosophisch bedingt unter verschiedenen hypothetischen Voraussetzungen verschiedene Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffs freilegen konnten. Die aus der nachträglichen Analyse rechtsanwendender, juristischer Entscheidungsprozesse und ihrer Ergebnisse erwachsene, in jahrhundertelanger Zusammenarbeit von Rechtspraxis und praktischer Rechtswissenschaft für die einzelnen Gebiete des geltenden Rechts entwickelte, juristische Methodenlehre weist der teleologischen Interpretation von Rechtssätzen heutzutage den ersten Rang zu, wohl wissend, daß es mit der von Rudolf v. Ihering ursprünglich ins Auge gefaßten, empirischen Ermittlung von Rechtszwecken nicht getan ist, vielmehr als Richtpunkt der Urteilskraft, welche konkrete Fälle richtig einschätzen soll, die Idee eines nie eindeutig bestimmbaren Ganzen des Rechts und einer dahinter stehenden, sittlichen Ordnung festgehalten werden muß. Alle Anläufe, welche 11

Hegel: Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Hrsg. v. J. Hoffmeister. 3.Aufl. (v. Nicolin). Nachdr. Hamburg 1966. S. 34. Zu den vielfaltigen Interpretationen und Kritiken dieses Prinzips vgl. Düsing: Hegel und die Geschichte der Philosophie. Darmstadt 1983. S. 7fif. 12 Vgl. Kimmerle: Das Verhältnis von Geschichte und Philosophie im Denken Hegels. In: ders.: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Bonn 1970 (Hegel-Studien, Beih. 8). S. 301 ff.

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bisher unternommen wurden, seien es nun historische, logisch-konstruktive oder werttheoretische, um die angedeutete, vielschichtige Problematik aufzulösen, haben immer nur Teilaspekte des Ganzen ans Licht gefördert, so daß auch der Verfasser mit Robert Musil nur hoffen kann, daß sich die Wahrheit als ein großer Sack erweist, der mit jeder neuen Meinung, welche man in ihn hineinstopft, seine Form verändert, am Ende aber doch immer voller und fester wird.

1. T e i l

Methodologische und werttheoretische Bedingungen eines teleologischen Rechtsverständnisses A. Entwurf eines rechtsphilosophischen Bezugsrahmens I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon 1. Kants Wissenschaftsbegriff

und Erkenntnislehre

Es gehört zu den grundlegenden, wissenschaftstheoretischen Einsichten der letzten zweihundert Jahre Wissenschaftsgeschichte, daß alle Fachwissenschaften ihre eigenen, wissenschaftlichen Ziele verfolgen und deshalb nicht eigentlich durch ihre „objektiven" Gegenstände, sondern durch eben diese Forschungsziele und das System ihrer Bedingungen bestimmt werden. Die Welt als Gegenstand allen wissenschaftlichen Bemühens gibt keine Auskunft darüber, unter welchen Gesichtspunkten sie, wenn sie schon wissenschaftlich untersucht werden soll, methodisch zu prüfen ist: ob unter physikalischen oder chemischen, unter biologischen oder historischen, oder aber auch unter ganz anderen, nämlich unter praktischen Gesichtspunkten: wirtschaftlichen, politischen oder rechtlichen. Ziel wissenschaftlichen Forschens kann demnach jeder Gegenstand sein, über den man mit anderen sprechen kann; allerdings scheint Wissenschaft im Unterschied zu anderen geistigen Tätigkeiten nicht nach intersubjektiver Verständigung über einen Gegenstand, sondern nach Erkenntnis seines Wesens zu streben. Wissenschaft ist, wie Kant es formuliert hat, ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes (System) von Aussagen über Gegenstände, das der Erkenntnis dienen soll 1 . Die hinter dieser Wissenschaftsauffassung verborgene, erkenntnistheoretische Problematik, die uns in ihrer verwirrenden Vielschichtigkeit im Verlauf der gesamten Untersuchung unter verschiedenen Aspekten immer wieder begegnen und beschäftigen wird, sei hier insoweit aufgezeigt, als dies für das Verständnis der eingangs aufgestellten These und den Gang der Untersuchung erforderlich erscheint. Alle Wirklichkeit von Welt, auf deren vernunftgemäße Aufhellung und verstandesmäßige Beherrschung sich wissenschaftliches Denken richtet, wird von uns, vereinzelt in unzählige, „objektiv (vor-) gegebene" Gegenstände, nur 1 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. R. Schmidt. Hamburg 1956. Β 860 ff.; Bochënski : Die zeitgenössischen Denkmethoden. 4. Aufl. München/ Bern 1969. S. 18 f.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

vermittelt über unser Bewußtsein, das sie zu erfassen und zu beurteilen sucht, erfahren; die Grenze unseres Bewußtseins ist zugleich die Grenze unserer Wirklichkeitserfassung. Daraus leitet der materiale Idealismus als Folge ab, daß das reale Dasein der Gegenstände im Raum außer uns entweder zweifelhaft und unerweislich {Descartes) oder unmöglich sei (Berkeley). In seiner „Widerlegung des (materialen) Idealismus" versucht Kant 2 darzutun, daß wir von den äußeren Dingen nicht bloß eine Einbildung, sondern auch Erfahrung besitzen; andernfalls nämlich wäre Wissenschaft im Sinne wahrer Erkenntnis nicht möglich. Dabei wird er sich bewußt, daß die Realität der Welt, sofern sie sich in Erfahrungsurteilen ausspricht, nicht als eine unabhängig von den menschlichen Erkenntnisleistungen zugängliche Gegenstandswelt „an sich" (im positiven Sinne) begriffen werden kann: „Es sind aber zwei Bedingungen, unter denen allein die Erkenntnis eines Gegenstandes möglich ist, erstlich Anschauung, dadurch derselbe, aber nur als Erscheinung, gegeben wird; zweitens Begriff, dadurch ein Gegenstand gedacht wird, der dieser Anschauung entspricht..." 3 . Da Kant Anschauung und Begriff von der Transzendentalität des Subjekts her versteht, deren Funktion er in der transzendentalen Ästhetik und Logik darstellt, ergeben sich für seinen Realitäts- und Gegenstandsbegriff folgende Konsequenzen: Die apriorische Verflechtung von logischer (kategorischer) und ästhetischer (sinnlicher) Synthesis bringt es mit sich, daß ein jeder Gegenstand „unter der notwendigen Bedingung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung" steht 4 , womit für die wissenschaftliche Erkenntnis jeder der Anschauung nicht erscheinende (etwa metaphysische) Gegenstand unzugänglich wird. Andererseits faßt er aber die in der Kritik der reinen Vernunft analysierte Erkenntnis stets als „unsere" Erkenntnis auf, womit er das endliche vom absoluten Subjekt und, zugleich, die menschliche, endliche Gegenstandskonstitution von der absoluten intellektuellen Anschauung abhebt. I m Sinne dieser Differenz ist der „für uns" erkennbare Gegenstand, das Phänomen, die Erscheinung in der Synthesis von Anschauung und Begriff, nicht der „Gegenstand an sich selbst" 5 . Obwohl der Gegenstand an sich „für uns" unerkennbar bleibt, ist seine grenzbegriffliche Konzeption als „Noumenon, im negativen Verstände" legitim und notwendig, sofern er nur in negativer Bedeutung verstanden wird 6 . Anders gesagt: Erkenntnis im strengen, wissenschaftlichen Sinn gibt es für Kant nur von Gegenständen einer möglichen, sinnlichen Anschauung, wenn auch dabei immer vorausgesetzt wird, „daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens 2 3 4 5 6

Kant: Kant, Kant, Kant, Kant,

Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. 1787. Β 274 ff. aaO. Β 125. aaO. Β 197. aaO. Β 306. aaO. Β 308 f.

I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon

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müssen denken können". Andernfalls würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint 7. Kant zieht also aus der unbestreitbaren Tatsache, daß wir die Realität nur als Bewußtseinszustand unmittelbar erfahren, nicht den Schluß, daß es die reale Welt unabhängig von unserem Bewußtsein nicht gibt, sondern besteht im Gegenteil darauf, daß dies nicht nur eine logisch mögliche, sondern sogar eine logisch gebotene „Vorstellung" unseres Bewußtseins ist, sofern wir nur einräumen, daß die Gegenstände der vorgestellten Außenwelt unserem Bewußtsein nicht einfach vorgegeben, sondern durch die einheitsstiftenden, kategorialen und sprachlichen Leistungen unseres Verstandes aus der gegebenen Mannigfaltigkeit immer schon konstituiert sind 8 . Die Wirklichkeit der Forschungsgegenstände des Wissenschaftlers ist zwar die Wirklichkeit seines forschenden Bewußtseins (Erscheinung), aber das bloße, empirisch bestimmte Bewußtsein seines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände im Raum außer ihm 9 . Gegenstandsbewußtsein ist nicht lediglich eine Weise des Selbstbewußtseins, wie der materiale Idealismus vor Kant meinte, sondern eine Vorstellung von Wirklichkeit, die durch etwas außerhalb unseres Wissens Gelegenes „mitbedingt" ist und deshalb zu Recht Gegenstände außerhalb unseres Bewußtseins voraussetzt (sog. erkenntnis-kritischer Realismus).

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Kant, aaO. Β XXVI. Einen Gegenstand erkennen, heißt, in der Lage sein, seine Möglichkeit, sei es nach dem Zeugnis der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit oder a priori durch Vernunft, beweisen können. Denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d.h. mein Begriff muß ein möglicher Gedanke sein, ohne daß man sagen kann, ob diesem im Inbegriffe aller Möglichkeiten ein Objekt korrespondiert oder nicht. Um einem solchen Begriffe objektive Gültigkeit (reale Möglichkeit über die bloß logische hinaus) beizulegen, braucht es mehr. Dieses Mehr kann im Praktischen liegen. S. Kant aaO. (Anm.). 8 „ I n allem Wahrnehmen, d.h. ursprünglichsten Aneignen", sagt Nietzsche später CNietzsche: Umwertung aller Werte. Aus dem Nachlaß zusammengestellt u. hrsg. v. F. Würzbach. Bd. 2. München 1969. 3. Buch, Rdnr. 614), „ist das wesentliche Geschehen ein Handeln, strenger noch: ein Formen — Aufzwingen; von ,Eindrücken 4 reden nur die Oberflächlichen. Der Mensch lernt seine Kraft dabei als eine widerstrebende und mehr noch als eine bestimmende Kraft kennen — abweisend, auswählend, zurecht formend, in seine Schemata einreihend. Es ist etwas Aktives daran, daß wir einen Reiz überhaupt annehmen und daß wir ihn als solchen Reiz annehmen. Dieser Aktivität ist es zu eigen, nicht nur Formen, Rhythmen und Aufeinanderfolgen der Formen zu setzen, sondern auch das geschaffene Gebilde in bezug auf Einverleibung und Abweisung abzuschätzen." Diese Auffassung ist später durch die Wahrnehmungspsychologie bestätigt worden. Vgl. Helmholtz: Über die Natur der menschlichen Sinnesempfindungen. In: Wissenschaftliche Abhandlungen. Bd. 2.1883. S. 591 ff.; derselbe: Die Tatsachen der Sinneswahrnehmung. 1879. Nachdruck 1959. S. 19. Hier gilt es allerdings Apriorität und Subjektivität auseinanderzuhalten. Vgl. Schwertschlager: Kant und Helmholtz erkenntnistheoretisch verglichen. 1883. S. 47 f. 9

Kant: Kritik der reinen Vernunft, aaO. Β 275 (Lehrsatz).

Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

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2. Die Frage der Gegenstandskonstitution Die Kritik an der Position Kants entzündet sich einerseits an der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich (Problem der Realität: Idealismus—Realismus—-Materialismus), zum anderen an der Einschränkung wissenschaftlicher Erkenntnis auf die in der Anschauung erscheinenden Gegenstände, bzw. auf die transzendentalpilosophischen Bedingungen menschlicher Erkenntnis überhaupt (wie ist Erfahrung möglich?), was nicht nur den Wissenschaftsbegriff einengt (die Welt der rechtlichen und ethischen Normen, die uns besonders interessiert, wird wissenschaftlicher Bearbeitung unzugänglich), sondern wegen der Verknüpfung mit den beweisführenden Methoden der Naturwissenschaft (Beobachtung—Experiment, Induktion—Deduktion) auch den Begriff der Erfahrung selbst. Daß die Realität der Außenwelt unabhängig vom Bewußtsein bestehen und auf dieses einwirken, ja daß dieses Einwirken Selbstbewußtsein mitbedingen (oder, wie die Anhänger des Materialismus später behaupten werden, total bedingen) soll, wird von den idealistisch eingestellten Nachfolgern Kants mit Hilfe des Arguments in Frage gestellt, daß alle Bedingungen des Selbstbewußtseins ihrerseits durch das Bewußtsein vollzogen sind und damit in die Sphäre des Bewußtseins fallen. Es gebe, was schon Berkeley 10 zum Grundstein seiner Philosophie gemacht habe, durchaus kein Objekt ohne ein Subjekt, weil jenes immer nur in Beziehung auf dieses vorhanden sei, als von diesem abhängig, durch dieses bedingt und daher bloße Erscheinung, die nicht an sich, nicht unbedingt existiere. Damit seien alle Objekte dem Bewußtsein durch es selbst eingebildet, unabhängige Realität der Außenwelt also Ein-Bildung. In diesem Sinne resultiert etwa bei J.G. Fichte der Gegenstand aus der produktiven Einbildungskraft als Selbstbegrenzung des Ich: „Mein unmittelbares Bewußtsein ist zusammengesetzt aus zwei Bestandteilen, dem Bewußtsein meines Leidens, der Empfindung; und dem meines Tuns, in Erzeugung eines Gegenstandes nach dem Satze des Grundes; welches letztere an die erstere sich unmittelbar anschließt. Das Bewußtsein des Gegenstandes ist nur ein nicht dafür erkanntes Bewußtsein meiner Erzeugung einer Vorstellung vom Gegenstande. U m diese Erzeugung weiß ich schlechthin dadurch, daß ich es selbst bin, der da erzeugt. Und so ist alles Bewußtsein nur ein unmittelbares, ein Bewußtsein meiner selbst..." 11 . Ebenso kritisiert G. W.F. Hegel die Meinung, daß das Absolute auf einer Seite stehe und das Erkennen auf der anderen Seite für sich und getrennt vom Absoluten doch etwas Reelles sei 12 . Der vom Modus seiner Darstellung für das 10

Berkeley : A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge. Dublin 1710. Dtsch. v. Fr. Überweg. Hrsg. v. Α. Klemmt. Hamburg 1957. §§ 1-8. 11 Fichte: Die Bestimmung des Menschen. Hrsg. v. Th. Ballauff u. I. Klein. Ausgabe Reclam Stuttgart 1966, S. 71/72. Vgl. zum Verhältnis Kant-Fichte und dem Problem von Identität und Differenz: Radermacher: Fichtes Begriff des Absoluten. Frankfurt 1970.

I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon

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Bewußtsein, dem „Wissen", unterschiedene Gegenstand, das sog. „Wesen", sei selbst nur eine Konstruktion des Bewußtseins: „Untersuchen wir die Wahrheit des Wissens, so scheint es, wir untersuchen, was es an sich ist. Allein in dieser Untersuchung ist es unser Gegenstand, es istför uns; und das Ansich desselben, welches sich ergäbe, wäre so vielmehr sein Sein für uns; was wir als sein Wesen behaupten würden, (wäre) vielmehr nicht seine Wahrheit, sondern nur unser Wissen von ihm. Das Wesen oder der Maßstab fiele in uns, und dasjenige, was mit ihm verglichen, und über welches durch diese Vergleichung entschieden werden sollte, hätte ihn nicht notwendig anzuerkennen" 13 . Hegel zieht daraus die Konsequenz, daß jede Orientierung, die wir als Maßstab, als sog. „objektiven Gegenstand", an ein vorgebrachtes Wissen um die Realität anlegen können, nicht ein für allemal vorab verfügbar ist, sondern im Prozeß der Anwendung, der Prüfung unseres Wissens, neu und ggf. modifiziert erarbeitet wird: „ . . . Auf dieser Unterscheidung (Gegenstand an sich — Gegenstand für das Bewußtsein), welche vorhanden ist, beruht die Prüfung. Entspricht sich in dieser Vergleichung beides nicht, so scheint das Bewußtsein sein Wissen ändern zu müssen, um es dem Gegenstand gemäß zu machen, aber in der Veränderung des Wissens ändert sich ihm in der Tat auch der Gegenstand selbst; denn das vorhandene Wissen war wesentlich ein Wissen von dem Gegenstande; mit dem Wissen wird auch er ein anderer, denn er gehörte wesentlich diesem Wissen an. Es wird hiermit dem Bewußtsein, daß dasjenige, was ihm vorher das Ansich war, nicht an sich ist, oder daß es nur für es an sich war. Indem es also an seinem Gegenstande sein Wissen diesem nicht entsprechend findet, hält auch der Gegenstand selbst nicht aus; oder der Maßstab der Prüfung ändert sich, wenn dasjenige, dessen Maßstab er sein sollte, in der Prüfung nicht besteht; und die Prüfung ist nicht nur eine Prüfung des Wissens, sondern auch ihres Maßstabes" 14 . Im Anschluß daran formuliert Hegel, aristotelische und kantische Elemente aufgreifend, den Begriff der Erfahrung neu: „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen, als an seinem Gegenstande ausübt, in sofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt w i r d " 1 5 . 12

Hegel·. Phänomenologie des Geistes. 1807. Ausgabe Ullstein Frankfurt a.M. 1970, S.

56. 13

Hegel·. Phänomenologie des Geistes. aaO. S. 61. Hegel: Phänomenologie des Geistes. aaO. S. 62. Vgl. Gadamer : Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 2.Aufl. Tübingen 1965. S. 336 ff. 15 Hegel: Phänomenologie des Geistes. aaO. Einleitung S. 62/63. In der Sicht der modernen Naturwissenschaft heißt es dazu etwa bei Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik. Hamburg 1955. S. 18, es habe sich herausgestellt, „. . . daß wir die Bausteine der Materie, die ursprünglich als die letzte objektive Realität gedacht waren, überhaupt nicht mehr ,an sich' betrachten können, daß sie sich irgendeiner objektiven Festlegung in Raum und Zeit entziehen und daß wir im Grunde immer nur unsere Kenntnis dieser Teilchen zum Gegenstand der Wissenschaft machen können." (Hervorhebung von 14

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

Die Wirklichkeit hängt also vom Bewußtsein des transzendentalen (nicht empirischen) Subjekts ab, weil es außerhalb des Bewußtseins keine Wirklichkeit gibt; was dieses nicht erfaßt und unter eine Einheit zwingt, somit als Gegenstand konstituiert, ist nicht wirklich, weil Wirklichkeit immer bewußte Wirklichkeit ist. Die „Vorstellung" von einer realen, unabhängigen Welt an sich ist als „vollzogene" Vorstellung unseres Bewußtseins nicht hintergehbar und einer Beweisführung unzugänglich; denn der Grund der Erfahrung kann, wie Fichte geltend macht, nicht seinerseits etwas Erfahrbares sein, will man sich nicht in einen fehlerhaften Zirkel verstricken. Kant hat sowohl gegenüber dem Empirismus als auch gegenüber dem Rationalismus, deren Anhänger beide ihre Auffassung von Wirklichkeit auf eine Kritik der Sinneswahrnehmung gestützt haben, als erster ausdrücklich die Meinung vertreten, daß in der Diskussion erkenntnistheoretischer Fragen stets scharf zwischen einem Entstehungsproblem und einem Rechtfertigungsproblem zu unterscheiden ist. Nur das letztere, die „quaestio iuris", die auf eine Überprüfung der Legitimität von Erkenntnissen gerichtet ist, kann sinnvoll zum Gegenstand einer philosophischen Reflexion der Erkenntniskräfte gemacht werden. Die „quaestio facti" dagegen, die den Vorgang des Erkenntniserwerbs im Auge hat, ist für die transzendentale Fragestellung, die sich auf die apriorischen Bestandteile der Erfahrung bezieht, ohne Belang 16 . Obwohl sich aus dieser Unterscheidung eine klare Gegenstandsbestimmung für eine Psychologie der Erkenntnis ergibt, nämlich die einer Fachwissenschaft von den psychisch-physiologischen Vorgängen, die zum Erfahrungserwerb führen, haben sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die von Kant klar abgesteckten Bereiche einer philosophischen Erkenntnislehre, welche die Rechtmäßigkeit von Erfahrungsinhalten prüft, und einer fachwissenschaftlichen Psychologie der Erkenntnis wieder verwischt. Es ist deshalb notwendig, ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß diese immer wieder anzutreffende Vermengung der Problembereiche, etwa durch Fragen nach der Bedingtheit der Erkenntnis von Gegenständen durch empirisch-psychische Bewußtseinszustände (Klarheit oder Enge des Bewußtseins, Unterbewußtsein usw.), in die Irre führt; wer Bewußtsein als etwas Wirkliches unter Wirklichem betrachtet, anstatt als Vollzug von Wirklichem, gerät unweigerlich in einen unauflösbaren Kreisschluß.

mir.) Das Ziel der Forschung sei also nicht mehr die Erkenntnis der Atome und ihrer Bewegung ,an sich', d.h. abgelöst von unserer experimentellen Fragestellung; vielmehr stünden wir von Anfang an in der Mitte der Auseinandersetzung zwischen Natur und Mensch, so daß die landläufige Einteilung der Welt in Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt, Körper und Seele nicht mehr passen wolle und zu Schwierigkeiten führe: „Auch in der Naturwissenschaft ist also der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst." (Hervorhebung im Original.) Vgl. auch Queisser: Das fruchtbare Chaos. Die moderne Physik als Bindeglied zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. Vortrag gek. in FAZ v. 7.5.1982. 16

Kant: Kritik der reinen Vernunft. aaO. Β 116/117.

I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon

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„Realität", schreibt E. Husserl ein Jahrhundert nach Hegel, „sowohl Realität des einzeln genommenen Dinges als auch die Realität der ganzen Welt, entbehrt wesensmäßig in unserem strengen Sinne der Selbständigkeit. Sie ist nicht in sich etwas Absolutes und bindet sich sekundär an anderes, sondern sie ist im absoluten Sinne gar nichts, hat kein »absolutes Wesen'; sie hat die Wesenheit von etwas, das prinzipiell nur Intentionales, nur Bewußtes, Vorstelliges, Erscheinendes ist" 1 7 . Treten erkennendes Bewußtsein und Erkanntes immer nur in einer intentionalen Verklammerung auf, dann genießt in phänomenologischer Sicht das (empirische) Ich den Vorrang einer ursprünglichen, selbst nicht mehr hinterfragbaren, zentralen Instanz, und es kann nicht richtig sein, durch psychologische Deskription des Erkennens in Verlaufsanalysen von Bewußtseinsinhalten das (empirische) Ich erst aus dem Grundbestand desGegebenen herauszulösen und auf diese Weise beliebigen anderen Gegebenheiten nebenzuordnen 18. Man hat versucht, das erkenntnistheoretische Problem der Konstitution von Wirklichkeit als philosophisches „Scheinproblem" zu entlarven, indem man Aussagen, die grundsätzlich nicht durch ein „Erlebnis" fundiert werden können, als sinnlos verwarf 19 . Schon Avenarius, Mach und der Begründer des „Wiener Kreises", M. Schlick, umschrieben das Problem der Erkenntnis von Wirklichkeit nicht mehr durch die Frage nach der konstitutiven Bedeutung des Apriori, nach dem Verhältnis von subjektiver Gewißheit und objektiver Wahrheit, sondern beschränkten sich darauf, die methodischen Voraussetzungen einer exakten Phänomenbeschreibung und Phänomenerklärung zu diskutieren 20 . Carnap versuchte, ein Kriterium für empirische Signifikanz zu formulieren und Regeln einer empiristischen Wissenschaftssprache aufzustellen; alle nichtlogischen Begriffe sollten entweder durch Definition oder durch „definitionsähnliche Methoden" (sog. Reduktionssätze) auf die mit unmittelbarem, empirischen Inhalt versehenen Grundbegriffe zurückgeführt werden 21 . Inzwischen haben 17 Husserl. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Bd. I. 1914. S. 93 f. 18 Vgl. zur Kontroverse: Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt. 1874. II, 1, § 5 einerseits; Mach: Analyse der Empfindungen. 6.Aufl. 1911. Kap. 1; Ziehen: Psychophysiologische Erkenntnistheorie. 2.Aufl. 1907, andererseits; obwohl das Problem in diesem Sinne in der Psychologie heute kaum noch diskutiert wird, hat sich der Gegensatz Phänomenologie—Sensualismus in gewandelter Fragestellung durchaus erhalten. 19 Vgl. Carnap: Scheinprobleme in der Philosophie. 1928. S. 50. Der Ausdruck „durch ein Erlebnis fundiert" wird von Carnap wie folgt definiert: „Spricht eine Aussage ρ den Inhalt eines Erlebnisses E aus, und ist die Aussage q entweder gleich ρ oder aus ρ und früherem Erfahrungswissen durch Deduktionen oder induktive Schlüsse ableitbar, so sagen wir: q ist durch das Erlebnis E fundiert." 20 Avenarius: Kritik der reinen Erfahrung. 2.Aufl. 1907/08; Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen. 1866.6.Aufl. 1911; Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre. 2.Aufl. 1925. Zur Entwicklung dieser philosophischen Richtung vgl. Kraft: Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus. Wien 1950; Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie Bd.I. 3.Aufl. Stuttgart 1965. S. 346 ff.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

genauere Untersuchungen allerdings gezeigt, daß die theoretische Position des sog. „logischen Positivismus" auf einer Reihe unausgewiesener Voraussetzungen des Datenempirismus beruht (wie z.B. der Reduktion der Erkenntnispraxis auf ein atomisiertes Subjekt, der Sonderung zwischen gegebenen und konstruierten Faktoren der Erkenntnis u.a.) und daß dieser, dem Sinnlosigkeitsverdacht zum Trotz, gezwungen ist, selbst eine bestimmte Auffassung von Realität zu vertreten 22 . Wer unkritisch von invarianten „Tatsachen" (Beobachtungsdaten) ausgeht 23 , ohne zu bedenken, daß alle Tatsachen in Wahrheit „Tathandlungen" des erkennenden Subjekts sind (Fichte), setzt sich dem idealistischen Vorwurf aus, vor dem Anspruch kritischen Denkens zurückzuweichen und einem erkenntnistheoretischen Dogmatismus zu huldigen 24 ; dem tranzendentalen Charakter des Problems Wirklichkeit-Erfahrung ist eine empirische Erklärung unangemessen, solange die Bestimmung dessen, was Empirie eigentlich ist, noch aussteht; nicht ob es reale Gegenstände gibt, ist die Frage bei Kant und Hegel, sondern unter welchen Bedingungen die Existenz realer Gegenstände möglich ist 2 5 . Ist das Sich-Vollziehen des Bewußtseins eine Einheitsstiftung bezüglich der Mannigfaltigkeit der Welt, und liegt der subjektive Ort der Mannigfaltigkeit in der Empfindung, so ist das Problem zunächst gar nicht, ob bestimmte Objekte abhängig oder unabhängig vom Bewußtsein existieren, sondern ob jene die Gegenstandserkenntnis bedingende Einheitsleistung durch die Erkenntnis oder durch die Objekte zustande gebracht wird. Daß letzteres nicht der Fall sein kann, ergibt sich aus der Überlegung, daß ein außerhalb des Bewußtseins Liegendes, die Einheit Herstellendes, wiederum Gegenstand des Bewußtseins sein würde usw. Auf der Grundlage des methodischen Prinzips vom tunlichst zu vermeidenden, unendlichen Regreß, kann der Auffassung, die Einheit des gewußten Gegenstandes liege außerhalb des gewußten Wissens, kein Erklärungswert zugebilligt werden; was selbstverständlich nicht heißt, außerhalb 21 Zu den Einzelheiten vgl. Stegmüller. Theorie und Erfahrung. In: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. II. Berlin/ Heidelberg/ New York 1972. Kap. I I I und IV. 22

Vgl. die Kritik bei Kambartel: Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus. Frankfurt 1968; Schnädelbach: Erfahrung, Begründung und Reflexion. Versuch über den Positivismus. Frankfurt 1971. 23 Carnap : Scheinprobleme in der Philosophie. aaO. S.62: „ I n allen empirischen Fragen herrscht Einigkeit." Zur Invarianzthese vgl. Bohnen: Zur Kritik des modernen Empirismus. Beobachtungssprache, Beobachtungstatsachen und Theorien. In: Albert (Hrsg.): Theorie und Realität. 2.Aufl. Tübingen 1972. S. 171 ff. (176 fT. ). 24

Gethmann: Realität. In: Hdb. philos. Grundbegriffe. Hrsg. ν . H. Klings, H.M. Baumgartner, Ch. Wild. Bd. II. München 1973, S. 1172. 25 Zur Kritik der „Analytischen Philosophie", soweit sie dazu neigt, ihr formallogisches System eo ipso als Instrumentarium zur Erkenntnis der Wirklichkeit von Wissenschaft und Forschung zu betrachten, vgl. auch Böhler: Rechtstheorie als kritische Reflexion. In: Rechtstheorie. Beiträge zur Grundlagendiskussion. Hrsg. v. G. Jahr und W. Maihofer. Frankfurt/M. 1971. S. 62ff. (65ff., 98 f.).

I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon

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unseres Bewußtseins gäbe es keine realen Objekte. Kant zieht aus der Überlegung denn auch lediglich den Schluß, daß wir über die Gegenstandswelt „an sich" im positiven Sinne nichts wissen können, weil wir die Funktionen unseres Bewußtseins immer nur mit den Funktionen unseres Bewußtseins prüfen können, also in einen vitiösen Zirkel geraten, daß die Gegenstandswelt „an sich" im negativen Sinne, als eine grenzbegriffliche Konzeption, dagegen legitim sei, insofern sie die Anmaßung der Sinnlichkeit einschränke und ihre Existenz sogar bewiesen werden könne. Deshalb sei es auch nicht richtig, sich die Vereinigungsleistung des Bewußtseins, welche die realen Gegenstände konstituiert, die ursprüngliche „Synthesis der transzendentalen Apperzeption", wie Kant sie nennt, als eine Deduktion der Gegenstände aus reinem Selbstbewußtsein vorzustellen, vielmehr liege die Leistung des Bewußtseins in der Konstitution bereits gegebener Mannigfaltigkeit zu einer Einheit; modern gesprochen, in der Reduktion vorgegebener Komplexität. 3. Spontaneität und Rezeptivität des Bewußtseins in Fichtes Wissenschaftstheorie Hier nun liegt eine Schwierigkeit, die Fichte in seiner Wissenschaftslehre aufgreift: Läßt man die von der gegebenen Mannigfaltigkeit an sich ausgehende Affektion wirklich etwas bedeuten, so geht die Spontaneität der apriorischen Formen des Bewußtseins verloren; das Objekt an sich bringt das Ich als Subjekt um seine Freiheit (Spontaneität). Soll umgekehrt die Spontaneität erhalten bleiben, werden die Affektionen überflüssig; das freie und unabhängige Ich als Subjekt kennt nur Vorstellungen von Objekten, die es aus sich selbst produziert, keine Rezeptivität. Fichte hält es für notwendig, sich für eine der beiden Anschauungen zu entscheiden, und er entscheidet sich für die zweite, weil er nicht einsieht, wie etwas, das nicht Bewußtsein und Geist ist, auf Bewußtsein und Geist soll einwirken können: „Die Wissenschaftslehre leitet sonach, ohne alle Rücksicht auf Wahrnehmung, a priori ab, was ihr zufolge eben in der Wahrnehmung, also a posteriori, vorkommen soll" 2 6 . In der Durchführung der Wissenschaftslehre bedeutet das freilich nicht, daß „aus dem Begriff des Ich die ganze Wissenschaft herausgewickelt werde wie aus einer Zwiebel", also durch Analyse dessen, was im Ich schon dunkel enthalten sei. Noch weniger würden reine Gedankengebilde konstruiert: „Die Wissenschaftslehre ist realistisch"; es existiert eine „den endlichen Naturen völlig entgegengesetzte Kraft", das „Nicht-Ich, von der dieselben ihrem empirischen Dasein nach abhängig sind" 2 7 . Man kann Fichtes Argumentation gegen die Annahme einer vom Bewußtsein unabhängigen Welt „an sich" dahingehend zusammenfassen, daß ein sich selbst schaffendes Subjekt auch das Sein des Objektes schafft, weil jedes Objekt nur als 26 Fichte: Sonnenklarer Bericht an das größere Publicum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. 1801. In: Sämtl. Werke. Hrsg. v. I.H. Fichte. Berlin 1845/1846. Fotomech. Nachdruck Berlin 1971. Bd. II. 2. Lehrstunde. S. 355. 27 Fichte: Sonnenklarer Bericht. aaO. Bd. II. 3. Lehrstunde. S. 375 ff.

3 Mittenzwei

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geschaffenes für das Subjekt vorhanden ist; ein vom Einheit stiftenden Vollzug des Bewußtseins unabhängiges Objekt kann nicht gedacht werden, weil alles Denken selbst Vollzug ist. Ich und Nicht-Ich sind somit nichts anderes als zwei geschiedene Weisen von Selbständigkeit; das Ich ist beziehungslose, das NichtIch beziehungshafte Selbständigkeit. In dieser Argumentation steckt ein nicht leicht zu erkennender Doppelsinn, den erst die Unterscheidungen moderner Sprachanalyse sichtbar gemacht haben: Fichte behauptet nämlich, einmal anders formuliert, der Satz: „ X ist nicht erkennbar", enthalte einen Widerspruch, weil er besagt, daß für X kein Prädikator bekannt ist und dennoch „unerkennbar" prädiziert. Dieser Widerspruch zwischen dem im Begriff des „ A n sich" enthaltenen Prädikators „unbezüglich" und der tatsächlichen Behauptung der Beziehung „unbezüglich" beruht aber auf einer fehlerhaften Auslegung der Verneinung, die nicht objektsprachlicher, sondern metasprachlicher Natur ist: Der Satz „ X ist unerkennbar" besagt nicht, daß von X unerkennbar prädiziert wird, sondern daß von X nicht prädiziert werden kann. Das von den Anhängern des Idealismus gern ins Feld geführte Paradoxon, daß die Vorstellung des Beziehungslosen die Vorstellung der Beziehung bereits voraussetzt, kann daher so ausgeräumt werden, daß man verschiedene sprachliche Ebenen unterscheidet. Die Konzeption eines A n sich, das als,nicht gesetzt' gesetzt ist, stellt also keinen Widerspruch dar 2 8 . Geht man davon aus, daß Erkenntnis eine Relation zwischen Erkennendem und Erkanntem ist, dann ist die Frage nach dem Status des Erkannten nur im Zusammenhang mit einer Bestimmung der übrigen Elemente dieser Beziehung zu klären. In einer formalen Strukturanalyse der Relation „Erkennen" läßt sich mit Hilfe einfacher logischer Mittel zeigen, daß der Grundsatz Fichtes: „Das Ich setzt sich selbst als beschränkt durch das Nicht-Ich" 2 9 , widerspruchsfrei durchführbar ist, wenn man darunter versteht: Das erkennende Bewußtsein bestimmt, daß das Erkannte das erkennende Bewußtsein bestimmt 30 . Benutzt man das Resultat als Definiens des Begriffes „Rezeptivität", dann läßt sich auch die von Fichte behauptete Aporie zwischen Rezeptivität und Spontaneität mit sprachanalytischen Mitteln beseitigen. Ihr Verhältnis gestaltet sich nunmehr dahin, daß Rezeptivität eine Weise von Sich-Vollziehen des Rezipierenden und damit eine spontane Leistung des Subjekts ist. Spontaneität und Rezeptivität stehen sich nicht, wie Fichte annimmt, konträr gegenüber, sondern können in einem gegenseitigen Konstitutionsverhältnis bezüglich der Einheit des Bewußtseins gesehen werden. Während die Rezeptivität bezüglich Objekte ausge28

Gethmann: Realität. In: Hdb. philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. v. H. Klings, H.M. Baumgartner, Ch. Wild. Bd. II. München 1973. S. 1175, 1176. 29 Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. 2.Aufl. 1802. In: Sämtliche Werke. Hrsg. ν. I.H. Fichte. Berlin 1845/1846. Fotomech. Nachdr. Berlin 1971. Bd. I. S. 125 ff. 30 Vgl. Gethmann: Realität. aaO. S. 1179 ff.

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sagt wird, bezieht sich die Spontaneität auf die Aussage der Rezeption von Objekten 31 . Kehren wir zum Verhältnis von Kant und Hegel zurück: Beide stimmen, worauf es uns besonders ankommt, darin überein, daß die Einheitsleistung des Bewußtseins, welche die Gegenstände konstituiert, und damit die wissenschaftliche Erkenntnis, nicht dadurch zustande kommt, daß wir uns einem affizierten, vorgegebenen, aber verdeckten Gegenstande aufmerksam annähern, ihn methodisch allmählich enthüllen und damit aus der subjektiven Sphäre des ersten „Eindrucks" heraus mittels Beweisverfahren auf eine an sich-seiende, allgemein gültige, wahre Ebene befördern, sondern daß sie als ein schöpferischer, spontaner, nicht rezeptiver Prozeß verstanden werden muß, in dem nicht der affizierte, verborgene Gegenstand, sondern die Kapazität des Bewußtseins selbst, konkret gesprochen: vorhandenes Wissen, Fragestellung, Einstellung und Erwartungshaltung, die Einheitsleistung vollbringt und in einer nicht enden wollenden, dialektischen Bewegung, die wir irgendwo aus praktischen Gründen abbrechen müssen, aus einer amorphen Masse von Fakten, der Mannigfaltigkeit der Welt, den realen Gegenstand zuallererst schafft 32 . Soweit Wissenschaft auf die (wahre) Erkenntnis objektiver Gegenstände gerichtet ist, kann also nach ihrer Auffassung nicht eigentlich von „Entdeckungen" die Rede sein, wie es noch heute der Tradition gemäß heißt — der Wissenschaftler „entdeckt", der Künstler oder Techniker „erfindet" (F. Bacon, M.J.A. de Condor cet) —, sondern allenfalls von Erfindungen im Sinne von mehr oder weniger befriedigenden Weisen der Beschreibung, womit sich allerdings, wie wir noch sehen werden, das Beweisproblem in aller Schärfe stellt. 4. Konsequenzen für die Begründung einer naturrechtlichen

Position

Aus dieser erstmals von Kant systematisch und mit einmaliger Gründlichkeit herausgearbeiteten, erkenntnistheoretischen Lage, die bis heute weder durch neue Einsichten überholt, noch durch andere Fragestellungen wesentlich verändert werden konnte, ergeben sich erste Schlußfolgerungen für die Behandlung unseres Themas: Teleologische Interpretation gesetzten Rechts, welche nicht an den vom Gesetzgeber gesetzten, willkürlichen Zwecken haften bleibt, sondern, durchaus in naturrechtlicher Tradition, in einer die Faktizität menschlicher Rechtssetzung transzendierenden Weise nach „objektiven Zwecken" des Rechts, seiner inneren Rechtfertigung und Richtigkeit sucht, kann nicht ans Ziel gelangen, wenn sie 31

Ins Wissenschaftstheoretische gewendet heißt das: Die mathematisch formulierten Naturgesetze z.B. bilden nicht die Natur an sich, sondern nur unsere Kenntnis von der Natur ab. Vgl. Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik. Hamburg 1955. S. 12,19. 32

Heidegger hat in seinen Hegel-Interpretationen besonders darauf hingewiesen, daß es auf das Entstehen des neuen Gegenstandes als das Entstehen der Wahrheit ankommt, nicht darauf, daß ein Gegenstand als Gegenüber zur Kenntnis genommen wird. Vgl. Heidegger. Hegels Begriff der Erfahrung. In: Holzwege. 4. Aufl. 1963. S. 105ff. (170). 3*

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meint, sich an die objektive Vorgegebenheit der „Natur" (Physis), des Universums oder Seins halten und aus ihr allgemein gültige, nicht überholbare Normen oder oberste Zwecke eines immer schon existierenden, ontologischen Gefüges ableiten zu können. Alles in der Subjekt-Objekt-Relation erfahrene oder systematisch erarbeitete Wissen über welchen Gegenstand auch immer bleibt subjektiv in dem Sinne, daß wir niemals erkennen können, wie es sich mit ihm „an sich", in Wahrheit verhält, sondern stets nur, wie er uns erscheint, wobei ein Wechsel der (wissenschaftlichen) Perspektive, eine Neukonstitution unter veränderten Zielsetzungen und Bedingungen, jederzeit möglich bleibt. Die empirisch vorgefundenen Formen der Sozialgebundenheit des Menschen, gleich welcher Zeitepoche, sind keine wesensmäßigen, naturwüchsigen Strukturen, die als unabänderlich hingenommen und ontologisch überhöht werden dürfen, um ein für allemal „richtige" Grundsätze des sozialen Verhaltens zu postulieren, sondern, in der Terminologie Kants, bestenfalls bewiesene, synthetische Sätze a posteriori, die in einer bestimmten geschichtlichen Situation Geltung beanspruchen dürfen, unter veränderten Umständen jedoch ihre Beachtlichkeit zugunsten anderer verlieren. Ebensowenig ist uns der Mensch als Objekt wissenschaftlicher Betrachtung schlechthin, in seinem Wesen, zugänglich und eine Anthropologie, die als Wissenschaft auftritt, wird sich bei der Formulierung rechtserheblicher Einsichten in die Struktur des Menschseins dieser Grenzen bewußt bleiben müssen. Der seit altersher bekannte, immer wieder unternommene Versuch, irgendwelche Elemente oder Momente des Natürlichen im Menschen gegen die positive Rechtsordnung auszuspielen und entsprechende Forderungen an die politische und rechtliche Umgestaltung der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse zu stellen, ist unter erkenntnistheoretischem Aspekt ebenso zum Scheitern verurteilt wie umgekehrt der Versuch der Legitimierung einer konkreten, positiven Rechtsordnung aus einem natürlichen Ordnungsgefüge unter Hinweis auf die Gefahr eines Rückfalls in das Chaos eines rechtlosen „Naturzustandes". Die der Natur im Ganzen und den einzelnen Dingen innewohnenden Zwecke und Ziele bleiben dem objektivierenden, wissenschaftlichen Denken notwendig verschlossen und sind, wie wir noch sehen werden, lediglich philosophisch im grenzbegrifflichen Sinne nutzbar. Andererseits bedeutet die methodologische Trennung von Sein und Sollen als Konsequenz der Einsicht in den erkenntnistheoretischen Zusammenhang der Gegenstandskonstitution keineswegs eine vollkommene Auflösung der zwischen beiden Bereichen bestehenden, dialektischen Verflechtungen. Die auf sich selbst gestellte, menschliche Vernunft kann aus der Idee des reinen Sollens keine inhaltlichen Maßstäbe richtigen Rechts herausspinnen, ohne sofort auf die Kategorie des Seins zurückverwiesen zu werden; konkrete Forderungen lassen sich nur einsichtig begründen, indem sie an der Sicherung, Entfaltung oder Veränderung von empirisch Wirklichem festgemacht werden. Ohne eine Anknüpfung an die wie immer erkannte Wirklichkeit verflüchtigt sich reines Sollen sofort zur leeren Abstraktion.

I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon

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So geht auch der Einwand fehl, Kant selbst habe doch reine Mathematik und reine Naturwissenschaft unabhängig von aller Erfahrung für möglich gehalten, denn allgemein gültige, analytische Sätze, die auf dem Wege der bloßen Erläuterung eines Begriffs nach dem Prinzip der Identität oder des Widerspruches gewonnen werden, wie etwa der von Naturrechtlern gerne ins Feld geführte Gerechtigkeitsgrundsatz: „Jedem das Seine", sind keine Rechtszwecke oder -normen, mit denen ein Jurist praktisch arbeiten könnte. Der angeführte Grundsatz z.B. erläutert zwar den Begriff des Rechts inhaltlich, insofern dieses seinem Wesen nach eine Verteilung der Lebensgüter anstrebt und ohne diese Aufgabe begrifflich nicht vorstellbar ist, aber er spricht nicht aus, was denn nun jeder als das Seine betrachten darf, damit es ihm zukomme. Eine praktisch verwendbare Rechtsnorm muß erst den Eigentumserwerb regeln, um dann auf dieser Regelung nach dem Satz: „Suum cuique" den Eigentumsschutz aufzubauen; freilich, im gleichen Augenblick, in dem sich eine Norm inhaltlich aufzufüllen beginnt, enthüllt sich ihre historische Bedingtheit. Bekanntlich wird ja die Art und Weise, wie und wodurch jemand Eigentum erwirbt, in den verschiedenen historischen und zeitgenössischen Rechtsordnungen durchaus unterschiedlich geregelt. Soweit dagegen Grundsätze, wie etwa der naturrechtliche Satz: „Pacta sunt servanda", nicht ohne Rücksicht auf Erfahrung allein auf Grund der menschlichen Denk- und Anschauungsformen gewonnen werden können, nach Kant also synthetische Urteile a posteriori sind, kommt ihnen kein Ewigkeitswert zu 3 3 . Das für jede teleologische Rechtsinterpretation entscheidende Problem, wie den Gesetzen vorausliegende, objektive Zwecke allgemein gültig, das heißt jetzt intersubjektiv verbindlich festgestellt werden können, läßt sich demnach nicht im direkten Zugriff auf bestimmt Vorhandenes lösen; wir müssen geistesgeschichtlich weiter ausholen. Während Kant die überlieferte Unterscheidung zwischen Erscheinung 34 : dem sinnfällig Gegebenen, demjenigen, was in der raum-zeitlichen Erfahrung als das Vordergründige, Uneigentliche begegnet und am eigentlichen Sein mehr oder minder teilhat, und der wahren, eigentlichen Welt nicht verwirft, sondern präzisiert, will Hegel sie ganz aufheben. Zwar stellt auch Hegel nicht in Abrede, daß die der Vorstellung erscheinenden Gegenstände nicht „bloßer Schein" sind, sondern wirklich gegeben, sofern man nur berücksichtigt, daß ihre Beschaffenheit von der Anschauungsart des Subjekts in der Relation des gegebenen Gegenstandes zu ihm abhängt 35 ; aber er sieht nicht ein, was die Unterscheidung noch für einen Sinn hat, wenn doch alles, was im Räume oder der Zeit angeschaut wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, wie Kant selbst ausführt, „nichts als Erscheinung, d.i. bloße Vorstellungen sind, die, 33

Manigk: Wie stehen wir heute zum Naturrecht? Berlin 1926. S. 28 f. Vgl. zum Begriff: Barth: Philosophie der Erscheinung. Eine Problemgeschichte. I. Teil: Altertum und Mittelalter. Basel 1947. 2.Aufl. 1966; 2. Teil: Neuzeit. 1959; Prauss: Erscheinung bei Kant. 1971; Goodman: The Structure of Appearance. Cambridge/Mass. 1951. 35 Kant: Kritik der reinen Vernunft. aaO. Β 69. 34

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

so wie sie vorgestellt werden, . . . außer unseren Gedanken keine an sich begründete Existenz haben" 36 . Ist uns die Welt der Dinge an sich verschlossen, so ist sie ein „abstrakter, von allem Inhalt abgeschiedener Schatten", ein „übrig gelassenes Gespenst" 37 . 5. Schwierigkeiten

eines subjektiv-formalen

Idealismus

Es läßt sich nicht bestreiten, daß die Art, wie Kant die Dinge an sich in seine Erkenntnistheorie einführt, der idealistischen Grundansicht entschieden widerspricht, und ohne Zweifel ist dies der Hauptgrund, warum er bei seinen Nachfolgern auf solch entschiedenen Widerstand gestoßen ist. U m die Sache nochmals zu verdeutlichen: Kant gründet, wie wir gesehen haben, die Voraussetzung des Dinges an sich, wiewohl unter verschiedenen Wendungen verdeckt, auf einen Schluß nach dem Gesetz von Wirkung und Ursache, daß nämlich die Erscheinung in unserer empirischen Anschauung, genauer gesagt: die Empfindung unserer Sinnesorgane, eine äußere Ursache haben müsse. Nun ist aber auch das Kausalitätsgesetz eine Funktion unseres Verstandes, also subjektiven Ursprungs; ferner ist die Sinnesempfindung selbst, auf welche wir das Kausalitätsgesetz anwenden, unleugbar subjektiv, und drittens ist sogar der Raum, in welchen wir durch die Anwendung des Gesetzes die Ursache der Erscheinung als Objekt versetzen, eine a priori gegebene, folglich ebenfalls subjektive Form des Intellekts. Demnach spielt sich alles innerhalb unseres Bewußtseins ab und nichts von ihm Unabhängiges, gänzlich Verschiedenes läßt sich als Ding an sich hineinbringen oder als notwendige Voraussetzung dartun 3 8 . Offensichtlich hielt es Hegel nicht für angebracht, die vorkantische Metaphysik aus dem Gebiet der theoretischen Philosophie zu verbannen, um für die wissenschaftliche Erkenntnis eine tragfahige Grundlage zu gewinnen, ihr aber im Bereich der praktischen Philosophie einen Platz freizuhalten, wie Kant es wohl beabsichtigte. Rückblickend betrachtet, hat er damit freilich die Geschichtsmächtigkeit metaphysischer Grundbedürfnisse ebenso unter-, wie die dialektische Fähigkeit der menschlichen Vernunft, zu sich selbst zu gelangen, überschätzt. Jedenfalls ist die Diskussion zwischen idealistischen und realistischen Positionen über das Thema Wirklichkeit eines der zentralen Themen abendländischer Philosophiegeschichte geblieben, und für viele philosophische Weltansichten, wie zum Beispiel den dialektischen Materialismus, ist die von den 36 37

Kant: Kritik der reinen Vernunft. aaO. A 491/B 519.

Hegel: Wissenschaft der Logik. 1. Teil. Einl. In: Werke. Hrsg. v. E. Moldenhauer u. K . M . Michel. Frankfurt/M. 1969. Bd. 5, S. 41. Nicht nur die Vertreter des deutschen Idealismus, auch die des Neukantianismus wußten mit dem Begriff nichts anzufangen; man vgl. z.B. Cohen: Kants Theorie der Erfahrung. 2. Aufl. 1885. S. 503; Windelband: Einleitung in die Philosophie. 1914. S. 227; dazu auch Martin: I. Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie. 4. Aufl. 1969. S. 160. 38 A m klarsten ausgesprochen von Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung. Anhang ζ. I. Bd.: Kritik der Kantischen Philosophie. In: Werke. Hrsg. v. A. Hübscher. Zürich 1977. S. 535 ff.

I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon

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Begriffen Idealismus und Realismus ausgehende Selbstabgrenzung geradezu systembegründend. Man muß die Auffassung Hegels, das Bewußtsein konstituiere die Wirklichkeit, nicht „auf den Kopf stellen" 39 , um einzusehen, daß ohne die kritische Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung kaum zu verstehen wäre, wie ein und derselbe Erfahrungsgegenstand, nämlich unser Ich, einmal kausalbedingt in seinen Handlungen, zum anderen frei in seinem Wollen sein könnte: „Denn, daß ein Ding in der Erscheinung (das zur Sinnenwelt gehörig) gewissen Gesetzen unterworfen ist, von welchen eben dasselbe, als Ding oder Wesen an sich selbst, unabhängig ist, enthält nicht den mindesten Widerspruch; daß er (seil, der Mensch) sich selbst aber auf diese zwiefache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste betrifft, auf dem Bewußtsein seiner selbst als (seil, eines) durch Sinne affizierten Gegenstandes, was das zweite anlangt, auf dem Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz, d.i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken (mithin als zur Verstandeswelt gehörig)" 40 . Bekanntlich zieht Schopenhauer aus dem Doppelwesen des Menschen als vernünftiger Intelligenz und den Naturgesetzen unterworfene Erscheinung den Schluß, daß das Ding an sich im Willen selbst liege, weil er sich jedem als das Ansich seiner eigenen Erscheinung unmittelbar offenbare; nur der Wille sei frei vom Satz des Grundes und aller Notwendigkeit enthoben. Er begründet seine Auffassung damit, daß die Lösung der Rätsel der Welt in dem gründlichen Verständnis der Welt selbst, und nicht, wie man bislang ohne weiteres angenommen habe, in etwas von der Welt gänzlich Verschiedenem, über die Möglichkeit aller Erfahrung Hinausgehendem, gesucht werden müsse. Kant habe gegenüber seinen Vorgängern zwar richtig erkannt, daß die Grundsätze oder Erkenntnisse aus reiner Vernunft keine Ausdrücke der absoluten Möglichkeit der Dinge, veritates aeternae, seien, sondern bloße Formen unseres Intellekts, Gesetze, nicht des Daseins der Dinge, sondern unserer Vorstellungen von ihnen, welche über die Möglichkeit der Erfahrung nicht hinausreichen. Er sei aber der „petitio prineipii" zum Opfer gefallen, daß die Quelle der Metaphysik als einer Wissenschaft von demjenigen, was jenseits der Möglichkeit aller Erfahrung liege, nicht empirisch sein könne 4 1 . Metaphysik und Erkenntnis a priori seien aber nicht identisch; wer dies annehmen wolle, müsse beweisen, daß der Stoff zur Lösung der Welträtsel schlechterdings nicht in ihr selbst enthalten sein könne, sondern nur außerhalb der Welt zu suchen sei, in etwas, zu dem man nur am Leitfaden a priori bewußter Formen gelangen könne. Solange aber dies nicht bewiesen sei, hätten wir keinen Grund, uns, bei der wichtigsten 39 Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. 1859. Ausgabe Berlin (Ost) 1958. Vorwort. S. 13. 40 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 2.Aufl. 1786. BA 117,118. In: Werke. Hrsg. v. W. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. VI. S. 94. 41 Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Riga 1783. § 1. A 23, 24. Werkausgabe v. W. Weischedel. Bd. V. Darmstadt 1981. S. 124.

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und schwierigsten aller Aufgaben, die inhaltsreichsten aller Erkenntnisquellen, innere und äußere Erfahrung, zu verstopfen, um allein mit inhaltsleeren Formen zu operieren 42 . Es ist nach dem bisher Gesagten nicht schwer einzusehen, daß auch Schopenhauer einer Verwechslung verschiedener Sprachebenen zum Opfer fallt, indem er es versäumt, sich des Unterschiedes zwischen der Erkenntnisrelation selbst und der reflektiven Relation zu dieser Relation immer bewußt zu bleiben: Wer den Gegenstand „Willen" als Ding an sich erfaßt, gewinnt damit, was nicht bestritten werden soll, zwar einen „festen Punkt" für seine Argumentation, weil der Wille als Inhalt der autonomen Intelligenz vom Satz des Grundes frei gedacht werden kann; er übersieht aber, daß wiederum das reflektierende Bewußtsein es ist, welches die unmittelbare Erfahrung des Willens als Erkenntnisrelation setzt und gerät damit in einen Zirkel. Trotz der polemischen Distanzierung Schopenhauers von Fichte behält dieser Recht, wenn er den Grund der Erfahrung nicht selbst für erfahrbar hält; das Erkennende bestimmt auch hier, daß das Erkannte das Erkennende bestimmt. Als endlicher, kausal bedingter, empirischer Gegenstand mag unser Bewußtsein vom Willen beherrscht sein, als ursprüngliche, autonome, nicht weiter hinterfragbare, letzte Instanz muß es als vollkommen frei gedacht werden. Das Mißverständnis, dem nicht nur Schopenhauer, sondern, wie wir heute wissen, eine ganze Wissenschaftstradition erlegen ist, beruht auf einer Problematik, welche in der erkenntnistheoretischen Position Kants selbst angelegt, als solche aber erst allmählich begriffen worden ist; sie hat ihre Ursache in dem Umstand, daß Kant einerseits unser Wissen über die Welt auf die Grenzen möglicher Erfahrung beschränkt, andererseits diese Grenzen auf Grund einer Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit dieses Wissens bestimmt, die auf die vorgängige Konstitutionsproblematik des Erkennens durch ein menschliches Erkenntnissubjekt zielt. Die Einsicht in die leibhaft-zeitliche Konstitution aller Erkenntnis, welche praktisch die gesellschaftlichen Abhängigkeiten und theoretisch die raum-zeitlichen Geltungsgrenzen faßbar macht, zwingt die Vernunft zur reflektiven Aufklärung ihrer Tätigkeit durch Selbsterkenntnis in Permanenz; Reflexion muß in der Konsequenz der Transzendentalphilosophie Kants sozusagen als ein fortlaufendes Gerichtsverfahren institutionalisiert werden, ohne daß freilich in konsistenter Weise angegeben wird, wie man sich den Ablauf eines reflektiven Verfahrens vorstellen soll, in dem, um im Bilde zu bleiben, ein und dieselbe Person, nämlich die menschliche Vernunft, über sich selbst zu Gericht sitzt, Angeklagter und Richter zugleich ist. Geradezu aporetischen Charakter nimmt das Problem dadurch an, daß Kant selbst die von ihm beanspruchte Vernunft als formale Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit durch Reflexion nicht systematisch von der Vernunft als inhaltlicher Erkenntnis der Realität auf der Subjekt-Objekt-Ebene unterscheidet, vielmehr 42

526.

Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. Anhang zu Bd. I. aaO. S. 524 —

I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon

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in seiner „Kritik der reinen Vernunft" als einen Gegenstand der Objektwelt thematisiert und verschiedene Erkenntnisvermögen (Sinnlichkeit, Verstand, Urteilskraft, Vernunft) analysiert. Vernunftvermögen als endliches Erkenntnisvermögen beschränkt sich aber auf das Raum-Zeitliche, zu dem die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis gerade nicht gehören; diese müssen notwendigerweise in einem qualitativ verschiedenen Erkenntnisunternehmen begriffen und ausgearbeitet werden 43 . Kants inhaltlich-gegenstandsbezogene Behandlung der Vernunft führt problemgeschichtlich zu der die verschiedenen Sprach- und Erkenntnisebenen verkennenden Fehleinschätzung, man könne die Selbstreflexion der Vernunft analog der Erkenntnisrelation zwischen einem Erkennenden und einem Erkannten begreifen. Folgerichtig löst man den Erkenntnisvorgang in seine scheinbar objektiven Bestandteile auf: in die logische, sinnkritische Analyse der Erkenntnis, wie sie die traditionelle Metaphysik vor Kant schon betrieben hat, und in die Wissenschaft der Erkenntnismechanismen selbst. Theoretisch untermauert wird die Auflösung der Transzendentalphilosophie in unserem Jahrhundert von der modernen Wissenschaftslogik (Logic of Science), in deren Gefolge die Analytische Philosophie in der immer noch herrschenden Arbeitsteilung die logische Kritik und die Kybernetik (als Datenverarbeitung und kausale Lernprozeßanalyse) bzw. sozialwissenschaftliche Systemtheorien das Geschäft einer empirischen Wissenschaft der Erkenntnismechanismen beanspruchen 44. Dabei wird übersehen, daß Kant selbst, auf den sich alle Erkenntnistheorien als Ausgangspunkt der Überlegungen gleichermaßen beziehen, diese Auflösung schon deshalb nicht hätte billigen können, weil seine Synthese der transzendentalen Apperzeption ohne die Voraussetzung einer transzendentalen Distanz nicht denkbar ist; die unüberbrückbare Kluft zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, der „hiatus irrationalis", macht sich in jedem Erkenntnisvorgang als vorgängiger, reflektiver und distanzierender Faktor geltend, gleichgültig ob man bei der Theoriebildung von Inhalten abstrahiert oder bei der Analyse und experimentellen Arbeit natürliche oder gesellschaftliche Wirklichkeit objektiviert. Nur wer eine Identifikation des Ich mit sich selbst, als Distanzierung von dem, was Ich nicht ist, voraussetzt, kann überhaupt von einer Vorstellung als „seiner Vorstellung" sprechen. Fichte ist es gewesen, der das Problem als erster richtig erkannte und in seiner Wissenschaftslehre als ein dialektisches Verhältnis zwischen Ich und Nicht-Ich in transzendentalphilosophischer Weise zu entfalten suchte 45 . 43 Daß Kant die Selbstreflexion nicht ausreichend in den Blick bekommt, obwohl er sie als kritische Reflexion ausdrücklich voraussetzt, zeigt sich schon an der zeitgenössischen, idealistischen Kritik seiner Anhänger, insbesondere Fichtes. Vgl. dazu Kroner: Von Kant bis Hegel. 2. Aufl. Tübingen 1961. S. 109 ff., 332 ff. 44 Vgl. Essler: Was ist und zu welchem Ende treibt man Philosophie? In: Conceptus. III. Nr. 2. 1969. S. 69 ff., der diese Tendenz der Auflösung der Reflexionsproblematik dokumentiert. 45 Vgl. dazu unten S. 76ff.; Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt/M. 1967; derselbe: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie. In: Dialektik und

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

Die subjektiv-idealistische Position birgt noch eine andere Schwierigkeit; das autonome, auf sich selbst gestellte Bewußtsein als einheitsstiftende Instanz aller Erkenntnis ist lediglich erwiesen durch einen methodischen Schluß: weil die Bestimmung durch die Substanz in einen Kreisschluß führt und eine Letztbegründung verhindert, wird die Bestimmung in das Bewußtsein verlegt. Da außerdem das Selbstbewußtsein nicht rein, d.h. unabhängig vom Gegenstandsbewußtsein gefaßt werden kann, wie noch Descartes angenommen hatte, sondern apperzeptiv verstanden werden muß, weil es in seiner einheitsstiftenden Funktion immer nur in Begleitung von oder im Hinblick auf perzipierte Mannigfaltigkeit zu denken ist, bedeutet dies, daß die metasprachliche Reflexion über die Gegenstandsrelation, die sog. transzendentale Apperzeption Kants, nur für die Form der Erkenntnis einsteht, nicht jedoch für ihren Inhalt. Obwohl also die Autonomie und Spontaneität des apriorischen Ich und seiner Vorstellungen theoretisch „erklärt" sind, bleibt es als empirisches Ich sich jederzeit seiner Abhängigkeit vom Leib und der Außenwelt bewußt. Die Schwierigkeit, die als unerkennbar abgewiesene, sinnliche Wirklichkeit, welche sich als existenznotwendig erweist, wiederaufzunehmen, entzweit das Bewußtsein und macht es, wie Hegel sagt, „unglücklich" 4 6 . Geistesgeschichtlich trennen sich an diesem Punkt zwei Wege: Je nach dem, ob man der Spontaneität des Bewußtseins, der Unabhängigkeit und absoluten Selbständigkeit der Vernunft mehr Gewicht beimißt oder dem Einfluß der Außenwelt auf das Subjekt, gelangt man über die Interpretation der Subjektivität als Intersubjektivität, Geist und Sprache entweder zum objektiven bzw. absoluten Idealismus oder über die Eliminierung des (transzendentalen) Subjekts zu den Spielarten des Realismus. Kants subjektiv-realistische Position läßt sich zusammenfassend dahin beschreiben, daß Identität und Differenz, Selbstbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein, sich nicht weiter zurückführbar gegenseitig bedingen, ihre Einheit selbst jedoch nicht theoretisch erklärt werden kann, weil eine solche Theorie prinzipiell die Einheit nur als Erscheinung und nicht „an sich" erfassen könnte. Im Zusammenhang mit der Erörterung des Antinomienproblems hält er die Antithetik, in welche die Vernunft von selbst und unvermeidlich gerate, für „ganz natürlich", auf die keiner zu grübeln und künstlich Schlingen zu legen brauche; dies Phänomen der menschlichen Vernunft bewahre vor dem Schlummer einer eingebildeten Überzeugung, welche ein bloß einseitiger Schein hervorbringe, auch wenn es den Menschen immer wieder in Versuchung führe, sich entweder einer skeptischen Hoffnungslosigkeit zu überlassen, oder einen dogmatischen Trotz anzunehmen „und den Kopf steif auf gewisse Behauptungen zu setzen, ohne den Gründen des Gegenteils Gehör und Gerechtigkeit Hermeneutik. Festschr. f. H.G. Gadamer. Bd. I. Tübingen 1970. S. 257 ff. (280 f.); Böhler. Rechtstheorie als kritische Reflexion. In: Rechtstheorie. Beiträge zur Grundlagendiskussion. Hrsg. v. G. Jahr und W. Maihofer. Frankfurt/M. 1971. S. 62 ff. (69 f.). 46 Hegel: Phänomenologie des Geistes. aaO. S. 126 ff. Zum Problem trefflich Weizsäcker: Anonyma. Bern 1946.

I. Erkenntnistheoretisches Prolegomenon

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widerfahren zu lassen" 47 . Indem seine Kritik zeige, daß der Streit der Vernunft mit sich selbst zum dialektischen Kampfplatz vernünftelnder Behauptungen gehöre, wo jeder Teil die Oberhand zu behalten in der Lage sei, führe die Gespaltenheit der Vernunft positiv dazu, den Grundsatz der Totalität, der diesen Streit veranlasse, als „eigentlich nur eine Regel" zu begreifen, welche in der Reihe der Bedingungen gegebener Erscheinungen einen Regressus gebiete, dem es niemals erlaubt sei, bei einem schlechthin Unbedingten stehen zu bleiben. Der Grundsatz der Totalität sei kein Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung und der empirischen Erkenntnis der Gegenstände, kein Grundsatz des Verstandes, weil jede Erfahrung in ihren Grenzen eingeschlossen bleibt, auch kein konstitutives Prinzip der Vernunft, den Begriff der sinnlichen Gegenstandswelt über alle mögliche Erfahrung zu erweitern, sondern ein Grundsatz der größtmöglichen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung, nach welchem keine empirische Grenze als absolute Grenze verstanden werden darf. Kurz, ein regulatives, nicht konstitutives Prinzip der Vernunft, welches postuliert, was von uns im Regressus geschehen soll, nicht antizipiert, was im Objekte vor allem Regreß „an sich" gegeben ist 4 8 . In gleicher, positiver, d.h. das Bewußtsein nicht unglücklich machender Bedeutung kehrt die unüberbrückbare Gespaltenheit des Bewußtseins in Kants geschichtsphilosophischer Weltsicht wieder: Obwohl die Menschheit als Ganzes des friedlichen Beisammenseins nicht entbehren kann und einer alle Gegensätze überbrückenden Einheit bedarf, können die Menschen es nicht vermeiden, „einander beständig widerwärtig zu sein", werden aber gerade dadurch auf den Weg zu einer „beständig mit Entzweiung bedrohten Koalition in eine weltbürgerliche Gesellschaft geführt" 49 . Die Unverträglichkeit des Menschen benötige die Natur als Mittel, um in dem unvermeidlichen Antagonismus derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit in einer gesetzmäßigen, bürgerlichen Verfassung herauszufinden 50. 6. Denken und Sein bei Hegel Hegel stimmt mit Kant darin überein, daß in der dialektischen Entwicklung des Geistes die Spaltung des Bewußtseins ein notwendiger Durchgang ist, um über den Gegensatz Bewußtsein-Natur zu sich selbst zu kommen; erst mit der Ausbildung der Zweiheit Subjektivität-Objektivität habe die Freiheit des Menschen als Freiheit aller Menschen Wirklichkeit erlangt. Aber im Unterschied zu diesem bewertet Hegel das Bewußtsein der Differenz nicht als ein positives Faktum, weil in dem Gegensatz von rationaler Subjektivität und 47

Kant: Kritik der reinen Vernunft. aaO. Β 434. Kant: Kritik der reinen Vernunft. aaO. Β 450, 537. 49 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 2. Aufl. Königsberg 1800. S. Β 329. In: Werke. Hrsg. v. W. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. 10. S. 687. 50 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. A 399. In: Werke. aaO. Bd. 9. S. 42. 48

Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

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dinglicher Realität, in welchem Endliches und Unendliches auseinandertreten, die Gefahr der Beziehungslosigkeit lauere; könne die Einheit nicht hergestellt werden, habe das Subjektive für den Verstand und das Objektive für das Subjekt keinen Wert und beide entfremdeten sich. 50 ist für Hegel die Spaltung des Bewußtseins kein „ganz natürlicher" Zustand, bei dem man sich beruhigen könnte, sondern ein Unglück. Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwinde und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verlören und Selbständigkeit gewönnen, entstehe das Bedürfnis nach Philosophie. Festgewordene Gegensätze wieder aufzuheben, sei das einzige Interesse der Vernunft, die sich nicht gegen die Spaltung und Entgegensetzung überhaupt wehre, denn alles Leben erwachse aus dem Widerspruch, wohl aber gegen die Fixierung der Spaltung durch den Verstand als unüberwindlich, um so mehr, wenn die absolut entgegengesetzten Teile aus der Vernunft selber entsprungen seien 51 . Ziel und Interesse aller vernünftigen Reflexion sei die Versöhnung des Denkens mit der Wirklichkeit, die Vereinigung von Denken und Sein, die Einsicht, daß in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz immanent und das Ewige gegenwärtig sei 52 . Dieses Ziel lasse sich freilich nicht erreichen, indem man sich zum Alten und Ursprünglichen, d.h. zur vorkantischen Metaphysik zurückwende, sondern nur durch einen Schritt nach vorne in die moderne Zeit, die im „Sichwissen der Idee" und dem „unendlichen Gegensatz" die bewußt gewordenen Elemente der Lösung enthalte und die Realität der intellektuellen und der dinglichen Welt als ein Werden, ihr Sein als ein Produzieren zu begreifen in den Stand gesetzt sei. Es komme alles darauf an, das Wahre, d.h. das Objektive, das es an sich ist, nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken; damit sei das Wahre aber das Ganze, das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. „Es ist vom Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt, oder Sichselbstwerden, zu sein. So widersprechend es scheinen mag, daß das Absolute wesentlich als Resultat zu begreifen sei, so stellt doch eine geringe Überlegung diesen Schein von Widerspruch zurecht. Der Anfang, das Prinzip oder das Absolute, wie es zuerst und unmittelbar ausgesprochen wird, ist nur das Allgemeine. So wenig, wenn ich sage: alle Tiere, dies Wort für eine Zoologie gelten kann, ebenso fallt es auf, daß die Worte des Göttlichen, Absoluten, Ewigen usw. das nicht aussprechen, was darin enthalten ist . . . 5 3 . 51 Heget Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Philosophie (1801). In: Werke. Hrsg. v. E. Moldenhauer und K . M . Michel. Frankfurt/M. 1970. Bd. 2. S. 21, 22. 52

Hegel·. Grundlinien der Philosophie des Rechts. (1821). Vorrede. In: Werke. aaO. Bd. 7. S. 25. 53 Hegel·. Phänomenologie des Geistes. (1807). Vorrede. In: Werke. aaO. Bd. 3. S. 24, 25.

II. Teleologisches und kausales Denken

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Damit werden für Hegel die Gedanken „flüssig", es kommt zu einer objektiven Bewegung der Begriffe und diese Bewegung der reinen Wesenheiten macht für ihn die Natur der Wissenschaftlichkeit aus; Wissenschaft ist die Verfolgung der Begriffe in ihrer dialektischen, realen Entwicklung. Das einzelne Bewußtsein muß dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen, aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Weges, der ausgearbeitet und geebnet ist; von der Seite des Gesamtbewußtseins aus betrachtet, sei dieser Durchgang nichts anderes, als daß es als Substanz und Summe sein Werden und seine Reflexion in sich hervorbringt 54 . In der Gespaltenheit der gegenwärtigen Welt hat sich für Hegel das Ganze der Vernunft zur vollen Entfaltung des Subjektiven und Objektiven gebildet, wobei der Begriff des Ganzen als Anfang und (abstraktes) Erstes nunmehr zu sich als durch den gesamten Weltprozeß erfülltes Endergebnis zurückkehrt. Das Ganze ist dabei nicht die Summe vieler Teile, etwas mechanisch Zusammengesetztes (eine solche Auffassung würde die Teile verselbständigen und das übersummative Ganze zerstören), sondern ein lebendiger Zusammenhang, in dem Ganzes und Teil in einer beiderseitigen Vermittlung durch das Subjekt stehen, welches sich als Kraft und ihre Äußerung erweist. II. Teleologisches und kausales Denken 1. Teleologie als Entfaltung

von Ganzheiten

Hegels am Leben orientiertes, organologisches Denken ist, wie eine 150jährige Diskussion gezeigt hat, vielen Einwänden ausgesetzt; er wagt sich auf der Grundlage, daß Bewußtsein und Geist zur belebten Natur gehören und sich deshalb als Lebendiges genauso entfalten müssen wie ein lebendiger Organismus, auf Gebiete vor, die kein kritisch-realistischer Wissenschaftler in der Tradition Kants betreten würde. Er weiß wieder wie die Philosophen vor Kant um das objektive Ansichsein der Dinge, erklärt es als Geist, ja als Selbstbestimmung an der Idee, und damit nicht genug, sieht er am Ende in der theoretischen Philosophie den „intellectus archetypus" selbst. Vermöge der von Fichte übernommenen, dialektischen Methode stellt sich ihm die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabei versteht er diesen Kreis als einen Kreis von Kreisen: „ . . . denn jedes einzelne Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion-in-sich, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes" 1 . Sein Denken geht immer von der lebendigen Fülle einer Ganzheit aus, so daß ihm alles wissenschaftliche Erkennen von Gegenständen, ja jede Wahrnehmung überhaupt, als bloßes Herausgreifen, schärfer: Herausreißen, Abstrahieren aus 54 1

Hegel: Phänomenologie des Geistes. aaO. Bd. 3. S. 32, 33. Heget Logik II. In: Sämtl. Werke. Hrsg. v. Glockner. 1951 ff. Bd. V. S. 551.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

einer entwickelten, lebendigen Gesamtheit erscheint; nur in dieser Isolierung sind ihm die Dinge einander entgegengesetzt, im Ganzen heben sich ihre Gegensätze wieder auf. Eigentlich sind die von uns erkannten „Gegenstände" darum nach seiner Auffassung gar keine Gegenstände, sondern bloße „Momente" an einem sich beständig entwickelnden Ganzen, und alleine für sich betrachtet, wie etwa im isolierenden, naturwissenschaftlichen Experiment, mechanisch — tot — unwahr. Erst nachdem alle Beziehungen aufgedeckt und alle Möglichkeiten durchgegangen sind, nähert sich unser Wissen der ganzen Wahrheit. Hegel beschreibt damit eine Denkmöglichkeit, die dem analytisch-synthetischen Denken neuzeitlicher Wissenschaft, das alle Phänomene zu isolieren und atomisieren versucht, genau entgegengesetzt ist: das teleologische Denken. Teleologische Interpretation von Objekten, seien es nun körperliche oder geistige, bedeutet nämlich nichts anderes als die Herausarbeitung und Entfaltung des Sinnes und Zweckes von Teilen in Bezug auf ein gedachtes, organisches, d.h. funktionell zusammenhängendes Ganzes, wobei wir allerdings aus praktischen Gründen gezwungen sind, bei mehr oder weniger weitläufigen, sich nach und nach konstituierenden Sinn- und Zweckzusammenhängen, also isolierten, inneren Systemen stehen zu bleiben, obwohl wir eigentlich, weil ja auch diese Systeme aus noch größeren Zusammenhängen herausgerissen werden, Abstraktionen sind, nie abbrechen dürften, wenn wir nach Wahrheit (Ganzheit) streben. Im Hinblick auf die Totalität der Wirklichkeit gerät die endliche Vernunft des Menschen bei Hegel wie bei Kant in einen nicht enden wollenden Regreß, nur eben aus einer entgegengesetzten Denkrichtung: Während bei Kant die reflektierende Vernunft nach dem Satz vom Grunde zergliedernd von Ursache auf Ursache zurückgreift, immer einfacher, abstrakter wird, hoffend, irgendwann auf letzte, allgemeinste Ursachen, bleibende Strukturen, Gesetze, Weltformeln zu stoßen, die alle Erscheinungen der Wirklichkeit erklären, ohne je sicher zu sein, daß dies der Fall ist, versucht sie bei Hegel umgekehrt, von Wirkung zu Wirkung, von Begriff zu Begriff fortzuschreiten, immer mehr aufnehmend und bewahrend, immer neue Beziehungen und Formen in immer neuen Kreisbewegungen herstellend, bis schließlich die Fülle des Begriffs unfaßbar, das zusammenhängende Ganze unvorstellbar wird. Letztes Ziel ist für die reflektierende Vernunft in beiden Denkbewegungen das Gleiche: die Totalität der Wirklichkeit 2 . 2. Zwecktätigkeit

bei Aristoteles

Hier nun freilich gilt es eine Reihe von ersten Unterscheidungen zu treffen, die es uns ermöglichen, das begriffliche Gewirr, das im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Denkens um die Begriffe Teleologie, Entelechie, Finalität, Zweckge2 Zum Begründungstrilemma der endlichen Vernunft: infiniter Regreß — logischer Zirkel — Abbruch des Verfahrens vgl. Albert: Traktat über kritische Vernunft. 2. Aufl. Tübingen 1969. S. 13 f.

II. Teleologisches und kausales Denken

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richtetheit des Handelns und Dialektik entstanden ist, ein wenig zu entflechten. Teleologisches Denken ist sicherlich immer auf ein Ziel gerichtetes Denken, aber es ist doch zu eng, darunter nur eine vom Subjekt ausgehende, lineare Denkbewegung zu sehen, welche in Umkehrung des Kausalverhältnisses ein Ziel im Hinblick auf die Mittel seiner Verwirklichung analysiert. Aristoteles, der diesesfinale Denken oder diese Zwecktätigkeit, wie ich sie nennen möchte 3 , als erster beschrieben und als praktische Methode des Wissens herausgestellt hat, behandelt es bezeichnenderweise im Rahmen seiner Erörterung der Prohairesis (überlegte Wahl, Entscheidung)4. Finales Denken ist auf von uns im Rahmen unserer Möglichkeiten gesetzte Ziele gerichtet, wobei das Hin und Her der Überlegung nicht um das festliegende Ziel selbst, sondern um die zu ihm führenden Wege kreist. Bieten sich mehrere Wege an, sucht man den leichtesten und besten herauszufinden; gibt es nur einen einzigen Weg zur Verwirklichung, so überlegt man, welche Klippen zu überwinden sind oder auf welchen weiteren Wegen eben dieser eine erreicht werden könnte. Das finale Denken kreist solange um die gegebenen Möglichkeiten, bis der kürzeste, direkte Weg zur ersten Ursache gefunden ist, die in der Reihenfolge der Analyse umgekehrt die letzte darstellt. Aristoteles vergleicht das finale Denken mit dem zergliedernden Verfahren des Mathematikers bei der Lösung geometrischer Konstruktionsaufgaben: So wie dieser eine schon als konstruiert angenommene Figur auf die Bedingungen ihrer Konstruierbarkeit hin analysiert, so untersuche der mit sich Beratschlagende sein Ziel auf die herbeiführenden Mittel, wobei stets das Letzte in der Analyse das Erste in der Ausführung der getroffenen Entscheidung sei 5 . Das finale Denken ist, wie es nach der von Aristoteles gewiesenen Richtung auch gar nicht anders zu erwarten war, heute in eine formale Entscheidungstheorie gemündet, die das Verhalten von Handelnden in Gewißheits- und Ungewißheitssituationen im Hinblick auf willkürlich gewählte Ziele mit dem Rüstzeug moderner Logik und Quantifizierungsmethoden zu optimieren versucht 6 . Solche Verfahren zur Nutzenmaximierung finden auf dem Gebiet des Rechts im Teilbereich der Gesetzgebung Verwendung, wo es um die optimale Umsetzung politischer Zielvorstellungen in das Geflecht gesetzlicher Vorschriften geht, mit deren Hilfe sie verwirklicht werden sollen 7 . Wo man sich dagegen 3 Gerade umgekehrt bezeichnet Weinberger die Auffassung von der Zweckhaftigkeit des Seins als „Finalität" und die Theorie der Zweck-Mittel-Beziehungen als „Teleologie"; vgl. Weinberger: Rechtslogik. Wien/New York 1970. S. 292 Anm. 3. Dies erscheint mir im Hinblick auf die griechische Philosophie, besonders diejenige des Aristoteles, nicht richtig. 4 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers, und hrsg. v. Fr. Dirlmeier. In: Sämtl. Werke. Hrsg. v. E. Grumach. Bd. 6.4. Aufl. Darmstadt 1967. Buch III, Kap. 4,1111 b ff. 5 Aristoteles: Nikomachische Ethik. aaO. Buch III, Kap. 5, 1112 b. 6 Einen Überblick geben: Krelle: Präferenz- und Entscheidungstheorie. Tübingen 1968; Szyper ski /Winand: Entscheidungstheorie. Stuttgart 1974; Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. Untersuchungen zur Logik und ökonomischen Bedeutung des rationalen Handelns. 3. Aufl. Tübingen 1974; Bühlmann/Loeffel/Nievergelt: Entscheidungs- und Spieltheorie. Berlin/Heidelberg/New York 1975; Hagen: Rationales Entscheiden. München 1974. Vgl. auch unten S. 109 ff.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

fragen muß, ob ein beabsichtigter Gesetzeszweck in einem konkreten Normenzusammenhang adäquaten Ausdruck gefunden, bzw. ob er sein soziales Ziel real erreicht hat, ob er mit anderen verbindlichen Zwecken in Widerspruch oder in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung steht, helfen formale, entscheidungstheoretische Überlegungen kaum weiter 8 . Die Rationalität zweckgerichteten, finalen Denkens besteht gerade darin, daß die erzielten Ergebnisse auf die ursprüngliche Zielvorstellung zurückwirken, daß praktisch nicht erreichbare Ziele auch noch nachträglich aufgegeben oder verändert, nicht verwirklichte Ziele durch neue substituiert, zu enge Zielvorstellungen erweitert werden, um unerwartet eingetretene, günstige Ergebnisse zu bewahren und umgekehrt. Finales, menschliches Denken führt letztlich immer zu der qualitativen Frage nach einer Rangordnung menschlicher Zwecke und Werte 9 .

3. Finalität als umgekehrte Kausalität Finales Denken setzt kausales Denken voraus; in der knappen Beschreibung Kants: „Die Kausalverbindung, sofern sie bloß durch den Verstand gedacht wird, ist eine Verknüpfung, die eine Reihe (von Ursachen und Wirkungen) ausmacht, welche immer abwärts geht; und die Dinge selbst, welche als Wirkungen andere als Ursache voraussetzen, können von diesen nicht gegenseitig zugleich Ursache sein. Diese Kausalverbindung nennt man die der wirkenden Ursachen (nexus effectivus). Dagegen aber kann doch auch eine Kausal Verbindung nach einem Vernunftbegriffe (von Zwecken) gedacht werden, welche, wenn man sie als Reihe betrachtete, sowohl abwärts als aufwärts Abhängigkeit bei sich führen würde, in der das Ding, welches einmal als Wirkung bezeichnet ist, dennoch aufwärts den Namen einer Ursache desjenigen Dinges verdient, wovon es die Wirkung ist... Eine solche Kausalverknüpfung wird die der Endursachen (nexus finalis) genannt. Man könnte die erste vielleicht schicklicher die Verknüpfung der realen, die zweite der idealen Ursachen nennen, weil bei dieser Benennung zugleich begriffen wird, daß es nicht mehr als diese zwei Arten der Kausalität geben könne" 10 . 7 Vgl. etwa Weinberger. Zur Theorie der Gesetzgebung. In: Rechtsphilosophie und Gesetzgebung. 1976. S. 173 ff. (189 ff.); derselbe: Rechtslogik. Wien/ New York 1970. Kap. XI. (Teleologie). 8 Ein klassisches Beispiel für einander widersprechende Normzwecke ist die Regelung in § 1 AtomG, wonach Ziel des Gesetzes sowohl die Förderung der Kernenergie (Nr. 1) als auch der Schutz der Bevölkerung (Nr. 2) sein soll. Wie, wenn der Widerspruch zutage tritt? Die Rechtsprechung hat den Schutzzweck dem Förderungszweck (zu Recht) vorgezogen. Vgl. BVerwG DVB1 1972, 678 (680); BVerfG NJW 1980, 761 — „verfassungskonforme Auslegung". 9 Da das Postulat einer Werthierarchie genauso wie das Zweck-Mittel-Schema der Reduktion einer unendlichen Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten dient, ist freilich einzuräumen, daß der Übergang von einer Entscheidungshilfe zur anderen zunächst nur die Folgeprobleme austauscht. Vgl. Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. Tübingen 1968. S. 36f.

II. Teleologisches und kausales Denken

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Wie beim Kausalnexus gibt es also auch beim Finalnexus eine durchgehende Abhängigkeit von Glied zu Glied, eine Reihenordnung; aber die Struktur der Abhängigkeit ist eine andere als im Naturgeschehen. Während in der Kausalkette das Spätere durch das Frühere bestimmt ist, die Abhängigkeit also der Richtung des Zeitflusses folgt, ist in der Finalreihe das Frühere durch das Spätere bestimmt, läuft die Abhängigkeit dem Zeitfluß entgegen, ist — bezogen auf die Zeit — rückläufig, weil alles sich nach dem Endglied, dem Zweck richtet. In diesem Sinne kann man in der Tat von einer Umkehrung des Kausalablaufs, von einer zweiten Art von Kausalität sprechen; das Verhältnis von Ursache und Wirkung ist vertauscht gegen dasjenige von Mittel und Zweck. Ist jedoch die Dynamik des Kausalablaufs nichts anderes als ein blindes, durch die Naturgesetze determiniertes Vorwärtsstoßen, bei dem die Richtung des Prozesses immer nur die Resultante verschiedener, gleichgültiger Bewegungs- und Kraftvektoren ist, so beruht die Dynamik des finalen Ablaufs auf einer vom Endglied, dem Zweck, ausgehenden Attraktion, sozusagen einem Gezogenwerden des ganzen Prozesses auf das Endziel hin. Hier nun beginnt der Streit, ob der Finalnexus, der ja wie der Kausalnexus ein Prinzip des menschlichen Verstandes ist, im Unterschied zum letzteren aber nicht wahrgenommen werden kann, weil wir Ursache und Wirkung nur „rechtläufig", im Ablauf der Zeit, empirisch feststellen können, auf das Naturgeschehen übertragen werden darf; damit zugleich wird das teleologische Denken überhaupt, das seiner Herkunft nach zunächst ein naturphilosophisches ist, in Frage gestellt. Zweifellos läuft der Prozeß des realen Geschehens, auch wenn er final determiniert ist, in der Zeit ab, teilt er die Richtung vom Früheren zum Späteren, ist er kausaler Prozeß, in dem die Mittel die Ursachen darstellen, die das bewußt Bezweckte Schritt für Schritt bewirken. Wer als Handelnder unter dem Gesichtspunkt eines gesetzten Zweckes die Mittel für sein Vorgehen auswählt, setzt den Kausalnexus in seinen Überlegungen voraus. Daraus hat N. Hartmann entsprechend seiner Kategorienschichtung den Schluß gezogen, daß hier die niedere Form der Determination, die kausale, in die höhere, die finale, als Voraussetzung und Moment aufgenommen wird, also keine bloße Umkehrung vorliegt, sondern eine Determinationsform höherer Art 1 1 . Da die rückläufige Bestimmung vom Zweck zum Mittel das Wesen des Finalen ausmache, könne man diese zusammen mit der kausalen Realisation als einen Kreislauf charakte10 Kant: Kritik der Urteilskraft. § 65. Ausgabe Meiner Hamburg 1963. Kritisch zu Kants Kausalitätsverständnis, ferner zum heutigen physikalischen Kausalitätsbegriff vgl. Planck: Die Kausalität in der Natur. In: Vorträge und Erinnerungen. 5. Aufl. Stuttgart 1949. S. 250 ff.; Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik. Hamburg 1955. S. 24 ff.; derselbe: Der Teil und das Ganze. München 1973. S. 141 ff. (Quantenmechanik und Kantsche Philosophie). 11

Ablehnend Stegmüller. Teleologie, Funktionsanalyse und Selbstregulation. In: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. I. Heidelberg/New York 1969. S. 531 : „Teleologie ist Motivkausalität; die,causa finalis' ist als Spezialfall der ,causa efficiens' zu deuten." 4 Mittenzwei

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

risieren, in dem es eine dreifache Bindung zwischen dem Ausgangs- und dem Endpunkt des Prozesses gebe: 1. Die Voraussetzung des Zweckes durch ein Subjekt, die Überspringung des Zeitlaufs, das nur dem Bewußtsein gegebene Vorauseilen und Sichhinwegsetzen über die Zeitordnung; 2. die rückläufige, eigentlich finale Bestimmung der Mittel, beginnend mit dem letzten, dem Endzweck am nächsten stehenden Mittel, zurück bis zum ersten, gegenwärtigen Mittel, an welchem der Handelnde ansetzt; 3. die Realisierung des Zweckes, sein reales Bewirktwerden durch die fortlaufende Reihe der Mittel, wobei das in der vorherigen, rückläufigen Bestimmung durchgängige Verhältnis von Mittel und Zweck sich in ein durchgehendes, rechtläufiges von Ursache und Wirkung umsetzt 12 . Nur die letzte Stufe hat nach N. Hartmann den Charakter eines realen Prozesses im Weltlauf. Für das Verständnis des Ganzen sei es wichtig zu sehen, daß jede Finalreihe von einer entsprechenden Kausalreihe abhänge, weil nur so das Zusammenbestehen beider Determinationstypen in der realen Welt möglich sei. In einer nicht kausal determinierten, gesetzlosen Welt, in der jedes Ereignis zufallig ist, könnte ein zwecktätiges Wesen wie der Mensch auf seine reale Umgebung nicht einwirken, ja er könnte überhaupt nicht bestehen, weil er nicht vorausblickend feststellen könnte, welche Mittel er als Ursachen setzen muß, um ein gewünschtes Ziel zu erreichen. Wie die erste Stufe des Prozesses, so liege auch die zweite ganz im Bewußtsein des Handelnden, weil nur ein Bewußtsein den Zeitlauf überspringen und ihn rückläufig zu durchwandern fähig sei; die dritte Stufe sei die Form der Realisation des Seinsollenden, wodurch dem Sollen im Sein Genüge geleistet werde. Wie der Kausalnexus in der Natur sei die Teleologie der Werte ein Typus der Determination des Realen, aber ein komplexerer und höherer Determinationstypus des Seinsollenden, dessen erstes Glied im Wertfühlen und -schauen liege, und dessen zweites Glied dann von der Wertschau zur finalen, äußeren Handlung im Bereich des Realen führe. Alle aktiven, von Person zu Person gehenden Akte trügen den Finalnexus als kategoriale Form an sich; alles Streben, Wollen, Handeln, alles Wünschen, Sehnen, Hoffen, alle unausgesprochenen und uneingestandenen, in der Gesinnung liegenden Tendenzen gehörten dazu. Alle Aktivität des Subjekts habe im Grunde die Struktur des Finalnexus; die ganze Art der praktischen Intention sei eine finale 13.

12 Hartmann: Teleologisches Denken. Berlin 1951. S. 64—79; derselbe: Der Aufbau der realen Welt. 2. Aufl. 1949. S. 567; derselbe: Ethik. Berlin/Leipzig 1926.4. Aufl. 1962. S. 192 — 198. Anders als Hartmann interpretiert Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität. Tübingen 1968. S. 33 ff., das Verhältnis von Finalität und Kausalität nicht als Überformung des niederen Kausalnexus, sondern als Reduktion einer Unendlichkeit von Möglichkeiten auf eine Handlungsfolge; in dieser funktionalen Perspektive dient Zwecksetzung der selektiven Stabilisierung eines engeren Bereiches relevanter Ursachen und Wirkungen. 13

Hartmann: Ethik. Berlin/Leipzig 1926. S. 173 f.

II. Teleologisches und kausales Denken

4. Finalität und Normativität

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als Determinationen des geistigen Seins

M i t Blick auf den Rechtsbereich sieht V. Kubes im Anschluß an Hartmann in der Kategorie Teleologie i. S. von Finalität oder Zwecktätigkeit die zweite Determination des geistigen Seins neben der Kategorie der Normativität (mit den auf sie gegründeten Grundbegriffen: Norm, Pflicht, Pflichtsubjekt, Rechtssubjekt, Richtigkeit des Rechts, Geltung). Auch nach ihm ist die teleologische Kategorie grundverschieden von der Kategorie der Kausalität, die sie lediglich, als mit ihr in Einklang stehend, in ihre Dienste stelle; mit Hilfe der teleologischen Determination überführe der Mensch als Subjekt das reine Sollen (Freiheit) in die Welt der Realität (Sein). Kubes setzt die Kategorie der Teleologie (Zwecktätigkeit) zweimal an: Einmal bei der Überführung der Normideen in die reale Welt und ein zweites Mal bei der Übertragung des abgeleiteten Sollens gewisser Bereiche des geistigen Seins in die niedrigeren Schichten des Aufbaus der realen Welt. Die Teleologie (Finalität) ist einerseits die Form, mittels welcher das Sollen der Normideen in das reale, geistige Sein, besonders in den personalen, objektiven und objektivierten Rechtsgeist, also in das rechtliche Bewußtsein des Individuums, in das rechtliche Fühlen, in die rechtliche Überzeugung des Volkes und in den objektivierten Rechtskodex, überführt wird, andererseits aber die Form, mittels welcher speziell die Normen der Rechtsordnung in die niedrigeren Schichten der realen Welt übertragen werden, d.h. die Form, mittels welcher das abgeleitete Sollen der Rechtsnormen in der Welt realisiert wird 1 4 . Gegen Kelsen macht Kubes geltend, daß er die Kategorie der Teleologie (Finalität) als umgekehrte Kausalität verkannt habe; das teleologische Prinzip sei nur dort gegeben, wo Bewußtsein tätig und die Möglichkeit des bewußten Eingriffs gegeben sei, nur dort, wo es sich um den Menschen als Person handelt. Weder die Schicht des physisch-materiellen noch die Schicht des organischen oder die des seelischen Seins kenne Zwecktätigkeit; die teleologische Kategorie sei ausschließlich der Schicht des geistigen Seins eigen. Es sei ein Fehler, einerseits Kausalität und Finalität als umgekehrte Kausalität unter die explikativen Methoden einzureihen, die zum Erkennen der Welt des Seins bestimmt seien, andererseits das Recht der „Welt" der Idealität zuzuordnen, wo die Kategorie der Normativität allein adäquat sei 15 . Der Unterschied zwischen Kausalität und Teleologie (Finalität), den N. Hartmann und V. Kubes herausarbeiten, ist in einem doppelten Sinne von Bedeutung: Einmal zeigt er, daß es nicht richtig sein kann, wegen der Inhaltsidentität von realer Kausalkette und idealer Finalreihe das teleologische (finale) Denken, weil es nicht sichtbar ist, ganz aus dem Bereich menschlichen Verhaltens zu verbannen, und den gesamten Sozialbereich den auf kausalem Denken beruhenden Erklärungsmethoden moderner Wissenschaft zu übereig14

Kubes: Grundfragen der Philosophie des Rechts. Wien 1977. S. 46, 47. Kubes: Rechtsontologie und ihre Beziehung zur Struktur des Rechts. In: Rechtsphilosophie und Gesetzgebung. Wien/New York 1976. S. 44 ff. (51). 15

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

nen, wozu der Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts, aber auch jüngere, zu einem monistischen Wissenschaftsverständnis tendierende Strömungen in den Sozialwissenschaften immer noch neigen16. Damit würde der im Transzendentalismus Kants und Fichtes offenbar gewordene Freiheitsaspekt menschlicher Tathandlungen wieder verlorengehen. Zum anderen fragt es sich, ob nicht, zumindest begriffsgeschichtlich gesehen, das teleologische Denken eine schwerwiegende Einbuße an Problembewußtsein erleidet, wenn man es auf die Kategorie der Finalität, d.h. bewußter Zwecksetzungen beschränkt. 5. Interventionistische

Kausaltheorie

Versteht man unter kausaler, wissenschaftlicher Erklärung eines Ereignisses die Angabe von Randbedingungen (Ausgangsbedingungen) sowie einer (immer wieder beobachteten) Gesetzmäßigkeit, nach welcher aus den Randbedingungen das zu erklärende Ereignis hervorgeht (sog. Hempel-Oppenheim-Schema), so sind derartige kausale Erklärungen im Bereich der wissenschaftlichen Erforschung der anorganischen und organischen Umwelt zum Zwecke der besseren Beherrschung derselben teleologischen Erklärungen von Ereignissen zweifellos vorzuziehen. Darüber darf aber weder vergessen werden, daß die sog. „Realkategorie" (Hartmann) Kausalität eine apriorische Kategorie des Verstandes und keineswegs der Natur an sich ist 17 , noch, daß Kausalität und Teleologie der gleichen Vorstellung entstammen. Wenn der Wissenschaftler aus dem Ganzen der Natur einen kleinen Ausschnitt ausgrenzt und untersucht, indem er einen Zustand Β isoliert, der das Ende dieses Ausschnittes aus dem Gesamtzusammenhang bildet, nach den Bedingungen A von Β fragt und schließlich eine naturgesetzliche Verknüpfung der Bedingungen A mit dem Zustand Β feststellt, so ist immer er es, der dies tut, der eingreift, variiert, konstatiert. In einer mechanisch gedachten Welt setzt jede Ausgrenzung eines bestimmten Ereignisses, das mit irgendeinem anderen in einem gesetzmäßigen Zusammenhang steht, einen Beobachter voraus, und zwar nicht nur für die Festsetzung des Ereignisses Β als Endzustand, sondern ebenso für die Ursachen, Ausgangs- oder Randbedingungen: nicht bloß das Ende, auch der Anfang des Kausalnexus wird vom Forscher bestimmt. Daraus muß letztlich der Schluß gezogen werden, daß eine kausale Interpretation von Ereignissen nicht anders als eine teleologische stets schon einen Begriff von Handlung voraussetzt 18. Ohne den Gedanken eines 16 Vgl. zur nachhaltigen Wirkung der biologisch-kausalen Evolutionstheorie seit Darwin auf Sozialwissenschaften, Ökonomie, Politik und Ethik Spaemann/Low: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. München/Zürich 1981. S. 213ff., 220 ff. (221). 17 Vgl. Köchler: Transzendentalphilosophie als Anthropologie? Bemerkungen zum universalen Anspruch der evolutionären Erkenntnistheorie. In: Festschr. f. Ivo Kohler. 1980. 18 Zur „interventionistischen Kausaltheorie" vgl. v. Wright: Causality and Determinism. New York 1974; derselbe: Erklären und Verstehen. Frankfurt/M. 1974. S. 42 ff. (81/82); Schneider: Die Asymmetrie der Kausalrelation. In: Mittelstraß (Hrsg.): Vernünfti-

II. Teleologisches und kausales Denken

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menschlichen Eingriffs läßt sich allenfalls feststellen, was im Fluß der Dinge alles aufeinander folgt — und selbst solche Feststellungen wären sprachliche Ausgrenzungen mit Begriffen! Zwar darf jeder Vorgang, auch im Sozialbereich, kausal interpretiert werden, aber stets erst, wenn er zuvor in einen Handlungszusammenhang integriert wurde; kausale Interpretation ist ebenso wie teleologische nur unter der Voraussetzung eines um- und übergreifenden Lebenszusammenhanges möglich. Es ist deshalb unsinnig, kausale Erklärungsmethoden gegen teleologisches Verständnis ausspielen oder gar als Waffen gebrauchen zu wollen, und unredlich, realistische, metaphysikfreie, wissenschaftliche Kausalerklärung idealistischer, unwissenschaftlicher Finalerklärung gegenüberzustellen19. 6. Die aristotelische

Entelechìe

Aber stellen wir diesen Streitpunkt vorerst zurück und wenden wir uns dem zweiten Problem zu: Aristoteles, der als erster die mit dem teleologischen Denken zusammenhängenden Probleme in eine klassische Form gebracht hat, stellt der Finalität bzw. Zwecktätigkeit, die er, wie gesagt, im Rahmen seiner Prohairesis-Lehre bespricht, die Entelechie gegenüber. Dieser Begriff gehört in den Zusammenhang seiner Lehre von „Energeia" und „Dynamis" (scholastisch: Akt und Potenz), welche ihrerseits ein wesentlicher Bestandteil der Lehre vom Seienden ist, und bezeichnet die Verwirklichung der in einem Seienden angelegten Vermögen oder Möglichkeiten. Dabei meint er zuweilen mit Entelecheia den Zustand bzw. Vorgang der Verwirklichung und Vervollkommnung, zuweilen aber auch das verwirklichende Moment selber, den Zweck, die Form, welche dem Stoff als dem bloß Möglichen als das vorhergehende, eigentlich Wirkliche gegenübersteht; Entelecheia bedeutet dann die Form, welche sich im Stoff selbst verwirklicht, die Vollendung und Vollkommenheit, das Ziel des Verwirklichungsprozesses. Nach Aristoteles ist menschliche Erkenntnis, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vornehmlich auf die Welt der natürlichen Dinge gerichtet, um in und aus ihnen das Allgemeine, Unveränderliche, Notwendige (Wesen, Form, Begriff) zu ermitteln; darin besteht für ihn die wissenschaftliche Aufgabe. Das Ergebnis seiner Analyse einer Welt des Entstehens und Vergehens, der ständigen Veränderung, ist, daß sich alle Bewegung und Veränderung zwischen Gegensätzen vollzieht, wobei ein Gegensatz niemals unmittelbar in den anderen übergehe, sondern durch ein Drittes, woran sich bald der eine, bald der andere Gegensatz finde, vermittelt werde. Bei aller Veränderung muß also etwas zugrunde liegen, was beharrt: die Materie. Es gibt nach Aristoteles somit drei ges Denken. Berlin 1978. S. 217 ff.; auch Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 1968. S. 157 ff. 19 Vgl. Spaemann/Löw: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. München/Zürich 1981. S. 246; Jonas: Organismus und Freiheit. Göttingen 1973. S. 42 ff.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

Elemente des Werdens: die Materie (den Stoff, die Substanz, causa materialis), an welcher sich die Veränderung vollzieht, und die beiden Gegensätze, zwischen denen sie sich vollzieht, nämlich einerseits die Form (causa formalis), welche bei bewegten Dingen Wirkursache (causa efficiens) und Zweck (causa finalis) enthält, und der Zustand, in dem sich die Sache am Anfang des Prozesses befindet, wenn ihm die Form noch fehlt; in diesem Sinne wird für ihn im Bereich des Veränderlichen jedes Seiende aus einem Nichtseienden, d.h. aus einem Seienden, welches nicht schlechthin, sondern nur in gewisser Hinsicht, noch nicht ist 20 . Bezieht man das entelechelisch-teleologische Denken des Aristoteles, wie ich es nennen will, auf das Begriffsraster, das bislang entwickelt worden ist, so beschreibt er offenbar in der Relation: „Das Wissende bestimmt, daß das Gewußte das Wissende bestimmt", die „Insich-Reflektiertheit" oder das „Insich-Vermitteltsein" des natürlichen Organismus, im Unterschied zur wissenden und motivierenden „Insich-Reflektiertheit" des (geistigen) Menschen, die N. Hartmann und V. Kubes als die höhere, d.i. die Subjekt-Objekt-Relation schon aufbewahrende Stufe im Blick haben. Beide Weisen des „InsichVermitteltseins" sind für Hegel Begriffsformen: das nur perzipierende, anschauende, ganz rezeptive Bewußtsein (der daseiende, unmittelbar existierende Begriff) hat die „Insich-Vermitteltheit" der Sache zum Inhalt, wobei das Ich als subjektiver Bezugspunkt angesichts der Objektivität der Natur keine Rolle spielt; das apperzipierende, urteilende, spontane, sich selbst wissende und motivierende Bewußtsein (der in Freiheit existierende Begriff) die „InsichReflektiertheit" sowohl der Sache als auch seiner selbst21. Der „daseiende, unmittelbar existierende Begriff im Sinne Hegels ht also nichts anderes als die eigentliche, innerliche Einheit der Entelechie des Aristoteles, der „ i n Freiheit existierende Begriff' nichts anderes als die eigentliche, innerliche Einheit des Ich als eines zwecksetzenden Subjekts im Sinne Hartmanns. Während der (bloß) daseiende Begriff nur ein Allgemeines, d.h. seine natürliche Art, Species, Eidos, „vorstellt" (im doppelten Sinne von etwas vorstellen, darstellen, repräsentieren und sich selbst vorstellen), stellt der (auch) existierende Begriff im Rahmen der Species Mensch nur jeweils ein Allgemeines vor, indem er es in seinen allgemeinen Bezügen zum Bewußtsein bringt und von dorther bestimmt. In dieser Sicht wird der Mensch gewissermaßen „von Natur aus" (wesens-, art-, normgemäß) zu einem pluralistischen Geschöpf, bei dem es schwer ist, sein Wesen zu konkretisieren, weil er zwar einerseits zur Natur gehört und wie jedes Tier als Tier nur ein Allgemeines vorstellt, andererseits auf dieses 20 Vgl. Aristoteles: Physikvorlesung. 188 b — 191 b. Übers, v. H. Wagner. In: Sämtl. Werke. Hrsg. v. E. Grumach u. H. Flashar. Bd. 11. 3. Aufl. Darmstadt 1979. Zur aristotelischen Ontologie und zu ihrem Weiterwirken in der europäischen Geistesgeschichte vgl. unten S. 245 ff.; 334ff. 21 Vgl. Heintel: Die beiden Labyrinthe der Philosophie. Bd. 1. Neopositivismus und Dialektischer Materialismus. Wien/München 1968. S. 72 f.

II. Teleologisches und kausales Denken

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aber nicht festgelegt ist; er steht artgemäß in einer wechselseitigen Beziehung zur Natur, bestimmt sich jedoch von hier aus als „geistig" und „handelnd"; kurz, er ist die in der Natur existierende Transzendentalität 22. Durch nichts wird die „Ewigkeit" der Form im Ganzen der „ewigen" Ordnung der Natur im Sinne des Aristoteles so sehr in Frage gestellt wie durch diesen im Freiheitsgedanken zum Bewußtsein kommenden Pluralismus des Menschen, von dem her schließlich jede im Stoff-Form-Problem fundierte objektive Seinsordnung und alle dazu gehörende wesentliche Bindung des Menschen in der Beliebigkeit und der Willkür vermeintlich freier Subjektivität zunichte wird 2 3 . 7. Nicolai Hartmanns Einwände So macht denn auch N. Hartmann, auf den ich mich hier als distanzierten Neukantianer, dem es stets mehr auf die Seins- als auf die Erkenntniskategorien angekommen ist, stellvertretend für eine seit über 100 Jahren weitaus herrschende Ansicht beziehen möchte, gegenüber der aristotelischen Stoff-Form-Metaphysik geltend, daß Teleologie eine Eigentümlichkeit ausschließlich des Menschen sei; nur in einem bewußten, erkenntnis- und strebensfahigen Wesen sei sie möglich. Ob es außerhalb der Menschenrasse noch andere Wesen mit solchen Fähigkeiten gebe, sei Sache bloßer, spekulativer Mutmaßung, denn das Setzen von Zwecken, Vorsehung und Vorbestimmung, Fähigkeit des Strebens und aktive Verwirklichung des Vorbestimmten beobachteten wir einzig und allein beim Menschen. Für eine nüchterne Philosophie gebe es die Zweckkategorie als bewußte Zwecktätigkeit erst im Bewußtsein, vielleicht in höheren Gebilden, sicher nicht in niederen, welche für sich genommen zweckfremd, zwecklos, zweckindifferent seien und gerade deswegen als Mittel in einen Finalnexus einbezogen werden könnten. Die philosophischen Systeme der Vergangenheit hätten in ihrer überwiegenden Mehrheit die Zweckkategorie zu einer allgemeinen, ontologischen, ja speziell zur Naturkategorie gemacht und seien damit mythischem Denken gefolgt, das in jeder auffallenden Naturerscheinung die Auswirkung zwecktätiger Mächte sehe und dann nicht umhin könne, die ganze Natur nach Analogie des eigenen Subjekts beseelt, vorsehend und strebend aufzufassen. Zwar sei es richtig, daß bei den Erscheinungen des Lebens die Kausalerklärung alleine versage und der Gedanke einer anders gearteten Determination „ewig berechtigt" bleibe, doch liege die Willkür dieser Seinsmetaphysik gerade darin, als in Frage kommende Grundkategorie allein den Finalnexus zu betrachten, wie wir ihn vom wollenden und handelnden Subjekt 22

Es ist heute sogar denkbar geworden, daß für die sinnhafte, personale Indeterminiertheit ein physikalisches Korrelat vorhanden ist, vgl. Waismann: Niedergang und Sturz der Kausalität. In: Wendepunkte der Physik. Hrsg. v. ten Haar und Crombic. Braunschweig 1963. S. 67 ff. 23 Man vgl. Löwith: Vicos Grundsatz „verum et factum convertuntur". In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philos.-histor. Kl. 1968.1. Abhdlg. S. 33 ff.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

her kennen, ohne sich Rechenschaft zu geben, daß es neben diesen beiden bekannten Determinationstypen noch unbegrenzt viele unbekannte geben könne 24 . So wurzele auch der aristotelische Gedanke der Entelechie im Organischen und sei von dort verallgemeinernd auf den gesamten Naturprozeß übertragen worden, um schließlich alles in einem einzigen, teleologischen Weltprinzip, in der reinen Energie des „ersten Bewegers" zusammenzufassen. Die Kritik dieser Ontologie habe bezüglich der anorganischen Natur schon mit Begründung der neuzeitlichen Naturwissenschaft eingesetzt und im Hinblick auf die organische Natur in Kants „Kritik der Urteilskraft" ihr unabweisbares Fundament gefunden. Kant habe gezeigt, worin eigentlich der Grund für die Neigung des Menschengeistes liege, Naturphänomene teleologisch zu deuten. Es gebe Naturformen, deren Zweckmäßigkeit für das Dasein anderer Formen mit zu ihrem Erscheinungsbild gehöre, d.h. sie verhielten sich tatsächlich so, „als ob" sie zu einem bestimmten Zweck hervorgebracht wären. Dieses „Als ob" sei wie das Phänomen der Zweckmäßigkeit durchaus kein willkürlicher Gesichtspunkt, aber weder aus dem einen noch aus dem anderen folge, daß ein schaffendes Zweckprinzip tatsächlich vorhanden sei. Jeder kausale Prozeß lasse sich widerspruchslos in einen finalen umdeuten, weil es ein Leichtes sei, hinter jedes kausale Geschehen, das eben nur die dritte Stufe des Nexus sichtbar mache, die beiden vorausgehenden Stufen des Finalnexus hineinzukonstruieren. Auch wenn sich die Erscheinungen der Natur solcher Zweckdeutung nicht widersetzten und diese deshalb weder zu beweisen noch zu widerlegen sei, so bleibe sie doch, im Lichte der kritischen Philosophie Kants, ein bloßes „Als ob", bestenfalls als methodologisches Regulativ, als ein Forschungsprinzip zu gebrauchen, jedoch ohne jeden konstitutiven Anspruch 25 . Alle Metaphysik zeige das begreifliche Verlangen, den ontologischen Gesichtspunkten axiologische überzuordnen, um den Weltprozeß im großen als Verwirklichung des an sich Wertvollen auffassen zu können, mit der Konsequenz, daß stillschweigend in Kauf genommen werde, was kein menschlicher Gedanke rechtfertigen könne, nämlich die Voraussetzung eines vorhersehenden, zwecksetzenden, der realen Lenkung des Prozesses mächtigen Bewußtseins oder personalen Wesens im großen. Sei der Weltprozeß Zwecktätigkeit, so müsse jemand „hinter ihm stehen", der in ihm zwecktätig sei: teleologische Metaphysik führe unausweichlich auf Gott hinaus, d.h. auf eine Annahme, die wie keine zweite jenseits aller wissenschaftlichen Erweisbarkeit stehe. Entelechelischteleologisches Denken sei notwendigerweise Anthropomorphismus; die im Primat der Werte vor den Seinskategorien wurzelnde Weltteleologie bedeute als axiologische Realdetermination einen vollkommenen Determinismus, in wel24 Man fragt sich sofort, welche „unbekannten Determinationstypen" dies wohl sein mögen? — und gibt bald auf: die Vernunft findet keine! 25 Zur Kritik gerade der Position Kants vgl. Heinteh Naturzweck und Wesensbegriff. In: Subjektivität u. Metaphysik. Festschr. f. Wolfgang Cramer. Frankfurt 1966. S. 163 ff.

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chem dem Menschen der Spielraum für jede von ihm ausgehende Determination benommen sei; gegen einen Finalnexus, der die Resultate aller Prozesse im voraus festlege, könne ein endliches, in den Weltprozeß eingebettetes Wesen wie der Mensch nicht aufkommen. Für die Ethik sei diese Perspektive des Pantheismus katastrophal, weil sie den Menschen aller Zurechnung und Verantwortung überhebe; er könne danach wohl Träger gewisser Werte sein, aber seine Wertträgerschaft sei keine andere als die der übrigen Wesen und Dinge. Jede Verwirklichung von Werten, die von ihm ausginge, sei nicht sein eigenes Werk, sondern das eines durch ihn hindurchgehenden, teleologischen Prozesses, was Freiheit und Verantwortlichkeit und damit die Trägerschaft sittlicher Werte aufhebe. Der Mensch stehe den Naturwesen gleich, sein autonomes Wesen und seine (finale) Teleologie sei im kosmischen Primat der axiologischen Determination und (entelechelischen) Teleologie vernichtet; konsequente Weltteleologie hebe die Ethik schlechterdings auf 26 . Die nackte Sachlage sei, daß das Phänomen des sittlichen Bewußtseins, des Menschen als personalen Wesens, sich mit der Annahme einer Weltteleologie nicht vertrage; man habe zwischen einer vollständigen und echten Disjunktion zu wählen: entweder Teleologie der Natur und des Seienden überhaupt oder Teleologie des Menschen, eine dritte Möglichkeit gebe es nicht 27 . Es hat sich in der Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie immer wieder als ein probates Mittel erwiesen, wenn ein Denker oder eine ganze Schulrichtung die vergangene wissenschaftliche oder philosophische Tradition auf eine Formel brachte, um sich auf diese Weise von ihr bündig distanzieren und das eigene Denken als einen „Neuanfang" herausstellen zu können. Zu solchen Formeln, die in den Zeitgenossen sofort den Beigeschmack überholter Unwissenschaftlichkeit erzeugen sollen, gehören in der Philosophie und Wissenschaftstheorie die Schlagwörter „Mythisches Denken", „Metaphysik" oder „Anthropomorphismus", deren sich auch Hartmann freizügig bedient 28 . Weite Kreise des Neukantianismus ebenso wie der Lebensphilosophie, die angesichts des Traditionsverlustes bei A. Schopenhauer und F. Nietzsche im 19. Jahrhundert nur noch „Weltanschauung" betrieben, Neopositivisten, kritische Rationalisten, dialektische Theologen wie auch Marxisten haben sich dieser wirksamen Destruktionsmethode bedient, um keinen Widerspruch mehr aufkommen zu 26

Ganz anderer Ansicht ist in diesem Punkte der „Determinist" Planck aus naturwissenschaftlicher Sicht; vgl. seine Vorträge „Kausalgesetz und Willensfreiheit", „Die Kausalität in der Natur", „Vom Wesen der Willensfreiheit" in: Vorträge und Erinnerungen. 5. Aufl. Stuttgart 1949. S. 139 ff., 250 ff. (267 f. ), 301 ff. 27 Vgl. Hartmann: Ethik. Berlin/Leipzig 1926. S. 180 — 185; seine Position hat Hartmann in der Schrift: Teleologisches Denken. Berlin 1951, ausgebaut. 28 Was andere zu der ironischen Bemerkung veranlaßte, Hartmann habe noch 1951 („Teleologisches Denken") so gegen Aristoteles polemisiert, als sei ihm dieser eben bei einer Lehrstuhlbesetzung vorgezogen worden. Vgl. Spaemann/Löw: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. München/Zürich 1981. S. 75 Anm. 2, 266 Anm. 1.

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lassen, es sei denn, um den Preis der wissenschaftlichen oder philosophischen Disqualifikation des Widersprechenden 29. Schon aus diesem Grunde kann es hier im Rahmen einer Exposition der Problemlage teleologischen Denkens nicht darum gehen, das heute wissenschaftlich, aber auch philosophisch weitgehend abgelehnte, entelechelische Stoff-Form-Verständnis der aristotelischen Tradition mit einer Reihe von Argumenten kurzerhand zu rehabilitieren und in alte Rechte wieder einzusetzen; dazu wäre eine eingehende, begriffsgeschichtliche Auseinandersetzung vonnöten, die tief in die Grundfragen von Sein und Denken (Freiheit) in der dialektischen Bewegung der Begriffe (ganz im Sinne Hegels) hineinführen würde und nur mit großem Aufwand geleistet werden könnte 30 . Hier geht es vorerst lediglich darum, die Argumentation Hartmanns als nicht zwingend zu erweisen und die mit der Ausschaltung des entelechelisch-teleologischen Denkens verlorengegangenen Problemstellungen und Einsichten ins Bewußtsein zurückzurufen. 8. Eine falsche Alternative

und ihre aporetischen Folgen

Betrachtet man die historisch überlieferten, philosophischen Theorien seit den Anfangen der europäischen Geistesgeschichte in ihrer Gesamtheit, so lassen sich, natürlich in starker Vereinfachung, zwei fundamentale Positionen unterscheiden. Die erste Position versucht, alles, was überhaupt ist, durch Einordnung in einen gegliederten, harmonischen Gesamtzusammenhang zu erfassen, und macht in dem Streben nach einem logisch und ästhetisch (sinnlich) befriedigenden System aller Dinge auch vor dem erfassenden Subjekt, dem Menschen, nicht halt; der das Universum erkennende, menschliche Geist findet sich selbst in einem universellen Seinszusammenhang eingebettet und eingeordnet. Auf eine handliche Formel gebracht: Das Sein geht dem Bewußtsein rangmäßig vor, womit allerdings nicht gesagt sein soll, daß diese Position eine eindringliche Erhellung des Bewußtseins, des Wissens und der Bezogenheit der Dinge auf das wissende Bewußtsein nicht kennt 31 . In diese Positionsbeschreibung läßt sich die aristotelische Seinsauffassung, ja die gesamte antike Metaphysik, zwanglos einfügen. Demgegenüber kommt in der zweiten Position ein grundsätzlich neues Motiv zur Geltung: Denken und Wissen des Menschen werden nicht mehr unreflektiert in das allgemeine Sein der Dinge miteinbezogen, sondern in unvermittelter, schroffer Weise allem Gewußten und Erkannten gegenübergestellt. Die systematischen Beziehungen zwischen den einzelnen Sachbereichen des gegliederten 29

Übrigens ein typisches Verhalten für alle historischen Wissenschaftsgemeinschaften, wie wir noch sehen werden. Vgl. unten S. 275 ff. 30 Die überfallige Einführung in die Geschichte des teleologischen Denkens haben unlängst Spaemann/Löw: Die Frage Wozu? München/ Zürich 1981, geleistet. 31 Vgl. Gadamer : Vorgestalten der Reflexion. In: Subjektivität und Metaphysik. Festschr. f. Wolfgang Cramer. Frankfurt/M. 1966. S. 128 ff.

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Gesamtzusammenhangs verlieren gegenüber den Bezügen zwischen Bewußtsein und den gewußten Gegenständen des Bewußtseins an Gewicht und Bedeutung. Zwischen Subjekt und Objekt öffnet sich in der Reflexion der Beziehung ein anscheinend unüberbrückbarer Abgrund, der dem Bewußtsein gegenüber dem Sein zugleich einen logischen Vorrang verschafft. Dies ist in wenigen Worten die Position neuzeitlicher Philosophie seit Descartes und ihrer systematischen Ausarbeitung durch Kart fi 2. In der Alternative der beiden beschriebenen Positionen droht jedoch stets die einseitige Auflösung der Problematik zugunsten des Vorrangs des Seienden vor der Vermittlung (des daseienden, unmittelbar existierenden Begriffs) oder umgekehrt zugunsten des Vorranges der Vermittlung vor dem Seienden (des in Freiheit existierenden Begriffs, des transzendentalen Bewußtseins), wobei, wie ein Blick in die Geistesgeschichte lehrt, die erste Alternative sich meist als die stärkere erweist; gemäß der in Richtung auf eine naturalistische Auflösung des Problems begriffenen Formulierung L. Feuerbachs: „Allerdings ist das Bewußtsein das erste; aber es ist nur das erste für mich, nicht das erste an sich. I m Sinne meines Bewußtseins bin ich, weil ich bewußt bin; aber im Sinne meines Leibes bin ich bewußt, weil ich bin." 3 3 . Es gilt, deutlich zu machen, daß die Alternative, in die Hartmann das Denken drängen will — hier: Spontaneität, sittliches Bewußtsein, Person; dort: Rezeptivität, totale Bedingtheit, vollkommener Determinismus — nicht richtig und für jede Position, welche die idealistische Errungenschaft der Reflexion als unüberbietbares Prinzip bewahren will, gefahrlich ist, daß außerdem mit der Annahme einer „vollständigen und echten Disjunktion", wie sie übrigens in ähnlicher Weise schon Fichte behauptet hat 3 4 , in Wahrheit gar nichts erreicht wird. Wie verhängnisvoll sich die falsche Alternative naturrechtlich auswirkt, zeigt der in der historischen Entfaltung naturrechtlicher Begründung zu beobachtende, unvermittelte Umschlag von einer verabsolutierten Einseitigkeit in die andere: Wurden in der aristotelischen Tradition die empirisch vorgefundenen, sozialen Bindungen als konstituierende Strukturen des Menschseins ontologisch überhöht und natürliches Recht als logische Konsequenz eines vermeintlich unveränderlichen, gesellschaftlichen Ordnungsgefüges jeder Kritik entzogen, so verführte die neuzeitliche, mit Descartes einsetzende und in Kant ihren systematischen Höhepunkt erreichende Erkenntniskritik dazu, anstelle der als Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse durchschauten konkreten Rechts- und Gesellschaftsordnungen nunmehr den Menschen selbst als naturhaftes, vor jeder gesellschaftlichen Verflechtung originäres Wesen zum absoluten Richtpunkt materialen Rechtsdenkens zu machen. Folgerichtig schritt die Entwicklung zur Ausformung allgemeiner, individueller „Menschenrechte" weiter, das Verhältnis von übergeordnetem, gesellschaftlichen System und Rechtssphäre 32 33 34

Vgl. Fink: Alles und Nichts. Ein Umweg zur Philosophie. 1959. S. 31 f. Feuerbach, Sämtl. Werke. Hrsg. v. W. Bolin und F. Jodl. 1903 ff. Bd. IV. S. 201. Vgl. oben S. 33.

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des Individuums verkehrend und die teleologisch-hierarchische Naturordnung der alten Welt durch ein modernes, den Einzelnen stützendes, zugleich aber auch vom Ganzen absonderndes Naturrecht ersetzend. Fand nach der älteren Naturrechtsauffassung der Mensch sein Wesen und seine sinnvolle Existenz nur an dem Platz, den die natürliche Ordnung der Gesellschaft ihm anwies, so entzieht die neue Naturrechtskonzeption in ebenso einseitiger Verfolgung individueller Rechte der übergreifenden, menschlichen Gemeinschaft jeden Eigenwert, was sich bis in die Grundrechtsdogmatik unserer heutigen Verfassung ausgewirkt hat: Grundrechte dürfen nur eingeschränkt werden, soweit dies für die Bewahrung der Grundrechte anderer und die Erhaltung der Funktionsfahigkeit des Staates, der ja die Grundrechte garantiert und schützt, erforderlich ist. Damit gibt es keine originären Rechtspflichten gegenüber der staatlichen Gemeinschaft mehr, sondern nur solche sekundärer, aus dem Schutze der Grundrechte funktional abgeleiteter Art. Die unbefriedigende Einseitigkeit dieses individualistischen Konzepts offenbart sich nicht nur darin, daß die naturrechtlich postulierten Freiheitsräume des Individuums durch bloße Gewährung von Grundrechten faktisch offensichtlich nicht zu gewährleisten sind, was individualistisch ansetzende Vernunftrechtler, wie beispielsweise Fichte, schon früh veranlaßte, im Interesse des Einzelnen eine mehr oder weniger strenge Zwangsordnung zu entwerfen, sondern auch darin, daß der Rückzug des Naturrechts aus den konkreten, gesellschaftlichen Ordnungen in die Theorie individualistischer Menschenrechte unweigerlich in die Utopie einer unendlichen Kommunikation unter freien und (rechtlich wie faktisch) gleichen Individuen einmündet; eine Kommunikation, die, obgleich praktisch unvermeidlich, nirgends sinnvoll abgebrochen werden kann, weil der kommunikationsunabhängige, objektive, nur aus der Gesamtheit der jeweiligen historischen Bedingungen und geschichtlichen Erfahrung prozessual zu gewinnende Zielpunkt fehlt. Ein vernünftiger Kompromiß zwischen dem individualistischen Interesse an Gleichheit und Freiheit garantierenden Menschenrechten und dem universalistischen Interesse an der Funktionsfähigkeit des Rechts- und Gesellschaftssystems scheint nur erreichbar, wenn das Individuum nicht lediglich als absolut freies Vernunftwesen in fiktiver Trägerschaft gleichmachender Rechte, sondern ebenso als Glied eines Gemeinwesens, eines Ganzen, mit ursprünglichen, differenzierten, nicht zur Disposition stehenden Pflichten, gerade der „Natur" gegenüber, gesehen wird. Dies scheint heute um so nötiger, als das mit Hilfe der Idee eines universellen Seinszusammenhangs vom älteren Naturrecht geknüpfte Band zwischen geschriebenem Recht und ungeschriebener Sittlichkeit durch Kant und seine Nachfolger nicht ohne folgenschweren Schaden für das Recht zerschnitten wurde und jetzt nach neuen Möglichkeiten einer sittlichen Fundierung des Rechts gesucht werden muß. Wenn es richtig ist, daß die Orientierung des Menschen in der Welt im Unterschied zu anderen Lebewesen niemals in der begriffslosen Unmittelbarkeit des Leiblich-Anschaulichen aufgeht, sondern, wo immer der Mensch sich in Raum und Zeit rezeptiv verhält, stets zugleich die gedachte Welt der sprachli-

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chen Begriffe und spontanen Ideen zum Zuge kommt, wie ich es aufzuzeigen versucht habe, dann ist im Medium der Sprache und in der begrifflichen Erschlossenheit der Welt die Orientiertheit immer schon über die Alternative Hartmanns hinaus. Ist die unmittelbar anschauliche Welt als Inbegriff alles individuell in Raum und Zeit Erscheinenden für uns als Gegenstand überhaupt nicht unmittelbar, sondern nur über die sprachlichen Begriffe vermittelt „gegeben", weil alles individuell Seiende erst durch die Sprache zu etwas konkret Bestimmtem wird, dann zeigt sich mit jedem bestimmten Begriff neben dem Konkret-Realen sofort das Allgemein-Geistige, welches wir aus der anschaulichen Welt und der in ihr beobachtbaren, physischen Abläufe nicht gewonnen haben können. Deshalb geht schon Piaton in seiner sog. „Anamnesis-Lehre" 35 davon aus, daß der Mensch das in den sprachlichen Begriffen enthaltene Allgemeine stets schon besitzt, wenn er sich auf seine natürliche, menschliche Weise in der Welt zu orientieren versucht, was freilich ganz unmöglich wäre, wenn die sprachliche Weltorientierung in überhaupt keinem Bezug zum inneren Zusammenhang der Welt an sich stünde. Es kann folglich nicht darum gehen, in einer schon fertigen Welt real Einzelnes und abstrakt Allgemeines gegenüberzustellen und unvermittelt stehen zu lassen, sondern immer nur darum, eine Möglichkeit zu finden, wie durch Vereinigung des anschaulich Einzelnen mit den sprachlichen Ideen eine menschliche Weltorientiertheit und in ihr die reale Welt selbst konstituiert werden könnte. Das ist übrigens auch der Sinn jener mittelalterlichen Wendung, welche die Wahrheit als „adaequatio intellectus et rei" definiert; Angemessenheit oder Übereinstimmung stellen nur die auf den Begriff der Wahrheit hin formulierte, andere Seite der ontologischen Annahme der Vorsokratiker dar 3 6 , daß dem Universum Ordnung und Harmonie schon deshalb nicht abgesprochen werden könne, da wir in ihm existieren, ja sogar als uns wertend distanzierende, geistige Wesen existieren könnten. Oder in den Worten Hegels: „... soviel ist auch vorläufig einzusehen, daß, indem der Gedanke sich von den Dingen einen Begriff zu machen sucht, dieser Begriff... nicht aus Bestimmungen und Verhältnissen bestehen kann, welche den Dingen fremd und äußerlich sind. Das Nachdenken ... führt auf das Allgemeine der Dinge; dies ist aber selbst eines der Begriffsmomente. Daß Verstand, Vernunft in der Welt ist, sagt dasselbe, was der Ausdruck ,objektiver Gedanke' enthält. Dieser Ausdruck ist aber eben darum unbequem, weil Gedanke zu gewöhnlich nur als dem Geiste, dem Bewußtsein angehörig und das Objektive ebenso zunächst von Ungeistigem gebraucht w i r d " 3 7 . Die Bewegung des Geistes, welche zur Setzung des transzendentalen über dem leiblichen Ich führte, ist eine Bewegung der Reflexion, die in der unbeschränkten Reflexionsfähigkeit des menschlichen Bewußtseins ihren letzten Grund findet; 35 Vgl. dazu Bluck: Plato's Phaedo. London 1955. S. 11 f.; Hirschberger. Geschichte der Philosophie. Bd. 1. Freiburg 1979. S. 91. 36 Vgl. Hirschberger. aaO. S. 24 ff. 37 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. 1830. Hrsg. v. Nicolin u. Pöggeler. 7 Aufl. Hamburg 1969. § 24.

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gerade weil das Bewußtsein diese Möglichkeit hat, sich im Unendlichen des bloß Gedachten zu verlieren, wird es für jeden wohlverstandenen Idealismus, dem auch Hartmann sich verpflichtet fühlte, zur Aufgabe, sich vor dem Selbstverlust im Unverbindlichen und Relativen zu bewahren. Diesem Ziel dient weder die Aufrechterhaltung der ontologischen Differenz noch die Aufgabe aller Reflexion und Rückkehr zur ontischen Beziehung Bewußtsein-Ding, noch die kühne Umkehr der Vermittlung (das Sein bestimmt das Bewußtsein), sondern allein die Selbstbegrenzung des reflektierenden Ich durch das „Nicht-Ich", indem es die relative Differenz zur Sache als Differenz setzt, ohne daß diese Differenz in der Identität des reflektierenden Subjekts wieder eingeholt und aufgehoben (beseitigt) werden darf 3 8 . So wie es keine Unmittelbarkeit des Erkennens ohne Vermittlung des Begriffs, und keine Vermittlung der Sprache ohne Unmittelbarkeit des Bezuges zur Sache gibt, so darf auch Freiheit und Pflicht der sittlichen Person nicht ohne jede Beziehung zu der wie immer gearteten Objektivität der Welt gedacht werden; weder darf das Bewußtsein im Sein noch das Sein im Bewußtsein verschwinden. Die angedeuteten philosophischen Schwierigkeiten treten gerade bei dem mit aller Teleologie verbundenen Zweckbegriff in Erscheinung; sie konkretisieren sich gewissermaßen an ihm. Die philosophische Tradition steht nämlich vor dem Dilemma, entweder den Zweck, wie oben geschehen, mit der „Insichvermitteltheit" natürlicher Organismen bzw. der geschichteten Gesamtnatur gleichzusetzen, und kämpft dann mit der Schwierigkeit, Zweck als unmittelbare Entelechie und Zweckhaftigkeit des Objekts mit der Finalität und der bewußten Zwecktätigkeit des „in Freiheit existierenden Begriffs" des Subjekts unter einem Allgemeinen zu vereinigen, ohne die Differenz zu verwischen, oder aber sie reserviert den Zweck für das menschliche Zweckhandeln und muß dann die Natur (einschließlich des menschlichen Leibes) als ein zufalliges Produkt „blinden, durch die Naturgesetze determinierten Vorwärtsstoßens" {Hartmann) ohne jede eigene Innerlichkeit begreifen 39. Zwar macht die neuzeitliche, positivistische Tradition bezüglich der zweiten Möglichkeit häufig aus der Not eine Tugend, doch kann alles entwickelte Pathos angeblich kritischer Wissenschaftlichkeit und methodischen Fortschritts nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine akzeptable Lösung des Dilemmas nach wie vor aussteht 40 . U m in diesem Vorfeld der Exposition des teleologischen Problems einen ersten Schritt zu tun, greife ich aus dem herkömmlichen, gleichsam offiziellen Selbstverständnis heutiger Wissenschaft, die sich mit objektiven Gegebenheiten 38 Vgl. Gethmann: Realität. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. v. Klings, Baumgartner u. Wild. München 1973. Bd. II, S. 1183 f. 39 Das Dilemma wird meistens stillschweigend übergangen. Vgl. Stegmüller: Teleologie, Funktionsanalyse und Selbstregulation. In: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. I. Heidelberg/New York 1969. S. 518 — 525. 40 Heintel: Die beiden Labyrinthe der Philosophie. Bd. 1. Wien/München 1968. S. 83.

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beschäftigt, einen — allerdings wichtigen — Punkt heraus: die Behauptung der Wertfreiheit wissenschaftlichen Forschens. Diese These, die bekenntnishaften Charakter hat und auf der die Reputation aller aus dem universitären Bereich stammenden Leistungen beruht, hat zwei, meist nicht deutlich unterschiedene Seiten, nämlich eine Subjekt- und eine objektbezogene. Subjektbezogen besagt sie, der Wissenschaftler leiste seine Arbeit, ungeachtet seiner subjektiven Werthaltung, unvoreingenommen — objektiv und ohne Rücksicht auf die ihn bedrängenden, gesellschaftlichen Interessen unparteiisch — neutral. Auch wer an der tatsächlichen Durchführbarkeit dieses Gehalts der These zweifelt, wird dem darin enthaltenen, an den Wissenschaftler gerichteten Imperativ nicht widersprechen wollen. Objektbezogen besagt die These von der Wertfreiheit, der Erkenntnisgegenstand der Wissenschaft, die Welt, die Natur der Dinge, welche überhaupt Gegenstand wissenschaftlichen Forschens sein können, sei wertindifferent, wertneutral; nichts habe einen Wert aus sich selbst heraus, alles erhalte seinen Wert aus der Sicht des Menschen. Einen Unterschied zwischen gut und böse, gut und schlecht, wertvoll und wertlos gibt es, vom Objekt her gesehen, nicht. Tatsachen werden ausschließlich von kausaler Notwendigkeit, von mathematisch formulierbaren Gesetzen regiert, der ganze Prozeß natürlicher Entwicklung, sei es des Universums, sei es des Lebens auf dem Planeten Erde, hat kein Ziel, keinen Zweck, keinen Wert, sondern ist allein das Produkt eines zufalligen, wenngleich gesetzmäßigen Verlaufs, ohne daß die ermittelten Gesetze, die von Ergebnis zu Ergebnis führen, irgendeinen Bezug zu dem haben, was sie an scheinbar sinnvoll Gestaltetem hervorbringen; das Walten der Welt ist frei von Sinn und Zweck, sinn- und zwecklos. Wenn aber die Welt der Dinge keine Zwecke kennt, kann sie auch keine verfehlen; es gibt keinen Unterschied zwischen Erfüllung und Vereitelung, von höherem und geringerem Wert, also auch nicht von mehr oder weniger würdigen Objekten. A n einer gleichgültigen Welt, welcher alles gleich gültig ist, kann sich Wissenschaft, welche die gesetzmäßigen Zusammenhänge erforscht, nicht versündigen. Im Hinblick auf die Tätigkeit des Rechtswissenschaftlers ergibt sich eine weitere wichtige Konsequenz: Ist nämlich die These von der Wertindifferenz richtig, läßt sich zwischen Sein und Sollen keine Brücke bauen; der Welt, dem „nackten" Sein, dem, was einfach da ist, können keine Normen menschlichen Verhaltens abgewonnen werden (von gewissen Klugheitsregeln einmal abgesehen, die jedoch für niemanden wirklich verbindüch sind). Zwecke, Ziele, Werte (als Präferenzen von Zwecken) sind in keinem objektiven Zustand, wie ihn der Mensch vorfindet, verankert, sondern Ergebnis seiner Subjektivität und willkürlichen Setzung, folglich wissenschaftlich kein Thema, sieht man von der rein logischen Beziehung der Werte untereinander ab (Deontik). Das reduktive Bild einer zweckfreien, sinnlosen — „toten", wie Hegel sagt — Welt als wissenschaftlichem Gegenstand, welches sich modernes Wissenschaftsverständnis aus wohl erwogenen, erkenntnistheoretischen Gründen herauspräpariert hat und das, folgerichtig zu Ende gedacht, auch den Menschen als Produkt der Natur mit einschließt, erregt freilich den Verdacht, nicht die ganze

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

Wahrheit zu sein. Schon der Umstand, daß alle physikalischen, chemischen und biologischen Vorgänge sich als Folge entsprechender, innerer, dem wissenschaftlichen Experiment nicht zugänglicher Ereignisse verstehen lassen, gibt zu denken; gerade das Wesentliche, der Sinn der aufgedeckten natürlichen Vorgänge und Entwicklungsprozesse, steht moderner Wissenschaft und ihren auf äußere Zustände und Abläufe zugeschnittenen Methoden nicht offen. Die Genesis der Phänomene erklärt weder ihr Sosein noch ihre Geltung; warum sollten die Dinge auf Grund ihrer Entstehungsbedingungen nicht in Formen einrücken, die ihrerseits nicht selbst Ergebnis des Entstehungsprozesses sind? Nur bei einer solchen Kehrtwendung im Denken läßt sich begreifen, daß jene „sinnlose, zweckfreie" Welt das Phänomen sinnhafter Subjektivität, interessegeleiteten Handelns und zweckvollen Gestaltens aus sich hervorgehen ließ, obwohl doch in der modernen Wissenschaftsperspektive das Außen sehr wohl ohne das Innen ausgekommen wäre: selbst die kompliziertesten Organismen lassen sich als subjektlose, kybernetische Automaten denken. Der „Luxus" des Bewußtseins als eines unabhängigen Prinzips — und nicht als etwas Abgeleitetem, Epiphänomenalem— 41 , die Subjektivität, in welcher Zielstrebigkeit, zweckhaftes, an Interessen ausgerichtetes Handeln manifest werden, ist vom Standpunkt physikalischer oder chemischer Theorie, auch vom Standpunkt des Behaviorismus, der Reflexionspsychologie oder der Kybernetik ganz und gar überflüssig, und nur zu gern würde man die Innendimension als bloßen Schein hinwegerklären. Das Überschüssige, Entbehrliche, die Seele, der Geist sind nämlich, nachdem sie aus dem Sein emportauchten, sicheres Indiz dafür, daß es die unbekannte Innenseite der Welt, die nicht nach außen gekehrt und wissenschaftlich untersucht werden kann, wirklich gibt; jedenfalls kann eine Welt, die schließlich, nach schier endloser Vorbereitung, des Bewußtwerdens fähig war, schwerlich die Welt in der reduzierten Gestalt moderner Wissenschaft sein. Wäre es richtig, daß selbst die größten und schönsten Produkte natürlicher Vorgänge bis hin zu der unvorstellbaren Komplexität des menschlichen Gehirns durch bloßen Zufall entstehen, daß natürliche Bewegungen nicht als gerichtet interpretiert, teleologisch verstanden werden dürfen, dann gäbe es auch keine objektiven Maßstäbe, an welchen menschliche Handlungen gemessen werden könnten. Wenn die Natur des Menschen rein zufallig ist, dann hat es keinen Sinn, von Gerechtigkeit zu reden oder über die Rechtsidee nachzudenken, die hinter dem positiven Recht stehen soll. Folgerichtig behaupteten deshalb schon die Sophisten des Altertums (Kallikles, Thrasymachos), das höchste Recht sei jenes, welches sich mit Gewalt durchzusetzen vermöge; denn da das Gerechte nicht in der Natur liege, seien die Menschen unter sich fortwährend im Streit darüber und Gesetze würden ständig, je nachdem, wer gerade die Macht verwalte, geändert. Das höchste Recht einer zufälligen Welt ist das mechanische 41 Vgl. Taylor. The Natural History of Mind. Dtsch.: Die Geburt des Geistes. Frankfurt/M. 1982. S. 41,445; ferner Popper / Eccles: Das Ich und das Gehirn. München 1982.

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Recht des Stärkeren, des Lebenskräftigeren, Überlegenen. Die Kunst, Gesetze zu machen und richtig anzuwenden, kann nur wahrheitsfahig — und damit Gegenstand von Wissenschaft — sein, wenn anerkannt wird, daß diejenigen, auf welche sich Normschöpfung bezieht, selbst teleologisch verfaßt sind, daß sie sich besser oder schlechter im Sinne der Rechtsidee verhalten können. Jurisprudenz hat also ein eminentes Interesse an der Weiterverfolgung der teleologischen Frage. 9. Die Differenz

von Äußerem und Innerem

Die von Aristoteles vorausgesetzte Differenz von „eigentlicher Innerlichkeit" und Erscheinung der Dinge im anschaulichen Raum-Zeit-Bereich, die an Piatons Urbild-Abbild-Theorie anknüpft 4 2 , bringt etwas zum Ausdruck, was mit der Urteilswahrheit des Syllogismus nicht erreicht werden kann: die „wahre" Natur einer Sache, ihr ureigenes, besonderes Wesen. Es ist etwas grundsätzlich anderes, ob ich sage: „Der Satz ist wahr, daß ..." oder ob ich von einem „wahren" Menschen, „wahrer" Liebe oder von einem „wahren" Zweck rede; nicht alles, was uns sinnlich erscheint, ist das, was es in Wahrheit ist. Wahrheit als in subsumierenden Urteilen formulierte Erkenntnis geht ihrem Sinn nach nicht darauf aus, das Wesen des jeweiligen Seienden zu erfassen, sondern das, was „an ihm" ist, Äußerliches, das ihm auch nicht oder nur nebensächlich (akzidentell) zukommen .könnte. Die Wendung „wahrer Mensch" ist freilich selbst wieder doppelsinnig, insofern der Mensch, wie ausgeführt wurde, daseiender und in Freiheit existierender Begriff in einem ist, folglich einmal die naturhafte Spezies in ihrer relativen Vollkommenheit, ein anderes Mal die geistige Natur des Menschen gemeint sein kann. Das Eigentliche und Wahre einer Sache ist nach Aristoteles zugleich das „Wirkliche", nämlich die Form, die in der Realität zweckhaft „wirkt", im Unterschied zu dem, was raum-zeitlich bloß erscheint, sinnlich wahrnehmbar vor Augen tritt. Allerdings laufen wir, wie die Geistesgeschichte zeigt, immer Gefahr, das Eigentliche einer Sache nicht von dieser, sondern von der Subjektivität des Erkennenden her zu verstehen und in den „Jargon der Eigentlichkeit" (Th. Adorno) zu verfallen, das vermeintlich „Wirkliche" als substantiell zu nehmen oder das Vorgemachte substantiell zu machen. Wer die Entwicklung des Begriffs der „Natur der Sache" in Rechtsphilosophie und naturrechtlicher Tradition verfolgt 43 , dem fallt es nicht schwer einzusehen, warum einem kritischen Geist wie Kant die Annahme eines Naturzweckes höchst problematisch erscheinen mußte, und in seiner Nachfolge N. Hartmann gar behaupten konnte, Weltteleologie hebe die Ethik schlechterdings auf 4 4 . Stets 42 Vgl. Zeller. Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 2. Teil. 1. Abt. 5. Aufl. Leipzig 1922. S. 744ff. 43 Vgl. z.B. Coing : Rechtsphilosophie. 4. Aufl. Berlin 1985. S. 181 ff. 44 Vgl. Heimsoeths Ausführungen zur Auffassung Kants vom „Realwesen" in seinen „Studien zur Philosophie I. Kants" in: Kant-Studien. Erg.-Heft 71. 1956. S. 19 ff.

5 Mittenzwei

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droht das Problem der Einheit von Subjekt und Objekt in der Vermittlung der Reflexion zwischen kritischer, intellektueller Redlichkeit auf der einen Seite und begriffsrealistischem oder rationalistischem Dogmatismus auf der anderen Seite, der die Bestimmung des Menschen in einer göttlichen Seinsordnung aus ersten, inneren Gründen, gleichsam „more geometrico" zu erkennen vermeint, zerrieben zu werden. Von der Einsicht her, daß das Eigentliche zugleich das Wirkliche ist, läßt sich auch das Verhältnis Realität zu Idealität anders fassen, welches dann keineswegs in der üblichen Entgegensetzung von real und irreal aufgeht. Die Ausdrücke wirklich und real beziehen sich zwar beide auf das in Raum und Zeit Anwesende, real deutet aber auf die (empirische) Erscheinung hin, wirklich auf das (nicht empirische, innere) Wesen; real meint den Gegensatz zu irreal (z.B. reales Pferd — Pegasus), wirklich meint den Gegensatz zu unwesentlich (z.B. eigentlicher, wahrer — von außen beigelegter Zweck); irreale Vorstellungen sind Sinnestäuschungen, unwirkliche Vorstellungen dagegen Wesenstäuschungen. Die Idee ist in diesem Zusammenhang einmal der abstrahierte, sprachliche Begriff im Gegensatz zum konkreten Ding, genauso irreal wie die in Raum und Zeit vorhandene, amorphe Materie, die der abstrakte sprachliche Begriff als zugleich innewohnend gerade erst zu konkreten Dingen organisiert; zum anderen ist die Idee als innewohnender Begriff selbst in den Dingen anwesend und läßt, sozusagen „hinter" der sinnlich erscheinenden „Realität", die eigentliche „Wirklichkeit" als die Einheit von Wesen und Erscheinung erkennbar werden; insofern ist sie dann nicht irreal, ein bloßes, spontan geschaffenes Gedankending wie der abstrakte Begriff, sondern noch vor aller kategorialen Vermittlung wirklich, weil sie die Differenz zwischen realer Erscheinung und wirklichem Wesen (Eidos), die Einheit, die Form, auf welche die Sache sich innerlich hin entwickelt, konstituiert. Anders ausgedrückt: nicht die erscheinende Realität, sondern die ideelle Wirklichkeit ist das Wahre, woran wir uns zu halten haben. Von der „eigentlichen Innerlichkeit" der Dinge im Sinne des Aristoteles ist nicht nur die in der Urteilswahrheit syllogistischer Schlüsse festgehaltene Äußerlichkeit, sondern auch die nur „komparative Innerlichkeit" zu unterscheiden. Die Wörter „in, innen, innerlich" drücken sprachlich zunächst nur räumliche Verhältnisse aus; alles, was den erscheinenden Dingen innerlich zukommt, sucht der Verstand zunächst in allen Teilen des Raumes, den sie einnehmen, und in allen Wirkungen, die sie ausüben, zu erfassen. Was in einem Äußeren eingeschlossen ist, was also bei einem stofflichen Gegenstand nicht die natürliche oder jeweils erscheinende Oberfläche ausmacht, ist in ihm enthalten, ist sein „Inneres". Es handelt sich bei dieser Gegenüberstellung von Äußerem und Innerem nur um ein räumliches Verhältnis, weil jedes vergleichsweise Innere sich zur räumlich-sinnlichen Erscheinung machen läßt. In anschaulichen Analysen haben Heidegger und Glockner gezeigt, daß ein dem Äußeren räumlich gegenüber gestelltes Inneres kein „eigentlich Inneres" sein kann, weil ein jedes nach außen gewendetes Inneres bloß wieder die

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Außenseite eines anderen Innerlichen ist und wir auf diesem Wege unweigerlich in die Aporie der unendlichen Teilung geraten 45 . Für Heidegger liegt die Voraussetzung des Dinges „ohne eigentliche Innerlichkeit" im Grundmodell der neuen Wissenschaft Galileis: „ I m Zusammenhang der Ausbildung der neuzeitlichen Wissenschaft kam eine bestimmte Auffassung des Dinges zu einem einzigartigen Vorrang. Danach ist das Ding der stoffliche, in der reinen RaumZeit-Ordnung bewegte Massepunkt oder eine entsprechende Zusammensetzung solcher. Das so bestimmte Ding gilt fortan als der Grund und Boden aller Dinge und ihrer Bestimmung und Befragung" 46 . So wundert es uns denn nicht, wenn wir bei Kant lesen, das „schlechthin Innerliche" der Materie sei eine „bloße Grille": „... denn diese (die Materie) ist überall kein Gegenstand für den reinen Verstand; das transzendentale Objekt aber, welches der Grund dieser Erscheinung sein mag, die wir Materie nennen, ist ein bloßes Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn es uns jemand sagen könnte. Denn wir können nichts verstehen, als was ein unsern Worten Korrespondierendes in der Anschauung mit sich führet" 4 7 . Wenig später räumt er allerdings ein, daß man begrifflich ohne etwas Inneres auch nichts Äußeres denken kann, weil alle Verhältnisbegriffe doch schlechthin gegebene Dinge voraussetzen4®, und Glockner 49 weist darauf hin, daß alle erscheinenden Dinge im Labyrinth der unendlichen Teilung verschwinden müßten, hätte nicht alles, was erscheint, auch „Gestalt". Ein Ding, das über seine Definition im Sinne relationaler Äußerlichkeiten hinaus nicht auch Gestalt (Form) besäße, d.h. leibhaftig, kontinuierlich geschlossen, insofern nicht nur begrenzt, sondern auch „ganz" ist, könnte als ein Individuelles unserer Anschauung gar nicht erscheinen. Hegels Bemerkung, daß das, was nur innerlich sei, auch nur äußerlich sein könne, deutet freilich darauf hin, daß es zwar richtig ist, erscheinende Äußerlichkeit und eigentliche Innerlichkeit zu unterscheiden, daß es aber falsch wäre, beides voneinander zu trennen, weil jede Abtrennung zur Veräußerlichung und Vergegenständlichung führen müßte. Das mit dem aristotelischen Gedanken der Entelechie in Erinnerung gerufene „Innere der Natur", welches im Naturbegriff neuzeitlicher Wissenschaft keinen Platz mehr findet, weil es über die Zerlegung des äußerlich Erscheinenden nicht zu erreichen ist, hat als substantielle Einheit des Seienden das Erscheinende nicht in einem äußerlichen oder bloß komparativ innerlichen Sinne außer oder in sich. Entelechie ist der Begriff der inneren Zweckmäßigkeit allen Lebens selbst, welcher, wie Hegel meinte, unendlich weit über dem Begriffe moderner Teleologie stehe, welche immer nur die endliche, äußere Zweckmäßigkeit der Dinge vor ihrem Auge 45 Vgl. Heidegger: Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen. 1962. S. 14ff.; Glockner: Gegenständlichkeit und Freiheit. Bd. 1. Metaphysische Meditationen zur Fundamentalphilosophie 1963. S. 336f. 46 Heidegger aaO. S. 39. 47 Kant: Kritik der reinen Vernunft. aaO. A 277, 278; Β 333, 334. 48 49

5*

Kant aaO. A 285; Β 341. aaO. S. 337.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

habe. Die Frage nach dem inneren Zweck der Natur ist keineswegs, wie manchmal behauptet wird, eine „müßige Frage", denn wo sie eine befriedigende Antwort erhält, die erkenntnismäßig gerechtfertigt ist, wird sie in Kunst, Religion und Ethik kausal und damit auch für die Grundpositionen des Rechts bestimmend, wie übrigens auch im umgekehrten Falle, wenn die befriedigende Antwort ausbleibt 50 . 10. Arten der Zweckmäßigkeit

und Übergang zur Dialektik der Begriffe

Es geht hier, wie gesagt, nicht um eine Rehabilitierung des aristotelischen Stoff-Form-Verständnisses und einer daran anschließenden, vielhundertjährigen, philosophischen Tradition, vielmehr allein darum, einem engstirnigen, finalen Denken vorzubeugen, das sich außer bewußten Zwecksetzungen, seien sie nun natürlicher oder übernatürlicher Provenienz, nichts mehr vorzustellen vermag, und die gesamte Problematik, die uns von der Geistesgeschichte mit dem Begriff der „Teleologie" überliefert ist, am liebsten aus dem Bereich theoretischer Fragestellung ausscheiden und subjektiver Erbaulichkeit überantworten möchte. Ohne die üblichen, vorschnellen Einschränkungen und im Bewußtsein der ungelösten Frage des Naturzweckes lassen sich demnach für unsere Zwecke folgende Unterscheidungen treffen: Gegenstand der teleologischen Interpretation kann neben dem bewußten Zweckhandeln von Menschen (der Finalität bzw. Zwecktätigkeit) eine objektive Zweckmäßigkeit sein, die sich entweder formal oder material bestimmen läßt. Bei der materialen, objektiven Zweckmäßigkeit gilt es wiederum zu unterscheiden zwischen einer äußerlichen und einer innerlichen Zweckmäßigkeit, wobei die äußerliche eine äußerlich beigelegte (z.B. Nützlichkeit eines Dinges für den Menschen) oder eine nach außen gewendete, komparativ innerliche Zweckmäßigkeit (z.B. die innere, in kybernetischen Modellen erfaßbare Organisation natürlicher oder künstlicher Organismen) sein kann. Die objektiv-formale Zweckmäßigkeit ist diejenige der geometrischen Figuren und mathematischen Modelle, wie wir sie heute in großer Fülle und auf allen wissenschaftlichen Gebieten mit mehr oder weniger durchschlagendem Erfolg in Anspruch nehmen; formal ist sie deshalb zu nennen, weil sie nicht empirischen, sondern apriorischen Ursprungs ist und uns keinen Begriff von der Sache selbst vermittelt, vielmehr allein dazu dient, die funktionalen Bezüge eines komplexen Gegenstandes rational beherrschbar zu machen. Objektiv zweckmäßig im formalen Sinne ist ein mathematisches Modell, daß dem jeweiligen Beherrschungsziel dient, unabhängig davon, ob es uns irgendwelche Einsichten in die wahren Zusammenhänge einer Sache gewährt oder nicht. Anders verhält es sich bei der objektiv-materialen Zweckmäßigkeit; während im logisch-mathematischen Modell nur von der Möglichkeit der Dinge, nicht 50 Vgl. Trendelenburg: Logische Untersuchungen. 2. Bd. 3. Aufl. Leipzig 1870. S. 80, 93; Strauss: Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1956. S. 8; SpaemannjLöw: Die Frage Wozu? München/Zürich 1981. S. 33.

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jedoch von ihrer Existenz die Rede ist, geht es im materialen Bereich um das Verhältnis von Wirkung und Ursache in dem Sinne, daß die Wirkung als Zweck, welcher sein Dasein als Form der Kausalität der Ursache verdankt, dieser selbst als Bedingung ihrer Möglichkeit unterlegt wird. So lautet denn auch die allgemeine Definition des Zweckes, wie sie sich von Aristoteles bis Hegel immer wieder finden läßt: „ I m Zweck ist das, was vermittelt oder Folge ist, zugleich Unmittelbares, Erstes und Grund. Das Hervorgebrachte oder durch die Vermittlung Gesetzte hat das Hervorbringen und seine unmittelbare Bestimmung zur Voraussetzung, und umgekehrt geschieht das Hervorbringen um des Resultates willen, welches der Grund, somit selbst erste Bestimmung der Tätigkeit ist" 5 1 . Demgemäß ist die objektiv-materiale Zweckmäßigkeit entweder als eine zwar äußerliche, aber evident sinnvolle Relation, sei es im Bezug auf den Menschen oder die Dinge und Lebewesen untereinander, sei es im Bezug einzelner Organismen auf sich selbst, oder als eigentlich-innerer Naturzweck zu beurteilen. Auch hier präzisiert Hegel, was den Unterschied zwischen äußerer und eigentlich-innerer Zweckmäßigkeit ausmacht: „Die äußerliche Zweckmäßigkeit ist ein Daseiendes, insofern es den Begriff, durch den es bestimmt ist, nicht in sich selbst hat, sondern von einem andern Subjekt als eine äußere Form oder Verhältnis damit verbunden ist... Die innere Zweckmäßigkeit ist, wenn ein Daseiendes seinen Begriff in sich selbst hat und zugleich Zweck und Mittel ist, sich realisierender und realisierter Zweck an ihm selbst" 52 . Kann die äußerliche Zweckmäßigkeit der Natur von der Evolutionstheorie als ein Produkt von Zufall und Anpassung wenigstens teilweise erklärt werden 53 , so stellt die eigentlich-innere, nicht nach außen wendbare Zweckmäßigkeit als Einheit von Form und Stoff ein ungelöstes, philosophisches Problem dar, dem weder mit einer — nominalistischer Gegenüberstellung von Verstand und Vernunft entspringenden — „Als-Ob-Hypothese" noch mit einer fragwürdigen Analogie zum bewußten Zweckhandeln des Menschen beizukommen ist. Die schematische Gegenüberstellung von Kausalität und (äußerlicher) Teleologie ist überhaupt gänzlich ungeeignet, den Unterschied zwischen quantifizierender, neuzeitlicher Naturwissenschaft sowie einer an ihr orientierten Transzendentalphilosophie auf der einen und dem philosophischen Anliegen des Aristoteles auf der anderen Seite zu erhellen, ging es diesem doch gerade nicht um Teilung und Zusammensetzung von Stoff in seiner von innen nach außen 51

Hegel, Sämtl. Werke. Hrsg. v. H. Glockner. 1941. Bd. III, S. 141. Hegel aaO. S. 141. 53 Bedenklich stimmende Einwände (bloße Analogie) schon bei Trendelenburg: Logische Untersuchungen. 2. Bd. 3. Aufl. Leipzig 1870. S. 80ff. Zum heutigen Stand der Evolutionstheorie vgl. Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. II. Stuttgart 1975. S. 376 ff. (Zu den Evolutionstheorien von Monod, Eigen und Kuhn), freilich ohne schlüssige Antwort auf die dringliche Frage, wie eine sich immer stärker beschleunigende Entwicklung hochdifferenzierter Lebewesen in relativ kurzer Zeit mit der Annahme rein zufalliger Mutationen in Einklang zu bringen ist. 52

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

gewendeten Äußerlichkeit, sondern wesentlich um die Frage nach einem wahrhaft inneren, formalen Prinzip der Dinge, weil diese andernfalls als bloß räumlich ausgedehnte Individualitäten in der mathematischen Aporie der unendlichen Teilung unverstanden dahinschwinden müßten. Hiermit schließt sich der Gedankenkreis und ich kehre zu dem zurück, was der Ausgangspunkt der Überlegungen war: Hegels lebendiges, übersummatives Ganzes, das nicht mechanisch aggregathaft zusammengesetzt ist, weil, wenn man es zerlegen würde, es sich in Nichts auflösen müßte 54 . Die in der aristotelischen Entelechie sichtbar gewordene, ontologische Problematik gerät über den „objektiven Gedanken" des Naturzweckes der Organismen in die Fragestellungen der Transzendentalphilosophie des deutschen Idealismus, insbesondere Schellings und Hegels, wobei allerdings die gegenüber Kant unzweifelhaft erzielten, gedanklichen Fortschritte eine klare Scheidung von ontologischer und transzendentaler Problematik, so wie eine endgültige Klärung der notwendigen Verwiesenheit der unterschiedenen Aspekte aufeinander, allen Anstrengungen zum Trotz noch nicht gebracht haben. Gleichwohl eröffnet sich der teleologischen Interpretation über das Ganzheitsdenken und die dialektische Bewegung der Begriffe eine alte Problematik in ganz neuer Perspektive, die weiter zu verfolgen sich lohnt.

I I I . Logik contra Dialektik In der alten Philosophie, dergemäß der erkennende, menschliche Geist in einen harmonisch gegliederten, universellen Seinszusammenhang eingebettet ist, bezieht sich Teleologie als Zweckmäßigkeits- und Zwecklehre auf die objektive, absolute Wirklichkeit, sei es als dualistische, transzendente Teleologie auf von außen (dem Weltgeist) gesetzte Zwecke, sei es als monistische, immanente Teleologie auf Zwecke, welche als Ziele des Strebens und Wollens den Dingen (Organismen) selbst innewohnen. In der neuzeitlichen Philosophie, die sich der Subjektivität aller Beziehungen zur Außenwelt in der Reflexion bewußt wird und das Selbstbewußtsein zum ersten Thema macht, erscheint Teleologie als Zweckbetrachtung, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr als konstitutives, sondern nur noch als regulatives Prinzip, dem allenfalls heuristische Bedeutung zugestanden wird; soweit sie sich nicht im finalen Denken auflöst, geht sie in die dialektische Bewegung in sich vermittelter Begriffe über. i. Analytik und Dialektik bei Aristoteles und Kant Dialektik ist ursprünglich die aus der Diskussion gegenteiliger Meinungen erwachsene Lehre vom Wissen, die sich in der Art einer Disziplin mit dem Auffinden allgemeiner Gesichtspunkte (Topoi) befaßt, die geeignet sind, eine in Rede stehende Frage zu entscheiden; da sie sich auch der Analyse und Synthese 54

Vgl. oben S. 45.

III. Logik contra Dialektik

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von Begriffen widmete, gehörte zu ihr anfangs der gesamte Bereich der Logik. Erst in der aristotelischen Tradition beginnt sich die Logik in einen rein formalen und in einen zugleich materialen Weg zu spalten, wobei auf dem rein formalen Weg (Analytica priora) die Schlüssigkeit von Urteilen in sich, ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Gemeinten, untersucht wird, während auf dem zugleich materialen Weg (Analytica posteriora und Topica) gerade auch die Schlüssigkeit im Hinblick auf das Besondere des Gemeinten der Prüfung unterliegt. Damit werden der Dialektik oder Topik solche Fragestellungen zugewiesen, die nicht rein formal aus sich heraus entscheidbar und im strengen Sinne beweisbar sind 1 . Aristoteles siedelt die topische Dialektik zwischen theoretischer Wissenschaft, den apodeiktischen Schlüssen der Philosophie, und der rhetorischen Praxis, in Sonderheit den eristischen Schlüssen der Sophistik, an; mit Hilfe eines Arsenals unspezifischer Argumentationsformen tastet sich topische Dialektik nach ihm an die jedem wissenschaftlichen Schließen vorangehende Tatbestandsaufnahme heran und versichert so die theoretische Wissenschaft, welche die gelieferten materialen Ansätze mit Blick auf die Wahrheitsfrage stringent zu Ende führt, der Faktizität ihrer Inhalte 2 . Umgekehrt verschafft theoretische Wissenschaft der Vermittlungsaufgabe der topischen Dialektik die notwendige Entlastung, indem sie der sich im alltäglichen Gespräch manifestierenden Meinung (Doxa) einen Rang zubilligt, der, in Abgrenzung zum bloß Meinungsmäßigen der (alten) Rhetorik, über das Wahrscheinliche hinaus, ganz im Sinne heutiger, sprachlicher Kommunikationsgemeinschaft, dem bei allen, den meisten oder doch wenigstens bei den Weisen Anerkannten als dem öffentlich Anerkannten entspricht. Durch die Reflexion auf Argumentationsformen, die alltäglichen Gesprächen über praktische Fragen immer schon zugrunde liegen, entwickelt Aristoteles in der Topik Kriterien, die es ermöglichen, doxahafte Thesen kritisch zu prüfen 3 ; auf diese Weise klärt dialektische Topik das Selbstverständnis der Praxis und vermittelt insbesondere durch Topoi aus den Akzidentien in nicht dezisionistischer Weise theoretisch begründete Entscheidungen; sie dient nicht dem Auffinden von Mitteln zu beliebigen Zwecken, sondern von Mitteln zur kritischen Prüfung der Sachlichkeit gesetzter Zwecke. I m Schlußwort der „Sophistischen Widerlegungen" wendet sich Aristoteles sowohl gegen die platonische Überanstrengung als auch gegen die sophistische Unterschätzung des Anspruchs einer dialektischen Topik, mit der er erstmals eine Kunstlehre geschaffen zu haben glaubt, die eine Trennung von Rhetorik und Eristik erlaube 4 . In der über zweitausendjährigen Geschichte der Dialektik, insbesondere der aristotelischen Tradition der Logik, die hier nicht weiter zu verfolgen ist, liegt die 1 Vgl. Aristoteles: Lehre vom Schluß oder erste Analytik. Organon III. 1. Kap. 24 a 10; Topik. Organon V. 1. Buch.10. Kap. 104 a. 2 Aristoteles: Topik. Organon V. 1. Buch. 2. Kap. 3 Vgl. etwa Aristoteles: Topik. Organon V. 1. Buch. 8. Kap; 3. Buch. 1., 2. Kap. passim. 4 Aristoteles: Sophistische Widerlegungen. Organon VI. 34. Kap. 183 b.f.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

Betonung abwechselnd bald auf der einen, bald auf der anderen der beiden Grundformen, die Aristoteles gedankenreich miteinander verwoben hat: der ars iudicandi bzw. der ars inveniendi 5; demgemäß wird Dialektik einmal als Basis, das andere Mal als Teil der Logik betrachtet. Nach der Kritik der Humanisten an der Scholastik, besonders an ihrer spitzfindigen, um ihrer selbst willen — nicht als Instrument anderer Wissenschaften — betriebenen Logik versetzt Descartes der topischen Dialektik mit seiner scharfen, jeden wissenschaftlichen Anspruch bestreitenden Kritik einen entscheidenden Schlag6. Zwar versucht G. Β. Vico im Rückgriff auf den humanistischen Grundbegriff des „sensus communis", der nicht nur die allen Menschen offensichtlich gemeinsame Fähigkeit der Sinneserkenntnis meint, sondern auch den spezifischen „Sinn", der über Sprache Gemeinsamkeit schafft, die topische Dialektik als „doctrina medii inveniendi" im Sinne einer Gegenposition gegen den modernen Wissenschaftsbegriff zu retten, doch vergeblich; von der Jurisprudenz abgesehen, wird topische Dialektik nach Descartes kaum mehr beachtet7. Wie weit man sich vom ursprünglichen Sinn der topischen Dialektik im 18. Jahrhundert entfernt hat, zeigt die abfallige, durchaus repräsentative Bemerkung Kants, Schullehrer und Redner bedienten sich der Topik des Aristoteles, um unter gewissen Titeln des Denkens nachzusehen, was sich am besten für ihre vorliegende Materie schicke, und um darüber, mit einem Schein von Gründlichkeit, zu vernünfteln oder wortreich zu schwatzen8. Der traditionellen Einteilung der Logik gemäß gliedert Kant sein Hauptwerk, die „Kritik der reinen Vernunft", in Analytik und Dialektik, wobei jene den beiden Analytiken, diese der Topik des Aristoteles entspricht; indem er aber den 5 Vgl. Volkmann: Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht. 1885; Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. München 1960, insbesondere § 260; Risse: Die Logik der Neuzeit. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. Bd. 1. S. 18ff.; Solmsen: Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik. Neue philosophische Untersuchungen. Bd. 4. Berlin 1929. S. 151 ff.; Tonelli: Der historische Ursprung der kantischen Termini „Analytik" und „Dialektik". In: Archivf. Begriffsgeschichte. Bd. 7 (1962). S. 120 ff. 6 Descartes: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences. 1637. Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Übers, von Kuno Fischer. Hrsg. v. H. Glockner. Stuttgart 1961. Kap. 2; derselbe: Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Übers, u. hrsg. v. Lüder Gäbe. Hamburg 1972. Regel 4.2; 10. 4 f. Vorangegangen ist Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum. 1605. Vervollständigt 1623. V, 2 f, der das aristotelische Organon durch ein „Novum Organon" und die topische Dialektik durch eine „Topica particularis" ersetzen wollte, die über die Registrierung von Beobachtungen unter bestimmten „Gesichtspunkten" dem Aufbau einer neuen Naturwissenschaft zu dienen habe. 7 Vgl. Vico: De nostri temporis studiorum ratione. 1708. Übers, v. W. F. Otto. Bad Godesberg 1947; dazu Gadamer: Wahrheit und Methode. 2. Aufl. Tübingen 1965. S. 16ff.; Viehweg: Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung. 3. Aufl. München 1965 m. weit. Nachw. Zu Leben und Werk G. B. Vicos Croce: Die Philosophie G. Vicos. Übers, v. E. Auerbach und Th. Lücke. 1927. 8 Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 269 / Β 325.

III. Logik contra Dialektik

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kritischen Wert der Logik betont, wird der Begriff „Dialektik" in prägnanter Weise umgedeutet: „Dialektik" heißt jetzt doppelsinnig das Verfahren der Vernunft, durch das sie sich in Widersprüche verwickelt, bzw. das Verfahren, eben diese Widersprüche aufzudecken, eine Kritik des dialektischen Scheins. „Die allgemeine Logik löset nun das ganze formale Geschäfte des Verstandes und der Vernunft in seine Elemente auf, und stellet sie als Prinzipien aller logischen Beurteilung unserer Erkenntnis dar. Dieser Teil der Logik kann daher Analytik heißen, und ist eben darum der wenigstens negative Probierstein der Wahrheit, indem man zuvörderst alle Erkenntnis, ihrer Form nach, an diesen Regeln prüfen und schätzen muß, ehe man sie selbst ihrem Inhalt nach untersucht, um auszumachen, ob sie in Ansehung des Gegenstandes positive Wahrheit enthalten. Weil aber die bloße Form des Erkenntnisses, so sehr sie auch mit logischen Gesetzen übereinstimmen mag, noch lange nicht hinreicht, materielle (objektive) Wahrheit... auszumachen, so kann sich niemand bloß mit der Logik wagen, über Gegenstände zu urteilen ... Gleichwohl liegt so etwas Verleitendes in dem Besitze einer so scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben,... daß jene allgemeine Logik, die bloß ein Kanon der Beurteilung ist, gleichsam wie ein Organon zur wirklichen Hervorbringung ... mißbraucht worden (ist). Diese allgemeine Logik nun, als vermeintes Organon, heißt Dialektik" 9. Dialektik als Logik des Scheins begriffen, entspricht, wie wir gesehen haben, freilich eher dem aristotelischen Begriff der Eristik als dem der Topik; im Unterschied zu den sophistischen Trugschlüssen aus Täuschungsabsicht zielt jedoch die Dialektik im Sinne Kants auf solche Sätze, deren innere Widersprüchlichkeit aus der Natur der Vernunft selbst hervorgeht, zwar aufgeklärt, aber nicht erledigt (aufgehoben) werden kann 1 0 ; Aufgabe einer Kritik der reinen Vernunft kann es daher bloß sein, diesen Schein aufzudecken und unschädlich zu machen. Während vor Kant theoretisch relevante Widersprüche auf einander bekämpfende Gruppen bezogen werden, verwandeln sich bei ihm die widersprechenden Argumente der streitenden Parteien zu logisch unanfechtbaren Antithesen; so wird der endlose Disput der Gelehrtenwelt aus den Fesseln subjektiv-praktischer Weltanschauung befreit und zu objektiven Widersprüchen der Vernunft mit sich selbst erhöht. Hypothesen sind im Felde der reinen Vernunft zwar erlaubt, aber nicht, um Rechte darauf zu gründen, sondern um Rechte zu verteidigen; den Gegner müssen wir dabei immer in uns selbst suchen; spekulative Vernunft ist in ihrem transzendentalen Gebrauche „an sich dialektisch" 11 . Damit wird aus der Dialektik als einer ursprünglich gerade die realen Dinge der Welt im Blick behaltenden praktisch-logischen Argumentation eine natürliche Ausdrucksform reiner, theoretischer Vernunft, welche Aristote9 10 11

Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 61 / Β 85, 86. Kant : Kritik der reinen Vernunft. A 420 / Β 448 ff. Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 778 / Β 806.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

les in seiner Terminologie, wären nur die Widersprüche der Vernunft als in höheren, geistigen Einheiten aufhebbar verstanden, nicht als Dialektik, sondern als „Teleologie" bezeichnet hätte. Anders als die logische Dialektik, welche es in der Situation des Gesprächs bloß mit der Form nach falschen Schlüssen (z.B. Äquivokationen) zu tun hat, die schon durch bloße Berichtigung beseitigt werden können, entsteht die transzendentale Dialektik aus dem Gebrauch von Vernunftbegriffen über die Grenze menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten hinaus, also dann, wenn von bloß formalen Prinzipien der Verstandeserkenntnis ein materialer Gebrauch gemacht wird und so die bloß logischen Grundsätze als Werkzeug zur Erweiterung unseres Wissens über die Grenzen möglicher, d.h. sinnlicher Erfahrung hinaus gebraucht werden 12 . Wegen der natürlichen Beziehung des transzendentalen Gebrauchs unserer Erkenntnis, sowohl in Schlüssen als auch in Urteilen, auf den logischen Gebrauch, ergeben sich drei Arten transzendenter Urteile: Paralogismen, Antinomien und Ideale. Alle unsere Vorstellungen beziehen sich entweder auf das denkende Subjekt selbst oder aber auf Objekte, sei es als Erscheinungen der begegnenden Außenwelt, sei es als Gegenstände des Denkens überhaupt. Da es nach Kant alle reinen Begriffe mit der synthetischen Einheit der Vorstellungen überhaupt, Begriffe der reinen Vernunft (transzendentale Ideen) aber mit der unbedingten Einheit aller Bedingungen überhaupt zu tun haben, lassen sich alle transzendentalen Ideen unter drei Klassen bringen: erstens, die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts; zweitens, die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung, und drittens, die absolute Einheit der Bedingungen aller Gegenstände des Denkens. Das denkende Subjekt ist der Gegenstand der Psychologie, der Inbegriff aller Erscheinungen (die Welt) der Gegenstand der Kosmologie, und das Ding, welches die oberste Bedingung der Möglichkeit von allem, was gedacht werden kann, enthält, der Gegenstand der Theologie. Demnach gibt die reine Vernunft die Idee zu einer transzendentalen Seelenlehre (psychologia rationalis), zu einer transzendentalen Weltwissenschaft (cosmologia rationalis), endlich zu einer transzendentalen Gotteserkenntnis (theologia transscendentalis) an die Hand 1 3 . Paralogismen haben nun ihren Ursprung darin, daß vom transzendentalen Begriff des Subjekts auf dessen absolute Einheit geschlossen wird (die Widersprüche der psychologia rationalis), Antinomien entstehen, wenn man von der Reihe der Bedingungen auf den Begriff der absoluten Totalität der Wirklichkeit schließt (die Widersprüche der cosmologia rationalis), und die theologia transscendentalis schließlich folgert aus der Totalität der Bedingungen, Gegenstände zu denken, die absolute Einheit der Bedingungen der Möglichkeit der Dinge überhaupt. Die dabei entstehenden, widersprechenden Aussagen verhar12 13

Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 333 / Β 390; A 63, 64 / Β 88. Kant : Kritik der reinen Vernunft. A 334, 335 / Β 391, 392.

. Logik contra Dialektik

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ren unüberwindbar in dialektischer Opposition, welche sich vom analytischen Gegensatz, bei dem stets einer der Sätze wahr, der andere falsch sein muß, dadurch unterscheidet, daß bei ihr über den zweiwertigen Widerspruch hinaus immer auch beide der unvereinbaren Aussagen unrichtig und eine dritte (noch nicht gedachte) richtig sein kann. Alle drei dialektischen Systeme seien die Konsequenz mißbräuchlicher Verwendung von Vernunftideen, die zwar zum regulativen Gebrauch, nicht jedoch zu erkenntniskonstitutivem dienen könnten, weil ihnen, was unabweisbare Bedingung jeder Erkenntnis sei, kein Gegenstand der Erfahrung entspreche 14 . Der Schluß vom Bekannten und Erkennbaren auf das Unbekannte, nicht Erkennbare, ergebe zwar den Schein von Wirklichkeit, erweitere aber niemals unsere Erkenntnis über die objektive, erfahrbare Realität hinaus. Liegt also der Nutzen der transzendentalen Dialektik in der Verhinderung illusionärer Vernunftschlüsse, so gibt es auch keinen Kanon der Vernunft im spekulativen Gebrauche, keine Richtlinien des richtigen Gebrauchs, sondern nur eine „Disziplin": „Es ist demütigend für die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet, und sogar noch einer Disziplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen und die Blendwerke, die ihr daherkommen, zu verhüten. Allein andererseits erhebt es sie wiederum und gibt ihr Zutrauen zu sich selbst, daß sie diese Disziplin selbst ausüben kann und muß, ohne eine andere Zensur über sich zu gestatten, im gleichen daß die Grenzen, die sie ihrem spekulativen Gebrauche zu setzen genötigt ist, zugleich die vernünftelnden Anmaßungen jedes Gegners einschränken, und mithin alles, was ihr noch von ihren vorher übertriebenen Forderungen übrig bleiben möchte, gegen alle Angriffe sicherstellen könne. Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten" 15 . Als bloß regulative Prinzipien können widersprechende Vernunftgrundsätze sehr wohl nebeneinander bestehen, wie ja die schon erwähnte Annahme eines durchgehenden Determinismus aller Erscheinungen in der Natur keineswegs der Annahme menschlicher Willensfreiheit als Grundlage der Moral unvereinbar gegenübersteht, weil jede durchschaute Determination in der Reflexion der Vernunft stets von neuem als nicht verbindlich überwunden werden kann; so verweist die Lösung der Antinomien der theoretischen Vernunft auf den Bereich der praktischen Vernunft, deren Dialektik sich aus dem Bestreben ergibt, ein höchstes Gut als absolute Totalität der Bedingungen zu dem gegebenen Bedingten zu bestimmen 16 . 14

Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 644, 645 / Β 672, 673. Kant : Kritik der reinen Vernunft. A 795, 796 / Β 823, 824. 16 Kant: Kritik der praktischen Vernunft. (1787). A 194. In: Werke. Hrsg. v. W. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. 6. S. 235 f. 15

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

2. Die Entstehung des dialektischen Dreischrittes und seine Entfaltung bei Fichte Indem Kant aus dem Widersprechenden jeweils ein Drittes hervorgehen läßt — in das die Widersprüche allerdings noch nicht eingehen und dessen Existenz als regulative Idee der theoretischen und als Postulat der praktischen Vernunft auch nur gefordert ist — präformiert er den dialektischen Dreischritt, ohne ihn allerdings schon Dialektik zu nennen: Soll eine Einteilung a priori erfolgen, so wird sie, nach dem Satze vom Widerspruch und dem ausgeschlossenen Dritten, entweder analytisch und damit zweiteilig sein (quodlibet ens est aut A aut non A) oder eben synthetisch; in diesem Falle muß die Einteilung, wenn sie aus Begriffen a priori (und nicht, wie in der Mathematik, aus der a priori dem Begriffe korrespondierenden Anschauung) geführt werden soll, nach demjenigen, was zur synthetischen Einheit überhaupt erforderlich ist, nämlich der Bedingung, dem Bedingten und dem aus der Vereinigung von Bedingung und Bedingtem entspringenden Begriff, notwendig die Form einer Trichotomie haben 17 . Soweit die Begriffe von Bedingung und Bedingtem einen Realitätsbezug besitzen, folgt freilich daraus nicht, daß auch der Begriff, der Bedingung und Bedingtes vereinigt, solchen Bezug besitzt; vielmehr darf dieser lediglich einen Geltungsbezug im Hinblick auf die Verstandesbegriffe beanspruchen 18. Die bei Kant sichtbar werdenden Ansätze eines Verfahrens, das bei Hegel später „Dialektik" heißt, werden von J. G. Fichte in seinem Werk „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" (1794) explizit zu einer heuristischen Methode des Auffindens von Problemlösungen unter der Bezeichnung „synthetisches Verfahren" ausgestaltet. Fichte geht vom Grundsatz der Identität als erstem und oberstem Grundsatz aus und leitet aus ihm die Grundsätze des Gegensetzens und des Grundes ab, welche das „synthetische Verfahren" ermöglichen sollen. Aus der absoluten These „Ich bin" und der ihr entgegengesetzten Antithese, in der dem Ich ein Nicht-Ich entgegengesetzt wird, entwickelt sich die Grundsynthese, welche zum Ausgangspunkt aller weiteren Synthesen wird. „ I m ersten Grundsatze sollte und konnte gar nichts erwiesen werden; er war der Form sowohl als dem Gehalte nach unbedingt und ohne irgendeinen höhern Grund gewiß. Im zweiten ließ zwar die Handlung des Entgegensetzens sich nicht ableiten; wurde sie aber nur ihrer bloßen Form nach unbedingt gesetzt, so war streng erweislich, daß das Entgegengesetzte = Nicht-Ich sein müßte. Der dritte ist fast durchgängig eines Beweises fähig, weil er nicht, wie der zweite dem Gehalte, sondern vielmehr der Form nach, und nicht wie jener, von Einem, sondern von Zwei Sätzen bestimmt wird... (d.h.) die Aufgabe für die Handlung, die durch ihn aufgestellt wird, ist bestimmt durch die vorhergehenden zwei Sätze 17

Kant: Kritik der Urteilskraft. Hrsg. v. W. Weischedel. Bd. V. Darmstadt 1966. S. 273. (Einleitung, letzte Anm.) 18 Vgl. die Kantische Kategorientafel mit ihrer Symmetrie von vier mal drei Kategorien, wobei die jeweils dritte die Synthesis der beiden vorhergehenden ist. Kant: Kritik der reinen Vernunft. aaO. Β 106.

III. Logik contra Dialektik

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gegeben, nicht aber die Lösung derselben. Die letztere geschieht unbedingt und schlechthin durch einen Machtspruch der Vernunft" 1 9 . Die obige Aufgabe, welche die Form der Handlung vollkommen bestimmt (begrenzt, limitiert), besteht darin, das entgegengesetzte Ich und das Nicht-Ich gleichzusetzen, zu vereinigen, ohne daß sie sich gegenseitig aufheben, also als aufbewahrte Gegensätze in die Identität des einigen Bewußtseins aufgenommen werden können; dies geschieht, weil es sich aus der gestellten Aufgabe auf keine Art entwickeln läßt, durch ein besonderes Gesetz der Vernunft, das Fichte durch ein geistiges Experiment zu begründen versucht: durch gegenseitige Einschränkung. „Etwas einschränken, heißt: die Realität desselben durch Negation nicht gänzlich, sondern zum Teil aufheben. Mithin liegt im Begriffe der Schranken, außer dem der Realität und der Negation, noch der der Teilbarkeit (der Quantitätsfahigkeit überhaupt, nicht eben einer bestimmten Quantität). Dieser Begriff ist das gesuchte X (sc. der schlechthin, ohne allen Grund gesetzte, notwendige Zusammenhang von A = A) und durch die Handlung Y (sc. die verbindende Handlung des menschlichen Geistes, deren Produkt = X ist) wird demnach schlechthin das Ich sowohl als das Nicht-Ich teilbar gesetzt... denn die Handlung Y kann der Handlung des Gegensetzens nicht nachgehen, d.i. sie kann nicht betrachtet werden, als durch dieselbe erst möglich gemacht, da ... ohne sie das Gegensetzen sich selbst aufhebt, und mithin unmöglich ist. Ferner kann sie nicht vorhergehen; denn sie wird bloß vorgenommen, um die Entgegensetzung möglich zu machen, und die Teilbarkeit ist nichts, ohne ein Teilbares. Also geht sie unmittelbar in und mit ihr vor; beide sind Eins und eben Dasselbe, und werden nur in der Reflexion unterschieden. So wie dem Ich ein Nicht-Ich entgegengesetzt wird, wird demnach das Ich, dem entgegengesetzt wird, und das Nicht-Ich, das entgegengesetzt wird, teilbar gesetzt" 20 . Nach Fichtes Auffassung gibt es nicht mehr als einen schlechthin unbedingten, einen dem Gehalt nach bedingten (der Form nach unbedingten) und einen der Form nach bedingten (dem Gehalt nach unbedingten) Grundsatz; die Menge dessen, was unbedingt und schlechthin gewiß sei, werde damit erschöpft. Und er faßt das Ergebnis in der Formel zusammen: Das Ich setzt im absoluten, prädikatlosen Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen. Dem (unbedingten, unteilbaren) absoluten Ich entgegengesetzt — welchem aber nur, insofern es vorgestellt, nicht insofern es an sich ist, entgegengesetzt werden kann — ist das Nicht-Ich schlechthin nichts 21 , dem teilbaren, bedingten Ich entgegengesetzt, ist es eine negative Größe. Abstrahiert man von jedem Gehalt, so hat man in der bloßen Form entgegengesetzter Teile im Begriff der Teilbarkeit den logischen Satz vom Grunde vor sich. Jedes Entgegengesetzte ist seinem Entgegengesetzten in einem Merkmale gleich; und jedes Gleiche ist seinem 19 Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. 1794/95. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. I. H. Fichte. Fotomech. Nachdruck. Berlin 1971. Bd. I. S. 105, 106. 20 Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. aaO. Bd. I. S. 108, 109. 21 Vgl. dazu oben S. 33 f.

Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

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Gleichen in einem Merkmale entgegengesetzt; ein solches Merkmal heißt im ersten Falle Beziehungs-, im zweiten Unterscheidungsgrund. Denn Entgegengesetztes gleichsetzen, nennt man, Teile aufeinander beziehen, und Gleichgesetztes entgegensetzen, heißt, Teile voneinander unterscheiden. Jedes begründete Urteil hat nur einen Beziehungs- und nur einen Unterscheidungsgrund; hat es mehrere, so handelt es sich nicht um ein, sondern um mehrere Urteile. Selbstverständlich werden verschiedene Dinge nur unter der Bedingung gleich- oder entgegengesetzt, daß sie sich in irgendeinem Merkmale gleich- oder entgegensetzen lassen. Der klappernde Dreischritt von Thesis, Antithesis und Synthesis bietet noch keine Gewähr dafür, daß man wirklich einen dialektischen Sachverhalt vor sich hat; allzuleicht wird die dialektische Triade zu einem formalen Schema, das bloß äußerlich zur Anwendung kommt. Prinzipiell freilich steht für Fichte ein Urteil über etwas, dem nichts gleich- und nichts entgegengesetzt werden kann, nicht unter dem Satze vom Grunde; es wird nicht begründet, sondern begründet selbst alle möglichen Urteile; es hat keinen Grund, sondern gibt selbst den Grund alles Begründeten an. Der Gegenstand solcher Urteile ist nach Fichte das absolute Ich, und alle Urteile, deren Subjekt dasselbe ist, gelten schlechthin und ohne allen Grund. Das Verfahren, mit dem im Vergleichen das Unterscheidende herausgearbeitet wird, nennt Fichte antithetisch oder analytisch, wobei die zweite Benennung allerdings weniger treffend ist als die erste, weil sie einmal zu dem Fehlschluß verleitet, man könne aus dem Begriff etwas entwickeln, was man nicht vorher durch Synthese hineingelegt hat, zum anderen, weil sie nicht in gleicher Weise den Gegensatz zum zweiten Verfahren verdeutlicht. Das zweite, synthetische Verfahren besteht nämlich darin, im Entgegengesetzten dasjenige Merkmal aufzusuchen, worin die Begriffe gleich sind. Der bloßen logischen Form nach, abstrahiert von allem Inhalt der Erkenntnis, heißen die aus dem antithetischen Verfahren hervorgehenden Urteile bei Fichte antithetische oder verneinende, die aus dem synthetischen Verfahren hervorgehenden synthetische oder bejahende Urteile. Wie Gleiches nur im Entgegengesetzten und Entgegengesetztes nur im Gleichen entdeckt werden kann, so bedingen sich antithetisches und synthetisches Verfahren und bilden eine Einheit, die nur durch die Reflexion getrennt wird: keine Antithesis ohne Synthesis und umgekehrt keine Synthesis ohne Antithesis. Daraus folgt, daß es keine dem Gehalte nach bloß analytischen Urteile geben kann; man kommt mit ihnen nicht nur nicht weit, wie Kant sagt, sondern überhaupt nicht vom Fleck 22 . Aus den Grundsätzen der Identität, des Gegensetzens und des Grundes, welche das dialektische Verfahren zugleich ermöglichen und formal begründen, sowie aus der Grundsynthese des Ich und des Nicht-Ich soll sich nun die gesamte Wissenschaftslehre „synthetisch" ( = dialektisch) entwickeln lassen. Da aber in der Grundsynthese nicht mehr als zwei Entgegengesetzte vereinigt werden, setzt 22

Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. aaO. Bd. I, S. 112 f., 114.

III. Logik contra Dialektik

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das voraus, daß in der Synthese selbst etwas entsteht, das in erneuter Entgegensetzung weitere Synthesen notwendig erfordert. Dieses Neue ist die Realität, in welche die entgegengesetzten Glieder dadurch eintreten, daß sie die produktive Einbildungskraft unter dem Zwang zur Vereinigung und zugleich in der Unmöglichkeit derselben als bloß Gedachtes anschaut. Nach Fichte sind die entgegengesetzten Glieder als Subjektives und Objektives vor der Synthese auf andere Art im Bewußtsein als nach derselben. Vor der Synthese sind sie nichts weiter als Entgegengesetzte; das eine ist, was das andere nicht ist, und umgekehrt; ein bloßes Verhältnis wird festgehalten und sonst nichts; die entgegengesetzten Glieder sind etwas Negatives und schlechthin nichts Positives, lediglich ein Gedanke ohne alle Realität, noch dazu einer, der eine bloße Beziehung festhält. Nach der Synthesis jedoch sind sie etwas, das, indem es durch die Synthesis gleichsam hindurchgegangen ist, sich verwandelt und mit neuen Aspekten dem Bewußtsein darbietet. Diese Verwandlung hat nach Fichte ihre Ursache darin, daß die an das Denkvermögen herangetragene Forderung, die Entgegengesetzten zu vereinigen, zwar als Forderung akzeptiert wird, aber am Unvermögen des Geistes scheitert; während dieser zwischen Forderung und Unmöglichkeit, sie zu erfüllen, hin- und herschwebt, macht er die (vorhandenen) Gegensätze für die Einbildungskraft (die Synthese aus Anschauung und Verstand) in der Vorstellung faßbar, gehaltvoll und manifest; Fichte nennt es den „Zustand des Anschauens" 23 . Weil aber alle Realität durch die produktive Einbildungskraft hervorgebracht und nur über die Form der Anschauung erfahren wird, werden die anscheinend unüberbrückbaren Gegensätze im ruhigen Zustand des Anschauens für das Bewußtsein real 24 . M i t diesem, der „anschauenden Urteilskraft" (Goethe) oder „intellektuellen Anschauung" (Schelling) vorauseilenden Begriff von Anschauung, aus der heraus die spontanschöpferische Einbildungskraft in immer neuen Reihen Beziehungs- und Unterscheidungsgründe produziert, entfernt sich Fichte allerdings soweit von seinem Vorbild Kant, daß dieser die Ergebnisse des „synthetischen Verfahrens" sehr viel eher seinem (negativen) Begriff der Dialektik als seinem Begriff des synthetischen Urteils zugeordnet hätte 25 . In der Nachfolge Fichtes und insbesondere F. W. J. Schellings wird die intellektuelle Anschauung zur zentralen Kategorie einer Philosophie, die nicht auf das philosophische Begreifen des Absoluten verzichten will. Die Tathandlung, durch die sich für Fichte „das Ich" zum „absoluten Subjekt" und damit zum letzten Prinzip der Transzendentalphilosophie erhebt, ist nur durch intellektuelle Anschauung zu setzen26. Sie ist als 23

Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. aaO. Bd. I, S. 224, 225. Zum naheliegenden Mißverständnis der „unerfüllbaren Forderung" an den Geist, das Ich solle zur absoluten Identität kommen, dem Hegel später erliegt, vgl. Medicus: Fichtes Leben. In: Fichtes Werke. Hrsg. v. Medicus. Leipzig 1922. Bd. I, S. 107. 25 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. aaO. Β 307, 308; positiv beurteilt die Entwicklung Glockner: Gegenständlichkeit und Freiheit. Bd. 1. Bonn 1963. S. 9ff. 26 Dieses Setzen des schlechthin realen Absoluten erfolgt in der teleologischen Entwicklung nicht jenseits des Bewußtseins, sondern diesseits; das ontologische Problem 24

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

das „angemutete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Aktes, wodurch das Ich entsteht", das unmittelbare Bewußtsein der Form und des Inhalts des Handelns, die „Quelle des Lebens", der „einzige feste Standpunkt für die Philosophie". Daß es ein solches Vermögen der intellektuellen Anschauung gäbe, lasse sich nicht durch Begriffe demonstrieren, noch, was es sei, aus Begriffen entwickeln; jeder müsse es in sich finden, oder er werde es nie kennenlernen 27. 3. Dialektik als Bewegung sprachlicher Gehalte bei Hegel G. W. F. Hegel blickt bereits distanziert auf die romantischen Erfahrungen seiner Zeit mit der intellektuellen Anschauung zurück, die gegenüber der durch Kant begründeten Beschränkung auf das diskursive Denken eine ungeheure Erweiterung des menschlichen Erkenntnisvermögens mit sich gebracht hat 2 8 . Nach Hegel erfaßt zwar die intellektuelle Anschauung als die „Erhebung auf den Standpunkt des reinen Wissens" das richtige Moment der Zurückweisung aller äußeren Bestimmungen, sie hat aber andererseits als subjektives Postulat den Nachteil, willkürlich zu sein, und der objektiven Bewegung des Begriffes selbst nicht anzugehören 29. Dementsprechend ist für ihn das von Fichte richtig erkannte dialektische Grundprinzip des Denkens, das geschilderte „synthetische Verfahren", weniger ein methodischer Vorgang in der Reflexion als der „Gang der Sache selbst", was seinerseits zur Folge hat, daß die Dialektik sein Philosophieren zwar nach Form und Methode beständig innerlich leitet, gleichwohl aber, der grundsätzlichen Bedeutung zum Trotz, nur selten als Gegenstand expliziter Äußerung nach außen gewendet wird; sie muß also aus dem Sachzusammenhang nachträglich herausgearbeitet werden. In der Vorrede zu seinem Werk „Phänomenologie des Geistes" (1807) geht Hegel von einer dialektischen Bewegung des sprachlichen Satzes aus; dabei macht er gegenüber der Vorstellung der traditionellen Logik, insbesondere der Analytik, welche Subjekt und Prädikat rein äußerlich entgegensetzt, den immanenten Bezug von Subjekt und Prädikat (Objekt) geltend, der den Satz als festes Resultat in die Bewegung eines Prozesses auflöst. Der Dogmatismus der Denkungsart im Wissen und im Studium der Philosophie sei nichts anderes als die Meinung, das Wahre bestehe in einem Satze als Resultat, das als unprobleder Wissenschaftslehre liegt also nicht in der Hypostasierung einer regulativen (nämlich der teleologischen) Maxime, wie kantianische Kritiker meinten. Vgl. Medicus: Fichtes Leben. aaO. Bd. 1, S. 111. 27 Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre. 1797. In: Werke. Hrsg. v. F. Medicus. Leipzig 1922. Bd. III, S. 47. Hier liegt die philosophische Basis der Gestaltpsychologie und des Ganzheitsdenkens. 28 Vgl. Hirsch: Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie des Geistes. In: Dtsche. Vierteljahresschr.f. Literaturwiss. u. Geistesgesch. Bd. I I (1924). S. 510ff. Wieder abgedr. in: Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Fulda u. Henrich. Frankfurt 1973. S. 245ff. (264f.). 29 Vgl. Hegel: Werke. Hrsg. v. H. Glockner. 1941. Bd. IV, S. 81 f.

III. Logik contra Dialektik

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matisch Gegebenes (Satz als Bodensatz) von der Bewegung der Synthesis (Satz als Sprung) abgetrennt und fixiert werden könne. Die Evidenz eines solchen mangelhaften Erkennens, auf welches die Mathematik gegenüber der Philosophie so stolz sei, beruhe allein auf der Armut ihres Zweckes und der Mangelhaftigkeit ihres Stoffes, nämlich dem unwesentlichen und begriffslosen Verhältnis der Größe. Die Philosophie dagegen betrachte nicht das Abstrakte, Unwirkliche,Tote, sondern das Wirkliche, sich selbst Setzende, in sich Lebende, das Dasein in seinem Begriffe, den sich seine Momente selbst erzeugenden und durchlaufenden Prozeß. Es sei nicht schwer einzusehen, daß die Manier, Sätze aufzustellen, Gründe dafür anzuführen, und die entgegengesetzten durch Gründe ebenso zu widerlegen, nicht die Form sei, in der die Wahrheit auftreten könne; sie bleibe dem Stoffe äußerlich. Der Gehalt der wissenschaftlichen Methode, welche dies vermeide, sich nicht vom Inhalt ablöse, sondern auf den immanenten Rhythmus der Begriffe achte, finde seine eigentliche Darstellung in der spekulativen Philosophie, der Theorie vom „spekulativen Satz"; dieser zerstöre die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, welche den Unterschied des Subjekts und des Prädikates in sich schließe, und verwandele ihn durch die Einheit des Begriffes in einen identischen Satz, in dem das Denken seinen festen, gegenständlichen Boden verliere, weil der philosophische Gehalt das gewöhnliche Verhältnis des Subjekts zum Prädikat nicht dulde. Dieses gewöhnliche Verhältnis hat das ruhende Subjekt als gegebene Unmittelbarkeit zur Voraussetzung, das unbewegt die Akzidenzien trägt, ohne jedoch die tiefere Bedingung allen gegenständlichen Prädizierens, nämlich die ursprüngliche Synthesis von (rezeptiver) Anschauung und (spontanem) Verstand irgendwie zum Ausdruck bringen zu können. Das von der Bewegung her verstandene Subjekt dagegen hat sein Prädikat nicht außer sich, sondern „ist" es sozusagen im Sinne der ursprünglichen Identität; es erfüllt seinen Inhalt, hört auf, über diesen hinauszugehen, kann nicht noch andere Prädikate oder Akzidenzien haben. Verallgemeinernd läßt sich also sagen, daß der philosophische Gehalt des spekulativen Satzes im gewöhnlichen Aussagesatz grundsätzlich mißverstanden wird, dieser deshalb gesprengt und durch zwei antinomische, für den Verstand aufnehmbare Sätze ( A = A; A = Nicht-A) ersetzt werden muß. Einsichtig wird der Sinn des spekulativen Satzes nur, wenn das im gewöhnlichen Satz unreflektiert herrschende Vorurteil durchschaut wird; dann freilich ist das Subjekt nicht länger ein unmittelbar Gegebenes, dem verschiedene Prädikate „angeklebt" werden {Kant), ist das Prädikat kein abstraktes Allgemeines, unter welches das Subjekt subsumiert werden kann, sondern Subjekt und Prädikat vereinigen sich in einer höheren, wirkliches Wissen repräsentierenden Einheit 2 9 a . Dies scheint auf den ersten Blick nichts weiter als eine andere Beschreibung eines Vorganges zu sein, den wir schon bei Fichte kennengelernt haben; doch wird der Vorgang des Setzens, Gegensetzens und Aufhebens hier aus der Sphäre 29a

Vgl. die Abbildungen 1 und 2.

6 Mittenzwei

Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

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Die innere Welt Geist

Die äußere Welt „Hiatus (irrationalis)"

Materie

Selbstbewußtsein

Ding an sich

Subjekt

Objekt

Abb. 1 : Das (nach Hegel falsche) Schema der Subjekt-Objekt-Beziehung

des handelnden, absoluten Ich in die Sphäre der intersubjektiven Sprache, des Satzes, oder, wie Hegel sagt, des objektiven Geistes gehoben und damit das Gewicht zugunsten der Objektivität verschoben. Hegel trifft von allem Anfang an so etwas wie eine metaphysische Vorentscheidung gegen den Wert des Individuellen und für den Vorrang des Allgemeinen 30 , und stimmt als Idealist in diesem Punkte durchaus mit dem Realisten Aristoteles überein, trotz der Differenz in der logischen Position 31 . Zwar betont er wie Fichte die Spontaneität des Subjekts, aber indem er das subjektive Bewußtsein im objektiven Geist aufgehen und das kantische „Ding an sich" fallen läßt, verliert die Reflexion auf die Gegenstandsrelation ihren methodischen Stellenwert als Grenze der Erfahrung. Gedanke und Ding, Bewußtsein und Welt, Denken und Sein gehen als Gegensätze im absoluten Wissen unter; das empirische Ich verschwindet in der Gesellschaft, das empirische Bewußtsein im Gesamtgeist, das transzendentale Bewußtsein im Nichts; Kants Apriorismus ist in seiner Bedeutung durchschaut, damit zu etwas „Abstraktem" geworden, sublimierte Erfahrung der Nachfahren, eine Vorstufe, die hinter uns liegt. Die angestrebte, dialektische Aussöhnung des Individuellen mit dem Allgemeinen, welche später in Hegels Geschichtsphilosophie geradezu das Wesen von Geschichte definiert, hält auch diesmal, wie schon so oft, nicht die Balance und hebt die Eigenständigkeit des Individuellen auf, ohne sie, wie gefordert und versprochen, gleichgewichtig aufzubewahren 32. Der Geist als das Absolute und Ganze der Bewegung des spekulativen Satzes, in welchem die Reflexion und die Arbeit des Negativen, Entgegengesetzten, als positives Moment enthalten sind, hat das Ich schon immer mit sich selbst vermittelt. Die Formen des dialektischen Verhältnisses des Bewußtseins zu seinem Gegenstand, dessen Wahrheit sich von Gestalt zu Gestalt immer mehr entzieht bzw. nähert, führen zum absoluten Wissen, zum sich als Geist wissenden Geist, der die Er-Innerung seiner früheren Gestalten in sich 30 Vgl. etwa den Unterabschnitt „Die Lust und die Notwendigkeit" in der „Phänomenologie des Geistes". aaO. S. 207ff. 31 Vgl. Hartmann: Aristoteles und Hegel. 2. Aufl. Erfurt 1933. 32 Die negativen Konsequenzen für Freiheit und Verantwortung des Individuums in der Geschichte zeigt Wein: Realdialektik. Von hegelscher Dialektik zu dialektischer Anthropologie. München 1957. S. 23 ff.

6*

(Macht des Überindividuellen)



ι

Objektiver Geist

(Tat-)Sache



Abb. 2: Das (nach Hegel richtige) Schema wechselseitiger Verschränkung und Durchdringung

Wechselwirkung

Apperzeption

(Sprache)

^^^

», Allgemeines (Begriff)

Perzeption

Synthetische Einheit ^^ aus

Rezeptivität

Verstand — Urteilskraft — Anschauung

^^^^

(Bewußtsein) ^^ ^^—'

Spontaneität

Subjektiver Geist < (Macht des Individuellen)

Tathandlung



t

Individuum

Absoluter Geist Das Ganze = Das Wahre

ΙΠ. Logik contra Dialektik 83

84

Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

aufbewahrt; ohne den Begriff des Absoluten kommt — wie alle Teleologie — auch Hegels Dialektik nicht aus. Während Hegel in der „Phänomenologie des Geistes" das Absolute in seinem Werden beschreibt, versucht er es in der „Wissenschaft der Logik" dialektisch auf den Begriff zu bringen; wie auch in anderen Schriften stellt er dabei das Problem der Dialektik in der „Logik" am Problem des Anfangs des Philosophierens dar. Durch die innewohnende Dialektik schreitet das Denken nicht linear von einem gesetzten ersten Anfang zu einem Ende fort, sondern kehrt in kreisförmigen, besser noch: in spiralförmigen Bewegungen stets in den Grund des Anfangs zurück, diesen dabei als von Anbeginn an als schon vermittelt erweisend. Als Resultat der spiralförmigen Bewegung, welche jede Unmittelbarkeit des Anfangs aufhebt, ergibt sich der Begriff. Die Bewegung des „Logischen" hat für ihn der Form nach drei Seiten, die aber nicht als drei verschiedene Teile der Logik verstanden werden dürfen, sondern Momente jedes Logisch-Reellen, d.h. jedes objektiven Begriffes sind: a) das abstrakte oder verständige Moment, welches die Inhalte als für sich bestehende nimmt und bei der festen Bestimmtheit und Unterschiedenheit derselben stehen bleibt; b) das dialektische oder negativ-vernünftige Moment, in welchem sich die festen Bestimmungen des Verstandes selbst aufzuheben und in ihr Gegenteil überzugehen beginnen; schließlich c) das spekulative oder positiv-vernünftige Moment, welches die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auffaßt, das Affirmative, Bejahende also, das in der Auflösung und dem Übergang der Bestimmungen enthalten ist. „Das Dialektische, vom Verstände für sich abgesondert genommen, macht, insbesondere in wissenschaftlichen Begriffen aufgezeigt, den Skeptizismus aus; er enthält die bloße Negation als Resultat des Dialektischen 33 . Die Dialektik wird gewöhnlich als äußere Kunst betrachtet, welche durch Willkür eine Verwirrung in bestimmten Begriffen und einen bloßen Schein von Widersprüchen in ihnen hervorbringt, so daß nicht diese Bestimmungen, sondern dieser Schein ein Nichtiges und das Verständige dagegen vielmehr das Wahre sei. Oft ist die Dialektik auch weiter nichts als ein subjektives Schaukelsystem von hinund herübergehendem Räsonnement, wo der Gehalt fehlt und die Blöße durch solchen Scharfsinn bedeckt wird, der solches Räsonnement erzeugt. — In ihrer eigentümlichen Bestimmtheit ist die Dialektik vielmehr die eigene, wahrhafte Natur der Verstandesbestimmungen, der Dinge und des Endlichen überhaupt. Die Reflexion ist zunächst das Hinausgehen über die isolierte Bestimmtheit und ein Beziehen derselben, wodurch diese, in Verhältnis gesetzt, übrigens in ihrem isolierten Gelten erhalten wird. Die Dialektik dagegen ist dies immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation, darstellt. Alles 33 Die Philosophie enthält also den Skeptizismus als zweites Moment der dialektischen Bewegung. Vgl. dazu Hegel. Verhältnis des Skeptizismus zur Philosophie. In: Werke. Hrsg. v. Moldenhauer u. Michel. Frankfurt 1970. Bd. II, S. 213 ff.

III. Logik contra Dialektik

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Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm überhaupt die wahrhafte, nicht äußerliche Erhebung über das Endliche liegt" 3 4 . Die Dialektik hat ein positives Ergebnis, weil sie einen bestimmten Inhalt hat; anders gesagt, weil ihr Resultat die Negation von gewissen Bestimmungen ist, welche in ihm deswegen enthalten sind, weil das Negative ebenso sehr positiv ist, weil das Widersprechende sich nicht in Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts 35 . Das Vernünftige ist nach Hegel daher, obwohl ein Gedachtes, Abstraktes, zugleich ein Konkretes, Einzelnes, nicht bloß einfache, formelle Einheit, sondern Einheit unterschiedener Bestimmungen. „Der Begriff selbst ist, für uns zunächst, sowohl das an sich seiende Allgemeine als das für sich seiende Negative als auch das dritte Anundfürsichseiende, das Allgemeine, welches durch alle Momente des Schlusses hindurchgeht; aber das Dritte ist der Schlußsatz, in welchem er durch seine Negativität mit sich selbst vermittelt, hiermit für sich als das Allgemeine und Identische seiner Momente gesetzt ist" 3 6 . So sehr das Verfahren der Dialektik also durch die Negativität bestimmt ist, so wenig schließt es sich, wie bei Kant, von der Einheit des einander Entgegengesetzten und von dem Positiven im Negativen aus. Das Fortschreiten zum Positiven, für Hegel das Prinzip aller natürlichen und geistigen Lebendigkeit überhaupt, kennzeichnet die Dialektik wie die Teleologie als spekulativ. Das aus dem dialektischen Verfahren resultierende Positive oder Identische oder Absolute, welches Hegel auch „die Identität der Identität und der Nichtidentität" oder „die Verbindung der Verbindung und der NichtVerbindung" nennt, die Wahrheit des Zu-sich-selbst-Kommens, ist letztlich das Leben. Allerdings gilt es dabei immer festzuhalten, daß das Absolute nicht als ein fixierter Endpunkt linearen, logischen Denkens, sondern als reine Darstellung einer kreisenden, in ihren Ausgangspunkt stets zurückkehrenden Denkbewegung aufzufassen ist. Die Methode der Darstellung ist die dialektische Bewegung des Begriffes, keine äußerliche Form irgendwelcher Inhalte; ihr Anfang in abstrakter Allgemeinheit ist ein Vorgefundenes und Unmittelbares, das als bloßes „ A n sich" (Insichvermitteltheit) seinen Fortgang als Negation seiner selbst bereits in sich hat. „Die Bestimmtheit, welche Resultat war, ist... um der Form der Einfachheit willen, in welche sie zusammengegangen, selbst ein neuer Anfang; indem er von seinem vorhergehenden durch eben diese Bestimmtheit unterschieden ist, so wälzt sich das Erkennen von Inhalt zu Inhalt fort... (wird) immer reicher und konkreter... 34 Hegel·. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. 1830. Hrsg. v. Nicolin u. Pöggeler. 7. Aufl. Hamburg 1969. § 81. 35 Hegel: Wissenschaft der Logik. 2. Teil. In: Werke. Hrsg. v. Moldenhauer u. Michel. Frankfurt/M. 1969. Bd. 6, S. 561 ff. 36 Hegel aaO. S. 566.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

Denn das Resultat enthält seinen Anfang, und dessen Verlauf hat ihn um eine neue Bestimmtheit bereichert ... Der Begriff in der absoluten Methode erhält sich in seinem Anderssein, das Allgemeine in seiner Besonderung, in dem Urteile und der Realität; es erhebt auf jede Stufe weiterer Bestimmung die ganze Masse seines vorhergehenden Inhalts und verliert durch sein dialektisches Fortgehen nicht nur nichts ... sondern trägt alles Erworbene mit sich und bereichert und verdichtet sich in sich ... (So) stellt sich die Wissenschaft als ein in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabei ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied ... ist die Reflexion-in-sich, die, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist. Bruchstücke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften, deren jede ein Vor und Nach hat oder, genauer gesprochen, nur ein Vor hat und in ihrem Schlüsse selbst ihr Nach zeigt" 3 7 . In den Bildern der Knospe, des Keimes und des Triebes entfaltet Hegel, wie übrigens schon Aristoteles bei der Darstellung seiner entelechelischen Teleologie, eine organologische Metaphorik, welche den abstrakt-logischen Ablauf veranschaulichen soll. Die jeder Entwicklung immanente Teleologie bestimmt den Anfang wie jedes Moment des Prozesses, und nur der abstrahierende Verstand reißt aus diesem lebendigen Zusammenhang einzelne Momente heraus und beharrt in seiner einsichtslosen Künstlichkeit auf der Fixierung der herausgerissenen Teile, ohne zu begreifen, daß Wahrheit und Wesen der Dinge nicht in diesen toten Tatsachen, sondern nur in der aus ihrer inneren Widersprüchlichkeit resultierenden Selbstbewegung entdeckt werden kann. Indem das Subjekt seine Subjektivität ebenfalls aus der Negation des Unmittelbaren herausarbeitet und zum objektiven Sich-Bestimmen weiterführt, übernimmt es die geduldige Arbeit der Objektivität und verwirklicht zugleich im Individuum das Absolute 38 . Die Unterscheidung zweierlei Arten von Selbstbezüglichkeit, nämlich des an sich seienden und des für sich seienden Widerspruches, die wir hier bei Hegel finden, zeigt an, daß wir uns in einem schon bekannten Begriffsmuster bewegen39. Der nicht feststellbare, an sich seiende Widerspruch, der den in sich vermittelten Organismus aus sich heraustreibt und dadurch in der sich zeigenden Veränderung für das anschauende, perzipierende Bewußtsein auffaßbar und für das apperzipierende, urteilende Bewußtsein als für sich seiender Widerspruch formulierbar wird, ist nichts anderes als die Wirkursache und Telos enthaltende, aristotelische Form. Entelechelisch-teleologisches und dialektisches Denken 37

Hegel aaO. S. 569, 571 f. Die Selbstverwirklichung des Menschen als die Natur transzendierende Pluralität (vgl. oben S. 54) durch „Hinwegarbeiten der Anhänglichkeit an das natürliche Dasein" {Heget) ist trotz der spekulativen Zielsetzung durchaus etwas Reales. Vgl. Wein: Realdialektik. München 1957. S. 77. 39 Vgl. oben S. 54f. 38

. Logik contra Dialektik

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kommen im Verständnis des „Insich-Vermitteltseins" der Dinge überein, wenn es auch abwegig wäre, Aristoteles den neuzeitlichen Gedanken der Produktion, der Leistung des Bewußtseins, anzutragen 40 . Würde man aus der Dialektik Hegels den teleologischen Gehalt entfernen und als Surrogat für ihn einen Prozeß annehmen wollen, bei welchem die Qualitäten „blindlings" ineinander umschlagen, gleichwohl jedoch am Ende „höhere", nämlich sinnvolle Dinge dabei herauskommen, müßte man erklären, woher man den Maßstab für die Bewertung „höher" bzw. „niedriger", der ja nur im Hinblick auf einen vorausgesetzten Zweck sinnvoll ist, hernehmen möchte 41 . Es ist kaum verwunderlich, daß Hegel mit seiner transzendentalphilosophischen, spekulativen Dialektik auf die gleiche, breite Ablehnungsphalanx trifft wie der Aristotelismus mit seiner ontologischen Stoff-Form-Teleologie; beide Standpunkte sind hier, wie gesagt, in ihrer Verwandtschaft nur aufzuzeigen, nicht zu rechtfertigen. Wichtig ist es jedoch, darauf aufmerksam zu machen, daß damit die nicht bloß sprachliche Version der Dialektik in einem neuen Lichte erscheint, weil sie durch den Ausweis in der Antike eine neue Legitimationsbasis gewinnt. Versteht man nämlich unter „Insich-Reflektiertheit" bzw. „In-sichVermitteltsein"nicht allein Subjektivität, dann fallt auf, daß bereits bei Piaton von einer „Dynamis" die Rede ist, die sich auf sich selbst bezieht; nicht F. Engels, sondern ein unverdächtiger Autor wie H. G. Gadamer nennt denn auch Beispiele für eine auf sich selbst beziehende Dynamis 42 . 4. Relativierung

der aristotelischen

Logik

Wo Hegel sich entscheidend von Aristoteles und der an ihn anknüpfenden Tradition abhebt, ist weder in der Beurteilung des Individuellen gegenüber dem Allgemeinen noch in der spekulativ-teleologischen Einschätzung der Natur, sondern in dem genau entgegengesetzten Verständnis der Logik. In der zweitausendjährigen, aristotelischen Tradition ist Logik eine (wahrscheinlich) auf die Grundstrukturen der indogermanischen Sprachfamilie (Grammatik) fundierte Technik (Organon) des Lehrens und Überzeugens, deren oberster Grundsatz der Satz vom Widerspruch ist; in der „Ersten Philosophie" Aristotelesnachmals „Metaphysik" genannt, ist dieser Satz „oberstes Axiom der Grundwissenschaft" vom Seienden als Seienden, zugleich oberstes Seins- und Weltprinzip 43 . Diese Einschätzung des mit den logischen Prinzipien der 40 Vgl. Radermacher: Dialektik. In: Handbuch philos. Grundbegriffe. Bd. I München 1973. S. 290. 41 In der auf Darwin fußenden Evolutionstheorie ist jedenfalls die Redeweise von der „Höherentwicklung" fehl am Platz, denn weder Komplexitätszuwachs noch Überlebensfahigkeit eignen sich als Bewertungskriterien. Vgl. Spaemann / Low: Die Frage Wozu? München/Zürich 1981. S. 177, 185 (Anm. 73). 42 Vgl. Gadamer: Vorgestalten der Reflexion. In: Subjektivität und Metaphysik. Festschr. f. W. Cramer. Frankfurt 1966. S. 133. 43 Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Übers, u. hrsg. v. Schwarz. Stuttgart 1970.1005 b 6 — 1007 a; 1061 b 18 — 1064 a 1.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

Identität und des ausgeschlossenen Dritten zusammenhängenden Satzes vom Widerspruch, in der aristotelischen Tradition zum Kern der Seins-, Gegenstands· und Weltphilosophie herausgearbeitet, ändert sich erst mit Kants „Transzendentaler Logik", wo der Grundsatz aus seiner zentralen Stellung verdrängt und nur noch in dem Bereich der analytischen Urteile angewandt wird. Die formalen Regeln, welche Begriffe miteinander verknüpfen und, unabhängig vom Inhalt der verknüpften Begriffe, Urteile und Schlüsse oder, wie es in der modernen Logistik heißt, Aussagen beziehungsweise Sätze begründen, vermitteln weder neue (synthetische) Erkenntnisse noch sind sie in der Lage, das Erkannte anders als formal zu versichern. Diesem „Paradigma" von Logik mit seinem Grundsatz der Identität des unbewegten, ruhenden Subjekts, das in sich eine widerspruchslose Einheit darstellt, mit seinem Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten, der eine zweiwertige Aussagenlogik ermöglicht, mit seinem ontologischen Verständnis von Einfachheit, dem alles Zusammengesetzte bloß äußerliches, unwesentliches Verhältnis (Menge) des an sich nicht zusammengesetzten Einfachen ist, stemmt sich Hegel kompromißlos und in wissenschaftlich revolutionärer Gesinnung entgegen44. Was er demgegenüber zur Geltung bringen will, ist ein Wissen, das sich schon bei Heraklit ausspricht 45 und im Grunde nie verloren gegangen, sondern von der aristotelischen Logik nur überdeckt worden ist: nämlich, daß alles, was uns in den realen Prozessen begegnet, zusammengesetzt ist, irgendwelche Struktur und folglich auch eine aus Teilen zusammengesetzte, synthetische Einheit „an sich" besitzt; wie denn folgerichtig jede materiale Erkenntnis nur Prozeß- oder Struktur-, nicht aber analytische Erkenntnis sein kann; das Wahre ist das (übersummative) Ganze, nicht das (an sich) Einfache. Wie nun das Ganze durch seine „Momente" — verstanden analog dem Produkt aus physikalischen Größen 46 — in die Realität tritt, so werden die Momente im Ganzen aufgehoben (als Teile beseitigt, aber gleichgewichtig aufbewahrt), freilich bloß im Ergebnis; denn nirgends meint Hegel ein statisches Ganzes, eine Struktur, wie der Begriff heute in vielen Wissenschaftsbereichen gebraucht wird, sondern immer ein sich fortbildendes, durchgängiges, sich entzweiten, unversöhnten Teilen von neuem öffnendes Ganzes. Die Einheit des Ganzen ist nie Widerspruchslosigkeit in sich, Einheit als logische Einstimmigkeit (Eins), auch nicht Einheit der Identität, sondern immer synthetische Einheit, Einheit aus Anderen 47 . Geistesgeschichtlich hat die Einheit der 44

Zu den Begriffen „Paradigma" und „wissenschaftliche Revolution" vgl. unten S. 275 ff. Das „Revolutionäre" besteht in der Einbeziehung des Menschen als Subjekt in den Erkenntnisvorgang, womit die Welt „antilogisch" wird (nicht unlogisch). Vgl. Weizsäcker. Der Gestaltkreis. 4. Aufl. Stuttgart 1950. S. 108 ff., 139. 45 Vgl. Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 1. Teil. 2. Abt. S. 830 ff. 46 Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik. 1. Teil. In: Werke. Hrsg. v. Moldenhauer u. Michel. Frankfurt 1969. Bd. V, S. 114.

III. Logik contra Dialektik

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Identität, die nicht-synthetische Einheit mit sich selbst ist, bei weitem das Übergewicht, nicht nur im Bereich der Logik, sondern gerade im Bereich der Spekulation. Die „Einheit des Seins", die „Einheit Gottes" bedeutet keineswegs „Einheit aus Anderen"; das im Wechselnden und Vielfaltigen des Bewußtseins Beständige, Bleibende, Sichere ist bei Aristoteles wie bei Descartes das Ziel wissenschaftlichen Forschens und Ringens; das Bleibende ist das „Eigentliche"4®, eben als Bleibendes im Wechsel der vielfaltigen Prädikate, Zustände, Erscheinungen; die von der Nichtidentität bedrohte Einheit mit sich selbst wird durch die negative Fassung des Identitätsprinzips, den Satz vom Widerspruch, gesichert; dahinter steht das Dogma vom Wertvorrang des Sich-GleichBleibenden, des Überzeitlichen, als Rückgrat der aristotelischen und christlichen Tradition 49 . Hegel bestreitet nicht die Einheit der Identität, aber sie ist für ihn nur ein Moment in der dialektischen Bewegung, weil in einer durchgängig geordneten, kohärenten, nicht rhapsodischen Welt nichts absolut „für sich" sein kann, sondern ausnahmslos auf allen Gebieten, physischen, organischen, psychischen, sozialen und geistigen, alles mit allem zusammenhängt; ein statisches, abstraktes Eines ist für ihn nichts als leere Abstraktion, die sich nicht mit der Unruhe des Lebens zu befassen vermag; ununterschiedene, unbewegte Substantialität dem Geist und Ganzen schlechthin entgegengesetzt. Daß aber in der Welt durchgängig Ordnung und Struktur vorhanden ist, gehört zu den ältesten Überzeugungen abendländischer Philosophie, wofür ansonsten schwer zu deutende Begriffe wie „Logos" und „Kosmos" beredtes Zeugnis ablegen 50 . Die Logik der Identität und des Satzes vom Widerspruch bzw. vom ausgeschlossenen Dritten muß daher ergänzt werden durch eine Logik der synthetischen Einheit, die Wissenschaft von den bestimmten Strukturen durch eine Wissenschaft vom dynamischen Ganzen, der auf das Gewordene fixierte Verstand durch eine auf das Werdende gerichtete Vernunft 51 . Halten wir fest: Dialektik unterscheidet sich von Logik dadurch, daß sie sich nicht als formales Verfahren von ihrem Gegenstand ablösen läßt; daher werden 47 Vgl. zur Mehrdeutigkeit des Begriffes „Einheit": Rickert: Das Eine, die Einheit und die Eins. 2. Aufl. Tübingen 1924. 48 S. oben S. 65 f. 49 Vgl. Wein: Realdialektik. München 1957. S. 85. 50 Vgl. dazu unten S. 216f. Ferner: Planck: Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft. In: Vorträge und Erinnerungen. aaO. S. 363ff.(374/375); Einstein / Infeld: Die Evolution der Physik. 1956. S. 195: „... ohne den Glauben an die innere Harmonie unserer Welt könnte es keine Naturwissenschaft geben. Dieser Glaube ist und bleibt Grundmotiv jedes schöpferischen Gedankens in der Naturwissenschaft ..." 51 Hegels Logikauffassung bildeten fort: Erdmann: Grundriß der Logik und Metaphysik für Vorlesungen. 1841. 4. Aufl. Halle 1863; Rosenkranz: Wissenschaft der logischen Idee. 2. Teil. Logik und Ideenlehre. Königsberg 1859; Fischer: Logik und Metaphysik. 1852.3. Aufl. Heidelberg 1909; ferner: Spann: Kategorienlehre. In: Gesamtausgabe. Hrsg. v. Heinrich u.a. Graz 1969, Bd. 9.

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

umgekehrt überall dort dialektische Fragen aufgeworfen, wo die Trennung von Form und Inhalt nicht in die Richtung auf mögliche Formalisierung vollzogen, sondern der innere Zusammenhang von Form und Inhalt gewahrt werden soll. Dialektik kann also im Unterschied etwa zur Syllogistik niemals zu einer Methode in dem Sinne werden, daß ein formales Schema — man denke an den Dreischritt von Thesis, Antithesis, Synthesis — zur „Anwendung" auf Sachverhalte verschiedenen Inhalts zur Verfügung gestellt wird; vielmehr geht es immer um den Sinn (Logos) von bestimmten Sätzen und deren universalen Zusammenhang, wobei die Sache, wie sie ist, die Begriffsbildung zwingt, sich ihr anzupassen; dies geschieht, wie Hegel sagt, durch die „Verflüssigung" der Begriffe, welche in der (prinzipiell endlosen) dialektischen Bewegung die Struktur der Sache, die ihrerseits als (synthetische) Einheit aus Anderem in Bewegung ist, nachzubilden versuchen. In diesem Sinne ist es tatsächlich immer die Sache, die sich selbst dialektisch im angestrengt arbeitenden Geiste reflektiert. Dialektik negiert nicht den logisch fundamentalen Satz vom Widerspruch, sondern setzt ihn im Gegenteil als ein Moment der Bewegung voraus: wo kein Widerspruch besteht, kann auch keiner aufgehoben werden; nur signalisiert der Satz nicht das Scheitern eines Gedankenganges, sondern läßt in seiner Aufhebung einen der Sache gemäßen Fortschritt des Denkens erkennen. Der aufgehobene Widerspruch geht über die durch ihn formulierte Negation hinweg und präsentiert ein Resultat, das ohne ihn nicht zu erzielen ist; freilich muß es sich wirklich um einen dialektischen „Sprung" (Satz) zu einer qualitativ neuen Einheit handeln und nicht bloß zu einem äußerlich zusammengesetzten Ganzen, das als System nicht mehr ist als die Summe der integrierten Teile. Die in der Dialektik bedeutsame Negation ist immer bestimmte Negation, weil nur in diesem Fall das Resultat den Gang, durch den es gewonnen wurde, in sich aufbewahrt 52 ; jede sinnvolle Negation ist eine solche innerhalb einer bestimmten Sphäre. Ist das Ganze das Wahre, so darf die aus der dialektischen Bewegung des Begriffs entstehende synthetische Einheit nicht als nachträgliche Zusammenfassung oder Vereinheitlichung von Teilen verstanden werden, denn sie liegt, wie der Zweck, als Idee, logisch vor den Gliedern; Einheit im ganzheitlichen Sinne stellt sich in ihren Teilen in sinnvoller Weise dar, nicht aber als etwas Anderes gegenüber, wenn sie sich auch nicht in ihnen erschöpft. Ganzheit ist im Grunde der allgemeine Begriff, der es ermöglicht, alle jene Begriffe zusammenzufassen, die nicht aus kausalem Denken hervorgegangen sind, indem er sowohl den Begriff der Norm als auch den Begriff der Geltung, insbesondere aber den Zweckbegriff und damit schließlich den aristotelischen FormbegrifT methodologisch in sich aufzunehmen fähig ist. Er bietet damit einen Ansatz, die von Kant und seinen Nachfolgern mit Blick auf die Naturwissenschaften gezogenen, engen Grenzen wissenschaftlicher Erfahrung in einer den geisteswissenschaftli52

Vgl. Cohn: Theorie der Dialektik. 1923. S. 38.

III. Logik contra Dialektik

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chen Forschungszielen entgegenkommenden Weise rational nachvollziehbar zu erweitern. 5. Ganzheitliche und kausal-mechanische Wirklichkeitsbetrachtung Der kurze Rückblick in die Geistesgeschichte zeigt, daß es die Grundkategorien sind, die dem Verfahren der Wissenschaft jeweils das Gepräge geben: steht der Zweck im Vordergrund, wie es im Aristotelismus durch den Formbegriff der Fall war, bilden sich teleologische Methoden heraus; stehen Relation und mathematische Funktion am Anfang der Überlegung, so führt dies, wie seit Descartes in der neuzeitlichen Wissenschaft, zu den kausal-mechanischen Verfahren und rein empirischen Methoden; macht man, wie Fichte und Hegel, den Widerspruch zum Ausgangspunkt, ergibt sich das dialektische Verfahren. Daß der Zweckbegriff sich in der Konsequenz transzendentalphilosophischer Umorientierung als eine Grundkategorie erwies, die für die Naturwissenschaften nicht taugt, beraubte ihn im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auch in den Geisteswissenschaften seiner zentralen Stellung und engte ihn auf ein das Kausalprinzip umkehrendes, nicht konstitutives Prinzip ein. Damit freilich gerät der Zweckbegriff in Gefahr, als Anthropomorphismus verkannt und geisteswissenschaftlich unfruchtbar zu werden, denn mit Blick auf kausal-mechanische Abläufe wird von dem ursprünglich den Zweckbegriff ausmachenden Sinnbezug des Vorgangs nichts mehr bemerkt, haben doch kausal-mechanische Verfahren, die auf Reihung und Funktion abheben, gerade den Zweck, mögliche Sinnbezüge auszuschalten. Daran ändert sich auch nichts, wenn man der bewußten Zwecksetzung in Fortsetzung Fichtescher Gedanken gegenüber der Kausalität einen höheren Status zubilligt (N. Hartmann), denn ein gesetzter Zweck, der bloß wie eine Ursache wirkt, ist eben nicht logisch vorrangige, in sich vermittelte Form, sondern zeitlich vorangehendes, psychologisches Motiv; der Begriff der zielbewußten Intention gestattet es, die causa finalis als einen Spezialfall der causa efficiens zu deuten 53 . Teleologische Interpretation reduziert sich auf die Ermittlung und Auslegung subjektiver Zwecktätigkeit in ihren ursächlichen Zusammenhängen, auf formale Teleologie der Zweck-Mittel-Beziehungen, auf Wahl- und Entscheidungsprozesse, ohne daß der Interpret in Konfliktfallen oder auch sonst zur Legitimität der freien Zweckbestimmung Stellung beziehen könnte. In der mit vielen Einseitigkeiten befrachteten Auseinandersetzung um den teleologischen Gehalt der Realität muß vor allem festgehalten werden, daß Teleologie bzw. Dialektik nicht generell gegen jede von Sinnhaftigkeit absehende, kausal-mechanische Wirklichkeitsbetrachtung ausgespielt werden darf. Die nicht-teleologische Betrachtung der Realität, so wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert insbesondere in den Naturwissenschaften durchgesetzt hat, diente 53 Vgl. Stegmüller. Teleologie, Funktionsanalyse und Selbstregulation. In: Probleme u. Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. I. Berlin / Heidelberg/New York 1969. S. 518ff. (531).

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Α. Rechtsphilosophischer Bezugsrahmen

der Vergegenständlichung der Welt und hat in der Geistesgeschichte der Menschheit ihren notwendigen und berechtigten Platz. Freilich muß man sich stets bewußt bleiben, daß die kausal-mechanische bzw. logische Betrachtungsweise, die zu beeindruckend präzisen, mathematisch formulierbaren Gesetzen geführt hat, nur eine mögliche, wenngleich sehr erfolgreiche Perspektive ist, deren Berechtigung und „Wahrheit" gerade darin liegt, daß sie unter bestimmten, zweckgerichteten Intentionen und allmählich durchschauten Erkenntnisinteressen gewählt wurde 54 . Sie ist, in den Worten Hegels, die erste Form der Objektivität, welche sich der Reflexion bei der Betrachtung der gegenständlichen Welt darbietet; bei ihr kann aber wegen ihrer „Gedankenarmut" weder in bezug auf die Natur noch in bezug auf die geistige Welt stehengeblieben werden, weil sie allein die abstrakten Verhältnisse der in sich noch unaufgeschlossenen Materie ergreift und auf dem Gebiet des Organischen und Geistigen, schon wegen ihres Anspruchs, die einzig mögliche, wissenschaftliche Perspektive zu sein und die Stelle des begreifenden Erkennens überhaupt einzunehmen, adäquate Erkenntnisse der Zusammenhänge eher behindert als befördert 55 . Der Widerspruch zwischen dem Angebot an kausal-mechanischen bzw. logisch-mathematischen Verfahrensweisen und ihren das Äußerliche der Gegenstände, die funktionalen Beziehungen derselben, betreffenden Ergebnisse auf der einen Seite und dem vitalen Bedürfnis nach inhaltlicher Einsicht und Handlungsorientierung auf der anderen Seite kann nur aufgehoben werden, wenn es gelingt, einen Weg zu finden, die Trennung von Form und Inhalt zu überwinden, das Ganze des Prozesses in den Blick zu bekommen und Stellung und Stellenwert von Zwecken in einem System möglicher Zwecke festzulegen. Ob die aufgezeigte Dialektik des Begriffs, in welche die aristotelische Bemühung um den Formbegriff auf Grund der veränderten, transzendentalphilosophischen Lage übergeführt worden ist, dabei methodische Hilfestellung zu leisten vermag, wird sich im Laufe der weiteren Erörterung des Zweckproblems erst noch zeigen müssen. U m die Problemlage weiter zu erhellen, ist es zunächst geboten, sich die Aufgabe der Rechtswissenschaft sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht — als Jurisprudenz — zu vergegenwärtigen und zu prüfen, inwieweit das moderne Verständnis der Teleologie mit seinen vom Inhalt der Zwecke abstrahierenden, formal-rationalen Verfahrensweisen den spezifischen Bedingungen juristischer Arbeit genügt und wo rechtswissenschaftliche Zielsetzung es erfordert, die Ebene formaler Zweckerörterung zu verlassen und sich inhaltlichen Fragen zuzuwenden.

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Vgl. Spaemann/Low: Die Frage Wozu? München/Zürich 1981. S. 178. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. § 195 (Zusatz). In: Werke. Hrsg. v. Moldenhauer u. Michel. Bd. 8. Frankfurt 1970. S. 353 f. 55

Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft I. Ziel und Eigenart der Rechtswissenschaft 1. Der Ertrag der bisherigen Erörterung Jede Verständigung über Wirklichkeit auf der Ebene des Bewußtseins erfolgt mit sprachlichen Mitteln; Wissenschaft ist demzufolge intersubjektive Verständigung über mögliche Bewußtseinsinhalte durch Transformation von sinnlicher Erfahrung und unsinnlicher geistiger Potenz in das Medium der Sprache, die freilich nirgendwo und nirgendwann anfangt, sondern in deren zeitloser Vorhandenheit wir uns immer schon befinden. Wer forscht, leuchtet mit Hilfe der Sprache sein Bewußtsein aus; nur was er durch die Anstrengung des Begriffes sprachlich zu fassen befähigt ist, kann er zur wissenschaftlichen Diskussion stellen; neue wissenschaftliche Ideen sind neue sprachliche Ausgrenzungen aus der amorphen Mannigfaltigkeit des Realen kraft geistiger Erfassung formaler Beziehungen oder ganzheitlicher Zusammenhänge, über die man sich im Wege der Beweisführung oder des Dialogs verständigt 1 . Wenn also Bewußtsein die Gegenstände der Wirklichkeit konstituiert, dann ist klar, daß es darauf ankommt, wie man sich der Wirklichkeit nähert, welche Beobachtungsperspektive man wählt: Je nachdem, wonach man sucht, welche Fragen man stellt, wie man methodisch vorgeht, verengt sich das Beobachtungsfeld, wird der vermeintlich vorgegebene Forschungsgegenstand als Ausschnitt aus der unbegrenzt komplexen Realität eine andere Gestalt annehmen; das Forschungsziel konstituiert den Forschungsgegenstand aus dem realen Kontinuum ebenso, wie das Bewußtsein die Dinge konstituiert, weil Realität nur auf jeweilige Befragung antwortet. Jede Wahl bestimmter Begriffs- und Werkzeugsysteme schneidet zugleich die Beobachtung und Beschreibung anderer Wirklichkeitsaspekte willkürlich ab 2 . Damit ist natürlich nicht gesagt, daß es nichts Vorgegebenes gibt: So wie dem Menschen die jeweilige Sprache vorgegeben ist, so der Rechtswissenschaft die jeweilige Rechtsordnung, dieser wiederum der Mensch als Gattung und 1

Vgl. Husserl : Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Bd. 1.1914. (Husserliana Bd. III. 1950) S. 194: „Die alte ontologische Lehre, daß die Erkenntnis der »Möglichkeiten' der der Wirklichkeiten vorhergehen müsse, ist m. E., wofern sie recht verstanden und in rechter Weise nutzbar gemacht wird, eine große Wahrheit". 2 Jorgensen: Recht und Gesellschaft. Göttingen 1971. S. 16; Pieper: Pragmatische und ethische Normbegründung. Freiburg/München 1979. S. 12ff.; für die Naturwissenschaft Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik. Hamburg 1955. S. 21.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Individuum in seinen unzähligen Beziehungen zur Umwelt und untereinander. Aber weder Sprache noch Rechtsordnung, noch Mensch, noch Umwelt sind als fertige Gebilde vorgegeben, sondern vorgegeben sind nur bildungsfähige Ganzheiten und Elemente, die sich sowohl an sich als auch mit der Perspektive des Beobachters fortwährend verändern 3. Hieraus ergibt sich ein erster, rechtsphilosophischer Rahmenbezug: Geht man von der skizzierten Position Kants aus, so stellt sich die Frage, wie Wissenschaft überhaupt möglich ist, wenn wir niemals sicher sein dürfen, die Welt so, wie sie an sich ist, zu erkennen. Der einzig mögliche Weg, sich, wenn schon nicht Wahrheit, so doch Gewißheit zu verschaffen, ist der Weg der Isolierung von Einzelheiten aus dem komplexen Zusammenhang, sowie deren mathematisch-logische Ableitung oder Zurückführung auf Axiome, Prinzipien oder Gesetzmäßigkeiten; das Bleibende und somit das Gewisse ist dann die sich unter den gleichen Randbedingungen in jedem Experiment wiederholende, übersinnliche, formale Regel, die eine Voraussage des Vorganges ermöglicht. Erkenntniserweiternde, empirisch-synthetische Schlußfolgen sind Induktion (Schluß vom Partikulären auf die allgemeine Regel) und Abduktion (Schluß von Tatsachen einer Art auf Tatsachen anderer Art, von der Wirkung auf die Ursache), die bei jeder wissenschaftlichen Hypothesenbildung Pate stehen4. Der Nachteil dieses Weges, der bekanntlich mit überaus großem Erfolg von der klassischen Physik eingeschlagen wurde, liegt in der Zerreißung lebendiger Ganzheiten, in einer übermäßigen, auf der Annahme linearer Zusammenhänge beruhenden Vereinfachung μnbestreitbarer Vielfalt und Komplexität — die freilich bislang mathematisch nicht zu bewältigen ist —, in einer vom Grundsatz konstanter, invarianter Größen hervorgerufenen Starrheit und Statik, die alle sprunghafte Einmaligkeit und Individualität, jede nicht lineare Vielfalt und jeden historischen Wandel zu unterdrücken geneigt ist, welcher gerade das Lebendige auszeichnet5. Legt man Hegels Position zugrunde, so ist die Frage dahingehend abzuwandeln, wie eine (als notwendig angenommene) systematische Wissenschaft auszusehen hat, die zu einer Annäherung an das absolute, Bewußtsein und Sache, Form und Inhalt vereinigende Wissen führt. U m den transzendentalen Sinn der Frage Kants: „Wie ist Wissenschaft möglich?" vor einem schnellen Abgleiten in die methodologische Frage: „Wie stellt man es an, Wissenschaft zu treiben?" zu bewahren — Hegel hat diese Tendenz der Philosophie Kants gesehen, der später Neukantianismus und Positivismus tatsächlich gefolgt sind 3 Ebenso Troller: Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft. Frankfurt/M. / Berlin 1965. S. 138 f. 4 Vgl. Peirce: Deduktion, Induktion und Hypothese. In: Schriften. Hrsg. v. Apel. Frankfurt/M. 1967. Bd. I. S. 373 ff. Allgemein: Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie. Bd. I. 2. Aufl. München 1970. S. 133ff. 5 Zur Wiederaufnahme der Probleme der Individualität und Selbstorganisation in der Lehre der „Synergetik" vgl. Queisser: Das fruchtbare Chaos. Die moderne Physik als Bindeglied zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. Vortrag gek. in FAZ v. 7. 5. 1982.

I. Ziel und Eigenart der Rechtswissenschaft

95

— gibt Hegel selbst der Frage die Wendung: „Warum ist Wissenschaft nötig?" Sieht man nämlich ein, daß Theorie lediglich eine den Begriff der Erfahrung verengende Form von Praxis ist, so wird für die wissenschaftstheoretische Reflexion die Methode weniger wichtig als das Motiv: Welchen Zweck hat es überhaupt, Wissenschaft zu treiben 6? Der einzig richtige Weg kann in dieser Perspektive rationaler, intersubjektiver Verständigung nur die systematische Erhellung des Entwicklungsprozesses des Geistes selbst sein (Geistes- im Unterschied zur Naturwissenschaft), die Beschreibung seiner allmählichen Entfaltung (Begriffsgeschichte), Verstehen von Sinnzusammenhängen durch Verfolgung der dialektischen Bewegung der Begriffe, welche zugleich die Bewegung der Sachen „ist", Ausgliederung der Teile aus einem Ganzen, Umgliederung und Rückverbindung, Bestimmung von Stellung und Stellenwert der Glieder in bezug auf das Sinnganze und dergleichen mehr. Da die endliche, menschliche Vernunft das Ganze, das sie voraussetzt, nicht in einem Vollzug als das, was es ist, wirklich denken, in einem Gedanken fassen kann, oder anders gewendet, da sich unserem Bewußtsein nicht alles, was sich ihm überhaupt zeigen kann, auf einmal zeigt, ist es erforderlich, das Denken in immer neue Kreisbewegungen zu versetzen, in immer neue, nicht vitiöse, sondern fruchtbare Zirkel zu verstricken, um immer neue Zusammenhänge bzw. Abhängigkeiten bewußt zu machen. Daß solche Verfahrensweisen rationale Einsichten zutage fördern, hat nicht nur Hegel in seinem umfangreichen Werk, sondern auch die an ihn anschließende Tradition in vielfaltiger Weise unter Beweis gestellt. Sicherlich hat die teleologische Interpretation einerseits als lineares Zweck-Mittel-Denken, andererseits als zirkelhaftes Entwicklungsdenken sowohl mit dem einen wie mit dem anderen Weg zu tun. 2. Die Aufgaben der Rechtswissenschaft Will man vor diesem erkenntnistheoretischen und methodologischen Hintergrund die Eigenart rechtswissenschaftlichen Arbeitens und Denkens im Unterschied zu derjenigen anderer Wissenschaftsgebiete näher beschreiben, so geht man am besten von der Art und Weise aus, wie sich Rechtswissenschaft durch ihre Fragestellung und das sich daraus ergebende Netz der Arbeitsbedingungen im Laufe der Jahrhunderte ihren Forschungsgegenstand geschaffen hat. Weil damit freilich erneut ein Zirkel angeboten wird, der erst am Ende, wenn er durchlaufen ist, zeigt, was wir am Anfang brauchen, um in ihn hineinzukommen, schlage ich zunächst einmal folgende, für die meisten wohl plausible These vor: Rechtswissenschaft verfolgt das Ziel, die Tätigkeit der rechtsstaatlichen Organe, Behörden und Gerichte im Bereich von Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung durch wissenschaftliche Erkenntnis bei der Verwirklichung einer gerechten und zweckmäßigen Gesellschafts- und Lebens6 Vgl. Westphal·. Hegels Phänomenologie der Wahrnehmung. In: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes". Hrsg. v. Fulda und Henrich. Frankfurt/M. 1979. S. 83 ff. (94 ff.).

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Ordnung zu unterstützen und anzuleiten7. Sie versucht dies zu tun, indem sie den in vielen Jahrhunderten angehäuften Rechtsstoff sammelt, sichtet, auf den Begriff bringt, Strukturen herausarbeitet, Entwicklungen verfolgt, systematisiert und, nicht zuletzt, aufgeteilt in viele, kleine Wissensgebiete, von Generation zu Generation weitergibt. Darüber hinaus bemüht sie sich, die jeweiligen, gesellschaftlichen Ordnungsprobleme in einer bestimmten geschichtlichen Situation zu erfassen, die Relevanz wissenschaftlicher Ergebnisse anderer Wissenschaftsbereiche für das Recht festzustellen, die Anpassung des Rechts an veränderte, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gegebenheiten durch internationalen Vergleich der Rechtsanschauungen vorzubereiten, die Organisation der Gesetzgebung und aller staatlichen Einrichtungen auf ihre Zweckmäßigkeit zu prüfen, ja, sie scheut sich schließlich nicht, die juristische Entscheidungstätigkeit der Rechtspraxis aufgrund eigener, normativer Erwägungen und Überlegungen anzuleiten und zu kontrollieren. Die Vielzahl der vom Ziel her gebotenen Aufgaben, Neben- und Unterziele, welche die Rechtswissenschaft damit, wenn auch nicht immer mit gleich verteilter Aufmerksamkeit und Intensität, wahrnimmt und verfolgt, zieht eine Vielzahl von Arbeitsweisen und methodischen Hilfsmitteln nach sich. Soweit sich die in der Wissenschaftspraxis durch verengte Zielvorstellungen konstituierenden, besonderen Forschungsgegenstände mit denjenigen anderer Fachwissenschaften ganz oder teilweise decken, teilt Rechtswissenschaft mit diesen nicht allein die Methoden, sondern auch die mit der gemeinsamen Methodologie verbundenen, speziellen, erkenntnistheoretischen Probleme. Soweit sie allerdings spezifisch juristischen Problemstellungen nachgeht, etwa aus komplexen, sozialen Zusammenhängen die rechtliche Frage auszugrenzen, den spezifisch rechtlichen Gehalt herauszuarbeiten und auf den Begriff zu bringen sucht oder neue normative Sätze formuliert und methodisch auf von der Fachwelt anerkannte Rechtsprinzipien zurückführt, oder schlicht die Auslegungsmöglichkeiten positiv getroffener, gesetzlicher Entscheidungen erörtert, bedient sie sich eines Kanons geisteswissenschaftlicher Methoden, durch deren Kombination und teilweise Abwandlung sie sich von anderen Fachwissenschaften unterscheidet, deren wissenschaftliche Zuverlässigkeit und wissenschaftstheoretische Begründung aber umstritten sind 8 . 7

Vgl. Coing: Die juristischen Auslegungsmethoden und die allgemeinen Lehren der Hermeneutik. Köln-Opladen 1959. S. 23: Die Rechtswissenschaft habe nichts anderes zu tun, als (gerechte!) juristische Entscheidungen vorzubereiten. Zu eng die Formulierung bei Larenz: Uber die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Berlin 1966. S. 12: Aufgabe der Rechtswissenschaft sei es, Gesetze auszulegen, das Recht gemäß den immanenten Wertmaßstäben fortzubilden und die Fülle des Rechtsstoffs zu systematisieren, weil hierbei Rechtsgeschichte, -theorie, -Soziologie und -politik und damit letztlich die über die positive Rechtsordnung hinausweisende Rechtsidee ausgeklammert werden. Zu eng auch André: Was heißt rechtswissenschaftliche Forschung? In: JZ1970, S. 396 ff. (401). 8 Typisch die kritische Darstellung bei Kilian: Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung. Frankfurt 1973. S. 83 ff., 86; zum Problemstand Kriele: Theorie der Rechtsgewinnung. 2. Aufl. Berlin 1976. S. 13 ff.

I. Ziel und Eigenart der Rechtswissenschaft

3. Recht als wissenschaftlicher

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Gegenstand

A m weitesten entfernt von dieser Auffassung von Rechtswissenschaft ist die Meinung, welche ihre Aufgabe lediglich in der Erkenntnis der geltenden Rechtsbestimmungen sieht, „soweit sie nicht etwa für fremde Wissenschaftsgebiete, für Philosophie und Geschichte, arbeitet" 9 . Der Verwirklichung einer gerechten Lebens- und Gesellschaftsordnung durch Erkenntnis zu dienen, wäre eine Rechtswissenschaft, die sich auf die Bearbeitung des jeweils geltenden, positiven Gesetzesrechts beschränkt, nicht fähig; und selbst wenn man ihren Forschungsgegenstand um alle jemals in Geltung gewesenen Rechtsordnungen erweiterte, könnte sie die Rechtsidee, die erstrebte Einheit von abstraktem Recht und sozialer Wirklichkeit, von wechselseitig bedingter Rechts- und Lebensordnung nicht erreichen. Natürlich lassen sich Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie, Rechtspolitik, Rechtslogik, Staats- und Wirtschaftslehre als Erscheinungen der Gesamtkultur auch den geschichtlichen, philosophischen, soziologischen, politischen oder logisch-mathematischen Zweigwissenschaften zuordnen, denn sie sind nur sinnvolle Ausgliederungen aus einem wissenschaftlichen Ganzen, das sich erst allmählich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte entfaltet hat. Aber mit Blick auf die Rechtsidee handelt es sich für den Rechtswissenschaftler doch nicht um fremde Wissenschaftsgebiete, denen er gewisse Dienste leistet, sondern umgekehrt sind diese für ihn „Hilfswissenschaften", deren Ergebnisse er im Interesse seines eigenen Forschungsziels in Anspruch nimmt 1 0 . Die mehrfache Bearbeitung des gleichen Gegenstandes ist gerade deshalb sinnvoll, weil sich dieser, wie die erkenntniskritische Einführung deutlich zu machen versuchte, in der jeweiligen Perspektive des Forschungszieles verändert, und also etwa einem Historiker und Soziologen ganz anders erscheint als einem Juristen. Während den Historiker die Rechtsgeschichte nur als eine Seite neben anderen, gleich wichtigen — politischen, ökonomischen, kulturgeschichtlichen — bei der Erforschung des Gemeinschaftslebens interessiert, während für den Sozialwissenschaftler im gesellschaftlichen Gesamtsystem das Recht höchstens ein gleichberechtigtes, soziales Phänomen neben anderen darstellt, bedeutet für den Rechtswissenschaftler Rechtsgeschichte die Möglichkeit, in der Verfolgung bestimmter Rechte in ihrer eigentümlichen Entwicklung das richtige Verständnis für gegenwärtig geltende Rechtsbestimmungen zu erwerben, bzw. in der allmählichen Entfaltung der Rechtsbegriffe in immer feinere Unterscheidungen 9 Vgl. z.B. Bülow: Gesetz und Richteramt. 1885. In: Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz. Hrsg. v. Krawietz. Darmstadt 1976. S. 115. Bülows Ansicht ist für seine Zeit repräsentativ; vgl. Döhring: Die gesellschaftlichen Grundlagen der juristischen Entscheidung. Berlin 1977. S. 10f.; Noll: Gesetzgebungslehre. Hamburg 1973. S. 18ff. Sie wird auch heute noch vertreten, z.B. Wolf: Antikritik zur Rezension der Lehrbücher des Verfassers. In: JuS 1980, S. 392: „Eine Rechtswissenschaft ohne diese Gebundenheit (sc. an Rechtsgesetze und Logik), eine Rechtswissenschaft ohne Gesetz gibt es nicht." 10 Ähnlich schon Bierling: Juristische Prinzipienlehre. Bd. V. 1894ff. Neudruck Aalen 1961. S. 4 f.

7 Mittenzwei

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Einblicke sowohl in überzeitliche Strukturen des Rechts als auch in zeitbedingte Abhängigkeiten zu gewinnen. So mußte denn auch der Versuch, Rechtswissenschaft in Sozialwissenschaft umzudeuten und die rechtswissenschaftlichen Methoden durch sozialwissenschaftliche zu ersetzen, angesichts der unterschiedlichen Forschungsziele und der Unmöglichkeit, Rechtsfragen im entscheidungsnotwendigen Detail auf soziologische Theorien oder auf Methoden der empirischen Sozialforschung zu beziehen, scheitern 11 . Rechtswissenschaft, die sich selbst oder von anderen Wissenschaftsgemeinschaften thematisch auf die konditionale Bearbeitung des positiven Gesetzesrechtes beschränkt oder beschränken läßt 1 2 , ohne sich die Zuständigkeit zur Prüfung von Relevanz und Brauchbarkeit der arbeitsteilig in den verschiedenen Wissenschaftszweigen gewonnenen Ergebnisse anhand eigener, erarbeiteter Maßstäbe im Hinblick auf die eigene Zielsetzung vorzubehalten, könnte letztlich nur noch den jeweiligen status quo der gesellschaftlichen und staatlichen Machtverteilung sanktionieren. Recht wäre nicht Rahmen und Inbegriff der Maßstäbe für menschliche Zielsetzungen, der individuellen wie mehrheitlich politischen, wirtschaftlichen und sozialen, sondern nur Produkt derselben, funktionales Instrument zu ihrer Durchsetzung. Dieses Rechts- und Wissenschaftsverständnis ist unter dem starken Einfluß analytischer, logistischer, systemtheoretischer, marxistischer, aber auch älterer, vom Südwestdeutschen Neukantianismus beeinflußter, wissenschaftstheoretischer und philosophischer Vorstellungen immer noch weit verbreitet, obwohl, wie der Rückblick in die Wissenschaftsgeschichte zeigen wird 1 3 , Rechtswissenschaft zu keiner Zeit wie neuzeitliche Naturwissenschaft darauf angelegt war, durch Entdeckung wertneutraler, funktionaler Relationen und gesetzmäßige, kausale Erklärung Herrschaftswissen über zwischenmenschliche Beziehungen zu produzieren. Die Frage: „Was muß ich als Wissenschaftler tun, damit eine Rechtsordnung möglichst reibungslos funktioniert?", die Frage also nach dem Recht als formalem Werkzeug und Instrument der Durchsetzung beliebiger inhaltlichpolitischer Zielvorstellungen war stets überlagert durch die Frage nach dem 11 Vgl. Luhmann: Rechtssystem und Rechtsdogmatik. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1974. S. 9; derselbe: Funktionale Methode und juristische Entscheidung. In: AöR Bd. 94 (1969), S. Iff.; Plassmann: Mutmaßungen über Richter. In: JZ 1975, 41 ff.; Larenz: Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem. In: Festschr.f. Huber. Göttingen 1973. S. 291 ff. (304 f.); Naucke: Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften. Frankfurt 1972. S. 33, 37, 42ff.; Noll: Gesetzgebungslehre. Hamburg 1973. S. 38 ff.; Hopt: Was ist von den Sozialwissenschaften für die RechtsanWendung zu erwarten? In: JZ 1975, S. 341 ff. m. weit. Nachw. 12 Tendenzen in diese Richtung sind bei den Verfechtern sozialwissenschaftlicher Systemtheorie festzustellen; vgl. Luhmann: Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft. In: Die Funktionen des Rechts in der modernen Gesellschaft. Jahrbuchf. Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Bd. 1. Bielefeld 1970. S. 175ff. (193f.); derselbe: Legitimation durch Verfahren. Neuwied/Berlin 1969, S. 221; derselbe: Zweckbegriff und Systemrationalität. Tübingen 1968. S. 101 ff., 242ff.; derselbe: Funktionale Methode und juristische Entscheidung. In: AöR 94 (1969), S. Iff. (22) und öfter. 13

Vgl. unten S. 325 ff.

I. Ziel und Eigenart der Rechtswissenschaft

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richtigen Recht, nach der gerechten Lebensordnung, nach dem Sinn des gesellschaftlichen Ganzen in seiner rechtlichen Erscheinungsweise 14. Zu allen Zeiten standen rechtliche Erörterungen mehr oder weniger bewußt unter einem einheitlichen Begriff des Rechts, ohne daß sich dieser in dem jeweils behandelten, positiven Rechtsstoff erschöpfte, noch durch die Behandlung desselben, obwohl er sich in ihm zeigte, je klargestellt werden konnte 15 . Unbefriedigend ist auch eine Bestimmung der Rechtswissenschaft vom Gegenstand her wie die folgende: „Gegenstand der Rechtswissenschaften (Dogmatik und Theorie) ist das Recht, d.h. das positive Recht, das jeweils in einer bestimmten organisierten Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit geltende Recht, ein durch eine anerkannte Rechtssetzungsautorität geschaffenes, formgebundenes, werthaftes und werterfülltes Sinngefüge von Sollvorschriften (Normen des Rechts) für Menschen ,.." 1 6 Unbefriedigend ist diese Bestimmung deshalb, weil Rechtswissenschaft sich so wenig wie andere Wissenschaften an Landesgrenzen binden lassen darf, will sie ihren Wissenschaftsanspruch nicht aufs Spiel setzen; Rechtspositivismus in dieser Gestalt verurteilt Wissenschaft und Lehre vom Recht zum Provinzialismus. Das Interesse an der Positivität eines von einer bestimmten Rechtssetzungsautorität für eine bestimmte organisierte Rechtsgemeinschaft zu einer bestimmten Zeit geschaffenen Rechts hört unmittelbar hinter den Landesgrenzen auf. Was jenseits dieser Grenzen interessant bleibt, ist das, was „hinter" der Positivität des Rechts an organisatorischen, normativ-ethischen oder theoretischen Ideen zur Bewältigung sozialer Probleme erkennbar ist; es ist das gleiche, was eben die Rechtswissenschaft im Unterschied zur Rechtspraxis an einem bestimmten, historischen Recht interessiert. Bedenklich stimmt darüber hinaus die in der Formulierung liegende Tendenz, Gegenstand der Rechtswissenschaft könne nur etwas sein, was genau so wirklich sei wie der Gegenstand der Erfahrungswissenschaften (Natur, Gesellschaft), also „wirksames" Recht. Die Frage, ob in Geltung gesetzte Rechtsnormen wirklich gelten, d.h. ob sie in der sozialen Wirklichkeit beachtet werden, liegt in der Forschungsrichtung des Sozialwissenschaftlers, nicht des Rechtswissenschaftlers. Die Feststellung, daß gesetzliche Vorschriften wirksam bzw. nicht wirksam sind, hat nichts zu tun mit dem rechtswissenschaftlichen Urteil, daß sie richtigerweise gelten sollten oder nicht; denn von Seinsaussagen über Recht führt bekanntlich keine Brücke zu den Sollensaussagen17. Rechtswissenschaft 14 Zum Verhältnis von Recht und Politik und zum Stand der Diskussion vgl. Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. I. 2. Aufl. München 1984. § 1 V 4 m. zahlreichen Nachw. 15 Vgl. Müller. Der Begriff vom Recht und die Rechtswissenschaft. Ein Beitrag zur Rechtstheorie. Diss. Konstanz 1981. S. 13 ff. 16 Winkler. Sein und Sollen. Betrachtungen über das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und Recht, mit methodologischen Orientierungen für eine kritische und gegenstandsgebundene Theorie vom positiven Recht. In: Rechtstheorie. 10. Bd. 1979. S. 257 ff. (273); derselbe: Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen. Wien 1969. S. 37.

7*

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

ist nicht in dem Sinne positivistisch, daß ihr „in erster Linie" eine empirische und induktive wissenschaftliche Vorgangsweise gemäß wäre, auch wenn eine volle theoretische Erklärung des Rechts nur unter Einbeziehung des Seins als sozialer Wirklichkeit möglich ist 1 8 . Rechtswissenschaft interessiert sich nicht in erster Linie dafür, ob sich die von der anerkannten Rechtssetzungsautorität ausgewählten Zwecke auf dem eingeschlagenen Weg mit den Mitteln des Rechts in die soziale Wirklichkeit effektiv umsetzen lassen, sie fragt nicht zunächst danach, was ist, im Hinblick darauf, was sein soll, auch wenn ihr der Grad der Rechtsverwirklichung nicht gleichgültig ist, sondern sie interessiert sich vor allem für den Vorgang der Zweckwahl selbst und für die Frage, ob die Umsetzung des Zweckes in die soziale Wirklichkeit im Wege der Rechtsanwendung sinnvoll ist. Ohne das komplizierte Verhältnis von Sein und Sollen in der Vielfalt seiner Verknüpfungen an dieser Stelle vorweg festzulegen — im Grunde kann es sich nur in der dialektischen Bewegung von konstitutiven rechtlichen und faktischen Elementen der Rechtserzeugung im Laufe der Untersuchung allmählich zeigen —, erscheint es doch von der hier gewählten erkenntnistheoretischen Position aus nicht richtig, Rechtswissenschaft eine dritte, zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Betrachtungsweisen liegende, empirisch positivistische Betrachtungsweise zuzuordnen, weil damit einem verbreiteten, naiven Rechtsrealismus Vorschub geleistet wird, der seine heikle erkenntnistheoretische Lage zu verkennen geneigt ist. Die Grundthese des naiven Realismus: „ I n der Erkenntnisrelation ist allein das Objekt das Bestimmende, das Subjekt aber das Bestimmte" 19 , ist in dieser Form nicht annehmbar, und jeder Versuch des Realismus, den Nachweis einer unabweisbaren Gegebenheitsbasis zu führen, verstrickt sich in allen Dimensionen seiner Argumentation in die Gesetze des vitiösen Zirkels. Als Fundament einer Bestimmung des Verhältnisses von Sein und Sollen geeigneter erscheint die schon erwähnte, an Fichte angelehnte Formel: „Der Wissende bestimmt, daß das Gewußte den Wissenden bestimmt" 20 , weil sie sowohl die Rezeptivität in der Erkenntnisrelation als auch die Spontaneität der freien Setzung in der Reflexion festhält. Recht als Gegenstand der Rechtswissenschaft ist weder die logischen Gesetzen gehorchende Form, sozusagen die leere Hülse, in die man beliebige Zwecke stopfen kann, um die soziale Wirklichkeit in bestimmte Richtungen zu steuern und zu gestalten, noch umgekehrt der inhaltliche Maßstab, der sich aus der sozialen Wirklichkeit als Gegebenheit ergibt, weil das, was ist, auch vernünftig oder anerkannt ist, sondern Recht als wissenschaftlicher Gegenstand, so könnte man 17

Klug: Die Reine Rechtslehre von Hans Kelsen und die formallogische Rechtfertigung der Kritik an dem Pseudoschluß vom Sein auf das Sollen. In: Engel / Métall (Hrsg.): Law, State and International Legal Order. Essays in Honor of H. Kelsen. Knoxville (Tennessee) 1964. S. 153 ff. (154). 18 Winkler. Sein und Sollen. In: Rechtstheorie. 10. Band. 1979. S. 257 ff. (279). 19 Vgl. Hartmann: Metaphysik der Erkenntnis. 5. Aufl. Berlin 1965. S. 47. 20

Vgl. oben S. 34.

I. Ziel und Eigenart der Rechtswissenschaft

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vorläufig formulieren, ist die notwendige Vermittlung im historisch-dialektischen Prozeß des Widerspruchs zwischen Sein und Sollen, ist das begriffliche Bindeglied zwischen rezeptiver Seinserkenntnis und spontaner Wesensbestimmung 2 1 . Gewiß, Rechtswissenschaft beschreibt zunächst einmal bestehende und vergangene Rechtsordnungen, sammelt und verwaltet wie jede andere Wissenschaft einen Bestand an positivem Wissen, den sie unter einheitlichen Gesichtspunkten zu erfassen sucht, und zwar keineswegs nur, um der Übersichtlichkeit und äußeren Einheit, um didaktischer Zwecke willen, sondern auch, um eine widerspruchsfreie, sachliche Übereinstimmung der Regeln untereinander, um eine innere Einheit des Stoffes herbeizuführen. Gewiß kümmert sich Rechtswissenschaft um die Interpretation geltender Gesetze, um die Fortbildung des Rechts gemäß den in der Rechtsordnung angelegten, immanenten Wertmaßstäben und gedanklichen Möglichkeiten, und insofern ist es durchaus richtig, wenn beharrlich auf die wechselseitige Abhängigkeit von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, insbesondere Rechtsprechungspraxis, hingewiesen wird, weil Rechtswissenschaft erst aus der Rechtspraxis die relevanten Fragestellungen zuwachsen und Rechtspraxis umgekehrt nicht die Muße hat, diesen Fragen mit der nötigen Gründlichkeit, die das Ganze der Rechtsordnung im Auge behält, nachzugehen. Aber es wäre doch eine arge Verengung des wissenschaftlichen Horizontes und der Möglichkeiten zu fruchtbarer, wissenschaftlicher Fragestellung, wollte man Rechtswissenschaft auf die Konkretisierung und Reproduktion bereits vorhandener Normen beschränken und ihre Produktivkraft auf die gründliche Vorbereitung der Rechtsprechungspraxis konzentrieren 22 . Wer sich an solchen Wegmarkierungen orientiert, läuft leicht Gefahr, allmählich die abstrakte Erscheinungswelt gesetzter Normen für die soziale Realität zu nehmen und sich ganz auf ein für geltend gehaltenes System zurückzuziehen, weil er sich bei der Behandlung immanenter Normprobleme die systemtranszendierende Reflexion über das Verhältnis von Wirklichkeitserfassung und Sollensbestimmung versagen muß 2 3 , ganz abgesehen davon, daß ihn die Flut gesetzlicher 21 Vgl. zum Problem Maihofer. Die gesellschaftliche Funktion des Rechts. In: Die Funktionen des Rechts in der modernen Gesellschaft. Jahrbuch f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Bd. 1. Hrsg. v. Maihofer und Schelsky. Bielefeld 1970. S. 11 ff. (16ff., 34f.). 22

Häufig handelt es sich freilich nur um eine ungenügende begriffliche Scheidung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung bzw. Rechtsdogmatik. Vgl. z.B. Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1.2. Aufl. München 1984. § 2 I I 2b. Der „archimedische Punkt" der Rechtsdogmatik mag die Autorität des Gesetzes sein (Simitis, AcP Bd. 172 [1972]. S. 132), der archimedische Punkt der Rechtswissenschaft ist sie nicht! 23 Vgl. Ryffel: Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Berlin/Neuwied 1969. S. 48 ff. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß Normlogiker bei ihren Untersuchungen die Geltung von Normsätzen als der Wahrheit von Aussagen analoge Eigenschaft auffassen, lediglich mit dem Unterschied, daß die Geltung systemgebunden und nicht, wie die Wahrheit, absolut konzipiert wird. Vgl. Weinberger. Rechtslogik. Wien/New York 1970. S. 212 ff. Das bedeutet, daß ein Rechtswissenschaftler, der auf

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Neuregelungen ständig bei seiner Arbeit überholt, just so, wie es der berühmt gewordene Ausruf v.Kirchmanns in zugespitzter Weise zum Ausdruck bringt: „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur!" 2 4 Eine solche Selbstbeschränkung, so ehrenwert die Motive des resignierenden Verzichts auf Hinterfragung der gesetzgeberischen Positionen ursprünglich auch gewesen sein mögen, wovon noch zu sprechen sein wird, erscheint schon deshalb nicht überzeugend, weil eine Wissenschaft, die auf ihren Praxisbezug besonderen Wert legt, alle Grundverhältnisse zum praktischen Recht beachten muß, und deren gibt es nun einmal nicht nur eines, sondern drei: neben der verwaltungsmäßigen bzw. gerichtlichen Rechtsentscheidung die von den Rechtsberatern betreute Rechtsschutzsuche und die Rechtssetzung25. Jeder dieser Praxisbezüge bedarf der wissenschaftlichen Pflege, der theoretischen Vergewisserung der Grundlagen, eigener, wissenschaftlicher Methoden, die rationales Verhalten in wechselnden, unvorhersehbaren Situationen ermöglichen. Es ist nicht ersichtlich, welche andere Wissenschaft sich dieser Aufgabe annehmen sollte, wenn auch einzuräumen ist, daß Rechtswissenschaft sich in dem gegenwärtigen, fortgeschrittenen Stadium der wissenschaftlichen Arbeitsteilung der Ergebnisse und Mitarbeit anderer Wissenschaftszweige versichern muß 2 6 . Die Einbeziehung und Pflege der Rechtssetzung ist um so dringlicher, als sich gezeigt hat, daß die juristische Interpretationslehre gezwungen ist, den teleologischen Hintergrund des Rechtssystems bei ihrer Arbeit zu berücksichtigen, dieser Hintergrund aber in seiner strukturellen Faserung wie auch in seinen unbestimmt gebliebenen Momenten durch die Analyse der Gesetzgebungsargumentation aufgehellt wird. Die Aufnahme der Gesetzgebungslehre in die Rechtswissenschaft, wie sie in Anknüpfung an eine lange Tradition in den letzten Jahren angestrebt wird, verspricht deshalb Erkenntnisse, an welche gerade die juristische Hermeneutik bei der Vergewisserung ihrer Zuverlässigkeit anknüpfen könnte. Grund veränderter (z.B. ökologischer) Wirklichkeitsbedingungen neue Werte und Normen entwickelt, behandelt wird, als mache er „unwahre" Aussagen. 24 v. Kirchmann: Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. 1847. Darmstadt 1956. S. 25. 25 Vgl. Noll: Gesetzgebungslehre. Hamburg 1973. S. 15; Wieacker: Der Beruf des Juristen in unserer Zeit. In: Gedenkschriftf. Gschnitzer. Innsbruck 1969. S. 467 ff. (469), weist darauf hin, daß Juristen von Anfang an nicht bloß richterliche und anwaltliche Aufgaben wahrnehmen, sondern immer schon als hochprivilegierte Funktionäre in den großen Verwaltungen der Kurie und Episkopate, des Reiches und der westeuropäischen Königskanzleien, der Landesherren und Städte bei der Organisation und Rationalisierung mitwirkten. 26

Ebenso Troller: Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft. Frankfurt/M./ Berlin 1965. S. 13; Burckhardt : Methode und System des Rechts. Zürich 1971. S. 14f.; Weinberger: Zur Theorie der Gesetzgebung. In: Rechtsphilosophie und Gesetzgebung. Wien/New York 1976. S. 173 ff. (185 ff.).

I. Ziel und Eigenart der Rechtswissenschaft

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Würde sich Rechtswissenschaft nur als die Lehre vom abstrakten, positiven Recht und seiner konkretisierenden Umsetzung in die soziale Wirklichkeit durch vollziehende Gewalt und Rechtsprechung verstehen, müßte sie ihre Reflexion über Recht an derselben Stelle abbrechen wie diese, nämlich dort, wo die Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) die Rechtspraxis an „Gesetz und Recht" bindet. Wie immer man diese Formulierung des Grundgesetzes deuten mag — bekanntlich gehen die Ansichten darüber weit auseinander 27 —, die Gründe, die für einen Reflexionsabbruch von Rechtsprechung und Verwaltung an der Grenze des positiven Rechts geltend gemacht werden, der Grundsatz der Gewaltenteilung, Rechtssicherheit, Vorrang des Gesetzes als Ausdruck demokratischer Mehrheitsentscheidungen, Indikation der Legitimität durch Legalität u. a., treffen für die der Rechtswissenschaft als Wissenschaft gestellte Aufgabe nicht zu. Selbst wenn es richtig ist, daß sich das Grundgesetz mehr als jede andere Verfassung bemüht, die Ideen des Rechts und der Gerechtigkeit in ihre Einzelbestandteile aufzulösen, sie zu konkretisieren und in seinen eigenen positiv-rechtlichen Normentatbestand aufzunehmen 28 , selbst wenn ein Konflikt zwischen überpositiven Normen der Rechtsidee und dem positiven Recht „normalerweise" nur noch als ein Konflikt des positiven Rechts mit der geschriebenen Verfassung vorstellbar ist 2 9 , Rechtswissenschaft kann sich nicht in gleicher Weise an eine positive Rechtsordnung als ihren wissenschaftlichen Gegenstand binden wie etwa Erfahrungswissenschaft an die positive Naturordnung, weil sich ihr Gegenstand jederzeit als historisch bedingtes Werk erweisen kann, auch wenn dies das Vorstellungsvermögen aller Fachleute gegenwärtig übersteigt 30 . 4. Das Verhältnis zur Rechtsdogmatik Betrachtet man die „organisierte intellektuelle Betätigung, die in Deutschland Rechtsdogmatik heißt" (Hruschka), als den Kern der Rechtswissenschaft — worüber man streiten kann, was aber faktisch der Fall ist —, so ordnen sich um diesen Kernbereich des Aufbereitens und Erläuterns der zahllosen Gesetze auf allen Rechtsgebieten, des Verarbeitens der Rechtsprechung, des Systematisierens und Typisierens, Ordnens und Klassifizierens mindestens zwei weitere 27 Schnapp in v. Münch: Grundgesetz. Komm. Bd. I. 2. Aufl. München 1981. Art. 20. Rdnr. 35; Kriele: Theorie der Rechtsgewinnung. 2. Aufl. Berlin 1976. S. 33 f.; Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1.2. Aufl. München 1984. § 20IV 4 a m. weit. Nachw. 28 Herzog in Maunz/Dürig/ Herzog/ Scholz: Grundgesetz. Kommentar. Bd. II. München 1980. Art. 20 V I Rdnr. 54. 29 Vgl. BVerfG E 3, 225 ff. (233). 30 Im gleichen Sinne Noll: Gesetzgebungslehre. Hamburg 1973. S. 19 f.; Kaulbach: Plädoyer für ein transzendentalphilosophisches Programm im Kontext der gegenwärtigen Rechtsphilosophie. In: Rechtstheorie Bd. 10 (1979). S. 49ff. (51); Hruschka: Das Strafrecht neu durchdenken. In: Goltdammers Archiv f. Strafrecht. 128 Jg. (1981). S. 237 ff. Zur Problematik einer paradigma-abhängigen Wissenschaft im allgemeinen vgl. unten S. 275 ff.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Betätigungsfelder, die mit dem Kernbereich in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen: Über die Aufbereitung und Kommentierung des geltenden Gesetzesrechts hinaus stellt Rechtswissenschaft normativ-ethische, „rechtspolitische" Überlegungen über die Frage an, wie menschliches Verhalten, wie zwischenmenschliche Beziehungen nach dem neuesten Stand wissenschaftlichen Wissens überhaupt bewertet werden können, untersucht sie die allgemeinen Strukturen zivil-, straf- und öffentlich-rechtlicher Normsysteme sowohl im Hinblick auf statische wie auf dynamische Aspekte 31 . Dabei ergibt sich eine Rangfolge in der Bewertung der Arbeit als wissenschaftlich, insofern die Aufbereitung und Kommentierung des positiven Rechts sowohl auf die strukturtheoretischen als auch auf die normativ-ethischen Voraussetzungen des Rechts Rücksicht nehmen müssen, während andererseits normativ-ethische Überlegungen zwar unabhängig von bestimmten, derzeit geltenden Rechtsordnungen, nicht aber ohne Rücksicht auf strukturtheoretische Zusammenhänge, das, was wir bislang gegliederte Ganzheiten nannten, angestellt werden können, und schließlich letztere sowohl unabhängig vom positiven Recht als auch im wesentlichen unabhängig von normativ-ethischen Gedankengängen entfaltbar sind 3 2 . Damit nicht genug, können sich auch Strukturtheorien als historisch erweisen und einer Entwicklung unterliegen, weil Verbesserungen bis hin zur vollständigen Ersetzung durch eine neue Theorie prinzipiell jederzeit möglich bleiben 33 . Wer also Rechtswissenschaft mit Rechtsdogmatik gleichsetzt und in den Fragen korrekter Rechtsanwendung, in der richtigen Umsetzung geltender, abstrakter Normen in die endlose Mannigfaltigkeit der täglichen Wechselfälle aufgehen sieht, verkleinert nicht nur den Umfang traditioneller, praktischer Betätigungsfelder von Juristen, sondern verkennt auch den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz, die wie alle Wissenschaft nicht bloß vorhandenes Wissen sammelt und verwaltet, sondern zugleich nach neuem Wissen strebt und neues Wissen schafft. 333 Wer einmal eingesehen hat, daß neue wissenschaftliche

31

Vgl. Hruschka: Das Strafrecht neu durchdenken. In: Goltdammers Archiv f. Strafrecht. 128. Jg. (1981). S. 237. Wie Hruschka zählt auch Wieacker. Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik. In: Hermeneutik und Dialektik. Festschr.f. H. G. Gadamer. Tübingen 1970. S. 311 ff. (319) die Strukturuntersuchung noch zur Rechtsdogmatik: „Solche Dogmatiken sind kontingente Gefüge („Lehrgebäude") von juristischen Sätzen und Regeln, die unabhängig vom Gesetz (Hervorhebg. v. mir) allgemeine Anerkennung und Befolgung beanspruchen." Ferner Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. I. 2. Aufl. München 1984. § 2 I I 2 c, m. weit. Nachw. 32

Ein einfaches Beispiel für eine strukturtheoretische Überlegung ist die schon erwähnte Unterscheidung von objektsprachlicher und metasprachlicher Ebene (vgl. oben S. 34), die als eine logische jeder inhaltlichen Ausgestaltung der primär- und metasprachlichen Normen und ihrer normativ-ethischen Begründung vorgeht. Vgl. Hruschka: Extrasystematische Rechtfertigungsgründe. In: Festschr.f. Dreher. Berlin/New York 1977. S. 189 ff. (194). 33 Vgl. unten S. 325 ff.

I. Ziel und Eigenart der Rechtswissenschaft

105

Erkenntnisse keine Enthüllungen an sich vorgegebener (verhüllter) Gegenstände sind, keine Entdeckungen, sondern Erfindungen, Eingebungen des schöpferischen, menschlichen Geistes, der sich unentwegt neuen Fragestellungen zuwendet, dem fallt auch nicht mehr schwer, einerseits das Gemeinsame und andererseits das Spezifische rechtswissenschaftlicher Arbeit im Vergleich mit der Forschung anderer Wissenschaftsbereiche herauszuheben. Nehmen wir den wissenschaftstheoretisch äußersten Gegensatz, die Naturwissenschaft, speziell die Physik: Gemeinsam sind die Voraussetzungen der Erkenntnis, die Erkenntnisfahigkeit der Wissenschaftler, die geistige Intuition als Ansatzpunkt einer jeden über die sinnliche Erfahrung hinausgehenden, schöpferischen Tat, die gewußte Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, welches nur über materielle, den Naturgesetzen unterworfene Träger der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich ist. So wie jede physikalische Theorie einem Denkvorgang, einer Idee, entspringt und nicht etwa aus Zahlengebilden, von denen naturwissenschaftliche Lehrbücher und Monographien voll sind, so wie physikalische Begriffe vom Bewußtsein frei geschaffen werden und nicht aus den Verhältnissen der Außenwelt zwangsläufig folgen 34 , so stellt auch jeder rechtliche Begriff eine Antizipation im Hinblick auf eine Ordnungsvorstellung dar, die den Fragenden beim Begreifen der Wirklichkeit leitet. Der Welt der Erscheinungen als einem zusammenhängenden Gefüge von größtenteils unbekannten Beziehungen, seien es dingliche oder menschliche, nähern sich alle Wissenschaftler auf gleiche Weise. Ungenannte Voraussetzung des Forschens ist in allen Fällen die Überzeugung, daß die körperlichen wie geistigen Erscheinungen der Welt ein sinnvolles Ganzes bilden, daß Kosmos wie zwischenmenschliche Lebenswelt in den Grundzügen seinsmäßig festgelegt, im übrigen aber gestaltbar und gestaltungsbedürftig sind; die subjektive Gewißheit der Einheit des Ganzen, die objektiv erkenntnistheoretisch nicht bestätigt werden kann, gibt dem wissenschaftlichen Forschen als regulative Idee die Richtung 35 . 5. Unverzichtbarkeit

der Sinnfrage

Die Wege von Rechts- und Naturwissenschaft trennen sich, wo sich das Geistige von seiner materiellen Unterlage löst, wo die Frage nach dem Sinn und Zweck menschlichen Tuns und menschlicher Ordnung nach Antwort verlangt. Auch die Naturwissenschaft steht vor der Frage nach dem Sinn, nach dem, was „Natur" eigentlich sei — wobei sich der philosophisch vorgebildete Naturwissenschaftler bewußt wird, daß er immer nur einzelne Aspekte des Naturwirkli33a

Zur Korrektur des Dogmatikbegriffs in historischer Perspektive vgl. Herberger: Dogmatik, Zur Geschichte von Begriff und Methode in Medizin und Jurisprudenz. Frankfurt/M. 1981. passim. 34 Einstein!Infeld\ Die Evolution der Physik. 1956. S. 29, 182. 35 Ebenso Troller: Überall gültige Prinzipien der Rechtswissenschaft. Frankfurt / M. / Berlin 1965. S. 6f.; zur These einer zirkelhaften Bedingtheit von Erkenntnislehre und Physik vgl. v. Weizsäcker: Gestaltkreis und Komplementarität. In: Zum Weltbild der Physik. Ges. Aufsätze. 12. Aufl. Stuttgart 1976. S. 332ff.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

chen zu Gesicht bekommt — aber Naturwissenschaft kann doch die Sinnfrage ohne Schaden für ihre Arbeit ausklammern; und sie tut dies auch, wenngleich häufig mit dem philosophisch nicht gerechtfertigten Anspruch, nicht bloß Beherrschungswissen, sondern Wahrheitswissen zu produzieren. Naturwissenschaft kann die Sinnfrage deshalb ausklammern, weil sie in ihrem klassischen Erkenntnisbereich, der natürlichen Umwelt des Menschen, die freilich, aufs Ganze gesehen, nur ein „Grenzfair zwischen Mikro- und Makrokosmos ist, den Menschen als Subjekt der Erkenntnis methodologisch vernachlässigen kann — so sehr, daß er manchmal ganz zu verschwinden scheint —, solange sie nur nach Regelmäßigkeiten sucht, welche es dem Menschen gestatten, natürliche Vorgänge zu beherrschen. Die Frage nach dem Sinn und Zweck taucht freilich sofort wieder auf, wenn die Vernünftigkeit der gewonnenen Ergebnisse und des naturwissenschaftlichen Tuns zur Debatte steht. Rechtswissenschaft kann demgegenüber bei ihrer Arbeit in den Bereichen Recht, Staat und Politik nie auf die Frage nach dem Wesen dieser Gegenstände verzichten, ohne daß es sogleich Rückwirkungen auf die Arbeit selbst hätte. Eine falsche oder unzureichende Antwort verfälscht mit Sicherheit sowohl Wissenschaft wie auch Praxis und der Versuch, die Frage in praktisch motivierter, naiver Unschuld auszuklammern, ist spätestens dann zum Scheitern verurteilt, wenn die als fraglos überlieferten und akzeptierten Vorstellungen und mehrheitlichen Überzeugungen in das Kreuzfeuer interessengesteuerter, politischer Auseinandersetzungen geraten und die praktische Unschuld gezwungen ist, unvorbereitet pragmatisch Stellung zu nehmen 36 . Staats- und Rechtserkenntnis ohne methodologische Berücksichtigung des Erkenntnissubjekts und ohne Berücksichtigung des Zeitfaktors ist schlechterdings nicht möglich; gerade die methodische Besinnung des Rechts-, Staats- und Politikwissenschaftlers auf seine Arbeit macht ihm bewußt, daß er letzten, philosophischen Fragen nicht ausweichen kann 3 7 . Rechtswissenschaft ist Zweckwissenschaft, ist der Versuch einer wissenschaftlichen Teleologie des Rechts, nicht deshalb, weil das Forschungsziel vorgreifend so bestimmt wurde, sondern weil sich die Frage nach der Richtigkeit und ihren Maßstäben im Bereich der Rechts- und Staatsordnung unvermeidbar stellt. 6. Die fragwürdige

Trennung von Erkennen und Handeln

Die gängige Unterscheidung zwischen empirischen Seins- oder Tatsachenwissenschaften und Norm- bzw. Handlungswissenschaften — die ersteren auf Erkenntnisgewißheit, die letzteren auf Entscheidungsgewißheit gerichtet 38 — 36 Vgl. Ryffel: Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Berlin/Neuwied 1969. S. 7, 8. 37 Ryffel aaO. S. 53 ff., 59. 38 Vgl. Albert: Ethik und Metaethik. In: Archiv f. Philosophie. 11. 1961. S. 28 ff.; Popper: Die Logik der Sozialwissenschaften. In: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Hrsg. v. Maus und Fürstenberg. 2. Aufl. Berlin/Neuwied 1970. S. 107 ff.

I. Ziel und Eigenart der Rechtswissenschaft

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ist, so gesehen, geeignet, Wesentliches zu verdecken: Zum einen ist jede sinnlich erfahrene „Tatsache" erkenntnistheoretisch eine „Tathandlung" des erkennenden Subjekts, auch wenn dies nicht immer augenfällig ist, zum anderen beruht Entscheidungsgewißheit stets auf Erkenntnisgewißheit. Die vielfach noch zu beobachtende, scharfe Trennung von Erkennen und Handeln verhindert die Einsicht in ein Geflecht von Zusammenhängen, das zwischen der Aufnahme von Informationen und ihrer Verarbeitung zu Erkenntnissen auf der einen Seite und den Willensphänomenen, dem Werten, Wählen, Entscheiden und Handeln auf der anderen Seite besteht. Je sorgfaltiger die „Tatsachen" ermittelt werden, desto leichter fallt die Wahl zwischen Handlungsalternativen, desto eher kann Bevorzugung eines Zweckes oder Wertes gegenüber einem anderen rational begründet werden. Darüber hinaus ist sicheres Wissen immer nur in kleinen, aus dem Realitätskontinuum ausgegrenzten Bereichen möglich; beschränken sich sog. Handlungswissenschaftler wie Naturwissenschaftler auf solche, einzelne Aspekte des Wirklichen, untersucht z.B. der Rechtswissenschaftler nur das logische Verhältnis wörtlich wiedergegebener, gesetzlicher Normen, so stehen seine gewonnenen Ergebnisse an Exaktheit nicht nach. So wenig der Vernunftgebrauch ausschließlich der Erlangung von Erkenntnissen dient, so wenig sind logische Operationen ein Vorrecht der Seinswissenschaften und ausschließlich auf kognitive Gebilde beziehbar 39 . Sobald jedoch Natur- oder Handlungswissenschaftler größere Zusammenhänge theoretisch zu bewältigen versuchen, sobald sich ihr Blick auf das Ganze richtet, auf das alle letztlich gleichermaßen verwiesen sind, verlieren die Ergebnisse sowohl in dem einen wie in dem anderen Wissenschaftsbereich ihre absolute Zuverlässigkeit, bleiben sie durch neue, bessere Einsichten stets überholbar. Im Gesamtzusammenhang menschlicher Erfahrung ist empirisches wie normatives Erkennen ein allseitig unabgeschlossener und unabschließbarer Prozeß. Nicht zuletzt behindert die strikte logische Trennung von Wille und Wahrnehmung, von Sollen und Sein, die Einsicht, daß es sehr wohl unmittelbar Abhängigkeiten zwischen Sollens- und Seinsaussagen gibt, nämlich dort, wo die Erkenntnis der natürlichen und kulturellen Bedingungen menschlichen Lebens unwiderleglich aufzeigt, was der Mensch nicht tun darf, will er nicht seine Existenz und/oder das, was ungezählte Geschlechter in mühsamster Arbeit erreicht haben, gefährden oder aufs Spiel setzen. So wie die Erkenntnis der Lebensbedingungen die Möglichkeit bietet, der Freiheit der Willensbestimmung unmittelbar durch eine dem Ganzen gegenüber verantwortete Selbstbindung negativ Grenzen zu setzen, weil dies, Gegenbeispielen zum Trotz, allein sinnvoll ist 4 0 , so begrenzt geistes- und kulturgeschichtliche Erfahrung, welche das, was 39

Vgl. Weinberger: Zur Theorie der Gesetzgebung. In: Rechtsphilosophie und Gesetzgebung. Wien/New York 1976. S. 173 ff. (179). 40 Ähnlich Schwemmen Theorie des praktischen Wissens. In: Lorenzen / Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Mannheim/Wien/Zürich 1975. S. 273 ff. (288).

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

einmal war und jetzt daraus geworden ist, nun ebenfalls in Seinsaussagen formuliert, positiv die Freiheit sinnvoller Lebensgestaltung41. II. Formale Rationalität des Zweckhandelns im modernen Wissenschaftsverständnis 1. Höhere Effektivität

als Ziel formaler

Teleologie

Es liegt auf der Hand, daß der hier entwickelten Vorstellung von Rechtswissenschaft, welche ihre Aufgabe nicht allein in der methodisch-technischen Beherrschung beliebiger, zeitgenössischer Gesetze, sondern darüber hinaus in der inhaltlich folgerichtigen Weiterentwicklung als richtig erkannter Rechtsgedanken sieht, Gegnerschaft nicht so sehr aus dem Rechtsverständnis einer die Erfahrungen jahrhundertelanger Arbeit am Recht zusammenfassenden Rechtsdogmatik als vielmehr aus moderner, das Recht als zufalliges Produkt zufälliger politischer, wirtschaftlicher und sozialer Prozesse begreifenden Auffassung erwachsen muß. Kennzeichnete den liberalen Staat des 19. Jahrhunderts, dessen Geist das Bürgerliche Gesetzbuch prägte, eine übertriebene Distanz zu allen gesellschaftlichen Vorgängen, so daß dem Rechtssystem der Charakter einer staatlichen Rahmenordnung zukam, in deren Grenzen alle wirtschaftlichen und sozialen Prozesse autonom ablaufen und individuelle Ziele weitgehend frei und ungehemmt verfolgt werden konnten, so ist es für den sozialen Rechtsstaat des 20. Jahrhunderts typisch, daß er sich für die Ergebnisse wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen verantwortlich fühlt und also auf sie gestaltenden Einfluß gewinnen will. Folgerichtig verlor mit diesem „Funktionswandel" von Staat und Recht 1 die Genauigkeit und Vorhersehbarkeit des Rechtsanwendungsprozesses an Gewicht, wurde die Bewältigung der Anforderungen und Aufgaben der Industriegesellschaft zum „Kernproblem" der Jurisprudenz, verlagerte sich das Interesse angesichts steigender Komplexität sozialer Beziehungen und der Regelungsbedürfnisse des Staates in Richtung auf eine höhere Effektivität gesetzlicher Maßnahmen. Orientiert an einer Vorstellung von Recht, das nicht langfristig seiner eigenen, immanenten Entwicklung folgt, 41 Zu Recht bekräftigt Krelle: Präferenz- und Entscheidungstheorie. Tübingen 1968. S. 56 ff. (58), gegenüber Welzeh Wahrheit und Grenze des Naturrechts. Bonn 1963, daß „sehr wohl ,aus der Natur 4 , nämlich aus dem Gesichtspunkt der Erhaltung und Förderung des Einzelmenschen und der menschlichen Gesellschaft, sich gewisse Grundsätze ergeben, denen die positiven Rechtssätze (inhaltlich) entsprechen müssen, wenn sie ,richtig' im objektiven Sinne oder,gerecht' im sozialethischen Sinn sein sollen." Die Ahnung oder das Wissen um verschiedene Grade der Richtigkeit von Überzeugungen und Ordnungen bildet die Grundlage jeder Naturrechtsauffassung. Konkret gesprochen: niemand wird vernünftigerweise das germanische Strafrecht wieder einführen wollen. 1

Vgl. Neumann: Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft. In: ZfS. 1937, Heft 3. Wieder abgedruckt in: Demokratischer und autoritärer Staat. Frankfurt/M. 1967; Luhmann: Rechtssoziologie, Bd. 2. Hamburg 1972. S. 294 m. w. Nachw.

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

109

sondern der Erreichung aktueller Zwecke dient und soziale Prozesse auf politisch erwünschte Ziele hinsteuert, bemüht sich Rechtstheorie heute u. a. um die Erarbeitung einer „formalen Teleologie"2 als vorgelagerter, grundlagenwissenschaftlicher Disziplin, welche als Strukturtheorie der Zweck-Mittel-Beziehungen und der Wahl- und Entscheidungsprozesse bereits in ganz verschiedenen Fachgebieten, wie z.B. in der Betriebswirtschaftslehre, der politischen Ökonomie, der Technik, der Handlungslehre der Sozialwissenschaften, der philosophischen Ethik u. a., Anwendung findet. Diese „Teleologie", die in der hier gebrauchten Terminologie als auf menschliche Zwecktätigkeit bezogen „Finalität" heißen müßte 3 , ist deshalb formal, weil sie als ausschließlich auf theoretische Fragestellungen gerichtete, Modelle konzipierende, logische und quantifizierende, mathematische Methoden verwendende Grundlagenwissenschaft praktische Ziele und Zwecke als gegeben voraussetzt, ohne zu ihnen inhaltlich Stellung zu nehmen. Darstellungen der formalen Teleologie und Entscheidungstheorie betonen denn auch stets, daß die Rationalität der mit ihren Verfahrensweisen gewonnenen Ergebnisse relativ zum Wissen, zu den Zielen und Normvorstellungen der jeweils Handelnden sind, weil in die theoretischen Modelle die Lebensverhältnisse nicht so eingehen, wie sie objektiv sind, sondern so, wie sie die Handelnden sehen und bewerten; eine Kritik der Informations- und Bewertungsbasis fallt aus den teleologischen und entscheidungstheoretischen Bemühungen der Wissenschaftler um verbindliche Prinzipien heraus 4. Indem man die Bewertung der gesetzten Zwecke ebenso wie die präzise Aufbereitung der nötigen Informationen der Verantwortung der jeweils Handelnden überstellt und die Rationalität auf die Wissenschaftlichkeit der Verfahrensweise und den technischen Charakter des Prozeßverlaufs bezieht und beschränkt, betont man vor allem den Gesichtspunkt der Effektivität des Handelns, bestätigt aber zugleich mittelbar den Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft; dies gilt es zunächst einmal festzuhalten. Freilich geht es hier nicht darum, vom Standpunkt einer traditionell juristischen, dialektisch-hermeneutischen Rationalität aus die Bemühungen um eine analytisch-logische, formale Zweckrationalität zu kritisieren, sondern lediglich darum, auf grundsätzliche Schwierigkeiten beider Rationalitätsbegriffe aufmerksam zu machen. 2. Deskriptive

und normative Entscheidungstheorie

Dazu ist es notwendig, sich die Grundlagen der formalen Teleologie oder Entscheidungstheorie als einer bewußte Wahlentscheidungen und ZweckMittel-Beziehungen betreffenden Theorie der Gedankenstrukturen und -opera2

Weinberger. Rechtslogik. Wien/New York 1970. S. 292. Siehe oben S. 47 Anm. 3. 4 Schlink: Inwieweit sind juristische Entscheidungen mit entscheidungstheoretischen Modellen theoretisch zu erfassen und praktisch zu bewältigen? In: Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft. Jahrb. f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Hrsg. v. Maihofer und Schelsky. Bd. II. Düsseldorf 1972. S. 322ff. (332). 3

110

Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

tionen zu vergegenwärtigen. Unter den genannten Begriffen firmiert eine Reihe von Aussagesystemen, welche im Hinblick auf ihre von den jeweiligen Einzeldisziplinen bestimmten Ausgangspunkte, ihre Zwecksetzung (Pragmatik), Struktur und Operationalität, ihren Geltungsbereich und Rationalitätsgehalt erheblich voneinander abweichen. Unbestritten scheint allerdings zu sein, daß formale Teleologie oder Entscheidungstheorie aufgabenmäßig nicht einer der gut eingeführten einzelwissenschaftlichen Disziplinen alleine übereignet werden darf, weil dies unweigerlich zu Verkürzungen bei der Erforschung der unterschiedlichen Wahlakt-Phänomene führen müßte, sondern daß sie multi- bzw. interdisziplinär zu betreiben ist 5 . Sieht man von den Besonderheiten in den einzelnen Disziplinen ab, so lassen sich im wesentlichen zwei Gruppen von Modellen unterscheiden, deren präskriptiver (normativer) bzw. deskriptiver (empirischer, sozialpsychologischer) Inhalt unterschiedliche Bedingungen für die Rationalität des Zweckhandelns stellt. Deskriptive Entscheidungstheorie macht Entscheidungen, insbesondere in Organisationen, zum Gegenstand erklärender und beschreibender Aussagen, fragt nach den verschiedenen Typen der Entscheidung, wie beispielsweise dem Unterschied zwischen programmierender und programmierter Entscheidung, dem Unterschied zwischen den in Verwaltung, Justiz, Politik und Wirtschaft zu treffenden Entscheidungen, differenziert danach, ob Entscheidungen unter Sicherheit, Risiko oder Ungewißheit zu fallen sind, untersucht die Entscheidungsprozesse nach den Stationen der Problemstellung, Sammlung und Bewertung erarbeiteter Alternativen, deren Auswahl mit Hilfe von Präferenzordnungen sowie deren Durchführung 6 . In der zeitlichen Abfolge der Entwicklung können die Bemühungen der Entscheidungstheoretiker um eine beschreibende Entscheidungstheorie in zwei Abschnitte eingeteilt werden; anfangs verzichtete man auf die Erzeugung besonderer deskriptiver Modelle des Entscheidungsverhaltens und bemühte sich, mit Hilfe schon vorhandener Modelle vorschreibender (präskriptiver, normativer) Entscheidungstheorie empirisches Entscheidungsverhalten zu erklären, und, soweit sich Widersprüche zu den gemachten Erfahrungen ergaben, die Modelle, insbesondere hinsichtlich bislang nicht berücksichtigter Persönlichkeitsfaktoren der Entscheidungsträger und der jeweiligen Situationsbezogenheit, zu erweitern. Später breitete sich angesichts der fortschreitenden, empirischen Untersuchungen die Überzeugung aus, daß trotz der vorgenommenen Erweiterungen der Realgehalt präskriptiver, entscheidungstheoretischer Modelle gering bleibt, weil die normative Entscheidungstheorie weitgehend von 5 Kirsch: Entscheidungsprozesse. Bd. I. Wiesbaden 1970. S. 9; Luhmann: Grundbegriffliche Probleme einer interdisziplinären Entscheidungstheorie. In: Die Verwaltung. Zeitschr.f. Verwaltungswissenschaft. 1971. S. 470ff. (474); Naschold: Systemsteuerung. 2. Aufl. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971. S. 32. 6

Vgl. zum Folgenden Bamberg / Coenenberg: Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre. 3. Aufl. München 1981. S. 4ff.

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

111

gegebenen Tatsachen- und Wertprämissen ausgeht und Rationalität des Entscheidungsverhaltens postuliert, während eine auf Erklärung und Prognose ausgerichtete, beschreibende Entscheidungstheorie das Zustandekommen der Entscheidungsprämissen und empirisch zu beobachtende Abweichungen vom Rationalverhalten in ihre Modellansätze mit einbeziehen muß. Dies hat dazu geführt, daß die beschreibende Entscheidungstheorie sich zum Teil von der Rationalitätsanalyse des Entscheidungsverhaltens gelöst hat und zu einer interdisziplinären, insbesondere verhaltenswissenschaftlichen Analyse individueller, kognitiver Prozesse übergegangen ist, die allen Entscheidungs- und Problemlösungsprozessen vorausliegen 7. In unserem Zusammenhang kann diese Richtung entscheidungstheoretischer Forschung außer Betracht bleiben. Im Mittelpunkt präskriptiver (normativer) Entscheidungstheorie steht die Entscheidungslogik; normative Entscheidungstheorie widmet sich den Techniken und Programmen richtigen Entscheidens, fragt beispielsweise danach, wie wirtschaftliche oder militärische Entscheidungen zu treffen sind, sucht nach den Regeln zur Bewertung der Handlungsergebnisse, ist also im wesentlichen logische Rationalitätsanalyse. Der Begriff der Rationalität nimmt in der normativen Entscheidungstheorie eine zentrale Stellung ein, wobei, je nach den Anforderungen, die an die wertenden bzw. faktisch gegebenen Entscheidungsprämissen gestellt werden, verschiedene Rationalitätsbegriffe zu unterscheiden sind 8 . Im allgemeinen Sinne setzt das Rationalitätspostulat der normativen Entscheidungstheorie lediglich voraus, daß der Handelnde über ein widerspruchsfreies Zielsystem verfügt und sich entsprechend seinen Zielvorstellungen beständig verhält. Da mit dieser Auslegung auf inhaltliche Anforderungen an das Zielsystem des Handelnden verzichtet wird, vielmehr nur der Form nach Zielvorstellungen vorausgesetzt werden, spricht man auch von formaler Rationalität des Zweckhandelns. Rational sind nur die Überlegungen, die sich auf das Verhältnis von Mittel und Zweck, Ausgangs- und angestrebter End-(Ziel-) Situation beziehen, unabhängig davon, ob die erstrebten Ziele des Handelnden materieller oder ideeller Natur sind, ob sie egoistischen oder altruistischen Motiven, edler oder verwerflicher Gesinnung entspringen 9. Rational ist nicht der substantielle Gehalt des Handelns oder ein besonderes, zugrunde gelegtes 7

Grundlegend Kirsch: Entscheidungsprozesse. Bd. 1: Verhaltenswissenschaftliche Ansätze der Entscheidungstheorie. Wiesbaden 1970; Bd. 2: Informationsverarbeitungstheorie des Entscheidungsverhaltens. Wiesbaden 1971; Bd. 3: Entscheidungen in Organisationen. Wiesbaden 1971; ferner Heinen: Grundlagen betriebswirtschaftlicher Entscheidungen. 2. Aufl. Wiesbaden 1971; Witte: Das Informationsverhalten in Informationssystemen. In: Management-Informationssysteme. Hrsg. v. Grochla und N. Szyperski. Wiesbaden 1971. S. 831 — 842. 8 Vgl. Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 18 — 36; Kirsch: Entscheidungsprozesse. Bd. I. Wiesbaden 1970. S. 62ff.; Schneeweiß: Entscheidungskriterien bei Risiko. Berlin/Heidelberg/New York 1967. S. 79 — 84; Bamberg/Coenenberg: Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre. 3. Aufl. München 1981. S. 3 f. 9

Hartfiel:

Wirtschaftliche und soziale Rationalität. Stuttgart 1968. S. 52.

112

Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Wertsystem, sondern lediglich die Form, in welcher der Handelnde — nach Maßgabe seiner individuellen Wertvorstellungen — seine Wahl für eine der ihm möglichen Handlungen trifft. Inwieweit bei Vorliegen formaler Rationalität im Einzelfall dennoch eine solche im materialen, substantiellen Sinne gegeben ist, läßt sich nur durch Bewertung der Entscheidungsergebnisse im Lichte eines allgemein gültigen oder wenigstens als Standard akzeptierten Zwecksystems beurteilen; damit ist das Grundproblem angedeutet, das uns im Folgenden beschäftigen wird. Die normative Entscheidungstheorie jedenfalls setzt nur formale, nicht materiale Rationalität voraus, erhebt nur im logischen Sinne Anspruch, normativ zu sein, auch wenn in der praktischen Anwendung entscheidungstheoretischer Analysen die Forderung nach materialer Rationalität zusehends an Gewicht gewinnt 10 . 3. Bedingungen rationaler Entscheidung In bezug auf die formale Rationalität des Zweckhandelns haben die Entscheidungstheoretiker in den letzten Jahrzehnten allerdings ein beachtliches Arsenal an Entscheidungsstrategien und -maximen entwickelt, deren Brauchbarkeit jeweils vom Informationsstand und der Risikoneigung des Entscheidenden abhängt 11 . Weiß dieser genau, wie seine Umwelt beschaffen ist oder sein wird, handelt er also unter Sicherheit, so ist seine Entscheidung für die Theorie kein Problem: die Konsequenzen seiner Handlung werden ausschließlich durch die eigene Handlung bestimmt und die Wahl fallt auf diejenige Handlungsalternative, deren Folgen der Handelnde am höchsten schätzt. Kennt er dagegen, wie es in der Praxis meistens der Fall ist, den Zustand der Umwelt oder das Verhalten anderer, mit denen er durch seine Tätigkeit in Berührung kommt, nicht genau, so unterscheidet die Theorie drei Entscheidungslagen: Erstens, bei unbekannter Strategie eines anderen, konkurrierenden Entscheidungsträgers, von dessen Verhalten man abhängt, den Fall des Entscheidens unter rationaler Unbestimmtheit; zweitens, bei Unmöglichkeit, die Unsicherheit vorhandener oder später eintretender Zustände oder Ereignisse zu quantifizieren, den Fall des Handelns unter Ungewißheit; drittens, bei möglicher Ermittlung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen über Umweltzustände oder künftige Ereignisse, den Fall der Entscheidung unter Risiko 1 2 . 10

In der Betriebswirtschaft behilft man sich, indem man die Ziele des jeweiligen Referenzsystems als Beurteilungskriterien der Rationalität der zu analysierenden Entscheidungen zugrunde legt. Vgl. Szyperski: Das Setzen von Zielen — Primäre Aufgabe der Unternehmensleitung. In: Zeitschr.f. Betriebswirtschaft. 41. (1971). S. 639ff. 11

Vgl. Menges: Entscheidungen unter Risiko und Ungewißheit. In: M enges/ Schneeweiß/Hax/Poensgen (Hrsg.): Entscheidung und Information. Frankfurt/M./ Berlin 1968. S. 16 ff. 12 Diese Einteilung geht auf Knight : Risk, Uncertainty and Profit. Boston/New York 1921. Nachdr. Chicago 1957, zurück, der allerdings unter einer Risikolage nur den Fall verstand, daß objektive Wahrscheinlichkeiten über Zustände der Umwelt vorlagen; einmalige, nicht wiederholbare Entscheidungssituationen, bei denen nur subjektive

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

113

Was in den beiden letzteren Fällen als Kriterium formaler Rationalität zu gelten hat, unterliegt in der Entscheidungstheorie einem ausgebreiteten Meinungsstreit, ohne daß gegenwärtig eine Einigung abzusehen wäre. Meistens werden zwei Grundformen oder Typen von Kriterien zur Anwendung empfohlen: Die Bayessche Regel für Entscheidungen unter Risiko und das MinimaxPrinzip für Entscheidungen unter Ungewißheit. Die nach Thomas Bayes (17021761) benannte Regel besagt: Wähle unter den möglichen Handlungen diejenige, welche in der numerischen Präferenzordnung den höchsten Wert hat. Vereinfachend heißt das: Die Bayessche Regel verlangt von einem rational Handelnden, daß er alle in Betracht kommenden Handlungsalternativen als ein Glücksspiel auffaßt und sie nach den zu erwartenden Auszahlungen bewertet. Der Nutzenerwartungswert jeder Handlung ergibt sich, indem man die jeweilige, subjektive Wahrscheinlichkeit für entscheidungserhebliche Umstände mit dem Maß der Wünschbarkeit der Folgen multipliziert 13 . Das Minimax-Prinzip läßt sich in dem Satz zusammenfassen: Wähle diejenige Handlung, bei welcher der geringste Höchstverlust entstehen wird 1 4 . Schwerpunkt der normativen Entscheidungstheorie ist die Aufgliederung alternativer Handlungsmöglichkeiten nach Präferenzen und verschieden wahrscheinlichen oder ungewissen Folgen; man versucht, die Vielzahl der Handlungsabläufe im Entscheidungsprozeß gemäß den subjektiv gesetzten Zielen und damit verbundenen Problemen in einzelne Phasen zu zerlegen, und hofft, auf diese Weise die wechselseitigen Abhängigkeiten der Handlungen vom jeweiligen Informationsstand und besonderen Nebenbedingungen aufhellen zu können 15 . Als generelle Handlungsorientierung für die Entscheidungsfindung dient die Frage, wie sich ein gestecktes Ziel am besten erreichen läßt. Seit sich allerdings herausgestellt hat, daß die Mittel im Verhältnis zum erstrebten Zweck nicht Wahrscheinlichkeitsgrade ermittelbar waren, rechnete er zu den Entscheidungen unter Ungewißheit. Dieser Zuordnung folgen heute die meisten Entscheidungstheoretiker nicht mehr; statt dessen wird alleine danach unterschieden, ob — subjektive oder objektive — Wahrscheinlichkeiten bekannt sind (Risiko-Entscheidung) oder nicht (Ungewißheitsentscheidung). Vgl. zu dieser Klassifikation nach dem jeweiligen Informationsstand Albach: Wirtschaftlichkeitsrechnung bei unsicheren Erwartungen. Köln/Opladen 1959; Wittmann: Unternehmung und unvollkommene Information. Köln/Opladen 1959. 13

Vgl. zu den Einzelheiten: Stegmüller. Personelle und statistische Wahrscheinlichkeit. In: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. IV. 1. Halbbd. Berlin/Heidelberg/New York 1973. S. 288ff., 296ff.; Bamberg / Coenenberg: Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre. 3. Aufl. München 1981. S. 82, 87, insbesondere zur terminologischen Abgrenzung von Bayes- Regel und BernoulliPrinzip, das in der Literatur ebenfalls als rationales Entscheidungsprinzip für Risikosituationen (vor allem bei nichtmonetären Handlungskonsequenzen) herangezogen wird. 14 Kulhavy: Operations Research. Wiesbaden 1963. S. 178 f.; Bambergl Coenenberg: Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre. 3. Aufl. München 1981. S. 50f., 99; Schneeweiß: Entscheidungskriterien bei Risiko. Berlin/Heidelberg/New York 1967. S. 21, 24. 15 „Entscheidungstheorie erzeugt vor allem ein Bedürfnis nach Daten". Deutsch: Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven. 2. Aufl. Freiburg i. Br. 1970. S. 19.; Witte: Das Informationsverhalten in Entscheidungsprozessen. Tübingen 1972. S. 20 ff.

8 Mittenzwei

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

wertneutral sind, weil sich die Bewertung der Zwecke nicht auf die Mittel transferieren läßt — der Zweck heiligt nicht die Mittel — 1 6 , werden Ziele nicht mehr wie im überlieferten Zweck-Mittel-Schema als zeitliche oder räumliche Endpunkte einer Entwicklung, als Ergebnisse eines zweckgerichteten Mitteleinsatzes interpretiert, sondern als generelle Imperative, denen singuläre gegenüberstehen 17. Während generelle Imperative die Voraussetzung für rationale Entscheidungen sind, bilden singuläre Imperative das Ergebnis derselben. Eine den Regeln der Entscheidungslogik folgende Verknüpfung von Informationen über Ziele mit Informationen über das Entscheidungsfeld (Objektsystem, Umweltgesetze) ergibt nach der Bewertung der möglichen Handlungen eine optimale Handlung Η und damit den singulären Imperativ: „Führe Η durch!" Dies setzt natürlich voraus, daß der Handelnde in die Lage versetzt wird, alle möglichen Handlungsalternativen systematisch zu sammeln und nach ihren günstigen und ungünstigen Folgen zu beurteilen. Die Herstellung einer Rangordnung unter den verfügbaren Handlungen stellt bestimmte Anforderungen an den Inhalt des subjektiven Zielsystems: Der Handelnde muß eine präzise Vorstellung sowohl darüber besitzen, welche Handlungskonsequenzen für ihn überhaupt von Bedeutung sind, als auch darüber, welche Ergebnismerkmale er anderen wie sehr vorziehen würde. Ergebnisdefinitionen ( Zielgrößen) und Präferenzrelationen, welche die Intensität des Strebens nach den mit der Ergebnisdefinition festgelegten Zielgrößen zum Ausdruck bringen, sind notwendige Bestandteile jedes operablen Zielsystems 18 . Die Zielgrößen geben an, welche Handlungsfolgen der Bewertung zugrunde gelegt werden sollen und also bei der Beschreibung der Handlungsalternativen zu erfassen sind; Handlungsfolgen, denen keine im Zielsystem verankerte Zielgröße entspricht, sind für die Bewertung unerheblich und werden von vornherein nicht berücksichtigt. Präferenzrelationen sind erforderlich, weil lediglich in seltenen Ausnahmefallen durch Festlegung alleine der Zielgrößen die Auswahl der besten Handlungen gelingt; dies ist nämlich nur dann möglich, wenn nur eine einzige Zielgröße erstrebt wird und lediglich eine der verfügbaren Handlungen zur Verwirklichung des angestrebten Zieles geeignet ist. Praktisch liegt es jedoch meistens so, daß mehrere Handlungsalternativen zu Ergebnissen führen, die im unterschiedlichen Ausmaß das gesteckte Ziel erreichen, und sich der Handelnde darüber klar werden muß, welche Kosten er bei den in Aussicht stehenden Vorteilen nun in Kauf nehmen will. Außerdem kommt hinzu, daß die Entscheidungsträger meist mehrere Zielgrößen anstreben, daß die zielrelevanten Ergebnisse zu verschiedenen Zeitpunkten anfallen und keine vollständigen Informationen über die zu erwartenden Ergebnisse zu erhalten sind. 16

Vgl. Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 103 f.; Zur Kritik des Zweck-Mittel-Denkens vgl. Myrdal: Das Zweck-Mittel-Denken in der Nationalökonomie. In: Zeitschr.f. Nationalökonomie. Bd. IV. 1933. S. 312. 17 Vgl. Heinen: Grundlagen betriebswirtschaftlicher Entscheidungen. Das Zielsystem der Unternehmung. 2. Aufl. Wiesbaden 1971. 18 Vgl. im einzelnen Sieben: Bewertung von Erfolgseinheiten. Köln 1968.

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

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Notwendig ist stets eine Höhenpräferenzrelation, die angibt, in welchem Maße eine Zielgröße erstrebt wird; Beispiele sind die Maximierungsregel (jedes höhere Ergebnis ist jedem niedrigeren vorzuziehen), die Minimierungsregel (jedes niedrigere Ergebnis ist jedem höheren vorzuziehen) und die auf das Anspruchsniveau bezogene Ergebnisbewertung (Ergebnisse ab oder bis zu einer bestimmten Höhe gelten als zufriedenstellend, darunter oder darüber liegende nicht). Eine Präferenzrelation nach Arten wird erforderlich, wenn der Entscheidungsträger gleichzeitig mehrere Zielgrößen anstrebt und diese Zielgrößen sich untereinander nicht vereinbaren lassen. Eine häufig benutzte Form der Artenpräferenz stellt die Zielgewichtung dar, bei der eine Zielgröße als Standardmaß des Nutzens gewählt wird und alle übrigen Zielgrößen über eine Nutzenschätzung in Einheiten dieses Standardmaßes umgerechnet werden. Fallen die Ergebnisse der ermittelten und verfügbaren Handlungsalternativen zu verschiedenen Zeitpunkten an, so ist eine Zeitpräferenz notwendig; liegen keine vollständigen Informationen über tatsächliche Konsequenzen der geplanten Handlungen vor, weil jede Handlung durch eine Menge möglicher Folgen gekennzeichnet ist, muß eine Risiko- bzw. Unsicherheitspräferenz festgelegt werden. Die Andeutungen zeigen, daß die Bewertung von Handlungen je nach Zahl der Ergebnismerkmale, die sich unterscheiden lassen, zur Trennung von einzelnen Stufen der Ergebnisbewertung zwingt. Inwieweit in bezug auf jede der erwähnten Präferenzrelationen eine gesonderte Nutzenbewertung erforderlich ist bzw. inwieweit jeweils mehrere Präferenzrelationen (z.B. Höhen- und Risikopräferenzen) zu einer einheitlichen Nutzenfunktion zusammengefaßt werden können, ist in der Entscheidungstheorie umstritten 19 . 4. Die sog. Spieltheorie Eine mathematisch hochentwickelte, besondere Erscheinungsform der normativen Entscheidungstheorie bildet die sog. „Spieltheorie", die wegen ihres axiomatischen Aufbaus eine für die elektronische Datenverarbeitung geeignete Methode bietet, Entscheidungen in solchen Konfliktsituationen zu treffen, in denen verschiedene Handelnde unterschiedliche Ziele verfolgen 20 . Der Entschei19 Vgl. einerseits Krelle: Präferenz- und Entscheidungstheorie. Tübingen 1968. S. 140 ff., der Höhen- und Risikopräferenz getrennt anwendet, und andererseits die Anhänger des schon erwähnten Bernoulli-Pùnzips, das Höhen- und Risikopräferenzen in einer Nutzenfunktion zusammenfaßt. Bamberg! Coenenberg : Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre. 3. Aufl. München 1981. S. 64ff. 20

Grundlegend v. Neumann! Morgenstern: Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten. 2.Aufl. Würzburg 1967; Morgenstern: Die Theorie der Spiele und des wirtschaftlichen Verhaltens. In: Preistheorie. Hrsg. v. Ott. 3. Aufl. Köln/Berlin 1968. S. 437ff.; Borch: Wirtschaftliches Verhalten bei Unsicherheit. München 1969. S. 232ff.; Shubik: Spieltheorie und Sozialwissenschaften. Hamburg 1965. S. 18 ff.; LucelRaiffa: Games and Decisions. 7. Aufl. New York/London/Sydney 1967; Krelle: Präferenz- und Entscheidungstheorie. Tübingen 1968. S. 348 ff.; Bambergl Coenenberg: Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre. 3. Aufl. München 1981. S. 139 ff. Der Ausdruck „Spieltheorie", aus der anfanglichen theoretischen Beschäftigung mit Gesellschaftsspielen entsprungen, ist mißlich, weil er dem 8*

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

dungsträger kann eine einzelne Person, eine Gruppe, eine formelle oder informelle Organisation oder eine Gesellschaft sein. Die Entscheidungen können sich auf politische, ökonomische, soziologische, psychologische, aber auch andere Fragen des menschlichen Lebens beziehen; sie erfolgen anhand von „Strategien", d.h. vollständigen Verhaltensplänen, die für jede Information, die einem Spieler (Handelnden) im Zeitpunkt der Ausführung eines Zuges (einer Handlung) zur Verfügung steht, eine bedingte Anweisung geben. Vorausgesetzt wird dabei, daß jeder Entscheidungsträger eine konsistente Präferenzordnung besitzt und alle Variablen, welche die möglichen Ergebnisse bestimmen, bekannt sind und genau beschrieben werden können. Die Grundlagen der „Spieltheorie" sind so breit und allgemein konzipiert, daß fast jeder in der Praxis vorkommenden Konfliktsituation ein adäquates, spieltheoretisches Modell zugeordnet werden kann. Die Rationalität des Handelns besteht darin, unter Beachtung der bekannten und allseits anerkannten Spielregeln ein Maximum zu erreichen, wobei das, was als Maximum ausgelegt wird, von der angewandten Strategie und dem individuellen Risikoverhalten des Handelnden in der konkreten Situation abhängt, so daß durchaus nicht immer das denkbar beste Ergebnis angestrebt zu werden braucht, sondern, etwa in pessimistisch beurteilten Situationen, auch Ergebnisse als „maximal" gelten, die unter allen denkbaren schlechten Ergebnissen immer noch die günstigsten sind 2 1 . Wenn auf so unterschiedliche Weise präzisiert wird, was unter „rationalem Verhalten" zu verstehen ist, bedarf es keiner weiteren Begründung, daß aus der bloßen Möglichkeit der Zuordnung eines spieltheoretischen Entscheidungsmodells zu einem Interessenkonflikt noch nicht folgt, daß stets eine allgemein akzeptierte oder auch nur akzeptierbare Lösung des Konflikts gewonnen wird; vielmehr existieren meist mehrere Lösungskonzepte und verschiedene Definitionen und Berechnungsmöglichkeiten optimaler Strategien. Die verschiedenen Arten strategischer Spiele — man unterscheidet Spiele gegen bewußt handelnde Gegenspieler (Zwei-Personen- und N-Personen-Spiele, Konstantsummen-, Nullsummen- oder Nichtsummenspiele, kooperative und nicht-kooperative Spiele u. a.) 2 2 und Spiele gegen die „Natur", d.h. Spiele, bei denen die Strategiewahl von zufalligen Ereignissen abhängt 23 — sowie die zum Ernst politischer Entscheidungen über u.U. lebenswichtige Alternativen nicht gerecht wird; er hat sich aber allgemein durchgesetzt. 21 Zu diesem schon erwähnten „Maximin"- oder „Minimax"-Prinzip vgl. auch v. Neumann! Morgenstern: Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten. 2. Aufl. Würzburg 1967. S. 9, 79; Bühlmann/Loeffel/Nievergelt: Entscheidungs- und Spieltheorie. Berlin/ Heidelberg/New York 1975. S. 132; Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 180f., 383f. 22 Vgl. dazu Krelle: Präferenz- und Entscheidungstheorie. Tübingen 1968. S. 209 f f , 327 ff.; Bühlmann/Loeffel/Nievergelt: Entscheidungs- und Spieltheorie. Berlin/ Heidelberg/New York 1975. S. 170ff.; Bamberg!Coenenberg: Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre. 3. Aufl. München 1981. S. 140ff. 23 Vgl. etwa Milnor: Spiele gegen die Natur. In: Spieltheorie und Sozialwissenschaften. Hrsg. v. Shubik. Hamburg 1965. S. 129 ff.; Krelle: Präferenz- und Entscheidungstheorie.

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

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Teil komplizierten, mathematischen Zusammenhänge und Analysemethoden, insbesondere bei Strategiewechseln und Spielerkoalitionen, interessieren im vorliegenden Zusammenhang, in dem es uns nicht um die Ermittlung von Anwendungsmöglichkeiten im rechtlichen Bereich geht, nicht weiter; beiläufig erwähnt sei lediglich, daß die Spieltheorie, über die seit der ersten Veröffentlichung durch den Mathematiker John v. Neumann und den Wirtschaftswissenschaftler Oskar Morgenstern im Jahre 1943 eine nicht mehr zu überblickende Zahl an Publikationen erschienen ist, inzwischen in allen handlungsrelevanten, wissenschaftlichen Bereichen, also den Wirtschaftswissenschaften (Statistik, Marketing, Operations Research, Versicherungsmathematik), den Sozialwissenschaften, der Psychologie, Politik- und Militärwissenschaft Anwendung gefunden hat, und daß ihre Anwendung auch im rechtswissenschaftlichen Bereich geprüft worden ist 2 4 . Wie immer, wenn fruchtbare theoretische Ansätze verfolgt werden, eilt freilich auch hier die Grundlagenwissenschaft der praktischen Anwendung in den verschiedenen Einzelwissenschaften weit voraus, doch wird heute, bei erheblich reduzierten Erwartungen gegenüber der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, kaum mehr bestritten, daß mit Hilfe der Spieltheorie bessere Einsichten in komplexe soziale und wirtschaftliche Organisationsstrukturen gewonnen werden können. Während die Spieltheorie die Gesamtsituation strategischer Spiele analysiert und allen Beteiligten gleiche Aufmerksamkeit schenkt, will die normative Entscheidungstheorie einseitig parteiisch die optimale Strategie für einen bestimmten Handelnden feststellen, mit dessen Entscheidungsproblem sie sich befaßt. Dafür ist die Spieltheorie insofern enger angelegt, als sie sich auf die einmalige Wahl zwischen alternativen Strategien bezieht und nicht auf eine Kette von Alternativen, die sich aus einem unterschiedlichen Informationsstand ergeben können. Sie geht nicht nur davon aus, daß eine quantitative Gewichtung der Strategien möglich ist und stattgefunden hat, bevor der mathematische Kalkül eingesetzt wird, sondern auch davon, daß alle Probleme der Informationsbeschaffung und -Verarbeitung bereits gelöst sind. Indem sie in den Spielregeln angibt, welche Informationen der Spieler zur Verfügung hat, rechnet sie den Informationsstand zu den Randbedingungen des Handelnden und klammert dadurch das Informationsproblem praktisch aus. Will man aber angeben, wie sich ein Handelnder in einer bestimmten Situation verhalten sollte, kann man ihm nicht einfach empfehlen, sich ein „objektiv richtiges" Bild der Situation zu machen, da die Gewinnung eines vollständigen InformationsstanTübingen 1968. S. 121 ff.; Szyper ski /Winand: Entscheidungstheorie. Stuttgart 1974. S. 91 ff. 24 Vgl. Kilian: Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung. Frankfurt 1974. S. 152 ff., 155, m. weit. Nachw.; Schlink: Inwieweit sind juristische Entscheidungen mit entscheidungstheoretischen Modellen theoretisch zu erfassen und praktisch zu bewältigen? In: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Bd. 2. Düsseldorf 1972. S. 322 ff. (326 ff.); Hagen: Eine entscheidungstheoretische Konzeption des Justizverfahrens. In: Zur Soziologie des Gerichtsverfahrens. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Bd. IV. Opladen 1976. S. 138ff. (150).

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

des erhebliche Kosten, also Einbußen an Zielen, verursachen kann. In den meisten Entscheidungslagen der täglichen Praxis ist die Situation, in der sich der Handelnde befindet, so komplex, daß die Annahme der vollen Kenntnis aller relevanten Situationsfaktoren utopisch erscheint. 5. Informationsgewinnung

und -Verarbeitung

Die Forderung, sich in solchen Situationen objektiv rational zu verhalten und nach möglichst vollständiger Information zu streben, verstößt hier offensichtlich gegen das Postulat formaler Rationalität, nach welcher eine Bewertung der Kosten zusätzlicher Informationsgewinnung in einem günstigen Verhältnis zu dem durch die zusätzlichen Informationen zu erwartenden Nutzen stehen muß. So reduziert sich normative Entscheidungstheorie weiter auf eine Analyse von Entscheidungen unter dem Postulat subjektiver, formaler Rationalität, indem sie vom subjektiven Bild ausgeht, daß sich der Handelnde von einer Situation macht, d.h. von dem Weltausschnitt, der nach seinem Wertsystem und seinen Handlungsmaximen relevant ist, versucht allerdings die Schwächen solcher Modelle durch eine Theorie des rationalen Sammeins und Verarbeitens von Informationen abzugleichen 25 . Trifft ein Handelnder eine Entscheidung, so hegt er hinsichtlich der Konsequenzen der Entscheidung bestimmte Erwartungen, die von seiner Kenntnis der Situation abhängen. Dabei lassen sich eine faktische, nomologische und logische Komponente seines Wissens über die Umwelt unterscheiden, die in besonderen Theorien der Wahrnehmung (Beobachtung), des Lernens (Forschens) und Denkens (Logik) behandelt werden. Faktisches Wissen, d.h. Wissen um seine möglichen Handlungsalternativen, gewinnt der Handelnde jeweils durch genaue Beobachtung der Ausgangssituation. Erfolgt die Beobachtung ohne Regeln, ohne ein normatives Konzept, so verflacht sie zu einer psychischen Funktion, wird einfach Wahrnehmung; erfolgt sie dagegen über längere Zeit in organisierter Weise nach festen Regeln, so wird sie zur Forschung nach Gesetzmäßigkeiten, gewinnt Einblick in die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung und produziert empirisch-nomologisches Wissen. Zu diesem empirisch-nomologischen Wissen über die Umwelt als vorgegebenem Objektsystem, das den Handlungsspielraum des Entscheidenden durch objektive Faktoren begrenzt, gehören freilich nicht nur Technologien, Marktstrukturen oder Produktionskapazitäten, sondern ebenso juristische und institutionelle Normen sowie eigene frühere Entscheidungen. Durch Anwendung dieses Wissens auf Informationen über die rein faktischen Ausgangsbedingungen einer Entscheidungssituation und mögliche Handlungs25 Vgl. Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 95ff., 128ff.; zu den Entscheidungen bei variabler Informationsstruktur auch Bamberg!Coenenberg: Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre. 3. Aufl. München 1981. S. 111 ff.; Kofler/Menges: Entscheidungen bei unvollständiger Information. Berlin/ Heidelberg/New York 1976.

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

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alternativen ist der Handelnde in der Lage, die Folgen der einzelnen Alternativen vorauszusehen, Prognosen zu erstellen. Werden die Prognosen nicht durch ein logisches Kalkül, unter Anwendung wissenschaftlich gewonnener, empirisch-nomologischer Sätze, sondern nur im Wege beliebigen Wahrnehmens und Lernens erstellt oder beruhen sie nur zum Teil auf logischen Ableitungen, so handelt es sich um die typischen Prognosen des Alltagslebens, die man als „Erwartungen" bezeichnet. Kennt der Handelnde auf Grund eines bestimmten Informationsstandes alle oder einige mögliche Handlungsalternativen und ihre jeweiligen Konsequenzen, die sich aus dem Zustand der Umwelt (bestehend aus physischen Objekten, anderen Agierenden und dem Bedeutungsgehalt der physischen Objekte und Mitagierenden für den Handelnden 26 ), den Umweltgesetzen und durch das mögliche eigene Handeln ergeben, gilt es, nach bestimmten Regeln, welche die Konsequenzen bewerten (Präferenzsystem) und die Entscheidung auf Grund der Bewertung festlegen (Entscheidungsmaxime), eine Handlungsalternative auszuwählen. Die „Entscheidungsmaxime" hat in denjenigen Fällen eigene Bedeutung, in denen Alternativen, sei es infolge mangelhafter Information, sei es wegen Fehlens eindeutiger Gesetzmäßigkeiten, keine eindeutigen Folgen nachsichziehen, so daß unentschieden bleibt, welcher Handlungsalternative nach dem Bewertungssystem der höchste Rang gebührt. Unter einem „Präferenzsystem" ist ein System von Regeln zu verstehen, welche angeben, wie die vom Informationssystem ermittelten Konsequenzen einer Entscheidung auf Grund der Wertvorstellungen des Handelnden zu bewerten sind, wobei soziale Normen nicht besonders in Rechnung gestellt werden; dies geschieht deshalb nicht, weil der Handelnde sich die sozialen Normen entweder selbst zu eigen macht und deshalb bei seinen Handlungsbewertungen berücksichtigt oder aber gezwungen ist, die gesellschaftlichen oder rechtlichen Sanktionen, die mit ihrer Verletzung verknüpft sind, als mögliche negative Folgen bei der Kalkulation der Kosten einer Zielverwirklichung mitzubedenken. Wer im individuellen Sinne rational handelt, verstößt also deshalb nicht gegen gesellschaftliche oder gesetzliche Normen, weil er die durch sie geschützten Verhaltensweisen oder Rechtsgüter als wertvoll anerkennt (Wertrationalität) oder weil er die durch den Verstoß gegen die Normen ausgelösten Sanktionen fürchtet (Zweckrationalität); die Unterscheidung von subjektiven Werten und sozialen oder rechtlichen Normen, die für die Rechtswissenschaft erheblich ist, wird deshalb in der Entscheidungstheorie als nicht erforderlich betrachtet 27 . Entscheidungsprozesse, gleich welcher Art, vollziehen sich im Idealfall in Entscheidungssystemen, die bewußt auf die jeweilige Funktion hin konzipiert und gestaltet worden sind; die elementaren Komponenten aller Entscheidungssysteme (Wissensbestände, Sprachen, Entscheidungsträger, Entscheidungsprobleme bzw. -aufgaben) und ihre wechselseitigen Beziehungen sind in der 26 27

Vgl. Parsons I Smelser. Economy and Society. London 1956. Kap. I. Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. aaO. S. 99 f.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Abbildung 3 (S. 121) zur besseren Übersicht zusammengestellt. Zu den Wissensbeständen gehören faktisches Wissen (Datenbestände), empirisch-nomologisches Wissen (Gesetze über Verhalten, Verhaltensänderungen, die zur Diagnose, Prognose und zum Konzipieren herangezogen werden), Methodenwissen (analytische und heuristische Methoden) und Modellwissen (Ermittlungs-, Kontroll-, Diagnose-, Prognose-, aber auch Bewertungs- und Entscheidungsmodelle). Die Aufgaben der Entscheidungsträger liegen hauptsächlich im Bereich der Problemerkennung und -formulierung sowie der Verknüpfung von Wissensbeständen mit geeigneten, die Kommunikation zwischen den Entscheidungsträgern (Menschen und/oder Maschinen) gewährleistenden, deskriptiven oder präskriptiven Sprachen; die Sprachen sind in der Abbildung 3 durch Verbindungslinien, die Entscheidungsträger in ihren Aktivitäten durch Kreise und Pfeile symbolisiert. Die Bedeutung maschineller Entscheidungshilfen besteht in der Regel in der Verstärkung der menschlichen Intelligenz durch relativ sichere und von verschiedenen Personen rasch nutzbare (abrufbare) Wissensspeicherung und die Fähigkeit, tautologische Informationen zweckorientiert zu erzeugen (Rechenkapazität); begrenzte Informationsverarbeitung und Schwierigkeiten bei der Erfassung komplexer Zusammenhänge, damit verknüpft, eine ungenügende Fähigkeit zur Bildung von Handlungsalternativen sind Mängel der menschlichen Entscheidungsträger, die in zunehmendem Maße durch Maschinen ausgeglichen werden können, während im übrigen die Überlegenheit des Menschen wegen seiner Kreativität und Originalität, seines Lern-, Assoziations- und Bewertungsvermögens, seiner Fähigkeit, Strukturen zu erkennen und unter unsicheren Bedingungen zu handeln, in den Entscheidungsprozessen unangetastet bleibt. 6. Die Problemdefinition

als Ausgangspunkt

Methodischer Ausgangspunkt für die Lösung von Problemen ist in der modernen Handlungswissenschaft die Problemdefinition; wer ein Problem lösen will, muß sich zunächst darüber klar werden, was er an einem Zustand als unbefriedigend empfindet, bevor er darangehen kann, alternative Handlungsabläufe, welche den Zustand zu bessern geeignet sind, gedanklich durchzuspielen. Nicht nur im wirtschaftlichen Individualbereich, auch im juristischen, insbesondere dem politischen der Rechtssetzung, wird gegen diese elementare Voraussetzung der Entscheidungstheorie oft verstoßen. Immer wieder läßt sich beobachten, daß bestehendes Recht ohne Begründung allein wegen seines Alters als überholt und modernen Anforderungen nicht mehr genügend, folglich als reformbedürftig hingestellt wird und dieser Problemimpuls schon ausreicht, um reformeifrige Gesetzgeber zum Handeln zu veranlassen 28. Aufgabe des Arbeits28

Vgl. Noll: Gesetzgebungslehre. Hamburg 1973. S. 80 m. Nachw.; Kindermann: Neue Richtlinien der Gesetzestechnik. In: DÖV 1981, S. 855 ff. (856), berichtet über eine nicht veröffentlichte „Arbeitshilfe" des Bundesministers der Justiz (Ermächtigungsgrundlage ist § 38 I I I der „Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien" — Besonderer

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

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Abb. 3: Elemente eines Entscheidungssystems (Nach Szyperski, Norbert/Udo Winand: Entscheidungstheorie. Stuttgart 1974. S. 15)

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

abschnittes Problemdefinition im entscheidungstheoretischen Modell ist es, den als unbefriedigend empfundenen Zustand genau zu beschreiben, die Zielvorstellungen zu konkretisieren, damit zusammenhängend, die denkbaren Handlungsalternativen zu erzeugen und die Möglichkeiten ihrer Durchführung aufzudecken 29 . Die Problemdefinition enthält also sowohl normative als auch analytische Elemente, steht sowohl mit dem Wertsystem des Entscheidungsträgers als auch mit dem Prozeß der Informationsverarbeitung im Zusammenhang. Daß überhaupt etwas als Problem, als ungelöste Aufgabe, empfunden wird, setzt bereits eine Wertung des beobachteten Zustandes auf der Grundlage einer Wertordnung voraus, gleichgültig, ob sie nun rein gefühlsmäßig oder reflektiert vollzogen wird; die empirische Analyse der Fakten dient dazu, dieses Objekt des Mißbehagens zu präzisieren, einzugrenzen und einer optimalen, zumindest befriedigenden Lösung zuzuführen. Dazu ein einfaches Beispiel 30 : Wird die Ausbildung der Lehrlinge im Handwerk und der gewerblichen Wirtschaft als überaltert und modernen Erfordernissen nicht entsprechend empfunden und deshalb eine gesetzliche Neuregelung geplant, die diesen Mißstand beseitigen soll, so genügt es nicht, sich Gedanken darüber zu machen, wie eine moderne, zukunftsweisende Lehrlingsausbildung „an sich" aussehen müßte, ohne die Reaktion der Normadressaten einer genauen Verhaltensanalyse zu unterziehen; zu den ersten Bedingungen einer entscheidungstheoretisch gesteuerten, effektiven Rechtssetzung gehört zwingend, daß Rechtsnormen adressatenbewußt gesetzt und durchgesetzt werden. Es könnte nämlich sein, daß die Verbesserung der Ausbildung zwar von allen Betroffenen gewünscht wird, aber nur für den Fall, daß die Reform für die ausbildende Wirtschaft nicht zu kostspielig ist. Wird die Grenze, ab welcher die steigenden Kosten für die verbesserte Ausbildung zu einer Schrumpfung des Angebots an Lehrstellen führt, nicht genau ermittelt, kann es sein, daß die Reform der Ausbildung das Gegenteil von dem erreicht, was sie anstrebt, weil eine große Zahl Auszubildender statt einer als unbefriedigend empfundenen nun überhaupt keine Ausbildung mehr erhält. 7. System- und Interdependenzanalyse U m solche Fehlschläge zu vermeiden, bedient man sich sog. „Systemanalysen", mit deren Hilfe man komplexe Zusammenhänge zu durchdringen versucht, indem man den ins Auge gefaßten Regelungsbereich in einzelne Teil, GGO II) mit Empfehlungen zur Bedarfsprüfung, Bestandssicherung und Befristung von Rechtssetzungsakten v. 20.8.1979, die diesem Problem gewidmet ist. 29 Man denke etwa an die geplante Überarbeitung des Schuldrechts. Vgl. Bunte: Zur geplanten Überarbeitung des Schuldrechts. In: BB 1982, 685 ff.; Wolf : Die Überarbeitung des Schuldrechts. In: AcP 182 (1982), 80 ff.; Diederichsen: Zur gesetzlichen Neuordnung des Schuldrechts. In: AcP 182 (1982), 101 ff. 30 Nach Cornides: Normsetzung und Entscheidungstheorie. In: Rechtstheorie Bd. 5. 1974. S.llff. (24).

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

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Problemfelder zerlegt und getrennt analysiert, Intentionen und Alternativen herausarbeitet und hinsichtlich der zu erwartenden Konsequenzen (Folge- und Nebenwirkungen) miteinander vergleicht 31 . Systeme werden definiert als Menge von Elementen mit gewissen Eigenschaften, die untereinander in Beziehung stehen und durch ihre jeweilige Anordnung die Struktur des Systems festlegen; die Dynamik des Systems wird als Abfolge von Zuständen festgehalten, wobei die Funktionen Richtung und Intensität der Abhängigkeiten beschreiben. Komplexe Systeme mit großer Varietät und Beziehungsdichte, wie sie besonders im sozialen Bereich vorgefunden werden, zeigen hohe Freiheitsgrade und sind deshalb im hohen Maße „unbestimmt", weil das Zusammenwirken der Elemente nur schwer zu erkennen und nur begrenzt zu steuern ist, so daß die Dynamik des Systems nur mit geringer Wahrscheinlichkeit vorausbestimmt werden kann. Systemanalyse als Kombination verschiedener Techniken ist in diesem Bereich weniger Werkzeug zu umfassender Analyse des Gesamtsystems als vielmehr zur Erfassung bestimmter Teilsysteme desselben und begrenzter Subprozesse. Systemanalysen werden ergänzt durch sog. „Interdependenz-Analysen", welche dazu dienen, die mit einer gesetzlichen Maßnahme angestrebten Wirkungen im Hinblick auf ihre internen Wechselbeziehungen und ihre Verflechtung mit Entwicklungen und Ereignissen sicherzustellen, die außerhalb der Reichweite der Vorschriften liegen; es geht hierbei um die Analyse wechselseitiger Abhängigkeiten gesetzlicher Maßnahmen mit dem Ziel, Kraft und Dichte der Beziehungen sowie mögliche Unverträglichkeiten zu ermitteln 32 . Die in der Interdependenz-Analyse vorgenommene Strukturierung und Bewertung wechselseitiger Abhängigkeiten und der Beziehungen zwischen Entwicklungen und möglichen Ereignissen wird schließlich ergänzt durch eine Abschätzung der Wahrscheinlichkeit, mit der diese Entwicklungen und Ereignisse eintreffen werden, bzw. wie sich ein Ereignis oder eine beabsichtigte Wirkung in einer prognostizierten Situation in ein vorhandenes Beziehungsgeflecht von ebenfalls geschätzten, möglichen Wirkungen einfügen wird (sog. Cross-impactMethode). Erst auf dieser Grundlage läßt sich erkennen, welche Daten wichtig und des Sammeins wert sind und welche Modelle konstruiert werden müssen; simulierte Modellabläufe erlauben dann die Abwägung der Vor- und Nachteile (Kosten und Erträge), wobei die Ergebnisse auf ihre Empfindlichkeit gegenüber verschiedenen Modellabwandlungen geprüft werden können. Nicht selten führt das zu einer Revision der ursprünglichen Annahmen oder weitergehend zu einer Überprüfung der Ziele bis hin zu einer Neuformulierung des Problems überhaupt 33 . 31 Vgl. etwa den Sammelband von Quade und Boucher (Hrsg.): Systems Analysis and Policy Planning. New York 1968. 32 Immerhin machen Rechtsänderungen den weit überwiegenden Teil der Rechtssetzungstätigkeit aus. Vgl. Kindermann: Neue Richtlinien der Gesetzestechnik. In: DÖV 1981, 855 ff. (857). 33 Die bisher gemachten, praktischen Erfahrungen in der Ministerialverwaltung stimmen allerdings skeptisch; vgl. Seemann: Die Bürokratie der Exekutivspitze in der

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

8. Kritik

der logischen Rationalität

Würde sich Rechtswissenschaft unter Aufgabe ihrer wissenschaftlichen Tradition auf die Durchführung solcher Systemanalysen spezialisieren, wäre ihr vom Standpunkt der herrschenden, analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie der Status einer Wissenschaft im modernen Sinne nicht länger streitig zu machen: Sie würde in methodologisch einwandfreier, d.h. formaler, wertfreier Verfahrensweise, wie sie diese Wissenschaftstheorie fordert und ausschließlich anerkennt, theoretisches, intersubjektiv gewisses Herrschaftswissen produzieren, das wie natur- oder wirtschaftswissenschaftliches Wissen in allen Gesellschaftssystemen und zur Durchsetzung beliebiger politischer und wirtschaftlicher Ziele praktisch verwendbar wäre. Erfolgreiche, rechtswissenschaftliche Arbeit schlüge sich nieder in einer fortschreitend besseren Handhabung des rechtlichen Instrumentariums bei der Verwirklichung politischer Zielvorstellungen, einer immer effektiveren, weil vorteilhafte und nachteilige Folgen genauer erfassenden, technischen Umsetzung gesellschaftlicher Planungen in die soziale Wirklichkeit. Wissenschaftlichkeit in solchem werkzeughaften, auf Beherrschung komplexer, sozialer Systeme mit Hilfe des Rechts gerichteten Sinne müßte freilich erkauft werden mit dem Verzicht auf die Verfolgung naturrechtlicher Fragen, die, wie gesagt, nicht auf optimale Funktionalität, sondern auf optimale Richtigkeit des Rechts, nicht auf formale Rationalität, sondern auf materiale Gerechtigkeit sozialen Handelns zielen. Rechtswissenschaft müßte sich wie die „echten" Wissenschaften, nämlich Natur- und Wirtschaftswissenschaften, bereitfinden, in der optimalen, formal-methodischen Beherrschung ihres Gegenstandes ihren höchsten zu erreichenden Zweck zu sehen, so als ob die theoretisch-technische Beherrschung der Natur oder wirtschaftlicher Prozesse das gleiche wäre wie die theoretisch-technische Beherrschung des sozialen Zusammenlebens der Menschen, so als ob nicht schon die Manipulation der Natur eine Grenze erreicht hätte, die Zweifel am materialen Sinn naturwissenschaftlichen Tuns weckt und Naturwissenschaft selbst zu einem die Grenzen der Wissenschaftlichkeit überschreitenden, kritischen Nachdenken zwingt. Die Entscheidung für eine philosophisch-teleologische und gegen eine wissenschaftlich-kausale (formal-teleologische) Rechtswissenschaft etwa im Sinne moderner Kybernetik, wie sie oben getroffen wurde, bedeutet nicht, daß die Ergebnisse der entscheidungstheoretischen Anstrengungen der vergangenen Jahrzehnte abgelehnt oder auch nur gering geschätzt würden, sie verlangt lediglich das Zugeständnis, daß bei ihnen nicht — auch nicht aus (falsch verstandener) Wissenschaftlichkeit — stehengeblieben werden kann, weil nur inhaltlich richtige, intersubjektiv gerechtfertigte, legitime, gesellschaftliche Ziele den forschenden Geist befriedigen, daß also Rechtswissenschaft die Suche nach Parteiendemokratie als Kontrollproblem. In: Die Verwaltung Bd. 16 (1983), S. 133ff. (150 f.); derselbe: Zur politischen Planung im demokratischen Rechtsstaat. In: Die Verwaltung. Bd. 13 (1980), S. 405 ff.

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

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materialen, Form und Inhalt vereinenden Gesichtspunkten fortsetzen muß. Ob und inwieweit dabei moderne, werttheoretische Überlegungen weiter zu helfen vermögen, wie sie sich im Verlauf der Ausarbeitung quantitativer, formalteleologischer Entscheidungstheorie als nötig erwiesen haben, bleibt noch zu prüfen. 9. Nutzen- und Präferenztheorie Der Überblick über die in rascher Entwicklung begriffenen Grundlagen modernen Zweck-Mittel-Verständnisses hat, wie ich hoffe, bereits genügend deutlich werden lassen, warum die Erarbeitung formaler Regeln zur rationalen Bestimmung finalen Handelns durch eine Theorie darüber, was in verschiedenen, sozialen Situationen unter sicheren, riskanten oder ungewissen Bedingungen als optimal zu gelten hat, ohne eine Lehre von den Zielvorstellungen des oder der Handelnden nicht möglich ist. Grundlage jeder zweckrationalen Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungsalternativen ist der Vergleich der Attraktivität oder Wünschbarkeit oder des Nutzens derselben für den Entscheidungsträger, gleichgültig, ob es sich nun um eine einzelne Person oder um ein Entscheidungsgremium handelt. Der Vergleich zeigt die subjektiven Präferenzen auf, deren allgemeine Gesetzmäßigkeiten die sog. „Nutzen- und Präferenztheorie" aufzufinden und in Regeln der Wertschätzung und deren Änderung festzuhalten versucht. Ohne eine konsistente, logisch widerspruchsfreie Präferenzordnung, welche die Ziele und Ereignisse nach ihrer Wünschbarkeit und ihrem Nutzen in ein Verhältnis der Über- und Unterordnung bringt, kann es keinen zweckrationalen Entscheid zwischen Alternativen geben. Das Interesse an einer theoretischen Durchdringung von Entscheidungsabläufen und an geeigneten Hilfsmitteln zur Entscheidungsfindung, das um so dringlicher Beachtung verlangt, je mehr sich eine Sozialordnung kompliziert, je weiter die Folgen gefällter Entscheidungen reichen und je schwerer die Auswirkungen vom einzelnen Entscheidungsträger überblickt werden können, trägt damit auch die theoretische Arbeit an individuellen und sozialen Wertsystemen. Das Wertproblem läuft in seiner heutigen Fassung auf die Frage nach den Möglichkeiten vergleichender Bewertung von Elementen einer Menge von Handlungsalternativen hinaus, die eine Wahlsituation dem Entscheidenden bietet; dabei bedeutet die Einstufung der miteinander verglichenen Elemente in eine frei entworfene Skala nichts anderes als die Vornahme einer Messung, deren Ergebnis die Zuordnung von Zahlenwerten der Skala zu den einzelnen Elementen nach den Regeln moderner Messungstheorie ist 3 4 . U m ein Maß begrifflich festzulegen, muß angegeben werden, durch welche Operationen (Beobachtungen, Manipulationen, Kalkulationen) einem Element bestimmte Skalenwerte beigelegt werden; die Angabe der Operation stellt oft schon die Definition des zu messenden Begriffs dar, weil etwa das „Wertsystem" einer Person definitionsgemäß die Reaktion dieser Person auf bestimmte Reize oder 34

Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 140 f.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Fragen ist. Da eine umfassende Bewertungstheorie fehlt, die es ermöglicht, aus den in verschiedenen Zusammenhängen angewandten Meßoperationen den gleichen Wertbegriff zu erschließen, so wie etwa in der Physik der Begriff Elektron oder in der Psychologie die Begriffe Motiv oder Trieb als hypothetische Entitäten theoretisch erschlossen werden, behaupten die Regeln, welche die Entscheidungstheorie für die Bewertung von Handlungsalternativen anbietet, nicht, daß sie eine mit Sicherheit als vorhanden anzusehende Entität „Subjektiver Wert von Alternativen" messen, sondern definieren einfach jeweils einen Begriff „Wertskala"; sie gehen lediglich davon aus, daß eine bestimmte Person sich so verhält, „als ob" sie sich in bestimmten Situationen nach bestimmten Arten von Wertskalen richten würde. Folglich wird von einer Wertskala nicht ausgesagt, sie sei „richtig", sondern nur, sie sei für einen bestimmten Zweck „adäquat" konzipiert. Die formale Rationalität einer Präferenzordnung hängt vor allem von drei Axiomen ab, denen im entscheidungstheoretischen Kalkül zugleich die Bewertung der Resultate genügen muß 3 5 . Zunächst verlangt das Axiom der Vollständigkeit der Ordnung oder Linearitätsaxiom, daß Ereignisse (Zustände, Alternativen, Resultate) stets miteinander vergleichbar sind; über zwei Ereignisse Ej und E2 soll stets nur eines — und nur eines! — der folgenden drei Urteile möglich sein: symbolisch: oder: symbolisch: oder: symbolisch: oder:

Ε λ wird E2 vorgezogen, E2 wird Ej vorgezogen, Ei wird E2 werden als gleichwertig angesehen,

Ei > E2 < E2 > Ei < Ει ~ E2 ~

E2 Ei Ei E2 E2 Ei

Die beiden anderen Axiome der Transitivität und Reflexivität sind Definitionsmerkmale strenger Konsistenz und notwendige Bedingungen der Widerspruchsfreiheit eines Wertsystems; nach dem ersteren soll für drei beliebige Ereignisse Ej, E2 und E3 gelten: Falls Falls Falls Falls

Eî Ei Ει Ει

> > ~ ~

E2 und Ej und E2 und E2 und

E2 > Ej E2 > E2 ~

E3, E3, E3, E3,

dann dann dann dann

auch auch auch auch

Ei Ei Ei Ei

> > > ~

E3. E3. E3. E3.

Das Axiom der Reflexivität verlangt gleichgültiges Verhalten (Indifferenz) gegenüber Ereignissen, die in ihren Elementen vollständig miteinander übereinstimmen; für zwei Ereignisse Ej und E2 soll gelten: Aus Ei = E2 folgt Ει ~ E2. 35

Vgl. zum Folgenden Krelle: Präferenz- und Entscheidungstheorie. Tübingen 1968. S. 7 ff.; Arrow: Social Choice and Individual Values. New York/London/Sydney 1963. S. 11 ff.; Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 145 ff.

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

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Damit sind zirkuläre Präferenzbeziehungen der Art Ej > E2 > E3 > E l 5 w i e sie vor allem in kollektiv getroffenen Entscheidungen begegnen, von vornherein ausgeschlossen, weil das Axiom der Transitivität Ej > Εχ und das Axiom der Reflexivität Ej ~ Ej liefern würde, was dem Axiom der Vollständigkeit der Ordnung widerspräche. Die genannten Axiome gewährleisten eine konsistente Wünschbarkeits- oder Präferenzordnung, allerdings schwacher, ordinaler Art. Solche ordinalen Präferenzordnungen, die für rationale Entscheidungen unter Sicherheit, d.h. bei Kenntnis der Umweltbedingungen und determiniertem Ergebnis ausreichen, definieren lediglich die Relationen „vorgezogen" oder „gleichgeschätzt", lassen aber offen, wie sehr ein Zustand oder ein Ereignis einem anderen vorgezogen wird. Präferenz im ordinalen Sinne bedeutet eine relative Höherschätzung, ohne daß der Grad der Höherschätzung näher bestimmt würde. Für Entscheidungen unter Risiko oder Ungewißheit, d.h. in Entscheidungslagen, in denen der Handelnde die Umweltbedingungen oder das Verhalten anderer Handelnder nicht oder nicht genau kennt, weil nur eine Wahrscheinlichkeitsverteilung über mögliche Zustände und Ereignisse aufgestellt werden kann, die Strategie der Gegenspieler nicht zu ermitteln oder die Ungewißheit der Umweltbedingungen nicht meßbar ist, für Entscheidungen also, wie sie in der Praxis überwiegend zu treffen sind, weil weder naturgesetzliche Prozesse noch durch eigene soziale Aktion ausgelöste soziale Reaktionen sich sicher vorhersagen lassen, reichen ordinale Präferenzordnungen nicht aus, sind kardinale Präferenzordnungen erforderlich; sie halten den Grad der inneren Befriedigung des Handelnden, den dieser in einer bestimmten Lage empfindet, bzw. die Wünschbarkeit eines Ereignisses fest, indem sie z.B. bei drei Ereignissen E l 5 E2 und E3 nicht nur die Präferenzreihenfolge E^ > E2, E2 > E3 bestimmen, sondern darüber hinaus die Präferenzreihenfolge der Differenzen zwischen Εχ und E2 bzw. zwischen E2 und E3 festlegen. Bei Abbildung durch eine Nutzenfunktion Ν gibt diese also an, ob der Nutzenunterschied Ν (Ε α ) - Ν (E2) gleich, größer oder kleiner ist als der Nutzenunterschied Ν (E2) - Ν (Ej); einen solchen Nutzenindex, der die Nutzenintervalle ordnet, nennt man eine Intervallskala. Sie läßt sich ohne weiteres linear transformieren, d.h. es kann jeder Meßwert mit der gleichen Konstante k multipliziert und eine weitere Konstante 1 addiert oder subtrahiert werden; die Funktion Ν ' = 1 + k N ist als Intervallskala für den gleichen Messungszweck wie Ν selbst benutzbar. Gestattet man eine Skalentransformation durch Multiplikation mit einer beliebigen Konstante k, nicht jedoch die Addition oder Subtraktion einer Konstante 1, so erhält man Skalen mit einem festgelegten Nullpunkt, bei denen nur die Skaleneinheiten verändert werden können; diese verkleinerte Klasse untereinander austauschbarer Maßskalen bezeichnet man in der Entscheidungstheorie als Verhältnisskalen. Sie sind nötig, um die Effizienz von Maßnahmen zu messen: eine Handlungsalternative a ist effizienter als eine andere Alternative b, wenn sie ein höher bewertetes Resultat mit gleichen Opfern erzielt als die Alternative b. Eine Verhältnisskala kann den Nutzen einer Alternative in Prozent des Nutzens einer anderen angeben, wenn man beispielsweise für den

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Vergleich aller Alternativen den in einer bestimmten Situation erzielbaren, höchstmöglichen Nutzen als gemeinsame Grundlage wählt. Die Feststellung von Nutzendifferenzen zwischen verschiedenen Ereignissen oder Resultaten sowie ihre Ordnung der Größe nach stellt offensichtlich sehr hohe Anforderungen an die Bewertungsfahigkeit des Entscheidungsträgers. Kardinale Präferenzordnungen werden deshalb nur dort verwendet, wo sie sich als notwendige Bedingung rationaler Entscheidung erwiesen haben: in Lagen der Ungewißheit, in der Wohlfahrtsökonomie und bei kollektiven Entscheidungen36. Die Verhältnisskala mit ihren verschiedenen Varianten ist noch nicht die stärkste vorstellbare Messungsart, denn theoretisch ist der Fall einer absoluten, überhaupt nicht transformierbaren und deshalb völlig eindeutigen Skala denkbar, bei der nicht nur das Verhältnis der Nutzenindizes zweier Handlungsalternativen, sondern auch die Differenz zweier Nutzenwerte sowie der Nullpunkt fixiert sind. Solche absoluten Skalen sind für empirische Messungen irrelevant, da die rechentechnische Verwendbarkeit schon bei den an weniger Voraussetzungen geknüpften Intervall- und Verhältnisskalen garantiert ist; sie spielen allerdings bei einigen Problemen der kollektiven Entscheidung, etwa bei interpersonellen Nutzenvergleichen, eine Rolle und machen hier zusätzliche, rein konventionelle Festsetzungen nötig. Für die Darstellung individueller Wertsysteme durch Nutzenskalen reichen Ordinal-, Intervall- und Verhältnisskalen und ihre zahlreichen Abarten aus 37 . 10. Schwierigkeiten

der Wahrscheinlichkeitsberechnung

I m übrigen hängt das Konzept kardinaler Präferenzordnungen eng mit der Problematik verschiedener Wahrscheinlichkeitsinterpretationen (vor allem dem Begriff subjektiver Wahrscheinlichkeit) zusammen, die wegen des (philosophischen) Induktionsproblems für jede empirisch fundierte Wissenschaft von großer Bedeutung ist 3 8 . Nur subjektive oder personelle Wahrscheinlichkeitsaussagen sind prinzipiell entscheidbar, können also überprüft werden, ob sie richtig oder falsch sind; dagegen sind objektive oder statistische Wahrscheinlichkeits36 Zu den weiteren Voraussetzungen kardinaler Präferenzordnungen vgl. Alt: Über die Meßbarkeit des Nutzens. In: Zeitschr.f. Nationalökonomie. Bd. 7. (1936). S. 161 ff.; Schneeweiß: Nutzenaxiomatik und Theorie des Messens. In: Statistische Hefte 14. Frankfurt/M. 1963. S. 178 ff.; Pfanzagl: Theorie des Messens. 2. Aufl. Würzburg 1962. S. 18 f.; Krelle: Präferenz- u. Entscheidungstheorie. Tübingen 1968. S. 10 f.; Fer seht Nutzenund Entscheidungstheorie. Opladen 1975. S. 41 ff.; Bühlmann/Loeffel/Nievergelt: Entscheidungs- und Spieltheorie. Berlin/Heidelberg/New York 1975. S. 105 ff. 37 Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 164. 38 Vgl. Stegmüller: Personelle und statistische Wahrscheinlichkeit. In: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. IV. Halbbd. 2. Berlin/Heidelberg/New York 1973. S. 28ff., 220ff.; 1. Halbbd. S. 65ff.; Bühlmann/ Loeffel/Nievergelt: Entscheidungs- und Spieltheorie. Berlin/Heidelberg/New York 1975. S. 46ff.; Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 332 ff.

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

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aussagen prinzipiell unentscheidbare Hypothesen, die empirisch weder verifiziert noch falsifiziert werden können. Während die ersteren durchweg bekannte Wahrscheinlichkeiten wiedergeben, stellen die letzteren solche unbekannter Art dar, deren Werte man nur erraten, nicht aber definitiv wissen kann. Andererseits impliziert der subjektive Wahrscheinlichkeitsbegriff philosophisch den Determinismus 39 , weil seine Anwendung voraussetzt, daß alle Formen von Ungewißheit auf mangelnde Information zurückzuführen sind; auf der Grundlage einer subjektiven Interpretation der Wahrscheinlichkeit ist man nicht mehr imstande, zwischen derjenigen Form von subjektiver Ungewißheit zu unterscheiden, die auf mangelndem Wissen oder mangelnder Information beruht, und derjenigen Form von Ungewißheit, die durch kein denkbares Wachstum an Erkenntnis beseitigt werden kann, wie es der auf der Quantentheorie fußende (physikalische) Indeterminismus fordert 40 . Aus dieser mißlichen theoretischen Lage ergeben sich schwierige Folgeprobleme für das statistische Schließen, zu denen die Probleme der Schätzung und des Tests statistischer Hypothesen gehören; im ersten Fall geht es um Mutmaßungen über unbekannte Parameter von Verteilungen, im zweiten Fall um die Regeln zur Annahme oder Verwerfung statistischer Hypothesen 41 . Soweit man unter Schätzungen von Wahrscheinlichkeiten Handlungen versteht, die praktische Konsequenzen haben, ist es selbstverständlich, daß diese Konsequenzen des Schätzens ihrerseits bewertet werden müssen; soweit man mit dem Begriff Schätzung dagegen die Formung einer bestimmten Art von Überzeugung meint 4 2 , die zunächst noch keine bewertbaren Konsequenzen hat, stellt sich die Frage, wovon in diesem Fall die Güte der Schätzung abhängen soll. Es bieten sich zwei ganz verschiedene Gesichtspunkte an: Einmal kann eine theoretische Mutmaßung deshalb für „gut" befunden werden, weil der Schätzwert nahe beim wahren (wirklichen) Wert liegt; zum anderen aber auch deshalb, weil gute Gründe für die Annahme gegeben sind, der Schätzwert liege nahe beim wahren Wert; im ersten Fall wird ein Vergleich zwischen absolutem Schätzwert und dem zu schätzenden Wert vorgenommen, im zweiten Fall nur ein Vergleich mit einer gut gestützten Hypothese über den wirklichen Wert. Obwohl die erste Alternative vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus unhaltbar ist, weil wir den wahren Wert nicht kennen und entweder nie kennenlernen werden oder erst zu einem Zeitpunkt, in dem wir die Schätzung längst vorgenommen haben, geht die moderne, statistische Schätzungstheorie überwiegend von dem ersten Gütebe39 Popper. The Propensity Interpretation of the Calculus of Probability and the Quantum Theory. In: Körner (Hrsg.): Observation and Interpretation. London 1957. 40 Zu diesem Dilemma vgl. Giere : Objective Single Case Probabilities and the Foundations of Statistics. In: Proceedings of the 4th International Congress of Logic, Methodology and Philosophy of Science. Bukarest 1971. 41 Vgl. Stegmüller. Personelle und Statistische Wahrscheinlichkeit. In: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. IV. 2. Halbbd. Berlin/Heidelberg/New York 1973. S. 142ff., 176ff. 42 Stegmüller aaO. S. 192 nennt dies eine „theoretische" Schätzung.

9 Mittenzwei

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

griff aus und gründet die Auszeichnung bestimmter Schätzfunktionen gegenüber anderen darauf, daß diese „ i m Durchschnitt" (Erwartungstreue) oder „auf lange Sicht" (Konsistenz) Schätzwerte liefern, die tatsächlich nahe beim wahren Wert liegen. Es ist jedoch nicht einzusehen, warum das Merkmal der Optimalität auf lange Sicht ein vorteilhaftes Merkmal für einen konkreten Einzelfall ist, zumal die Konsistenz-Betrachtung nicht einmal eine lange Betrachtung im menschlichen Sinne, sondern nur im Sinne mathematischer Konvergenz meint. Wer eine Größe schätzt, beurteilt diese Größe in einer konkreten Situation nur einmal, ohne dabei beliebig lange Folgen von Schätzwerten zu erzeugen, die auf lange Sicht einen mit dem wahren Wert identischen Durchschnitt ergeben könnten. Nicht erwartungstreue Schätzfunktionen können deshalb im konkreten Einzelfall genauso vernünftige Schätzwerte liefern wie auf lange Sicht erwartungstreue. Der Grund für die erkenntnistheoretisch bedenkliche Betrachtung der Schätzungsprobleme allein unter dem Gesichtspunkt der Optimalität auf lange Sicht liegt darin, daß der oben erwähnte, zweite Gütebegriff ein Kriterium erfordert, das gestattet, gut gestützte Hypothesen von weniger gut gestützten zu unterscheiden. Ein solches Kriterium könnte sich nur aus einer entwickelten Theorie der Stützung von Hypothesen ergeben, weil statistische Daten selbst niemals gute Gründe für die Überzeugung liefern, daß ein Schätzwert dem wirklichen Wert nahekommt; an einer die statistischen Theoretiker überzeugenden Stützungstheorie statistischer Hypothesen fehlt es jedoch bislang 43 . Die damit angedeuteten Schwierigkeiten der Interpretation von Wahrscheinlichkeiten sind nicht die einzigen, weitere treten hinzu; erwähnt sei nur noch das zuerst von Carnap behandelte Skalendilemma, das uns zum Ausgangspunkt zurückführt 44 : Angenommen, eine Größe f habe die drei möglichen Werte 1, 2 und 3; als Schätzwert werde der Durchschnitt genommen, also 2; der Schätzwert von Ρ beträgt dann 4. Andererseits sind die möglichen Werte von F 1,4 und 9; ihr Durchschnitt liegt bei 14/3, ergibt also einen höheren Wert als 4. Dieses elementare Beispiel zeigt, daß es für eine Größe, die als nicht lineare Funktion gegebener Größen definiert ist, einen Unterschied macht, ob man sie selbst schätzt oder ob man die Schätzung in der Weise vornimmt, daß man zunächst die in der Définition benützten Größen schätzt und erst dann die funktionelle Operation anwendet. Derjenige, der schätzen muß, wird damit in ein theoretisch nicht lösbares Dilemma gestürzt, weil er vor zwei nicht miteinander vereinbaren »Alternativen steht: Nach der einen soll er als Wert von f 2 vernünftigerweise 4 erwarten und dieses Ergebnis als Grundlage seiner rationalen Entscheidung betrachten; nach der anderen dagegen soll er von dem größeren Wert 14/3 ausgehen und so tun, als wüßte er, daß f 2 den Wert 14/3 hat. Eine der beiden Alternativen kann der Schätzende aber nur wählen; welche, das hängt nach Carnap von Regeln ab, die sich auf den individuellen Nutzen beziehen. 43 Vgl. den Präzisierungsversuch einer besser gestützten Schätzung bei Stegmüller aaO. S. 209 ff. 44 Vgl. Carnap : Logical Foundations of Probability. 2. Aufl. Chicago 1962. S. 531.

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

131

Damit gleitet das Problem der „theoretischen Schätzung" einmal mehr aus dem Gebiet der theoretischen Vernunft hinüber in das Gebiet der praktischen Vernunft, nämlich der richtigen Wahl. Zwar entsteht nach Carnap auf der theoretischen Ebene überhaupt kein Problem, weil die Aussage „der Schätzwert von f ist 2; also ist das Quadrat dieses Schätzwertes 4" verträglich sei mit der Aussage „der Schätzwert von f 2 beträgt 14/3"; unverträglich seien diese Aussagen nur, wenn man sie fälschlicherweise als Prognosen interpretiere. Doch überzeugt diese Problemabweisung schon deshalb nicht, weil die Qual der Wahl nicht nur bei nicht linearen Funktionen gegebener Größen auftritt, sondern bereits beim Übergang von einer Skala zu einer anderen: Was bei der Heranziehung der einen Skala als kleiner Wert erscheint, ist bei der Anwendung einer anderen ein großer; ob ein Irrtum bei der Schätzung nun aber als klein oder als groß zu beurteilen ist, hängt davon ab, welche Skala gewählt wird 4 5 . So bleibt nichts anderes übrig, als im Rahmen der Schätzungstheorie Skalen als „vorgegeben" zu betrachten; sind mehrere vorhanden, so sind die theoretischen Schätzungen nach allen angebotenen Skalen vorzunehmen; fehlt es an einer Skala, so ist die Schätzung aus theoretischer Sicht abzulehnen; die Frage nach dem Zweck der Wahl dieser oder jener Skala wird vom Wahrscheinlichkeitstheoretiker ignoriert. Nicht nur bei den Schätzhandlungen und ihren Konsequenzen ist es also nötig, von den Zwecken der Schätzung zu sprechen, auch bei der theoretischen Schätzung läßt sich am Ende der Verweis auf den jeweiligen praktischen Zweck nicht vermeiden, auch wenn der statistische Theoretiker so tun kann, als gehe ihn der Zweck als Grund des Wahlverhaltens nichts an. Ii.

Zur Rationalität sog. Sozialwahlen

Politische Theorie, aber auch Wirtschaftstheorie, sobald sie den Staat in ihre Überlegungen mit einbezieht und nach den Vor- und Nachteilen zur Wahl stehender wirtschaftlicher Maßnahmen für die Gesamtheit fragt, kann sich mit der Analyse individueller Präferenzen nicht zufriedengeben, muß zur Feststellung sozialer Präferenzen fortschreiten. Da nicht nur politische und wirtschaftliche Entscheidungen überwiegend von Gruppen getroffen werden, sondern auch rechtliche, sei noch ein kurzer Blick auf die Bewertungs- und Informationsvorgänge geworfen, die bei kollektiven Entscheidungen zusätzlich anfallen. Die Beteiligung mehrerer Personen an einer Entscheidung bedeutet, daß die nach individuellen Präferenzordnungen getroffenen, einzelnen Entscheidungen miteinander verquickt sind und sich in einem Gesamtwillen äußern. Dabei ergeben sich mehrere, ineinander übergehende Problemkreise: Machen die Beteiligten ihre Entscheidung jeweils von der Entscheidung der anderen abhängig, so entsteht für den Entscheidungstheoretiker die schon aus der Spieltheorie bekannte Situation rationaler Unbestimmtheit, in der er mit der Analyse jeder einzelnen Entscheidung nicht mehr weiter kommt und gezwungen ist, die Entscheidungen aller Beteiligten zusammen zu analysieren. Indem er 45 9*

Stegmüller. Personelle und statistische Wahrscheinlichkeit. aaO. S. 202.

132

Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

nach der „besten Maxime" für alle sucht — und nicht, wie in der normativen Entscheidungstheorie sonst üblich, nach der optimalen Strategie für einen Einzelnen — entwickelt sich die Entscheidungstheorie zwangsläufig zu einer „Theorie der rationalen Zusammenarbeit", insbesondere innerhalb kleiner, überschaubarer Gruppen. Faßt man außerdem den Begriff „Gruppe" nicht bloß als eine Abgrenzung des Kreises der an der Entscheidung beteiligten Personen auf, sondern als ein soziales Gebilde mit gemeinsamen Werten, Normen und Institutionen, so erweitert sich die Problematik sozialer Alternativenwahl um die Frage nach der „Organisation" der Gruppe, ihrer rationalen Gestaltung. Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß die Gruppe tatsächlich ein gemeinsames Ziel- bzw. Wertsystem besitzt, dem sich jedes Mitglied unterwirft, damit aus individuellen Entscheidungen eine im Sinne der Gemeinschaft optimale Gesamtentscheidung erwachsen kann. Vor der Frage der Organisation der Gruppe liegt demnach die Frage nach dem Zustandekommen ihres kollektiven Wertsystems, oder, entscheidungstheoretisch formuliert, die Frage, mit Hilfe welcher rationalen Mechanismen (sog. Sozialwahlfunktionen) aus individuellen Präferenzordnungen gemeinsame, soziale Wertsysteme gebildet werden. In allen Fällen, in denen in einer Gruppe von Personen nicht jeder als Einzelner, wenn auch vielleicht auf Verabredung mit anderen, eine Entscheidung treffen soll — wie in der Situation rationaler Unbestimmtheit —, sondern die Gruppe als Ganzes aufgefordert ist, zwischen verschiedenen Alternativen zu wählen, gibt es zwei Möglichkeiten, die unterschiedlichen Präferenzordnungen der Beteiligten zu einem gemeinsamen Wertsystem zu vereinigen: Entweder man wägt die jeweils ermittelten, individuellen Präferenzen ihrer Stärke nach gegeneinander ab und versucht, gemeinsame kardinale Skalen zu entwerfen oder man bestimmt ohne Rücksicht auf den jeweiligen Grad der Zustimmung bzw. Ablehnung einen Abstimmungsmodus, bei dem nur Annahme, Ablehnung oder Enthaltung bezüglich einzelner Alternativen möglich ist. Beide Verfahrensweisen haben Nachteile, die Zweifel an der mit ihnen erzielbaren formalen Rationalität sog. Sozialwahlen wecken. In kleinen, durch persönliche Beziehungen verbundenen Gemeinschaften ist die informelle Meinungsabwägung die übliche Form der Feststellung einer gemeinsamen Präferenzordnung; sie wird als Sozialwahlfunktion durch folgende Operationen vollständig bestimmt: (1.) Darstellung der Urteile jedes Individuums über jede Alternative durch einen Individualnutzenindex N^. Sofern Präferenzäußerungen der Gruppenmitglieder über Alternativenpaare (A k , A ^ vorliegen, besteht die Operation in der Festlegung der Nutzendifferenz N k j - N,j für sämtliche Alternativenpaare (also für k = 1, 2, ..., m und 1 = 1 , 2 , ..., m). (2.) Zusammenfassung der durch die Operation 1 definierten und festgestellten N j zu einem Sozialnutzenindex Sj für alle Alternativen A-r Oder eben Zusammenfassung der Nutzendifferenzen N k j - Ny zu sozialen Vergleichsvorteilen für alle Alternativen ( A k , A t ), also zu Urteilen S (A k ) § S ( A ^ 4 0 .

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

133

Die auf diese Weise formulierte Sozialwahlfunktion läßt sich nun im logischen, positiven und normativen Sinn interpretieren; empfiehlt man den Kalkül als Mechanismus kollektiver Entscheidungsfindung, so muß man sich über die immanente Wertung im klaren sein: Da es unmöglich ist, sich in ein anderes Individuum hineinzuversetzen, um dessen Wertempfindungen der Stärke nach mit den eigenen oder denen dritter Personen zu vergleichen, kann solcher „Nutzenvergleich" keine Faktenaussage, sondern nur ein Werturteil sein. Es ist deshalb korrekter, von vornherein nicht von interpersoneller „Vergleichbarkeit" individueller Nutzenmaße zu sprechen, sondern von einer Festsetzung ihrer (angenommenen) sozialen Bedeutung. Aus diesem Grunde müssen bei der Konstruktion kardinaler Nutzenskalen stets soziale Normen zur Festlegung individueller Nutzenmaße aufgestellt werden, welche dann zugleich das Messungsverfahren und den Meßbarkeitsgrad festlegen. Als Operationen, die zu Kardinalskalen führen, kommen in Betracht: Nutzenmessungen mit Hilfe der Präferenzschwellentheorie und probabilistischer Präferenzordnungen, insbesondere Normalkurvenskalierung, und Nutzenmessungen nach der Bernoulli-Regel unter Vorgabe ungewisser Alternativen mit objektiv bekannten Ergebniswahrscheinlichkeiten; die Einzelheiten interessieren hier nicht 4 7 . Da a priori keine Gewißheit besteht, ob die Ergebnisse der verschiedenen Meßverfahren die gleichen sein werden, muß angenommen werden, daß die verschiedenen Verfahrensweisen auch verschiedene, operationale Nutzenbegriffe festlegen, also von verschiedenen sozialen Normen über kollektiv bedeutsame, individuelle Präferenzäußerungen ausgehen. Da ferner individuelle Skalen, wie immer man auch mißt, Intervallskalen sind, die beliebig transformiert werden können, ist eine weitere soziale Norm erforderlich, um sie der oben genannten Operation 2 unterwerfen zu können, eine Norm, welche die individuellen Skalen untereinander „vergleichbar" macht, also gewisse Punkte und/oder Intervalle der individuellen Skalen als gleich, d. h. als sozial gleichgewichtig, bestimmt. Die zusätzlichen, rein konventionellen und nicht immer einleuchtenden Festsetzungen lassen Skalentypen wie die „Differenz-" oder die „Absolute Skala" entstehen, die von der modernen Messungstheorie ansonsten gemieden werden, hier aber die formale Rationalität kollektiver Wahlregeln garantieren sollen 48 . Verlassen wir den Kreis der kleinen Gruppe und fragen wir nach der Bildung gesamtgesellschaftlicher Präferenzordnungen, die geeignet sind, alle möglichen sozialen Zustände nach der Intensität der Erwünschtheit zu ordnen, um sozial optimale, politische Maßnahmen ergreifen zu können, ergeben sich weitere Schwierigkeiten. Unterstellt, die Befragungsmethoden moderner Meinungsforschung gestatten es, das Befriedigungsniveau einer jeden Person eines großen, 46

Vgl. Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S.

414ff. 47 48

Vgl. im einzelnen Gäfgen aaO. S. 256ff., 266ff. Zur Problematik im einzelnen vgl. Gäfgen aaO. S. 444 ff.

134

Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

gesellschaftlichen Verbandes, welches diese im Hinblick auf einen zur Diskussion stehenden, sozialen Zustand empfindet, verläßlich festzustellen, so könnte bei Zugrundelegung einer für alle gleichen Skala, die einen interpersonellen „Nutzenvergleich" (im oben interpretierten Sinne) ermöglicht, für jeden sozialen Zustand die durchschnittliche Beurteilung durch den betroffenen Personenkreis ermittelt werden. Sieht man einmal davon ab, daß die verschiedenen Arten von Meßverfahren, die angeboten werden, zu verschiedenen Ergebnissen führen können, so ist es doch recht zweifelhaft, ob die auf solche Weise ermittelte Augenblicksmeinung eines bestimmten Teils der Gesellschaft (oder auch aller) in einer bestimmten politischen Situation wirklich als die „eigentliche" Meinung gelten kann. Das Befriedigungsniveau der befragten Einzelpersonen hängt ja nicht nur von mehr oder weniger zufalligen Stimmungen und dem Informationsstand ab, sondern ist auch vielfaltigen Beeinflussungen ausgesetzt, ohne daß die Gesetze der Änderung individueller Präferenzen bekannt wären. Zwischen Wort und Tat klafft eine Lücke, die keine noch so sorgfaltige Analyse politischen oder wirtschaftlichen Verhaltens bislang füllen konnte; wer eine Absicht äußert, etwas Bestimmtes zu tun, handelt (noch) nicht und kann seine Absicht jederzeit wieder ändern. So könnte es durchaus sein, daß die auf diese Weise ausgewählten „optimalen" Alternativen nach ihrer Durchführung ganz anders beurteilt werden als vorher, während umgekehrt gegen (angebliche) soziale Präferenzen ergriffene Alternativen später breite Zustimmung finden. Von ihren materialen Voraussetzungen her betrachtet, entpuppt sich Sozialwahltheorie in dieser Form als Fortsetzung der angelsächsischen Tradition des Utilitarismus, als eine Art formalisierter Sozialphilosophie mit allen Implikationen, die diese philosophische Denkrichtung kennzeichnen49. Hält man die Bildung einer konsistenten, sozialen Präferenzordnung durch Zusammenfassung kardinaler Individuaiskaien nicht für akzeptabel oder für schwer durchführbar, bleibt nur die zweite Möglichkeit, durch einen Abstimmungsmodus, ζ. B. ein einfaches oder qualifiziertes Mehrheitsprinzip, die Vorzugswürdigkeit einzelner Handlungsalternativen festzulegen 50. Abstimmungen nach Majoritätsregeln beruhen auf ordinalen, individuellen Präferenzen und ergeben, wie ohne weiteres einsichtig ist, nicht die gleiche, soziale Präferenzordnung wie die Anwendung der Präferenzstärkeregeln; sie haben den großen Nachteil, daß sie bei Auswahl unter mehr als zwei Alternativen zu zirkulären Ergebnissen und damit zu intransitiven, sozialen Wertordnungen führen können, wie man seit dem berühmten Abstimmungsparadoxon von Condor cet weiß 51 . Es läßt sich nämlich zeigen, daß aus den Mehrheitsentschei49

Vgl. zur philosophischen Kritik etwa Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werke. Hrsg. v. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. VI. S. 130ff.; derselbe: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, ebda. S. 18 ff., 47ff.; Bergmann: Über den Utilitarismus. 1883; Busse: Zur Beurteilung des Utilitarismus. Zeitschr.f. Philosophie. Bd. 105. S. 161 ff. 50 Das Prinzip der Einstimmigkeit kommt von vornherein nicht in Betracht, weil es immer nur zu partiellen, kollektiven Wertordnungen führt. Vgl. Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 421 ff.

II. Formale Rationalität des Zweckhandelns

135

düngen einer Gruppe, selbst wenn jede abstimmungsberechtigte Person eine völlig konsistente, ordinale Präferenzordnung besitzen sollte, jede beliebige zirkuläre und paradoxe Wertordnung der Gesamtheit hergeleitet werden kann 5 2 . Bei Mehrheitsentscheidungen im täglichen Leben pflegt das Abstimmungsparadoxon meist nicht sogleich offenbar zu werden, weil nur selten eine vollständige Rangordnung der Alternativen entworfen und gewöhnlich nur über zwei konkurrierende Alternativen abgestimmt wird, wobei die obsiegende anschließend weiteren Alternativen gegenübertritt. Ist das Urteil der Mehrheit intransitiv, so hängt das Ergebnis des Entscheidungsprozesses letztlich von der Reihenfolge ab, in welcher die einzelnen Alternativen zur Wahl gestellt werden, weil die jeweils unterliegende Alternative im weiteren Verlauf der Willensbildung keine Rolle mehr spielt; dies erklärt den häufig in Gremien zu beobachtenden Kampf um die „richtige" Tagesordnung. Auch ohne intransitive Präferenzen der Mehrheit erlauben Majoritätsregeln wahltaktisches Verhalten: So kann es ζ. B. für einen Abstimmungsberechtigten vorteilhaft sein, die eigenen Präferenzen auf Grund der Kenntnis der Präferenzen der anderen Gruppenmitglieder zu verleugnen, um am Ende ein Abstimmungsergebnis zu erreichen, das der eigenen Wertvorstellung am ehesten entspricht. Obwohl gerade die Politikwissenschaft an der Aufklärung solcher Verfahrensabläufe in Gruppen interessiert sein müßte, ist brauchbares Wissen über mögliche Präferenzstrukturen bei mehrheitlicher Willensbildung bislang nur spärlich vorhanden. Fest steht allerdings, daß Sozialwahlfunktionen, die auf ordinalen Individualpräferenzen aufbauen, eine Reihe von Bedingungen, welche die Rationalität der Alternativenwahl begründen, nicht zur gleichen Zeit erfüllen können 53 . Solange man die Varietät der individuellen Präferenzordnungen nicht einschneidenden Beschränkungen unterwirft, kann es keine soziale Präferenzordnung auf der Menge verschiedener, möglicher, sozialer Status geben, jedenfalls keine, die in intuitiv vernünftiger Weise — und dies ist das Ziel aller entscheidungstheoretischen Bemühungen — die Präferenzordnungen der einzelnen Gruppenmitglieder im Hinblick auf diese Menge vereint 54 . 51

Condorcet : Essai sur l'application de l'analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix. Paris 1785. 52 Vgl. McGarvey : A Theorem on the Construction of Voting Paradoxes. In: Econometrica Bd. 21. 1953. S. 608 — 610; Krelle : Präferenz- und Entscheidungstheorie. Tübingen 1968. S. 94f. 53 Sog. „General Possibility Theorem", das in Wirklichkeit ein Unmöglichkeitstheorem ist und auf eine berühmte Arbeit von Arrow: Social Choice and Individual Values. New York/London 1951. S. 31 ff. (verbessert in der 2. Aufl. 1963. S. 96ff.) zurückgeht. Ferner: Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 429 ff. 54 Vgl. Black : The theory of committees and elections. Cambridge 1958; derselbe: The decision of a committee using a special majority. In Econometrica. Bd. 16.1948. S. 245 ff.; derselbe : The elasticity of committee decisions with an altering size of majority. In: Econometrica. Bd. 16.1948. S. 262 ff.; May : A set of independent, necessary and sufficient conditions for simple majority decisions. In: Econometrica. Bd. 20. 1952. S. 680 ff. mit Zusatz in Bd. 21. 1953. S. 172f.

136

Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

12. Verdienste

der Entscheidungslogik

und unerfüllbare

Erwartungen

Blicken wir noch einmal auf die Entwicklung zurück, die teleologisches Denken im modernen Wissenschaftsverständnis genommen hat, so sind als wesentlich folgende Einsichten festzuhalten: Zentrales Problem zweckorientierten Verhaltens ist für die moderne Entscheidungstheorie das Auffinden und Ausarbeiten von Kriterien für die rationale Wahl optimaler Handlungsalternativen in Entscheidungslagen hinsichtlich vorgegebener (subjektiver) Ziele. Als Grundmodell dient dabei die Wahlsituation, in der einem Individuum (oder einer Gruppe von Individuen) verschiedene Handlungsweisen mit unterschiedlichen Folgen zur Auswahl offenstehen, ohne daß der Entscheidende in der Lage wäre, eine vollständige Kontrolle über die Faktoren auszuüben, die wahrscheinlich die Folgen der Wahl und damit das Ergebnis bestimmen werden. Obwohl vorausgesetzt wird, daß dem Entscheidenden immer eine Ergebnisfunktion, d.h. die Abhängigkeit der möglichen Ergebnisse von den möglichen Handlungsweisen und von den möglichen Zuständen der für die Entscheidungssituation relevanten Umwelt, ermittelt und mitgeteilt werden kann, hängt die Rationalität der Wahl entscheidend vom subjektiven Informationsstand des Handelnden bzw. den jeweiligen Kosten weiterer Informationsgewinnung bezüglich des tatsächlichen Zustandes der Umwelt ab. Die selbstgestellte Aufgabe der normativen Entscheidungstheorie, Kriterien für eine rationale Wahl zwischen Handlungsalternativen festzulegen, erfordert demnach zu ihrer Lösung eine Präzisierung des naiven Rationalitätsbegriffs; sie führt zwangsläufig zurück zu einem speziellen Problem der praktischen Philosophie, nämlich zu der Frage, was es eigentlich heißen soll, in bestimmten Situationen als praktisch Vernünftiger zu handeln. Die Wahl einer im beliebigen Sinne „optimalen" von mehreren möglichen Handlungsweisen wird sich stets an den zu erwartenden Folgen ausrichten; die Angabe eines Entscheidungskriteriums setzt also eine Bewertung voraus, d. h. die Bildung einer Präferenzordnung innerhalb der Menge aller erwarteten Ergebnisse. Ein möglicher, genereller Imperativ, der eine Bewertung der Handlungsfolgen erlaubt und entscheidungstheoretisch als Rationalitätskriterium interpretiert werden kann, ist der in den Wirtschaftswissenschaften herrschende Grundsatz der Nutzenmaximierung. Als allgemeine Handlungsanweisung formuliert, fordert er vom wirtschaftlich Denkenden, immer diejenige Alternative zu wählen, die zu einer Maximierung des Nutzens führt. Da der Grundsatz nur in Situationen sinnvoll anwendbar ist, in denen dem Handelnden alle für die Handlungsfolgen relevanten Umweltbedingungen bekannt sind, wird er in Risiko- und Ungewißheitslagen durch den Grundsatz der Maximierung der Nutzenerwartung ersetzt. Dieser Grundsatz wiederum, der auf D. Bernoulli 55 zurückgeht und sich aus einer Kombination von Nutzen- und 55

Bernoulli'. Specimen theoriae novae de mensura sortis. Comm. Acad.Sci. imper. Petropolitanae. Bd. 5. 1738. S. 175 — 192. Deutsche Übersetzung in Pringsheim (Hrsg.): Die Grundlage der modernen Wertlehre: Daniel Bernoulli, Versuch einer neuen Theorie der Wertbestimmung von Glücksfallen. Leipzig 1896.

. Formale Rationalität des Zweckhandelns

137

Wahrscheinlichkeitstheorie ergibt, setzt als allgemeine Handlungsmaxime voraus, daß dem Handelnden zumindest subjektiv eine Wahrscheinlichkeitsfunktion für die möglichen, entscheidungserheblichen Zustände der Umwelt und eine Nutzenfunktion für die möglichen Ergebnisse bekannt sind. Rational im Sinne dieser theoretischen Konzeption ist eine Entscheidung dann, wenn die gewählte Handlungsalternative zu einer Maximierung der Nutzenerwartung führt. Andere, schwächere Kriterien für Ungewißheitslagen formulieren die Spieltheorie und die statistische Entscheidungstheorie, insofern sie nicht von der Existenz einer Wahrscheinlichkeitsfunktion ausgehen. Die Kritik an den verschiedenen Ausformungen entscheidungstheoretischen Bemühens entzündet sich vor allem an dem ungelösten Problem der praktischen Umsetzung logischer Entwürfe in Handlungsvollzüge, weil einerseits die Anforderungen, die an die Informations- und Denkleistung des Entscheidenden gestellt werden, in vielen Fällen kaum zu erfüllen sind, andererseits die realen Handlungszusammenhänge viel zu komplex und weit verzweigt erscheinen, als daß man sie mit Erfolg in formalisierte Kalküle zwängen könnte. Darüber hinaus muß es Bedenken wecken, wenn eine Theorie sich für beliebige, reale Problemstellungen anbietet und die Rationalität der Entscheidung immer nur formal expliziert, ohne sich im geringsten an der Beliebigkeit und Willkür inhaltlicher Zielsetzungen zu stören. Jedenfalls wird man den gegen die Entscheidungstheorie erhobenen Vorwurf, ein rein technologisches Erkenntnisinteresse zu verfolgen und durch ihren instrumentalen Charakter bestehende Herrschaftsverhältnisse zu verfestigen, bei Erwägungen, inwieweit sie im Bereich teleologischer Rechtsinterpretation und juristischer Entscheidungsbegründung herangezogen werden kann, nicht aus dem Auge verlieren dürfen. Es wäre ein Fehler, einem rein instrumentalen Verständnis des Rechts als Mittel beliebiger politischer Zielsetzungen nachzugeben, bevor nicht auch die letzte Möglichkeit, Recht als materialen Wert zur Geltung zu bringen, ausgeschöpft ist. Befreit man sich allerdings von dem Glauben, mit der Entscheidungstheorie eine Technologie nicht hinterfragungsbedürftiger, theoretischer Vernunft gewonnen zu haben, die stets zu logisch eindeutigen Konzeptionen und im voraus bestimmbaren, bestmöglichen Erfolgen verhilft, so wird man andererseits trotz des Rechtfertigungsdilemmas, der sichtbar gewordenen Vielfalt möglicher, axiomatischer Begründungen und ihrer teilweisen Unvereinbarkeit ihre Verdienste bei der Aufklärung logischer Strukturen aus Prämissen begründeter Entscheidungen nicht schmälern wollen. Daß Prämissen stets von anderen Prämissen abhängen oder aus ihnen ableitbar sind, ist kein Nachteil, solange die Diskussion darüber nicht abgeschnitten und die logischen Implikationen von Axiomen sowie der instrumentelle Wert (oder auch Unwert) zunächst gesetzter Ziele für die Erreichung anderer Ziele, insbesondere übergeordneter Gemeinwohlziele, offengelegt werden. So betrachtet, ist Entscheidungstheorie eine vorzügliche Technik der rational-wissenschaftlichen Kommunikation, weil sie ihre Benutzer zwingt, logisch einwandfrei zu argumentieren, bestreitbare

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Voraussetzungen anzugeben und nur Pläne vorzuschlagen, bei denen die Bedingungen erwarteter Erfolge für alle Beteiligten durchschaubar sind. I I I . Die ethische Problematik materialer Orientierung des Zweckhandelns 1. Ethischer Emotivismus Wenn Entscheidungstheoretiker lediglich formale Überlegungen hinsichtlich der Zielverwirklichung durch Auswahl am besten geeigneter Handlungsalternativen als Mittel anstellen, ohne sich auf den Inhalt von Nutzen- oder Präferenzordnungen einzulassen, so hat dies einen guten Grund: Es stehen der Ermittlung beträchtliche Schwierigkeiten entgegen, einmal, weil die Vorstellungen darüber, was vorzuziehen sei, offensichtlich von Person zu Person verschieden und einem ständigen Wandel unterworfen sind, zum anderen, weil allgemeine, kulturinvariante Begehrungen, wie sie sich anthropologisch aus der körperlich-geistigen Struktur des Menschen ergeben oder soziologisch für eine möglichst große Zahl von Personen innerhalb einer Gesellschaft zutreffen, über gewisse menschliche Grundbedürfnisse und systemstabilisierende, soziale Grundstrukturen hinaus nicht konsensfähig zu bestimmen sind. Ja, es ist von Anhängern der Analytischen Philosophie in der ethischen Diskussion gar die Auffassung vertreten worden, materiale Aussagen über Werte seien überhaupt keine beschreibenden Aussagen, deren charakteristische, sprachliche Bedeutung kognitiv erkenntnismäßiger Art ist und die, wie etwa der Satz: „ K ö l n hat eine Million Einwohner", Informationen vermitteln, die wahr oder falsch sein können; die sprachliche Bedeutung materialer Wertaussagen sei vielmehr im wesentlichen gefühlsmäßig „emotional" oder Vorstellungen erweckend „evokativ" zu verstehen 1. Die ästhetisch-wertende Aussage beispielsweise: „Dieses Bild ist schön" teile sprachlich nichts über das Bild mit, sondern drücke lediglich die positive, ästhetische Einstellung des Urteilenden zum Bild aus, vergleichbar dem Ausruf: „Wie schön!" Und die moralische Aussage: „Stehlen ist Unrecht" sage nichts über den Diebstahl als Phänomen der sozialen Welt aus, sondern enthalte den moralischen Appell, nicht zu stehlen2. Materiale Wertaussagen seien daher ebensowenig wahr oder falsch wie Ausrufe oder Imperative; wer Werturteile 1 Vgl. ζ. B. Stevenson: Ethics and Language. New Haven/Conn. 1944. 12. Aufl. 1968, insbes. S. 222 f.; Ayer: Language, Truth and Logic. 1936.17. Aufl. 1967. Deutsch: Sprache, Wahrheit und Logik. Stuttgart 1970. S. 30f., 141 ff., 146ff.; dazu Kraft: Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre. (1937). 2. Aufl. Wien 1951. S. 199ff.; Pieper. Pragmatische und ethische Normbegründung. Freiburg/München 1979. S. 67ff., 86ff. 2

Nach Podlech: Wertungen und Werte im Recht. In: AöR. 95. Bd. 1970. S. 185 ff. (198) ist auch das Urteil, ein bestimmtes Verhalten oder Geschäft sei „sittenwidrig", ein emotional-intensiver Ausdruck. Ebenso meinte Ross, wenn jemand behaupte, daß ein Steuersystem „ungerecht" sei, gebe er keine erkennbare Eigenschaft ail, sondern eine emotionelle Haltung kund. Sich aufwerte berufen, sei dasselbe wie „mit der Faust auf den Tisch schlagen." Vgl. Ross: On Law and Justice. London 1959. S. 268 ff., 274.

. Die ethische Problematik des Zweckhandelns

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ausspreche, wolle eigene moralische Vorstellungen ausdrücken oder anderen bestimmte Verhaltensweisen vorschreiben oder anraten, nicht aber objektive Sachverhalte mitteilen. Deshalb seien Wertaussagen, sofern sie Bedeutung besäßen, gewöhnliche, wissenschaftliche Aussagen, die nicht der Ethik, sondern der Psychologie und Soziologie zugerechnet werden müßten, und, sofern sie keine besäßen, einfach Gefühlsausdrücke, die als Gegenstand einer rational verfahrenden Wissenschaft nicht in Betracht kämen. Die sprachliche Bedeutung von Wertprädikaten wie „schön" oder „schlecht" sei nicht durch feste, objektive und allgemeine Kriterien festgelegt, vielmehr verwende man sie, je nach ästhetischem oder moralischem Standort, in verschiedenen und oft miteinander unverträglichen Weisen, so daß sie mangels objektiven Inhalts zu Mitteilungszwecken ungeeignet seien; ohne einen intersubjektiver Kontrolle zugänglichen Maßstab für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit seien Wertaussagen objektiv nicht begründbar. Ähnliche Bedeutungsanalysen hat man in der Analytischen Philosophie auch für Normaussagen durchgeführt. Wäre diese Auffassung richtig, könnte es eine materiale Rationalität des Zweckhandelns nicht geben, wäre die Zielsetzung der Rechtswissenschaft, Rechtspraxis bei der Verwirklichung einer gerechten und zweckmäßigen Gesellschafts- und Lebensordnung zu unterstützen und anzuleiten, verfehlt. Denn Wissenschaft ist auf Erkenntnis gerichtet und diese kann nur historisch oder rational sein; historische Erkenntnis setzt voraus, daß Zweck- oder Wertaussagen (normative und axiologische Sätze) sich nicht nur auf Tatsachen beziehen, sondern Tatsachen in indikativischer (nicht imperativischer) Form ausdrücken, daß sie beschrieben, gesammelt, als richtig begründet und als falsch widerlegt werden können wie andere empirische (psychische oder soziologische) Daten auch; rationale Erkenntnis wiederum ist nur möglich, wenn Zweck- und Wertaussagen sich als folgerichtig logisch rechtfertigen und nach allgemeinen Prinzipien — mit dem (idealen) Ziel der Vollständigkeit — systematisieren lassen, wenn sie wissenschaftlicher Diskussion und theoretischer Verarbeitung zugänglich sind; beides wird von den Anhängern der emotiven Moraltheorie bestritten 3 . Zunächst einmal ist darauf aufmerksam zu machen, daß man auch bei anderen beschreibenden Sätzen emotionale oder evokative Bedeutungskomponenten feststellen kann, so daß aus ihrem Vorhandensein allein noch nicht geschlossen werden darf, Wert und Normaussagen hätten keinen kognitiven Charakter. Aus der Absicht, mit der ein Satz in einer gewissen sprachlichen Situation geäußert wird, ergibt sich keineswegs ohne weiteres zugleich seine objektive Bedeutung, auch wenn nicht zu leugnen ist, daß Gebrauch und Bedeutung sprachlicher Ausdrücke eng miteinander verknüpft sind. Überdies werden viele Wert- und Normaussagen ausschließlich in der Absicht gemacht, 3 Vgl. ν . Savigny: Die Philosophie der normalen Sprache. Frankfurt a. M. 1969. Kap. 4 m. weit. Nachw.; zum Folgenden auch v. Kutscher a: Einführung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen. Freiburg/München 1973. S. 127ff.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Tatsachen mitzuteilen und den Kommunikationspartner zu informieren. Wer beispielsweise einem ortsunkundigen Autofahrer den Weg zu einem Ziel beschreibt und dabei äußert: „ A n der nächsten Kreuzung dürfen Sie nicht links abbiegen!", spricht weder ein Verbot aus noch fordert er zu irgendeinem Verhalten auf, sondern macht lediglich auf eine Verkehrsregelung aufmerksam. Aus diesem Grunde ist auch die Behauptung nicht richtig, Wert- und Normurteile setzten anders als gewöhnliche Propositionen 4 nicht über die Erscheinungen der Erfahrungswelt in Kenntnis. Wer als Meteorologe über das Wetter in den kommenden Tagen oder als Physiker über den Ablauf eines Versuches Aussagen macht, teilt auch nichts über die Phänomene als solche mit, sondern nur über diesbezügliche Wahrscheinlichkeitsannahmen oder theoretische Hypothesen, die wahr oder falsch sein können. Nicht anders verhält es sich bei wertenden Aussagen, nur daß Hypothesen über Werte, sofern sie nicht lediglich subjektive Wertordnungen einzelner Entscheidungsträger (Personen oder Personengruppen) beschreiben, nicht auf die gleiche Weise gerechtfertigt oder widerlegt werden können wie naturwissenschaftliche Hypothesen, die im übrigen ja auch nicht empirisch verifizierbar, sondern nur falsifizierbar sind 5 . Ob aber Wissenschaft wirklich nur auf die eine (naturwissenschaftliche) Art begründen und rechtfertigen darf, wie die Anhänger des Methodenmonismus behaupten, kann nach den erkenntnistheoretischen Ausführungen des ersten Abschnitts füglich bezweifelt werden. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt man, wenn man empirische Prädikate wie „groß", „klein" oder „hart" mit Wertprädikaten wie „gut" oder „schön" vergleicht. Wertprädikate sind immer abhängig vom jeweiligen Kontext und in diesem Sinne relativ; man kann sie in der Tat in sehr verschiedener Weise gebrauchen. Ein „gutes Geschäft" ist zweifellos anders zu verstehen als ein „guter Freund" oder ein „gutes Urteil" und ein und dasselbe Ereignis oder Ding kann in einer Hinsicht gut und in einer anderen schlecht sein. Doch ist auch dies wiederum keine Besonderheit, die sich nur bei Wertprädikaten beobachten ließe; wie wir schon beim Skalendilemma gesehen haben, sind auch empirische Prädikate wie „groß" oder „klein", „heiß" oder „kalt" relativ und abhängig vom Kontext. So wie sich Wertprädikate auf bestimmte subjektive oder objektive Wertsysteme beziehen — eine Handlungsweise, die in einer bestimmten, zeitlich oder räumlich begrenzten Kultur als moralisch gut bewertet wird, kann in einer anderen als moralisch minderwertig gelten — so beziehen sich auch empirische 4 „Proposition" ist der linguistische Terminus für Sätze nicht im Hinblick auf ihre grammatische Form, sondern ihren Informationsgehalt, für logisch strukturierte im Vergleich zu nur grammatisch strukturierten Sätzen. Für Ayer aaO. ist eine „Proposition" eine Klasse von Sätzen, die eine deflatorische, auf den Inhalt der Begriffe gerichtete, intensionale (nicht auf den Umfang der Begriffe gerichtete, extensionale) Bedeutung haben. Vgl. Stegmüller. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. I (Wissenschaftliche Erklärung und Begründung). Berlin/ Heidelberg/New York 1974. S. 56 ff. 5

Dies verkennt Ayer aaO. S. 140/141. Vgl. dazu unten S. 293 ff.

III. Die ethische Problematik des Zweckhandelns

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Prädikate auf bestimmte Systeme oder Theorien: ζ. B. ist das Maß 10 kp, das ein Feldstein wiegt, bezogen auf ein bestimmtes Gravitationsfeld. Hinzu kommt, daß sprachlich zwischen rein empirischen Prädikaten und ausgesprochenen Wertprädikaten eine Vielzahl von Übergängen besteht, weil viele Prädikate sowohl empirischen wie wertenden Charakter haben, wobei die Betonung das eine M a l auf der einen und das andere Mal auf der anderen Bedeutung liegt. Ja, man kann sogar sagen, daß in der Alltagssprache rein wertende oder rein empirische Begriffe die Ausnahme sind, weil positive oder negative Einstellungen zu bestimmten Dingen oder Ereignissen sowohl durch wertende als auch durch empirische Begriffe ausgedrückt werden können. So enthalten empirische Prädikate wie „demokratisch", „geprüft" oder auch „kalt", „dunkel", „eng" im jeweiligen Kontext regelmäßig eine positive oder negative Wertung des beschriebenen Zustandes. 2. Die Begründung von Wert- und Normaussagen Bei dem Problem der Begründbarkeit von Wert- und Normaussagen, das uns auch unter anderen Aspekten noch begegnen wird, müssen grundsätzlich drei verschiedene Tatbestände auseinandergehalten werden: Soweit es um die Frage der Beschaffenheit eines Wert- oder Normensystems geht, also etwa um die Frage, ob in einer bestimmten Gesellschaft einer bestimmten geschichtlichen Epoche gewisse soziale oder rechtliche Normen gegolten haben oder nicht, ob dem Verhalten einer bestimmten Person oder Personengruppe (Gremium) gewisse subjektive Wertvorstellungen zugrunde liegen, inwieweit aus den Verhaltensweisen oder Präferenzen eines Individuums oder einer gesellschaftlichen Gruppe auf leitende Wertvorstellungen der Gesamtgesellschaft geschlossen werden kann, handelt es sich um empirische Fragen, auf die durch deskriptive, empirische und historische Untersuchungen in gleicher Weise eine Antwort zu suchen ist wie auf andere historische und soziologische Fragestellungen. Die Ergebnisse unterliegen den gleichen erkenntnistheoretischen und methodologischen Bedenken wie andere „wissenschaftliche" Ergebnisse der Geschichts- bzw. der Gesellschaftswissenschaften. Soweit es dagegen um die Frage der Geltung von Werten und Normen geht, müssen wir zwischen relativen und absoluten Geltungsfragen unterscheiden. Läßt sich die Bewertung von Zwecken, Zuständen oder Sachen bzw. die Geltung von Geboten oder Verboten explizit oder auch nur implizit auf ein konsistentes, subjektives oder objektives Wert- oder Normsystem beziehen, das unbestritten gilt und also vorausgesetzt werden kann, und erhebt sich die Frage, ob der problematisierte Wert oder die problematisierte Norm in diesem System gilt oder nicht und wie er sich zu anderen Werten und Normen verhält, so handelt es sich um eine Frage der relativen Geltung, die sich auf andere logische und empirische Fragen zurückführen läßt und also mit wissenschaftlichen Mitteln behandelt werden kann. Fragen der relativen Geltung von Normen sind das Hauptarbeitsfeld der Rechtswissenschaft in „normalen Zeiten", in denen die tragenden Prinzipien

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

und grundlegenden Werte einer Rechtsordnung außer Diskussion stehen. Ist dies nicht der Fall, so stoßen wir auf den dritten und schwierigsten Problembereich, nämlich die Frage nach der Gültigkeit von Werten und der Verbindlichkeit von Normen überhaupt. Absolute Geltungsfragen gehören in das Arbeitsgebiet der philosophischen Disziplin Ethik, die sich seit alters her nicht so sehr um die Begründung einzelner Wertsätze auf der Basis eines vorgegebenen Wertsystems als vielmehr um die Begründung des Wertsystems selbst bemüht hat. Aus dem Umstand, daß die Bemühungen bis heute zu keinem endgültigen Ergebnis geführt haben, wird falschlich der Schluß gezogen, daß es keine Begründungen geben kann und Werturteile demnach nicht zum Kreis deskriptiver, wissenschaftlicher Sätze zu zählen sind. Dieser Schluß ist deshalb unzutreffend, weil, wie wir gesehen haben, aus prinzipiellen, erkenntnistheoretischen Gründen auf keinem wissenschaftlichen Gebiet endgültige Ergebnisse zu erwarten sind. Auch im empirischen Bereich können Systeme, Theorien, Gesetzmäßigkeiten nur solange uneingeschränkt Geltung beanspruchen, solange sie nicht durch neue, bessere Systeme, Theorien und Erklärungsprinzipien bedrängt oder auch verdrängt werden, was jederzeit möglich ist. Auch im empirischen Bereich werden die meisten theoretischen Sätze dadurch begründet, daß sie aus anderen theoretischen Sätzen abgeleitet werden, was freilich nur überzeugt, wenn die zugrunde gelegten Sätze als richtig akzeptiert, zumindest aber als unproblematisch anerkannt sind. Andernfalls muß weiter zurückgegriffen werden, bis der Begründungsprozeß an den Punkt gelangt, wo er aus praktischen Gründen abgebrochen werden muß, weil er in einen unendlichen Regreß mündet. Wie aber sollen theoretische Sätze begründet werden, die als Basis relativer Begründungen anderer theoretischer Sätze dienen können, wenn unmittelbare Beobachtungen, die von den Empiristen als letzte Grundlage in Anspruch genommen werden, nicht unveränderliche „Tatsachen" erbringen, sondern — wie wir im ersten Abschnitt zu zeigen versucht haben — theoriegeprägte „Tathandlungen" sind6? Wissenschaftstheoretisch betrachtet, ist das Problem der Grundnorm, des obersten Zweckes oder Wertes also kein spezifisches, geisteswissenschaftliches Problem der Letztbegründung, sondern ein allgemeines Problem wissenschaftlicher Methodologie. Dem Trilemma: infiniter Regreß, Abbruch des Begründungsverfahrens oder logischer Zirkel kann die endliche Vernunft prinzipiell auf keinem Wissensgebiet entkommen. So erscheint es vorderhand akzeptabel, wenn Geisteswissenschaft, insbesondere Norm- und Handlungswissenschaft, von der Gültigkeit einer absoluten, wenngleich als Ganzes unerkennbaren Wertordnung ausgeht — so wie ja auch Naturwissenschaft eine absolute, unerkennbare Seinsordnung als regulative Idee voraussetzt 7 — und Teile davon in systematischer Arbeit, wiederum durchaus in Parallele zur empirischen 6 Vgl. z.B. Bohnen: Zur Kritik des modernen Empirismus. Beobachtungssprache, Beobachtungstatsachen und Theorien. In: Albert (Hrsg): Theorie und Realität. 2. Aufl. Tübingen 1972. S. 171 ff. 7 Siehe oben S. 89 bei Anm. 50.

III. Die ethische Problematik des Zweckhandelns

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Erkenntnis, zu begründen versucht. Damit wird nicht etwa eine göttliche Ordnung ins Spiel gebracht und ihre inhaltliche Beschreibung mit theologischen oder metaphysischen Begriffen erstrebt, sondern lediglich eine letzte, von allem Tatsächlichen verschiedene Instanz des Guten und Richtigen vorausgesetzt, die es als Idee ermöglicht, allem faktisch Gegebenen ein Moment des Aufgegebenen, Gesollten, entgegenzusetzen, ebensowohl die Differenz zwischen Sein und Sollen, de facto- und de iure-Geltung und deren Zusammenhang als auch die uneingeschränkte Verbindlichkeit geltend zu machen, unter der alles menschliche Handeln, privat wie sozial, steht. Gewiß ist der Zusammenhang zwischen individuellen Wertempfindungen und den Aussagen verschiedener, sittlicher Wertsysteme kompliziert, aber auch der Zusammenhang zwischen Sinnesempfindungen, auf denen die Evidenz der Aussagen naturwissenschaftlicher Theorien beruht, und den Tatsachen, die von diesen empirischen Aussagen ausgedrückt werden, ist höchst kompliziert und von vielen konstruktiven, schöpferischen Elementen durchsetzt, so daß es nicht nur eine Pluralität der Wert-, sondern ebenso der Weltsichten gibt. Im übrigen sind individuelle Wertempfindungen ebensowenig ein notwendiges oder auch nur hinreichendes Wahrheitskriterium für ein objektives Wertsystem wie Sinnesempfindungen für eine empirische Theorie, wie andererseits die Bezugnahme auf Wert- bzw. Sinnesempfindungen nicht zur Folge hat, daß Erfahrung allein im subjektiven Sinne verstanden und zwischen objektiven und subjektiven Wert- bzw. Tatsachenfeststellungen nicht unterschieden werden könnte 8 . Stellt ein naturwissenschaftliches Weltbild den Versuch einer möglichst umfassenden Ordnung und Interpretation der empirischen Erfahrung eines Zeitalters dar, so ist ein Wertsystem, das seiner Zielsetzung nach allgemein gültig sein will, als der Versuch anzusehen, die im Laufe der Geschichte gewonnenen Werterfahrungen und auf diese Erfahrungen bezogenen Lebensformen bzw. Verhaltensweisen einer Kulturepoche in eine systematische Ordnung zu bringen 9 . Der Umstand, daß eine rein deskriptive, sprachanalytische Metatheorie kein Kriterium zu liefern vermag, mit dessen Hilfe sittliche Wert- und Normaussagen von nicht-sittlichen unterschieden werden können (ζ. B. Gütestandards für Gebrauchsartikel, Kochrezepte, militärische Befehle, ärztliche Hygiene-Vorschriften), macht unabweisbar klar, daß eine philosophische Meta-Ethik, die sich als kritische Theorie sprachlicher Formen ethischer Aussagen begreift, nur dann einen Sinn erhält, wenn sie auf einer ethische Aussagen nicht nur beschreibenden, sondern begründenden und rechtfertigenden Theorie aufbaut. Ebensowenig wie der Versuch einer empirischen Erklärung der Wirklichkeit (quaestio facti) erkenntnistheoretisch dem Problem der Realität angemessen ist, solange die Bestimmung dessen, was Wirklichkeit eigentlich heißt (quaestio iuris), noch aussteht, ebensowenig ist eine sprachlogische Erklärung ethischer 8 Zum Problem der Evidenz vgl. Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft. 2. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1969. S. Iff., 162ff. 9 Ähnlich v. Kutschera: Einführung in die Logik der Normen, Werte, Entscheidungen. Freiburg/München 1973. S. 133 f.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Phänomene der Idee der Sittlichkeit gemäß, bevor ein Begriff der Ethik, welcher in der Gesamtheit normativer und axiologischer Sätze die eigentlich sittlichen bestimmen hilft, ermittelt ist 1 0 . Ethische Kritik an Vorhandenem äußert sich in Werturteilen über einzelne Zwecksetzungen und an ihnen ausgerichteten Handlungen, über Handlungsregeln (also Gesetze, Sitten, Institutionen) oder als gesamtgesellschaftliche Kritik in Urteilen über Normensysteme. Kritische Urteile in diesem Sinne sind gewiß keine kognitiven Urteile im üblichen (naturwissenschaftlichen) Verständnis — sie dienen nicht der Vermehrung des Wissens, sondern der Verbesserung des Handelns — immerhin geht es bei ihnen, wenn auch nicht um Einsicht in Dinge oder Dingsysteme, so doch um eine Einsicht in Zweck-, Wert- und Normzusammenhänge. Gleichgültig, ob solche Urteile nun im Einzelfall begründet erscheinen oder nicht, legitimieren sie sich alle durch Bezug auf eine objektive Instanz des Guten und Gerechten, welche einerseits vom Gegebenen verschieden, andererseits für das Gegebene verbindlich gedacht wird. Wer menschliches Verhalten und politische Ordnung nicht als unüberprüfbar hinnimmt, sondern kritisch auf ihre Richtigkeit befragt, setzt sowohl willkürliche Steuerbarkeit menschlicher Praxis (im Gegensatz zum umweit- und instinktgebundenen Tierreich) als auch objektive Wertmaßstäbe voraus, welche im Wege rationaler Argumentation für jedermann einsichtig als verpflichtende Regeln des Handelns begründet werden können. Das bedeutet nicht, daß im Ergebnis praktische Urteile immer oder auch nur meistens rational begründet sind, sondern nur, daß prinzipiell die Möglichkeit dazu besteht und sich, wie in den Naturwissenschaften, auch in Ethik, Politik und Recht methodisch über einen geregelten, dialektischen Verständigungsprozeß allmählich Fortschritte erzielen lassen. Der Jahrtausende alte Streit der Ethiker kreist immer von neuem um die Frage, ob es letzte, objektive, transsubjektiv oder wenigstens intersubjektiv begründbare Werte gibt oder nicht, und wenn ja, worauf sie zu stützen sind 1 1 .

10 Vgl. zur Kritik Albert: Ethik und Metaethik. Das Dilemma der analytischen Moralphilosophie. In: Arch. Philos. 11 (1961), 28 ff.; Lenk: Der ,Ordinary Language Approach' und die Neutralitätsthese der Metaethik. Zum Problem der sprachanalytischen Deutung der Ethik. In: Gadamer. Das Problem der Sprache. 1967. S. 183 ff.; Fahrenbach: Sprachanalyse und Ethik. Ebenda. S. 373 ff. Über die Sprachanalyse ethischer Aussagen hinausführende Denkansätze finden sich im englischen Sprachraum vor allem bei Edel: Ethical judgement. The use of science in ethics. Glencoe 1955; derselbe: Methods in ethical theory. London 1963; Baier : The moral point of view. A rational basis of ethics. 4. Aufl. New York 1964; Brandt : Ethical theory. The problems of normative and critical ethics. Prentice-Hall Inc. 1959. 11

Eine theoretische Begründung der Ethik für überhaupt unmöglich halten außer den Vertretern des Neopositivismus z. B. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. 1892. (Später korrigiert, vgl. Gerson: Die Entwicklung der ethischen Anschauungen bei Georg Simmel. 1932); Levy- Brühl·. La Morale et la Science de Moeurs. 1903; Ross: Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis. 1933; Lamont: The Principles of Moral Judgement. 1946, und viele andere.

III. Die ethische Problematik des Zweckhandelns

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3. Skeptizismus, Relativismus und Ideologieverdacht Die schärfsten Widersacher einer wie auch immer gedachten ethischen Verbindlichkeit von Werten und darauf aufbauenden Normen sind die Verfechter des ethischen Nihilismus; ihre von der philosophischen Skepsis getragene Argumentation resultiert im wesentlichen aus unbestreitbaren Beobachtungen menschlicher Praxis und Geschichte12: Es läßt sich eben nicht leugnen, daß trotz der behaupteten, unbedingten Verbindlichkeit ethischer Normen fortwährend gegen sie verstoßen wird; der Mangel uneingeschränkter Verpflichtung erweist sich dem Skeptiker gewissermaßen durch die Tat. Ihm ist jedoch entgegenzuhalten, daß ethische Normen weder mit natürlichen gleichgesetzt werden dürfen, deren Geltung sich immer und überall beweist, noch mit rechtlichen oder gesellschaftlichen, deren Einhaltung Sanktionen erzwingen, sondern als Regeln zu denken sind, deren Befolgung in der Verantwortung und freien Entscheidung des Einzelnen steht und sowohl von der Überzeugungskraft der sie rechtfertigenden Argumente als auch der Einsichtsfahigkeit und Willenskraft des jeweils Handelnden abhängen. Zwecke wollen vorgezogen, Werte verwirklicht werden, aber das heißt doch nicht, daß sie es von selbst täten oder jemanden dazu zwängen; ohne die Idee der Freiheit und Verantwortung gibt es überhaupt kein ethisches Problem. Es kommt deshalb nicht darauf an, ob ethische Werte tatsächlich allgemein anerkannt sind, sondern nur darauf, daß sie es sein sollten; Sittlichkeit sollte für alle Menschen ein Wert sein, Werthaltung wird von allen gefordert, nicht vorausgesetzt. Ob Werte überpersönlich und objektiv verbindlich sind, hat mit ihrer faktischen Anerkennung als Wert nichts zu tun. Schwerer wiegt schon die Tatsache, daß vergleichende ethnographische und kulturhistorische Forschung eine Vielfalt historisch relevant gewordener Moralen ermittelt hat, deren Normen sich zum Teil widersprechen und zu unterschiedlichen Werthaltungen allgemein auffordern 13 . Welche Moralvorstellungen sind vorzuziehen, sind höher zu bewerten? Der ethische Skeptiker schließt aus dem Vorhandensein divergierender Ordnungen auf die moralische Berechtigung der Divergenz; für ihn zieht der kulturelle Relativismus den ethischen nach sich, der jeder Annahme allgemein gültiger Verpflichtungen widerstreitet. Doch auch dieses Mal erweist sich die Argumentation als kurzschlüssig; denn Normen entfalten sich als ein Produkt des Geistes wie dieser dialektisch, erwachsen aus anfangs groben, undifferenzierten Vorstellungen von Ordnung und Harmonie, 12

Vgl. zum Folgenden Höffe: Sittlichkeit. In: Handb. philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. v. Krings, Baumgartner und Wild. München 1974. Bd. 5, S. 1341 ff. (1345 ff.); Hossenfelder. Skepsis. Ebenda. S. 1359 ff. (1365 ff.); Stegmüller: Metaphysik. Skepsis. Wissenschaft. 2. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1969. S. 374ff. 13 Eine Übersicht über anthropologische und völkerkundliche Forschung und ihre Bewertung im Lichte der Ethik gibt Macbeath: Experiments in Living. London 1952. Vgl. ferner Gadamer /Vogler (Hrsg.): Neue Anthropologie. 7 Bde. Insbesondere Bd. 4: Kulturanthropologie. Stuttgart/München 1973 und Bd. 6: Philosophische Anthropologie. Teil 1. Stuttgart/München 1974, mit Darstellungen des Menschenbildes in der christlichen, islamischen, indischen, chinesischen und japanischen Tradition. 10 Mittenzwei

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verfeinern sich im Laufe der Zeit mit zunehmender Kenntnis der Lebensbedingungen und -bereiche in differenziertere und komplexere Vorstellungen menschlichen Zusammenlebens, reagieren postwendend auf die Entwicklung neuer technischer Lebensmöglichkeiten und das Entstehen veränderter Lebensbedingungen mit veränderten Verhaltensanweisungen 14. Normen müssen, wie jeder Jurist aus Erfahrung weiß, mit immer neuen Fallgestaltungen fertig werden, modifizieren im stetigen Anwendungsprozeß allmählich ihren Inhalt, reagieren mit immer feineren Unterscheidungen auf die Anforderungen der sozialen Welt, verwandeln sich schließlich in Normen anderen Inhalts oder nützen sich im Gebrauch gänzlich ab. Dies alles bestätigt lediglich, daß die endliche Vernunft des Menschen unfähig ist, das Ganze zu fassen, mit jeder konkreten Bestimmung sich in neue Widersprüche verstrickt und folglich sich fortlaufend korrigieren muß. Es spricht weder gegen das Vorhandensein primärer Normen und Regeln, höchster Prinzipien, die sich ob ihres abstrakten Gehalts trotz sich verändernder Lebensbedingungen über Jahrtausende gleich bleiben, noch gegen die Annahme, daß ethische Normen immer besser bestimmt, immer genauer abgeleitet, nach dem letzten Stand des Wissens immer einsichtiger gerechtfertigt werden können 15 . Allenfalls die Hoffnung, es sei möglich, eine Wertordnung ein für allemal positiv zu bestimmen und verbindlich in einer Tafel absoluter Werte und Gebote für alle Zukunft unabänderlich auszuformulieren, muß aus prinzipiellen, erkenntnistheoretischen Erwägungen unerfüllt bleiben. Die menschliche Vernunft kann die Kluft zwischen innerer und äußerer Welt, zwischen Geist und Materie, Selbstbewußtsein und Ding an sich nicht endgültig überwinden, wohl aber als kritische Instanz die Differenz stets von neuem bewußt machen, reflektieren und korrigieren. Die Idee einer Instanz des absolut Richtigen und Guten verkörpert gegenüber jeder positiven Bestimmung in der ErkenntnisEbene der Subjekt-Objekt-Beziehungen genau dieses Forum der Kritik: die menschliche Vernunft als Richterin positiver Dogmatik, nicht als Vertreterin derselben. Unentwegte „Aufklärer" der menschlichen Gesellschaft und Befreier derselben aus jedweden Bindungsvorstellungen halten sich aber bei Argumenten aus ethnographisch und kulturhistorisch vergleichender Forschung nicht auf, sondern „hinterfragen" historisch relevant gewordene Ethik auf ihre politischen, wirtschaftlichen, psychologischen und sonstigen Ursachen, „durchschauen" mit schöner Regelmäßigkeit ethische Verhaltensanweisungen, welcher 14 Übrigens funktioniert auch unser Gehirn auf der Basis von Mustern zunehmender Verfeinerung; vgl. Taylor: The Natural History of Mind. London 1979. Deutsch: Die Geburt des Geistes. Frankfurt/M. 1982. S. 82 f. So wie es besser ist, auf Gefahren unbeholfen zu reagieren als gar nicht, so sind unentwickelte Ordnungsvorstellungen des menschlichen Zusammenlebens evolutionär immer noch besser als gar keine. 15

Zum Problem des „Fortschritts" in der Wissenschafts- und Handlungstheorie bei Bacon, Descartes , Hobbes, Leibniz und Kant und seiner dialektischen Auflösung bei Hegel vgl. Riedel: Fortschritt und Dialektik in Hegels Geschichtsphilosophie. In: Wege der Forschung. Bd. 52. Darmstadt 1973. S.387ff. (391 ff.).

III. Die ethische Problematik des Zweckhandelns

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Herkunft und Zeitepoche auch immer, als Herrschaftsinstrumente bevorzugter Klassen oder als Wunsch- und Schutzinstitutionen von der Natur benachteiligter Mittelmäßiger und Schwacher. Demaskierende Enthüllung kompromittierender Zwecksetzungen soll dem Ansehen der Sache selbst schaden, soll Ethik als Spiegelfechterei entlarven und destruieren. Nihilistische Aufklärer und Kritiker dieser Art wissen freilich häufig nichts vom Wachstumsprinzip der Zwecke, mißachten den Unterschied zwischen Nützlichkeit und Pflicht, legalen und legitimen Motiven des Handelns, verkennen, daß kompromittierende Ursachen des Entstehens und Fortbestehens ethischer Normen, Ursachen ihrer historischen oder gegenwärtigen Geltung, nichts mit der Frage nach ihrer objektiven Gültigkeit zu tun haben. Ob eine Norm zur Beachtung ethisch verpflichtet, hängt davon ab, welchem Ziel sie dient und in welchem Konkurrenz· bzw. Rangverhältnis dieses zu anderen Zielen (Zwecken) steht. Die Möglichkeit mißbräuchlicher Verwendung von Normen ist Anlaß zu ihrer inhaltlichen Präzisierung und Einschränkung, nicht jedoch zum Entzug der Legitimation. Keine von Menschen formulierte, gehaltvolle Norm ist vor mißbräuchlicher Inanspruchnahme sicher, lassen sich doch stets über die eigentliche Zwecksetzung hinaus auch andere Zwecke verfolgen oder andere als die eigentlich beabsichtigten Wirkungen erzielen. Es ist eine gut belegte Erfahrung, daß im gesamten Umfang menschlicher Willenshandlungen die Wirkungen der Handlungen mehr oder weniger weit über die ursprünglichen Motive und Zwecksetzungen hinaus reichen, daß hierdurch für künftige Handlungen neue Zwecke entstehen, die schließlich gar die alten überdecken und verdrängen können, um abermals neue Effekte hervorzubringen, an denen sich der gleiche Prozeß der Umwandlung von durchschauter Wirkung in ursächliche Zwecksetzung wiederholt. Der Zusammenhang einer Zweckreihe, heißt es bei Wilhelm Wundt, besteht nicht darin, daß der zuletzt erreichte Zweck schon in den ursprünglichen Motiven der Handlung, die schließlich zu ihm geführt haben, als Vorstellung enthalten sein muß, ja nicht einmal darin, daß die zuerst vorhandenen Motive die zuletzt wirksamen selbständig hervorbringen, sondern der Zweckzusammenhang wird wesentlich dadurch vermittelt, daß die Wirkung jeder Wahlhandlung infolge nie fehlender Nebenwirkungen mit der im Motiv gelegenen Zweckvorstellung im allgemeinen sich nicht deckt. Gerade solche außerhalb des ursprünglichen Motivs gelegenen Bestandteile der Wirkung können aber zu neuen Motiven oder Motivelementen werden, aus denen neue Zwecke oder Veränderungen des ursprünglichen Zweckes entspringen 16 . Es nimmt also nicht wunder, daß für einen irgendwo tatsächlich festgestellten, moralischen Zweck ein beliebig weit entferntes Motiv der Ausgangspunkt sein kann. Wo immer die historische Forschung die Fakten des sittlichen Lebens bis 16 Wundt: Ethik. 3 Bde. 5. Aufl. 1923/1924. Bd. I, S. 274ff., 284f. Ebenso schon Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. 1887. 2. Abhdlg., Abschn. 12. In: Werke. Hrsg. v. Schlechta. München/Wien 1980. Bd. 4, S. 817, 818.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

zu ihren Wurzeln zurückverfolgt, muß sie erkennen, wie ursprüngliche Motive des Handelns sich zurückziehen und Verhaltensregeln als Verkettung von Zwecken zurücklassen, die gleich erratischen Blöcken in spätere Kulturen hineinragen, oder umgekehrt, wie sich an vorsittlichen Bindungen menschlichen Wollens allmählich sittliche Zwecke emporranken. Schon an den äußeren Formen des Lebens läßt sich dies ablesen: Die Wohnung fördert den Verband der Sippe, die Kleidung hebt den Rang der Persönlichkeit und selbst aus der Arbeit, ursprünglich allein auf die Befriedigung elementarer Bedürfnisse gerichtet, entsprießen neue Zwecke. Parallel zur Entfaltung sittlicher Zwecke in äußeren Lebensformen entwickeln sich die sittlichen Motive selbst, wenngleich dem heutigen Betrachter der schier endlose Weg, den die allmähliche Verwandlung der Zwecke und Motive genommen haben muß, um von den ursprünglichen, natürlichen Trieben des Menschen zur sittlichen Haltung selbstloser Hingabe an andere oder eine große Aufgabe zu gelangen, nicht mehr überschaubar ist 1 7 . Stellt sich demnach das Verhältnis der Wirkungen zu den vorgestellten Zwecken so dar, daß in den ersteren stets noch Nebeneffekte gegeben sind, die in den vorausgehenden Zweckvorstellungen nicht mitgedacht waren, die aber gleichwohl in neue Motivreihen eingehen und auf diese Weise entweder die bisherigen Zwecke umändern oder neue Zwecke hinzufügen, so ist klargestellt, daß die Kompromittierung einzelner ethischer Normen oder Normsysteme durch den Nachweis ursprünglich anderer oder später veränderter Zielsetzungen nicht ausreicht, um als richtig und notwendig erkannte, ethische Werte und Verhaltensregeln, geschweige denn die Ethik als verbindlich gedachtes Ganzes, zu kompromittieren. Selbst wenn es, um ein Beispiel Kants aufzugreifen, nie einen redlichen Freund gegeben haben sollte, weil immer auch Nützlichkeitsmotive eine Rolle gespielt haben, so bleibt doch reine Redlichkeit in der Freundschaft um nichts weniger vom Menschen gefordert, weil diese Pflicht als Pflicht überhaupt, vor aller Erfahrung, in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Vernunft liegt 1 8 . Daß Gegebenes von überlegenen Mächten auf neue Absichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet werden kann, beweist nur, daß auch Zwecke einem Entwicklungsprinzip gehorchen, und fordert die Vernunft zu kritischer Wachsamkeit heraus, widerlegt aber weder den formalen Anspruch uneingeschränkter Verbindlichkeit noch die Idee der Sittlichkeit als eine fundamentale Selbsttäuschung.

17 Vgl. Klemm: Die Heterogonie der Zwecke. In: Festschrift für Johannes Volkelt. München 1918. S. 173 ff. , 183 f. 18 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785. S. 28. In: Werke. Hrsg. v. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. 6, S. 35.

III. Die ethische Problematik des Zweckhandelns

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4. Die Idee der Freiheit als transzendentale Letztbegründung der Ethik Ob Werte auf grundlegende, menschliche Interessen und intersubjektive Übereinstimmung zu gründen sind (empirisch-subjektivistische Wertauffassung) oder in der Natur des Menschen vorgegebenen, transzendentalphilosophischen Prinzipien wurzeln (metaphysisch-objektivistische Wertauffassung) ist ein von der Annahme einer objektiven Instanz des Richtigen und Guten und dem formalen Postulat uneingeschränkter Verbindlichkeit ethischer Normen zu trennendes, zusätzliches Problem 19 . Ausgehend von der im ersten Abschnitt entwickelten, erkenntnistheoretischen Position, ist zunächst festzuhalten, daß objektive Zwecke und Werte (als Präferenzen von Zwecken) nicht unmittelbar aus einer vorgegebenen Wert- oder Weltordnung abgeleitet werden können, weil erstens alle Erkenntnis in der Subjekt-Objekt-Beziehung prinzipiell subjektiv bleibt und zweitens die für die menschliche Freiheit konstitutive Idee immanenter Weltvernunft inhaltlich unbestimmt ist und der dialektischen Entfaltung bedarf 20 . Damit ist allerdings nur der Anspruch metaphysischer (im vorkantischen Sinne), nicht auch transzendentalphilosophischer Wertbegründung aufgegeben. Hält man an der Unterscheidung zwischen Vernunft als Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt (Selbstbewußtsein) und als gegenstandsbezogener Erfahrung auf der Subjekt-Objekt-Ebene fest (Gegenstandsbewußtsein), so kommt als letzter Angelpunkt objektiver Wertbegründung nur die Idee der Freiheit in Betracht 21 . So wie die Naturwissenschaften die Gesetzmäßigkeiten der Natur, so hat nach Kant Ethik die Gesetze der Freiheit zum Gegenstand, und zwar zunächst einmal gänzlich unabhängig von allen empirischen Wissenschaften, einschließlich der Anthropologie, allein auf ein Prinzip der praktischen Vernunft gegründet 22 . Indem der Mensch die naturgesetzlichen Zusammenhänge der Erscheinungswelt durchschaut und auf den Begriff bringt, erhebt er sich zugleich über sie und begründet theoretisch die Autonomie seines Willens. Frei sein in diesem Sinne bedeutet vorderhand, sich zu einem als durchgängig determiniert vorgestellten Ganzen, sei es nun die Natur oder die vom Menschen im Zuge seiner geistigen Entwicklung erzeugte Organisation, zu Systemen politischer Macht wie Gesell19 Vgl. aus jüngerer Zeit Hoerster: Rechtsethik ohne Metaphysik. In: JZ 1982, 265 ff.; kritisch dazu Joerden: Nochmals: Rechtsethik ohne Metaphysik. In: JZ 1982, S. 670 ff.; Hart: Eine empirische Version der Naturrechtslehre. In: Hoerster (Hrsg.): Recht und Moral. Texte zur Rechtsphilosophie. München 1977 (2. Aufl. 1980). S. 94ff.; Mackie: Ethik. 1981; Fikentscher. Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Bd. IV. Tübingen 1977. S. 395ff.; Larenz: Richtiges Recht. Grundzüge einer Rechtsethik. München 1979. 20 Vgl. oben S. 35 ff., 62ff. 21

Vgl. Pieper. Pragmatische und ethische Normbegründung. Zum Defizit an ethischer Letztbegründung in zeitgenössischen Beiträgen zur Moralphilosophie. Freiburg/ München 1979. S. 201 ff. 22 Vgl. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785. Vorrede. In: Werke. Hrsg. v. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. 6, S. 11 ff.

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schaft, Staat, Kirche oder Gewerkschaft in ein Verhältnis setzen und sie dadurch distanzierend in Frage stellen und beurteilen können. Freiheit in diesem Sinne heißt nicht, determinierende Systeme wie die genannten einfach beseitigen und durch subjektive, systemlose Willkür ersetzen; Freiheit und Determination schließen sich nicht etwa gegenseitig aus, sind keine logische Kontradiktion, stehen überhaupt in keinem logischen, sondern, wie es seit den grundlegenden Arbeiten von Kant und Fichte heißt, in einem transzendentallogischen Verhältnis. Alles in der Natur ist Gesetzen unterworfen, anorganische Vorgänge laufen ebenso wie organische mit der gleichen unabänderlichen Notwendigkeit ab. Nur der Mensch als das am weitesten entwickelte Lebewesen ist kraft seiner Vernunft fähig, diese unabänderlichen Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und sie wie Werkzeuge zu handhaben; indem er dies tut, erhebt er sich zugleich über sie und befreit sich, zwar nicht als Sinnen-, wohl aber als Vernunftwesen, von ihnen. Aber die Erkenntnis naturgesetzlicher Zusammenhänge, die Einsicht, daß eben diese Gesetzmäßigkeiten die Grundlage der grandiosen Entfaltung und über alle Maßen staunenswerten Ordnung und Harmonie der Natur, ja alles Lebens schlechthin sind, erhebt und befreit den Menschen nicht nur, sondern flößt ihm dank seiner Vernunft zugleich Hochachtung vor den Gesetzen ein, zwingt ihn, seinen als frei vorgestellten Willen einer eigenen, autonomen Gesetzgebung zu unterwerfen, um eine der Naturordnung äquivalente Gesetzmäßigkeit des Handelns zu erreichen. Wie die theoretische Vernunft der Wirklichkeit ihre Gesetze vorschreibt — und sie dadurch zur „Natur" im Sinne der Naturwissenschaften macht — so schreibt die praktische Vernunft dem freien Willen seine Gesetze vor und begründet dadurch die Ethik; ist es das Problem der theoretischen Vernunft, festzustellen, ob das, was wir erkennen, wirklich gilt, so ist es das Problem der praktischen Vernunft, die Richtigkeit und Gültigkeit menschlicher Zielsetzungen zu begründen. Gleich wie der Verstand in den Kategorien die Formen besitzt, mit denen er die ungeheure Menge der Sinneseindrücke sichtet und ordnet und zu einem Kosmos, einem harmonischen Ganzen, verbindet, in welchem Notwendigkeit herrscht, die wir uns in Naturgesetzen begreiflich machen, so besitzt das denkende Subjekt nach Kant in seinem Gewissen die Grundlage für die Bewertung der Gültigkeit seiner Handlungen; dieses Gewissen ist nichts anderes als das unmittelbare Bewußtsein des Sollens und des Könnens. Pflicht, heißt es bei ihm, sei nichts anderes als die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem Gesetz, die freilich nur einem vernünftigen Wesen möglich sei, weil nur dieses seinen Willen bewußt einem Gesetz unterordnen kann. „Ein Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft. Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt

III. Die ethische Problematik des Zweckhandelns

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werden, auch subjektiv notwendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt" 23 . Die Lossagung von allen Trieben, Neigungen, Interessen beim Wollen aus Pflicht, d. h. aus Achtung vor dem Gesetz, führt zur Idee des Willens eines jeden vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens, also einer freiwilligen Unterwerfung unter eine eigene, aber verallgemeinerungsfähige Gesetzgebung. Autonomie des Willens ist letztlich der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur, wie umgekehrt das Bewußtsein der Pflicht die menschliche Freiheit begründet. Demgegenüber wäre Freiheit als Naturbegrifif ein arges Mißverständnis, allein schon deshalb, weil Freiheit im Zusammenhang der objektiven Natur gar nicht begriffen und aus der Physis des Menschen nicht hergeleitet werden könnte. Denn der Begriff der Kausalität, als Naturnotwendigkeit, zum Unterschied derselben, als Freiheit, betrifft nach Kant die Existenz der Dinge, sofern sie in der Zeit bestimmbar ist, folglich bloß als Erscheinungen, nicht in ihrem Wesen als Dinge an sich selbst. Nähme man die Bestimmungen der Existenz der Dinge in der Zeit für Bestimmungen der Dinge an sich selbst, wozu am Empirismus und Realismus orientierte Vorstellungsweisen allerdings für gewöhnlich neigen, so ließe sich die Notwendigkeit im Kausalverhältnis mit der Freiheit auf keine Weise in Einklang bringen: Freiheit müßte als nichtiger und unmöglicher Begriff verworfen werden 24 . Ebensowenig wie der Begriff der Freiheit kann der Begriff der Pflicht, der unbedingten Achtung vor dem Gesetz, aus besonderen Anlagen der menschlichen Natur abgeleitet oder als Erfahrungssatz bewiesen werden, denn es ist schlechterdings unmöglich, durch Erfahrung mit völliger Gewißheit auch nur eines einzigen Falles habhaft zu werden, in dem die Maxime einer sonst pflichtgemäßen Handlung allein auf moralischen Gründen und der Vorstellung der Pflicht beruht hat. Gleichwohl ist es verfehlt, die Selbstliebe der Menschen, ihr Streben nach Lust und Glückseligkeit, zum allgemeinen Gesetz ihres Handelns zu machen. Zwar ist das Verlangen, glücklich zu sein, für jedes vernünftige, endliche Wesen notwendiger Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens und ein durch seine Bedürftigkeit ihm aufgedrängtes, auf die Gefühle von Lust und Unlust bezogenes, seinen physischen Zustand kontrollierendes Streben. Allein der Begriff des Glückes ist von so unbestimmter Natur, daß er, obwohl doch jeder Mensch diesen Zustand zu erreichen wünscht, von niemandem allgemeingültig bestimmt werden kann, weil alle seine Elemente aus der Erfahrung entlehnt werden müssen, also empirisch sind, während die Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens, jetzt 23 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785. A 14ff., 37. In: Werke. Hrsg. v. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. 6, S. 26ff., 41. 24 Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Riga 1788. A 168 ff. In: Werke. Hrsg. v. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. 6, S. 218f.

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und in Zukunft fordert. Praktische Prinzipien, die ein Objekt des Begehrungsvermögens, d. h. einen materiellen Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehrt wird, als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, können niemals, als empirisch bestimmte Prinzipien, allgemein verbindliche, praktische Gesetze sein 25 . Würde das Streben nach Glück als allgemeines Prinzip der Selbstliebe zu einem allgemein gültigen, praktischen Gesetz des Handelns gemacht, würde nicht Einstimmigkeit des Allgemeinen wie sonst bei Naturgesetzen, sondern „das äußerste Widerspiel der Einstimmung, der ärgste Widerstreit und die gänzliche Vernichtung der Maxime selbst und ihrer Absicht erfolgen" 26 . Empirische Bestimmungsgründe, Neigungen, Begierden, Lust und Unlust taugen zu keiner allgemeinen äußeren oder inneren Gesetzgebung, weil vernünftige Wesen sich verallgemeinerungsfähige Prinzipien nicht der Materie, sondern bloß der Form nach als Bestimmungsgrund ihres Willens denken können 27 . Selbst wenn man also zugesteht, daß die Absicht, glücklich zu sein, zum Wesen des Menschen gehört und also sicher und a priori bei jedem vorausgesetzt werden kann, ließe sich doch die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel, die das größte Wohlbefinden garantieren, als Gebot der Klugheit bloß in der Form des hypothetischen, nicht aber des kategorischen Imperativs formulieren, denn die Handlungen werden nicht schlechthin, sondern nur als Mittel zu einem anderen Zweck geboten. Regeln der Geschicklichkeit und Ratschläge der Klugheit müssen demnach von den Geboten (Gesetzen) der Ethik unterschieden werden; nur Gesetze führen den Begriff einer unbedingten, objektiven und mithin allgemein gültigen Notwendigkeit bei sich 28 . Freiheit und unbedingtes, praktisches Gesetz weisen wechselseitig aufeinander zurück; die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller ethischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten. Freiheit als eigene, unabhängige Gesetzgebung zur allgemeinen Bestimmung des Menschen erhoben, bedeutet, daß die Existenz des Menschen und überhaupt jedes vernünftigen Wesens als ein Zweck an sich selbst und nicht bloß als Mittel für andere Zwecke, als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen, begriffen wird. Soll ein oberstes praktisches Prinzip und, in Ansehung des menschlichen Willens, ein kategorischer Imperativ formuliert werden, so müssen Prinzip und Imperativ den Zweck an sich selbst, das, was notwendig für jedermann Zweck und zugleich die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist, als allgemeines, praktisches Gesetz enthalten 29 . M i t der Wendung zur Gesetzgebung der praktischen Vernunft als einzigem ethischen Prinzip wird 25

Kant aaO. § 2 Lehrsatz I. Bd. 6, S. 127ff. Kant aaO. S. 137. 27 Kant aaO. § 4 Lehrsatz III. S. 135. 28 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785. A 43 ff. In: Werke. Hrsg. v. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. 6, S. 45ff. 29 Kant aaO. A 65 ff.; S. 60 ff. 26

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Freiheit als Stand, in dem alle vernünftigen Wesen Selbstzweck, d. h. Personen, nicht Sachen sind, zum Grund und Inhalt der Sittlichkeit und des Rechts; an die Stelle aller Naturbestimmung des Menschen tritt die nicht auf diese zurückführbare Autonomie des Willens als Freiheit im positiven Sinne (im Unterschied zur Unabhängigkeit von allen begehrten Objekten als Freiheit im negativen Sinne), in welcher letztlich alle sittlichen und rechtlichen Gebote wurzeln 30 . Die Freiheit als Autonomie in der Gesetzgebung der Vernunft und das aus der Selbsttätigkeit der letzteren resultierende Sittengesetz als das transzendentale Gesetz schlechthin erheben gemäß der Differenz von Erscheinung und Insichvermitteltheit der Dinge den Menschen über sich selbst als einen Teil der Sinnenwelt und verbinden ihn mit einer Ordnung der Dinge, die nur die Vernunft zu denken vermag, zugleich aber die ganze Sinnenwelt einschließlich des empirisch bestimmten Daseins des Menschen und das Ganze aller Zwecke unter sich hat. Die darin begründete Unabhängigkeit von den Mechanismen der Natur konstituiert die menschliche Persönlichkeit (homo noumenon), die sich, der intelligiblen Welt zugehörig, kraft ihrer Vernunft eigene, rein praktische Gesetze gibt, welchen sie sich dann, als zur Sinnenwelt gehörende Person, willentlich selbst unterwirft. Auf eben dieser Einsicht, als vernünftiges Wesen sowohl zur Sinnen- als auch zur Vernunftwelt zu gehören, wodurch der Mensch Zweck an sich selbst wird, beruht auch, wie Kant sagt, „die leicht zu bemerkende und selbst dem gemeinen Verstände natürlich erscheinende Erhabenheit und Heiligkeit des ethischen Gesetzes", so wie die Achtung und Verehrung, die der höchsten Bestimmung des Menschen gezollt wird. Durch das Sittengesetz wird für jeden Menschen die Menschheit in seiner Person begründet, als deren Teil er vermöge seiner intellektuellen Autonomie und Freiheit Subjekt des sittlichen Gesetzes und Zweck an sich selbst ist, während ansonsten im gesamten Bereich der Schöpfung alles, was man will und worüber man etwas vermag, auch als Mittel gebraucht werden kann 3 1 . Da andererseits der Wille des Menschen immer auch durch sinnliche Triebfedern mitbestimmt bleibt, wird das Gesetz der Vernunft zum Imperativ, der im Ausdruck des Sollens die in der Freiheit liegende Verpflichtung zur Geltung bringt. So bestimmt Kant schließlich das Prinzip des Handelns als kategorischen Imperativ der Pflicht: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie allgemeines Gesetz werde" 32 . Oder anders formuliert: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" 3 3 . Inhalt und Grund dieses allgemeinen Gesetzes ist die transzendental begriffene Freiheit vernünftiger Wesen, die als Zwecke an sich selbst existieren; 30

Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Riga 1788. § 8. Lehrsatz IV. In: Werke. Hrsg. v. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. 6, S. 144. 31 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785. A 108, 109; derselbe: Kritik der praktischen Vernunft. Riga 1788. A 154ff. In: Werke. Hrsg. v. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. 6, S. 87f, 209f. 32 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. A 52. aaO. S. 51. 33 Kant: Kritik der praktischen Vernunft. § 7. A 54. aaO. S. 140.

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praktisch gewendet, lautet der Imperativ daher: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person jedes anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" 34 . Die Setzung der Vernunft als kritische, distanzierende und differenzierende Instanz, die zwar die Zwänge der wirklichen Verhältnisse nicht zu beseitigen, wohl aber in Frage zu stellen erlaubt, vollendet sich in einer transzendentalen Affirmation, welcher, dialektisch betrachtet, keine Negation als gleichwertige Alternative gegenübersteht. Denn in der transzendentalen Affirmation geht es nicht, wie in einer prädikativen, um das Zu- und Absprechen von Prädikaten, sondern — die Analogie zur sprachtheoretischen Aussagenlogik sei gestattet — um die Bejahung oder Verneinung des Subjektes selbst, um die Frage, ob es überhaupt zu einer Aussage kommt oder nicht. In der Affirmation ist die Bestimmtheit oder ein Bestimmungssystem des empirischen Handelns gesetzt, im Sinne des in anderem Zusammenhange erläuterten, dialektischen Satzes: Der Wissende bestimmt, daß das Gewußte den Wissenden bestimmt, über seine bloß faktische Bestimmung hinaus begründet. Erst das transzendentale Verhältnis des Handelns bringt die Distanz hervor, welche die Differenz von Grund und Begründetem eröffnet, wobei die Begründung schlechthin neu, d. h. ursprünglich hervorgebracht ist. Da es in der transzendentalen Affirmation nicht lediglich um die Anerkennung der Faktizität im Sinne einer Unterwerfung unter eine unbegriffene Determination geht, wird die Qualität naturgesetzlicher und sozialer Abhängigkeit verändert, als reflektierte Faktizität durch Handeln der zu sich selbst gekommenen Vernunft aufgehoben. M i t der Auflösung bloßer Faktizität und der Vermittlung der Determination durch Handlung ist Freiheit vollzogen, wird Produktion und Manipulation von Notwendigkeitssystemen möglich. So wie in bezug auf Naturnotwendigkeit Freiheit über naturwissenschaftliche Forschung, Technik und Industrie theoretisch und praktisch begründet und durchgesetzt wird, so in bezug auf Staat und Rechtsordnung durch vernunftgemäße Distanzierung, Differenzierung und Affirmation des Staatssystems und des Rechtsganzen bis hin zum einzelnen Gesetz, sofern nur der einzelne Staatsbürger in der Lage ist, die Determinanten, die sein Dasein als Staatsbürger bestimmen, selbst zu setzen, mag dieses „Selbstsetzen" wie auch immer durch Delegation oder Repräsentation vermittelt sein 35 . Kants Position läßt nun allerdings nicht nur dadurch Wünsche unerfüllt,daß ihr als einer vornehmlich kritisch orientierten „Ethik des reinen Willens", wie sie Hermann Cohen bezeichnet hat, der Ort für eine Handlungstheorie fehlt, was bekanntlich schon Johann Gottlieb Fichte in seiner „Wissenschaftslehre" veranlaßte, die transzendentale Einheit des Bewußtseins als höchsten, nicht weiter zurückführbaren Punkt der kantischen Analytik mit Hilfe eines Handlungsmodells zu interpretieren, sondern auch insofern, als die Frage nach 34

Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. A 67. aaO. S. 61. Vgl. Krings: Freiheit. In: Hdb. d. philos. Grundbegriffe. Hrsg. v. Klings, Baumgartner u. Wild. Bd. I. München 1973. S. 493 ff., 498 ff. 35

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Ursprung und Grund normativer Verpflichtung weder durch transzendentale Deduktion praktisch-synthetischer Sätze (analog zu den theoretischen Sätzen) noch durch die Konstatierung derselben als „Faktum der Vernunft" überzeugend beantwortet werden konnte 3 6 . 5. Freiheit als Aufgegebenheit (Sollen) und Anerkennung von Freiheit Wie bereits früher näher erläutert wurde 37 , dachte sich Fichte die transzendentale Einheit des Bewußtseins als transzendentales Ich zu sich selbst in Distanz gesetzt, wobei diese „Selbstsetzung" als transzendentale Handlung den Setzenden, der in allen empirischen Setzungen als solcher vorausgesetzt ist, zuallererst konstituiert 38 . Formal bedeutet der Begriff der Selbstsetzung die Eröffnung einer Distanz in einer abstrakten Ich-Identität, die sich freilich durch Rückwendung zu sich selbst sogleich wieder aufheben muß, weil andernfalls sich die Bewegung des Gedankens verliefe und Identität undenkbar würde. Das SichÖffnen in eine Distanz und die Rückwendung dieses Sich-Öffnens in sich ist die formale Grundstruktur der transzendentalen Handlung, mit deren Hilfe Fichte die transzendentale Einheit des Bewußtseins handlungstheoretisch auflöst: Das Ich setzt sich selbst 39 . In dieser Formel bedeutet „Ich" nicht eine individuelle Person — die „Individualität" als Faktum und unentrinnbare Notwendigkeit ist entgegen individualistischem Mißverständnis lediglich akzidentiell —, sondern eine Synthese aus Ich als Objekt und Nicht-Objekt. In den Worten Fichtes: „Die Ichheit (in sich selbst zurückgehende Tätigkeit, Subjekt-Objektivität, oder wie man will) wird ursprünglich dem Es, der bloßen Objektivität, entgegengesetzt; und das Setzen dieser Begriffe ist absolut, durch kein anderes Setzen bedingt, thetisch, nicht synthetisch. Auf etwas, das in diesem ersten Setzen als ein Es, als bloßes Objekt, als etwas außer uns gesetzt worden, wird der in uns selbst gewordene Begriff der Ichheit übertragen, und damit synthetisch vereinigt; und durch diese bedingte Synthesis erst entsteht uns ein Du. Der Begriff des D u entsteht aus der Vereinigung des Es und des Ich. Der Begriff des Ich in diesem Gegensatze, also als Begriff des Individuums, ist die Synthesis des Ich mit sich selbst. Das in dem beschriebenen Akte sich selbst, nicht überhaupt Setzende, sondern als Ich Setzende, bin ich; und das in demselben Akte durch mich, und nicht durch sich selbst, als Ich gesetzte, bist d u " 4 0 . 36 Vgl. zur Kritik Ilting: Der naturalistische Fehlschluß bei Kant. In: Riedel (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Bd. I. Freiburg 1972. S. 113 ff. 37 Vgl. oben S. 76ff. 38 Vgl. zum Folgenden Krings: Freiheit. aaO. S. 502ff.; derselbe: Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit. In: Normenbegründung — Normendurchsetzung. Materialien zur Normendiskussion. Hrsg. v. Oelmüller. Bd. 2. Paderborn 1978. S. 59ff., 71 ff.; zur Kritik Eicher: Die Fragwürdigkeit des transzendentalphilosophischen Freiheitsbegriffs. Ebenda. S. 78ff.; Vossenkuhl: Schwierigkeiten transzendentaler Normenbegründung. Ebenda. S. 82 ff.; und das Protokoll der Diskussion. Ebenda. S. 217 ff. 39 Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Jena 1794.2. Aufl. 1802. § 1. In: Werke. Hrsg. v. Fichte. Nachdr. Berlin 1971. Bd. I, S. 91 ff.

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Der Satz: Das Ich setzt sich selbst, besagt also, daß, was immer als nicht hinterfragbare Einheit gedacht wird, als freier Prozeß zu denken ist, durch welchen sich diese Einheit selbst begründet. Individualität ist demzufolge kein absolutes Faktum, kein System unentrinnbarer Notwendigkeit, sondern transzendierbar und in ihrer transzendentalen Freiheitsstruktur einsehbar. Die konstitutiven Momente der Freiheit in transzendentalphilosophischer Bedeutung sind das ursprüngliche Sich-Öffnen, darin beschlossen das Eröffnen eines Gehalts der Selbstvermittlung, sowie das Selbstsein in der neuen Offenheit und begründeten Gehaltlichkeit 41 . Der Begriff „Gehalt" in dieser Strukturbeschreibung hat zunächst nur funktionale, keine gegenständliche Bedeutung; er verweist weder auf die Natur als Inbegriff der Erscheinungen noch auf die Geschichte als unabsehbare Fülle des Gewordenen und Werdenden, des Gewonnenen und Verlorenen, denn alles dies ist nur Produkt empirischer Handlungsprozesse, nicht transzendentaler Gehalt von Freiheit. Andererseits ist es nicht möglich, bei einem funktionalen Verständnis auf Dauer zu verweilen, hängt doch Freiheit als Selbstbestimmung in ihrem Rang von dem vermittelnden Gehalt ab. Der Gehalt des als unbedingt gedachten Aktes der Selbstbestimmung muß den gleichen transzendentalen Rang aufweisen wie der Akt selbst. Da ein äußerer Maßstab nicht begründbar ist, muß Freiheit selbst zum Maßstab werden, ist sie letztlich als der unbedingte Entschluß von Freiheit zu Freiheit zu bestimmen. Die Anerkennung von Freiheit durch Freiheit ist die primäre, transzendental fundierte Regel aller autonomen Regelsetzung; der Gehalt, durch den Freiheit erfüllt wird und Realität gewinnt, ist die Freiheit des anderen als eines artgleichen Vernunftwesens. Die Unübersehbarkeit bedingter, materialer Gehalte wird damit an einem unbedingten, transzendentalen Gehalt orientiert, der ein erstes Kriterium liefert für die Beurteilung der Wertfrage, welcher Wille denn nun gut und welcher willkürlich und schlecht, welche Handlung richtig und welche falsch, welcher Zweck wertvoll und welcher minderwertig sei. Freiheit als erfüllender, transzendentaler Gehalt von Freiheit ist zwar nicht das Gute an sich, wohl aber ein erster Maßstab für das, was das Gute zum Guten macht, letzter Grund allen sittlichen Handelns und vor allem apriorische Basis für jegliche, vernünftige Kommunikation über gemeinsame, empirische Zielsetzungen. Der Begriff der transzendentalen Freiheit ist der Begriff einer unbedingten Affirmation, welche sich praktisch als Anerkennung von Freiheit durch Freiheit aktualisiert und als Anerkennungsakt eine primäre, transzendentale Regel erzeugt, die ihrerseits der Ursprung und Grund aller Regelhaftigkeit, Geltung und Verbindlichkeit überhaupt ist 4 2 . Die Affirmation ist mehrdimensional: als 40 Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre. 1797. In: Werke. Hrsg. v. Fichte. Nachdr. Berlin 1971. Bd. I, S. 502. 41 Krings: Freiheit. In: Hdb. der philos. Grundbegriffe. Hrsg. v. Klings, Baumgartner, Wild. Bd. I. München 1973. S. 493ff. (502ff.). 42 Krings: Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit. In: Normenbegründung— Normendurchsetzung. Materialien zur Normendiskussion. Hrsg. v. Oelmüller. Bd. 2. Paderborn 1978. S. 59ff., 72ff.

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selbstbejahende, regelbegründende Freiheit schließt sie die Bejahung einer regelbegreifenden und regelbefolgenden Instanz und die ursprüngliche Produktion eines Regelgehaltes ein. Selbstaffirmation, Affirmation eines Gehaltes und einer regelbegreifenden und regelbefolgenden Instanz sind Implikate des Begriffs jedweder Regelsetzung. Transzendentale Freiheit als affirmativer Entschluß konstituiert die primäre, transzendentale Regel, die praktische Entschlüsse, d. h. Entschlüsse der praktischen Freiheit, begründbar macht; sie ist jedoch kein moralphilosophisches Prinzip in dem Sinne, daß aus ihm positiv Handlungsziele oder Regeln des Handelns ableitbar wären. Reale Freiheit gewähren jene geschichtlich bedingten, praktisch-politischen Regeln des menschlichen Zusammenlebens, die ihr Fundament in der regelsetzenden, ordnungsbegründenden, praktischen Vernunft haben; die transzendentale Regel der Gesetzgebung aber besteht in der primären Anerkennung von Freiheit durch Freiheit. 6. Die anthropologische Basis der Ethik Es ist ein Verdienst der neueren Anthropologie, der Ethik als Disziplin der Geltungsbegründung von Handlungsanweisungen, die in der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes der Natur strikt entgegengesetzt war, darüber hinaus eine natürliche Basis nachgewiesen zu haben. Nach moderner Interpretation empirisch gewonnener Befunde ist der Mensch ein „Mängelwesen": organisch mittellos, weil ohne natürliche Waffen, ohne ererbten Schutz gegen die Unbill der Witterung, mit Sinnen ausgestattet, deren Leistungsfähigkeit, gemessen an den Möglichkeiten anderer Lebewesen, viel zu wünschen übrig läßt 4 3 . Im Instinktbereich verarmt und verunsichert, ist er an seine Umwelt nicht gebunden, kein „festgestelltes Tier", wie Nietzsche sagte 44 , sondern anpassungsfähig, sowohl für Anarchie als auch für Manipulationen offen. Unter diesen auf der Erde einzigartigen, biologischen Bedingungen ist die Sittlichkeit als Inbegriff der individuellen und sozialen Pflichten und Institutionen gerade diejenige Instanz, welche transsubjektive Direktiven und systemstabilisierende Haltungen im Menschen erzeugt, um auf diese geistige, teleologische Weise kausalmechanisch weder durch Organe noch durch Instinkte gewährleistete Lebensnormalität auf einer Basis gegenseitigen Vertrauens zu ermöglichen 45 . Die alle subjektiven und partikularen Neigungen und Wünsche hinter sich lassende Ethik sozialer Verpflichtung erscheint als ein rational geschaffenes Werkzeug zur Selbsterhaltung, als der künstlich hergestellte Selbstschutz einer in ihren Anlagen von der Natur vernachlässigten Spezies. Die in den beiden letzten Jahrhunderten von den empirischen Wissenschaften angehäuften, anthropologischen Fakten gestatten es, den Versuch zu wagen, 43

Gehlen: Anthropologische Forschung. Hamburg 1961. S. 46ff. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. 1887. In: Werke. Hrsg. v. Schlechta. 8. Aufl. Darmstadt 1977. Bd. II, S. 862. 45 Vgl. Gehlen: Anthropologische Forschung. Hamburg 1961. S. 23 f. 44

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wenigstens einen Minimalgehalt sozialer Ethik empirisch zu bestimmen sowie eine bescheidene Version empirischen „Natur"-Rechts zu entwickeln 46 . Geht man nämlich von der vielfach belegten Tatsache aus, daß die naturgesetzlich determinierte Grundhaltung des Menschens im Streben nach Befriedigung seiner Bedürfnisse (voran der elementaren wie Nahrung, Schlaf, Wärme, Sexualität, Vorrat etc.) liegt, so ist der Zweck der Moral als Regelung individueller Lebensführung und zwischenmenschlicher Beziehungen augenscheinlich in der Eindämmung zügelloser Egoismen zu suchen, weil es evident unmöglich ist, daß jedermann alle seine Begehren zu jeder Zeit befriedigen kann. Wessen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben, ist, wie die vergleichende Verhaltensforschung zeigt, außerhalb moralischer (und rechtlicher) Regelungen sowohl bei individuellen als auch bei kollektiven Begehren — man denke an die weltgeschichtlich vielfaltig nachgewiesenen Gruppenegoismen im Verhältnis der Völker untereinander — stets eine Frage der Macht, die im offenen und stillen Kampf auf Grund materieller oder geistiger Überlegenheit mit Gewalt entschieden wird. Mangel an Ethik und Recht bedeutet unzweifelhaft fortwährendes Ringen etwa Gleichstarker um die Vorherrschaft oder aber die Verfestigung sozialer Zwangssysteme der Über- und Unterordnung durch gewaltsame Unterwerfung nach dem Prinzip der Stärke. Der „Teufelskreis" natürlicher Ordnung nach überlegener Lebenskraft im Sinne des Sozialdarwinismus wird erst durchbrochen, wenn individuellen oder gruppenegoistischen Zielen überindividuelle, allgemein menschliche Richtpunkte entgegengestellt werden; dazu gehört vor allem die Artgleichheit der Menschen als biologische, also ebenfalls empirische Tatsache. Die Erkenntnis der Artgleichheit tritt dem individuellen Ziel der Begehrensbefriedigung als Einsicht in die Parallelität der Bedürfnisse und Begehren unzähliger Menschen entgegen: der Einzelne wird gewahr, daß nicht nur er, sondern alle in gleicher Weise, ihre individuellen Bedürfnisse am liebsten ohne Rücksicht auf den anderen befriedigen würden. M i t dieser Einsicht tritt die Befriedigung der Bedürfnisse aller neben diejenige des einzelnen; zwar nicht als allgemeines, überpersönliches Ziel, das jeder, der es wahrnimmt, auch tatsächlich erstrebt, wohl aber als zügelnde, moralische Forderung, die ihre praktische Formulierung im kategorischen Imperativ findet: Ist es unmöglich, daß jeder alle seine Begehren zu jeder Zeit befriedigt, weil die Begehren der einzelnen vielfach miteinander konkurrieren oder sich gegenseitig ausschließen, kann die persönliche Maxime nicht zum allgemeinen Gesetz des Handelns erhoben werden. Die Forderung nach einer Sonderstellung gegenüber anderen gleicher Art und Einsichtsfahigkeit, die alle, jeder für sich, grundsätzlich das gleiche beanspruchen können, ist als allgemeines Prinzip des Handelns ein Widerspruch 46 Vgl. hierzu Kraft: Die Grundlagen der Erkenntnis und Moral. Berlin 1968. S. 1 lOff.; Hart: Eine empirische Version der Naturrechtslehre. In: Hoerster (Hrsg.): Recht und Moral. Texte zur Rechtsphilosophie. München 1977. S. 94ff.; derselbe: The Concept of Law. Oxford 1961. S. 189ff. (dtsch.: Der Begriff des Rechts. Frankfurt/M. 1973); Hoerster: Rechtsethik ohne Metaphysik. In: JZ 1982, 265 ff.

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in sich und logisch unhaltbar. Die vollständige Begehrensbefriedigung eines Einzelnen wird durch den gleichen Anspruch des anderen aufgehoben, die Befriedigung aller individuellen Begehren als allgemeines Gesetz erweist sich als praktisch undurchführbar. Der Ausweg aus dem Dilemma kann nur in der Forderung nach Einschränkung der individuellen Begehren entsprechend den jeweiligen, historischen Gegebenheiten und genauer zwischen den Begehren und Begehrenden unterscheidenden Kriterien mit Hilfe primärer Zielsetzungen gefunden werden. Unter den empirisch feststellbaren, naturhaften Begehren des Menschen lassen sich solche auszeichnen, die ganz offensichtlich vor allen anderen Begehren erfüllt werden müssen, weil ohne ihre Erfüllung auch die Befriedigung anderer Begehren nicht möglich wäre. Diese vorrangigen, ersten und ursprünglichen Begehren haben ihre Wurzel im Streben nach Sicherung des eigenen Lebens, sind die logische Konsequenz eines in allen Lebensbereichen zu beobachtenden, starken, naturhaften Selbsterhaltungstriebs. So ist es fast selbstverständlich, daß Handlungen, welche das Überleben gewährleisten, allgemein als „von Natur aus" gut empfunden werden und alle Vorstellungen von menschlichen Bedürfnissen, von gesundheitlichen Schädigungen, von der Funktion körperlicher Organe und ihren Veränderungen auf dieser einfachen Voraussetzung beruhen. Politische Denker, wie die empirisch orientierten, englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679) und David Hume (17111776), sahen im Ziel der Selbsterhaltung schon lange vor der Ermittlung der bestätigenden, anthropologischen Fakten den zentralen, ersten Tatbestand, der den Gedanken des Naturrechts über allen philosophischen (metaphysischen) Streit und über alle konkreten Ausgestaltungen der verschiedenen, historischen Rechtsordnungen hinweg empirisch sinnvoll und logisch gerechtfertigt erscheinen ließ. Es liege in der Natur des Menschen, so läßt sich schon bei Hume nachlesen, daß er nur im Zusammenschluß mit anderen Menschen überleben könne 47 . Ein solcher Zusammenschluß aber wäre undenkbar, wenn es keine Gesetze der Gerechtigkeit und Billigkeit gäbe, die allgemeine und strikte Beachtung fänden 4*. Der Wille zur Selbsterhaltung als empirisch feststellbares, kontingentes Phänomen zieht das Begehren nach sich, weder an Leib und Seele, noch in seinem persönlichen Eigentum, als der Grundlage materieller Vorsorge gegen Not, geschädigt zu werden. Nicht Lustgewinn ist das primäre Ziel menschlichen Verhaltens, sondern Abwehr von Unlust, Schaden, Beeinträchtigung, Zwang als Folge der Überlegenheit physisch und intellektuell Stärkerer. Sicherung des Lebens, Abwehr von Schaden, Erhaltung eines privaten Handlungsspielraums und gegenseitige Fürsorge im Schutze der Gemeinschaft mit anderen lassen sich 47 Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur (A Treatise of Human Nature) 3. Buch. 2. Teil. 2. Abschnitt. Ausgabe Meiner Hamburg 1973. S. 228. 48 Zur Gerechtigkeitsidee als Grundgedanken sozialen Zusammenlebens vgl. Rawls : Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975. S. 19ff. und unten S. 206ff.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

als naturgegebene, triebhafte Strebungen ausmachen, die als primäre Begehren vor allen anderen befriedigt werden müssen, soll es zu einem sinnhaften, menschenwürdigen Leben kommen, in dem auch individuelle Vorstellungen von Glück verwirklicht werden können. Demzufolge müssen die übergeordneten Begehren im Konfliktsfall allen anderen Begehren vorgezogen werden, oder moralisch gewendet: Jeder ist verpflichtet, von der Befriedigung persönlicher Ziele abzulassen, wenn dadurch die Verwirklichung übergeordneter, primärer Zielsetzungen ver- oder behindert wird. Rechtsnormen, welche die körperliche Unversehrtheit sowie ein gewisses Maß an individueller Handlungs- und Bewegungsfreiheit schützen, Rechtsnormen, die das wirtschaftliche Existenzminimum sichern, den Schutz des Privateigentums an Konsumgütern und die Einhaltung von Verträgen garantieren oder die soziale Fürsorge für Kinder, Kranke und Altersschwache regeln, lassen sich ohne Schwierigkeiten aus den primären, menschlichen Bedürfnissen ableiten und „naturrechtlich" begründen. Es ist hier nicht der Ort, die aus der Erkenntnis der anthropologischen Gegebenheiten möglichen und nötigen Schlußfolgerungen in allen Einzelheiten auszubreiten — dies muß Detailstudien mit enger umgrenzter Themenstellung vorbehalten bleiben —; hier geht es vorderhand lediglich darum, über die von der normativen Entscheidungstheorie gelieferten formal-rationalen Entscheidungsmuster hinaus, erste Ansätze für eine Rangordnung material-rationaler Zielsetzungen sichtbar zu machen. Zwei Fragen bedürfen jedoch noch der — wenigstens kurzen — Erörterung, bevor wir uns wieder prinzipiellen Überlegungen zuwenden, nämlich einmal die Frage, aus welchem Grund die moralische Forderung anerkannt werden soll, Begehren, die der Verwirklichung primärer Ziele im Wege stehen, zurückzustellen, zum anderen die Frage, wo eine auf erfahrungswissenschaftlich ermittelten Fakten beruhende Erklärung der Sittlichkeit als Instinktverlängerung und Instinktersatz ihre theoretisch begründete Grenze findet. 7. Schwächen des individualistischen

Utilitarismus

Die Anhänger des ethischen Utilitarismus 49 haben den Grund für die Anerkennung der erhobenen, moralischen Forderung im wohlverstandenen Eigeninteresse des Handelnden selbst gesucht. Aus dem persönlichen Gesichtspunkt, bei der Befriedigung individueller Begehren von der Gesellschaft, deren Glied man ist, abhängig zu sein, sei das Individuum notwendig zu dem Schluß 49 Zu nennen sind vor allem Bentham: Introduction to the Principles of Morals and Legislation. 1789. Dtsch. v. Beneke. 1830; Mill: Utilitarianism. London 1863. (Dtsch. Stuttgart 1975). Dazu: Stephens: The English Utilitarians. 3 Bde. 1900; Albee: History of English Utilitarism. 1902; Sidgwicks: The Methods of Ethics. 7. Aufl. London 1907; Kraus: Zur Theorie des Wertes. 1902; Höffe: Einführung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenöss. Texte. München 1975; Smart/Williams: Utilitarianism for and against. Cambridge 1973; eine Übersicht bei Brock: Recent Work in Utilitarianism. In: American Philosophical Quarterly 10 (1973). S. 241 ff.

III. Die ethische Problematik des Zweckhandelns

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gezwungen, sich den überpersönlichen Gesichtspunkt einer Förderung des Wohles des Ganzen zu eigen zu machen. Denn nur wenn alle oder wenigstens alle relevanten, tatsächlich vorhandenen Bedürfnisse und Neigungen befriedigt würden, bestehe Aussicht auf Befriedigung der eigenen, partikularen Begehren; nur wo moralische (und rechtliche) Forderungen die primären Ziele im Interesse aller sicherten, könnten private Zwecke mit Aussicht auf Erfolg erstrebt werden. Sieht man davon ab, daß die Behauptung, die allgemeine Erreichung der primären Ziele sei notwendige Bedingung der persönlichen, als logische Schlußfolgerung vom Standpunkt des Einzelnen aus nicht einleuchtet, weil die persönliche Erfüllung im Einzelfall ohne die allgemeine möglich ist und im Kampf gegen den Konkurrenten erzwungen werden kann — was fortwährend zu neuen Übertretungen moralischer und rechtlicher Normen durch einzelne Individuen führt —, würde doch eine Begründung, die das wohlverstandene Eigeninteresse zum alleinigen Prinzip der Motivation menschlichen Handelns überhaupt erklärt, sittliche Vernunft auf bloße Zweckmäßigkeit, Anpassung an tatsächliche Gegebenheiten, also praktische Klugheit reduzieren. Soll gemäß der utilitaristischen Formel vom „größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl" die Befriedigung der Bedürfnisse aller Gesellschaftsangehöriger dauernd und zuverlässig, also auch für den Fall gewährleistet werden, daß sich für den Einzelnen die Beachtung moralischer und rechtlicher Verhaltensregeln weder hier und jetzt noch auf lange Sicht lohnt, so müßte ein sozialer Mechanismus dafür sorgen, daß im Konfliktfall von Selbst- und Allgemeininteressen ein Einklang gefunden wird, dergestalt, daß allgemein verderbliches, individuelles Handeln keinen persönlichen Nutzen abwirft; m. a. W. der Übeltäter müßte wegen des ungerechtfertigt erworbenen Vorteils von der Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden. Ist dies folgerichtig gedacht, stellt sich einerseits die Frage, wer denn wohl den jeweiligen Normgeber, der den Einklang bewirkenden, sozialen Mechanismus künstlich herzustellen hätte, zwingt, auf seine partikularen Interessen zu verzichten, andererseits, ob unter diesen Umständen das Individuum bei seinen Entscheidungen wirklich noch vom Prinzip der Nützlichkeit und des wohlverstandenen Eigeninteresses motiviert wird oder nicht vielmehr durch Angst vor Strafe und gesellschaftlicher Repression. Jedenfalls scheint die ethische Grundentscheidung, etwa im Sinne der oben dargestellten, ethischen Theorie Kants, nämlich die freiwillige Unterwerfung unter einen überpersönlichen Gesichtspunkt, unter ein ethisches Gesetz oder Prinzip, aus dem Selbstinteresse des Einzelnen bei rationaler Erwägung der sozialen Voraussetzungen individueller Begehrensbefriedigung nicht zwingend zu folgen 50 . Obwohl es ethisch richtig ist, das Wohl aller Mitglieder der 50

Aus diesem Grunde hat ein Normenverstoß meist keinen „morsus conscientiae" (Spinoza), kein schlechtes Gewissen, zur Folge, wird Strafe als unvermuteter Schicksalsschlag, als Verhängnis, hingenommen — man war eben nicht „klug", nicht „vorsichtig" genug — ist Hoffnung auf Besserung durch Strafe bei ethisch Blinden vergeblich. So schon Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. 1887. 2. Abhandl., Abschn. 15. In: Werke. Hrsg. v. Schlechta. 5. Aufl. München/Wien 1966. Bd. IV. S. 823 f. 11 Mittenzwei

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Gesellschaft zu fördern, enthält die klassische Position des individualistischen Utilitarismus weder einen Ansatzpunkt für die Entfaltung eines moralischen Prinzips noch eine immanent überzeugende Begründung der kategorischen Verbindlichkeit von Normen 5 1 . Rechtsphilosophisch betrachtet, hat die Position des individualistischen Utilitarismus noch eine andere, bedenkliche Schwäche: Ausgerichtet an den Grundbedürfnissen des menschlichen Lebens kann sie zwar die Notwendigkeit einer staatlichen Ordnung mit zwangsweise durchsetzbaren, positiven Normen zur Wahrung des gesellschaftlichen Friedens einsichtig machen, nicht jedoch die Notwendigkeit der weitergehenden Rechtseinrichtungen wie Verfassung, Grundrechte und Gewaltenteilung als Bedingung freiheitlicher und gerechter Sozialgestaltung; die Legitimität des neuzeitlichen, demokratischen Verfassungsstaates beruht auf geschichtlichen Erfahrungen, die im individualistischen Zweckkalkül des rationalen Wirtschaftens theoretisch nicht vollständig zu erfassen sind 5 2 . Besteht die materiale Rationalität sozialen Verhaltens nämlich darin, daß man die realen, gesellschaftlichen Bedingungen der Befriedigung wohlverstandener Eigeninteressen langfristig berechnet, so kann sozialethisch nichts verpflichten, was nicht auch wirklich einer langfristigen Sicherung egoistischer Interessenbefriedigung dient. Damit wird man von der Position des Utilitarismus aus nicht nur blind für den offenkundigen Unterschied individueller Moral und sozialer Ethik, innerer und äußerer Verpflichtung, sondern auch indifferent gegenüber den Fragen des Schutzes von Minderheiten oder der Verteilungsgerechtigkeit. Die historische Erfahrung, daß einer Sozialethik, die zunächst die Befriedigung der Grundbedürfnisse des Lebens sichern muß (Frieden), bevor überhaupt die Möglichkeit besteht, sich dem Problem der institutionellen Sicherung freier, geistiger Betätigung (kultureller Bedürfnisse) und sozialer Gleichstellung zuzuwenden, umgekehrt meist mit einer idealistischen Moral korrespondiert, die zur Durchsetzung der ethischen Forderungen nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit im Interesse des Gemeinwohls zum Verzicht auf fundamentale Eigeninteressen bereit macht, liegt außerhalb des Gesichtskreises des auf Nutzenmaximierung fixierten „homo oeconomicus". Die Verallgemeinerung von Einsichten in wirtschaftliche Zusammenhänge des Marktes, zu dessen Funktionsfahigkeit Rechtssicherheit und ein gewisses Maß an Toleranz ausreichen, wie die geschichtliche Entwicklung der wirtschaftsbürgerlichen Freiheit unter der Herrschaft patrimonialer Mächte gezeigt hat 5 3 , bietet keine Grundlage für eine ethische Legitimation des modernen Verfassungsstaates, der über die Rechtssicherheit hinaus geistige Freiheit schützen und ökonomische Gerechtigkeit herstellen soll. 51

Ebenso Höffe: Sittlichkeit. In: Hdb. philos. Grundbegriffe. Bd. V. München 1974. S. 1341 ff. (1351); Joerden: Nochmals: Rechtsethik ohne Metaphysik. In: JZ 1982, 670ff. (672 f.). 52 Kriele: Einführung in die Staatslehre. 2. Aufl. Opladen 1981. § 5. S. 31 f. 53 Vgl. dazu Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. 4. Aufl. Tübingen 1956.2. Halbbd. S. 648 ff.

III. Die ethische Problematik des Zweckhandelns

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Im Hinblick auf die Feststellung eines Minimalgehaltes materialer Ethik ist immerhin einzuräumen, daß die ermittelten, anthropologischen Fakten — das Überleben als primäres Ziel aller Handlungsanweisungen vorausgesetzt — eine Basis für die erklärende Beschreibung bestimmter sozialer Verhaltensweisen abgeben, ohne deren Normierung der Mindestzweck jedes sozialen Zusammenschlusses von Menschen nicht gesichert werden könnte. Wo nämlich die Mindesterfordernisse nicht erfüllt sind, gibt es für den Menschen keinen natürlichen, empirisch-rationalen Grund, irgendwelchen Normen aus freiem Entschluß zu gehorchen. Ein Mindestmaß an freiwilliger Normenbefolgung durch diejenigen, welche fähig sind, die Aufrechterhaltung der Sozialordnung als im eigenen Interesse liegend anzuerkennen, ist aber notwendig, um gegenüber denjenigen, welche die Notwendigkeit freiwilliger Unterwerfung bzw. freiwilligen Verzichts auf Bedürfnisbefriedigung nicht einzusehen vermögen, Zwang ausüben zu können. Sanktionetì sind weniger deshalb nötig, weil es ohne sie für das egoistische Individuum kein Motiv zum Gehorsam gäbe, als vielmehr um zu verhindern, daß die Interessen derjenigen, die aus Einsicht in den Sinn sozialer Zusammenschlüsse freiwillig gehorchen, nicht permanent den Interessen derjenigen geopfert werden, welche eben diesen Sinn mangels Einsichtsfähigkeit oder Willenskraft ohne äußeren Zwang entweder nicht respektieren können oder wollen. Typischerweise gebieten denn auch die Recht und Moral gemeinsamen Normen in erster Linie Unterlassungen und erst in zweiter Linie bestimmte Handlungen. Die Grundtatsache des ÜberlebenWollens erweist sich in der naturrechtlich-ethischen Deutung als ein limitativer Orientierungspunkt: Die Weigerung, unterzugehen, erlaubt es, mit Hilfe logischer Transformation Verhaltensweisen als verboten auszuscheiden, die der Selbsterhaltung zuwiderlaufen, insbesondere also die Anwendung von Gewalt mit dem Ziel, zu töten oder zu verletzen, zu untersagen. Sie erlaubt darüber hinaus, gewisse positive Gebote gemeinnützigen Verhaltens zu formulieren, etwa die Verteilung der zum Leben notwendigen Güter oder die notwendige, freiwillige Zusammenarbeit bzw. Arbeitsteilung betreffend 54 . Die auf erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis beruhende Interpretation der Ethik als Integrations- und Stabilisationsfaktor sozialer Systeme erreicht dort ihre Grenze, wo der Begriff der Ethik, so wie er sich in der menschlichen Geistesgeschichte dialektisch entfaltet hat, die lediglich empirische Vorstellung eines kybernetisch-kausalen Funktions- und Regelkreises kollektiver Selbsterhaltung sprengt. Wie die Darstellung der ethischen Position Kants und Fichtes als einer der fraglosen Höhepunkte dialektischer Begriffsentfaltung gezeigt hat, ist beim Menschen im Gegensatz zum instinkt- und umweltgebundenen Tier das empirisch feststellbare, allgemeine Ziel des Überlebens qua Naturbeherrschung und Systemstabilisierung immer schon überschritten durch das Bewußtsein einer zu sich selbst kommenden Vernunft, die sich in den Vorstellungen notwendiger Solidarität und Konformität keineswegs erschöpft, sondern eben54 Vgl. Hart: Eine empirische Version der Naturrechtslehre. In: Hoerster (Hrsg.): Recht und Moral. Texte zur Rechtsphilosophie. München 1977. S. 94ff. (104ff.).

11*

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sosehr geistige Bereiche wie etwa Freiheit, persönliche Bestimmung, kulturelle Lebensformen, ja sogar Wahrheit (Gerechtigkeit) mitumfaßt. Selbst wenn es richtig ist, daß die Überlebenschancen des einzelnen Menschen faktisch an die der Gesellschaft und die der Gesellschaft an ein durch Ethik und Recht stabilisiertes Verhältnis gegenseitigen Vertrauens gekoppelt ist, gehören doch zu einem vollständigen Begriff von Sittlichkeit neben empirischen auch nichtempirische Gehalte. Aus biologischen und kulturhistorischen Gründen allein ist Ethik als ein nicht naturnotwendiges, vielmehr intersubjektiv geschaffenes Produkt keineswegs bündig abzuleiten, was schon die einfache Überlegung beweist, daß Selbsterhaltung als Naturbasis für sittliches Verhalten selbst Gegenstand sittlicher Entscheidung sein kann 5 5 . Es ist deshalb nicht zutreffend, wenn behauptet wird, moralisch relevantes Argumentieren liege nur vor, wenn die der Argumentation zugrunde liegenden, höchsten Zwecke durch elementare Bedürfnisbefriedigung definiert seien 56 . Die sog. „Grundeinsicht", daß „die Aufhebung der Existenz die Aufhebung allen Sinns einschließt, um dessentwillen... argumentiert... w i r d " 5 7 , ist nur von einem individualistischen Standpunkt aus evident und muß mindestens dahin modifiziert werden, daß es nicht um die Erhaltung der Existenz eines Einzelnen oder einer bestimmten Gruppe, sondern des Lebens schlechthin geht. Gibt es einen sittlichen Willen im Sinne Kants, durch den jedes zweckorientierte, menschliche Streben als nicht notwendig aufgezeigt wird, so wäre es ein Widerspruch, wenn ein solcher Wille seinerseits nicht gesetzmäßig, sondern willkürlich und kontingent bestimmt würde, oder aber die Bestimmung nach Regeln erfolgte, welche nicht durch den Willen selbst gesetzt, sondern von außen aufgedrängt worden wären. Ein solcher Wille wäre kein geeigneter Ausgangspunkt für einen freien, sittlichen Entschluß, etwas als notwendig Eingesehenes zu tun oder zu unterlassen, bzw. in der Überschreitung der eigenen Bedürfnisund der faktischen Gesellschaftsstruktur zu einem sittlichen Bewußtsein zu finden. Die Unabhängigkeit des sittlichen Willens von allen sinnlichen Antrieben, Bedürfnissen und Neigungen, wie auch von geschichtlichen und sozialen Zwängen eröffnet überhaupt erst die dialektische Alternative der Negation bzw. der nachfolgenden Affirmation, der Autonomie oder Heteronomie, welche die Freiheit der Wahl und die Möglichkeit, Synthesen zu denken, begründet. Ethik ist, so gesehen, der universale, dauernde Anspruch an den von elementaren Bedürfnissen, Gefühlen und Leidenschaften getriebenen Menschen, die formale und fundamentale Negation aller materiellen Ziele tatsächlich zu denken und in autonomen Entscheidungen zu realisieren. Soweit er dies mangels Einsichtsfähigkeit oder Willensschwäche nicht zu leisten vermag, soweit die Autonomie seiner Entscheidungen durch politische Willkür überlegener, gesellschaftlicher 55

Vgl. Höffe: Sittlichkeit. aaO. S. 1349. Blasche: Bedürfnis und Vernunft. Systematische Überlegungen zum praktischen Argumentieren im Anschluß an Hegels Rechtsphilosophie. Diss. Erlangen-Nürnberg 1974. S. 119f. 56

57

Blasche aaO. S. 120 Fn. 9.

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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Mächte bedroht wird, ist im Sozialbereich sanktionsbewehrtes Recht als komplementäre Ergänzung der Ethik gefordert. Jede Rechtsordnung stellt demnach den prinzipiellen Versuch dar, die Willkür der vom Eigennutz beherrschten Individuen und Gruppen so miteinander zu vereinbaren, daß die individuelle Entscheidungsfreiheit unter einem höheren Gesichtspunkt der Vernunft als ethisch gerechtfertigt gedacht werden kann. Nicht Willkür, in welcher Erscheinungsform auch immer, wohl aber eine Ordnung der Willkür ist im Begriff des Rechts enthalten; Recht setzt individuelle Freiheit voraus, jedoch handelt es sich stets um durch das Sittengesetz eingebundene Freiheit. Individuelle Zwecksetzungen müssen als Maximen des Handelns verallgemeinerungsfahig und/oder mit anderen individuellen Zwecksetzungen im Falle der Unverträglichkeit unter einem normativen Gesichtspunkt ausgleichsfahig sein 58 . IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion 1. Vernunft-

und Moralprinzip

als Grundsätze teleologischer Systembildung

M i t der ethischen Begründung von Recht als Inbegriff derjenigen Normen, welche die Freiheit individueller Zwecksetzung und Interessenverfolgung durch Geltendmachung übergeordneter Gesamtinteressen zu ermöglichen und zum Wohle des Ganzen zu lenken versuchen, sind freilich noch keine Regeln und Prinzipien gewonnen, die es gestatten würden, ein System materialer, ethischer und rechtlicher Handlungsanweisungen zu entwerfen. Immerhin hat sich die Ethik Kants, wie sie hier dargestellt wurde, mit ihren aus der Vernunftidee abgeleiteten Grundgedanken der Freiheit, der Gesetzmäßigkeit und Verallgemeinerungsfahigkeit des Handelns, der gegenseitigen Anerkennung (Würde der Person) und der Publizitätsfahigkeit der gewählten Maximen 1 , als sehr fruchtbar erwiesen; vor allem das Prinzip der Generalisierbarkeit von Zwecken erfreut sich weitgehender Anerkennung und begegnet allenthalben in modernen Ethikkonzeptionen 2 ; aus diesem Prinzip lassen sich die Forderungen nach 58 Welzeh Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. 4. Aufl. Göttingen 1962. S. 169f. mißversteht den kategorischen Imperativ, wenn er meint, jeder besondere Willensinhalt sei verallgemeinerungsfahig. U m sein Beispiel aufzugreifen: Es kommt nicht darauf an, ob der Anarchist, der jede Eigentumsordnung ablehnt, mit sich selbst in Widerspruch gerät, wenn er die Wegnahme von Gütern nach Bedarf zu seiner Maxime erhebt; die Frage ist vielmehr, ob alle anderen Anarchisten nach der gleichen Maxime handeln dürfen (sollen); dies aber wäre unmöglich, weil auch in der Anarchie die Bedürfnisse größer sind als die Menge der vorhandenen Güter und Konflikte zwischen subjektiven Zwecksetzungen unvermeidlich würden. Auch das Beispiel „Kleiderfabrikant" (Kriele: Recht und praktische Vernunft. Göttingen 1979. S. 29) trifft nicht, da die Herstellung von Bekleidungsstücken die Freiheit anderer nicht beeinträchtigt. 1

Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden. Akad.-Ausg. Bd. 8. S. 381. Vgl. etwa Hare: Freedom and Reason. Oxford 1963. S. 10ff. (dtsch.: Freiheit und Vernunft. Düsseldorf 1973); Singer: Generalization in Ethics. New York 1961. S. 34 (dtsch.: Verallgemeinerung in der Ethik. Frankfurt/M. 1975); Baier: The moral point of view. A rational basis of ethics. Ithaca/London 1958. S. 191 ff. (dtsch.: Der Standpunkt der 2

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Regelhaftigkeit, nach Konsistenz des Verhaltens, nach konsequenter Beachtung und allgemeiner Lehrbarkeit der Maximen, nach inhaltlicher Akzeptierbarkeit der jeweiligen Bedürfnisregelungen durch alle Mitglieder u. a. ableiten. Es hat durchaus den Anschein, als könnten auf der von Kant erarbeiteten Basis weitere Regeln und Prinzipien gewonnen werden, die den historischen Prozeß der Entscheidungsfindung so zu gestalten vermögen, daß der Freiraum des Handelns näher bestimmt wird und die Konkurrenz der Zwecke unter Berücksichtigung der konkreten ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen in „herrschaftsfreier Kommunikation" bzw. „ i n transsubjektiver Beratung" zu einem Ausgleich gelangt. Denn was in der transzendentalphilosophischen und empirisch-anthropologischen Erörterung des Problems bislang vernachlässigt wurde, ist die sprachliche Dimension ethischer Normbegründung. Hier nun knüpfen Reflexionen über die Möglichkeit der Rechtfertigung von Werten und Normen an, die Paul Lorenzen und sein Schüler Oswald Schwemmer unter Aufnahme des kantischen Handlungsprinzips einerseits und der modernen, sprachanalytischen Ansätze der Analytischen Philosophie andererseits angestellt haben 3 . Beide kritisieren mit Blick auf den in der allgemeinen Ethik (im strengen Sinne) der neuzeitlichen Geistesgeschichte wiederholt unternommenen Versuch, ein unabhängig von der kulturellen — und insbesondere individuellen — Verschiedenheit der jeweiligen Handlungssituation geltendes, also kulturinvariantes Prinzip zu finden, zunächst die voreilige Annahme, ein solches Prinzip könnte inhaltlich eine hinreichende Grundlage für die Beurteilung einzelner Handlungen oder Zwecksetzungen bilden. Invariante Prinzipien einer allgemeinen Ethik, die als Wissenschaft auftrete, seien lediglich geeignet, die Art der Sätze festzulegen, welche als Gründe, d. h. als „gerechtfertigte Normen", für Handlungen oder Zwecksetzungen anerkannt werden sollen, nicht aber, bestimmte Gründe als gerechtfertigt anzugeben4.

Moral. Düsseldorf 1974); Habermas: Wahrheitstheorien. In: Wirklichkeit und Reflexion. Festschrift für W. Schulz. Hrsg. v. Fahrenbach. Pfullingen 1973. S. 211 ff. (251) nennt die Verallgemeinerungsfahigkeit gar „den einzigen Grundsatz, in dem sich praktische Vernunft ausspricht". 3 Vgl. Lorenzen: Normative logic and ethics. Mannheim/Zürich 1969. S. 70ff.; Schwemmer. Philosophie der Praxis. Versuch zur Grundlegung einer Lehre vom moralischen Argumentieren in Verbindung mit einer Interpretation der praktischen Philosophie Kants. Frankfurt/M. 1971. S. 15ff., 106ff., 207ff.; Blasche/Schwemmer: Methode und Dialektik. Vorschläge zu einer methodischen Rekonstruktion der Hegeischen Dialektik. In: Riedel (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Bd. I. Freiburg/Brsg. 1972. S. 457 ff.; Lorenzen/Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Mannheim/Wien/Zürich 1975. S. 148 ff., 273 ff.; Schwemmer: Grundlagen einer normativen Ethik. In: Kambar tel/ Mittelstraß: Zum normativen Fundament der Wissenschaft. Frankfurt/M. 1973. S. 159 ff.; derselbe: Theorie der rationalen Erklärung. Zu den methodischen Grundlagen der Kulturwissenschaften. München 1976. 4 Lorenzen/Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Mannheim/Wien/Zürich 1975. S. 15. Vgl. auch oben S. 37 und Manigk: Wie stehen wir heute zum Naturrecht. Berlin 1926. S. 31.

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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Demzufolge könne der kategorische Imperativ Kants, den Lorenzen und Schwemmer sich als praktisches „Vernunftprinzip der Transsubjektivität", d. h. als ethische Forderung, die Subjektivität der Zwecksetzungen zu transzendieren, ausdrücklich zu eigen machen 5 , auch nur bestimmen, daß Handlungen und Zwecksetzungen verallgemeinerungsfahig sein müssen. Durch dieses Prinzip gerechtfertigte Zwecke und Normen könnten sich gleichwohl noch inhaltlich widersprechen, denn die Eigenschaft, verallgemeinerungsfahig zu sein und zum Grundsatz allgemeinen Handelns erhoben werden zu können, verhindere nicht, daß miteinander nicht zu vereinbarende Ziele angesteuert und unverträgliche Handlungsweisen nahegelegt werden. Das Vernunftprinzip der Transsubjektivität müsse daher durch ein „Moralprinzip" ergänzt werden, das für den Fall der inhaltlichen Unverträglichkeit von Zweck- und Normsetzungen fordere, zu den Zwecken bzw. Normen, die als Gründe für die miteinander unvereinbaren Zielsetzungen angeführt werden, übergeordnete Zwecke oder Normen zu finden, die miteinander verträglich sind 6 . Diese moralische Aufforderung, in der Praxis auftauchende Widersprüche durch die Entwicklung von Strukturen, durch die Systematisierung von Zwecken, Zielen und Normen zu beseitigen, kommt in ihrer methodischen Absicht dem dialektischen Prinzip nahe, wie es oben dargestellt wurde 7 . 2. Hegels Kritik

an Kant und seine dialektische Rekonstruktion sittlichen Rechts

Schon Hegel hatte ja in kritischer Auseinandersetzung mit der Moralphilosophie Kants gerügt, daß dieser zu einer „Wahrheit des Willens", d. h. zu objektiv gültigen Normen, auf dem gleichen Wege gelangen wollte wie zu der „Wahrheit des Wissens", nämlich durch Auszeichnung bestimmter, von jedermann zu leistender Willensbildungen vor anderen, analog dem Übergang vom bloß subjektiven Meinen zum theoriegefestigten, intersubjektiven Wissen, also durch Überwindung bloß faktischer, subjektiver Begehrungen zugunsten eines „einsichtig" gewordenen, transsubjektiven „Willens" auf Grund kritischer Reflexion 8 . Wäre dieser Weg gangbar, würde das von Kant entworfene Moralprinzip möglicherweise hinreichen, um neu angemeldete Begehren oder Zwecke ethisch zu beurteilen. Doch ist dazu Voraussetzung, daß die in einer Gruppe oder Gemeinschaft gemeinsam verfolgten Zwecke bzw. Normen, welche die Gruppe bzw. Gemeinschaft als solche überhaupt erst konstituieren und vernünftige 5

Lorenzem Normative logic and ethics. Mannheim/Zürich 1969. S. 82. Lorenzen/Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Mannheim/Wien/Zürich 1975. S. 167. 6

7

Vgl. S. 70 ff., 80ff.; ebenso Blasche/Schwemmer: Methode und Dialektik. In: Riedel (Hrsg.): Rehabilitierung der praktischen Philosophie. Bd. I. Freiburg 1972. S. 457 ff. 8 Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik vgl. Ritter: Moralität und Sittlichkeit. In: Hegel in der Sicht der neueren Forschung. Wege der Forschung. Bd. 52. Darmstadt 1973. S. 322-351.

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Beratungen über auftretende Konflikte zu allererst möglich machen, schon auf Grund dieser Bedeutung als gerechtfertigt unterstellt werden können, so als ob sie mit einem Schlage entstanden und sich nicht in einer komplizierten, historischen Entwicklung allmählich gebildet hätten. Denn nur in einer dem Naturzustand vergleichbaren Situation vorgegebener, gerechter Verhältnisse könnte die Verträglichkeit neu auftauchender Zwecke untereinander und im Verhältnis zu bereits anerkannten und praktisch verfolgten Zwecken sowie ihr wertbestimmter Rang festgestellt werden. Anders als bei den als „wahres Wissen" intersubjektiv ausgezeichneten Meinungen über kausale Zusammenhänge — und, wie wir noch bemerken werden, nicht einmal immer hier — ist aber die Annahme, intersubjektiv anerkannte Zwecke und Normen dürften, weil sie in einer Gemeinschaft faktisch befolgt werden, auch als richtig und gerechtfertigt zugrunde gelegt werden, nicht zulässig. Denn einerseits lassen sich Zweck- bzw. Normsetzungen in materialer Hinsicht nicht unabhängig von der jeweiligen Situation, in der sie Geltung beanspruchen, beurteilen, andererseits ist eine bestimmte historische Situation nur, weil sie sich in natürlicher Weise entwickelt zu haben scheint, darum noch nicht gerecht; vielmehr muß gerade dies erst geprüft werden. In der Erkenntnis, daß die Gerechtigkeit materialer Normen durch die jeweils gegebene, historische Lage bedingt und über sie nicht unabhängig von ihr entschieden werden darf, fordert Hegel auf, zu „begreifen, was ist" 9 ; d. h. im vorliegenden Zusammenhang, faktisch befolgte Normen, Sitten und Gebräuche, bis hin zu den überlieferten Institutionen als das Ergebnis eines langwierigen, dialektischen Entwicklungsprozesses zu verstehen, während dessen aus ursprünglich einfachen und einfachsten Normensystemen mit erheblich weniger, vor allem weniger differenzierten Regeln allmählich immer komplexere und differenziertere Normensysteme erwuchsen, und zwar in der Verfolgung von Zwecken, die, wie Kant richtig gesehen hat, gegenüber anderen Zwecken ausgezeichnet waren. Demnach besteht die Struktur geschichtlich gewordener Normensysteme darin, daß die jeweils verfolgten Zwecke untereinander in bestimmten Beziehungen als Unter- und Oberzwecke stehen, aus denen gewöhnlich der eine oder der andere Zweck so herausragt, daß er stets als oberster oder einer der obersten behandelt werden kann. Hegel konkretisiert seine Vorstellung von der inneren Struktur (Idee) eines äußerlichen Normensystems (Erscheinung) in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (1821) am Beispiel des römischen Rechts seiner Zeit, das er unter dem Primat der Zwecke: freie Entfaltung der individuellen Besonderheiten in persönlicher und sachlicher Beziehung (Rechtsperson, Eigentum) und dialektische Rückführung des (vollendeten) Prinzips der Subjektivität in die substantielle Einheit eines Ganzen (des Staates), hinsichtlich seines wirklich gewordenen Vernunftgehaltes kritisch zu begreifen versucht 10 . 9

Vgl. Bitsch: Sollensbegriff und Moralitätskritik bei G. W. F. Hegel. Bonn 1977. S. 216 ff.

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Ausgehend von der Überlegung, daß der Boden des Rechts das Geistige und der Anknüpfungspunkt systematischer Durchdringung der freie Wille sei, oder, wie Hegel selbst es formuliert, daß die Freiheit die Substanz des Rechts ausmache und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit darstelle, die ihrerseits aus dem Rechtssystem die Welt des Geistes als zweite Natur hervorgebracht habe, versucht er die Idee des an und für sich freien Willens dialektisch zu entwickeln: Erstens, als abstrakte Rechtspersönlichkeit, als unmittelbare, von inhaltlichem Tun abstrahierende Angelegenheit (die Sphäre des abstrakten, formellen Rechts); zweitens, als aus dem bloßen, äußeren Dasein des in sich reflektierten Willens, als subjektive Einzelheit im Gegensatz zum Allgemeinen, teils als Inneres (das subjektiv Gute), teils als Äußeres (eine vorhandene Welt), oder wie Hegel an anderer Stelle sagt, die Idee in ihrer Entzweiung oder besonderen Existenz, das Recht des subjektiven Willens zum Recht der Welt (die Sphäre der Moralität); drittens, die Einheit der beiden Momente Recht und Moralität, die Idee der Sittlichkeit in ihrer an und für sich allgemeinen Existenz, in welcher die Freiheit als Substanz ebensosehr als Wirklichkeit und Notwendigkeit wie als subjektiver Wille besteht. Die Sphäre der Sittlichkeit erwächst Hegel konkret aus der Familie (dem natürlichen Geist) in ihrer Entzweiung und Erscheinung, der bürgerlichen Gesellschaft, und gipfelt im Staat, den er als objektiven Geist und allgemeine Freiheit faßt, in welcher der besondere Wille des Individuums in seiner freien Selbständigkeit aufgehoben (und aufbewahrt) ist 1 1 . Der Wille als das Vermögen, sich theoretisch und praktisch frei zu verhalten, enthält begrifflich zunächst das Element der reinen Unbestimmtheit, der schrankenlosen Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken. In diesem Element des Willens liegt die Möglichkeit begraben, sich von allem loszumachen, alle besonderen Zwecke aufzugeben, von allem zu abstrahieren; der Mensch kann alles fallen lassen, sogar das eigene Leben; er allein besitzt die Kraft, sich aus seiner Bestimmtheit, Besonderheit zu lösen, sich im Denken Allgemeinheit zu geben. Diese (verneinende) Freiheit des Verstandes ist bloß einseitig, aber ihre Einseitigkeit, die in religiösen und politischen Vorstellungen Geschichte geworden ist, wird in der dialektischen Bewegung des Geistes negativ und durch den Übergang des Ich aus der unterschiedslosen Unbestimmtheit zur Unterscheidung und Bestimmung, zur Setzung eines Inhalts und Gegenstandes, überwunden. Damit wird neben dem ersten Moment des Willens, der reinen Reflexion des Ich, das zweite Moment sichtbar, das Moment der Besonderung und Endlichkeit; auch dieses ist bloß negativ-einseitig wie das erste, nämlich Aufhebung der Negativität des abstrakt Allgemeinen. Das Besondere, das der Wille will, die bestimmten Zwecke, die er verfolgt, 10 Vgl. zum Folgenden: Ritter: Person und Eigentum. In: Metaphysik und Politik. Frankfurt/M. 1969. S. 256ff. 11 Vgl. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. § 33. In Werke. Hrsg. v. Moldenhauer und-Michel. Frankfurt/M. 1970. Bd. 7, 87.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

schränken das unendlich Allgemeine inhaltlich ein, bedeuten Beliebigkeit und Endlichkeit, sowohl der Zwecke als auch des Willens selbst. Erst durch die Einheit der beiden Momente ergibt sich der freie, selbstbestimmte Wille, der sich als Allgemeines weiß, also die Möglichkeit hat, von allem Bestimmten abzusehen, in diesem Bewußtsein sich selbst bestimmt, dabei aber das konkret (und damit wahr) werdende Allgemeine, welches das Besondere als Gegensatz festhält, bewahrt und durch Reflexion mit diesem Bestimmten zum Ausgleich bringt. Die Freiheit liegt also weder in der Unbestimmtheit noch in der Bestimmtheit des Willens, sondern ist die Einheit von beidem; sie besteht gerade darin, daß man im Bewußtsein, an bestimmte Zwecke nicht gebunden zu sein, willkürlich seine Zwecke wählt, sich durch das Konkrete, Äußerliche hindurcharbeitet und, indem man in seine Vernünftigkeit an sich zurückkehrt, das abstrakt Gegebene mit Konkretem anfüllt, inhaltlich allgemein wird. Das Selbstbewußtsein, das durch den Willen als denkende Intelligenz sich als Wesen erfaßt und sich dadurch vom Zufalligen und Endlich-Unwahren reinigt, macht nach Hegel das Prinzip des Rechts, der Moralität und aller Sittlichkeit aus 12 . „... Die Kantische und auch allgemeiner angenommene Bestimmung, worin ,die Beschränkung meiner Freiheit oder Willkür, daß sie mit jedermanns Willkür nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne', das Hauptmoment ist 1 3 , enthält teils nur eine negative Bestimmung, die Beschränkung, teils läuft das Positive,' das allgemeine oder sog. Vernunftgesetz, die Übereinstimmung der Willkür des einen mit der Willkür des anderen, auf die bekannte formelle Identität und den Satz vom Widerspruch hinaus 14 . Die angeführte Definition des Rechts enthält die seit Rousseau vornehmlich verbreitete Ansicht, nach welcher der Wille nicht als an und für sich seiender, vernünftiger, der Geist nicht als wahrer Geist, sondern als besonderes Individuum, als Wille des Einzelnen in seiner eigentümlichen Willkür, die substantielle Grundlage und das Erste sein soll. Nach diesem einmal angenommenen Prinzip kann das Vernünftige freilich nur als beschränkend für diese Freiheit sowie auch nicht als immanent Vernünftiges, sondern nur als ein äußeres, formelles Allgemeines herauskommen ..." 1 S . Gegen das formellere, abstraktere und darum beschränktere Recht habe die Sphäre des Geistes, in der die weiteren in seiner Idee enthaltenen Momente zur Bestimmung und Wirklichkeit gelangen, als die konkretere, in sich reichere und wahrhafter allgemeine Sphäre, eben darum auch ein höheres Recht. Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit habe das ihr gemäße Recht, so daß, wenn vom Gegensatz zur Moralität und Sittlichkeit gesprochen werde, unter diesem Begriff nur das formelle Recht der abstrakten Persönlichkeit verstanden werden dürfe 16 . Die Moralität, die Sittlichkeit, das Staatsinteresse 12

Vgl. Hegel, aaO. §§5-28, Bd. 7, 46 ff. Vgl. Kant: Metaphysik der Sitten. I. Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung § B. 14 Vgl. oben S. 88 ff. 15 Vgl. Hegel aaO. § 29, Bd. 7, 80f. 13

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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als weitere Stufen der Entfaltung des Geistes besäßen jeweils ihnen eigentümliche Rechtsverständnisse, weil jede von diesen Gestaltungen des Geistes Bestimmung und Dasein der Idee der Freiheit sei; wäre etwa der moralische Standpunkt nicht auch ein Rechtsstandpunkt, die Freiheit in einer ihrer Formen, könnte er gar nicht in Kollision mit dem Rechte der Persönlichkeit oder anderen Rechten kommen, wäre Beschränkung durch gegenseitige Anpassung und Unterordnung nicht vonnöten. Das bewegende Prinzip des Begriffs, das die Entfaltung des Rechts vorantreibt, indem es das Allgemeine zunächst in seine Besonderungen auseinander fließen läßt, sodann Gegenteil und Schranken des Besonderen bestimmt, endlich die Besonderungen als positiven Inhalt und Resultat des Prozesses in das konkret gewordene Allgemeine aufhebt, nennt Hegel „Dialektik", nicht ohne sich sogleich vom hergebrachten, verkürzten Verständnis des Dialektischen abzusetzen. Der Entwicklung der Idee als eigener Tätigkeit der Vernunft sehe das Denken als subjektives lediglich zu, ohne seinerseits Zutaten beizufügen; denn die Bestimmungen in der Entwicklung des (zunächst abstrakten) Begriffs seien einerseits selbst wieder Begriffe, andererseits aber Gestaltungen der Wirklichkeit der Idee, so daß der Wissenschaft nur aufgegeben sei, die Reihe der sich zugleich ergebenden Begriffe und wirklichen Gestaltungen zu betrachten und ihr dialektisches Verhältnis, die „eigene Arbeit der Vernunft der Sache" bewußt zu machen 17 . Auf der ersten Stufe der Entwicklung des Rechtsbegriffs, welche, das sei hervorgehoben, nicht als zeitlich erste in der historischen Entwicklung des Rechts mißverstanden werden darf, steht die Persönlichkeit, die sich als vollkommen abstraktes Ich schon weiß und als begriffene Grundlage des abstrakten und also formellen Rechts die Rechtsfähigkeit enthält. Das Rechtsgebot auf dieser Stufe lautet daher: Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen! In Beziehung auf konkrete Handlungen und moralische Verhältnisse ist das abstrakte Recht nur eine Möglichkeit, hat es in seiner bestimmten Ausformung nur Befugnisse und Erlaubnisse zum Gegenstand; es beschränkt sich als Folge seiner Abstraktion auf das Negative, nämlich auf Gebote, die Persönlichkeit — und das daraus Abgeleitete, ζ. B. das Eigentum — nicht zu verletzen, wobei allen Geboten als positiven Formen dem Inhalt nach Verbote zu Grunde liegen. Hegel kritisiert die dem römischen Recht eigene Einteilung in Personen- und Sachenrecht als „schief und begrifflos", weil Rechte, die sich auf die abstrakte Persönlichkeit beziehen, und solche, die substantielle Verhältnisse wie das der Familie zu ihrer Bedingung haben, kunterbunt vermischt würden, obwohl doch bereits das Familienverhältnis die Überwindung und Aufgabe der abstrakten Rechtspersönlichkeit voraussetze. Auf der zweiten Stufe der Entwicklung bildet sich der Begriff der Freiheit, die Idee des an und für sich freien Willens, von der abstrakten Bestimmtheit des 16

Vgl. Flickinger. Das „abstrakte Recht". Hegels Kritik des bürgerlichen Rechtsbegriffs. In: ARSPh. 1976. S. 527-548. 17 Hegel aaO. §§ 31, 32; Bd. 7, 84f.; vgl. oben S. 28, 29.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Ansich zur sich auf sich selbst beziehenden Bestimmtheit des Willens, d. h. zur Selbstbestimmtheit der Subjektivität fort. Die abstrakte Rechtspersönlichkeit, die ihr Dasein zunächst im Eigentum, als dem abstrakt ihr Gehörenden, und dem Vertrage, als dem durch Vermittlung eines anderen freien Willens abstrakt ihr Eingeräumten, findet, entdeckt nunmehr den Standpunkt der Moralität, auf dem der freie Wille nicht bloß an sich, sondern auch für sich unendlich ist. Diese Reflexion des Willens in sich und seine für sich seiende Identität gegen das Ansichsein und die Unmittelbarkeit bestimmt die Person zum Subjekte, an der jetzt neue Bestimmtheiten wirklich werden können; mit der Subjektivität des Willens erhält die Idee ihr reales Moment, ihre Existenz. Die zweite Sphäre des Rechts, die Moralität, stellt daher im Ganzen die reale Seite des Begriffs der Freiheit dar und der Prozeß dieser Sphäre liegt in der Entfaltung des Rechts des subjektiven, selbstbestimmten Willens und seiner auf das Dasein gerichteten, individuellen Zwecke durch Handlungen. Weil aber das erste Hervortreten der Selbstbestimmung am einzelnen Willen noch nicht als identisch mit dem Begriffe des Willens gesetzt werden kann, was erst auf der dritten Stufe, der Sittlichkeit, gelingt, ist der moralische Standpunkt derjenige des Sollens und der Forderung; indem das Bewußtsein sich seiner Besonderheit als Subjekt und der Differenz gegen die Objektivität des äußerlichen Daseins (die vorhandene Welt) inne wird, gelangt es auf den Standpunkt der Differenz, Endlichkeit und Erscheinung des Willens und der darin enthaltenen Widersprüche 18 . „... Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit, macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen wirklichen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden. Zu dessen näheren Gestaltungen gehören die Liebe, das Romantische, der Zweck der ewigen Seligkeit des Individuums usf., — alsdann die Moralität und das Gewissen, ferner die anderen Formen, die teils im folgenden als Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und als Momente der politischen Verfassung sich hervortun werden, teils aber überhaupt in der Geschichte, insbesondere in der Geschichte der Kunst, der Wissenschaften und der Philosophie auftreten. — Dies Prinzip der Besonderheit ist nun allerdings ein Moment des Gegensatzes und zunächst wenigstens ebensowohl identisch mit dem Allgemeinen als unterschieden von ihm. Die abstrakte Reflexion fixiert dies Moment in seinem Unterschiede und Entgegensetzung gegen das Allgemeine und bringt so eine Ansicht der Moralität hervor, daß diese nur als feindseliger Kampf gegen die eigene Befriedigung perenniere — die Forderung ,mit Abscheu zu tun, was die Pflicht gebeut4 (Fr. Schiller)" 19 . 18

Hegel aaO. §§ 105-112, 123-126. Bd. 7, 203ff., 230ff. Hegel aaO. § 124. Bd. 7, 233. Es sei ausdrücklich daraufhingewiesen, daß Hegel mit seiner Kritik an der Trennung von Sein und Sollen keineswegs die positive Bedeutung und das Recht des „Seinsollens" leugnet, vielmehr lediglich begreiflich zu machen versucht, daß bei dieser Trennung die Wirklichkeit in ihrer progessiven Vernünftigkeit nicht zu 19

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A u f der dritten Stufe begrifflicher Rechtsentfaltung schließlich gilt es, für das Gute als das substantiell Allgemeine aber noch Abstrakte der Freiheit, als Einheit des allgemeinen und des besonderen Willens, in welcher das abstrakte Recht der ersten Stufe wie auch das subjektive Wohl und die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins samt ihrer konkreten, endlichen Zwecke der zweiten Stufe aufgehoben sind, Bestimmungen zu finden. Sittlichkeit ist für Hegel die Aufhebung des Abstrakten und Beschränkten, nämlich des abstrakten, bloß seinsollenden Guten und der ebenso abstrakten, nur gut seinsollenden Subjektivität in der konkreten Identität des Guten und des subjektiven Willens: der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit. Das Sittliche ist in seiner Sicht nicht abstrakt wie das Gute als Ziel subjektiv geforderten Verhaltens, sondern in einem intensiven Sinne wirklich; der Geist als Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen, als übersummatives Ganzes, gewinnt in bestimmten, rechtlich-sittlichen Institutionen Wirklichkeit, seine Akzidenzien sind die Individuen. 3. Sittlichkeit

in Familie, bürgerlicher

Gesellschaft und Staat

Sittlichkeit als das System der Bestimmungen der Idee der Freiheit und damit zugleich Substantialität des Rechtsbegriffs und allgemeines Wesen der Individuen, für welche die substantiellen Bestimmungen als notwendige Verhältnisse des Lebens bindend sind, wird von Hegel in drei Stufen: Familie — bürgerliche Gesellschaft — Staat veranschaulicht, wobei für die Auswahl der Ansatzpunkte nicht nur der Stand der Diskussion in der politischen Philosophie seiner Zeit eine Rolle gespielt haben dürfte 20 , sondern auch die bewußte Entgegensetzung zu der bekannten, katholischen Trias von den Regeln eines heiligen Lebens, den sog. „Consilia evangelica" (Keuschheit, Armut, Gehorsam) 21 . Dem consilium der asketischen, mönchischen Keuschheit (Jungfräulichkeit, Ehelosigkeit) setzt er das sittliche Verhältnis der Familie entgegen, das in der Ehe das Moment der natürlichen Lebendigkeit und seinen unmittelbaren Begriff, im Eigentum und der Sorge um den Unterhalt sein äußerliches Dasein hat und sich in der Erziehung der Kinder und ihrem Entwachsen d. h. der Auflösung der Familie in die bürgerliche Gesellschaft, vollendet. Das Sittliche der Ehe, in die einzutreten objektive Bestimmung des Menschen sei, bestehe in dem Bewußtsein der Einheit als substantiellem Zweck, dem Zutrauen und der Gemeinsamkeit der ganzen, individuellen Existenz, welche eine Identität der Interessen und endlichen Zwecke ergebe. Die Deutung der Ehe als Vertrag sei ihrem Wesen ihrem Begriff kommt. Vgl. Marquard: Hegel und das Sollen. In: Philos. Jahrb. Bd. 72 (1964), S. 103-119. 20 Vgl. Bobbio: Hegel und die Naturrechtslehre. In: Hegel in der Sicht der neueren Forschung. Wege der Forschung. Bd. 52. Hrsg. v. Fetscher. Darmstadt 1973. S. 291 ff. (308 ff., 317 f.). 21 Vgl. Lübbe-Wolff Die Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft. In: ARSPh. Bd. 68 (1982), S. 223 ff.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

unangemessen, weil Verträge die Einzelheit selbständiger Rechtspersonen voraussetzten, die Familie jedoch selbst eine (organisch-geistige) Persönlichkeit sei, in welche die anfangs selbständigen Rechtspersonen als Glieder und Akzidenzien aufgingen 22 . Ebenso verändere sich das im abstrakten Eigentum willkürliche Moment des besonderen Bedürfnisses des bloß Einzelnen, die Eigensucht der individuellen Begierde, in die Sorge und den tätigen Erwerb für ein gemeinsames — und darum höherrangiges — Familienvermögen, aus dessen Vorrat ernährt und erzogen zu werden die Kinder ein Recht haben. Die sittliche Auflösung der (einzelnen) Familie in die nächste, umfassendere Stufe der bürgerlichen Gesellschaft ergebe sich aus der Notwendigkeit, die Kinder mit Hilfe erzieherischer Maßnahmen zu freien Rechtspersönlichkeiten heranzubilden, als welche sie, nachdem ihre rechtliche Handlungsfreiheit durch die Erklärung der Volljährigkeit anerkannt sei, nunmehr ihrerseits Verträge schlössen, Eigentum erwürben, Familien gründeten, sich folglich gegeneinander äußerlich verhielten, so daß die ursprüngliche Familie als Hort der Fürsorge und erster Grund der Selbständigkeit allmählich zurücktrete 23 . Die bürgerliche Gesellschaft ist für Hegel der Mittelbegriff, der die Differenz zwischen Familie und Staat markiert, auch wenn sie sich historisch als reale Größe erst nach dem Staat ausgebildet hat; ihr sittlicher Gehalt besteht im Gegensatz zum christlichen Ideal der Armut, das wie jenes der Ehelosigkeit nur für wenige, nicht aber für alle ethische Richtschnur des Verhaltens sein kann, in der Tätigkeit der Selbsterhaltung durch verständige, fleißige Arbeit, in der Rechtschaffenheit beim Gebrauch des erarbeiteten Vermögens zur Befriedigung der individuellen Bedürfnisse und beim geschäftlichen, in den Formen des abstrakten Privatrechts abgewickelten Verkehr mit anderen, ebenfalls individuelle Zwecke verfolgenden Personen 24. „... In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zwecke des Besonderen. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl der anderen mitbefriedigt. Indem die Besonderheit an die Bedingung der Allgemeinheit gebunden ist, ist das Ganze der Boden der Vermittlung... Die Besonderheit, beschränkt durch die Allgemeinheit, ist allein das Maß, wodurch jede Besonderheit ihr Wohl befördert" 25 . Der selbstsüchtige Zweck des Einzelnen, der so durch die Allgemeinheit bedingt ist, erzeugt ein System allseitiger Abhängigkeit, in welchem der 22

Vgl. Hegel aaO. §§ 158-163. Bd. 7, 307 ff. Hegel aaO. §§ 170-177. Bd. 7, 323 ff. 24 Vgl. näher Lübbe-Wolff:: Die Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. In: ARSPh. Bd. 68. (1982). S. 223 ff. (239 ff.). 25 Hegel aaO. § 182. (mündl. Zusatz). Bd. 7, 339 f.; Hegel knüpft an Aristoteles an; vgl. dazu Ritter: Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks. In: Metaphysik und Politik. Frankfurt/M. 1969. S. 57ff. (69ff., 81); Ilting: Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie. In: Philos. Jb. 71 (1963). S. 38 ff. 23

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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Lebensunterhalt und das Wohl der Individuen sowie ihr rechtliches Dasein in das Wohlergehen und das Recht aller, der ganzen Gesellschaft, verflochten und gegründet ist. Die Idee der Freiheit in ihrer Entzweiung erteile der Besonderheit das Recht, sich nach allen Seiten frei zu entfalten, und der Allgemeinheit, sich als Grund und notwendige Form der Besonderheit sowie als Macht über sie und ihren letzten Zweck zu erweisen 26. Dahinter wird die These Adam Smith' sichtbar, nach welcher die nur auf individuelle, besondere Zwecke gerichteten, freien Tätigkeiten der Individuen sich, wie durch eine „unsichtbare Hand" gelenkt, zur Befriedigung der Zwecke aller zusammenfügen 27. Hegels Vertrauen in die Wirksamkeit dieser „Gesetzmäßigkeit" liberaler Ökonomie und bürgerlicher Wirtschaft ist freilich begrenzt, wie sich insbesondere darin zeigt, daß er sich ausführlich mit der Aufgabe der Rechtspflege auseinandersetzt, die in die Trennung von Innerem und Äußerem auseinanderfließende, bürgerliche Gesellschaft zum Begriffe der Einheit des Allgemeinen und der subjektiven Besonderheit zurückzubringen, konkret: die verschiedenen Interessen, vor allem der Produzenten und Konsumenten, durch bewußt vorgenommene Regulierung abzugleichen; daß er der polizeilichen Vorsorge zur Sicherung des Allgemeinen, der äußeren Sicherheit und Ordnung, zum Schutze der großen Menge besonderer Zwecke und Interessen, keine festen Grenzen zieht; daß er Aufsicht und Vorsorge der öffentlichen Macht für die vielfaltig verschränkten, individuelle Bedürfnisse befriedigenden Geschäfte und Veranstaltungen fordert, um „die gefahrlichen Zuckungen und die Dauer des Zwischenraums, in welchem sich die Kollisionen auf dem Wege bewußtloser Notwendigkeit ausgleichen sollen, abzukürzen und zu mildern" 2 8 . Entscheidend bleibt für ihn allerdings, daß in der Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse die subjektive Selbstsucht der Einzelnen unversehens in einen Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen umschlägt; hier sieht er die Versöhnung der Gegensätze, die es erlaubt, das System abstrakt-rechtlicher Erwerbstätigkeit nicht nur als bloßes Extrem des Eigennutzes und der endlichen Besonderheit, also als Position unsittlichen Tuns zu begreifen — Gegenposition: Nichtstun und Ideal der Armut —, sondern im Gegenteil in dem Begriff der Arbeit als Dienst am allgemeinen Wohl ein Moment der Sittlichkeit zu entdecken, welches freilich noch in den höherrangigen Begriff des Staates aufgehoben werden muß. Im Staat hat der Einzelne die Möglichkeit, über seine privaten Zwecke hinaus zu einer allgemeinen Tätigkeit zu finden, deren er als sittlicher Mensch bedarf 29 . 26

Hegel aaO. §§ 183, 184. Bd. 7, 340. Vgl. Smith: A n Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. 1776. Vol. I. Bk. IV. Ch. II. Chicago 1976. S. 477; Hegel kannte das Werk, s. § 189, aaO. Bd. 7, 347. Vgl. dazu Ritter. Hegel und die französische Revolution. In: Metaphysik und Politik. Frankfurt 1969. S. 183ff. (218ff.); Riedel: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankfurt/M. 1970. S. 75 ff. 27

28

Hegel aaO. §§ 209 ff., 230 ff., 236; Bd. 7, 360 ff., 382 ff. , 385.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Im Gange der Entwicklung des Begriffes (nicht der Geschichte) erscheint der Staat als das Resultat, in das alle geschilderten Teilaspekte — Recht, Subjektivität, Familie, Gesellschaft — eingegangen und aufbewahrt sind. In Wirklichkeit ist der Staat allerdings das Erste, innerhalb dessen sich erst Familie und bürgerliche Gesellschaft ausbilden und für Hegel ist es die Idee des Staates selbst, welche sich in diese beiden Momente auseinander legt: „... Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit; die konkrete Freiheit aber besteht darin, daß die persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im System der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig sind, so daß weder das Allgemeine ohne das besondere Interesse, Wissen und Wollen gelte und vollbracht werde, noch daß die Individuen bloß für das letztere als Privatpersonen leben und nicht zugleich in und für das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewußte Wirksamkeit haben. Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten" 30 . Diese aufhebende und bewahrende Vereinigung des Besonderen mit dem Allgemeinen muß sich ebenso auf der Seite der Subjektivität der Person und der sie tragenden Gesinnung, wie auf der Seite der Objektivität der Institutionen und der sie stützenden Gesetze vollziehen. Es muß, mit anderen Worten, die inhaltliche Bestimmung der subjektiven Freiheit des Einzelnen und der sie motivierenden Gesinnung aus dem Recht und dem Wohl des Individuellen wie des Allgemeinen zugleich erfolgen; ebenso aber auch die inhaltliche Bestimmung der objektiven Freiheit aller, wie sie im Gesetz sich ausspricht, das Recht und Wohl des Besonderen wie des Allgemeinen zugleich in sich vereinigen 31 . Fehlt es in einem Staate an der in diesem Sinne sittlichen Gesinnung der Einzelnen oder an sittlichen Gesetzen für alle, stimmen Erscheinung und Wesen des Staates nicht überein, ist Sittlichkeit noch nicht wirklich, bleibt es bei der ethischen Sollensforderung; es ist deshalb abwegig, Hegel als Etatisten oder Ahnherrn der totalitären Staaten unseres Jahrhunderts diffamieren zu wollen 32 . In allen 29

Hegel beklagt in diesem Zusammenhang, daß „in unseren modernen Staaten die Bürger nur beschränkten Anteil an den allgemeinen Geschäften (haben)" und sieht einen (teilweisen) Ersatz in der Tätigkeit in Korporationen; vgl. § 255 (mündl. Zusatz), aaO. Bd. 7, 396, 397. 30 Hegel aaO. § 260. Bd. 7,406,407. Vgl. dazu Maihofer. Hegels Prinzip des modernen Staates. In: Wege der Forschung. Bd. 52. Darmstadt 1973. S. 352ff. (361 ff.). 31

Maihofer aaO. S. 362. Gegen Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. Bern 1958. S. 47ff.; vgl. grundlegend Ritter. Hegel und die französische Revolution. In: Metaphysik und Politik. Frankfurt/M. 1969. S. 183 ff. (241); 32

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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modernen Staaten geht es seit Beginn der Neuzeit prinzipiell stets um das gleiche Problem: um die begriffliche Erfassung und reale Gestaltung der vollkommenen Einheit des Besonderen und Allgemeinen in der dialektischen Auseinandersetzung und Aufhebung bewußt gewordener Widersprüche; d. h. einerseits um die Herstellung der Einheit der geistigen Bestimmung des Menschen (Gebrauch der Vernunft) mit seiner natürlichen Bestimmung (Gebrauch der Sinne) in einem vernünftigen Wesen, andererseits um die Realisation der Freiheit des besonderen und des allgemeinen Willens in einem Zustand, in dem die willkürlich gewählten, endlichen Zwecke der Einzelnen mit den übergeordneten (weil notwendigen) Zwecken des Ganzen, in dessen Obhut die ersteren nur erreicht werden können, in ein allseits einsichtiges, verträgliches und darum auch gerechtes Verhältnis gebracht sind. Ich habe Hegels geistesgeschichtlich bedeutsamen Gedankengang, wie er ihn in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts" ausgeführt hat, eingehender nachvollzogen, um einsichtig zu machen, wie man nach seiner Ansicht über den von Kant begründeten, formalen Standpunkt, die Idee der Freiheit verlange gesetzmäßiges Handeln, den Hegel akzeptiert, hinauskommen und endliche Zwecke anhand eines begrifflichen Rahmenwerks auch inhaltlich diskutieren kann, ohne vorhandene gesellschaftliche oder staatliche Verhaltensweisen, nur weil sie faktisch sind, als quasi naturnotwendig und — mangels Kriterien — material gerechtfertigt unterstellen oder sich auf die Innerlichkeit bloßer Sollensforderungen zurückziehen zu. müssen. Der Dialektik des Begriffs — des Staates sowohl als des Rechts — fallt dabei die Aufgabe zu, starre, abstrakte Vorstellungen aufzulösen (der Satz nicht als ,Bodensatz4, sondern als ,Sprung 4, wie Hegel sagt), die verschiedenen Momente bewußt zu machen und auftretende Konflikte nicht formal-abstrahierend, etwa durch Unterscheidungen wie innerlich-äußerlich, individuell-sozial, rechtlich-moralisch, sondern inhaltlich-konkretisierend, durch wechselseitige Annäherung von Begriff und Gestaltung, aufzulösen. Die verstehende Betrachtung, wie aus einem primitiveren Normensystem allmählich ein immer vielfältigeres und komplizierteres wird, die freilich nicht mit der wissenschaftlichen Ermittlung des historisch-faktischen Entstehens dieses Normensystems durch den Rechtshistoriker verwechselt werden darf, enthält nicht nur den methodischen Schlüssel, mit dessen Hilfe über die Kategorien Zweck-Mittel, Ober- und Unterzweck die innere Struktur eines gewachsenen Normensystems erschlossen werden kann, sondern zugleich den Maßstab, der es gestattet, vorhandenen und neu formulierten Zwecken den ihnen in der jeweiligen, historischen Lage gebührenden Rang zuzuweisen. Denn nur innerhalb eines systematischen Ganzen zeigt sich, ob der beanspruchte Rang mit dem wirklichen (nicht nur möglichen) übereinstimmt und die Feststellung, daß dies nicht zutrifft, ist eo ipso Kritik des vorgetragenen Anspruchs. Die in der kategorialen Betrachtung des Systems involvierte Zeitlosigkeit darf den BeKaufmann: Hegel. Legende und Wirklichkeit. In: Zeitschr. f. philos. Forschg. X. (1956). S. 191-226. 12 Mittenzwei

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trachter jedoch nicht dazu verführen, das Gegenwärtige als unüberbietbar festschreiben zu wollen; die scheinbare Endgültigkeit der Struktur erfordert im Gegenteil immer das wache Bewußtsein des regressiv Unabgeschlossenen, Unabschließbaren, und die Darstellung der prinzipiellen Begrenztheit alles Bestimmten. So bestätigt sich „die Idee des Rechts" schließlich als das, was Hegel im rekonstruierenden, vom abstrakten Anfang zum konkret-allgemeinen Ende fortschreitenden Rechtfertigungsprozeß als die „Versöhnung der Widersprüche", als objektive oder — in der eingangs wiedergegebenen Terminologie Lorenzens und Schwemmers — transsubjektive Verwirklichung der Verträglichkeitsforderung charakterisiert, die durchzuführen die stets von neuem zu erfüllende Aufgabe der „philosophischen Rechtswissenschaft" bleibt 3 3 . 4. Ethik als dialogische Konfliktbewältigung Kehren wir zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurück: Akzeptiert man das Vernunftprinzip der Transsubjektivität, nur verallgemeinerungsfahige Handlungsziele zu verfolgen und nur verallgemeinerungsfahige Handlungsvorschläge zu machen, die man dann als Normen stets auch selbst bei eigenen Zwecksetzungen zu beachten bereit ist, wie es Lorenzen in Anlehnung an den „Kategorischen Imperativ" Kants als materiales Kulturprinzip formuliert hat 3 4 , so läßt sich mit seiner Hilfe zunächst einmal rational darüber urteilen, welche geschichtlich sich artikulierenden Bedürfnisse und Begehren so ins Allgemeine gehoben werden können, daß ihre Befriedigung als geboten oder doch mindestens als erlaubt, weil konfliktfrei erreichbar, erscheint. Da dieser Versuch materialer Rechtfertigung menschlichen Handelns durch zweckorientierte Normen aber nicht hinreicht, um allgegenwärtige Mangel- und Konfliktsituationen zu bewältigen, die durch das Fehlen ausreichender oder geeigneter Mittel bzw. durch unvereinbare, wenngleich in diesem Sinne begründete Zielsetzungen entstehen, mündet das Bächlein materialer Rationalität des Zweckhandelns ohne die Anstrengung kritischer Reflexion der Genese kultureller Normensysteme, wie sie sich vorbildlich und wegweisend Hegel zugemutet hat, rasch wieder in den großen Strom formaler, zeitgenössischer Wissenschaftsrationalität, der wir schon früher begegnet sind. Schwemmer geht es denn auch bei der Präzisierung seines Rechtfertigungsmodells zunächst nicht so sehr um die schwierige, kategoriale Rekonstruktion menschlicher Grundbedürfnisse, deren empirische Erforschung er den Sozialwissenschaften zuweist 35 , als vielmehr um die Erarbeitung der Voraussetzungen und Prinzipien moralischen Argumentierens, die eine vernünftige Willensbildung über Zwecke ermöglichen sollen, so 33 Vgl. den als Resümee zu verstehenden (mdl.) Zusatz zu § 408 der „Enzyklopädie der philisophischen Wissenschaften" (1830). In: Werke. aaO. Bd. 10, 170 f. 34 Lorenzen: Normative logic and ethics. Mannheim/Zürich 1969. S. 87. 35 Schwemmer: Grundlagen einer normativen Ethik. In: Zum normativen Fundament der Wissenschaft. Hrsg. v. Kambartel u. Mittelstraß. Frankfurt/M. 1973. S. 159 ff. (177).

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wie sie von verschiedenen, anderen Diskurs-, Konsens- und Argumentationstheorien ebenfalls erstrebt wird 3 6 . Der Zweck der Ethik bestehe in gewaltfreier Beseitigung von Konflikten 3 7 ; Aufgabe der Ethik sei es, Prinzipien der Konfliktbewältigung bereitzustellen, soweit dies in lehrbarer Weise durch Rede überhaupt geleistet werden könne 38 . Ausgeschieden wird damit die in der traditionellen Ethik übliche Reflexion über Grundwerte des Lebens, die „Würde" und „Freiheit" des Menschen, das „Gute" und „Richtige" usw., es sei denn, diese Reflexion läßt sich als Rede über die Möglichkeiten rationaler Konfliktbewältigung rekonstruieren (was aber wohl meistens möglich sein wird). Versteht man unter „Wertung" die Bevorzugung eines Zweckes vor einem anderen, oder, in Verfolgung des Zweckes, die Bevorzugung einer Handlung vor einer anderen, so will Ethik, in diesem engeren Sinne verstanden, nur Hilfe leisten, wenn solche Wertungen zu inneren oder zwischenmenschlichen Konflikten führen, weil mehrere, von ein und derselben oder verschiedenen Personen verfolgte Zwecke miteinander unverträglich und deshalb nicht zugleich erreichbar sind; ist dies nicht der Fall, enthält sich die Ethik der Stellungnahme, auch wenn Nicht-Betroffene die Lage als unbefriedigend mißbilligen sollten. Vernünftiges Argumentieren über streitige Fragen setzt voraus, daß man die „gleiche Sprache" spricht, sich also auf einen eindeutigen Wort- und Begriffsgebrauch einigt, daß man nichts vom Gesprächspartner fordert, was man nicht selbst zu leisten bereit ist, vor allem jedoch, daß die Lösung des Konflikts als gemeinsames Ziel der Beratung angenommen und Ergebnisse erzielt werden, die alsdann lehrbar und für jeden am Dialog Unbeteiligten — bei Kenntnis der Bedingungen ihres Zustandekommens — akzeptabel sind. Diese Forderungen nach vernünftiger Gemeinsamkeit bei der Erörterung und Lösung praktischer Probleme lassen sich durchweg einleuchtend mit dem kantischen Vernunftprinzip der Gesetzmäßigkeit de*§ Haiidelns und der Verallgemeinerbarkeit von Maximen in Verbindung bringen und dürften theoretisch kaum Widerspruch finden; die Frage ist nur, ob und wie sie wirklich erfüllt werden können. Lorenzen und Schwemmer glauben, über die Konstruktion einer sog. „Orthosprache" dem Ziel methodischer Überprüfung normativer Überlegungen ein Stück näher kommen zu können: „The first task of practical philosophy is the reconstruction of a minimum of vocabulary, so that we can argue for and against the acceptance of norms" 3 9 . Der Aufbau einer solchen Sprache, deren Zweck es ist, Reden über sprachliche Handlungen, die nicht durch nichtsprachliche Handlungen gesichert sind (epipragmatische Rede), zu ermöglichen, soll im gemeinsamen Handeln durch Einübung vorgenommen werden; dabei soll die 36 Schwemmer. Philosophie der Praxis. Versuch zur Grundlegung einer Lehre vom moralischen Argumentieren in Verbindung mit einer Interpretation der praktischen Philosophie Kants. Frankfurt/M. 1971. S. 7. 37 Schwemmer aaO. S. 106. 38 Lorenzen/Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik u. Wissenschaftstheorie. Mannheim/Wien/Zürich 1975. S. 150 f. 39 Lorenzen: Normative logic and ethics. Mannheim/Zürich 1969. S. 75.

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Umgangssprache, soweit sie Sprachhandlungen enthält, die sich auf nichtsprachliches Handeln beziehen und durch dieses Handeln kontrolliert werden (empragmatische Rede), zunächst die Grundlage bilden 40 . Da zur Konstruktion einer Orthosprache stets schon Sprache benutzt werden muß, bedarf es neben dieser noch einer (beschreibenden, später auch begründenden) „Parasprache", um möglichst viele Situationen gedanklich herzustellen, in denen aus dem Verständnis der jeweils mit den Handlungen verbundenen Zwecke heraus neue Teile der Orthosprache erlernt werden können. Die Zirkelfreiheit des orthosprachlichen Aufbaus werde dadurch gesichert, daß am Anfang die beschreibende Parasprache nur aus empragmatisch kontrollierten Wörtern (und der einzuübenden Aufforderung, sich vorzustellen, daß ...) bestehen darf. Der konstruktive Aufbau der Orthosprache bedeutet nach dem eigenen Verständnis ihrer Protagonisten keine Neukonstruktion der Wissenschaftssprachen und deren gemeinsamen Vokabulars, sondern lediglich eine kritische Wiederholung und begründende Vergewisserung desselben, insbesondere der logischen und ethischen Terminologie, wobei sich selbstverständlich die erstrebte Verbesserung gegenüber bestehenden Sprachgebräuchen in jedem einzelnen Schritt auszuweisen habe 41 . 5. Regeln und Grundsätze eines rationalen Diskurses über Werte Es kann hier nicht auf die Einzelheiten des konstruktivistischen Ansatzes eingegangen werden, dessen Ziel es ist zu erweisen, daß auch über die Aufstellung von Normen wissenschaftlich, d. h. methodisch überprüfbar, schrittweise und zirkelfrei beraten werden kann; zu einem solchen Unterfangen wäre ein Rückgriff auf die Ergebnisse sprachtheoretischer Forschung eines halben Jahrhunderts und ein kritischer Vergleich mit anderen, vor allem sprachanalytischen Theorieansätzen nötig 4 2 . Wichtiger erscheint es, die Regeln und Grundsätze vernünftiger Beratung zusammenzustellen, die sich in der lebhaften Erörterung der Bedingungen und Möglichkeiten rationaler Diskurse unabhängig von den einzelnen, theoretischen Konzeptionen nach weitgehend gemeinsamer Überzeugung als notwendig herausgestellt haben, um die Folgen des Friesschen „Trilemmas" 43 bei der Begründung von Zweckpräferenzen und Normen erträglich zu machen. Der Sinn dieser Regeln des rationalen Diskurses 40 Lorenzen/Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie aaO. S. 21 ff. Der Ausdruck „empragmatisch" wurde in Anlehnung an den Ausdruck Bühlers „empraktisch" gebildet (Bühler: Sprachtheorie. Jena 1934. Neudr. Stuttgart/New York 1982. S. 155ff.); weil „praktisch" in der traditionellen Sprechweise der Philosophie die Rede über Zwecksetzungen betrifft, war eine Abwandlung des Terminus geboten. 41 Lorenzen/Schwemmer aaO. S. 26. 42 Einen guten Überblick über den Problemstand gibt Alexy: Theorie der juristischen Argumentation. Frankfurt/M. 1978. S. 51-218. Zur Kritik des „Konstruktivismus" vgl. Wieland: Praxis und Urteilskraft. In: Zeitschr. f. philos. Forschg. 28 (1974). S. 17 ff.; Keuth: Dialectics versus Critical Rationalism. In: Ratio 15 (1973). S. 28 ff. 43 Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968. S. 13; Popper: Logik der Forschung. 5. Aufl. Tübingen 1973. S. 60; dazu Apel: Das Apriori der Kommunikations-

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liegt darin, die im Meinungsstreit an sich unabweisbare Forderung nach immer weitergreifender Begründung jeder aufgestellten Wertaussage durch andere Aussagen mittels einer Reihe von Anforderungen zu substituieren, die einerseits als Bedingungen den Diskussionsrahmen konstituieren, andererseits als Verfahrensanweisungen den Fortgang der Begründungstätigkeit steuern. Die Regeln beziehen sich aus diesem Grunde nicht wie die Regeln der Logik bloß auf die jeweils diskutierten Aussagen, sondern darüber hinaus sowohl auf das Verhalten der beteiligten Sprecher als auch auf die Dialogsituation überhaupt; ihre Einhaltung kann zwar die Richtigkeit der erzielten Ergebnisse nicht endgültig garantieren, wohl aber die Art und Weise, in der sie gewonnen wurden, als rational (in formalem Sinne) auszeichnen. Praktische Diskurse als sprachliche Handlungszusammenhänge zur Prüfung der Richtigkeit wertender bzw. normativer Aussagen stellen einen weiteren Versuch dar, materiale Rationalität des Zweckhandelns angesichts der Komplexität der Wirklichkeit, deren Reduktion auf ein der Kapazität menschlicher, systematischer Vernunft gemäßes Maß aussichtslos erscheint, über formale Rationalität der Beratung zu erreichen. Die Vorzüge und Schwächen eines solchen sprachphilosophischen Lösungsansatzes kann sich der Jurist anschaulich vor Augen führen, wenn er an die Regeln der positiv-rechtlichen Parallele zu einem solchen idealen Diskursverfahren ethischer Beratung und Entscheidung denkt, die Regeln des Zivilprozesses; die hier niedergelegten Grundsätze und Prinzipien gerechter Verfahrensgestaltung, Bestimmung des Streitgegenstandes, Versachlichung von Rede und Gegenrede, allmählicher Vervollständigung der Argumentation, bis hin zu der Verteilung von Behauptungs- und Begründungspflichten sowie Beweislastzuweisungen bei bestrittenen Behauptungen stellen einen bewährten, inzwischen zu positivem Recht erhärteten Erfahrungsschatz sittlicher Vernunft dar, der sich zum kritischen Vergleich von selbst anbietet. Die Regeln, die den praktischen Diskurs steuern sollen, lassen sich, wie auch sonst, in Gebote, Verbote und Erlaubnisse unterscheiden, wobei allerdings nicht alle Regeln strikte Befolgung verlangen wie im Zivilprozeß, sondern sich teilweise auch mit annäherungsweiser Einhaltung begnügen; manche sind auf das Verhalten innerhalb des praktischen Diskurses bezogen, andere wiederum regeln den Übergang in andere Diskursformen (wie z. B. in den Diskurs über die aufgestellten Diskursregeln). Robert Alexy unterscheidet folgende Gruppen von Regeln 44 : A. Grundregeln: Sie sind Bedingung der Möglichkeit jeder sprachlichen Kommunikation, in der es um Wahrheit oder Richtigkeit von Aussagen geht; gemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: ders.: Transformation der Philosophie. Bd. 2. Frankfurt/M. 1973. S. 358ff., 405ff. 44 Vgl. zum Folgenden Alexy : Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. Frankfurt/M. 1983. S. 233 ff.; derselbe: Eine Theorie des praktischen Diskurses. In: Materialien zur Normendiskussion. Hrsg. v. Oelmüller. Bd. 2: Normenbegründung — Normendurchsetzung. Paderborn 1978. S. 22ff., 36ff.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

dazu gehören: a) Kein Sprecher darf sich widersprechen, b) Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt, c) Jeder Sprecher, der ein Prädikat F auf einen Gegenstand a anwendet, muß bereit sein, F auch auf jeden anderen Gegenstand, der a in allen relevanten Aspekten gleicht, anzuwenden, d) Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen, sprachlichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen. Die Regel a verweist auf die anerkannten Regeln der herkömmlichen und der modernen, deontischen Logik, die alle vorausgesetzt und auf normative Aussagen für anwendbar gehalten werden 45 . Die Regel b soll die Aufrichtigkeit der Diskussion sichern, weil rationale Diskussion ohne Aufrichtigkeit undenkbar ist; selbst Täuschung könnte ohne das Gebot der Aufrichtigkeit als solche nicht qualifiziert werden 46 . Die Regeln c und d schließlich beziehen sich auf den Gebrauch von Ausdrücken durch einen bzw. verschiedene Sprecher; erstere fordert die Bereitschaft zu konsistenter Anwendung und ist aus dem Universalisierbarkeitsprinzip abgeleitet 47 ; auf Wertaussagen angewandt, nimmt sie die Form an: Jeder Sprecher darf nur solche Wert- und Verpflichtungsurteile behaupten, die er in allen vergleichbaren Situationen wie der konkret vorliegenden ebenfalls vertreten würde. Letztere Regel verlangt die Gemeinsamkeit des Sprachgebrauchs, ohne daß allerdings geklärt ist, wie diese Forderung erfüllt werden kann. B. Vernunftregeln: Sie betreffen die Frage der Berechtigung behaupteter Wertund Verpflichtungsurteile, der Teilnahme an der Diskussion, der Freiheit des Diskutierens und lauten: a) Allgemeine Begründungsregel: Jeder Sprecher muß das, was er behauptet, auf Verlangen begründen, es sei denn, er kann Gründe anführen, die eine Verweigerung der Begründung rechtfertigen 48 , b) Sprechsituationsregeln: aa) Jeder, der sprechen kann, darf an Diskursen teilnehmen, bb) Jeder darf jede Behauptung in Frage stellen; jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen; jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse 45 Vgl. zur deontischen Logik vor allem v. Wright : Norm and Action. London 1963; derselbe: Essay in Deontic Logic and General Theory of Action. Amsterdam 1968; derselbe: Deontic Logic Revisited. In: Rechtstheorie 4 (1973). S. 37ff.; derselbe'. Handlung, Norm und Intention. Untersuchungen zur deontischen Logik. Berlin/New York 1977; Hilpinen (Hrsg.): Deontic Logic. Introductory and Systematic Readings. Dordrecht (Holl.) 1971; Lenk (Hrsg.): Normenlogik. Pullach 1974 (mit Bibliographie S. 207 ff.). 46 Zur Aufrichtigkeitsbedingung vgl. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Stuttgart 1972. S. 35; derselbe: Other Minds. In: Philosophical Papers. London 1961. 2. Aufl. 1970. S. 85, 115; Weinberger : Wahrheit, Recht, Moral. In: Rechtstheorie 1 (1970). S. 131 ff. 47

Vgl. dazu Hare : Freedom and Reason. Oxford 1963. S. lOff. (Dtsch.: Freiheit und Vernunft. Düsseldorf 1973). 48 Vgl. dazu Wunderlich: Zur Konventionalität von Sprechhandlungen. In: Linguistische Pragmatik. Hrsg. v. Wunderlich. Frankfurt/M. 1972. S. 11 ff. (21); derselbe: Über die Konsequenzen von Sprechhandlungen. In: Apel (Hrsg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt/M. 1976. S. 452; Searle : Speach Acts. Cambridge 1969. S. 65 f. (Dtsch: Sprechakte. Frankfurt/M. 1973).

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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äußern, cc) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in den vorhergehenden Regeln festgelegten Rechte wahrzunehmen. Im praktischen Diskurs geht es um die Berechtigung umstrittener und einander widersprechender Wert- und Normbehauptungen; wer etwas im Diskurs behauptet, macht nicht nur seine Überzeugung geltend, sondern beansprucht auch, die Wahrheit bzw. Richtigkeit seiner Aussage schlüssig begründen zu können. Für die Erfüllung des erhobenen Anspruchs, zur schlüssigen Begründung fähig zu sein, reicht es aus, daß sich der Sprecher auf die Begründungskompetenz bestimmter oder bei Nachforschung bestimmbarer Fachleute auf dem jeweiligen Sachgebiet bezieht. Wer seine Behauptung begründet, nimmt wenigstens in diesem Augenblick den Gesprächspartner als verständigen, einsichtigen, lernfahigen und darum gleichrangigen und gleichberechtigten Diskutanten Ernst; er beansprucht überdies, seine Behauptung gegenüber jedermann öffentlich verteidigen zu können. Sprachspiele, in denen nicht mindestens vorgegeben wird, diesen Ansprüchen an sich selbst gerecht werden zu können, lassen sich nicht als rationale Begründungsversuche von strittigen Wert- und Normbehauptungen interpretieren 49 . Die Forderungen nach Gleichberechtigung der Diskursteilnehmer, Offenheit des Dialogs, Verallgemeinerbarkeit der Aussagen und Freiheit von Zwängen entsprechen im wesentlichen den von J. Habermas aufgestellten Bedingungen für eine ideale Sprechsituation 50 . Die Problematik der wiedergegebenen Regeln liegt auf der Hand: Schon der enge, zeitliche Spielraum der Dialoge und die Grenzen psychischer Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit der Dialogpartner machen es aus tatsächlichen Gründen sehr unwahrscheinlich, daß alle potentiellen Gesprächsteilnehmer die ihnen eingeräumten Rechte wirklich einmal wahrnehmen können; außerdem muß füglich bezweifelt werden, daß die in Regel b cc geforderte Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen überhaupt hergestellt werden kann, läßt sich doch kaum jemals mit Gewißheit sagen, ob die Bedingungen freier Kommunikation nunmehr wirklich erfüllt sind 51 . Diskussionssysteme setzen hohe Umstellungs49 50

Alexy: Theorie der juristischen Argumentation. aaO. S. 239.

Vgl. etwa Habermas: Wahrheitstheorien. In: Wirklichkeit und Reflexion. Festschr. f. W. Schulz. Hrsg. v. Fahrenbach. Pfullingen 1973. S. 211 ff., 255f.; derselbe: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Habermas/Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie — Was leistet die Systemforschung? Frankfurt/M. 1971. S. 101 ff., auch 189ff. 51 Zur Kritik vor allem Luhmann: Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas. In: Habermas!Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. aaO. S. 291 ff., 316 ff., 336 ff. Luhmann stellt den ganzen mit der Theorie praktischer Diskurse und zweckrationaler Handlungsmodelle verbundenen Forschungsansatz als unzureichend in Frage (aaO. S. 294, 319); das heute bestehende Problem sei nicht die inhaltliche Richtigkeit von Entscheidungen und Normen, sondern das Problem der Bewältigung von Komplexität; darum müsse das Problem gerechten Handelns aus dem historisch vermittelten Zusammenhang von Wahrheit und Begründbarkeit gelöst und

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

und Anpassungsbereitschaft in der Gesellschaft voraus; die Aufmerksamkeit muß auf ein Thema (Streitgegenstand) konzentriert und dieses in generalisierter Form als Bezugspunkt des kommunikativen Prozesses erhalten und in Bewegung gehalten werden. Dabei wird die Differenz von Themen und Beiträgen gerade durch die Sprache gefährdet; in umgangssprachlichen Kontroversen assoziieren die Teilnehmer des Diskurses rasch Vorstellungen von Perfektion, deren ambivalente Möglichkeit des Begründens und Kritisierens auf eine standpunktbezogene Auflösung angelegt ist; man begründet sich selbst und kritisiert den anderen. Durch perfektionierende Bewertung werden die Themen moralisiert, die Moralisierung gerät zum taktisch bewußt eingesetzten Mittel in der unübersichtlich werdenden Masse der Beiträge, Perfektionsvorstellungen von Vollkommenheit und Maßgeblichkeit schüchtern den nicht ausreichend Informierten ein. Da es keine logische Hierarchie von Gründen gibt, besteht keine Hoffnung auf ein Ende der Diskussion; wie für den Zivilprozeß rechtliche, so müssen also für den Diskurs soziale Regeln der Entscheidungsreife normiert werden, logische und semantische Regeln reichen nicht aus. Damit stellt sich die Frage, ob eine Theorie des praktischen Diskurses, die vom Phonetischen zum Phronetischen fortzuschreiten versucht, sich an dieser Stelle nicht übernimmt und ob das Gelingen einer Begründung von Wert- und Normaussagen wirklich auf Sprachlogik, Semantik und Pragmatik zurückgeführt oder damit auch nur in formal rationaler Weise gesichert werden kann. Habermas wendet dagegen ein, daß die vollständige Abhängigkeit der Verwirklichung der Bedingungen einer idealen Sprechsituation von der Verwirklichung des reinen kommunikativen Handelns es unmöglich machen würde, vom Diskurs her die faktischen Verhältnisse zu verbessern; es sei deshalb nicht sinnvoll, die Bedingungen der idealen Sprechsituation strikt an die idealen Bedingungen des allgemeinen Handelns zu binden 52 . Die ideale Sprechsituation habe kontrafaktischen Charakter, sie sei weder ein empirisches Phänomen noch ein bloßes Konstrukt, sondern eine im Dialog unvermeidlich vorgenommene Unterstellung; der Vorgriff auf dieses Ideal biete Gewähr dafür, daß nicht mit jedem faktisch erzielten Konsens der Anspruch verbunden werde, man habe einen vernünftigen Konsens erzielt; zugleich sei ein kritischer Maßstab erstellt, mit dem geprüft werden könne, ob die Umstände, unter denen ein Konsens faktisch erzielt wurde, ein beweiskräftiges Anzeichen dafür ergäben, daß es sich um einen begründeten Konsens handele 53 . Das normative Fundament sprachlicher Verständigung sei mithin beides: antizipiert und als antizipierte Grundlage des Dialogs schon wirksam. Die formale Vorwegnahme des idealisierten als Frage nach der adäquaten Komplexität des Rechtssystems neu gestellt werden. Vgl. Luhmann: Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft. In: Rechtstheorie 4 (1973). S. 131 ff., 142; kritisch Dreier. Zu Luhmanns systemtheoretischer Neuformulierung des Gerechtigkeitsproblems. In: Rechtstheorie 5 (1974). S. 189 ff. 52

Habermas: Wahrheitstheorien. In Wirklichkeit und Reflexion. Festschr.f. W. Schulz. Pfullingen 1973. S. 21 Iff. (257). 53 Habermas: Wahrheitstheorien. aaO. S. 258.

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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Gesprächs garantiere das „letzte" tragende und keineswegs erst herzustellende kontrafaktische Einverständnis, daß die potentiellen Sprecher/Hörer vorgängig verbinden müsse und über das eine Verständigung nicht erforderlich sein dürfe, wenn anders Kommunikation überhaupt möglich sein solle. Insofern sei der Begriff der idealen Sprechsituation weder ein regulatives Prinzip im Sinne Kants — wir müssen mit dem ersten Akt sprachlicher Verständigung diese Unterstellung immer schon vornehmen — noch ein daseiender Begriff im Sinne Hegels — keine historische Gesellschaft deckt sich mit der Lebensform, die der Begriff der idealen Sprechsituation vorwegnimmt —, am ehesten noch ein transzendentaler Schein, wenn ihre Regeln nicht zugleich konstitutive Bedingung möglicher Rede wären 54 . Dieser Argumentation, mit der Habermas den Einwand zu widerlegen versucht, der Begriff der idealen Sprechsituation verfehle die gesellschaftliche Wirklichkeit, ist zuzugeben, daß man eine Idee auch dann verfolgen kann, wenn Aussicht auf Realisierung derselben nicht besteht, ja selbst dann, wenn Anhaltspunkte fehlen, die uns in die Lage versetzen, sicher zu beurteilen, ob Fortschritte in Richtung auf das Ideal erzielt worden sind. Die Jurisprudenz orientiert sich, wie wir noch sehen werden, seit alters an einer Idee des Rechts, ohne sie verwirklichen oder auch nur sagen zu können, wie nahe sie ihr gekommen ist. Immerhin bilden die genannten Regeln einer idealen Sprechsituation durchaus nützliche Kriterien, die es uns erlauben, den Begründungsvorgang von Werten und Normen kritisch zu verfolgen, und schließlich ist auch die Möglichkeit einer allmählichen Annäherung an das Ideal wenigstens vorhanden; zusammen mit den übrigen Diskursregeln ergeben die Vernunftregeln ein negatives, hypothetisches Kriterium, wennschon nicht für die Richtigkeit normativer Aussagen 55 , so doch für die Annehmbarkeit des Begründungsvorganges selbst. Im übrigen sei daran erinnert, daß der Begriff der „Sprechsituation" nicht zu der Vorstellung verführen darf, es handele sich bei der Begründung von Werten und Normen vorwiegend um „mündliche" Diskurse, denn dabei würde übersehen, daß der Begründungsvorgang als philosophischer oder wissenschaftlicher in aller Regel ein schriftlicher ist, bei dem sich die jeweiligen „Sprecher" mit Behauptungen und Argumenten auseinandersetzen, die ihre „Gesprächspartner" schon vor vielen Jahren oder gar Jahrhunderten vorgetragen haben; in der langen Distanz praktischer Diskurse über sittliche Maßstäbe, Werte und Normen, über Richtigkeit und Zweckmäßigkeit politischen Handelns und Entscheidens verlieren aber viele Einwände an Gewicht, die gegenüber dem Ideal mündlicher Diskurse durchaus schwer wiegen mögen. C. Argumentationslastregeln: Ihr Zweck ist es, die voraussehbaren negativen Wirkungen der Vernunftregeln, nach denen grundsätzlich jede Behauptung 54 Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: HabermasILuhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt/M. 1971. S. 101 ff., 140f. 55 So aber Alexy: Theorie der juristischen Argumentation. aaO. S. 240.

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unbegrenzt problematisiert und alles auf einmal in Frage gestellt werden darf, durch die Verteilung von Argumentations- und Begründungslasten nach Möglichkeit aufzufangen; die Regeln lauten 56 : a) Wer eine Person A anders als eine Person Β behandeln will, ist verpflichtet, dies zu begründen, b) Wer eine Aussage oder Norm angreift, die nicht Gegenstand der Diskussion ist, muß hierfür einen Grund angeben, c) Wer ein Argument angeführt hat, ist nur bei einem Gegenargument verpflichtet, weitere Argumente vorzubringen, d) Wer eine Behauptung oder Äußerung über seine Ansichten, Wünsche oder Bedürfnisse in den Diskurs einführt, die nicht als Argument auf eine vorausgegangene Äußerung bezogen ist, hat auf Verlangen zu begründen, weshalb er diese Behauptung oder Äußerung einführt. Die Regel a, die in der ethischen Literatur in den verschiedensten Zusammenhängen geltend gemacht wird, läßt sich auf das Verallgemeinerungsprinzip der Grundregel Ac und die allgemeine Begründungsregel B a zurückführen; auch den Sprechsituationsregeln wohnt die Überzeugung inne, daß prinzipiell alle Dialogpartner gleich sind und folglich ein Abweichen von diesem Prinzip eine Rechtfertigung verlangt 57 . Die Regel b ist als Gegengewicht zur allgemeinen Begründungsregel B a zu verstehen; eine Aussage oder Norm, die zwar als wahr oder gültig 58 vorausgesetzt, jedoch nicht eigens behauptet oder diskutiert wird, darf nicht ohne Angabe eines Grundes bezweifelt werden; man kann nur etwas zum Thema des Diskurses machen, indem man es entweder behauptet oder unter Angaben von Gründen in Frage stellt. Kein Sprecher hat ferner das Recht, von seinem Partner immer weitere Gründe zu fordern: Regel c 5 9 ; wer einen Grund angeführt hat, ist nur noch verpflichtet, auf Gegenargumente zu reagieren. Die Regel d endlich versucht das jeweilige Gesprächsthema als Bezugspunkt der Kommunikation zu sichern und Äußerungen in ihrer Relevanz für die fortschreitende Entfaltung des Themas sichtbar werden zu lassen. D. Begründungsregeln'. Die Untersuchung, wie Tatsachen als „gute Gründe" bestimmte Wertentscheidungen tragen, steckt noch in den Anfangen; die Schwierigkeit liegt vor allem darin, die künftigen Folgen von zielorientierten Handlungen oder Normierungen in das Argumentationsschema miteinzubeziehen. Die formalen, im Wege der Sprachanalyse erarbeiteten Argumentformen selbst 60 lassen die Rechtfertigung beliebiger normativer Aussagen und Regeln

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Vgl. Alexy: Theorie der juristischen Argumentation. aaO. S. 242 ff. Vgl. etwa Singer: Generalization in Ethics. New York 1961. S. 31. (Deutsch: Verallgemeinerung in der Ethik. Frankfurt/M. 1975); Rawls : Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975. S. 28 ff. u. öfter.; Podlech: Gehalt und Funktion des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes. Berlin 1971. S. 89 bezeichnet die Regel als den „pragmatischen Gehalt" des Art. 3 GG. 58 Alexy: Theorie der juristischen Argumentation. aaO. S. 244 spricht von „geltend"; der Korrespondenzbegriff zur Wahrheit ist aber „Gültigkeit", nicht (faktische) Geltung. 59 Vgl. dazu Austin: Other Minds. In: Philosophical Papers. London 1961. 2. Aufl. 1970. S. 76 ff., 84. 57

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zu, so daß zur Bestimmung der Rangordnung weitere Regeln nötig sind; zu diesen gehören u. a.: a) Jeder muß die Konsequenzen der Regel, deren Bestehen er in einer von ihm aufgestellten, normativen Behauptung voraussetzt, bezüglich der Befriedigung der Interessen einer jeden einzelnen Person auch für den hypothetischen Fall akzeptieren, daß er sich in der Situation dieser Person befindet, b) Die Konsequenzen einer jeden Regel für die Befriedigung der Interessen eines jeden einzelnen müssen von allen akzeptiert werden können, c) Jede Regel muß öffentlich und allgemein lehrbar sein, d) Die den moralischen Auffassungen der Sprecher zugrunde liegenden moralischen Normen müssen der Überprüfung einer kritischen, historischen Genese standhalten können. Eine moralische Regel hält einer solchen Überprüfung nicht stand, wenn sie entweder zwar ursprünglich rational zu begründen war, inzwischen aber die rechtfertigenden Gründe entfallen sind, oder, wenn sie schon ursprünglich ohne hinreichende Gründe bestand und sich für sie auch keine neuen anführen lassen, e) Die faktisch gegebenen Grenzen der Realisierbarkeit sind einzuhalten. Die Regeln a, b und c heben verschiedene Aspekte des Grundprinzips der Transsubjektivität bzw. der Verallgemeinerbarkeit ethischer Maximen hervor; die Regel a konkretisiert das Grundprinzip mit Hilfe des aus der utilitaristischen Ethik stammenden Arguments des hypothetischen „Rollentauschs": Mute niemandem etwas zu, von dem du im wohlverstandenen Eigeninteresse nicht wollen kannst, daß man es dir zumutet 61 ! Die Forderung nach hypothetischem Rollentausch baut auf der Forderung nach Anerkennung des anderen Sprechers als gleichberechtigt auf; ihr Zweck liegt in der Erprobung der logischen Konsequenzen von Regeln, die als universalisierbar moralischen Äußerungen zugrunde gelegt werden. Die Regel a ist nur annehmbar, wenn unterstellt wird, daß die Sprecher über ihre individuellen Interessen, Wünsche und Neigungen hinaus bereit sind, Gemeinwohlinteressen bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen 62 ; d. h. die Sprecher müssen bereit und fähig sein, vom Standpunkt eines an der Erhaltung und Stabilität des ganzen Systems langfristig Interessierten aus zu fragen, welche Einschränkung der Interessen als vernünftig, angemessen und notwendig akzeptiert werden muß, damit zum Wohle des Ganzen ein gerechter Ausgleich erzielt wird; darüber läßt sich nun freilich ohne weitere objektive Maßstäbe, die weder der sprachanalytische noch der utilitaristische Begründungsansatz zu liefern vermag, nicht vernünftig urteilen 63 . Die Regel b ergibt 60 Vgl. Toulmin : The Place of Reason in Ethics. Cambridge 1950; derselbe: The Uses of Argument. Cambridge 1958; Wunderlich: Grundlagen der Linguistik. Reinbek 1974. S. 71 ff. 61 Vgl. dazu Hare : Freedom and Reason. Oxford 1963. S. 90ff., 115 ff. (Dtsch.: Freiheit und Vernunft. Düsseldorf 1973); Hoerster. R. M. Hares Fassung der Goldenen Regel. In: Philos. Jahrb. 81 (1974). S. 186 ff.; s. auch Spendel: Die goldene Regel als Rechtsprinzip. In: Festschr. f. Fr. v. Hippel. Tübingen 1967. S. 491 ff. Kritisch: Ross: On moral reasoning. In: Philosophical Yearbook 1 (1964). S. 120ff., 127ff. 62

Hare aaO. S. 117; kritisch Kriele : Einführung in die allgemeine Staatslehre. 2. Aufl. Opladen 1980. S. 31.

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sich unmittelbar aus den Vernunftregeln und der damit näher bestimmten Struktur des praktischen Diskurses: Wenn alle gleichberechtigt über Bedürfnisse, Zwecke und Zielsetzungen beraten dürfen, können nur solche Verhaltensanweisungen allgemeine Zustimmung finden, die jeder akzeptieren kann. Während Regel, a gemäß dem individualistischen Denkansatz auf die normativen Vorstellungen des einzelnen Sprechers abhebt, zielt die Regel b auf den im Diskurs erst noch herzustellenden Konsens aller Sprecher. Regel c stellt eine Konkretisierung der Grundregel A b dar und schließt eine Reihe von Regeln als rational nicht begründbar aus 64 . Regel d ist das unvermeidbare Eingeständnis, daß weder die angeführten Grundregeln noch die Vernunft-, Argumentationslast- und Begründungsregeln eine Gewähr dafür bieten, daß eine vernünftige Einigung im praktischen Diskurs tatsächlich erzielt wird; sie nimmt deshalb Bezug auf Überlegungen von Lorenzen und Schwemmer, die ich bereits oben angedeutet65 und zum Anlaß für einen das Gemeinte erläuternden Exkurs über die wichtige, historisch-dialektische Genese des Rechts durch Hegel benutzt habe. Zweck der Regel d ist es, die Teilnehmer praktischer Diskurse anzuhalten, die geschichtliche Entwicklung von Normensystemen kritisch nachzuvollziehen66. Regel e schließlich bringt zu Bewußtsein, daß praktische Diskurse nicht dem geistigen Vergnügen an Theorien und Modellen, sondern der Lösung tatsächlich bestehender praktischer Probleme dienen und deshalb zu Ergebnissen führen müssen, die sich in die Tat umsetzen lassen; logisch wie faktisch gilt: impossibile nulla obligatio 67 . E. Übergangsregeln: Sie ermöglichen den Übergang in andere Diskursformen und lauten: a) Jeder Sprecher hat das Recht, jederzeit in einen theoretischen oder einen empirischen Diskurs überzugehen, b) Jeder Sprecher hat das Recht, jederzeit in einen sprachanalytischen Diskurs überzugehen, c) Jeder Sprecher hat das Recht, jederzeit in einen diskurstheoretischen Diskurs überzugehen. Praktische Diskurse befassen sich nur mit Handlungszielen, Zweckpräferenzen (Werten), Verhaltensnormen und Prinzipien; Fragen, die diesen Rahmen 63 Ebenso Alexy: Theorie der juristischen Argumentation. aaO. S. 101 ff.; Haverkate: Gewißheitsverluste im juristischen Denken. Berlin 1977 S. 213 f. 64 Vgl. Baier: The moral point of view. Ithaka/London 1958. S. 195f. (Dtsch.: Der Standpunkt der Moral. Düsseldorf 1974). 65 Vgl. oben S. 167. 66

Alexy: Theorie der juristischen Argumentation. aaO. S. 253 f. ist der Ansicht, die Überprüfung der historisch-gesellschaftlichen Entstehung von Normen müßte durch eine Regel bezüglich der individuellen Entstehung normativer Auffassungen ergänzt werden und formuliert eine entsprechende Regel; da es sich hierbei aber nur um die Überprüfung subjektiver Normüberzeugungen handeln kann, da alle objektiven der Regel d unterliegen, ist diese Regel in unserem Zusammenhang ohne Belang. 67

Vgl. v. Kutschera: Einführung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen. Freiburg/München 1973. S. 70; zum Begriff der Realisierbarkeit Kanngießer. Universalien und diachrone Prozesse. In: Sprachpragmatik und Philosophie. Hrsg. v. Apel. Frankfurt/M. 1976. S. 32ff.

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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überschreiten, führen in andere Diskursformen. So sind empirische Fragen, insbesondere die Prognose von Folgen betreffend, in besonderen empirischen, sprachliche Probleme in sprachanalytischen oder logischen, theoretische Fragen — erkenntnistheoretischer, naturwissenschaftlicher oder auch entscheidungstheoretischer Art — in theoretischen Diskursen mit jeweils eigenen Regeln zu beraten. 6. Das Ideal einer Kommunikationsgemeinschaft Fassen wir das Wesentliche noch einmal zusammen: Die Diskursregeln sind die Quintessenz sprachphilosophisch orientierter, ethischer Forschung, die sich das Ziel gesteckt hat zu zeigen, daß und unter welchen Bedingungen Wert- und Verpflichtungsurteile trotz des Begründungstrilemmas den gleichen Anspruch auf methodisch gesicherte Richtigkeit erheben können wie theoretische Urteile den Anspruch auf wissenschaftlich begründete Gewißheit. Nur wenn dieser Nachweis gelingt, ist es berechtigt, die Tätigkeit der Handlungs- und Normwissenschaften, einschließlich der Rechtswissenschaft, als „wissenschaftlich" zu kennzeichnen. Die Diskursregeln beschreiben als Bedingungen der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation den transzendental-pragmatischen, normativ verstandenen Rahmen 68 , innerhalb dessen Werte und* Normen entworfen und inhaltlich diskutiert werden sollten, sie betreffen nicht den Inhalt der Werte und Normen selbst; dieser könnte auch unabhängig von der konkreten, geschichtlichen Lage entweder gar nicht oder doch nur sehr allgemein bestimmt werden. Die von den Diskursregeln festgelegte Struktur des idealen Diskurses mag wirklichkeitsfremd, unvollständig und weiter diskussionsbedürftig sein, sie ist aber als Kontrollmöglichkeit praktischer Argumentation ein Fortschritt gegenüber der von Regeln und Formen ganz oder weitgehend absehenden, traditionellen, juristischen Topik 6 9 . Der ideale, praktische Diskurs ist nicht geeignet, die zahlreichen und komplexen Probleme moderner Gesellschaften in angemessener Zeit zur Entscheidungsreife zu führen — zu diesem Zweck müssen andere organisatorische Rahmenbedingungen, wie etwa die Normen des Zivilprozesses oder des parlamentarischen Systems, erdacht und verbindlich festgelegt werden. Der praktische Diskurs ist vielmehr eine Beschreibung des philosophischen und des wissenschaftlichen Dialogs mit normativem Anspruch, an dem sich Wissenschaftsgemeinschaften messen lassen müssen, und lediglich als Antwort auf die Frage: „Wie ist Wissenschaft möglich?" {Kant) bzw. „Warum ist 68

Vgl. Apel: Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen. In: Sprachpragmatik und Philosophie. Hrsg. v. Apel. Frankfurt/M. 1975. S. 10ff., 117; derselbe: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: Transformation der Philosophie. Bd. 2. Frankfurt/M. 1973. S. 358ff., 41 Iff. 69 Vgl. etwa Struck: Topische Jurisprudenz. Frankfurt/M. 1971. S. 99ff.; Viehweg: Topik und Jurisprudenz. 5. Aufl. München 1974. S. 111 ff.; derselbe: Notizen zu einer rhetorischen Argumentationstheorie der Rechtsdisziplin. In: Jahrb. f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Bd. II. Düsseldorf 1972. S. 439ff.; Kriele: Theorie der Rechtsgewinnung. 2. Aufl. Berlin 1976. S. 114ff.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Wissenschaft (auch in praktischen Fragen) nötig?" {Heget) 10 ganz verständlich und hilfreich. Sinnfestlegung in der kommunikativen Synthesis der sprachlichen Interpretation — und nicht schon, wie Kant meinte, die Synthesis der Apperzeption — begründet nach Einbeziehung der Sprachproblematik in die Erkenntnistheorie den „höchsten Punkt" einer sprachanalytisch erweiterten Transzendentalphilosophie. Nicht ein grenzbegrifflich gedachtes „Bewußtsein überhaupt", sondern die geschichtlich-reale Sprachgesellschaft ist das Subjekt eines möglichen Wahrheits- bzw. Wertkonsenses der Wissenschaft, wobei allerdings dieses Subjekt nur dann adäquat verstanden wird, wenn es als virtuelles Subjekt der Wissenschaft betrachtet und seine geschichtliche Realität immer zugleich empirisch und normativ kritisch im Hinblick auf das in der Gesellschaft zu realisierende Ideal der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft rekonstruiert wird 7 1 . In einer anderen Perspektive betrachtet: Die theoretischen (Seins-) Wissenschaften haben im Unterschied zu den praktischen (Handlungs- oder Sollens-) Wissenschaften mit dem von ihnen erhobenen Allgemeingültigkeits- und Objektivitätsanspruch keine Schwierigkeiten, weil die dort auftretenden Regeln sich letztlich alle zweckrational begründen lassen; sie ermöglichen ein reproduzierbares Messen, das in der Güterproduktion benötigt wird und eine offensichtliche Verbesserung des technischen Handelns zur Folge hat. Wer Objektivität und Begründetheit von Regeln theoretischer Wissenschaft bezweifelt, sich also nicht nur ihrer Ergebnisse bedient, sondern am theoretischen Diskurs beteiligt, muß seine wissenschaftliche Kompetenz für das betreffende Sachgebiet unter Beweis stellen, wenn er mit seinen Argumenten von den Fachwissenschaftlern ernst genommen werden will. Wer also beispielsweise die Gültigkeit von Beweisen in Frage stellt, muß in seiner Argumentation zeigen, daß er die zu der Beweisproblematik führenden theoretischen Zusammenhänge verstanden hat und beherrscht, was sich mit großer Genauigkeit kontrollieren läßt. Demgegenüber ist bei den praktischen Wissenschaften, wo es um die Existenz und das Wohlergehen aller Gesellschaftsmitglieder geht und folglich alle gleichermaßen Redekompetenz beanspruchen können, eine ähnliche Arbeitsteilung wie bei der Lösung theoretischer Probleme nicht — jedenfalls nicht ohne weiteres — möglich. Das Problem, wie man das Begründen von Werten und Normen zu einem wissenschaftlichen Vorgang machen kann, liegt also darin, angesichts der Tatsache, daß unmöglich alle Betroffenen mitreden können, zu zeigen, welche Möglichkeiten es gibt, die Frage der „Stellvertretung" aller angemessen zu beantworten, ohne einfach — unwissenschaftlich und dezisionistisch — zum demokratischen Mehrheitsprinzip und den dadurch legitimierten Entscheidungsinstanzen Zuflucht zu nehmen. Zweifellos bieten die genannten Regeln des praktischen Diskurses keine Lösung dieses Problems, doch ebenso unzweifel70

Siehe oben S. 94f. Apeh Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozial Wissenschaften. In: Transformation der Philosophie. Bd. 2. Frankfurt/M. 1973. S. 220 ff., 222, 225. 71

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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haft formulieren sie die Bedingungen, unter denen nach der Lösung gesucht werden muß, zutreffend. Die in den Sozialwissenschaften allenthalben begegnende, abstrakt logische Unterscheidung zwischen intersubjektiv verbindlichen Tatsachenaussagen und subjektiven, unverbindlichen Wertaussagen ist durch den Sinnanspruch jedes Arguments als dialogischer, sprachlicher Äußerung immer schon zugunsten einer intersubjektiv verbindlichen Minimalethik aufgehoben, die in den Diskursregeln ihre (vorläufige) Formulierung gefunden hat. Ihre Anerkennung bedarf zwar, wie die Anerkennung von Vernunft und Freiheit überhaupt, der willensmäßigen Bekräftigung {Fichte), doch ist die Beachtung der Regeln in einer wissenschaftlichen Diskussion kein irrationaler Glaubensakt, sondern die einzig mögliche Entscheidung; wer sie nicht trifft, beendet die Diskussion und scheidet aus dem begonnenen Sprachspiel aus. Die Diskursregel D d sei deshalb zum Anlaß genommen, noch einmal zu dem konstruktivistischen Forschungsansatz Lorenzens und Schwemmers zurückzukehren und die Frage der inhaltlichen Beratung von Zwecken als Möglichkeit sozialer Konfliktbewältigung mit Hilfe ethischer Prinzipien erneut zu stellen. 7. Rechtfertigung

von praktischen Beschlüssen

M i t der von Schwemmer vorgenommenen Bestimmung des Ziels der Ethik, Konflikte gewaltfrei zu lösen, ist der transzendentale Rahmen der idealen Gesprächsgemeinschaft, wie er mit den Diskursregeln beschrieben und erläutert wurde, akzeptiert und vorausgesetzt. Dem Vernunftprinzip gemäß sind alle Handlungsvorschläge und etwaige Beschlüsse generell und universell zu formulieren; generell bedeutet, es dürfen in den Formulierungen keine Eigennamen vorkommen; universell heißt, der Vorschlag soll sich als Aufforderung an alle richten. Beschlüsse über bedingte Handlungsvorschläge werden in drei Stufen gerechtfertigt: Auf der ersten Stufe wird der Beschluß über die Ausführung einer Handlung mit einem Zweck begründet, zu dem die Handlung Mittel ist (entscheidungstheoretischer Diskurs); auf der zweiten Stufe wird der Beschluß über die Zwecksetzung begründet, und zwar unter Bezug auf eine Norm, aus der sich die Aufforderung zur Setzung des Zweckes modallogisch ableiten läßt; auf der dritten Stufe schließlich geht es um die Beschlußfassung über die in Anspruch genommene Norm selbst, die dann als begründet gilt, wenn sie in einem System von Normen als untergeordnete Norm aus einer übergeordneten abgeleitet werden kann. Wir befinden uns damit freilich wiederum auf dem deduktiven Wege der Begründung im Rahmenwerk eines axiomatischen Systems, der nur dann nicht in einen unendlichen Regreß führt, wenn die zuletzt als Rechtfertigung in Bezug genommenen „Supernormen" allgemein anerkannt und mit anderen gleichrangigen Normen vereinbar sind. Während der zweiten Begründungsstufe ersichtlich das Vernunftprinzip der Transsubjektivität als praktisches Beratungsprinzip zugrunde liegt, beruht der Erfolg der dritten Beratungs- bzw. Begründungsstufe auf einem Grundsatz, den Schwemmer „Moralprinzip" nennt und in der Forderung zusammenfaßt: „Suche in einem Konflikt zwischen Normen (Zwecken) die miteinander verträglichen Supernor-

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

men (Oberzwecke) zu den konfligierenden Normen (Zwecken) und schlage nur solche Änderungen für konfligierende Normen (Zwecke) vor, bei denen die vorgeschlagenen Normen (Zwecke) Subnormen (Unterzwecke) der miteinander verträglichen, im ersten Schritt festgestellten Supernormen (Oberzwecke) sind" 7 2 . Vernunft und Moralprinzip können als „Prinzipien" ihrerseits nicht noch einmal auf einen allgemeinen Satz zurückgeführt, sozusagen auf einer vierten Stufe begründet werden, sondern sind nach Schwemmer von den Beratenden als evident „vernünftig" zu akzeptieren 73 . Die Einsicht in die Notwendigkeit gemeinsamer Grundsätze, die bestimmen, wie allgemeine Sätze für die Begründung von Handlungen, Zwecken und Normen benutzt werden sollen, sei zwar selten von vornherein vorhanden, erwachse jedoch allmählich in der Ausübung gemeinsamer Beratung mit dem Ziel gütlicher Einigung über Streitfalle. Wer als Einzelner, mit sich selbst vernünftig Beratschlagender, gelernt habe, Handlungen als Mittel zur Erreichung von Zwecken zu begreifen und Zwecke als Mittel übergeordneten Zwecken unterzuordnen, werde in der Regel auch in der gemeinsamen Beratung mit anderen, Bereitschaft zur Konfliktbewältigung vorausgesetzt, den vernünftigen Sinn der vorausgesetzten Prinzipien bemerken 7 4 . Damit scheinen transsubjektive Beratung und praktischer Diskurs ihrerseits unter Bedingungen zu stehen, die kommunikativ nicht einholbar und begründbar sind, weil sie gemeinsame Beratung über praktisches Tun als Mittel zur Erreichung von allen gebilligter, rangmäßig geordneter, verträglicher Zwecke zuallererst ermöglichen. Schwemmers Modell gerät unversehens auf eine Kants Freiheitsprinzip logisch nachgeordnete Reflexionsebene, insofern die Aufforderung, an praktischen Diskursen teilzunehmen, nur dann moralische Bedeutung hat, wenn sie die Anerkennung von Freiheit als das, was schlechthin realisiert werden soll, voraussetzt 75 . Die Prinzipien der transsubjektiven Beratung wären nicht Prinzipien der Ethik, sondern bloße Mittel, um ethisch begründete Entscheidungen zu fördern; nicht der Entschluß, an Diskursen teilzunehmen — aus welchen Gründen auch immer —, wäre der Beginn ethischen Verhaltens, sondern der Entschluß, an solchen Beratungen „um der Freiheit willen" teilzunehmen 76 . 72 Schwemmer: Grundlagen einer normativen Ethik. In: Kambartel/Friedrich/Mittelstraß (Hrsg.): Zum normativen Fundament der Wissenschaft. Frankfurt/M. 1973. S. 159 ff., 172. 73 Lorenzen: Normative logic and ethics. aaO. S. 74 spricht von einem „act of faith" im Sinne des Glaubens an die Vernunft, der nicht gerechtfertigt werden kann. Auch Schwemmer: Philosophie der Praxis. aaO. S. 194ff. scheint ursprünglich geglaubt zu haben, diese typische Verlegenheit moderner, logischer Semantik (ζ. B. Carnap) akzeptieren zu müssen, obwohl er zuvor in Anknüpfung an Fichte gezeigt hatte, daß das „Moralprinzip" selbst auf Grund einer Teilnahme an gemeinsamer Gesprächspraxis begriffen werden kann. 74

Vgl. Schwemmer: Ethik. In: Lorenzen/Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. 2. Aufl. Mannheim/Wien/Zürich 1975. S. 168f. 75

51 f.

Pieper: Pragmatische und ethische Normenbegründung. Freiburg/München 1979. S.

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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Indessen, die häufig herausgestellte, schwierige Grundsituation, eine ethische Basisnorm ohne Rückgriff auf irgendeine andere Norm begründen zu müssen, liegt hier nicht vor; wer die durchaus sinnvolle Frage nach der Rechtfertigung des Moralprinzips Schwemmers stellt, befindet sich bereits im Dialog begriffen und vermag durch transzendentale Reflexion im Wege der Rekonstruktion der Vernunft einzusehen, was er immer schon als Grundprinzip akzeptiert hat, wenn er sich auf ein gütliches Gespräch über praktische Probleme mit anderen einläßt. Wer aber der Diskussion ausweicht, der kann überhaupt nicht die Frage nach der Begründung ethischer Prinzipien stellen, und es ist sinnlos, „ihm einen wackeren Glaubensentschluß zu empfehlen" 77 . Die Frage der Abhängigkeit praktischer Diskurse von ausdrücklich verbindlich gemachten Voraussetzungen, sei es durch einzelne Definitionen, sei es durch ganze semantische Systeme, ist nur von der Position des Neopositivismus aus problematisch und als Aporie unter dem Aspekt des willkürfreien Anfangs in der Ethik dann freilich unauflösbar. Vernunft- und Moralprinzip legen fest, was formal unter einer vernünftigen Beratung mit dem Ziel der Übereinkunft zu verstehen ist: Wer eine Norm geltend macht, um eine Zwecksetzung zu rechtfertigen, muß bereit sein, diese Norm als einen Grund (zweiter Stufe) auch für alle weiteren Beschlüsse über Zwecksetzungen, insbesondere seine eigenen, zuzulassen. Gleichermaßen wie Meinungen, die sich nicht aus allgemeinen, auch sonst in wissenschaftlichen Beratungen benutzten Gesetzeshypothesen ableiten lassen, als bloß subjektiv, faktisch und wissenschaftlich unbeachtlich betrachtet werden, so sind auch Zwecksetzungen bloß subjektiv, faktisch und ethisch irrelevant, wenn ihnen keine allgemein benutzbare und benutzte Norm zugrunde liegt. Beschlüsse, die lediglich faktisch, etwa durch Mehrheitsentscheidung, Zustandekommen, ohne durch Normen begründet zu sein, scheiden als „unvernünftig", d. h. dem Vernunftprinzip der Transsubjektivität widersprechend, aus der ethischen Erörterung aus; formal einwandfreie, normative Begründung ist erstes Gebot für formal vernünftige Entscheidung zwischen widerstreitenden Zwecken. Da die Ableitung von Zwecksetzungen aus stets als Grund benutzbaren und benutzten Normen jedoch nur überzeugt, solange diese nicht mit anderen, ebenfalls als Grund benutzten und benutzbaren, unvereinbaren Normen konkurrieren, aus denen sich andere, unverträgliche Zwecke modallogisch herleiten lassen, darf vernünftige Beratung an dieser Stelle nicht abbrechen, sondern muß mit dem Ziel, den Normwiderspruch aufzuheben, fortgesetzt werden. Eine Möglichkeit dazu bietet das oben geschilderte, dialektische Verfahren der gegenseitigen Einschränkung und Beziehungsermittlung 78, das 76

Pieper aaO. S. 52, 221.

77

Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: Transformation der Philosophie. Bd. II. Frankfurt/M. 1973. S. 358 ff., 421. Gethmann: Zur formalen Pragmatik der Normbegründung. In: Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftl. Handeln. Hrsg. v. Mittelstraß. Frankfurt/M. 1979. S. 46ff., 69 hält demgegenüber die transzendentale Begründung für „schwach". 13 Mittenzwei

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

zur Bildung von Zweck- und Normstrukturen führen kann, welche Über- und Unterordnungen erkennen lassen, freilich den Nachteil hat, keine wissenschaftlich-analytische Methode zu sein, die bestimmte, isolierte Ergebnisse erzielt, vielmehr einen ständig sich wiederholenden Denkvorgang erfordert, der prinzipiell ohne Ende fortzusetzen — also nicht abschließbar ist. Natürlich stößt ein solches Verfahren vernünftiger Kommunikation in der Praxis wie jeder Entscheidungsprozeß sehr bald an die Grenze verfügbarer Hilfsmittel technischer und praktischer Art, vor allem an die Grenze verfügbarer Zeit. Irgendwann müssen alle Begründungsversuche abgebrochen und praktische Entscheidungen getroffen werden, irgendwann muß der Beratungsprozeß zum Stillstand kommen und in einen abschließenden Entscheidungsprozeß übergehen, muß Diskussion in Beschlüsse münden, bestenfalls vorbehaltlich neuer Gesichtspunkte, die zu nochmaliger Überprüfung und gegebenenfalls Revision in Gang gesetzter Maßnahmen veranlassen könnten. Irgendwo verliert sich deshalb auch dieser Weg vernünftiger Willensbildung in den Aporien praktischer Entscheidungsfindung 79 . 8. Das Postulat produktiver

Diskurseröffnung

Normen sind nur durch Normen begründbar; wo Normen unvereinbar konkurrieren, ist eine Begründung nur möglich, wenn man auf dem Wege über ein prädiskursives Einverständnis — welches sowohl vom diskurstheoretischen Diskurs als auch vom Begündungsverfahren selbst, das zu den praktischen Beschlüssen führt, zu unterscheiden wäre — zu den unverträglichen Normen übergeordnete Supernormen finden könnte; nur auf einer solchen, vorab ermittelten, gemeinsamen Basis könnten erfolgreich neue Subnormen ermittelt werden. Es ist deshalb vorgeschlagen worden, weitere Diskursregeln für typische Begründungssituationen festzulegen und insbesondere zwischen „reduktiven" und „produktiven" Diskurseröffnungen zu unterscheiden 80. Reduktive Diskurseröffnungen erfolgen „voraussetzungslos", d. h. sie werden so geführt, daß, mit Ausnahme der (stillschweigenden) Einigung über die Grundregeln und die allgemeine Begründungsregel Ba, eine vorherige Absprache über gemeinsame Annahmen nicht stattfindet; die bei der Diskurseröffnung von dem Begründenden vorausgesetzten Normen werden dann von seinen Opponenten in einem vertikalen, die vorausgesetzten Prämissen in einem horizontalen Diskurs thematisiert. Produktive Diskurseröffnungen bauen demgegenüber auf dem 78

Vgl. oben S. 76 ff. Damit hängt zusammen, daß Wissenschaft nicht ohne eine Rangordnung der wissenschaftlichen Institutionen und der in ihnen arbeitenden Wissenschaftler auskommt. Wo „harte", Konsens erzwingende Wertordnungen fehlen, besteht, wie die Wissenschaftssoziologie zeigt, ein funktionales Bedürfnis nach persönlicher Autorität Einzelner als „Leuchttürmen" der Orientierung in einer uferlosen, unabschließbaren Diskussion. Vgl. Cole!Cole: Social Stratification in Science. Chicago/London 1973. S. 63, 79 f. 79

80 Vgl. Gethmann: Zur formalen Pragmatik der Normbegründung. In: Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftlichen Handeln. Hrsg. v. Mittelstraß. Frankfurt/M. 1979. S. 46ff., 64ff.

IV. Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion

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Fundament bereits gelungener Begründungen auf; solche gelungenen Begründungen erstrecken sich in der vertikalen Dimension des Diskurses auf bestimmte Normen, in der horizontalen Dimension auf bestimmte Prämissen. Da der Begründende hier die Möglichkeit hat, zur Rechtfertigung seiner bezweifelten Propositionen oder Normen diejenigen Prämissen oder Normen heranzuziehen, die inzwischen außer Streit stehen (und im praktischen Diskurs auch nicht mehr revidierbar sind), haben produktive Diskurseröffnungen gegenüber reduktiven den Vorteil, daß sie mit größerer Wahrscheinlichkeit erfolgreich abgeschlossen werden können. Die Entscheidung für ein produktives und gegen ein reduktives Diskursverfahren muß schon vor Eröffnung des Dialogs fallen; denn wählen die Kontrahenten nicht ausdrücklich ein produktives Begründungsverfahren, indem sie sich der gemeinsamen Argumentationsbasis vergewissern, sondern beginnen sie die Diskussion unvermittelt — wie übrigens in der Praxis meistens — mit irgendwelchen Behauptungen, so treten sie sofort in einen reduktiven Diskurs ein, bei dem ein Begründungserfolg nicht abzuschätzen ist, weil nicht vorausgesehen werden kann, ob der Begründende zufallig auf eine Prämisse oder Norm stoßen wird, die für seine Opponenten annehmbar ist. Von daher besteht die Gefahr, daß praktische Diskurse, wie bereits dargelegt, unabschließbar immer weiter laufen, sich entweder im Kreise bewegen oder irgendwo willkürlich abgebrochen werden. Dieses Risiko wird vermindert, wenn es gelingt, in einen produktiven, praktischen Diskurs einzutreten, also eine prädiskursive Begründungsbasis herzustellen. Gethmann hat auf Grund dieser Erwägungen zur Ergänzung der allgemeinen Begründungsregel weitere Postulate formuliert: (P x ) Begründe produktiv! (P 2 ) Wirke an der expliziten Herstellung einer Diskursbasis mit! (P 3 ) Begründe schrittweise! (P 4 ) Stimme einer Norm zu, die sich aus gemeinsam akzeptierten Prämissen bzw. Regeln ergibt 81 ! Der Vorteil des produktiven, praktischen Diskurses vor dem reduktiven hängt von der Ermittlung einer gemeinsamen Gesprächsbasis ab; gibt es diese nicht, hat die Forderung (P x ) nach produktiver Begründung lediglich den geringen Vorteil, daß ein aussichtsloser, weil wahrscheinlich unabschließbarer Diskurs gar nicht erst eröffnet wird. Soll jedoch die Begründungsregel ihren Sinn erfüllen, müssen alle am Diskurs Beteiligten bestrebt sein, eine Begründungsbasis herzustellen; auf diese prädiskursive Einigung der Diskursteilnehmer zielt das von Schwemmer vorgeschlagene Moralprinzip, dem also ein anderer Status zukommt als dem Begründungsverfahren von Handlungen und Zwecken und das, so betrachtet, nichts anderes ist als eine Anwendungsbedingung des Vernunftprinzips wie der Imperativ (P 2 ) auch. Die einzelnen Schritte eines produktiven, praktischen Diskurses haben dann Aussicht, durch eine gelungene Begründung erfolgreich abgeschlossen zu werden, wenn man sie gezielt auf jenen Punkt hin vornimmt, von dem aus sich die gemeinsame Begründungsbasis überzeugend in Anspruch nehmen läßt. In 81

13*

Gethmann: Zur formalen Pragmatik der Normbegründung. aaO. S. 69, 70.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

negativer Hinsicht lassen sich auf diese Weise eine Reihe von Fällen ausscheiden, in denen eine Begründung kaum gelingen wird; so wird ζ. B. ein Diskurs wahrscheinlich scheitern, wenn verwendete Prämissen unerwähnt bleiben, weil der Begründende Sprünge macht; oder wenn die Diskursteilnehmer Zweifel hinsichtlich bestimmter Begründungspunkte nicht aufgreifen oder etwas bezweifeln, was zur Stützung einer These gar nicht behauptet wurde; oder wenn sie sich in pragmatische oder propositionale Widersprüche verwickeln. Das Postulat (P 3 ) verleiht damit einer wesentlichen Bedingung erfolgreicher Diskursabschlüsse bindenden Ausdruck. Der praktische Diskurs erfüllt seine Aufgabe der Konfliktbewältigung, wenn es gelingt, Behauptungen durch Prämissen bzw. Normen, die Bestandteil der gemeinsamen Diskursbasis sind, für alle Beteiligten annehmbar zu begründen. Ein erfolgreicher Abschluß wird jedoch verhindert, wenn nicht alle Diskursteilnehmer zu ihren prädiskursiven Einverständnissen stehen oder sich zwingenden Schlußfolgerungen verweigern; dieser Gefahr will der Imperativ (P 4 ) entgegenwirken, der im übrigen der Grundregel Ac und der Begründungsregel D a verwandt ist. Die vorgeschlagene Unterscheidung zwischen reduktiven und produktiven, praktischen Diskursen läßt noch einmal das „Stellvertretungsdilemma" in aller Schärfe hervortreten. Wo der Erfolg von Begründungen von der jeweiligen prädiskursiven Einigung auswechselbarer Diskursteilnehmer abhängt, ändert sich mit jedem neuen Teilnehmer die Diskursbasis; Begründungen sind nur für die jeweils Beteiligten erfolgreich (streitschlichtend) durchgeführt worden, nicht jedoch allgemein für alle; gerade die allgemeine Verbindlichkeit macht jedoch den Charakter wissenschaftlicher Begründungen aus. V. Offene Fragen — Wegweisungen 1. Zur Ursache des Wertpluralismus Es stellt sich die Frage, was mit den erörterten Regeln und Prinzipien inhaltlicher Zweckdiskussion eigentlich gewonnen ist: Sind wir durch die transzendentale Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit von Vernunft und sprachlicher Kommunikation sowie die Formulierung grundlegender Regeln und Prinzipien praktischer Diskurse wirklich über die Position der Entscheidungstheoretiker hinausgekommen, die zwar das Verhältnis von Mittel und Zweck, nicht jedoch die Zwecksetzung selbst für wissenschaftlich begründbar halten? Kann auf der Grundlage der immer schon vorhandenen Sprachgemeinschaft und der beiden behandelten Prinzipien eine normative Ethik für die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung und eine Theorie praktischer — damit auch rechtlicher — Argumentation erarbeitet werden, die Zielsetzungen objektiv begründbar macht? Zugespitzt auf die wissenschaftstheoretische Situation einer sich als teleologische Rechtswissenschaft verstehenden Jurisprudenz lautet die Frage: Muß diese als Wissenschaft vom Gesetzgeber in den erlassenen Gesetzen vorgegebene Zwecke ungeprüft hinnehmen und sich auf die

V. Offene Fragen — Wegweisungen

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effektive Durchsetzung derselben in der sozialen Wirklichkeit, muß sie sich als Wissenschaft auf die technische Umsetzung in Normen beschränken, oder darf sie die Frage nach der Richtigkeit der Zwecksetzungen stellen, ist sie berechtigt, Ziele zu kritisieren und zu modifizieren oder gelegentlich, bei „Fehlentscheidungen", zu substituieren, weil sie imstande ist, die in der konkreten geschichtlichen Lage ethisch angemessene Zielbestimmung in wissenschaftlicher, d. h. in objektiver, methodisch gesicherter und deshalb intersubjektiv verbindlicher Weise, zu begründen? Der erste Anschein spricht dagegen; daß eine Minimalethik sprachlicher Kommunikation, wie sie in den Diskursregeln zum Ausdruck kommt, nicht genügt, um angesichts der Komplexität der Wirklichkeit eine Ethik praktisch handelnder, ständig zu Entscheidungen gezwungener Menschen zu begründen, liegt auf der Hand. Aber selbst im engeren Bereich der Philosophie, der Handlungs- und Normwissenschaften, wo die Einhaltung der Regeln für jeden Wissenschaftler Ehrensache sein sollte und von niemandem offen abgelehnt wird, herrscht eine solche unübersehbare Vielfalt an unverträglichen Theorien, systematischen Positionen und Zielbestimmungen, daß eine Einigung über praktische Fragen selbst auf lange Sicht nicht erreichbar erscheint. Augenscheinlich spielen auch im wissenschaftlichen Dialog eine Reihe von Faktoren eine Rolle, die bislang noch nicht hinreichend beschrieben und bewußt gemacht worden sind; einigen Hinweisen, in welche Richtung sich weitere Forschung wenden müßte, sei im Folgenden nachgegangen. Knüpfen wir noch einmal an das zuletzt behandelte „Moralprinzip" an: Schwemmer ist entgegengehalten worden, sein Prinzip enthalte kein allgemein verbindliches Verfahren ethischer Begründung, sondern allenfalls eine spezielle, in bestimmten Fällen anwendbare Argumentform 1 . Dazu am besten ein Beispiel: Nehmen wir an, die Diskursteilnehmer A und Β befolgen die miteinander unverträglichen Normen N x und N 2 , um die übergeordneten Normen und Ν 2 erfüllen zu können. Gibt es nun zu N x die Alternative N 3 , die als Subnorm sowohl zu N' x als auch N ' 2 gewählt werden könnte, so wäre es zweifellos vernünftig, wenn A die unverträgliche Subnorm N i durch die verträgliche Subnorm N 3 ersetzen würde. In vielen Konflikten wird eine Lösung auf dem vom Moralprinzip gewiesenen Weg möglich sein, insbesondere dann, wenn zwischen den Folgen von ^ und N 3 keine erheblichen Unterschiede ermittelt werden können und A die Wahl zwischen beiden Möglichkeiten gleichgültig ist. Ist dies jedoch nicht der Fall, so hilft das Moralprinzip nicht weiter, denn es kann für A durchaus anerkennenswerte Gründe geben, die Aufforderung, die verträgliche Subnorm N 3 zu wählen, abzulehnen. Beispielsweise kann N 3 Nebenfolgen haben, die zwar nicht die Interessen des B, wohl aber die des A beeinträchtigen; ferner kann A mit N x weitere übergeordnete Normen erfüllen wollen, die wiederum für Β nicht annehmbar sind usw. Der Streit, wer 1

Vgl. Kambar tel: Wie ist praktische Philosophie konstruktiv möglich? Über einige Mißverständnisse eines methodischen Verständnisses praktischer Diskurse. In: derselbe (Hrsg.): Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt/M. 1974. S. 9 ff., 15.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

von den Beratenden (Einzelnen oder Gruppen) auf die zur Begründung des Verhaltens herangezogene Norm verzichten soll, läßt sich ohne weitere Kriterien nicht rational entscheiden. Dennoch enthält das Moralprinzip einen für alles begriffliche Denken fundamentalen Gedanken, der es gerechtfertigt erscheinen läßt, nicht von einer — in der praktischen Anwendung begrenzten — Argumentform, sondern von einem „Prinzip" zu sprechen: es ist der Gedanke, daß auch die praktisches Handeln begleitenden, teleologischen Überlegungen zu einer systematischen Einheit finden müssen, zu einem Zwecksystem, in dem das Verhältnis der Zwecke zueinander bestimmt ist, daß nicht nur theoretische, sondern auch praktische Vernunft der systematischen Denkform zu gehorchen hat. Der von Julius Binder in Anlehnung an Kant formulierte „theoretische Imperativ": Füge die Mannigfaltigkeit deiner Eindrücke und Erlebnisse zu einer schlechthinnigen Einheit zusammen2! — wird durch Schwemmers Moralprinzip gleichsam um einen „praktischen Imperativ" ergänzt: Füge die Mannigfaltigkeit deiner Bedürfnisse und deiner von dir erstrebten Zwecke zu einem Zielsystem zusammen, in dem die Rangordnung der Bedürfnisse und Zwecke verbindlich festgelegt ist! Der Konflikt unverträglicher Normen verlagert sich damit freilich auf eine andere Ebene, die systematische. So läßt sich in praktischen Diskursen denn auch gut beobachten, wie sich die von den einzelnen Sprechern oder Sprechergruppen (immer schon) unternommenen Systemversuche allmählich zu dogmatisierten „Positionen" verhärten, von denen aus jede Behauptung immanent begründet und jeder Angriff als nicht gerechtfertigt zurückgewiesen werden kann; eine Annäherung der Standpunkte gelingt allenfalls dann, wenn entweder nicht berücksichtigte, empirische Daten oder nachweisbare, innere Widersprüche zum Eingeständnis der Unvollständigkeit des Systems zwingen. Das „Inkommensurabilitätsproblem", wie die Wissenschaftstheorie die Unvergleichbarkeit der Positionen nennt, besteht darin, daß Termini, mit denen die Fragen und theoretischen Annahmen der Systeme formuliert sind, entweder nicht dasselbe bedeuten oder verschiedene Systeme nicht die gleichen Termini enthalten, daher nicht die gleichen Fragen formulieren und keine vergleichbaren Darstellungen der Gegenstände (Sachverhalte) geben. A u f dieses Problem, das sowohl für die theoretischen als auch die praktischen Wissenschaften relevant ist, und das Zweifel an der Möglichkeit eines wissenschaftlichen Fortschritts in Richtung auf objektive Wahrheit geweckt hat, werde ich im zweiten Teil der Arbeit zurückkommen 3 . Einstweilen mögen folgende Andeutungen genügen: Die seit den fünfziger Jahren verstärkt einsetzenden Bemühungen um eine Theorie der Argumentation gingen vorwiegend von der Problemsicht der den englischen Sprachraum beherrschenden Analytischen Philosophie aus; folgerichtig wurde Argumentieren als sprachliches Handeln und die Gesprächspartner als getrennte (atomisier2 3

Vgl. Binder: Philosophie des Rechts. Berlin 1925. (Neudruck Aalen 1967) S. 76. Vgl. unten S. 273 ff.

V. Offene Fragen — Wegweisungen

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te) Subjekte begriffen, die in ihren Auffassungen in mancher Hinsicht übereinstimmen, in anderer nicht; Argumentation wurde als regelgeleitetes Sprachspiel durchschaut, dessen Regeln man metasprachlich formulieren und als höhere Instanz dem Streit auf der Subjekt-Objekt-Ebene vorordnen konnte. Dabei blieb das Problem ungelöst zurück, daß sich nebeneinander verschiedene Sprachspiele etablieren können und die Auseinandersetzung mit Argumenten vor allem um die durch diese verschiedenen Sprachspiele manifestierten Begriffssysteme geführt wird, mit dem Ziel, Widersprüche in dem gegnerischen System aufzudecken bzw. in dem eigenen auszuräumen, nicht aber, die verschiedenen Sprachspiele, als deren Grundlage man nicht hinterfragbare Lebensformen und Weltbilder (Paradigmen) vermutete, in höheren Einheiten aufzuheben. Da man jemanden zur Übernahme einer Lebensform oder eines Weltbildes nicht mit Gründen überzeugen, sondern nur mit den Mitteln der Überredung bewegen kann, hängt folgerichtig die Durchschlagskraft eines Argumentes — als des durch immer verbindlichere Zeichenhandlungen hindurch sich abhebenden Teils der Kontroverse — davon ab, ob es den Diskurspartner zwingt, Schritte zu tun, die sich aus seiner bisher formulierten, theoretischen Position nicht einfach formal ableiten lassen, sondern eine Modifizierung seiner Position bedeuten. „Position" bezeichnet dabei die systematische Seite des Entwicklungsprozesses, den der Sprecher durchläuft, wenn er seine Auffassung argumentierend in der Auseinandersetzung zu behaupten versucht. Insofern in den Gründen und Einwänden immer weitere Thesen auftauchen, die von der ursprünglichen, den Meinungsstreit einleitenden Behauptung nicht impliziert sind, entwickelt sich das Vertreten von Thesen und Gegenthesen nach und nach zum Verteidigen von Positionen und Gegenpositionen. Zwei Arten von Argumenten beherrschen gewöhnlich die wissenschaftliche Kontroverse: solche, die sich auf den begrifflichen Zusammenhang des eigenen Systems beziehen und solche, die sich mit dem gegnerischen System auseinandersetzen, sei es systemimmanent, sei es systemvergleichend. Die auf die eigene Position bezogenen Argumente versuchen, eine Systemstruktur sichtbar zu machen, indem Thesen auf Voraussetzungen und diese wiederum auf andere Voraussetzungen zurückgeführt werden, solange, bis ein Geflecht von Bedingungen entstanden ist, das alle relevanten Aspekte berücksichtigt, die man von einem Gegenstand zur Geltung zu bringen wünscht. Diese Explikation der Voraussetzungen konstituiert nach und nach das System, macht es für Anhänger und Unentschlossene begreiflich und annehmbar. Alle bezweifelnden Einwände in der auf die eigene Position bezogenen Argumentation werden als Hinweise auf noch zu beseitigende Unvollständigkeit verstanden oder als systemfremd zurückgewiesen. Systemüberschreitendes Argumentieren zielt darauf ab, die eigene Position gegenüber anderen zur Geltung zu bringen, entweder, indem man auf Widersprüche im Begründungszusammenhang der Gegenposition aufmerksam macht, oder, indem man nachzuweisen versucht, daß man den Gegenstand angemessener sieht oder ein Problem besser lösen kann. Solange beide Parteien einen Sachverhalt angemessen in ihren Systemzusammenhang

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

einordnen können, besteht wenig Hoffnung, den Widerspruch zwischen den Positionen argumentativ aufheben oder auch nur mildern zu können. Nur wenn eine Partei gezwungen wird, ihre Position inhaltlich fortzuentwickeln, um Einwände auszuräumen, die anders nicht ausgeräumt werden können, läßt sich ein Fortschritt im Sinne des Bewußtwerdens entfalteter Vernunft beobachten. Bis Wissenschaftsgeschichte und eine Theorie der Argumentation, die diesen Namen wirklich verdient, den geistesgeschichtlich gut belegbaren Tatbestand der Positions- bzw. Systemkämpfe, auf den ich, wie gesagt, noch eingehen werde, aufgearbeitet haben, wird noch viel Zeit vergehen. Unter diesen Umständen sind die Regeln des praktischen Diskurses und die Prinzipien des philosophischen Konstruktivismus, aller geäußerten Vorbehalte zum Trotz, immerhin ein Anfang, der auf eine „Rehabilitierung der praktischen Vernunft" hoffen läßt. Denn soviel ist sicher: Der inhaltlich zunächst unbestimmte Begriff der Vernunft, der sich nur als Spiegelbild einer vorausgesetzten, objektiven Vernunft konstituieren ließ — ohne objektive Vernunft gibt es höchstens Verstand, Klugheit, aber keine Vernunft 4 —, und die Fähigkeit zu unbegrenzter Reflexion, die ständig Gefahr läuft, sich im Unendlichen des bloß Gedachten zu verlieren, erfahren durch die Regeln der sprachlichen Kommunikation und die beiden Prinzipien erste, objektive Beschränkungen, durch die eine Überwindung sowohl des theoretischen wie ethischen Solipsismus atomisierter Subjekte (Subjektgruppen) möglich und ein skeptisches Beharren im Relativen und Unverbindlichen erschwert wird. Freilich ist das Erreichte nichts, womit man sich begnügen könnte, denn die sprachliche Kommunikation unter freien und (rechtlich wie faktisch) gleichen Individuen sowie anderen, idealen Bedingungen, läßt sich trotz der ermittelten, objektiven Sprach- und Diskursstrukturen inhaltlich nirgends sinnvoll abbrechen, obwohl Einigung objektiv geboten und realisierbare Ergebnisse der Diskussion praktisch notwendig sind. Es fehlt der materiale, Kommunikationsgesetze beachtende, zugleich jedoch transzendierende, intersubjektiv verbindliche Zielpunkt, der sich durch Metaregeln als objektive Instanz, auf einer übergeordneten Ebene fixiert, keineswegs, wie behauptet, substituieren läßt, der andererseits ohne ein sinnhaftes, teleologischhermeneutisches Weltverständnis, das die Vernunft im Wirklichen aufspürt und Verantwortung gegenüber dem Ganzen weckt, schwerlich zu haben sein wird. 2. Der Unterschied zwischen Individual-

und Sozialethik

U m an dieser Stelle nicht verharren und das Ergebnis weiterer ethischer Forschung abwarten zu müssen, sei zunächst eine Unterscheidung aufgegriffen, die sich in der politischen Diskussion über die richtige Staatsform als vorteilhaft 4 Ebenso Ritter: Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles. In: Metaphysik und Politik. Frankfurt/M. 1969. S, 9 ff., 21; Coing : Zur Geschichte des Privatrechtssystems. Frankfurt/M. 1962. S. 28: die Grundhypothese aller Wissenschaft sei, daß eine vernünftige, dem Denken erfaßbare Struktur die geistige und materiale Welt beherrsche.

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erwiesen hat: die Unterscheidung zwischen einer an Werten orientierten Individualethik und einer an Interessen orientierten Sozialethik 5 ; die Rangordnung individueller Zwecke bestimmt sich, ethisch betrachtet, nicht nach den gleichen Gesichtspunkten wie die Rangordnung der sozialen, dem gesellschaftlichen Ganzen dienenden Zwecke. Während es individual-ethisch darum geht, in den subjektiven Zwecksetzungen über die Fixierung auf fundamentale Bedürfnisse des Lebens hinauszukommen und gemäß der menschlichen Bestimmung als „Vernunftwesen" eine sittliche Person {Kant) zu werden, also gerade seine egoistisch und hedonistisch kalkulierten, materiellen Interessen hinter sich zu lassen, sich zu überwinden, transsubjektiv, allgemein zu werden, geht es sozialethisch im Bereich politischer Zwecksetzungen, wo nicht nur mit Blick auf den Einzelnen, sondern ebenso in Verantwortung für die Funktionsfahigkeit des gesellschaftlichen Ganzen entschieden werden muß, zunächst einmal um die Aufrechterhaltung der Friedensordnung und d. h. um das fundamentale Interesse des Überlebens, dem weniger fundamentale Interessen nachzuordnen sind 6 . Individual- und Sozialethik ergänzen einander, denn ohne staatsbürgerliche Verantwortung zumindest eines Teiles der Individuen kann ein Staatswesen ebensowenig gedeihen wie ohne geordnete, die Fundamentalinteressen befriedigende, soziale und wirtschaftliche Verhältnisse. Daß Sozialethik zuerst die Fundamente des Lebens im Auge haben muß, ist ein in geschichtlicher Erfahrung gereifter Grundgedanke, welchem der französische Staatstheoretiker Jean Bodin (1530-1596) bereits 1583 in seinem Werk „Les six Livres de la République" unter dem frischen Eindruck der Schrecken eines konfessionellen Bürgerkriegs Ausdruck verliehen hat 7 : Die natürliche Vernunft bestehe darin, den Stufenbau der Interessen von unten nach oben zu erkennen; am Anfang stehe die Notwendigkeit der Lebenserhaltung, d. h. des Friedens und der Sicherstellung der Ernährung der Bürger; sei diese gewährleistet, ergäben sich Möglichkeiten, das Leben angenehmer und schmerzloser zu gestalten durch die Verfügung über Werkzeuge, Medikamente usw. Erst wenn diese Interessen 5

Vgl. Kriele: Einführung in die Staatslehre. 2. Aufl. Opladen 1981. S. 46, 50f. Die Bestimmung der „Werthöhe" bzw. der „Interessenstärke" ist ein besonderes Problem. Siehe einerseits Scheler: Der Formalismus in der Ethik. 3. Aufl. Halle 1927. S. 103 ff.; andererseits Hartmann: Ethik. Berlin 1925. 3. Aufl. 1949. S. 145ff., 604ff. Kritisch Welzel. Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 1962. S. 220ff.: Eine materiale Wertethik in diesem Sinne beschäftige sich nur mit der Güte des Aktes (dem „Aktwert"), nicht aber mit dem Guten als dem Inhalt und dem Ziel der sittlichen Handlung. Das primäre Problem der Sozialethik bestehe nicht in Konfliktentscheidungen zwischen höheren und niederen Werten (Interessen), sondern darin, den Inhalt der sittlichen Aufgaben aus der Eingliederung der Person in überindividuelle Lebenseinheiten zu ermitteln. (aaO. S. 222) — Nämlich so, wie es Hegel versucht hat! 7 Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Buch I — III. Übers, v. Wimmer. Hrsg. v. MayerTasch. München 1981.1. Buch. 1. Kap. S. 102f.; vgl. Kriele: Einführung in die Staatslehre. aaO. S. 51 f; auch Schnur: Die französ. Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Berlin 1962. 6

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

befriedigt seien, wende sich das Interesse geistigen Gegenständen zu, der Geschichte, der Wissenschaft, der Religion, in welch letzterer sich schließlich prudentia, scientia und religio zur geistigen Schau des „summum bonum" vereinige. Wird allerdings die Zielbestimmung politischer Ethik in den Bereich individueller Zwecksetzungen übertragen, wie es heute unter dem starken Einfluß utilitaristischer und evolutionistischer Theorien weit verbreitet ist, so entsteht ein individualistischer Hedonismus, der dem modernen „homo oeconomicus" sicherlich einleuchten wird, jedoch staatsbürgerliche Verantwortung nicht zu begründen vermag und für einen traditionellen „homo sapiens" auch nichts weiter ist als eine Verkürzung der philosophischen Sinnfrage auf die paradoxe Formel: Der Sinn des Lebens ist das Leben 8 ! 3. Kritische

Normgenese anhand einer empirisch ermittelten

Bedürfnisstruktur

Zwei Wege bieten sich an, die Prüfung des teleologischen Zusammenhangs von Normen und mittelbar des ethischen Fundaments einer wert- bzw. interessenorientierten Rechtsordnung noch ein Stück voranzutreiben: der begrifflich-deduktive, ideengeschichtlich darzulegen an den Begriffen Rechtsidee und Gerechtigkeit, und der empirisch-induktive, der sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Forschung die Aufgabe stellend, die Gesamtheit aller faktisch vorhandenen Bedürfnisse zu erfassen und kulturspezifisch zu strukturieren. Wenden wir uns zunächst dem zweiten Weg zu, dessen Rahmenbedingungen Schwemmer selbst als „angewandte Wissenschaftstheorie" (im Unterschied zur reinen Wissenschaftstheorie der Logik und Ethik) schon diskutiert hat 9 . Beratungen über „Supernormen" können mit Hoffnung auf erfolgreiche Beendigung nur in relativ kleinen Gruppen durchgeführt werden; fehlt es an dieser Voraussetzung, bilden etwa die Betroffenen einen solch großen Kreis, daß es organisatorisch nicht möglich ist, sie über alle relevanten Zwecksetzungen gemeinsam beraten zu lassen, so sei es für eine sinnvolle Anwendung des Vernunftprinzips erforderlich, zunächst einmal die Zwecke der nicht an der Beratung Beteiligten in einer Weise festzustellen, daß sie von den Beratenden mitberücksichtigt werden können. Im übrigen werden immer und überall bereits Normen angewandt, von denen keineswegs gesichert ist, daß sie in regelgeleite8 Zur Problematik des Sinnbegriffs vgl. Schaeffler. Sinn. In: Hdb. d. philos. Grundbegriffe. Hrsg. v. Klings, Baumgartner u. Wild. Bd. 3. München 1974. S. 1325 ff. m. weit. Nachw.; Klages: Vom Sinn des Lebens. Ausgewählt von Kern. Hamburg 1940; Rickert: Unmittelbarkeit und Sinndeutung. 1939; Schmidt: Der philosophische Sinn. 1912; Bußhoff : Zur neueren Diskussion des Sinnproblems. In: Kölner Zeitschr. f. Soziologie u. Sozialpsychologie. 1975. S. 715ff.; Luhmann: Funktionale Methode und juristische Entscheidung. In: AöR 94 (1969). S. 1 ff., 18 ff.; Larenz: Die Sinnfrage in der Rechtswissenschaft. In: Festschr.f. Franz Wieacker. Göttingen 1978. S. 41 Iff. 9 Schwemmer. Theorie des praktischen Wissens. In: Lorenzen/Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. 2. Aufl. Mannheim/Wien/Zürich 1975. S. 273 ff.

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ten, praktischen Diskursen unter der Herrschaft der genannten Prinzipien entstanden sind; solche Normfestsetzungen seien erst einmal zu ermitteln und kritisch zu überprüfen, wobei vor allem das aus der Erfahrung mit ihrem Umgang gewonnene Wissen über relevante Wirkungen herangezogen werden müsse. Die Aufgabe bestehe allerdings nicht darin, die Wirkung von Normbefolgungen naturwissenschaftlich-kausal durch Verlaufsgesetze zu erklären, sondern in ihrer Sinnhaftigkeit als Folge zweckgebundenen Handelns zu verstehen und auf ihre Vernünftigkeit hin zu beurteilen. Die Durchführung der faktischen und kritischen Genese von Normen führe über die Teilaufgaben der Kulturdeutung, der Kulturkritik und der Kulturreform zum praktischen Wissen der Kulturwissenschaften, wobei Kulturdeutung Mittel zur Kulturkritik sei, diese Mittel zur Kulturreform und diese wiederum ein Handeln gemäß dem Vernunftprinzip ermöglichen solle 10 . Unter Kulturdeutung versteht Schwemmer die Auslegung von Handlungsweisen und Normen in einer Gesellschaft anhand von Bedürfnissen, objektiven Zwecken oder Normensystemen; dazu gehört die Feststellung der Handlungen in einer Gruppe, die Generalisierung der Handlungen zu Handlungsweisen, die Deutung der Handlungsweisen durch Normen und die Strukturierung (Deutung zweiter Stufe) der Normen durch Supernormen. Welche Zwecke oder Normen in einer Gesellschaft ver- oder befolgt werden, läßt sich freilich nicht einfach mit den Mitteln empirischer Sozialforschung durch Beobachtung und Befragung feststellen; subjektiver Deutung wäre dabei sowohl auf Seiten des Beobachters als auch auf Seiten des Befragten Tür und Tor geöffnet; handelt es sich doch nicht um einfache, empirische Daten, sondern um das Ergebnis individueller und kollektiver Bildungsprozesse, die vielfaltigen Einflüssen unterliegen und von denen empirische Untersuchungen jeweils nur Momentaufnahmen machen können. Stabil sind nur Zwecke und Normen, die am Ende eines Bildungsprozesses stehen, und das Ende eines Bildungsprozesses wird nur in der historischen Rekonstruktion des ganzen Normensystems erkennbar, wenn sich bessere und schlechtere Begründungen unterscheiden lassen. Eine sichere Deutungsbasis für eine Normgenese sieht Schwemmer in den natürlichen, prähistorischen, von der Ethnologie (Biologie) zu ermittelnden, menschlichen Bedürfnissen; von diesen kulturinvarianten, nicht deutungsbedürftigen, primären „Selbstzwecken" aus ließen sich auch andere, durch die Arbeitsteilung oder durch die Verselbständigung von Mitteln (Arbeitsweisen) zu Zwecken bedingte, kulturgeprägte, sekundäre Bedürfnisse und die mit ihnen korrespondierenden Normen ermitteln. Der Rückgriff auf nicht gruppenspezifische, primäre und sekundäre Bedürfnisse als materialen Bezugspunkt formal 10

Schwemmer: Theorie des praktischen Wissens. aaO. S. 275, 277. Vgl. auch Schwemmer: Theorie der rationalen Erklärung. Zu den methodischen Grundlagen der Kulturwissenschaften. München 1976. Insbes. S. 194ff.; derselbe: Verstehen als Methode. Vorüberlegungen zu einer Theorie der Handlungsdeutung. In: Mittelstraß (Hrsg.): Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftlichen Handeln. Frankfurt/M. 1979. S. 13 ff., 25 ff.

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gesteuerter, praktischer Diskurse erscheint sinnvoll, weil als potentieller Gesprächspartner in einer Beratung, welche die Beseitigung von Konflikten zum Ziel hat, nur in Betracht kommt, wer die Befriedigung seiner Bedürfnisse zumindest bei ihrer Gefahrdung erstrebt, und soziale Konflikte vor allem durch unvereinbare Befriedigungswünsche hervorgerufen werden. A n die prähistorische Untersuchung zur Ermittlung der kulturinvarianten Deutungsbasis soll sich als nächster Schritt eine historisch-kausale Untersuchung anschließen, mit dem Ziel, eine historische Genese des Normensystems zu erstellen, welche dann ihrerseits in einem weiteren Deutungsschritt enthistorisiert, d. h. mit einem orthosprachlich gefaßten System von Prädikatoren, das alle erarbeiteten Unterscheidungen auf das Normensystem anwendbar macht, beschrieben bzw. dargestellt werden soll. Die Verfolgung der empirischen Entwicklung verschiedenster Bedürfnisse, die historische Genese aller feststellbaren Unter- und Oberzwecke gipfelt also in einer Strukturbeschreibung, deren Unterscheidungen geeignet sein müssen, die Bedürfnisse und Interessen der am Gespräch nicht beteiligten Masse der betroffenen Gesellschaftsmitglieder zu erfassen. Empirische, von den Sozialwissenschaften durchzuführende Studien hätten punktuell zu prüfen, inwieweit die in ein Strukturmodell einmündenden Deutungsversuche menschlichen Handelns ge- oder mißglückt sind. Kritischreflexiv versichert man sich der Vernünftigkeit des Strukturzusammenhangs, indem man alle Normen daraufhin beurteilt, ob sie, gesetzt, man hätte sie unter den beschriebenen, idealen Bedingungen des Diskurses in kleinen Gruppen beraten, nach dem Vernunft- und Moralprinzip gerechtfertigt wären oder nicht. Ob die beiden Prinzipien ausreichen, praktische Entscheidungen begründende Normen als vernünftig zu rechtfertigen, wie Schwemmer annimmt, erscheint nach dem bisherigen Wissensstand und angesichts der Schwierigkeit des Gerechtigkeitsproblems, auf dessen unabgeschlossene Diskussion ich gleich zurückkommen werde, doch recht fraglich; unbestreitbar richtig ist allerdings nach dem, was als philosophische Grundlage im ersten Abschnitt erarbeitet wurde, daß der Rang von Normen nur in einem Strukturzusammenhang bestimmt werden kann und dem Strukturzusammenhang als Ganzem ein eigener Wert zukommt. Ginge es im regelgeleiteten Diskurs nur um das Stellvertretungsproblem, nämlich wie die Zwecksetzungen der nicht mitwirkenden Betroffenen in den Beratungen gemäß dem Vernunftprinzip berücksichtigt werden können, wäre nach Schwemmer das von ihm in Einzelheiten geschilderte Verfahren der Kulturdeutung hinreichend 11 . Da jedoch faktisch immer schon Normsysteme in Kraft sind, nach denen bestimmte Zwecke vor anderen faktisch ausgezeichnet werden, ohne daß über die Berechtigung der Auszeichnung in praktischen Diskursen verhandelt worden ist, muß auf die Kulturdeutung die Kulturkritik folgen, um auf die Behinderungen und Verzerrungen der Dialogsituation aufmerksam zu machen; der Kulturreform schließlich bleibt es vorbehalten, 11

Schwemmer. Theorie des praktischen Wissens. aaO. S. 299 f.

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noch nicht befolgte, vernünftige Normen mit entzerrender Wirkung für die Beratungssituation zu rechtfertigen. Im Grunde ist eine solche „Theorie des praktischen Wissens", sieht man von der modernen, kommunikationstheoretischen Einkleidung ab, der Hegeischen Theorie des teleologisch-dialektischen Zusammenhangs aller gesellschaftlichkulturellen Erscheinungen eng verwandt. Daß Kultur als Inbegriff menschlicher Leistungen nicht wie Natur kausal mit Hilfe von Verlaufsgesetzen erklärt, sondern nur teleologisch verstanden werden kann, daß also Zwecke zu rekonstruieren sind, nach denen Menschen jetzt oder in der Vergangenheit gehandelt haben, ergibt sich logisch zwingend für jeden, der anerkennt, daß erstens ein physikalisches System nur in ein physikalisches System übergehen kann, und zweitens, der Mensch als Kulturwesen kein physikalisches System ist. Praktische Vernunft läßt sich nicht auf Natur reduzieren, lautete schon die Grundthese des Humanismus 12 . Geht es nicht nur um Handlungen, sondern auch um Zwecke, müssen Leistung und Werk „gedeutet", d. h. in ihrem Sinn durch Auslegung „verstanden" werden. Die Methodologie der Historiographie, die Hermeneutik, die alte Kunstlehre der Interpretation von Texten, in der geistesgeschichtlichen Nachfolge Schleiermachers und Diltheys zu einer Lehre des Deutens aller Kulturwerke, ja sogar des menschlichen Daseins schlechthin {Heidegger) ausgebaut, ist in ihrer ursprünglichen, juristisch interessanten Fassung als Interpretation historischer Texte methodische Auslegung menschlicher Handlungen nach Zwecken und damit ein Spezialfall der Teleologie, der „Theorie des praktischen Wissens", eben dieses neuen Versuchs des Deutens durch Zwecke überhaupt. Der von Hegel gewiesene und von Schwemmer neu erarbeitete Weg rationaler Normbegründung im materialen Sinne durch Einordnung der Normen in einen geschichtlichen, begrifflich rekonstruierten Normzusammenhang ist aus empirisch-induktiver Sicht des Problems sicherlich der einzig mögliche, auch wenn man über die Einzelheiten der geplanten Durchführung streiten kann. Er weist jedoch weitere Forschung in eine Richtung, die aus dem Fachgebiet der Rechtswissenschaft hinaus und in die Fachgebiete anderer Wissenschaften hineinführt, ohne daß sich gegenwärtig absehen läßt, ob die Vorschläge dort aufgegriffen und weiterverfolgt werden. Obwohl eine erfolgreiche Durchführung für die Rechtswissenschaft folgenreich und von höchstem Interesse wäre, bleibt ihr vorerst nichts weiter übrig als die Entwicklung abzuwarten. Ich möchte deshalb hier auf den begrifflich-deduktiven Weg zurückkommen und einige Aspekte der historischen Entfaltung des Gerechtigkeitsbegriffs ins Auge fassen.

12

Vgl. zur Auseinandersetzung mit Mechanismus, Biologismus und ihren modernen Versionen: Behaviorismus und Systemtheorie Lorenzen: Theorie des historischen Wissens. In: Lorenzen/Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Mannheim/Wien/Zürich 1975. S. 261 ff.

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4. Einige Aspekte des Gerechtigkeitsbegriffes

in historischer

Sicht

Alle menschlichen Zwecksetzungen dienen der Befriedigung von Bedürfnissen, d. h. der Beseitigung bewußt gewordener Mangelzustände. Die Befriedigung materieller und geistiger Bedürfnisse durch Handlungen als Mittel in der Verfolgung subjektiver Zwecke ist in einer freiheitlichen Rechts- und Gesellschaftsordnung, die mangels Einsicht in letzte Zusammenhänge davon absieht, individuelle Lebensziele verbindlich vorzuschreiben, rechtlich und ethisch solange ohne Belang, als die gewährte Freiheit individueller Lebensgestaltung mit eben derselben Freiheit anderer nicht kollidiert. Ist dies jedoch der Fall, so verdienen solche Zwecke vorgezogen zu werden, welche dem Vernunftprinzip der Transsubjektivität und dem Moralprinzip genügen, weil diese Prinzipien von der Vernunft gebotene Bedingungen einer gerechten Gesellschaftsordnung sind. Versteht man unter Werten die Präferenz von Zwecken, so ist mit den genannten Prinzipien zugleich ein erster Ansatz für eine objektive Wertordnung gewonnen, da Maßstäbe für die Einschätzung von Handlungen (Mitteln) und Zwecken zur Verfügung gestellt werden. Auch die Zwecke des Rechts, in Sonderheit des gesetzten Rechts, dienen der Befriedigung von Bedürfnissen — dem Bedürfnis des einzelnen Bürgers nach Frieden, nach Sicherheit, nach freier Selbstbestimmung, nach gerechtem Ausgleich der Interessen, nach Gleichbehandlung und Ähnlichem mehr. Jedes verfassungsmäßig zustande gekommene Gesetz einer modernen Rechtsordnung befriedigt irgendwelche Bedürfnisse, die einer Regierung in einer bestimmten, geschichtlichen Lage als Mangelzustände bewußt geworden sind, auch wenn der jeweilige Zweck dem Rechtsanwender meist nicht ausdrücklich genannt wird, vielmehr von diesem aus dem Normenzusammenhang und der Begründung des Gesetzesvorhabens, zuweilen mühsam, ermittelt werden muß. Die Privatrechtsordnung des Bürgerlichen Gesetzbuches beispielsweise ist eine aus jahrhundertelanger Erfahrung gewonnene, liberale, auf Ausgleich bedachte Rahmenordnung, in deren Grenzen jeder Bürger seinen privaten Interessen nachgehen und seine subjektiven Zwecke verfolgen darf, ohne genötigt zu sein, seine Handlungen jeweils rechtfertigen zu müssen; die Gerechtigkeit als Tugend individueller Besonderheit im Sinne antiker und mittelalterlicher Tradition ist hier ersetzt durch die Gerechtigkeit als Eigenschaft einer Gesellschaft im bürgerlichrechtlichen Zustande, der die Bedingungen enthält, unter denen jeder seines Rechts teilhaftig werden kann 1 3 . So wie im gesellschaftlichen Bereich zwischen nicht verallgemeinerungsfahigen, individuellen Zwecken, höherrangigen, verallgemeinerungsfahigen Zwekken und kollektiven, das Zusammenleben ermöglichenden und stabilisierenden Zwecken (Normen) bis hin zu (letztlich unerfüllbaren) Leitideen menschlicher Gemeinschaft differenziert werden kann, so lassen sich auch im Rechtsbereich speziellere, zeitgebundenere und höherrangige, allgemeinere Rechtszwecke 13

Etwa im Sinne Kants: Metaphysik der Sitten. Akademie-Ausg. Bd. 6, S. 305 f.

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unterscheiden, die teils auf die Erhaltung der Funktionsfahigkeit des Rechtssystems, teils auf die Sicherung der als notwendig erkannten Grundlagen einer gerechten Sozialordnung zielen 14 . Unter einer gerechten Regelung des gesellschaftlichen Lebens soll dabei vorerst verstanden werden: Güter und Lasten, Rechte und Pflichten unter Wertgesichtspunkten (Zweckpräferenzen) nach solchen Grundsätzen verteilen, daß unter den Rechtsgenossen nicht der Eindruck willkürlicher Unterscheidung entsteht und ihre konkurrierenden Interessen 15 möglichst zum Wohle des Ganzen, das allen freie Entfaltung und ein besseres Leben ermöglicht, in sinnvoller Weise ausgeglichen werden. Das gemeinsame Streben nach einer gerechten Ordnung ist die Grundbedingung einer jeden wohlgeordneten Gesellschaft, weil es erstens der Verfolgung individueller Ziele die notwendigen Grenzen zieht und zweitens zwischen Menschen mit individuell verschiedenen Zielsetzungen Frieden und Sicherheit schafft 16 . Gerechtigkeit, so könnte man vorerst mit Rawls definieren, ist ein System von Grundsätzen, die allgemein gültig, uneingeschränkt anwendbar und öffentlich als letzte Instanz für die Regelung konkurrierender Ansprüche oder Interessen vernünftiger, d. h. die Ordnungszusammenhänge begreifender, sich individual-ethisch verpflichtet fühlender Subjekte anerkannt sind 1 7 . Eine umfassende Vorstellung von allen Prinzipien, die den Begriff der Gerechtigkeit ausfüllen, einschließlich gar ihrer definitiven Gewichtung im Konfliktsfalle, ist allerdings weit mehr als man begrifflich fassen kann, ist eine Vision von den Zielen gesellschaftlicher Zusammenarbeit, eine (nicht vorhandene) Theorie der Gesellschaft, die Idee eines durchgegliederten, widerspruchsfreien Ganzen. Die Auffassung dessen, was gerecht ist, unterlag wie der Begriff des Vernünftigen selbst notwendigerweise einem historischen Prozeß allmählichen Bewußtwerdens, der hier nur angedeutet werden kann. Es sei vor allem daran erinnert, daß nach dem heutigen Stand der Forschung „Recht" in den Anfangen des europäischen Denkens sowohl eine religiös-ethische wie eine politische Größe darstellte und das griechische Wort „dike" — abzuleiten aus der indogermanischen Wurzel „deik", wörtlich soviel besagend wie das Gestellte, Festgesetzte — einerseits Zustand, Weise, Zukommendes meinte, andererseits Recht, Rechtssache, Urteil oder auch Strafe. Galt Recht in der philosophischen Staatslehre vor Piaton als göttliche Weltnorm, so wurde Gerechtigkeit (dikaiosyne) bei diesem unter Zurückdrängung des naturphilosophisch-religiösen 14

Ähnlich schon Rümelin: Die Gerechtigkeit. Tübingen 1920. S. 50f.: Der nächste Zweck der Rechtsordnung ist die Erhaltung der Gemeinschaft als solche; individualistischer Gerechtigkeit ist kollektive vorgeordnet; Widersprüche bestehen zwischen Einzelzwecken oder Einzelzwecken und kollektiven Zwecken (Rechtszwecken), nicht aber zwischen Zweck und Gerechtigkeit. 15 Interesse verstanden als Nutzen oder Vorteil, der das Erreichen selbst gesetzter, subjektiver Ziele fördert. Zum Begriff des Interesses in seiner geschichtlichen Entwicklung vgl. Neuendorff : Der Begriff des Interesses. Frankfurt/M. 1973. S. 10ff. 16 Vgl. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975 S. 21. 17 Rawls aaO. S. 158; er selbst spricht von „moralischen Subjekten".

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Bezugs, wohl aber unter Aufrechterhaltung der Verbindung von Recht und Ethik, im politischen wie im persönlichen Bereich zur Grundlage bzw. Zusammenfassung der drei (jeweils einem Stand in der Polis oder einem Seelenteil zugeordneten) Kardinaltugenden 18 . Aristoteles, der dem Begriff Gerechtigkeit in seinen beiden ethischen Schriften jeweils ein ganzes Buch widmete 19 , übernahm Piatons Einschätzung der Gerechtigkeit als höchster Tugend, deutete sie aber als Gesamttugend nicht im Sinne Piatons als innere Harmonie der Person, die in ihr Handeln ausstrahlt, sondern schränkte sie auf das Verhalten zum Mitmenschen ein 2 0 . Aus dieser veränderten Konzeption erklärt sich, daß Aristoteles Gerechtigkeit auch als Einzeltugend neben anderen kannte und sie im juristischen Bereich ansiedelte, wo er sie weiter in die ausgleichende und austeilende (zuteilende) Gerechtigkeit zerlegte (iustitia commutativa — iustitia distributiva), je nachdem, ob es um den Austausch von Gütern zwischen gleichstehenden Privatpersonen ging (ζ. B. Lohn- und Preisgerechtigkeit) oder um die Zuteilung von Gütern, bzw. die Verteilung von Lasten im Verhältnis der übergeordneten Stadtgemeinschaft (Polis) zum untergeordneten Bürger (ζ. B. Straf-, Wehr-, Ämter- oder Steuergerechtigkeit) 2 1 . In beiden Fällen muß nach Aristoteles das Prinzip der Gleichheit zum Zuge kommen, im ersten in arithmetisch absoluter, im zweiten in geometrisch analoger Proportion 22 . Darüber hinaus gehört für ihn zur Gerechtigkeit der Gehorsam des Einzelnen gegenüber Gesetz und Brauch der Polis, ist ihm das Gerechte sowohl das Gleiche als auch das dem Gesetz Gemäße;23 so definiert er Gerechtigkeit an anderer Stelle als eine Tugend, „durch die jeglicher das Seinige erhält und wie nach dem Gesetz; Ungerechtigkeit dagegen ist, wodurch jemand fremdes Gut erhält und nicht nach dem Gesetz." 24 Die Bestimmung des Verhältnisses von Gesetz und Gerechtigkeit scheint die alte Volksanschauung, die beide identifizierte, zu bestätigen und die Zweifel der Sophisten am gesetzten Recht und ihre provozierenden Antithesen zu ignorieren; doch dieser Eindruck 18 Vgl. Platon : Politela. Übers, v. Schleiermacher. Hamburg 1959. IV. Buch. Kap. 10 ff.; gerecht handele, heißt es (aaO. 443 b), wer das Seinige seiner Stellung in der Polis gemäß verrichte. Gerechtigkeit sei das, was die Kraft gebe, besonnen, tapfer und vernünftig zu sein. 19 Allerdings ist das Buch IV seiner Eudemischen Ethik verloren gegangen und nur das Buch V der Nikomachischen Ethik überliefert. 20 Gerechtigkeit ist Trefflichkeit „in ihrer Bezogenheit auf den Mitbürger". Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers, v. Dirlmeier. Darmstadt 1979. Buch V. Kap. 3. 1129 b. 21 Vgl. Küster: Über die beiden Erscheinungsformen der Gerechtigkeit nach Aristoteles. In: Festschr. f. Ludwig Raiser. Tübingen 1974. S. 541 ff. 22 Aristoteles: Nikomach. Ethik. aaO. Buch V. Kap. 5-7, 1130 b ff. 23 Aristoteles: Politik. Übers, v. Susemihl. München 1965. Buch I. 2.7(b). 1253 a: „Die Gerechtigkeit (dikaiosyne) aber stammt erst vom Staate her, denn das Recht ist die Ordnung der staatlichen Gemeinschaft; das Recht (dike) aber ist die Entscheidung darüber, was gerecht ist." 24 Aristoteles: Rhetorik. Buch I. 9. 1366 b 9 ff.

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trügt, denn für Aristoteles besteht das Polisrecht teils aus natürlichem, teils aus gesetztem Recht. Während das Naturrecht überall dieselbe Kraft der Geltung habe und in seiner Allgemeingültigkeit von keiner Bestätigung durch Menschen abhänge, sei der Inhalt des Gesetzesrechts nicht von Anfang an bestimmt, erhalte seine Verbindlichkeit vielmehr erst durch Festlegung25. Die Unterscheidungen, die Aristoteles traf, wurden für den Gang der Ideengeschichte wegweisend, wenngleich es ihm selbst versagt blieb, eine Begründung für die gerechte Verteilung von Gütern und Lasten unter den Bürgern einer Stadtgemeinde zu finden. Der Grund für die vergebliche Mühe liegt in der bereits gewonnenen Erkenntnis, daß ohne Bezug auf eine konkrete geschichtliche Situation das Gute und Richtige nicht verbindlich bestimmt werden kann, die jeweilige historische Lage vielmehr als das Resultat einer dynamischen Entwicklung von der Vernunft reflexiv eingeholt werden muß; dies geschieht entweder dialektisch anhand konkret-allgemeiner Begriffe, ist dann aber nicht abschließbar, oder logisch mit Hilfe abstrakt-allgemeiner Grundsätze der Bewertung, verharrt dann jedoch im Formalen. Anders formuliert: das Moment der Proportionalität setzt zwar „eine objektive Grenze von apriorischer Gültigkeit, läßt aber den Bezugsgegenstand unbestimmt, nach dem alleine die individuelle Festsetzung des gerechten Maßes möglich wäre" 2 6 . Immerhin enthält das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit einen offenkundig richtigen Gedanken, der seitdem bei keiner Bestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs mehr fehlt; ja, die Idee, daß die Mitglieder einer staatlichen Gemeinschaft unter Berücksichtigung von erbrachten Leistungen und vorhandenen Bedürfnissen „das Mittlere" als Ausgleich suchen und finden müssen, wenn alle für die bestehende Rechtsordnung gewonnen werden sollen, gehört zu den grundlegenden Einsichten in die konstitutiven Grundsätze richtigen Rechts überhaupt. Im doppelten Verständnis allgemeiner und juridischer Gerechtigkeit wurde die aristotelische Lehre von der antiken Philosophie, insbesondere von Stoa und römischer Popularphilosophie, den folgenden Jahrhunderten weitergegeben; das Gerechte stand als eine das ganze Leben umgreifende Tugend neben dem Edlen, Guten und Geziemenden27. Für den Begriff der Gerechtigkeit in der engeren rechtlichen Bedeutung erlangte eine Definition Ulpians maßgebende 25 Aristoteles: Nikomach. Ethik. aaO. Buch V. Kap. 10.1134 b. Ritter: Naturrecht bei Aristoteles (1963). In: derselbe: Metaphysik und Politik. Frankfurt/M. 1977. S. 133 ff. (160), weist darauf hin, daß Naturrecht bei Aristoteles auf die politisch-ethische Wirklichkeit der Polis bezogen ist; wie später bei Hegel die Sittlichkeit, ergibt sich für ihn das Rechte tendenziell aus Sitte und Brauch sowie den Institutionen des bürgerlichen Lebens der Polis. Vgl. zum Ganzen auch Trude: Der Begriff der Gerechtigkeit in der aristotelischen Rechts- und Staatsphilosophie. Berlin 1955. insbes. S. 19 ff., 47ff.; Salomon: Der Begriff der Gerechtigkeit bei Aristoteles. Leiden 1937; Siegfried: Der Rechtsgedanke bei Aristoteles. Zürich 1947. 26

Welzeh Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. 4. Aufl. Göttingen 1962. S. 35. Vgl. etwa Cicero'. De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln. Stuttgart 1976.1. Buch 7 (20). 27

14 Mittenzwei

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Bedeutung: „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi." 28 Das augenfällig Neue an diesem Grundsatz römischer Rechtsfindung ist der Umstand, daß gegenüber dem griechischen Intellektualismus das Willensmoment — das unablässige Bemühen um Gerechtigkeit — in den Vordergrund geschoben und damit der nach dem Scheitern der griechischen Stadtstaaten stärker zu Bewußtsein gekommenen, historischen Erfahrung Rechnung getragen wird, daß gesetzmäßiges Handeln ohne Berücksichtigung dynamischer Veränderungen, willfahrige Regelhaftigkeit ohne ein aus der jeweiligen Sozialbeziehung erarbeitetes, sachliches Maß, Rechtsschöpfung ohne Orientierung an einer materialen Rechtsidee, die zwar nicht verwirklicht werden kann, aber doch beharrlich erstrebt werden muß, zu keiner Gesellschaftsordnung führt, die das Prädikat „recht" (i. S. von ethisch richtig) verdient. Die bis heute bestehende Aktualität der Formel ergibt sich aus der Konsequenz, daß Gesetze, die nicht einmal den Anspruch erheben, eine gerechte Regelung herbeiführen zu wollen, trotz formal ordnungsgemäßer Verabschiedung der Rechtsnatur entbehren 29 . Die Vorstellung, Recht könne beliebigen Inhalt haben, wenn es nur ordnungsgemäß — etwa durch das Mehrheitsprinzip demokratisch legitimiert — zustande gekommen sei, wie sie sich mit dem Aufkommen des Positivismus seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts breit gemacht hat, war den Römern jedenfalls ganz fremd 30 . Im Begriff des „ius", wie ihn Ulpian gebrauchte, ist die Verbindung von Recht und Ethik, die Kenntnis und Anerkennung von Prinzipien, die unabhängig von jeder staatlichen Rechtssetzung vorgegeben sind, noch ohne relativistische Skrupel bewahrt 31 . Das Verständnis der Gerechtigkeit als Tugend, das in der wiedergegebenen Definition Ulpians unverkennbar mitschwang und auch in der mittelalterlichen Diskussion weiterwirkte, trat im Laufe der Neuzeit hinter einer Gerechtigkeitsinterpretation zurück, die weniger auf die Personen als auf den Zustand der Gesellschaft selbst und der dort vorgenommenen, äußeren Handlungen schaute 3 2 . Vorbereitet wurde dieser Umschwung durch die besonders bei Hobbes 28 Die berühmte Digestenstelle (Buch I, Titel 1, 10) im Justinianischen Corpus Iuris Civilis lautet vollständig: „Gerechtigkeit ist der beständige und immerwährende Wille, jedem sein Recht zukommen zu lassen. § 1 Die Grundsätze des Rechts sind folgende: anständig leben, andere nicht verletzen, jedem das Seine zukommen lassen. § 2 Die Rechtsgelehrtheit ist die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge, die Wissenschaft des Rechten und Unrechten." Vgl. dazu Waldstein: Zu Ulpians Definition der Gerechtigkeit. In: Festschr. f. Werner Flume. Köln 1978. Bd. I. S. 213 ff. m. weit. Nachw. 29 Kaufmann in: Einführung in die Rechtsphilosophie. Hrsg. v. Kaufmann und Hassemer. Heidelberg/Karlsruhe 1977. S. 284, 288. 30 Mayer-Maly: Vom Rechtsbegriff der Römer. In: Oesterreich. Zeitschr. f. öffentl. R. 1958/59. S. 151 ff. (155). 31 Man vergleiche das ebenfalls berühmte Celsus-Zitat Ulpians in Dig. Buch I, Titel 1,1: „Ius est ars boni et SLcqui^Waldstein aaO. S. 230 weist deshalb die Auslegung Kelsens (Reine Rechtslehre. 2. Aufl. 1960. S. 366 f.), Ulpians Formel sei inhaltsleer, als „groben Anachronismus" zurück. Vgl. auch v. Lüttow: Iustitia et iure. In: Zeitschr. d. Savigny-St. 66 (1948). S. 460 ff., 517 ff.; Henkel: Einführung in die Rechtsphilosophie. Grundlagen des Rechts. 2. Aufl. München 1977. § 32. S. 397 f.

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begründete Auffassung, Hauptaufgabe des Rechts sei es nicht, eine inhaltlichideale, sondern eine existenzsichernde, wirkliche Ordnung zu errichten, deren positive Normen zu verletzen unter keinem Vorwand entschuldigt werden könne 33 . Der Entwurf einer idealen Ordnung, die rangmäßig über dem positiven Recht stehe und ihm Verpflichtungskraft verleihe, sei solange wertlos, solange sie nicht die Kraft habe, den chaotischen Naturzustand des Kampfes aller gegen alle zu überwinden; schon die unvollkommenste Notordnung, die dies vermöge, sei vorzuziehen, weil sie das Dasein der Einzelnen sichere. Rechtsfrieden, Sicherheit im Recht und durch das Recht, ist der Grundgedanke dieser aus der Erfahrung gewonnenen Gerechtigkeitsvorstellung, die staatliches Unrecht nicht kennt, weil es im Vergleich zum Elend und Schrecken des Naturzustandes oder eines Bürgerkrieges leichter ertragbar ist 3 4 . Das mit großer Eindringlichkeit herausgearbeitete Wirklichkeitsmoment des Rechts ließ nunmehr den Unterschied zwischen rechtlicher und sittlicher Verpflichtung schärfer hervortreten. Schon eine Generation später bezog Pufendorf den Begriff der Gerechtigkeit fast durchweg auf das Recht: Ihm erscheine es richtiger, daß Jurisprudenz, da sie sich mit der Gerechtigkeit von Handlungen befasse, die Gerechtigkeit der Person (die Gerechtigkeit als Tugend) nur nebenbei behandele35. Anders als der Moraltheologe, der nach der den Handlungen zugrunde liegenden Gesinnung forsche, begnüge sich der Richter mit äußerlich rechtmäßigem Verhalten, gleichgültig aus welchen Motiven heraus der Einzelne handele. Während Pufendorf die innere Zusammengehörigkeit von Recht und Ethik selbst noch aufrecht erhielt, insofern er allen Rechtsgeboten die sittlich verpflichtende Kraft des Wertes zusprach 36 , hob sein Schüler Thomasius die Verbindung auf: Das Recht lege äußere Pflichten auf, die auf der Furcht vor dem Zwang durch andere Menschen beruhen 37 . Sittlichkeit (honestum) und Sitte (decorum) verpflichteten nur innerlich; was der Mensch aus einer inneren Pflicht und aus den Regeln der Sittlichkeit und des Geziemenden tue, werde von der Tugend im allgemeinen gelenkt, deswegen werde man zwar tugendhaft, aber nicht gerecht genannt; was der Mensch aber gemäß den Regeln des Rechts oder aus äußerer Pflicht heraus tue, das werde von der Gerechtigkeit geleitet, und wegen solcher Handlungen heiße man gerecht 38 . Die von Thomasius befürwortete Trennung von Recht und Ethik übte auf die weitere geistesgeschichtliche Entwicklung des Gerechtigkeitsverständnisses gro32 Zum geistesgeschichtlichen Zusammenhang vgl. Welzeh Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. 4. Aufl. Göttingen 1962. S. 89 ff. 33 Hobbes: Leviathan. London 1651. Kap. 47. 34 Hobbes: Leviathan. London 1651. Übers, v. Mayer. Stuttgart 1970. Kap. 18. 35 Pufendorf: De iure naturae et gentium. Lund 1672. Buch I. 7.6. 36 Pufendorf aaO. Buch I. Kap. 6.5 ff. 37 Thomasius: Fundamenta iuris naturae et gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernuntur principia Honesti, Justi ac Decori. 1705. Buch I. Kap. 5.21. 38 Thomasius aaO. Buch I. Kap. 5.25.

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ßen Einfluß aus, zumal als sie Ende des 19. Jahrhunderts mit der Rechtslehre Kants in Verbindung gebracht wurde und die weit verbreitete Meinung entstand, Kant komme das „zweifellos große Verdienst" zu, die Koordination von Recht und Ethik durch die Unterscheidung willkürlicher und vernünftiger Gesetzgebung für die äußeren und inneren Handlungen, durch Trennung von Legalität und Moralität streng durchgeführt zu haben 39 . Dabei wurde allerdings vernachlässigt, daß Kant zwar die aus der Vernunft stammenden, moralischen Gesetze der Freiheit von den bloß auf Gesetzmäßigkeit sehenden juridischen unterschied, für sie aber, sowohl was die Verpflichtungsweise als auch was den Inhalt der Pflichten betrifft, einen gemeinsamen Grund reklamierte: nicht nur ethische, auch rechtliche Gebote enthalten seiner Ansicht nach innere Bestimmungsgründe, die auf ein äußeres Verhalten zum Mitmenschen gerichtet sind 40 . Recht und Ethik unterscheiden sich vielmehr allein dadurch, daß Recht sich bei der Befolgung seiner Gebote mit äußerer Erfüllung (Legalität) begnügen muß, während Ethik nicht bloß äußere Befolgung, sondern Handeln um der Pflicht willen (Moralität) fordert. Die Pflichten des Rechts können nach Kant nur äußere Pflichten sein, weil Recht nicht verlangt, daß die Idee dieser Pflichten, welche innerlich ist, für sich selbst Bestimmungsgrund des Handelnden sei. Die ethische Gesetzgebung dagegen mache zwar auch innere Handlungen zu Pflichten, aber nicht etwa mit Ausschließung der äußeren, sondern gehe auf alles überhaupt, was Pflicht heiße; darum gehörten alle Pflichten — in ihrer Eigenschaft als Pflichten — zur Ethik. Die Ethik lehre nur, daß, wenn die äußere Triebfeder, welche das Recht mit der Pflicht verbindet, nämlich der Zwang, weggelassen werde, die Idee der Pflicht allein schon als innere Triebfeder genüge41. Recht und Ethik unterscheiden sich nach ihm also weder durch den Gegenstand der Pflichten (äußeres — inneres Verhalten) noch nach der Art der Verpflichtung (hier Zwangspflicht, dort Idee der Vernunft). Die Einsicht in die innere Verknüpfung von Recht und Ethik über den materialen Gehalt der Pflichten ist deshalb so wichtig, weil daraus folgt, daß die bislang erörterte Frage richtigen sozialen Handelns bzw. richtiger sozialer Zielsetzung kein spezifisch ethisches Problem ist, das der Rechtswissenschaftler ignorieren kann, sondern sich für Recht und Ethik prinzipiell gleich stellt; dies ausdrücklich festzustellen, scheint angesichts der vielen verschleierten Formen des Rechtspositivismus und Wertrelativismus (-nihilismus) geboten zu sein 42 . Gerechtigkeitslehre (materiale Rechtsethik) ist ein Ausschnitt aus der materia39

Binder: Philosophie des Rechts. Berlin 1925. (Neudr. Aalen 1967) S. 821. Kant: Die Metaphysik der Sitten. 2. Aufl. Königsberg 1798. B. 7,8. In: Werke. Hrsg. v. Weischedel. Darmstadt 1981. Bd. 7. S. 318 f. 41 Kant aaO. Β 15, 16; Bd. 7. S. 324, 325 erläutert seine Ansicht am Beispiel der Vertragstreue. 42 Zu den politischen Folgen im allgemeinen und den Folgen im Steuerrecht im besonderen vgl. einerseits Kriele: Einführung in die Staatslehre. 2. Aufl. Opladen 1980. S. 169 ff.; andererseits Tipke: Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis. Köln 1981. S. 28 ff. 40

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len Sozialethik und eine Theorie der Gerechtigkeit, die diesen Namen verdient, umgreift beides. Das, was an Grundsätzen und Prinzipien ethischen Handelns und richtiger Rechtsgewinnung entwickelt wird, gilt für alle denkbaren Zwecke und Zielsetzungen, gleichgültig, ob es sich um individuelle, institutionelle oder gesetzgeberische handelt. Denn was ethisch geboten ist, kann prinzipiell nicht von dem verschieden sein, was rechtlich geboten (gerecht) ist; andernfalls entstünde ein unüberwindbarer Widerspruch in den Grundsätzen menschlichen Handelns und der Versuch, sich im Wege rechtfertigender Argumentation des richtigen, sozialen Handlungszieles zu vergewissern, müßte als undurchführbar aufgegeben werden. Dies bedeutet freilich nicht, daß bei ethischen Bedenken gegenüber einzelnen Normen oder Gesetzen sogleich der Rechtsgehorsam verweigert würde. Es ist zwar die stets von neuem sich stellende Aufgabe der Rechtswissenschaft, Widersprüche zwischen ethischen und rechtlichen Verpflichtungen in Richtung auf die Idee des Rechts aufzuheben ; wo dies aber aus besonderen Gründen nicht oder nur langfristig erreicht werden kann, lassen sich solche Widersprüche im Einzelfall leichter ertragen, wenn die Rechtsordnung als (übersummatives) Ganzes ethisch gerechtfertigt ist und die Begründung ihrer Einrichtungen, Verfahren und Prinzipien als vernünftig keinem Zweifel unterliegt. Weil aber der Gegenstand von Recht und Ethik identisch ist und sich die Frage nach den Inhalten richtigen, sozialen Verhaltens, nach den richtigen Zielen und Zwecken, Normen und Supernormen in gleicher Weise stellt, darf teleologische Interpretation von Gesetzen, von Normen und Normzusammenhängen, nicht vor den Zwecken und Zielen des jeweiligen Normgebers haltmachen, sondern muß sie selbst in die Prüfung einbeziehen. Die Kernfrage ist wiederum, inwieweit die materiale Rationalität gesetzgeberischer Ziele mit wissenschaftlichen Mitteln einsichtig gemacht, die bloße Legalität des gesetzten Rechts zur ethischen Legitimität erhöht werden kann 4 3 . Nur wenn und soweit es gelingt, materiale Rationalität des Zwecksetzens mit dem Anspruch auf objektive Richtigkeit zu rechtfertigen, entgeht die „Rehabilitierung der praktischen Vernunft" dem (vernichtenden) positivistischen Vorwurf, subjektives Meinen des Gesetzgebers über das, was Praxis konkret erfordere, durch subjektives Meinen des Wissenschaftlers oder Philosophen über eben dasselbe zu ersetzen. Es würde zu weit führen, wollte ich nun versuchen, den Begriff der Gerechtigkeit, der zu den zentralen der Rechtsphilosophie überhaupt gehört, an dieser Stelle näher zu entfalten; schon die Fülle der vorgetragenen Gesichtspunkte und beachtenswerten Argumente verlangt nach gesonderter Darstellung und Erörterung 44 . Ja, die Weitläufigkeit und evidente Unabgeschlossenheit der 43 Zur Legitimität des Rechts vgl. Kriele: Recht und praktische Vernunft. Göttingen 1979. S. 117 ff. m. weit. Nachw. 44 Vgl. den Überblick über das Schrifttum bei Henkel: Einführung in die Rechtsphilosophie. 2. Aufl. München 1977. § 32. Ferner: v. Arnim, Gerechtigkeit und Nutzen in der griechischen Aufklärungsphilosophie. 1916; Arndt: Philosophische Aspekte des Begriffs der Gerechtigkeit. In: Universitas 1983. S. 67 ff.; Bird: The idea of justice. New York 1967;

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Diskussion könnte sogar den Zweifel bestärken, daß über den Inhalt des Begriffs und die nötige Verfassung der Gesellschaft je Einigkeit erzielt werden wird, daß m. a. W. der Versuch, Rationalität über die formale Seite der Zweck-MittelBeziehung hinaus auf begrifflich-deduktivem Wege material zu begründen, zum Scheitern verurteilt ist 4 5 . Wenn gleichwohl stets von neuem eben dieser Versuch unternommen wird, so beweist das zumindest, daß die (berechtigte) Skepsis nicht befriedigt, daß gerade dort, wo geistige Freiheit herrscht, wie im Berber. Sicherheit und Gerechtigkeit. 1934; Burghardt: Gerechtigkeit. Das Definitionsdilemma. In: Erfahrungsbezogene Ethik. Festschr. f. Joh. Messner. Berlin 1981. S. 293 ff.; Baratta: Recht und Gerechtigkeit bei Karl Marx. In: Büsser (Hrsg.): Karl Marx im Kreuzverhör der Wissenschaften. Zürich/München 1974. S. 91 ff.; Battis: Systemgerechtigkeit. In: Festschr. f. H. P. Ipsen. Tübingen 1977. S. 11 ff.; Diesselhorst: Kriterien der Gerechtigkeit. In: Festschr. f. Karl Michaelis. Göttingen 1972. S. 63 ff .; Dreier: Zu Luhmanns systemtheoretischer Neuformulierung des Gerechtigkeitsproblems. In: Rechtstheorie 1974. S. 189 ff.; Esser: Traditionale und postulative Elemente der Gerechtigkeitstheorie. In: Tradition und Fortschritt im Recht. Festschr. z. 500jähr. Bestehen der Tübinger Juristenfakultät. Tübingen 1977. S. 113 ff.; Evers: Aspekte der Gerechtigkeit. In: JZ 1967. S. 73 ff.; Fleiner: Recht und Gerechtigkeit. Zürich 1975; Gerechtigkeit in der komplexen Gesellschaft. La justice et la complexité de la société. Hrsg. ν. Christoff und Sauer. Basel/Stuttgart 1979; Gerechtigkeit. Themen der Sozialethik. Hrsg. v. Wildermuth und Jäger. Tübingen 1981; Goldschmidt: Die Lehre von der Gerechtigkeit. In: öst. Z. f. öfftl. R. 1971. S. 1 ff.; v. Hayek: Recht, Gesetzgebung, Freiheit. Bd. 1 : Regeln und Ordnung. Eine Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit u. d. polit. Ökonomie. München 1980; Jakob: Gerechtigkeit und Gerechtigkeitsvorstellungen. Rechtspsychologische Betrachtungen zum „suum cuique"-Satz. In: ARSPh. Beih. 13. 1980. S. 155 ff.; Kettenbeil: Die Frage nach dem „Richtigen Recht" als Strukturproblem. Bern/Frankfurt/M. 1976; Larenz: Richtiges Recht. München 1979; Lasars: Die klassischutilitaristische Begründung der Gerechtigkeit. Berlin 1982; Luhmann: Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft. In: Rechtstheorie 1973. S. 131 ff; Métraux: Zur Kritik der sozialwissenschaftl. Theorie der distributiven Gerechtigkeit. In: ARSPh. Beih. 13. 1980. S. 193 f f . ; Pawlowski: Überlegungen zur Gerechtigkeit des Rechts. In: Recht und Staat. Festschr. f. Günther Küchenhoff. 1. Halbbd. Berlin 1972. S. 139 ff.; Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975; Rescher: Distributive justice. A constructive critique of the utilitarian theory of distribution. Indianapolis 1966; Robbers: Gerechtigkeit als Rechtsprinzip. Baden-Baden 1980; Schönfeld: Über die Gerechtigkeit. Göttingen 1952; Simon: Abendländische Gerechtigkeitsbilder. Frankfurt/M. 1948; Steiner: Der Begriff der Gerechtigkeit. In: Ratio 1974/75. S. 191 ff.; Tammelo: Theorie der Gerechtigkeit. Freiburg/München 1977; Troller: Die Gerechtigkeit rechtswissenschaftlich und phänomenologisch betrachtet. In: Festschr. f. Fritz v. Hippel. Tübingen 1967. S. 571 ff.; Weber/Wolf: Gerechtigkeit und Freiheit. München 1949; Weinberger: Einzelfallgerechtigkeit. Ein Beitrag zum Studium der logischen Bedingungen der Gerechtigkeit. In: Gedächtnisschr. f. René Marcie. Bd. I Berlin 1974. S. 409 ff.; derselbe: Theorie der Gerechtigkeit und de-lege-ferenda-Argumentation. In Öst. Zeitschr. f. öffentl. Recht. 1978. S. 197 ff.; derselbe: Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie. In: Rechtstheorie. Beiheft 3. Berlin 1981. S. 307 ff.; Zippelius: Zur Funktion des Konsenses in Gerechtigkeitsfragen. In: Festschr. f. Hans Jürgen Bruns. Köln 1978. S. 1 ff. 45 Man vergleiche beispielhaft die Diskussion über Rawls': A Theory of Justice. London/New York 1971. (Dtsch.: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975); Höffe (Hrsg.): Über J. Rawls' Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1977, mit Beiträgen von Höffe, Barry, Hoerster, Nowell-Smith, Ballestrem, Hart, Miller, Arrow, Barber, Gagern, Sen und einer Auswahlbibliographie S. 297 ff.

V. Offene Fragen — Wegweisungen

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demokratischen Verfassungsstaat, politisches Handeln, das sich des Instruments des Rechts zur Verwirklichung seiner Ziele bedient, vor den Betroffenen durch Gründe gerechtfertigt werden muß. Nirgends ist Hegels Frage: „Wozu ist Wissenschaft nötig?" so unabweisbar wie in der Demokratie, wo charismatische und traditionale Legitimität von Herrschaft und Recht 46 zerfallen sind und politische Praxis —jedenfalls vom Anspruch her — keine Frage der Macht sein darf, sondern der rationalen Überzeugung von der Richtigkeit sein muß, weil es geradezu den Sinn des demokratischen Gedankens ausmacht, Recht und Gerechtigkeit in Übereinstimmung zu bringen. So gilt es in diesem Zusammenhang vor allem festzuhalten, daß der moderne Verfassungsstaat samt seinen konstitutiven Prinzipien der Gewaltenteilung, der Demokratie, der Rechts- und Sozialstaatlichkeit, der Menschen- und Grundrechte selbst aus naturrechtlichen Forderungen der letzten 400 Jahre hervorgegangen und also durch das, was bislang über die Grundlagen der Ethik (insbesondere Vernunft und Freiheit) ausgeführt wurde, gerechtfertigt ist 4 7 . Unter diesem Blickwinkel werden die ungelösten Fragen einer gerechten Gesellschaftsordnung, insbesondere der Verteilungsgerechtigkeit, zu Detailfragen, und die Uneinigkeit darüber berechtigt niemanden mehr, die materiale Rationalität der heutigen Rechtsordnung im Ganzen in Frage zu stellen, es sei denn, es würden dafür schwerwiegende Gründe vorgetragen. Auf dieser Grundlage ist ein gemäßigter Rechtspositivismus, der die Zwecksetzungskompetenz der politischen Legislative als vorrangig anerkennt, durchaus berechtigt. Daß Recht wirklich, wie Hegel sagte, Dasein der Freiheit, tendenziell realisierte Sittlichkeit ist, kann als Fortschritt der praktischen Vernunft nur im reflexivhistorischen Rückblick über die verschiedenen Gestaltungen gesellschaftlicher Wirklichkeit sichtbar gemacht und begriffen werden. 5. Das Problem sprachlicher Verständigung, dargestellt Sprachphilosophie L. Wittgensteins

am Beispiel der

Hier nun ist es notwendig, noch einmal auf die eingangs gestellte, wissenschaftstheoretische Frage zurückzukommen, ob und, wenn ja, in welchen Grenzen ein wissenschaftlicher Diskurs über praktische Fragen überhaupt 46

Vgl. dazu Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. 4. Aufl. 1956. 1. Teil. Kap. III. S. 124 ff. 47 Das BVerfG ist sich dessen bewußt gewesen; vgl. etwa BVerfGE 5, 85 (139): Das Grundgesetz „nimmt aus dem Pluralismus von Zielen und Werten . . . gewisse Grundprinzipien der Staatsgestaltung heraus, die, wenn sie einmal auf demokratische Weise gebilligt sind, als absolute Werte anerkannt... werden sollen." Vgl. auch BVerfGE 1,208 (233); 2, 1 (12); 3, 225 (237); 12, 45 (54); die Entscheidung für die Grundprinzipien wird nicht als „absoluter Anfang" aus dem „normativen Nichts" (Carl Schmitt: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. Hamburg 1934. S. 28), sondern als Übernahme aus einer ethisch bereits gerechtfertigten Ordnung verstanden. Zur Normentstehung grundlegend Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. 4.Aufl. Tübingen 1956.2. Teil. Kap. VII. S. 397 ff.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

geführt werden kann. Es nützt nämlich wenig, für die Rechtsphilosophie eine Aufklärungsfunktion zu reklamieren und in historischer Genese reflexiv begründen zu wollen, wenn es wissenschaftstheoretisch ausgeschlossen ist, eine Einigung über die vorgetragenen Argumente, Kriterien oder Schlußfolgerungen zu erzielen, weil sie von unvergleichbaren Grundpositionen, Weltbildern, Lebensformen, Paradigmen oder wie man es sonst nennen will, aus vorgenommen werden. Ist dies nämlich richtig, gibt es keinen Fortschritt der theoretischen oder praktischen Vernunft, sondern lediglich eine Auswechselung verschiedener Weltsichten oder Lebensformen, die man jeweils für eine gewisse Zeit, allgemein oder auch nur in bestimmten Gemeinschaften, für theoretisch bzw. praktisch vernünftig hält. Damit bleibt ein schwerwiegender Einwand gegen die Möglichkeit rationaler Begründungen von Normen im Raum stehen, denn was für die Unvergleichbarkeit faktenorientierter, beschreibender Weltsichten gilt, gilt — mutatis mutandis — auch für normative (ethische). U m den geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu erkennen, bedarf es erneut eines (sprachphilosophischen) Exkurses: Wenn die Philosophie des 20. Jahrhunderts überhaupt eine Errungenschaft zu verzeichnen hat, dann ist es die über die (gültigen) erkenntnistheoretischen Einsichten Kants hinausgehende (Wieder-) Entdeckung der Sprache als transzendentaler Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und die Substitution des Wahrheitsproblems durch die Frage nach dem Sinn von Sätzen. Die zu dem heutigen Problemverständnis kontrastierende, eher in Richtung auf eine strikte Unterscheidung von Denken und Sprache hinauslaufende Entwicklung der europäischen Geistesgeschichte dürfte ihren Ursprung schon in der Problemsicht der griechischen Philosophie gehabt haben, in welcher mit dem Zentralbegriff „Logos" zwar Vernunft und Sprache zugleich entdeckt wurden, der Schwerpunkt der Entdeckung jedoch auf der Einheit der Vernunft lag, der gegenüber die Verschiedenheit der Sprachen bestenfalls als Verschiedenheit von Namen oder Zeichen zu Bewußtsein kam. Der angedeutete Grundzug einer Vernachlässigung des auf die Bezeichnungsfunktion reduzierten Sprachphänomens tritt bei Piaton 48 in der den Dialog in der Sprachgemeinschaft verdrängenden und die kommunikative Sinnverständigung erübrigenden „Schau der Ideen" als außersprachliche Wesenheiten und bei Aristoteles 49 in den „einfachen, seelischen Vorstellungen", welche die Dinge abbilden und bei allen Menschen die gleichen sind, unverkennbar zutage. Eine philosophiegeschichtlich herausgehobene Bedeutung hat die dem Philosophen Theophrast zugeschriebene Unterteilung, die wir in folgender Textstelle bei dem Kommentator Ammonius 50 finden: „ D a die Rede eine zweifache Bedeutung hat — eine zu den Hörern, für welche sie etwas bedeutet, die andere 48

Piaton: Kratylos. In: Sämtl. Werke. Hrsg. v. Otto, Grassi, Plamböck. Hamburg 1957. Bd. 2. S. 126 ff. 49 Aristoteles: Peri Hermenias (Lehre vom Satz) Organon II. Übers, v. Rolfes. 2. Aufl. Hamburg 1925. Kap. 1 16a. 50 Ammonius: In Aristotelis De Interpretatione Commentarius. Ed. Busse. Berlin 1887. S. 65 f.

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zu den Dingen, von welchen der Sprechende den Hörenden eine Überzeugung beibringen will, so entstehen im Hinblick auf die Beziehung zu den Hörern die Poetik und die Rhetorik... im Hinblick aber auf die Beziehung der Rede zu den Dingen wird der Philosoph vorzüglich dafür Sorge tragen, das Falsche zu widerlegen und das Wahre zu beweisen..." Diese klassisch zu nennende Trennung von Bedeutung (Beziehung Sprache — Wirklichkeit) und Sinnverständigung (Kommunikation) wirkte über die mittelalterlichen „artes sermonicales" (Logik, Rhetorik, Poetik, Grammatik) bis in die Neuzeit und läßt sich noch in der modernen logistischen „Semiotik" nachweisen, wo „Semantik" und (Zeichen-) „Pragmatik" säuberlich getrennt werden. Der Bereich der Sinnverständigung und Konsensbildung wird unter Verkennung der transzendentalen Funktion der Sprache als erkenntnistheoretisch irrelevant ohne großes Aufheben von der Philosophie an die (als unwissenschaftlich verstandene) Rhetorik und Poetik abgetreten. Selbst das Universalienproblem des Hochmittelalters — das eigentlich nur von den sprachontologischen Voraussetzungen her verstanden werden kann — liegt von Anfang an auf der Ebene einer empirisch-ontischen Verifikation der Sprache als Zeichensystem, insofern zwar eine „Bezeichnung" von „Wesenheiten" (ein Universalien-Realismus) als Alternative zur Bezeichnung des Individuellen erwogen wird, die Problematik der Vieldeutigkeit der Wörter aber als einer in der Sprache aufgehobenen Wesensfülle des geschichtlichen Seins unberücksichtigt bleibt. Das auf eine Nachordnung der Sprache hinter mögliche menschliche Erkenntnis zielende (vereinfachte) Paradigma: Zuerst werden die Elemente der sinnlichen Welt (Tatsachen, Sinnesdaten) erkannt, dann wird durch Abstraktion mit Hilfe der allgemeinen Logik die Struktur der Welt erfaßt, dann die Elemente der gewonnenen Weltordnung konsensuell bezeichnet und schließlich die durch Zeichenverknüpfung repräsentierten Sachverhalte untereinander mitgeteilt, dieses Paradigma hat — sieht man von den seit jeher streitigen Fragen der abstrahierenden Begriffsbildung oder Verknüpfung von Prädikaten mit Gegenständen ab — die geschichtliche Entwicklung der Beziehung von Wirklichkeit, Sprache und menschlichem Bewußtsein jahrhundertelang bestimmt. Die als letzte Basis der richtigen „Bezeichnung" von Sinnesdaten erscheinende intuitive Auffassung des individuell Seienden — die „Wahrnehmung" von „etwas als etwas" — kann von der empirisch orientierten Erkenntnistheorie der Neuzeit nur als naturalistisch-kausale „Affizierung" durch die Außenwelt {Locke) bzw. (bei Infragestellung der Kausalrelation) als „Ideen-Assoziation" {Hume) oder aber als apriorische Konstitution durch die Spontaneität eines menschlichen „Bewußtseins überhaupt" {Kant) verständlich gemacht werden 51 . Nach diesem erkenntnistheoretischen Ansatz gibt es infolge der subjektbedingten Vorstellungen der Dinge nur subjektbedingte „Privatsprachen", wobei die Hoffnung auf allgemeinverbindliche Erkenntnis in der Möglichkeit einer 51

S. oben S. 26 ff; unten S. 362 ff.

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

methodisch-solipsistischen Präzisierung der Wortbedeutungen durch definitorische Reduktion auf „einfache Vorstellungen" ruht. Wie freilich der Einzelne, der sich auf diesem Weg vorsprachlicher Intuition der unmittelbaren Bedeutung seiner Worte vergewissert, sicherstellen soll, daß seine Gesprächspartner die gleichen unmittelbaren Bedeutungen mit den Worten verbinden, ist eine Frage, auf die erst die „sprachanalytische Philosophie" unseres Jahrhunderts eine Antwort zu geben versuchte. Ihre Wurzel bildet zwar ebenfalls noch die Annahme einer sprachfreien Intuition der Sinnesdaten, in deren Bezeichnung die Bedeutung der Wörter ihre reale Grundlage haben soll, doch eröffnen sich neue Perspektiven durch die Verknüpfung mit der auf Leibniz zurückgehenden Idee einer universalen Mathematik. So beruht einerseits bei B. Rüssel sprachliche Kommunikation noch auf der Möglichkeit, die Bedeutung verknüpfbarer Namen gemäß dem „principle of acquaintance" auf zuvor schon bekannte Tatsachen zurückzuführen, mit der Folge, daß alle Vorstellungen, bei denen ein Sinneseindruck nicht nachweisbar ist, dem sog. „empirischen Sinnkriterium" nicht genügen und dem Sinnlosigkeitsverdacht verfallen 52 . Andererseits bewirkt die Wiederaufnahme des von Leibniz stammenden und insbesondere von G. Frege vermittelten Gedankens einer „Kalkülsprache" eine Läuterung des Problemverständnisses 53. Leitend war die Überlegung, daß eine Formalisierung der Sprache dann möglich sein müßte, wenn man nicht von der in ihrer Bedeutungsvielfalt undurchschaubaren Umgangssprache, sondern von einer eigens konstruierten Kunstsprache ausginge, wobei deren Wortbedeutungen durch vollständige, analytische Definition auf möglichst „einfache Ideen" zurückgeführt oder im Wege der Kombination aus einfachen Ideen gebildet werden müßten. Die Beseitigung aller Unklarheiten und Mißverständnisse in Wissenschaft und Philosophie erhoffte sich Leibniz als Rationalist (im Gegensatz zu den englischen Empiristen) dabei nicht von der subjektiven, intuitiven Vergewisserung der richtigen Bezeichnung der Tatsachen, sondern von der (unterstellten) syntaktisch-semantischen Konsistenz des intersubjektiven Sprachsystems, welche es seinen Benutzern erlauben sollte, alle 52 Ähnlich schon Hume: A n Enquiry Concerning Human Understanding. Übers, u. hrsg. v. Herring. Stuttgart 1967. 2. Abschn. S. 37: „Wenn wir darum den Verdacht haben, daß ein philosophischer Terminus ohne feste Bedeutung oder Vorstellung gebraucht wird (was nur zu häufig geschieht), brauchen wir nur zu fragen: Welchem Eindruck (impression) entstammt die angebliche Vorstellung (idea)? Wenn es unmöglich ist, einen solchen anzugeben, so wird das zur Bestätigung unseres Verdachts beitragen . . . " 53 Der Gedanke einer formalisierten Sprache, welche die Worte als „Rechensteine" verwendet, so daß in der logischen Verknüpfung der Worte die notwendige Verknüpfung der bezeichneten Tatsachen abgebildet würde, findet sich schon bei Aristoteles (Sophistische Widerlegungen, Organon VI. Kap.l, 165 a); doch verwirft er den Gedanken: „ M a n kann beim Disputieren nicht die Dinge selbst hernehmen, sondern gebraucht statt ihrer, als ihre Zeichen, die Worte. Daher glaubt man dann, was für die Worte gilt, müsse auch für die Dinge gelten, wie wenn man rechnete und es mit Rechensteinen zu tun hätte. Aber hier fehlt die Gleichheit. Die Worte als ebenso viele Begriffe sind der Zahl nach begrenzt, die Zahl der Dinge aber ist unbegrenzt. Darum muß derselbe Begriff und ein und dasselbe Wort gleichzeitig eine Vielfalt von Dingen bezeichnen..."

V. Offene Fragen — Wegweisungen

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Diskussionen durch Transformation der Probleme in solche der Arithmetik erfolgreich zu beenden. Es ist klar, daß eine solche Kunstsprache eine aufgrund der „logischen Syntax" der Sprache festgelegte Semantik voraussetzt, die es erlaubt, ohne Rückgriff auf individuelle Erfahrung und ohne intuitiven Vollzug der Bedeutungsintentionen der Zeichen, gleichsam „blind" anhand der logischen Form der Sprache philosophische Probleme zu lösen. Das Verdienst der sprachanalytischen Philosophie der Jahrhundertwende liegt darin, den sichtbar werdenden Gedanken der „logischen Form der Sprache" - welche, recht verstanden, das Kriterium liefert, sinnvolle und sinnlose Rede zu unterscheiden — mit empiristischer Sinnkritik zur Synthese gebracht zu haben. Der erkenntnistheoretische Übergang von der Kritik des Bewußtseins als psychologisch-empirischer bzw. transzendentaler Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis zur Sprachkritik sei hier anhand des Werkes von Wittgenstein 5*, dem bei dieser Entwicklung eine Schlüsselstellung zukommt, näher erläutert. Nach Wittgensteins Frühschrift: „Tractatus logico-philosophicus" ist die Welt der Inbegriff der „Tatsachen", die durch die Zeichen-Tatsachen der Sprache abgebildet oder als mögliche „Sachverhalte" in den „logischen Raum" projiziert werden; diese Abbildung oder Projektion der Welttatsachen durch Zeichentatsachen der Sprache ermöglicht die für Welt und Sprache gemeinsame (identische) „logische Form". Wittgenstein unterscheidet nachdrücklich zwischen der Frage nach dem möglichen Sinn eines Satzes und der Frage nach der Wahrheit; letztere kann nur durch den Vergleich von Elementarsätzen mit den Tatsachen beantwortet werden 55 . Dagegen läßt sich ihm zufolge die Sinnfrage unabhängig von der Wahrheitsfrage beantworten, denn: „Der Satz zeigt seinen Sinn. Der Satz zeigt, wie es sich verhält, wenn er wahr ist. Und er sagt, daß es sich so verhält... Der Satz konstruiert eine Welt mit Hilfe eines logischen Gerüstes und darum kann man am Satz auch sehen, wie sich alles Logische verhält, wenn er wahr ist. Man kann auch aus einem falschen Satz Schlüsse ziehen " S6 Wittgenstein legt danach ein „logisches Sinnkriterium" der Sprache fest, das einerseits das „empirische Sinnkriterium" 57 noch berücksichtigt — insofern er nämlich annimmt, daß alle Namen, von denen die Sprache Gebrauch macht, 54

Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. 9. Aufl. Frankfurt/M. 1973; derselbe: Philosophische Grammatik. Frankfurt/M. 1973; derselbe: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M. 1967; zu Wittgensteins Philosophie vgl. auch: Stegmüller. Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. 3. Aufl. Stuttgart 1965. S. 524 ff.; Stenius: Wittgenstein's Tractatus. A critical exposition of the main lines of thought. Oxford 1960. Dtsch. Frankfurt/M. 1969. 55

Wittgenstein : Tractatus logico-philosophicus. aaO. 2.223. Wittgenstein aaO. 4.022 f.: „Einen Satz verstehen, heißt, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist. (Man kann ihn also verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist)." Tract. 4.024. 57 Vgl. Hume: A n Enquiry Concerning Human Understanding. aaO. S. 37; zur Weiterentwicklung im „Logischen Positivismus" vgl. Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. aaO. S. 346 ff. 56

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

gegenständliche Bedeutung und die Sätze die Funktion haben, neue Sachlagen durch Kombination der Namen probeweise herzustellen 58 — andererseits aber darüber hinausgeht und absolute Geltung beansprucht. Denn jenes logische Sinnkriterium beruht auf dem Unterschied zwischen dem, was ein Bild auf Grund seiner äußeren Struktur darstellt, und dem, was an Gemeinsamkeit zwischen Bild und Original immer schon vorliegen muß, damit das Bild als Bild funktionieren kann. Weil aber jede Beschreibung bereits voraussetzt, daß die Komponenten des beschriebenen Sachverhalts dieselbe kategoriale und innere Struktur besitzen wie der fragliche Satz, der die Beschreibung versucht, so kann der Satz zwar die gesamte Wirklichkeit darstellen, nicht aber die logische Form. Die Sprache weist die innere Struktur der Wirklichkeit auf, vermag sie aber nicht als deskriptiven Gehalt von Sätzen auszudrücken. „Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit." 5 9 Man muß den Unterschied „sehen" lernen. Und da es sich so mit allen ontologischen Aussagen verhält, d. h. mit allen Aussagen über die Form und innere Struktur der Wirklichkeit, äußert Wittgenstein seinen berühmten „Unsinnigkeitsverdacht" 60 gegenüber den quasi-objektiven Sätzen der Metaphysik, welcher — gegen alle Philosophie gewandt — später zum beherrschenden Thema der sprachanalytischen Philosophie überhaupt wird. Die originelle Synthese der sprachlichen „Weltabbildungstheorie" mit dem Gedanken der reinen logischen Form der Sprache in Wittgensteins Frühwerk „Tractatus logico-philosophicus" offenbart freilich mit geradezu paradoxer Konsequenz zugleich die metaphysischen Voraussetzungen und Widersprüche dieser ersten Phase der sprachanalytischen Philosophie. Ist es richtig, daß im trüben Gewässer der Umgangssprache die „logische Form" der reinen Sprache verborgen liegt und gleichsam als klare Quelle die individuelle Abbildung elementarer Tatsachen durch Elementarsätze intersubjektiv genießbar macht, so scheint allerdings das oben aufgezeigte Problem vorsprachlich-empirischer Erkenntnistheorie, wie nämlich private Bedeutungsgehalte mitgeteilt werden können und wodurch subjektive Erfahrungsaussagen objektive Geltung erlangen, gelöst zu sein; denn nun hat persönliche Erfahrung und ihre sprachliche 58 „Es liegt im Wesen des Satzes, daß er uns neuen Sinn mitteilen kann. Ein Satz muß mit alten Ausdrücken einen neuen Sinn mitteilen... Im Satz wird gleichsam eine Sachlage probeweise zusammengestellt... Die Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen." (Tractatus 4.027-4.0312). 59

Wittgenstein aaO. 4.12-4.121. „Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen. (Sie sind von der Art der Frage, ob das Gute mehr oder weniger identisch sei als das Schöne.) Und es ist nicht verwunderlich, daß die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind." (Trac. 4.003). 60

V. Offene Fragen — Wegweisungen

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Übertragung nichts mehr mit der Konstitution der Wortbedeutungen zu tun, die als unveränderliche Bedeutungssubstanz parallel zur gegenständlichen Substanz der Welt vorausgesetzt werden. Die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man die gesamte Außenwelt nur als Vorstellung des eigenen Bewußtseins begreift, werden durch die Annahme apriorischer Identität von Sprachform und Weltform beseitigt und alle Sprachbenutzer von vornherein mit derselben sprachlich beschreibbaren Welt konfrontiert 61 . Der Effekt des Übergangs von der praktisch durch Kant abschließend formulierten Bewußtseinsproblematik und Erkenntnistheorie zur Sprachproblematik und Sprachanalyse liegt dabei für Wittgenstein weniger in einer Eliminierung des Bewußtseins und der Subjektivität überhaupt, als vielmehr in der radikalen Transzendentalisierung der logischen Sprachform, was freilich den Widersinn nach sich zieht, daß er seine eigenen ontologischen Sätze — weil sich die innere Struktur der Wirklichkeit, die „logische Form" der Welt und Sprache, nur „zeigen" und „sehen" läßt — für unsinnig erklären muß, soweit sie über solche Bedingungen etwas „auszusagen" versuchen 62. Gerade die identische Form, welche die äußere strukturelle Abbildung der Welttatsachen in Zeichentatsachen der Sprache ermöglicht, kann selbst nicht als Tatsache dargestellt werden. Die Sprache erschöpft sich in der Abbildung von Gegenständen und in der Aussage von Tatsachen und kann über die identische Form von Sprache und Welt nichts mitteilen; diese bleibt der sprachlichen Weltabbildung als transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung stets vorweg und „zeigt" sich bloß in den Beschreibungen. Ein philosophisches „Gespräch über Sprache", welche die intersubjektiv eindeutige Formulierung von Nachrichten über Sachverhalte durch ihre vorgegebene, unveränderliche Struktur garantiert, ist weder notwendig noch möglich. Die weitere Entwicklung der sprachanalytischen Philosophie machte deutlich, daß sich sowohl der Anspruch, die Sprache zum Abbild der einen Weltordnung emporzuläutern, als auch die Annahme einer universalen Struktur aller Sprachen nicht aufrecht erhalten ließ. Die Vorstellung, man könne die Sprache der Welt logisch eindeutig zuordnen, ohne dabei von der logisch vieldeutigen Sprache und ihrer Weltdeutung Gebrauch zu machen, erwies sich als unmöglich. Durfte die ontologische Logik umgangssprachlicher Philosophie früherer Jahrhunderte immerhin an ihre Fähigkeit glauben, die allgemein 61 „Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur läßt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich. Daß die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, daß die Grenzen der Sprache (der Sprache, die ich allein verstehe) die Grenzen meiner Welt bedeuten... Das denkende, vorstellende Subjekt gibt es nicht... Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt... Es gibt keine Ordnung der Dinge a priori. Hier sieht man, daß der Solipsismus, streng durchgeführt, mit dem reinen Realismus zusammenfallt. Das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität..." (Tractatus. 5.62-5.64). 62 Wittgenstein: Tractatus aaO. 6.54; vgl. Stegmüller: wartsphilosophie. 3. Aufl. Stuttgart 1965. S.555 ff.

Hauptströmungen der Gegen-

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

gültige Weltordnung für Dinge und Sprache unmittelbar aus den Dingen herauslesen und in einem Zeichensystem darstellen zu können, so zeigt gerade die Logistik mit ihrer Schwierigkeit, formalisierte Kunstsprachen (Kalküle) semantisch zu deuten, mit bisher unbekannter Eindringlichkeit, daß der Entwurf einer formalen Folgeordnung nicht unmittelbar an die Dinge herangetragen werden kann, sondern der Vermittlung über die schon vorliegende Weltdeutung der Umgangssprache, sozusagen als letzter Metasprache, bedarf. So wird also letztlich nicht eine Weltordnung gewonnen, in der Dinge und Sprache, unabhängig voneinander, aufeinander bezogen sind, sondern bloß ein möglicher Weltaspekt aufgedeckt, der sich selbst erst (und nur) in der Sprache konstituiert und dessen Konstitution prinzipiell außerhalb der formalen Ordnung der jeweiligen Kunstsprache bleibt. Die Paradoxie des universalen, aus der Vorstellung der Kalkülsprache hervorgegangenen Sprachmodells Wittgensteins entsteht durch die Beschränkung des Sprachgebrauchs auf die — wegen der vorgegebenen, unveränderlichen Struktur der Sprache — stets reflexionsfreie Darstellung von Sachverhalten. Selbstreflexivität der Umgangssprache ermöglicht aber offensichtlich überhaupt erst das spezifische Verhältnis von Sprachgebrauch und sprachlich bedingter Erfahrung. I m Gegensatz zur reinen Signalsprache — etwa der „Sprache" der Bienen — läßt sich der menschliche Sprachgebrauch nicht als bloße, das Sinnverständnis des Gesprächspartners unberührt lassende Übertragung von Informationen begreifen. Die menschliche Vernunft bewegt sich nicht wie der Instinkt der Tiere in einer Signal-Umwelt, sondern muß mit Hilfe der Sprache die Deutung der Welt und mit Hilfe der Weltdeutung den Aufbau des semantischen Systems selbst erarbeiten. Zwar ist es richtig, daß erfolgreiche Kommunikation, insbesondere die Darstellung und Mitteilung eines neuen Sachverhalts bei begrenztem Wortschatz, unverständlich bliebe, wenn keinerlei Stabilität der sinnhaften Weltauslegung und der semantischen Struktur des Sprachsystems vorausgesetzt werden könnte. Doch weder der methodische Solipsismus, der eine willkürliche Bezeichnung geistiger Vorstellungen annimmt, noch der vom intersubjektiven Sprachgebrauch und den psychischen Funktionen der Sprachbenutzer unabhängige, „transzendentale Lingualismus" 63 Wittgensteins können das von der Gemeinschaft getragene und die Gemeinschaft allererst stiftende System der Sprache befriedigend erklären. Wittgenstein hat die sich aus der Verknüpfung der Weltabbildungstheorie mit dem logistischen Sprachmodell ergebenden Widersprüche später selbst erkannt und sich von dem apodiktisch-thesenhaft aufgebauten „Weltbild" des „Tractatus logico-philosophicus" — insbesondere von seiner ontologischen Basis und der Konzeption einer exakten Idealsprache — wieder getrennt. Er sah ein, daß die Welt als Tatsache nicht nur auf eine Art und Weise in einfachere Tatsachen zerlegt werden kann und daß die eindeutige Zerlegung in atomare Tatsachen 63

Ein Ausdruck von Stenius : Wittgenstein's Tractatus. A critical exposition of the main lines of thought. Oxford 1960.

V. Offene Fragen — Wegweisungen

223

(Gegenstände, Urelemente) schon deshalb scheitern muß, weil die Ausdrücke „einfach" und „zusammengesetzt" keine kontextinvariante Bedeutung besitzen; was wir damit meinen, hängt von dem jeweiligen „Sprachspiel" ab, in dem wir sie gebrauchen 64. Man wird wohl mit der Annahme nicht fehlgehen, daß Wittgenstein in seiner philosophischen Spätphase die Vorstellung von Sachverhalten, die unabhängig von der Sprache existieren, überhaupt aufgegeben hat; die Welt ist nicht „an sich" in bestimmter Weise gegliedert und der Erfassung durch die Sprache vorgegeben, die sie nur (richtig oder falsch) beschreiben kann 6 5 , sondern die möglichen Gliederungen der Welt entstehen zuallererst mit dem Gebrauch der Sprache selbst; so viele Weisen der Beschreibung der Welt, so viele Weisen ihrer Zerlegung in einzelne Sachverhalte 66. Ebenso sinnlos ist es, an einem Exaktheitsideal der Sprache, losgelöst von den jeweiligen Umständen und denkbaren zwischenmenschlichen Beziehungen, festzuhalten; „exakt" und „nichtexakt" sind nämlich Werturteile, welche die Erreichung eines bestimmten Zieles loben oder die Nichterreichung tadeln. Es hängt aber von den gesetzten Zielen ab, was zu ihrer Erreichung taugt und was nicht. Das entscheidende Kriterium für die Angemessenheit (zureichende Genauigkeit) des Sprachgebrauchs ist unser „Bedürfnis" als „Angelpunkt" des Sprachspiels 67. Die Idee der genauen Wortbedeutung und des perfekten Satzsinnes68 ist strenggenommen eine metaphysische Fiktion, denn ob ein Ausdruck in einer bestimmten Situation eine hinreichend scharfe Bedeutung besitzt, hängt gerade von der Situation ab, in der er gebraucht wird; das positive Urteil über ihn bedeutet keineswegs, daß alle überhaupt denkbaren Zweifel und Mißverständnisse ausgeräumt wären. Gerade dies müßte aber verlangt werden, um von einem absolut präzisen Sinn des Ausdrucks sprechen zu können. Wer die Forderung nach einer möglichst vollständigen und möglichst genauen Analyse von Wortbedeutungen erhebt (und hier unterscheidet sich Wittgenstein deutlich von anderen Vertretern der sprachanalytischen Philosophie), der jagt im Grunde einem Trugbild nach, weil er voraussetzt, daß Bedeutung und Sinn von Ausdrücken eigentlich immer schon festliegen und nur unter der Oberfläche der Umgangssprache verborgen sind 69 . So endet Wittgensteins Philosophie bei einem pragmatischen Relativismus, in dem die verschiedenen Sprachspiele 70 als letzte Maßstäbe unseres Denkens zusammenhanglos nebeneinander stehen.

64

Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M. 1967. Teil I. Nr. 46 ff. Vgl. oben S. 27 ff. 66 Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. aaO. S. 566. 67 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. aaO. Teil I. Nr. 88, 108. 68 Vgl. Wittgenstein: Philos. Untersuchungen. aaO. Teil. I. Nr. 79, 87. 69 Wittgenstein: Philos. Untersuchungen. aaO. Teil I. Nr. 60 ff., 90 ff. 70 Unter „Sprachspielen" versteht Wittgenstein —jedenfalls der heuristischen Konzeption nach — die von Verhaltensregeln konstituierte Einheit von Sprachgebrauch, Lebensform und Welterschließung. Näheres zum Begriff bei Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. aaO. S. 584 ff. 65

224

Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

Fassen wir die wesentlichen Ergebnisse der skizzierten Entwicklung zusammen: Der theoretische Gewinn der von Wittgenstein geprägten, sprachanalytischen Philosophie gegenüber der traditionellen Erkenntnistheorie besteht einmal in der Überwindung jener tief eingewurzelten Vorstellung von der Bezeichnungsfunktion der Sprache, nach der wir einer bereits vorsprachlich erkannten Welt von Gegenständen nachträglich sprachliche Zeichen zuordnen, um sie im Gedächtnis zu behalten und anderen mitteilen zu können, während doch in Wahrheit alle wissenschaftlichen Erklärungen von Sinnesdaten bereits ein ursprüngliches Verstehen von etwas als „etwas" voraussetzen, das je nach dem mit der Lebensform verwobenen Sprachspiel sehr verschiedene Daten freigeben kann. Zum anderen besteht der Gewinn der sprachkritischen Untersuchungen in der Einsicht, daß Sprachspiele gewissen Regeln folgen, denen ein Teilnehmer am Sprachspiel alleine für sich genommen — d. h. bei prinzipieller Abstraktion von der Existenz der Gesellschaft — nicht gehorchen kann, weil ohne den sozialen Kontext die Regel des zu verstehenden Verhaltens unerkennbar bleibt; m. a. W. in der Widerlegung des erkenntnistheoretischen Solipsismus durch den Nachweis der Unmöglichkeit von Privatsprachen, oder positiv formuliert, der prinzipiellen Öffentlichkeit jeder sinnvoll denkbaren — und das heißt: kontrollierbaren — Befolgung von Regeln 71 . Gibt es keine vorgegebene, objektive Datenbasis, auf die man sich als Erkennender in der Subjekt-Objekt-Ebene beziehen kann, wenn man seine Erkenntnis für andere in Worte faßt, so ist alles menschliche Wissen abhängig von schon vorhandenen, vorab gefaßten Einstellungen, Anschauungen, Ideen, Hypothesen, Theorien, Forschungsprogrammen usw. Je nachdem, unter welchem (theoretischen oder auch normativen) Blickwinkel man sich der Welt nähert, bekommt man etwas anderes zu Gesicht; es ist unmöglich, das Subjekt der Erkenntnis aus dem Erkenntnisvorgang auszuschalten und die „Tatsachen" sprechen zu lassen; Wissen erweist sich als relativ zur jeweiligen Sinndeutung der Datenbasis, im fortgeschrittenen Stadium des Forschens und Denkens als relativ zum jeweiligen Weltentwurf. Bewußtsein und Sprache begrenzen die uns erfahrbare Wirklichkeit; wissenschaftliche „Entdeckungen" sind mit Hilfe der Sprache bewußt gemachte Sinnentwürfe, welche sich, indem sie Daten durch Einordnung in Zusammenhänge erklären, durch eben diese Daten selbst begründen. Verständigung über unterschiedliche Sinnentwürfe läßt sich nur im Wege der sprachlichen Kommunikation auf der Subjekt-Subjekt-Ebene erzielen, und auch hier nur, wenn sich die Diskursteilnehmer an die Regeln halten und bereit sind, ihre Einstellungen, Theorien, Weltentwürfe in Frage zu stellen und reflexiv zu überprüfen, d. h. Vernunft ebenso als Prüfungsinstanz wie als geprüfte Partei zu akzeptieren. Die logische Analyse der Sprachverwendung durch Wittgenstein hat, wiewohl von ihm erst in Ansätzen entwickelt, auf die philosophische Diskussion, vor allem im englischsprachigen Raum, bis in die jüngste Vergangenheit ungeheuer 71

Vgl. Wittgenstein:

Philos. Untersuchungen. aaO. Teil I. Nr. 291, 290, 293, 257.

V. Offene Fragen — Wegweisungen

225

anregend gewirkt und bedeutenden Einfluß ausgeübt 72 . Insbesondere der weder systematisch entfaltete noch näher bestimmte Begriff des regelgeleiteten „Sprachspiels" — mit bestimmten, vorsprachlichen Tätigkeiten, Interaktionen und Lebensformen verwoben gedacht—und der Hinweis auf die „Familienähnlichkeit" von sprachlichen Ausdrücken (wie ζ. B. „Spiel") haben sich als wegweisende Denkanstöße entpuppt 73 . Auch wissenschaftliche Theorien sind „Sprachspiele" im Sinne Wittgensteins, insofern die in ihnen verwandten Begriffe aus der Umgangssprache ausgesondert und in ihrer Bedeutung für die jeweiligen Zwecke festgelegt werden. Durch die Festlegung des Sinnes und die Ausgrenzung aus Unbestimmtem haftet aber das Bestimmte nunmehr nicht etwa wie eine feste Eigenschaft am Wort, sondern bleibt stets bezogen auf den Kontext des jeweiligen Sprachspiels, eben die Theorie. U m eine hinweisende Definition richtig zu verstehen, muß man schon wissen, welche Rolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll; die Rolle der Ausdrücke in einem bestimmten Sprachspiel ist weder hinreichend durch eine Definition zu erfassen noch gar dadurch, daß man sie auf die Bedeutung in anderen Sprachspielen zurückführt; allenfalls kann man die Rollen der Ausdrücke in verschiedenen Sprachspielen miteinander vergleichen. Wer nicht sehr genau darauf achtet, in welchem Sinn das Wort innerhalb einer Theorie gebraucht wird, fallt unversehens aus dem Sprachspiel heraus und macht sich einer Begriffsverwechslung schuldig. Was Wittgenstein mit „Familienähnlichkeit" bezeichnete, kann man auch die Menge der intendierten Anwendungen einer Theorie nennen 74 . Familienähnlichkeit ist ein kompliziertes Geflecht von sich kreuzenden und ineinander übergreifenden Ähnlichkeiten, im Großen wie im Kleinen, gerade so wie eben bei den Mitgliedern einer Familie, ohne daß doch eine durchgehende Gemeinsamkeit bestehen muß 7 5 . Wollte man ζ. B. den Begriff „Theorie" selbst näher 72 Die Bedeutung Wittgensteins für die anglo-amerikanische Philosophie ist nahezu unumstritten; vgl. etwa Warnock: English Philosophy since 1900. 2. Aufl. London/Oxford/New York 1969. S. 45 ff.; Pears : Wittgenstein. London 1971. S. 45. 73 Zum Begriff des Sprachspiels vgl. etwa noch Specht: Die sprachphilosophischen und ontologischen Grundlagen im Spätwerk L. Wittgensteins. In: Kant-Studien. Erg. Hefte. Bd. 84. Köln 1963. S. 40 ff.; Lenk: Zu Wittgensteins Theorie der Sprachspiele. In: KantStudien 58. 1967. S. 458 ff.; Kenny : Wittgenstein. Übers, v. Vetter. Frankfurt/M. 1974. S. 187 ff.; Habermas: Sprachspiel, Intention und Bedeutung. In: Wiggershaus (Hrsg.): Sprachanalyse u. Soziologie. Frankfurt/M. 1975. S. 324 ff.; zum strafrechtlichen Handlungsbegriff vgl. etwa Kindhäuser: Intentionale Handlung. Sprachphilosophische Untersuchungen zum Verständnis von Handlung im Strafrecht. Berlin 1980. S. 32 ff., 36 ff.; zum Bezug zur juristischen Methodenlehre vgl. Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 4. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1979. S. 178 ff.; Roellecke: Grundfragen der juristischen Methodenlehre und die Spätphilosophie L. Wittgensteins. In: Festschr. f. G. Müller. Hrsg. v. Ritterspach u. Geiger. Tübingen 1970. S. 323 ff.; dazu (kritisch) Kindhäuser aaO. S. 17 ff. 74 Ebenso Stegmüller. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. II. 2. Halbbd. Berlin/Heidelberg/New York 1973. S. 195 f. 75 Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. aaO. Teil I. Nr. 66,67; Campbell·. Family Resemblance Predicates. In: American Philosophical Quarterly. 1965. S. 238 ff.;

15 Mittenzwei

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Β. Zur Lage der Jurisprudenz als teleologischer Wissenschaft

bestimmen, so müßte man eine Liste typischer Fälle von Theorien anlegen, wobei man wahrscheinlich während einer ersten Periode der Unsicherheit die Liste durch Streichungen und Ergänzungen zu verbessern bemüht wäre, indem man etwa bestimmte Formen des Schauens oder Sammeins und Einteilens empirischer Daten als unzureichend aussondert. A m Ende einer solchen Vorbetrachtung würde man wahrscheinlich zu einer „Minimalliste" gelangen, der zwar durch neue Erfahrungen weitere Theorien hinzugefügt werden können, die zu reduzieren man jedoch sich weigerte. Eine solche Liste ist effektiv extensional gegeben, insofern die Elemente der Menge aufgezählt werden; die Elemente können durchgehende Gemeinsamkeiten haben, gemeinsame Merkmale können aber auch fehlen; sind sie vorhanden, so sind sie allenfalls notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen für die Zugehörigkeit zum Begriff. Die hinreichende Bedingung für die Zugehörigkeit zum Begriff verbleibt in einem Zustand unbehebbarer Vagheit, weil man zwar für jedes einzelne Element zwischen erreichter Extension des Begriffes und dem Inhalt der Minimalliste Eigenschaften auflisten kann, die dieses Element mit allen oder fast allen Beispielen der Minimalliste gemeinsam hat, dagegen nicht fähig ist, eine endliche Liste von Eigenschaften zu erstellen, welche die Zugehörigkeit zum Begriff gewährleistet. So verbindet sich also eine Exaktheit in Bezug auf die notwendigen Bedingungen für die Zugehörigkeit zum Begriff mit einer Unabgeschlossenheit in Bezug auf die hinreichenden Bedingungen 76 . Da jeder Wissenschaftler, der einen bestimmten Begriff und anschließend bestimmte Begriffszusammenhänge festzustellen versucht, nach einer Phase des Suchens und Sammeins nicht mehr ohne weiteres bereit sein wird, seine Merkmallisten einer Korrektur zu unterwerfen, bedarf es nicht viel Vorstellungskraft, um hier die Wurzeln theoretischer Auseinandersetzungen zu erkennen 77 . Das für den wissenschaftlichen Theoriendiskurs entscheidende Problem ist nun, ob sich zwischen einzelnen Sprachspielen Übergänge herstellen lassen oder nicht. Wegen der engen Verbundenheit der Sprachspiele mit bestimmten Lebensformen, war Wittgenstein selbst skeptisch; nach seiner Überzeugung liegt jedem Sprachspiel eine durch Regeln geprägte Lebenspraxis zugrunde, in der sich jeder Sprecher als Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft immer schon Wennerberg : The concept of family resemblance in Wittgenstein's later philosophy. In: Theoria 33. 1967. S. 107 ff.; Pitcher. The Philosophy of Wittgenstein. Englewood Cliffs. N.J. 1964. S. 220 f. (Dtsch.: Die Philosophie Wittgensteins. Freiburg/München 1967.); v. Wright : The Varieties of Goodness. London 1963. S. 15 f.; zur Fruchtbarkeit der Theorie ausführlich v. Kutschera : Sprachphilosophie. München 1971. S. 267 ff. 76 Stegmüller. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. aaO. S. 197. Zur Parallele zwischen „Familienähnlichkeit" und „Typusbegriffen" in der Rechtswissenschaft vgl. Kuhlen: Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie. Berlin 1977. S. 136 ff.; ferner Herberger/Simon: Wissenschaftstheorie für Juristen. Frankfurt/M. 1980. S. 288 ff.; Koch/Rüßmann: Jurist. Begründungslehre. München 1982. S. 67 ff. 77 Zur Übertragung des Wittgensteinschen Familienähnlichkeitsprädikats auf den Anwendungsbereich einer physikalischen Theorie vgl. Stegmüller aaO. S. 198 ff.

V. Offene Fragen — Wegweisungen

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befindet, die den Umfang und die Art seiner möglichen Erfahrungen steuert und seine Grundüberzeugungen bestimmt. Die eine Lebensform ausmachenden Regeln und Grundüberzeugungen ergeben ein wie auch immer bestimmtes „System", gestalten ein „Weltbild", das als Substrat alles trägt, was ein einzelner Forscher oder eine Forschergemeinschaft an Theorien entwirft und begründet. Solche Weltbilder seien als Sinnentwürfe weder richtig noch falsch, so daß man zu ihrer Übernahme bloß überreden, nicht aber mit Gründen überzeugen könne, denn Gründe gäbe es nur innerhalb eines Weltbildes oder einer Lebensform 78 . Ob diese Auffassung zutrifft und Lebensformen höchstens auswechselbar, nicht aber — im Sinne eines wissenschaftlichen Fortschritts — steigerungsfahig sind, soll im zweiten Teil der Arbeit erörtert werden.

78 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. aaO. Teil I. Nr. 19, 23, 241 u. öfter; derselbe: Über die Gewißheit. Hrsg. v. Anscombe u. v. Wright. Frankfurt/M. 1970. Nr. 7, 102, 105, 141 ff., 162, 358, 410 f. u. öfter. Vgl. dazu Hunter. „Forms of Life" in Wittgenstein's Philosophical Investigations. In: American Philosophical Quarterly. 1968. S. 233 ff.; v. Wright : Wittgenstein on Certainty. In: derselbe (Hrsg.): Problems in the Theory of Knowledge. Den Haag 1972. S. 47 ff., 58.

15*

2. T e i l

Die historischen Grundlagen teleologischer Rechtswissenschaft C. Entwurf eines wissenschaftsgeschichtlichen Bezugsrahmens I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen 1. Das Anliegen Sinn der bisherigen Erörterung des Zweckproblems, das kein spezifisch juristisches, sondern ein allgemeines Problem jedes auf menschliches Verhalten und Handeln gerichteten, wissenschaftlichen Verständnisses ist, war die Ermittlung dessen, was sich unter den Begriffen der (praktischen) „Vernunft" und der (formalen bzw. materialen) „Rationalität", wie sie häufig abstrahierend gebraucht werden, an (ungelösten) Problemen verbirgt. Bevor man sich anschickt, darüber zu urteilen, ob die teleologische Methode der Rechtsinterpretation die Rationalität juristischer Entscheidungen zu sichern oder doch wenigstens zu fördern vermag, muß man sich vergewissern, welche Ansprüche unter den gegenwärtig gegebenen, erkenntnistheoretischen Bedingungen überhaupt erfüllt werden können; denn davon hängt der Inhalt des Begriffs „Rationalität" unmittelbar ab. Das Anliegen der folgenden Untersuchung ist nun ein doppeltes: Einmal möchte ich prüfen, ob es wirklich zutrifft, daß die Rechtfertigung sowohl von deskriptiven als auch praeskriptiven Theorien lediglich innerhalb bestimmter Lebensformen oder Weltsichten überzeugend durchgeführt werden kann, ein Vergleich verschiedener Lebensformen bzw. Begründungsfolgen anhand übergeordneter rationaler Kriterien jedoch nicht mehr möglich ist. Wäre dies richtig, müßte ein wesentliches Merkmal von Wissenschaft, das sie von anderen Weisen der Kulturproduktion unterscheidet, als nicht haltbar aufgegeben werden: das Merkmal kontinuierlichen Wissenserwerbs durch Kumulation einer immer größeren Zahl wahrer bzw. richtiger Sätze, sei es in ontischer, sei es in systematischer Beziehung (Verknüpfung der Resultate zu Theorien). Das „evolutionäre Modell" ständigen wissenschaftlichen Wachstums, das die Vorstellung von Wissenschaft weithin — bis zur Wissenschaftsgläubigkeit — beherrscht, müßte durch ein „revolutionäres Modell" der Wissenschaftsentwicklung ersetzt werden. Neben diesem wissenschaftstheoretischen Anliegen möchte ich zweitens die Erörterung zugleich als Ansatz dafür benutzen, einen wissenschaftsgeschichtli-

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

229

chen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen sich die Entwicklung der neuzeitlichen Rechtswissenschaft als Abfolge von Wissenschaftsauffassungen über das Wesen und die Entwicklung des Rechts begreifen läßt, mit dem Ziel, die innerhalb dieser Rechtsverständnisse üblichen Arbeitsmethoden zu eruieren und sie mit unseren heutigen, dogmatischen Interpretationsmethoden — ich denke vor allem an den „Kanon": a) wortgetreue Auslegung; b) logischsystematische Auslegung; c) historisch-systematische Auslegung; d) subjektivoder objektiv-teleologische Auslegung 1 — zu vergleichen. Ist dies nämlich möglich, so könnte man den Streit um das Kernproblem der Rechtsanwendung, nämlich die Festlegung der Rangordnung und des Verhältnisses der Auslegungsmethoden zueinander 2, als einen Streit zwischen verschiedenen, theoretisch eingekleideten Rechtsverständnissen interpretieren, und die häufig vertretene Auffassung, Auswahl und Gebrauch der Methoden stünden im Belieben des Rechtsanwenders, ließe sich als die Überzeugung von der Inkommensurabilität der Rechtsverständnisse begreifen (und — vielleicht — im Sinne einer fortschreitenden Steigerung überwinden). Als historisches Desiderat ergäbe sich die Aufgabe, die verschiedenen Rechtsverständnisse als Modellvorstellungen zu lokalisieren, ihre Beziehungen zu allgemeinen Geistesströmungen aufzuzeigen, die Vorteile und Mängel ihrer Arbeitsweisen bei der Lösung praktischer Aufgaben herauszuarbeiten und den Übergang zu anderen Auffassungen sichtbar zu machen. In einem kodifizierten Rechtssystem wie dem unseren, in dem Exekutive und Judikative an Gesetz und Recht gebunden sind (Art. 20 Abs. 3 GG), unterscheidet sich eine Normendiskussion zwangsläufig von der bisher in den Mittelpunkt gestellten, philosophisch-praktischen durch den strengen Bezug auf geltende Gesetze. Dialoge über Normen richten sich deshalb nicht —jedenfalls nicht im Normalfall — auf Entwurf, Formulierung und (Letzt-) Begründung von verbindlich gedachten Normen zur Deutung oder Anleitung menschlichen Handelns, sondern auf Klärung, Vervollständigung oder Korrektur bereits vorhandener, mit faktischem Geltungsanspruch auftretender, jedoch im Hinblick auf ihre Anwendung in konkreten Entscheidungssituationen unklarer, unvollständiger oder unangemessener Vorschriften. Die dabei herangezogenen, praeskriptiven Rechtsfindungsmethoden, die zu jeder gesetzlichen Regelung eines bestimmten Sachbereiches und seiner speziellen Rechtsdogmatik (i. S. eines vorgegebenen, funktionalen Regelungszusammenhangs) hinzukommen müssen, um die Gesetze als Instrumente politischer Gestaltung funktionsfähig 1 Vgl. etwa Bydlinski: Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff. Wien/New York 1982. S. 436 ff.; Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 4. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1979. S. 307 ff.; Fikentscher: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Bd. III. Tübingen 1976. S. 668 ff. 2 Vgl. Lüderitz: Auslegung von Rechtsgeschäften. Karlsruhe 1966. S. 11 ff., 16 mit Übersicht über die ältere Methodenliteratur; Kriele: Theorie der Rechtsgewinnung. 2. Aufl. Berlin 1976. S. 85 ff.; Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. aaO. S. 332 ff.

230

C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

zu machen, sind zwar selbst vom Gesetzgeber nicht mit gesetzlicher Autorität versehen worden, werden aber sowohl von der Rechtsprechung 3 als auch vom juristischen Schrifttum als verbindlich geachtet, ohne daß man sich freilich im einzelnen über den erwähnten „Kanon" einigen könnte. 2. Wortgetreue

Auslegung

Angesichts der zahllosen, teils widersprüchlichen Stellungnahmen zu den Maximen der Gesetzesauslegung und -ergänzung, sei zunächst dargelegt, was unter den vier genannten Interpretationsmethoden verstanden werden soll. Nach allgemeiner Meinung hat jede Interpretation von Texten als Trägern eines mitgeteilten Informations- und Regelungsgehaltes mit der Bedeutung der verwandten Wortzeichen zu beginnen; auch juristische Hermeneutik versucht zunächst einmal den jeweiligen Gesetzestext wortgetreu aufzubereiten und anzuwenden, d. h. den allgemeinen Sprachgebrauch der benutzten Worte und, wo das Gesetz fachsprachliche Ausdrücke verwendet, den technisch-juristischen Gebrauch zu ermitteln 4 . Die wortgetreue Auslegung gehört traditionell zum Arbeitsfeld der Logik (Grammatik, Begriffslehre, Suppositionen, Wahrheitsfunktionen usw.) 5 bzw. heute — unter dem Einfluß der modernen Sprachphilosophie — zum Arbeitsfeld der Semiotik 6. Darunter versteht man sowohl Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Wortzeichen und den Gegenständen der Realität, welche durch eben diese Zeichen bezeichnet werden, als auch Untersuchungen über die Frage, ob—und gegebenenfalls in welcher Form — die Wortzeichen eine gedankliche Vorstellung enthalten, die den Gebrauch der Wortzeichen festlegen. Dabei nennt man eine Sprache, welche den Gegenstand einer Untersuchung ausmacht, Objektsprache; eine Sprache, die man 3 Vgl. v. Savigny (Hrsg.): Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie. München 1976, mit deskriptiven Beiträgen zur Rolle der Rechtsfindungsmethoden in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. 4

Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. aaO. S. 307 ff.; Fikentscher: Methoden des Rechts. Bd. III. aaO. S. 670 ff.; Engisch: Einführung in das juristische Denken. 5. Aufl. Stuttgart/Berlin/ Köln/Mainz 1971. S. 218 Fn. 74a m. weit. Nachw.; zur Rspr.vgl. Neumann: Der mögliche Wortsinn als Auslegungsgrenze in der Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs. In: v. Savigny (Hrsg.): Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie. aaO. S. 42 ff.; Schumann: Der Wortgebrauch des Bundesgerichtshofs zur Kennzeichnung der Sittenwidrigkeit nach § 1 UWG. Diss. Göttingen 1973. 5 Vgl. etwa Hagemann: Logik und Noetik. Freiburg i. Br. 1894. S. 25 ff.; Bochénski : Die zeitgenössischen Denkmethoden. 4. Aufl. Bern/München 1969. S. 37 f.; derselbe: Formale Logik. Freiburg/München 1956. S. 53 ff., 125 ff., 175 ff.; Klaus: Moderne Logik. 4. Aufl. Berlin 1967. S. 15 f., 29 ff., 152 ff.; Weinberger: Rechtslogik. Wien/New York 1970; Klug: Juristische Logik. 4. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1982. 6 Der Ausdruck stammt von Morris: Foundations of the theory of signs. In: Intern. Encyclopedia of Unified Science. Chicago 1938. Bd. II. Nr. 2. S. 6; vgl. Menne: Einführung in die Logik. 2. Aufl. München 1973; ν. Kutscherai Breitkopf: Einführung in die moderne Logik. 3. Aufl. Freiburg/München 1974; Bochénski IMenne: Grundriß der Logistik. 4. Aufl. Paderborn 1973; Quine: Grundzüge der Logik. Frankfurt/M. 1974; Herberger j Simon; Wissenschaftstheorie für Juristen. Frankfurt/M. 1980. S. 205 ff.

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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gebraucht, um über die Objektsprache Aussagen zu machen, Metasprache 1. Die gesamten Untersuchungen einer Objektsprache werden unter dem Oberbegriff „Semiotik" zusammengefaßt; Teilgebiete der Semiotik, die selbst stets in einer Metasprache formuliert ist, sind Syntaktik, Semantik und Pragmatik 8. Während sich die „Syntaktik" mit den Regeln beschäftigt, nach denen die Zeichen eines gegebenen Zeichensystems aneinandergereiht werden dürfen, befaßt sich die „Semantik" mit der Frage des Gegenstandsbezugs der Wortzeichen (theory of reference) und/oder mit der Frage der Bedeutung der Wortzeichen (theory of meaning); „Pragmatik" dagegen widmet sich allen Faktoren und Umständen, die bei der Verwendung der Wortzeichen in kommunikativen Vorgängen eine Rolle spielen9. Für eine am Wortlaut von Gesetzestexten orientierte, juristische Auslegung stehen die Ergebnisse und Unterscheidungen der Semantik im Vordergrund, auf die ich deshalb kurz eingehen möchte. Erinnert sei dabei zunächst an die erkenntnistheoretische Einsicht 10 , daß es eine Aufgliederung der Welt in Gegenstände, denen man sodann Wörter zuordnen kann, nicht gibt; vielmehr hängt es weitgehend von der jeweils benutzten Sprache ab, was als Gegenstand aus der Mannigfaltigkeit des Realen ausgegrenzt wird. Gegenstand ist folglich — auch nach sprachanalytischer Überzeugung — alles das, wofür die jeweilige Sprache Wörter zur Verfügung stellt. In der Sprache der Analytiker ausgedrückt: Die Zuordnung eines Wortes zu einem Gegenstand heißt Prädikation 11. Prädikationen natürlicher Sprachen werden durch sich wiederholenden Gebrauch erlernt, so daß sie schließlich von jedem, der die Sprache beherrscht, mit großer Sicherheit den Gegenständen zu- oder abgesprochen werden, ohne daß er sich explizit damit auseinandersetzt, was sie bedeuten. Die unmittelbare Verständlichkeit solcher Gebrauchsprädikatoren kraft sprachlicher Konvention macht sich auch der Gesetzgeber zunutze, um von den Normadressaten verstanden zu werden; ja, selbst häufig verwandte Fachausdrücke wie Vertrag, Forderung, Eigentum, Ehe, Erbschaft, Vermächtnis, die der Jurist in seiner Ausbildung an Sachverhalten erlernt, werden meistens ohne ausdrücklichen Hinweis auf ihre Bedeutung gebraucht und verstanden. Die Erkenntnis, daß man einem allgemeinen Ausdruck eine bestimmte Anzahl von Gegenständen zuordnen kann, wird als Extension des Wortes bezeichnet. In der Terminologie der Logik besteht „die Extension eines Prädikats aus einer Klasse von Individuen, auf die das Prädikat zutrifft, d. h. aus den Individuen, die die durch das Prädikat bezeichnete Eigenschaft haben." 12 7

Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie. Bd. 1.6. Aufl. München 1973. S. 73. Vgl. Stegmüller: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. In: derselbe: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. I. Berlin/Heidelberg/New York 1974. S. 30 ff. 9 Ζ. B. den Regeln des Diskurses, vgl. oben S. 181 ff. 10 Vgl. oben S. 25ff., 216ff. 11 Vgl. Kamiah/Lorenzen: Logische Propädeutik. Mannheim/Wien/Zürich 1967. S. 27 ff. 8

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

3. Prädikation,

Extension und Intension von Ausdrücken

Für juristische Textzusammenhänge ist es wichtig zu wissen, daß nicht nur individuelle Gegenstände, sondern auch individuelle Sachverhalte extensional prädiziert werden können. Dabei ergibt sich allerdings die Besonderheit, daß der Einzelfall nicht von vornherein als Individualität vorhanden und gegen die Vielfalt anderer möglicher, relationaler Verknüpfungen der Umwelt abgegrenzt ist wie Naturobjekte: man kann zwar z.B. auf einen „Verkehrsunfall" genauso hindeuten wie auf eine Straßenlaterne, zum Individuum macht man ihn jedoch nur durch eine Beschreibung. Auslegungsschwierigkeiten ergeben sich dann, wenn Prädikatoren (Gegenstände, Eigenschaften) nicht dem eingeübten Gebrauch entsprechend mit neuer Bedeutung verwendet werden oder unklar ist, ob ein Individuum dem Wortzeichen zugeordnet werden kann oder nicht 1 3 . Prädikatoren einer wissenschaftlichen Fachsprache unterscheiden sich von Prädikatoren natürlicher Sprachen lediglich dadurch, daß sie nicht erst im Kontext der Rede eine bestimmte Bedeutung annehmen, sondern als Elemente einer „Terminologie" stets kontextunabhängig für die gleiche Verwendung vorgesehen sind. Eine wortgetreue Auslegung von Normtexten kommt deshalb in Verlegenheit, wenn technisch-juristische Ausdrücke wie etwa „Sache" vom Gesetzgeber ausdrücklich definiert werden (§ 90 BGB: Sachen im Sinne des Gesetzes sind nur körperliche Gegenstände), gleichwohl in verschiedenen Vorschriften des Gesetzes verschiedene Bedeutung annehmen. So soll etwa „Sache" im Sinne der §§119 Abs. 2, 433 BGB nicht bloß ein körperlicher, sondern jeder Gegenstand (ζ. B. auch ein Unternehmen) sein 14 . Nach § 184 Abs. 1 BGB ist eine „Genehmigung" die nachträgliche Zustimmung; die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts gem. §§ 1821, 1822 BGB wird dagegen auch dann als „Genehmigung" bezeichnet, wenn sie dem Vormund vom Gericht im voraus erteilt wird. „Vermögen" i. S. der §§ 310,311 BGB sind alle (gegenwärtigen oder zukünftigen) Aktivposten des Vertragsschuldners; „Vermögen" i. S. des § 419 BGB können dagegen auch einzelne Gegenstände sein, sofern sie im wesentlichen das gesamte Vermögen des Schuldners ausmachen15. Derartige Bedeutungsunterschiede bei gleicher Lautgestalt machen deutlich, daß sich für den Rechtsanwender bei der Ermittlung der genauen Wortbedeutung unlösbare 12

Carnap : Einführung in die symbolische Logik. 3. Aufl.Wien/New York 1968. S. 40 f. Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerwG, NJW 1957, 1163; die zu entscheidende Frage lautete: Was ist unter „seinen Kindern" im Sinne des § 230 Abs. 2 Nr. 3 L A G zu verstehen? Kann man den Prädikator nur den leiblichen Kindern des Lastenausgleichsberechtigten zuordnen, oder, wenn leibliche Kinder nicht (mehr) vorhanden sind, auch seinen Enkel-, Schwieger-, Adoptiv- oder Pflegekindern, sofern sie in den Familienkreis aufgenommen worden sind? 14 H. M . vgl. etwa RGZ 149, 235; BGH L M § 779 BGB Nr. 2; BGH BB 1963, 285; Westermann in: Münch. Kom. z. BGB. 3. Bd. 1. Halbbd. 2. Aufl. München 1988. § 433 Rdnr. 54; Weitnauer in: Erman. Hd. Kom. z. BGB. Bd. 1. 7. Aufl. Münster 1981. § 433 Rdnr. 25, 25 a. 15 Vgl. etwa Fikentscher: Schuldrecht. 7. Aufl. Berlin/New York 1985. § 59 IV. 13

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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Probleme ergäben, würde man ihm keine weiteren Hilfsmittel zur Verfügung stellen. Die extensionale Betrachtungsweise, die Aussagen über den Umfang allgemeiner Ausdrücke macht, hat für die Untersuchungen der Logik und Mathematik große Bedeutung; so sind etwa Aussagen- und Quantorenlogik rein extensionale Logiksysteme 16 . Daraus folgt, daß der Wahrheitswert komplexer Aussagen nur von dem Wahrheitswert der Teilaussagen, nicht jedoch von deren Sinn abhängt. (In den täglichen, wissenschaftlichen Diskussionen geht es ja meist nicht um einzelne Worte, sondern um Sätze und Aussagen, die behauptet und bestritten werden). Die Bedeutung der extensionalen Betrachtungsweise für die Untersuchungen der formalen Logik darf jedoch nicht — wie schon geschehen — zu der philosophischen Behauptung zugespitzt werden, nur die Prüfung extensionaler Eigenschaften sei wissenschaftlich sinnvoll. Wie ich bei der Erörterung des Begriffs der „Familienähnlichkeit" schon gezeigt habe, kann man nämlich bei jedem allgemeinen Ausdruck darüber hinaus versuchen, die Eigenschaften empirisch zu ermitteln, die einem Gegenstand zukommen müssen, damit er in die Menge der Individuen fallt, die dieser Ausdruck umgreift. Diese Art der Betrachtung von Prädikatoren nennt man intensional 11. Während also die Extension eines Ausdruckes die Gesamtheit der Individuen umfaßt, denen dieser Ausdruck als Prädikat zugeschrieben werden kann, ist die „Intension" eines Ausdruckes das, was er uns durch die Auflistung notwendiger Eigenschaften als seinen Inhalt zu erkennen gibt 1 8 . Die Unterscheidung der beiden Betrachtungsweisen sprachlicher Ausdrücke ist alt 1 9 ; ihre Wurzeln sind, was die Intension betrifft, in der aristotelischen, bezüglich der Extension, in der scholastischen Tradition zu suchen; in der Logik von „Port-Royal" ist die Gegenüberstellung von Inhalt und Umfang bereits voll ausgearbeitet 20. Leibniz unterschied demgemäß zwei Methoden zur Ableitung logischer Gesetze: Entwickle man Logik durch die Methode per notiones als Inhaltslogik, so sei der Prädikatbegriff als Teil des Subjektbegriffs anzusehen, die Gattung als Teil der Art; gründe man dagegen Logik auf die Betrachtung der Termini secundum individua (per exempla), so werde die Menge (das Aggregat) 16 Vgl. zu den Begriffen Stegmüller: Wissenschaftl. Erklärung und Begründung. In: derselbe: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. aaO. Bd. 1 S. 38 ff., 49 ff. 17 „Intension" ist deutlich von „Intention" zu trennen! Unter der „Intention" von Begriffen, Vorstellungen, Handlungen versteht man die Tatsache, daß diese etwas meinen, auf etwas gerichtet (final) sind, etwas erfassen wollen, just das, was bei der Behandlung teleologischer Fragen interessiert. 18 Ein Beispiel für die „Intension" eines Ausdrucks ist Art. 1 WG; danach muß ein Schriftstück acht einzeln aufgezählte Eigenschaften besitzen, um als ein „Wechsel" qualifiziert zu werden. 19 Vgl. Frisch: Extension and Comprehension in Logic. New York 1969; Weingartner: Wissenschaftstheorie. Bd. I I / l . Stuttgart-Bad Cannstatt 1976. S. 117 ff. 20 ArnauldjNicole: Logique ou l'art de penser. Paris 1662. Hrsg. v. Clair u. Gibrai. Paris 1965. I. chap. 6; Bochènski: Formale Logik. Freiburg/München 1956. S. 302 f.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

der unter den Subjektbegriff fallenden Individuen als Teil der Menge (des Aggregats) der unter den Prädikatbegriff fallenden Individuen verstanden, die Art also als Teil der Gattung; der Begriffsumfang sei folglich die Menge (das Aggregat) oder die Klasse der Individuen 21 . Eine intensionale Betrachtung ist nicht nur bei allgemeinen Ausdrücken, sondern auch bei Sätzen und Sachverhalten möglich; so kann man etwa das oben erwähnte Beispiel „Verkehrsunfall" durch folgende Merkmale intensional beschreiben: (1) Das Ereignis muß mit dem Straßenverkehr und seinen Gefahren in einem ursächlichen Zusammenhang stehen; (2) das Ereignis muß zur Verletzung eines Menschen oder zur Beschädigung einer Sache geführt haben 22 . Bei der Auflistung von Eigenschaften bzw. Merkmalen 23 ist auf die logische Struktur der Intension zu achten; es sind sowohl konjunktive als auch disjunktive Verknüpfungen der Merkmale möglich, ebenso Kombinationen beider Arten, ohne daß dies äußerlich immer erkennbar ist 2 4 . Die Annahme, es gebe neben der Extension (reference, denotation) von allgemeinen Ausdrücken oder Sätzen noch eine Intension (meaning, sense) als „Bedeutung" im engeren Sinne, ist in der modernen, sprachphilosophischen Grundlagendiskussion nicht unumstritten; gegen die intensionale Betrachtungsweise wird insbesondere vorgebracht, sie sei nicht klar genug, Intensionen ließen sich nicht empirisch ermitteln, sondern nur konsensuell festsetzen, man könne sie auch extensional — und damit unproblematischer — ausdrücken 25 . Die Kontroverse ist für den Bereich der juristischen Auslegungslehre von praktischer Relevanz, wie ein Blick in die Methodenliteratur zeigt; so ist ζ. Β. auch hier 21

Risse: Die Logik der Neuzeit. Stuttgart-Bad Cannstatt 1970. Bd. 2. S. 199 ff.; Kauppi: Über die Leibnizsche Logik. Helsinki 1960; derselbe: Einführung in die Theorie der Begriffssysteme. Tampere 1967. 22 Vgl. BayOblGSt. 51, 602. 23 Unter „Eigenschaft" seien die empirischen, durch Beobachtung, Messung usw. feststellbaren Qualitäten eines Gegenstandes verstanden, unter „Merkmal" dagegen Wortzeichen, die sich auf empirische Eigenschaften beziehen. 24 Ein Beispiel für eine Konjunktion ist Art. 1 WG; ein Beispiel für eine Disjunktion ist folgende Definition: „Rechtsmittel im Sinne der ZPO sind allein Berufung, Revision und Beschwerde"; vgl. etwa Gilles: Rechtsmittel im Zivilprozeß. Frankfurt/M. 1972. S. 5; das Bindewort „und" bedeutet hier „oder". 25 Vgl. Frege : Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Hrsg. Patzig. 4. Aufl. Göttingen 1975. S. 40 ff.; Jones: Russell's objections to Frege's analysis of propositions. In: Mind 19 (1910). S. 379 ff.; Wienpahl : Frege's Sinn und Bedeutung. In: Mind 59 (1950). S. 483 ff.; Bierich : Freges Lehre von dem Sinn und der Bedeutung der Urteile und Russells Kritik an dieser Lehre. Diss. Hamburg 1951; Rudner: On "Sinn" as a combination of physical properties. In: Mind 61 (1952). S. 82 ff.; Meckler : Can "Sinn" be a combination of properties? In: Mind 62 (1953). S. 248 ff.; Geach: Quine on classes and properties. In: The Philos. Rev. 62 (1953) S. 409 ff.; Thiel: Sinn und Bedeutung in der Logik G. Freges. Diss. Erlangen-Nürnberg 1965; Carnap : Meaning and Necessity. Chicago 1947. 2. Aufl. 1956. (Dtsch.: Bedeutung und Notwendigkeit. Wien/New York 1972); Stegmüller: Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik. 2. Aufl. Wien 1968; Weingartner. Wissenschaftstheorie. Bd. I I / l . Stuttgart 1976. S. 104 ff.

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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die Auffassung vertreten worden, Wörter seien als über sich hinausweisende Schriftzeichen zu begreifen, als Deutungen auf etwas, was grundsätzlich außersprachlichen Charakter habe. Nicht die Qualität eines Wortes, sondern dessen Relation auf eine Sache, d. h. einen Sach- oder Lebenszusammenhang, mache seinen Sinn aus 26 . Ein Wort sei „die auslegende Sage für eine Sache, die es be-sagt," ein Zeichen für etwas, worauf es zeigt; indem es die Sache bezeichne, bedeute es sie auch, d. h. deute auf die Sache hin. Die Substantivierung solchen Bedeutens zur „Bedeutung" sei nichts anderes als eine Art Hypostasierung, welche die Sachgerichtetheit eines Wortes, welche seinen Sinn ausmache, zu einer eigenbestimmten Qualität überhöhe. Daß Wörter in der Beziehung zu Sachen ihren Sinn ( = Bedeutung) finden, sei aufweisbar, „wogegen der Sinn als Attribut eines Wortes ein bloßes Phantom" bleibe. Definitionen und Sprachgebrauch griffen stets auf Sachen zurück, wenn sie die Bedeutung (den Sinn) eines Wortes festlegten, was notwendig Konsequenzen für den Sinnbegriff habe 27 . Die Ansicht, der Sinn ( = Bedeutung) eines Wortes bestehe in dem selbständigen Gegenstand, auf den es verweist, erinnert an das, was ich bereits über die weit zurückreichende und tief verwurzelte Vorstellung von der Bezeichnungsfunktion der Sprache gesagt habe 28 ; sie beruht auf der Beobachtung, wie Bedeutungen von Wörtern durch Wiederholungen gelernt werden 29 , und macht — metasprachlich gesehen — das Sinnlichkeitsbezügliche des Sinnbegriffs (das, was der Mensch durch seine fünf Sinne an Empirisch-Sinnlichem bemerkt) als dessen Bedeutungsgehalt geltend. Die Klassifikation der Wahrnehmungsgegenstände erfolgt auf Grund von Merkmalen und Relationen, die ihnen gemeinsam sind oder vom Sprecher/Schreiber so beurteilt werden. Welche kennzeichnenden Aspekte für die Festlegung der Bedeutung eines allgemeinen Ausdrucks vereinbarungsgemäß relevant sein sollen, setzt einen Prozeß allmählicher Abklärung voraus, in dessen Verlauf die für die Klassenbildung irrelevanten und für die Zusammenfassung von Weltausschnitten zu Objekten „bedeutungslosen" Charakteristika vernachlässigt werden (was um so leichter fallt, je mehr Anhaltspunkte für eine Ausgrenzung aus dem realen Gesamtzusammenhang vorhanden sind ); die Klassenzugehörigkeit manifestiert sich in gleichbleibenden Reaktionen auf individuelle Reizobjekte, deren relevante Aspekte durch die Verwendung von Wortzeichen als vereinbarte „Zeigehandlungsschemata" (Kamiah/Lorenzen) durch Wiederholung eingeübt werden. In dieser durch die psychologische Forschung erhärteten Erfahrung liegt unbestreitbar eine wichtige Erkenntnis und es fragt sich lediglich, ob die Bedeutung eines Ausdrucks damit wirklich erschöpft wird oder ob es nicht 26

Vgl. Hruschka: Das Verstehen von Rechtstexten. München 1972. S. 29. Hruschka aaO. S. 30, 39. 28 Vgl. oben S. 216 ff.; Kamiah/Lorenzen: Logische Propädeutik. Mannheim/Wien/Zürich 1967. § 6. S. 94f. 29 Vgl. etwa Piaget: Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde. Zürich 1955; Foppa: Lernen, Gedächtnis, Verhalten. 9. Aufl. Köln 1975. 27

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

neben der Bedeutung ( = Extension) noch einen besonderen Sinn ( = Intension) von Ausdrücken (und Sätzen) geben kann. Seit alters werden die äußeren Sinne der menschlichen „aisthesis", Wahrnehmung, Empfindung, Gefühl (sensatio, sensualitas oder sensibilitas) sowohl vom inneren Sinn (sensus interior) als auch vom Gemeinsinn (sensus communis für die communis opinio, für topos und common place, aber auch für das Gemeinwohl) unterschieden; es gibt nicht nur Sinnlichkeit, sondern auch Sensibilität, Feinsinn für das Geziemende der Sitten, moral sense, womit sich bereits sprachlich die Grenze verwischt zum zweiten Bedeutungsfeld des Sinnbegriffs, dem verständlichkeitsbezüglichen, kommunikativen. Hierher gehört (ebenfalls eine Altbedeutung des Sinnbegrififs) der „sensus scripturae", der buchstäbliche (litterale) und geistige (spirituelle) Schriftsinn hochgeschätzter Überlieferungen; bisweilen findet das Bedeutsame, Wichtige, Sinnhafte oder auch Verständliche dieser oder jener Schrift, Handlung oder realen Struktur in einer kurzen „Sentenz" ihren Ausdruck (juristisch: Urteilsspruch; theoretisch: These; literarisch: Sinnspruch; metaphorisch: Sinnbild). Der kommunikative Sinnbegriff, der die hermeneutische und phänomenologische Sinndiskussion beherrschte und heute wieder in der Soziologie eine Rolle spielt, macht deutlich, daß die Annahme einer einfachen Deckungsgleichheit von Bedeutung und Gegenstand zu kurz greift, und die Blickrichtung von der Lautgestalt auf die Bedeutung nicht dazu verführen darf, die Bedeutung als etwas Außersprachliches zu betrachten. Zwei Beispiele aus dem Rechtsbereich mögen das Problem der „Intension" noch etwas näher erläutern: Wann immer Gerichte oder Rechtspraktiker in Urteilen oder Kommentierungen die „Wegnahme einer fremden, beweglichen Sache" i. S. des 242 StGB auszulegen versuchen, verweisen sie auf konkrete Wegnahmevorgänge, bringen sie das Gemeinsame oder Ähnliche der Sachverhalte zur Sprache, grenzen sie die Wegnahme gegen andere Vorgänge, die nicht mehr darunter fallen, ab; die Bedeutung des Satzes erschöpft sich im Hinweis auf den Lebenszusammenhang „Wegnahme einer fremden, beweglichen Sache", ohne daß neben dem realen Gebilde ein besonderer Satz- oder Wortsinn erkennbar würde 30 . M i t diesem Beispiel ist freilich nur aufgezeigt, daß regelmäßig mit der Intension, d. h. der Auflistung der Eigenschaften oder Merkmale, auch die Extension gegeben ist 3 1 : Zwei Individuenbezeichnungen haben die gleiche Extension, wenn sie den gleichen Gegenstand bezeichnen, zwei Prädikatoren, wenn sie die gleiche Klasse von Objekten festlegen, zwei Sätze, wenn sie in ihrem Wahrheitswert übereinstimmen 32 . Dies gilt aber nicht umgekehrt! Betrachten wir zu diesem Zweck ein zweites Beispiel aus dem Sachenrecht 33: Die gleiche Person kann sich rechtlich zu der gleichen Sache in 30

Hruschka: Das Verstehen von Rechtstexten. aaO. S. 39. A. A. Putnam: Die Bedeutung der Bedeutung. Hrsg. v. Spohn. Frankfurt/M. 1979. S. 31 ff.; dazu: Koch/Rüßmann: Juristische Begründungslehre. München 1982. S. 145 ff. 32 Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. 3. Aufl. Stuttgart 1965. S. 420. 31

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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verschiedenen Besitzlagen befinden. Nehmen wir an, A sei Eigentümer eines Hauses, an dem Β ein Nießbrauch eingeräumt ist; mietet er nun von Β eine Wohnung in diesem Hause und vermietet er von dieser Wohnung ein Zimmer an C unter, so ist A in seiner Eigenschaft als Eigentümer (a) mittelbarer Eigenbesitzer des ganzen Hauses, in seiner Eigenschaft als Mieter (b) unmittelbarer Fremdbesitzer der Wohnung, und als Vermieter (c) mittelbarer Fremdbesitzer des untervermieteten Raumes. Die Extension der Ausdrücke mittelbarer Eigenbesitzer, unmittelbarer Fremdbesitzer und mittelbarer Fremdbesitzer ist gleich, deuten sie doch auf den gleichen Sachzusammenhang „Haus-WohnungPersonen" hin, die Intension der Ausdrücke a, b und c ist dagegen verschieden. Offensichtlich sind die Sätze a = a und a = b von unterschiedlichem Erkenntniswert; während der Satz a = a nach Kant a priori gilt und analytisch genannt wird, ist der Satz a = b als synthetischer Satz nicht (immer) apriorisch erschließbar 34. Wollte man nun in der Gleichheit der Zeichen a und b eine Beziehung zwischen dem sehen, worauf sie hindeuten, also in ihrer Referenz zur außersprachlichen Realität, so könnten die Sätze a = a und a = b nicht voneinander verschieden sein, falls a = b wahr ist, denn ihr Wahrheitswert in Bezug auf einen Gegenstand ist identisch. Es wäre nur die Beziehung einer Sache zu sich selbst ausgedrückt, nicht aber die Beziehung zu etwas anderem, und die Art der Bezeichnung (a oder b) stünde im Belieben der Zeichenbenutzer. Der Satz a = b böte keine neue Erkenntnis, ja man müßte zweifeln, ob es überhaupt erkenntniserweiternde, synthetische Sätze gibt. Eine Verschiedenheit von a = a und a = b liegt nur vor, wenn die verschiedenen Wortzeichen verschiedene Aspekte des Gegebenseins des Bezeichneten zur Sprache bringen 35 . Dies ist aber in vielen Fällen nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll: So sind beispielsweise die Ausdrücke „gesellschaftliches Bewußtsein" und „gesellschaftliches Sein" extensional identisch, denn sie beziehen sich auf ein und dieselbe Klasse von Gegenständen, nämlich gesellschaftliche Ordnungen; gleichwohl ist es zweckmäßig, intensional zwischen den Ausdrücken zu unterscheiden, denn täte man dies nicht, so entfiele der philosophisch relevante Unterschied zwischen „Idealismus" und „Materialismus", was schwerlich ein Fortschritt wäre 36 . Demnach dürfte es richtig sein, mit einem Wortzeichen, einem Prädikator oder einem Satz außer dem nichtsprachlichen Gegenstand oder Sachverhalt (der Extension oder Bedeutung) noch eine Art des Gegebenseins (Intension oder Sinn) verbunden zu denken und bei der wortgetreuen Auslegung von Texten stets in Rechnung zu stellen.

33

Nach Heck: Grundriß des Sachenrechts. Tübingen 1930 (Neudr. Aalen 1960). § 181.

S. 68. 34

Vgl. oben S. 73, 76. Frege : Über Sinn und Bedeutung. In: derselbe: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Göttingen 1966. S. 40 f. 36 Beispiel von Klaus: Moderne Logik. 4. Aufl. Berlin 1967. S. 175. 35

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

4. Die Unzulänglichkeit

sprachlicher Interpretation

Es sei aber noch einmal darauf aufmerksam gemacht, daß hinter der scheinbar unverfänglichen Erläuterung der (extensionalen und intensionalen) Bedeutung von Wörtern durch Hinweis auf selbständig existierende Gegenstände oder Gegebenheiten sprachphilosophische Gefahren lauern. Zu leicht wird nämlich in dieser Sicht des Sprachverständnisses die „Bedeutung" allgemeiner Ausdrücke mit außersprachlichen Wirklichkeitsausschnitten gleichgesetzt, auf welche dieselben hindeuten 37 . In keiner natürlichen Sprache kann indessen von einer Deckungsgleichheit zwischen der Bedeutung eines Wortes und einem außersprachlichen Gegenstand die Rede sein, vielmehr macht die Wortbedeutung zuallererst sichtbar, was überhaupt innerhalb einer Sprachgemeinschaft als Gegenstand gelten darf und wie dieser zu begreifen ist; die Sprache hat für den Menschen gedanklich-gegenstandskonstitutive Kraft 3 8 . Zwar schöpft eine Sprachgemeinschaft niemals aus dem Nichts, sondern bewegt sich in einem immer schon vorhandenen, aus jahrhundertelanger Erfahrung gespeisten Sprachfluß, doch spiegelt die Sprache keineswegs nur unabhängig vorhandene Realität wieder, sondern zieht Gegenstände und Gegebenheiten in die je verschiedene Sehweise der historischen Sprachgemeinschaft hinein, formt sie und macht so Begriff, Gliederung und Beurteilung erst möglich. Nur so ist es verständlich, warum das allen Vorgegebene in verschiedener Perspektive gesehen und ausgelegt, warum verschieden gegliedert und geistig verarbeitet wird, warum Gedankendinge schöpferisch erzeugt und trotzdem von anderen verstanden werden können, obwohl in der realen Welt kein gegenständliches Korrelat vorhanden ist, warum es endlich einen Bedeutungswandel gibt. Hier liegt auch die Ursache für die trotz aller Bemühungen um Eindeutigkeit unbefriedigenden Ergebnisse wortgetreuer Auslegung; daß sie im Rahmen der Anwendung von Rechtstexten häufig zu keinen sicheren, d. h. gut begründbaren Bestimmungen des Normsinnes gelangt, liegt keineswegs allein an der großen Zahl unbestimmter oder unzureichend bestimmter Rechtsbegriffe, sondern auch am zeitlichen Abstand zwischen Abfassung und verstehender Aufnahme der Texte, sowie an der sprachlichen Kompetenz der jeweils Anordnungen Treffenden und Verstehenden, mit Worten Vorstellungen und Anschauungen (Konnotationen) zu verbinden, die über das objektiv Feststellbare, sprachsystematisch Bedingte hinausgehen und durch den Kontext nicht mit der nötigen Sicherheit identifiziert werden können. Fassen wir zusammen: Rechtstexten und den in ihnen gebrauchten Ausdrücken kann sich ein Interpret auf zweierlei Weise in wissenschaftlichmethodischer Absicht nähern, einmal, indem er empirische Feststellungen über den eingeübten und regelmäßig befolgten Gebrauch von Ausdrücken trifft, zum anderen, indem er verschiedene Deutungen herausarbeitet, sie miteinander 37

Vgl. etwa Kochj Rüßmann: Juristische Begründungslehre. München 1982. S. 137 ff. Hèintel : Gegenstandskonstitution und sprachliches Weltbild. In: Festschr. f. L. Weisgerber. Düsseldorf 1959. S. 47 ff. 38

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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vergleicht und Vorschläge zur konventionellen Festsetzung der einen oder anderen Deutungsmöglichkeit unterbreitet 39 . Sowohl auf dem ersten als auch auf dem zweiten Weg wird unvermeidlich das Postulat der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 I I I GG) tangiert; denn selbst wenn es im Einzelfall möglich ist, auf empirischem Wege eindeutige Feststellungen über sprachliche Konventionen zu treffen, bleibt doch noch immer die Frage offen, welche Konvention gelten soll: der Sprachgebrauch zum Zeitpunkt der Gesetzesverabschiedung oder zum Zeitpunkt der Gesetzesanwendung, der Sprachgebrauch der Allgemeinheit oder einer bestimmten Gruppe als Normadressat oder der Sprachgebrauch der Juristen (von damals oder von heute)? Je größer der zeitliche Abstand zu den Verhältnissen bei Erlaß des Gesetzes wird, desto eher werden sich Differenzen ergeben, die semantische Interpretation nicht beseitigen kann. Vorschläge zur Festsetzung von Bedeutungen durch Vereinbarung setzen Maßstäbe zur Bewertung der Alternativen voraus, die jenseits logischer oder semantischer Erörterung der Extensionen und Intensionen von Ausdrücken liegen und es erforderlich machen, sich dem zuzuwenden, was der Autor des Textes mit diesem erreichen wollte, d. h. seinen „Intentionen". So entspricht zwar das Ziel wortgetreuer Auslegung, „nur den Text zum Sprechen zu bringen, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen"40, dem verfassungsrechtlichen Hintergrund, insbesondere dem Prinzip der Gewaltenteilung, demgemäß Gerichte und Verwaltung bloß ausführende Organe der gesetzgebenden Körperschaften sind, doch mit semantischen Mitteln allein ist das Ziel nicht zu erreichen. Wie weit im übrigen das Postulat der Gesetzesbindung reicht, ist in der Rechtswissenschaft selbst wieder ein kontroverses Problem, zu dem unterschiedliche, politisch-historisch motivierte Standpunkte vertreten werden 41 , und die Erörterung der Frage ethischer Rechtfertigung subjektiver, politischer Zielsetzungen, ungeachtet, ob sie nun von demokratischen Mehrheiten befürwortet werden oder nicht, dürfte gezeigt haben, daß dem BVerfG nicht widersprochen werden kann, wenn es bei der Auslegung des Art. 20 I I I G G einen engen Gesetzespositivismus ablehnt und ausführt, der Richter sei nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinnes auf den Einzelfall anzuwenden: Die Formulierung „Gesetz und Recht" in Art. 20 I I I GG halte das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig immer decken. Das Recht sei nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch; gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt könne unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitze 39

Vgl. v. Savigny: Grundkurs im wissenschaftlichen Definieren. 2. Aufl. München 1971. S. 122 ff. 40 Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. aaO. S. 299. 41 Vgl. Kriele: Theorie der Rechtsgewinnung. 2. Aufl. Berlin 1976. S. 27 ff.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

und dem geschriebenen Recht gegenüber als Korrektiv zu wirken vermöge. Dieses Recht zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, sei die Aufgabe der Rechtsprechung und diese Aufgabe und Befugnis zu „schöpferischer Rechtsfindung" sei dem Richter—jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes — nie bestritten worden 42 . Der Richter müsse lediglich einsichtig machen können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfülle; dann dürfe er die Lücke „nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" schließen43. Die in dieser Formulierung der Aufgabe enthaltenen rechtsphilosophischen Implikationen hoffe ich, im ersten Teil dieser Untersuchung besser verstehbar gemacht zu haben. 5. Eine semantische Wurzel theoretischer

Streitigkeiten

Bevor ich auf die zweite übliche Interpretationsmethode für Rechtssätze, die logisch-systematische, zu sprechen komme, möchte ich noch auf ein wissenschaftstheoretisches Problem aufmerksam machen, das die Diskussion über die Extension und Intension von Ausdrücken deutlicher hat hervortreten lassen und das für die später zu behandelnde Frage der Vergleichbarkeit von Theorien bzw. theoretischen Positionen oder Paradigmen relevant ist; ich meine die These, Intensionen seien bloße gedankliche Gebilde oder Konstruktionen, die sich im Gegensatz zu Extensionen der empirischen Analyse entziehen und folglich zu unterschiedlichen Begriffssystemen führen, zwischen denen eine wissenschaftliche Entscheidung nicht mehr möglich ist. Zur Verdeutlichung der Problematik sei folgendes Beispiel gebildet 44 : Angenommen, es gebe zu der ermittelten Extension eines Ausdruckes A drei Gegenstände Gi - G 3 mit den unterschiedlichen Eigenschaftskombinationen Ej, Ej, E3, Εφ, E 5 , E^,... E n ; E l 5 E2, Εφ, E 5 , Ey,... E n ; Ej, E2, Εφ, Es, Eg,... E n . Dann sind folgende, unterschiedliche Intensionsbestimmungen möglich: Intension l t = Merkmal M x λ M 2 (E! a E2); Intension I 2 = Merkmal M4 λ Ms (Εφ a Es); damit stehen sich zwei gleich gut begründete Hypothesen über die zu der ermittelten Extension des Ausdrucks A gehörende Intension gegenüber. Läßt sich keine Möglichkeit finden, über die Wahl zwischen den Hypothesen mit rationalen Gründen zu entscheiden, dürfte von einer Rechtfertigung der Intension des Ausdruckes A nicht gesprochen werden. Bestenfalls könnte man als Theoretiker der Praxis verschiedene Intensionsmög42

BVerfGE 34,269 ff. (286 f.) unter Hinweis auf Fischer: Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung. Karlsruhe 1971; Redeker: Legitimation und Grenzen richterlicher Rechtsetzung. In: NJW 1972,409 ff. m. w. Nachw.; BGHZ 3, 308 (315); 4,153 (158); Β AGE 1,279 (280 f.); BVerfGE 3,225 (243 f.); 13,153 (164); 18,224 (237 ff.); 25,167 (183). 43 BVerfGE 9, 338 (349). Zu den Schwierigkeiten der gesetzespositivistischen Unterscheidung zwischen strikter Bindung an den Gesetzeswortlaut einerseits und freier Rechtsfortbildung durch die Gerichte (als „Ersatzgesetzgeber") andererseits vgl. Pawlowski: Methodenlehre für Juristen. Karlsruhe 1981. S. 36 ff. 44 Vgl. Herberger ! Simon: Wissenschaftstheorie für Juristen. Frankfurt/M. 1980. S. 241.

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

241

lichkeiten zur Auswahl anbieten und eine Vereinbarung über die Verwendung anempfehlen. Es gibt nun jedoch einen Weg, die Schwierigkeit — wenigstens prinzipiell — zu beheben, nämlich indem man versucht, weitere Gegenstände in die Bedeutungsanalyse miteinzubeziehen45. Diese Gegenstände müßten allerdings außer den genannten Eigenschaften Ej λ E2 oder Εφ a Es weitere Eigenschaften besitzen, die zwar an der ermittelten Extension des Ausdruckes A nichts ändern, trotzdem aber eine Entscheidung zugunsten der einen oder anderen (oder einer dritten) Intension ermöglichen. Dabei kann das Auffinden solcher Gegenstände oder Sachverhalte praktisch sehr schwierig sein, prinzipiell unmöglich ist es jedoch nicht, so daß die These, Intensionen seien begründbar, aufrecht erhalten werden darf. Der semantische Umgang mit solchen hypothetischen Gegenständen oder Sachverhalten ähnelt sehr der Art und Weise, wie Juristen mit hypothetischen Fällen argumentieren, wenn sie den Anwendungsbereich einer Norm abgrenzen wollen, und in der Tat gehört ja das Aufsuchen und Ausarbeiten fiktiver Fälle zu den wichtigsten, juristischen Denkformen. 6. Möglichkeiten systematischer Auslegung Die logisch-systematische Auslegung ergänzt traditionell die wortgetreue Interpretation gesetzlicher Regelungen, insoweit sie den nahtlosen Übergang vom Verständnis einzelner Ausdrücke und Sätze zum Verständnis verschiedener Begriffs- und Satzzusammenhänge herstellt. Daß Wissenschaft im allgemeinen und Rechtswissenschaft im besonderen nicht bei isolierten Einzelheiten, seien sie nun gegenständlicher oder sprachlicher Natur, stehen bleiben darf, sondern nach einem nach Prinzipien geordneten, widerspruchsfreien Ganzen von Aussagen bzw. Normen streben muß, darüber besteht weitgehend Einigkeit. Unklar und streitig ist dagegen, was den Gehalt eines solchen „Systems" ausmacht, auf das sich die systematische Auslegung beziehen soll. Gehen wir von der eben besprochenen Unterscheidung zwischen extensionaler und intensionaler Bedeutung von Wortzeichen aus, so bieten sich vorderhand zwei Möglichkeiten an: Extensionale Betrachtung sprachlicher Elemente führt folgerichtig weiter zur Untersuchung der logischen Beziehungen von Wortzeichen, Begriffen 46 und Sätzen unabhängig von ihrem intensionalen Gehalt, zu den Fragen der Abstraktion, der Über- und Unterordnung durch mengentheoretische Überlegungen des „Enthaltenseins", zur Komplementarität, Koordination oder Disparität von Begriffen, zur Bestimmung des Wahrheitswertes komplexer Aussagen durch Teilaussagen, zur Stufung und deduktiven Begründung von Sätzen aus Axiomen, Prinzipien usw. Die intensionale Betrachtungsweise verweist demgegenüber auf den Bedeutungszusammenhang, in dem die 45

Vgl. Carnap : Bedeutung und Notwendigkeit. Wien/New York 1972. S. 291 ff., 298. „Begriff 4 verstanden als Abstraktion von beliebigen Lautgestalten eines (explizit bestimmten) Terminus; vgl. Kamiah/Lorenzen: Logische Propädeutik. aaO. S. 85; Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie. Bd. 1. München 1970. S. 36 ff. 46

16 Mittenzwei

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

auf ihren Wortsinn geprüften Ausdrücke vorkommen, auf den Kontext also, wobei sowohl der sprachliche als auch der gesellschaftlich reale Kontext als Ordnungs- und Auslegungszusammenhang herangezogen werden kann. Ursprünglich war, wie die hier gewählte Bezeichnung der Interpretationsmethode als „logisch-systematisch" zu erkennen gibt 47 , mit dieser Auslegung vor allem die erste Art der Betrachtung gemeint (wenn auch nicht im hier skizzierten, modernen logistischen Sinne), doch verlor sie im Laufe des vehementen Kampfes gegen die sog. „Begriffsjurisprudenz" so sehr an Ansehen, daß heute vielfach systematische Auslegung nur noch in der zweiten (bzw. in der unten genannten dritten) Betrachtungsweise erscheint und zum Teil gar die Bezeichnung als „systematisch" vermieden wird 4 8 . „System" als Gegenstand der Untersuchung ist sowohl in der einen wie in der anderen Betrachtungsweise einmal der Regelungszusammenhang einzelner Gesetze, dann derjenige aller Gesetze eines Rechtsgebietes, schließlich der ganzen Rechtsordnung, wobei freilich in den beiden letzteren Fällen wegen der Unabgeschlossenheit des Streites um den Rechtsbegriff offen ist, ob nur von einem Gesetzgeber stammendes, positives oder alles objektive Recht miteinbezogen werden darf, was selbstverständlich Konsequenzen für das jeweilige Systemverständnis hat. Eine dritte, auf der Hand liegende Möglichkeit systematischer Auslegung ergibt sich aus der „intentionalen Betrachtung" sprachlicher Ausdrücke als „Sprechhandlungen". So unterscheiden ζ. B. schon die beiden Vorkämpfer für eine „Interessenjurisprudenz", Philipp Heck und Heinrich Stoll, ohne den sprachtheoretischen Hintergrund zu kennen, zwischen „äußerem" und „innerem" System und meinten damit den Zusammenhang von Ordnungsbegriffen im Unterschied zum Zusammenhang von Interessenbegriffen (Zweckvorstellungen) 49 . Wenn man von einem juristischen System spreche, meine man die Zusammenfassung von Rechtssätzen und Rechtsbegriffen zu einem einheitlich geordneten Ganzen; Kern des Begriffs „System" sei der Ordnungsgedanke. Unter bestimmten Gesichtspunkten, nach den Grundprinzipien erfolge die Verbindung und Gegenüberstellung der Rechtssätze, die Über- und Unterord47 Ebenso: Bydlinski: Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff. Wien/New York 1982. S. 442 ff.; Fikentscher: Methoden des Rechts. Bd. 3. Tübingen 1976. S. 672 ff.; Engisch: Einführung in das juristische Denken. 5. Aufl. Berlin/Köln/Mainz 1971. S. 79; Coing : Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik. Köln/Opladen 1959. S. 9. 48 Vgl. Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. aaO. S. 311 ff.; Zippelius: Einführung in die juristische Methodenlehre. 3. Aufl. München 1980. S. 64 ff.; Koch/Rüßmann: Juristische Begründungslehre. München 1982. S. 167; Esser: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Frankfurt/M. 1970. S. 94 ff.; Canaris : Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz. Berlin 1969. S. 19 ff. 49 Vgl. Heck: Grundriß des Schuldrechts. Tübingen 1929. Anhang § 1; derselbe: Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz. Tübingen 1932. S. 52 ff., 142 ff.; Sta//:.Begriff und Konstruktion in der Lehre der lnteressenjurisprudenz. In: Festschrift f. Ph. Heck, M. Rümelin u. A. B. Schmidt. 1931. S. 60 ff.; wiederabgedr. in: lnteressenjurisprudenz. Hrsg. v. Ellscheid u. Hassemer. Darmstadt 1974. S. 153 ff., 172 ff.

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

243

nung der Begriffe. Die Vollständigkeit eines Systems bestehe in der einheitlich durchgeführten Grundanschauung; sie ermögliche dem Rechtsanwender die Vielheit der Rechtssätze und -begriffe klar zu übersehen und weise jedem neuen Rechtssatz oder Begriff seine Stelle im Gesamtbau zu 50 . In dieser Darstellungsund Lehrfunktion (modern gesprochen: in der Reduktion von Komplexität) erschöpfe sich der Wert des „äußeren Systems"; ein Erkenntniswert für die Auslegung von Rechtssätzen könne ihm nicht zuerkannt werden 51 . Denn die wissenschaftliche Begriffsbildung auf der Grundlage einer vorhandenen, positiven Rechtsordnung ziele nicht auf die Bewältigung sozialer Interessenkonflikte, sondern allein auf die Beherrschung und widerspruchsfreie Ordnung des vielfaltigen Rechtsstoffes. Demgegenüber sei das „innere System" mit Hilfe von Interessenbegriffen wie Verkehrs-, Fortbildungs- oder Stabilitätsinteresse zu bilden, mit Begriffen also, die auf Lebenszusammenhänge abstellen und diese zu Problemkomplexen formen, welche, wie etwa der Komplex „Warenverkehr", der Erforschung der Sachprobleme zu dienen geeignet seien. Wie die Rangordnung der Interessen und verfolgten Zwecke, so seien solche „inneren Systeme" allerdings instabil und zur Erfüllung der Ordnungsaufgabe nicht geeignet52. Heck sah deshalb später auch weniger die einzelnen Interessen als vielmehr die Konfliktentscheidungen als „Grundelemente" des inneren Systems an und meinte, einerseits durch Zusammenfassung von Entscheidungsgruppen bzw. Problemkomplexen, andererseits durch Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten, allmählich zu „Gruppenbegriffen" von immer höherer Allgemeinheit gelangen zu können 53 . 7. System und Wissenschaft

im Wandel

Da es hier nur darum geht, verschiedene Möglichkeiten systematischer Auslegung aufzuzeigen, sei davon abgesehen, auf die nicht sehr klaren Begriffsbildungen und Beschreibungen des „inneren Systems" durch die genannten Vertreter der älteren Interessenjurisprudenz näher einzugehen54, und das Problem teleologischer zugunsten logischer bzw. kontextueller Systembildung einstweilen zurückgestellt. Richtig war jedenfalls die Bemerkung, daß der Kern jedes Systembegriffs der Gedanke der Ordnung bzw. Organisation ist und daß die menschliche Vernunft nicht nur wegen ihrer „architektonischen Natur" 5 5 , sondern vor allem der klareren Übersicht wegen systematischer Ordnung bedarf. Neuzeitliche Wissenschaft und Systembegriff sind untrennbar 50

Stoll aaO. S. 170. Heck: Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz. aaO. S. 176 f. 52 Vgl. Stoll aaO. S. 173 f. 53 Heck aaO. S. 149 ff. 54 Kritisch Canaris : Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz. Berlin 1969. S. 35 ff. 55 Kant: Kritik der reinen Vernunft. Β 503. In: Werke. Hrsg. v. Weischedel. Bd. 4. S. 449. 51

16*

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

verbunden, und zwar sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften; soweit die ersteren sich als Rekonstruktion der Realität begreifen und bestimmte Tatsachen, Ereignisse, Strukturen oder Gegebenheiten mit Hilfe beschreibender Sätze aus universellen Axiomen, Gesetzen, Hypothesen oder Prinzipien sowie einschränkenden Bedingungen deduktiv herzuleiten versuchen, setzen sie einen korrelierenden, objektiven Zusammenhang von Dingen, Vorgängen und Sachverhalten in der Realität voraus, der sich systematisch einholen läßt. System bezeichnet hier das Folgerichtige, „das alles Wissen der Wissenschaften gliedert und bewegt, in Sicherheit bringt und mitteilt", wie auch das „Ganze eines Begründungszusammenhangs, worin die Gegenstände der Wissenschaft im Hinblick auf ihren Grund vorgestellt, d. h. begriffen werden." 56 Logisch betrachtet, ist ein System die einheitliche, nach Prinzipien durchgeführte Anordnung einer Vielfalt von Erkenntnissen zu einem Wissensganzen, zu einem in sich gegliederten Lehrgebäude, dem ein realer Gesamtzusammenhang entspricht: „Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert", sagte Hegel, „kann allein das wissenschaftliche System derselben sein" 57 . Die Methode, die auf ein solches System hinarbeitet, heißt systematische Methode; die Einordnung von Einzelheiten in einen solchen gedanklichen Zusammenhang bedeutet ihre systematische Bewertung und Interpretation 58 . Angesichts des selbstgesetzten, hohen Anspruchs stellt sich freilich sofort die Frage, ob dieser überhaupt erfüllbar ist, und in der Tat ist unter Hinweis auf die Endlichkeit der menschlichen Vernunft die Nichteinlösbarkeit desselben immer von neuem begründet worden; Wissenschaft ist systematisch nicht abschließbar. Daraus folgt nun aber nicht, daß die Vorstellung eines systematischen Ganzen, das mehr sein soll als die Summe ungezählter Einzelheiten, im Grunde verfehlt und der systematische Anspruch samt dem Erkenntniswert systematischer Einsicht in Zusammenhänge aufgegeben werden muß, wie vielfach behauptet wird. Vielmehr ist lediglich das Zugeständnis erforderlich, daß es viele Möglichkeiten zu systematischer Zusammenfassung, Gliederung und Theorienbildung gibt und systematische Interpretation immer nur immanenten Erkenntniswert hat, durch die Einordnung in andere Systementwürfe Wahrheit bzw. Richtigkeit der Stellenwertbestimmung folglich relativiert werden. Widersprüchliche Interpretationen von Tatsachen, Sachverhalten oder auch Regeln und Normen ergeben sich darum nicht nur systemimmanent, wo sie durch systematische Arbeit mit guter Aussicht auf Erfolg beseitigt werden können, sondern auch systemtranszendent, ein Ergebnis, das uns erneut auf das wissenschaftstheoretische Problem der „Kommensurabilität" von Begriffen, Theorien, Systemen oder Lebensformen verweist. 56

Heidegger: Identität und Differenz. Pfullingen 1957. S. 56. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Vorrede. In: Werke. Hrsg. v. Moldenhauer und Michel. Bd. 3. S. 14; vgl. auch aaO. S. 27. 58 Dem entsprechen weitgehend die Definitionen, die sich in der juristischen Literatur finden. Vgl. Canaris : Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz. aaO. S. 11 ff. m. weit. Nachw. 57

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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Wissenschaft bedeutet von Anbeginn an „cognitio ex principiis"; in ideengeschichtlicher Perspektive stellt sich der komplizierte Verwandlungsprozeß des klassischen Wissenschaftskonzepts der europäischen Wissenschaftsgeschichte zur modernen Wissenschaftsidee eines hypothetisch-deduktiven „Systems" von Aussagen bzw. Sätzen einerseits als ein allmählicher Ablösungsvorgang von der Philosophie, andererseits als ein Zerfallsprozeß der Systemvorstellung dar, deren treibende Kräfte nominalistische Erkenntniskritik, Auflehnung gegen theologischen Absolutismus, theoretische Neugier und ökonomisches Interesse an Naturbeherrschung gewesen sein dürften. Stichworte wie „Positivierung, Entmetaphysierung, Operationalisierung, Konditionalisierung, Hypothesierung oder abstrahierende Theoretisierung" versuchen die vielschichtigen und verschlungenen Bezüge des Bedeutungswandels namhaft zu machen 59 . Das klassische Wissenschaftsverständnis, im weiteren Sinne auf Aristoteles zurückreichend, im engeren Sinne durch Descartes , Galilei u. a. begründet und bis ins 19. Jahrhundert hinein bestimmend, läßt sich zusammenfassend auf die Formel bringen: „Wissenschaft ist ein System, d. h. nach Prinzipien der (klassischen) Logik geordnetes Ganzes allgemeiner, d. h. begründeter und wahrer Sätze über einen thematischen Bereich. Individuelle und empirische Sätze sind nicht von wissenschaftlichem Belang" 60 . Nach Descartes hat das Wissenschaftssystem in Bezug auf seinen Umfang vollständig und perfekt geordnet, in Bezug auf seinen Inhalt klar und deutlich und in Bezug auf die Begründung streng und einstimmig zu sein. Wissenschaft in ihren Anfangen ist bei Aristoteles als theoretisches Verhalten (episteme, scientia) einerseits den intellektuellen Verhaltensweisen (nous, intellectus — sophia, sapientia), welche die unmittelbare Einsicht in das höchste Wissen, in Axiome bzw. Prinzipien, gewährleisten, nachgeordnet, andererseits praktischem (phronesis, prudentia) und poietischem (techne, ars) Verhalten gegenübergestellt; der Systembegriff, obwohl im griechischen Sprachgebrauch als Allgemeinbegriff bekannt und sowohl für künstliche als auch für natürliche Gebilde im Gebrauch, hat als reflektierter Terminus in die damalige Schulphilosophie noch keine Aufnahme gefunden 61. Bereits in der stoischen Philosophie vollzieht man jedoch erste Schritte in Richtung auf eine Verknüpfung von Wissenschafts- und Systembegriff, insofern man die aus dem handwerklichkünstlerischen Bereich stammende „Techne" als ein „System von Begriffen" definiert und damit zugleich dem Systembegriff die spezifische Bedeutung von „Inbegriff" verleiht. „Techne" nimmt dadurch selbst den Sinn einer praktischen Wissenschaft an, deren Begriffe Fertigkeiten bezeichnen, die durch gemeinsame 59 Diemer: Der Wissenschaftsbegriff in historischem und systematischem Zusammenhang. In: derselbe (Hrsg.): Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Untersuchungen. Studien zur Wissenschaftstheorie. Bd. 4. Meisenheim 1970. S. 3 ff., 15. 60

Diemer: Was heißt Wissenschaft? Meisenheim 1964. S. 22. Zu den erhaltenen „Techne"-Lehrbüchern und ihrem systematischen Aufbau vgl. Fuhrmann: Das systematische Lehrbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike. Göttingen 1960. S. 11 ff., 122 ff. 61

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Übung aus der Erfahrung gewonnen und auf nützliche Zwecke im Leben gerichtet sind 62 . Als zu Beginn der Neuzeit der Techne-Begriff und, mit ihm verbunden, die Systemidee in den Wissenschaftsbegriff übernommen werden — ein Vorgang, der sich über Jahrhunderte erstreckt und erst bei Kant und Fichte seine theoretische Vollendung findet 63,— verändert sich zwar der ursprüngliche Grundgedanke — wissenschaftliche Erkenntnis ist Erkenntnis aus Prinzipien oder Grundsätzen — zunächst nicht, wohl aber die im Unterschied zwischen „Daß" und „Warum" zum Ausdruck kommende Differenz der Fragestellung zwischen scientia und sensus (aisthesis), sowie experientia (empeiria) und historia 64 . Eine am Allgemeinen und Notwendigen orientierte Wissenschaft befaßt sich nicht mit dem in Wahrnehmung, Erfahrung und Geschichtswissen gegebenen Einzelnen (und Vergänglichen), sondern mit dem Bleibenden (Ewigen): Singularum non est scientia {Duns Scotus). Wissenschaft, in demonstrativer Weise als System entfaltet, bedarf eines Prinzips, in dem Wahrheit und Gewißheit zusammenlaufen, das als Fundament des Ganzen dienen kann; im Cartesianischen System ist dieses Axiom bekanntlich die im „sum cogitans" zum Ausdruck kommende Selbstgewißheit des sich selbst bewußten Subjekts der Reflexion. Alles in sich zusammenhängende Wissen hat in dem die Identität von Denken und Sein herstellenden Bewußtsein seinen letzten Grund, der selbst einer Rechtfertigung weder bedürftig noch fähig ist, auf den aber alle Begründungen menschlichen Wissens in letzter Instanz zurückführen. Systematische Arbeit in bzw. an einem solchen Wissenschaftssystem bedeutet demgemäß Begründung und Erklärung von Aussagen über Einzelheiten des Gesamtwissens durch logische Zurückführung auf systematisch bereits eingeordnete (und damit begründete) andere Sätze. Wie dies im Detail zu geschehen hat, bleibt allerdings weitgehend ungeklärt und kontrovers, wohl auch deshalb, weil das mit der Rechtfertigung von Aussagen durch Prinzipien oder Allgemeinsätze verbundene Problem der Wahrheit noch nicht genügend durchschaut ist. Auch Descartes selbst hat den Systemgedanken als Begründungsgedanken nicht voll ausgearbeitet, sondern sich mehr um die 62

Techne umfaßt dabei nicht nur Kunstfertigkeiten wie Landwirtschaft oder Architektur, sondern auch — im heutigen Verständnis theoretische — Disziplinen wie etwa Grammatik. Vgl. Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 3. Aufl. Göttingen 1964. S. 62; Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 6. Aufl. Hildesheim 1963. 3. Teil. 1. Abt. S. 77.; v. der Stein: Der Systembegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung. In: Diemer (Hrsg.): System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation. Studien zur Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Meisenheim 1968. S. 1 f f , 4 ff. 63

Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Β 860 ff. In: Werke. Hrsg v. Weischedel. Bd. 4. S. 695 ff.; Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sog. Philosophie. 1794. § 1. In: Werke. Hrsg. v. Fichte. Bd. 1 S. 38 ff. Dazu: ν . d. Stein: Der Systembegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung. aaO. S. 12.; derselbe: System als Wissenschaftskriterium. In: Diemer (Hrsg.): Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Untersuchungen. Studien zur Wissenschaftstheorie. Bd. 4. Meisenheim 1970. S. 99 ff. 64

Vgl. Baumgartner. Wissenschaft. In: Hdb. philos. Grundbegriffe. Hrsg. v. Klings, Baumgartner u. Wild. Bd. 3. München 1974. S. 1740 ff., 1742.

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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Aufstellung eines Wahrheitskriteriums bemüht, das damals als Hauptproblem des Wahrheitsbegriffs betrachtet wurde. Im Ergebnis führen diese von Leibniz, Locke, Hume u. a. fortgesetzten Bemühungen weniger zu einer Bestimmung dessen, was man unter einer „wahren Aussage" zu verstehen hat, als zur Unterscheidung von verschiedenen Wahrheitsgraden wie „gewußt wahr", „gewiß wahr", „nachweisbar wahr", „einsichtig wahr", „intuitiv wahr" und „wahrscheinlich" (im subjektiven Sinne als Maß für die Glaubwürdigkeit). Im klassisch-systematischen Wissenschaftskonzept sind Allgemeinsätze wie der Satz vom Widerspruch oder vom ausgeschlossenen Dritten (wie schon bei Aristoteles) empirischen Sätzen übergeordnet, weil erstere in ihrer Wahrheit unabhängig von jeder empirischen Erfahrung unmittelbar auf Vernunfteinsicht beruhen, während letztere, als Einzelaussagen, stets mit der Sinnlichkeit verhaftet, nie über einen mehr oder weniger hohen Grad von Wahrscheinlichkeit hinauskommen. Die obersten Sätze der Wissenschaft, welche die Bedingungen der Wissenschaftlichkeit im höchsten Maße erfüllen, sind die — wegen der vorausgesetzten (partiellen) Identität von menschlicher und objektiver Vernunft — nicht nur ideell im Reiche der Gedanken, sondern auch real in der Wirklichkeit geltenden Sätze und Axiome der Mathematik, die damit zum Vorbild für alle anderen Wissenschaften avanciert. Diesem Vorbild gemäß steht bei der logisch-systematischen Erforschung von Zusammenhängen nicht die abstrahierende Bildung allgemeiner Sätze aus empirischen Einzelaussagen, vielmehr umgekehrt die Deduktion untergeordneter Sätze aus übergeordneten im Vordergrund. Systematische Wissenschaft im klassischen Sinne orientiert sich an den Kriterien der absoluten Sicherheit des Wissens, an der Wahrheit und Allgemeinheit der Axiome und der logischen Ableitungsevidenz der Ergebnisse65. Sie ist auf unveränderliche, bleibende Strukturen, auf unmittelbar einsichtige Axiome und Prinzipien, auf Wesensallgemeines gerichtet, das kraft Vernunft und begrifflicher Kompetenz klar und eindeutig expliziert werden kann und in dem die Wahrheit aller mit logischen Mitteln abgeleiteten Aussagen gründet 66 . Einem solchen kategorisch-deduktiven System, dessen Gültigkeit, wie gesagt, auf der unmittelbaren Evidenz letzter Vernunftprinzipien und der logischen Folgerichtigkeit deduktiver Schlußfolgerungen aus diesen Prinzipien beruht, ist als wissenschaftliche Arbeitsmethode allein die logisch-systematische gemäß. Die grundsätzliche Kritik am klassischen Wissenschaftskonzept, insbesondere von den Vertretern nominalistischer, empiristischer und individualistischer Geistesrichtungen vorangetrieben, entzündet sich am Problem der Allgemeinheit von Begriffen bzw. Sätzen und bewirkt am Ende eine Veränderung der Wissenschaftsidee selbst.67 Im Verlauf der ausufernden Diskussion des Univer65 Vgl. Diemer. Die Begründung des Wissenschaftscharakters der Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Die Wissenschaftstheorie zwischen klassischer und moderner Wissenschaftskonzeption. In: derselbe (Hrsg.): Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Studien zur Wissenschaftstheorie. Bd. 1. Meisenheim 1968. S. 3 ff., 24 ff. 66

Baumgartner. Wissenschaft. aaO. S. 1743.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

salienproblems wird man sich allmählich bewußt, daß unter den sog. „Allgemeinsätzen" recht Verschiedenes begriffen ist; einmal sind damit Sätze wie ζ. B. der Satz von der Identität oder vom Widerspruch gemeint, die als formale Prinzipien des logischen Denkens transzendentalen Charakter besitzen, zur Gewinnung materialer, wissenschaftlicher Erkenntnisse aber nicht geeignet sind. Zu dieser Kategorie zählen auch allgemeine Realsätze wie etwa der zum Kausalprinzip weiter spezifizierbare Satz von der Gesetzlichkeit natürlicher Abläufe, von dem man zwar im Sinne einer normativen Forderung oder transzendentalen Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung sprechen, nicht aber im Modus allgemeiner Bestimmung sagen kann: „Alles... ist...". Als eine weitere Form bloß scheinbar allgemeiner Sätze entpuppen sich die Explikationen von Definitionen, wie man sie vor allem in der Logik antrifft; mit Sätzen von der Art wie: „Alle Teile sind jeweils kleiner als das Ganze" oder ungekehrt werden keine allgemein gültigen Erkenntnisse mitgeteilt, die auf wissenschaftlichem Wege gewonnen wurden, sondern lediglich Begriffsbeziehungen tautologisch erläutert. So bleiben schließlich Allgemeinsätze im engeren Sinne wie: „Alle χ haben die Eigenschaft r", übrig, die von empirischen Einzelaussagen ausgehen, offen sind und das Gegebene notwendig transzendieren. Handelt es sich bei ihnen nicht um beliebig festsetzbare Definitionen, so kann, empirisch betrachtet, jeweils nur ein Objekt mit der Eigenschaft r als χ angesehen werden, was wiederum zur Folge hat, daß zwar das Objekt als „Fall von ..." bestimmt wird, eine Bewahrheitung des Allgemeinsatzes aber ausbleibt, weil der Allsatz induktiv durch noch so viele „Fälle von..." nicht zu verifizieren ist. Damit ergibt sich für die klassische Wissenschaftsauffassung eine kritische Lage: Einerseits wird prinzipiell für wissenschaftliches Wissen, insofern es sich auf Allgemeinsätze gründet, absolute Geltung in Anspruch genommen und gegenüber dem Mehr und Minder von Wahrscheinlichkeit auf Seiten bloßer Meinung und Rhetorik abgegrenzt; andererseits kann für die erfahrungswissenschaftlich wichtigste Gruppe der Allgemeinsätze gerade nicht endgültig entschieden werden, ob sie wahr sind oder nicht. Im gleichen Maße, in dem sich die Überzeugung durchsetzt, daß für Allgemeinsätze ein geringerer Grad von Wahrheit nicht ausreicht, destruiert die nominalistische Kritik an den Allgemeinbegriffen und am Begriff des Prinzips erkenntnistheoretisch die klassische Wissenschaftsauffassung. Der theoretische Grundgedanke — Wissenschaft ist Erkenntnis aus systematisch geordneten, allgemeinen und wahren Sätzen — kehrt sich um: Abgesehen von den logischen Grundsätzen, deren formale Allgemeingültigkeit unbestritten bleibt, verlieren allgemeine Sätze, die empirisch nicht bewahrheitet werden können, ihre wissenschaftliche Begründungsfunktion. Statt dessen wird (empirische) Erfahrung selbst zur Basis wissenschaftlich begründeten Wissens, scheinen doch gerade (empirische) Individualsätze die gestellte Forderung nach Verifikation erfüllen zu können. Das Fundament der Wissenschaft ist nicht länger „oben" bei den Allgemeinsätzen, aus denen systematisch deduziert werden kann, befestigt, sondern ruht nunmehr „unten" auf den empirischen 67

Vgl. zum Folgenden Diemer. Was heißt Wissenschaft? Meisenheim 1964. S. 28 ff.

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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Einzelsätzen, aus denen sich — als den „Basissätzen", wie sie jetzt genannt werden—der theoretische Überbau induktiv-hypothetisch erschließt. Weil aber der Gültigkeitscharakter allgemeiner Sätze weder durch unmittelbare Einsicht noch systematisch garantiert ist, sie vielmehr lediglich mit Wahrheitsanspruch der empirischen Verifikation unterliegen, verwandelt sich mit der Kehrtwendung des Begründungsgedankens auch die Idee der logisch-systematischen Deduktion zur Idee der „wissenschaftlichen Erklärung" des Besonderen aus hypothetischen Verallgemeinerungen, welche ihrerseits im Wege der Abstraktion aus der Erfahrung gewonnen sind. Der Systembegriff büßt für die neue Wissenschaftsauffassung seine konstitutive Bedeutung ein, denn nunmehr kann jede aus der unendlichen Mannigfaltigkeit empirischer „Tatsachen" gewonnene Menge von Individuaisätzen, sofern sie nur die Bedingung der Widerspruchsfreiheit erfüllt, als logisch geordnetes Ganzes auftreten, ohne daß ihr dadurch der hypothetische Charakter genommen würde. Folglich garantiert logischsystematische Arbeit (als Form des Ordnens) auch nicht länger die Wahrheit bzw. Richtigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse (als Gehalt der Sachen); der Ordnende, seine Ordnungsmaßstäbe und -schemata bleiben dem zu Ordnenden gegenüber, das als Ganzes systematisch nicht zu fassen ist, immer äußerlich und zufallig. So etabliert sich der moderne Wissenschaftsbegriff in formal theoretischer Perspektive als ein „konditionales, d. h. von bestimmten Rahmenbedingungen abhängiges, hypothetisch- deduktives System von Sätzen" über einen thematischen Bereich 68, dessen Ordnungsstruktur dem logischen Prinzip der Ableitung genügt und dessen Basis intersubjektiv überprüfbare Sinnesdaten, Protokollsätze und dgl. bilden. Wird für die Klasse der Basissätze gefordert, daß sie wissenschaftlich wahr sind, müssen die aus ihnen abgeleiteten theoretischen Sätze logisch gerechtfertigt sein; demgemäß beanspruchen wissenschaftliche Satzsysteme keine absolute Geltung mehr, sondern nur noch hypothetische. M i t der zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer stärker werdenden Neigung der Geisteswissenschaften, sich methodisch und wissenschaftstheoretisch an den erfolgreichen Realwissenschaften auszurichten — eine Neigung, die wir auch bei den oben genannten Vertretern der Interessenjurisprudenz konstatieren können, — verändert sich folgerichtig auch hier die wissenschaftliche Einschätzung des Systembegriffs. Systematische Arbeit wird als didaktisch notwendige, aber erkenntnistheoretisch und für die Richtigkeitsgewähr von praktischen Entscheidungen nicht hinreichende Tätigkeit betrachtet; sie reduziert sich auf die Zusammenstellung begrifflich festgelegter Klassen, die über-, unter- oder beigeordnet sind, auf die Zusammenfassung verschiedener Arten zu einer Gattung bzw. verschiedener Gattungen durch weitere Abstraktion zu noch höheren Einheiten usw. Das Hauptaugenmerk wird bei solchem Systemverständnis auf die Identifizierung bzw. genauere Bestimmung von Gegenständen oder Vorgängen und ihren Eigenschaften gerichtet, auf die Präzisierung der 68

Vgl. Diemer. Die Begründung des Wissenschaftscharakters der Wissenschaft im 19. Jahrhundert. aaO. S. 62.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Zuordnungsgesichtspunkte und die eindeutige Zuweisung der jeweiligen Gegenstände in exakt gegeneinander abgegrenzte Klassen. Die Gesamtheit der Bedingungen (Eigenschaften), die ein Gegenstand erfüllen muß, um in eine bestimmte Klasse zu fallen, stellt das dar, was wir als extensionale Definition bereits kennengelernt haben 69 ; sie legt sowohl den Umfang einer Klasse als auch die Zugehörigkeit eines Gegenstandes oder Begriffes zu dieser Klasse fest, ist jedoch ihrerseits mehr oder weniger willkürlich oder konventionell festgesetzt. Klassifizierungen sind systematisch gelungen, wenn die einzelnen, extensionalen Definitionen der Klassen so aufeinander abgestimmt sind, daß sie sich nicht überschneiden und eindeutige, widerspruchsfreie Zuordnungen ermöglichen; der systematische Zweck der Klassifizierung ist verfehlt, wenn die Einteilung der Klassen nicht verhindert, daß von der extensionalen Definition nicht intendierte Gegenstände in die Klasse fallen oder die Klassen ihre jeweiligen Klassenmitglieder nicht gegenseitig ausschließen70. Es ist den (meist positivistisch eingestellten) Gegnern eines systematischen Wissenschaftsverständnisses im allgemeinen und der sog. Begriffsjurisprudenz im besonderen ohne weiteres einzuräumen, daß ein in diesem Sinne (modern) interpretiertes (Klassen-) System zwar einen ästhetisch-architektonischen Reiz, jedoch keinen Erkenntniswert besitzt; solange sich systematisches Bemühen in der gedanklichen Einteilung und Anordnung eines vielschichtigen und unübersichtlichen Stoffes erschöpft, ohne über den dialektischen Sinn des als Ergebnis gewonnenen Ganzen nachzudenken, weil Reflexion über Ganzheit sich dem Verdacht idealistischer Spekulation aussetzt, solange wird der Zweck systematischer Arbeit ausschließlich in der besseren Vermittlung von Lehrstoff erblickt werden können. Wo nur das faktisch Überprüfbare wissenschaftliche Geltung beanspruchen darf, kann das System als der das Gegebene transzendierende Rahmen in die wissenschaftliche Prüfung nicht einbezogen werden, bleibt es ein verabredetes, konventionelles Modell, das zwar in begrenztem Maße ausbaufähig, in seiner Struktur aber starr ist, so daß jede Abänderung die Aufhebung und den Neuaufbau des ganzen Systems nach sich zieht. So nimmt es am Ende nicht wunder, wenn heute in den Einzelwissenschaften eine Vielzahl unterschiedlicher „Systeme" in Gebrauch ist, über deren Sinn und Begründungsfahigkeit man kaum noch ein Einverständnis erzielen wird, weil es letztlich für die Wissenschaftlichkeit von Untersuchungen gleichgültig erscheint, ob logisch-axiomatische, kybernetische, topische oder gar bloß serielle Systeme benutzt werden 71 ; der Systembegriff als Wissenschaftskriterium hat sich aufgelöst 72 . 69

Vgl. oben S. 231. Vgl. etwa Siebel·. System, Klassifizierung und Messung. In: Diemer (Hrsg.): System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation. Studien zur Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Meisenheim 1968. S. 120 ff., 121. 71 Vgl. Diemer. Was heißt Wissenschaft? Meisenheim 1964. S. 73 f.; derselbe: Grundriß der Philosophie. Bd. 2. Meisenheim 1964. S. 92 ff. 72 Die Konsequenz, daß „System" damit seinen Begründungscharakter verliert, scheint nicht immer deutlich gesehen zu werden; vgl. etwa Viehweg: Systemprobleme in der 70

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

8. Folgerungen für das Systemverständnis

251

im Normbereich

Welche Schlußfolgerungen lassen sich aus dieser gut begründeten, anscheinend irreversiblen Entwicklung wissenschaftlichen Selbstverständnisses für die logisch-systematische Auslegung von Normen als rechtswissenschaftlicher Interpretationsmethode ziehen? Ist sie als Begründungsverfahren konkreter Rechtsentscheidungen entbehrlich geworden? Zunächst einmal ist festzuhalten, daß der Systembegriff hier in einem verengten, am Vorbild der Mathematik bzw. Semantik orientierten Sinne behandelt wurde und die gewonnene, wissenschaftstheoretische Einsicht in erster Linie für die empirischen Wissenschaften Relevanz beansprucht, Rechtswissenschaft jedoch —jedenfalls im hier verstandenen Sinne — keine empirische Erfahrungs-, sondern eine normative Kultur- (Handlungs-) Wissenschaft ist, folglich ebenso wenig wie Ethik auf empirischen Basissätzen gründet, sondern wie letztere ihr „Fundament" in einer die reine Sinnlichkeit und Faktizität übersteigenden, vernunftgemäß erweiterten „Erfahrung" findet. Demgemäß sind für sie wie für die Ethik allgemein gültige Richtpunkte und Prinzipien als Handlungsorientierung unverzichtbar, wenngleich diese heute nicht mehr als selbstevident, der Begründung weder bedürftig noch fähig, vorausgesetzt werden dürfen, sondern durch umfassende Rekonstruktion historisch-gesellschaftlichen Wissens als gegenwärtig nicht weiter verbesserungsfahige, (vorläufig) unübersteigbare, letzte Vernunftgrundsätze gerechtfertigt werden müssen. Dabei befinden wir uns „immer schon" in einer bestimmten geschichtlichen, sprachlichen, theoretischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Lage, die zwar Ausgangspunkt und Perspektive des Denkens bestimmt, jedoch rückblickende, endgültige Einsicht prinzipiell nicht verhindert; denn im Unterschied zu den empirischen Wissenschaften, die einer Mannigfaltigkeit prinzipiell unüberschaubarer, in ihrer Totalität niemals zu begreifender, natürlicher Fakten gegenüberstehen und die deshalb den Zusammenhang der Erkenntnis nicht mehr objektiv an einer selbst zum System gefügten Welt festmachen können 73 , befaßt sich Kulturwissenschaft einschließlich Rechtswissenschaft mit den von Menschen selbst geschaffenen „Tatsachen", die zwar ebenfalls ungeheuer vielfaltig, als Gesamtheit aber endlich und als Totalität damit rückblickend prinzipiell einsehbar sind. Zum zweiten wäre es ein Irrtum zu glauben, es habe bislang jemals auf dem Gebiet irgendeiner anwendungsorientierten Einzelwissenschaft logisch-systematische Deduktionen konkreter Entscheidungen aus einem nach letzten Prinzipien geordneten Gesamtsystem begründeter Sätze gegeben; alles Wissen umfassende Gesamtsysteme waren und sind — nicht bloß in der Rechtswissenschaft — theoretisch wohl begründete Erkenntnisziele, als Realität jedoch, d. h. als Grundlage praxisorientierter, wissenschaftlicher Arbeit, niemals vorhanden Rechtsdogmatik und Rechtsforschung. In: Diemer (Hrsg.): System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation. aaO. S. 96 ff., 101 ff. 73 Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt 1968. S. 97.

252

C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

gewesen. Was es gab und was es gibt, sind Teilsysteme, die mehr oder weniger lose zusammenhängen, wie auch jedes Rechtssystem, insbesondere wenn es sorgfaltig kodifiziert ist, dogmatisierte Teilsysteme kennt, welche, solange sie unbestritten gelten, axiomatisch-deduktives Ableiten von „Rechtserkenntnissen" mit streitentscheidender Wirkung gestatten. Solche dogmatischen Teilsysteme wie beispielsweise das ausgefeilte System des Sachenrechts oder die Dogmatik der Vertragsverletzungen im Schuldrecht sind für den täglichen, unter Zeitdruck zu erfüllenden Entscheidungsbedarf der Jurisprudenz als Arbeitsentlastung unentbehrlich, weil sie Handlungen und Handlungsgefüge mit rationaler Begründung zu steuern erlauben, ohne jeweils ins Einzelne gehende Untersuchungen über alternative Möglichkeiten der Entscheidungsfindung herauszufordern. Sie sind aber als konventionelle Festsetzungen weder bezüglich der vorgenommenen Ausgliederungen noch im Ganzen zeitlos gültige Erkenntnis, können vielmehr jederzeit durch begründete Kritik in Frage gestellt und in ihrer die Praxis rechtfertigenden Wirkung relativiert oder aufgehoben werden. Gewöhnlich schlägt die Kritik an Dogmatik durch, wenn der Nachweis gelingt, daß die zur Begründung benutzten Teilsysteme unvollständig, in sich widersprüchlich oder mit anderen, besser fundierten Teilsystemen oder mit übergeordneten, unbestritten geltenden Grundsätzen unverträglich sind, oder wenn sich die rechtserheblichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse derart verändert haben, daß die bislang systematisch-deduktiv gerechtfertigten Entscheidungen dem Gerechtigkeitsprinzip, Gleiches gleich, Ungleiches aber ungleich zu behandeln, nicht mehr genügen 74 . In Richtung auf die Zukunft ist systematische Arbeit mangels „Erfahrung" (in jedem möglichen Verständnis), auf die als objektive Kontrollinstanz nirgends verzichtet werden kann, in der Tat auch im Bereich der Handlungswissenschaften unabschließbar; nur für die Vergangenheit, bezogen auf schon Erfahrenes und Bewährtes, läßt sich der Anspruch systematischer Vollständigkeit — wenigstens im Grundsatz — behaupten. In diesem Zusammenhang ist drittens zu wiederholen, daß die Hoffnung, Prinzipien zu finden, die kulturinvariant, zeitlos gültig und zugleich material gehaltvoll sind, unerfüllbar ist; entweder man formuliert unverbrüchliche, überall und jederzeit zu beachtende Vernunftgrundsätze, dann muß man auf den Bezug zur Realität verzichten, oder man fordert neben der Form auch einen Inhalt, dann erhält man zwar ebenfalls allgemeine Sätze, die man „Prinzip" nennen kann (z. B. Verschuldens-, Vertrauens-, Zurechnungsprinzip, Prinzip der Gefahrdungshaftung, der Unabhängigkeit des Richters, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung u. a. mehr), zeitlose Gültigkeit können sie aber trotz vernunftgemäßer Rechtfertigung nicht beanspruchen. Kulturinvarianz und materialer Gehalt schließen sich gegenseitig aus; nur Formen sind unwandelbar, Inhalte nicht. Daraus folgt, daß die Zahl der überall gültigen, formalen Prinzipien eng umgrenzt ist, daß sie Grundsätze des Denkens und Maximen des Handelns 74 Zum letzteren Pawlowski: Methodenlehre für Juristen. Heidelberg/Karlsruhe 1981. S. 214 ff.

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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ausdrücken, Maßstäbe der Bewertung setzen, aber keine inhaltlichen Ziele aufzeigen und auch keine Begründungen im Sinne logischen Schlußfolgerns erlauben; sie sind keine Abstraktion aus einer Vielzahl empirischer Fälle, auch keine Abstraktion aus Abstraktionen, sondern das Ergebnis epochaler Vernunftreflexion über die Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Erkennens und Handelns und nur im reflexiven Nachvollzug und Vergleich mit anderen Denkmöglichkeiten einsichtig. Beispiele solcher Prinzipien sind die logischen Sätze von der Identität, vom Widerspruch, vom ausgeschlossenen Dritten (dagegen nicht das dialektische Prinzip der Synthese aus These und Gegenthese, da es Realität einschließt), die ethischen Prinzipien der Gesetzlichkeit und Verallgemeinerbarkeit des Handelns (Vernunftprinzip) und der konfliktvermeidenden Zweckwahl (Moralprinzip), die Prinzipien wissenschaftlicher Kommunikation, die rechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung des Gleichen (der Gesetzmäßigkeit und Verallgemeinerbarkeit rechtlicher Entscheidungen) und der Zuweisung des Zustehenden (suum cuique tribuendi) etc. Prinzipien dieser Art steuern das systematische Denken, geben aber den Nimbus ihrer Endgültigkeit an die jeweiligen, notwendig inhaltlichen Systementwürfe nicht weiter; Systeme mit Erfahrungsgehalt sind immer kulturabhängig, vergänglich, veränderbar. So erweist sich von neuem, daß Wissenschaft nirgends auf einem unverbrüchlichen Fundament, sei es aus Tatsachen, sei es aus Prinzipien, ruht, vielmehr ein sich ständig veränderndes Konzept darstellt, dessen Sprachregelungen und Systemversuche stets provisorisch und durch die künftige Entwicklung überholbar bleiben. Es ist deshalb gleichermaßen verfehlt, auf die Wissenschaftlichkeit und Begründungssicherheit der logisch-systematischen Interpretationsmethode unkritisch zu vertrauen, wie sie als „unwissenschaftlich" zu verwerfen; sie behält wie die wortgetreue Auslegung durchaus ihre Berechtigung als rationaler Begründungsversuch, bedarf allerdings der Festlegung ihrer Grenzen „von außen". 9. Die historisch-systematische

Methode in der Deutung Fr. C. v. Savignys

M i t der Feststellung der historischen Bedingtheit von Systementwürfen ist die Überleitung zur dritten, klassischen Interpretationsmethode der Rechtswissenschaft, der historisch-systematischen, hergestellt. Darunter versteht man heute meist die Ermittlung der Entstehungsgeschichte von Gesetzen, insbesondere der Regelungsabsicht, der Zwecke und leitenden Wertvorstellungen des historischen Gesetzgebers 75, wobei als Erkenntnisquellen in erster Linie die Gesetzentwürfe, die Protokolle über die Beratungen, die den Entwürfen beigefügten Begründungen sowie Parlamentsberichte herangezogen werden, sofern sie Aufschluß über die politischen Auseinandersetzungen, etwaige Änderungsvorschläge und zustandegekommene Kompromisse geben. Obwohl diese Forschungsarbeit unbestreitbar historischen Charakter hat und heute im Vordergrund steht, möchte 75 Vgl. Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. aaO. S. 315 ff.; Bydlinski: Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff. aaO. S. 449 ff.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

ich sie gleichwohl aus wissenschaftstheoretischen Gründen nicht hier, sondern bei der vierten Auslegungsweise, der teleologischen, mitbehandeln und unter der historisch-systematischen Methode geschichtliche Forschung (Quellenermittlung, -Sicherung und -interpretation) im weitesten Sinne verstehen, wie sie von der Geschichtswissenschaft gemeinsam mit anderen Fachwissenschaften, soweit diese ihre eigene Geschichte reflektieren, betrieben wird. In diesem Verständnis ist die historisch-systematische Methode die Summe umfangreicher Bemühungen, die wissenschaftlich als unbefriedigend empfundenen, rationalistischen Systemvorstellungen zu überwinden. Daraus folgt bereits, daß der Begriff „System" im vorliegenden Zusammenhang eine andere Bedeutung angenommen hat. Friedrich Carl v. Savigny, auf den die Unterscheidung der Methoden rechtswissenschaftlicher Arbeit zurückgeht, bezeichnete 1802, offensichtlich unter dem Eindruck der kantischen Schriften stehend, die Rechtswissenschaft (er nennt sie hier noch „Gesetzgebungswissenschaft") sowohl historisch als auch philosophisch (im Sinne von systematisch); beides sei zu vereinen, Rechtswissenschaft müsse „vollständig historisch und philosophisch zugleich sein" 76 . Allerdings unterscheidet er die philosophische Rechtslehre (das Naturrecht) von der positiven, systematischen Rechtswissenschaft, was deutlich macht, daß er den Begriff „System" offenbar schon damals nicht mehr deduktiv, sondern der oben geschilderten Umkehrung der Wissenschaftsbasis gemäß induktiv gebraucht. Eindeutigen Ausdruck findet dieser Bedeutungswandel des Systembegriffs in seiner berühmten Schrift „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" (1814): „... Ein zweyfacher Sinn ist dem Juristen unentbehrlich: der historische, um das eigentümliche jedes Zeitalters und jeder Rechtsform scharf aufzufassen, und der systematische, um jeden Begriff und jeden Satz in lebendiger Verbindung und Wechselwirkung mit dem Ganzen anzusehen, d. h. in dem Verhältnis, welches das allein wahre und natürliche ist..." 7 7 Allgemeine Begriffe und Sätze ohne Quellenanschauung, wodurch alles erst wahres Leben erhalte, ohne kritische Prüfung und ohne Anwendung seien bloß dem Namen und der äußeren Form nach Wissenschaft 78 . Geschichtlicher Sinn biete den einzigen Schutz gegen die subjektive, in einzelnen Menschen wie in ganzen Völkern und Zeitaltern sich immer wiederholende Selbsttäuschung, dasjenige, was uns gegenwärtig eigen sei, für objektiv und allgemein menschlich schlechthin zu halten 79 . So habe man ehemals aus den Institutionen Justinians mit Weglassung einiger hervorstehender Eigentümlichkeiten ein Naturrecht konstruiert, das man für den unmittelbaren Ausspruch der 76 Vgl. v. Savigny : Juristische Methodenlehre. Nach der Kollegschrift von Grimm. Hrsg. v. Wesenberg. Stuttgart 1951; dazu Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. aaO. S. 11 ff. 77 ν . Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Heidelberg 1814. In: Hattenhauer (Hrsg.): Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften. München 1973. S. 125. 78 v. Savigny aaO. S. 170. 79 v. Goethe läßt „Faust" sagen: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln." (V, 577 — 579).

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

255

Vernunft gehalten habe; wer sich nämlich des individuellen Zusammenhanges mit dem großen Ganzen der Welt und ihrer Geschichte nicht immer bewußt sei, erblicke unausweichlich seine subjektiven Gedanken im falschen Lichte der Allgemeinheit und Ursprünglichkeit; den geschichtlichen Sinn gegen sich selbst zu kehren (sich individuell und bar aller Vernunftwahrheit zu begreifen), sei dessen schwerste Anwendung 80 . Nur die Bewahrung vor der Einseitigkeit der Gegenwart, ein zu frischer, lebendiger Anschauung gebrachter, historischer Stoff 81 und die Herausarbeitung des organischen Zusammenhangs des Rechts mit dem Wesen und Charakter eines geschichtlichen Volkes, seinem allmählichen Heranwachsen und Absterben 82 , führe zu „wahren Erfahrungen" einer des Ganzen inne gewordenen Wissenschaft, von denen (langfristig) eine Annäherung zwischen Theorie und Praxis, sowie eine Verbesserung der Rechtspflege erwartet werden könne 8 3 . Ein Menschenalter später faßt v. Savigny seine Überzeugung noch einmal zusammen: „... Indessen entsteht durch die dem Stoff gegebene, wissenschaftliche Form, welche seine innewohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden strebt, ein neues organisches Leben, welches bildend auf den Stoff selbst zurück wirkt, so daß auch aus der Wissenschaft als solcher eine neue Art der Rechtserzeugung unaufhaltsam hervorgeht ,.." 8 4 Nicht ohne sogleich auf die Gefahr aufmerksam zu machen, daß die wissenschaftlich erarbeiteten, den systematischen Zusammenhang herstellenden, „allgemeinen Formeln", statt als Versuche, „das Recht aufzufassen, und seinen Inhalt zu concentrieren", falschlich „als Grundlage desselben betrachtet werden" könnten 85 . Die schöpferische Verbindung von Geschichte und System, wie sie sich hier in einer auf organisches Leben bezogenen Metaphorik ausdrückt, gleichermaßen die in Analogie zu menschlichen Individuen gebildete Vorstellung vom „Wachsen und Absterben eines Volkes" samt des ihm eigentümlichen Rechts, aber auch die häufige Betonung der lebendigen Vergegenwärtigung des Vergangenen, der Anschauung und Wahrnehmung des Individuellen, sind Kennzeichen einer neuen, nicht auf den Bereich der Rechtswissenschaft beschränkten, Denktradition, welche sich um die Wende des 19. Jahrhunderts sowohl in Opposition zum oben skizzierten, klassischen Wissenschaftskonzept als auch, nach Hegels Tod, in Abkehr von dessen Geschichtsphilosophie herausgebildet hat und die heute unter dem Namen „Historische Schule" oder — meist abwertend — „Historismus" zusammengefaßt wird. 8 6 Die Emanzipation vom Rationalismus der 80

v. Savigny aaO. S. 164, 165. v. Savigny aaO. S. 125, 165. 82 v. Savigny aaO. S. 103, 104. 83 v. Savigny aaO. S. 171 ff. 84 v. Savigny: System des heutigen Römischen Rechts. Bd. 1. Berlin 1840. S. 46 f. 85 v. Savigny aaO. S. 47. 86 Vgl. zum Ganzen Meinecke: Die Entstehung des Historismus. 2 Bde. München/Berlin 1936; Rothacker. Einleitung in die Geisteswissenschaften. 1919. 2. Aufl. Darmstadt 1972; Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. 81

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Aufklärungsphilosophie und den Vernunftrechtssystemen des 17. und 18. Jahrhunderts sowie den (ebenfalls mehr begrifflich-systematischen) Vorstellungen des Idealismus Kants und Hegels im Namen von Geschichte und Wissenschaft läßt sich in den Schlagworten zusammenfassen: „Wissenschaft statt philosophisches System!" und „Geschichtswissenschaft statt Geschichtsphilosophie!" 87 Ihr liegt ein tiefgreifender, im Zusammenhang mit der systematischen Methode schon erwähnter Wandel im Wissenschaftsverständnis zugrunde, der den Widerstand gegen rationalistische Systemvorstellungen und idealistische Geschichtsphilosophie gleichermaßen möglich macht, wenn auch die ausdrückliche Abwendung vom idealistischen Wissenschaftskonzept zeitlich erst viel später erfolgt. Die Abwehr apriorisch begründeter Systemkonstruktionen, in welche geschichtliche Sachverhalte nur nachträglich eingeordnet werden und durch die man Geschichte zu einer bloßen „Beispielssammlung" (υ. Savigny) herabsetzt, erfolgt im Namen der Anschauung und des Verstehens des historisch Einzelnen in seiner jeweiligen Individualität. Systematisches Denken wird nicht etwa verworfen, sondern ganz im Gegenteil ausdrücklich gefordert, allerdings im veränderten Sinn des Herstellens von Zusammenhängen, lassen sich doch geschichtliche Einzelheiten nur „anschauen" und „verstehen", indem man zeigt, wie sie sich entwickelt haben. Systematische Beziehungen sollen zwischen den geschichtlichen Fakten von selbst hervorgehen, vom historisch geschulten Sinn des Wissenschaftlers lediglich richtig aufgefaßt und sprachlich fixiert, nicht jedoch als etwas schon Feststehendes im voraus unterstellt werden. Die Arbeitsweise dieser Denktradition, von der die Geschichte gleichsam zum alleinigen Prinzip erhoben wird, hat v. Savigny 1814 ebenfalls schon wegweisend beschrieben: „Die strenge historische Methode der Rechtswissenschaft" gehe dahin, „jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen, und so sein organisches Prinzip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon abgestorben ist, und nur noch der Geschichte angehört..." 88 Die in der Formulierung angedeutete Vorstellung, daß „etwas verstehen" das gleiche sei wie „verstehen, wie etwas geworden ist", indem man es „bis zur Wurzel" zurückverfolgt, kann als methodologische Prämisse der Historischen Schule überhaupt bezeichnet werden, wenngleich sie von Anfang an streitig gewesen ist 8 9 . Vorbild für die historische Methode, besonders im Hinblick auf die Rechtswissenschaft, ist für v. Savigny die Arbeitsweise der klassischen, römischen Juristen, welche die Begriffe und Sätze Freiburg/München 1974; derselbe: Philosophie in Deutschland 1831 -1933. Frankfurt/M. 1983. 87 Vgl. Schnädelbach: Philosophie in Deutschi. aaO. S. 49. 88 v. Savigny : Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. aaO. S. 166. 89 Zur Kontroverse zwischen v. Savigny und v. Feuerbach, der in seiner Schrift „Philosophie und Empirie" (1804) den Unterschied zwischen beiden Weisen des Verstehens betonte, vgl. Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften. 1919. 2. Aufl. Darmstadt 1972. S. 48.

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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ihrer Wissenschaft nicht durch Willkür hervorgebracht, sondern als „wirkliche Wesen" betrachtet hätten, deren Dasein und Genealogie ihnen durch lange vertrauten Umgang bekannt geworden sei. Darum eben habe ihr ganzes Verfahren eine Sicherheit gewonnen, wie sie sich ansonsten außerhalb der Mathematik nicht finde, und man könne ohne Übertreibung sagen, daß die römischen Juristen mit „ihren Begriffen rechneten". Die Methode sei auch keineswegs das ausschließliche Eigentum weniger großer Schriftsteller, sondern das gemeinsame Gut aller gewesen. Wie tief bei ihnen die Gemeinschaft des wissenschaftlichen Besitzes gegründet sei, könne man daraus entnehmen, daß sie auf die äußeren Mittel der Wissenschaftsgemeinschaft keinen besonderen Wert legten; trotz größtenteils unvollkommener Definitionen, also geringer logischer Bildung, hätte die begriffliche Schärfe und Sicherheit ihrer trefflichen Kunstsprache — gerade weil sie kein willkürliches Mittel gewesen sei — nicht im geringsten darunter gelitten 90 . Es gelte, die alten Juristen wieder zu studieren, sich „in sie hineinzulesen und -zudenken, wie in andere mit Sinn gelesene Schriftsteller", ihre Arbeitsweise zu erlernen und dahin zu kommen, „in ihrer Art und von ihrem Standpunkt aus selbst zu erfinden und so ihre unterbrochene Arbeit im gewissen Sinne fortzusetzen" 91 . Erste Bedingung dafür sei freilich eine gründliche Rechtsgeschichte und, was aus dieser folge, die völlige Gewöhnung, jeden Begriff und jeden Satz sogleich von seinem geschichtlichen Standpunkt aus zu sehen; wer in den Quellen des Römischen Rechts wirklich heimisch geworden sei, den werde das Studium der neueren juristischen Literatur, vom Mittelalter bis in die Gegenwart, kaum mehr beirren, vielmehr nur noch in seinen Ansichten vervollständigen können 92 . 10. Historische contra rationalistische

Aufklärung

und ihr Dilemma

Während die rationalistische Aufklärungsphilosophie, auf eine Kurzform gebracht, ihr normatives (darum auch sinngebendes) Fundament in der unwandelbaren, menschlichen Vernunft als oberstem Maßstab besitzt und folglich alles Menschliche durch (im wesentlichen) überzeitliche Vernunftprinzipien bedingt und bestimmt ansieht, insistiert die Historische Schule demgegenüber auf dem Gewordensein aller kulturellen Phänomene, welche als historische aufzuspüren, zu verstehen und zu erklären sie als vorrangige Aufgabe geltend macht. Im idealistisch geschärften Bewußtsein des Unterschiedes zwischen geistigen und physischen Phänomenen grenzt sie sich im gleichen Zuge selbstbewußt gegen die aufblühende Naturwissenschaft ab, dem wissenschaftlichen Gegenstand „Natur" den wissenschaftlichen Gegenstand „Kultur" entgegenstellend und auf diese Weise die Basis für das schaffend, was später als die „Geisteswissenschaften" bezeichnet werden wird 9 3 ; letztere sind in ihrer Früh90

». Savigny aaO. S. 114. v. Savigny aaO. S. 167. 92 v. Savigny aaO. S. 168. 93 Vgl. zum Gesamtvorgang Rothacker: Einleitung in die Geisteswissenschaften. 1919. 2. Aufl. Darmstadt 1972. 91

17 Mittenzwei

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

phase Disziplinen, die sich im Wege der historischen Methode mit eben dem gleichen Thema befassen, das bis zu diesem Zeitpunkt als „Philosophie des Geistes" Gegenstand des objektiven Idealismus gewesen ist, nur daß an die Stelle der Lehren vom subjektiven, objektiven und absoluten Geist von nun an die Lehren der verstehenden Psychologie, der historischen Anthropologie und der Geschichtswissenschaft treten, einschließlich ihrer Auffacherung in Rechts-, Kunst-, Religions-, Philosophie- und Sozialgeschichte. Historische Schule als Durchsetzung des historischen Denkens in allen kulturellen Arbeitsgebieten mit dem normativen Anspruch, über Selbst- und Welterkenntnis zum Bewußtsein der Menschheit und ihrer sinngebenden Selbstgewißheit vorzustoßen 94 , ist wie das systemorientierte Vernunftdenken ein Wissenschaftskonzept, an dem alle wichtigen, geistigen Strömungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilhaben, einschließlich Hegel, der Junghegelianer und Karl Marx — und zwar trotz ihrer Kritik an der Romantik und am entstehenden Historismus 95 . Es ist eine Aufklärungsbewegung, die rationale Aufklärung über die unhistorischen Entwicklungs- und Modellvorstellungen der rationalistischen Aufklärung praktiziert und energisch die Historisierung der Geschichte und des Menschen betreibt, indem sie allgemeine Wesensbestimmungen oder Versuche, Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln, zugunsten des „Prinzips der Individualität" und der individuellen Entwicklung zurückdrängt. Normatives Fundament des Denkens und Handelns soll die „Geschichte" sein, von der man erwartet, daß sie das leisten wird, was man zu leisten der „abstrakten" Vernunft nicht länger zutraut, nämlich ein organisch gewachsenes „Ganzes" zu schaffen, dessen „klares, lebendiges Bewußtsein" dem Geschichtswissenschaftler die Einordnung individueller Fälle — und d. h. „wahre Erfahrungen" — ermöglicht 96 . Demgemäß wollen etwa die Anhänger der Historischen Rechtsschule nicht bloß rechtshistorische Zusammenhänge erhellen, sondern beanspruchen, das angemessene, richtige und darum verbindliche Recht mit wissenschaftlichen Mitteln ausfindig machen zu können. Die Zumutung an die Geschichte, objektiv-normativ, sinngebend zu wirken, verdeckt anfangs sogar den Bruch, der sich aus dem Übergang von der praktischen und politischen Philosophie zur Geschichtswissenschaft und historisch orientierten Soziologie, von der normativen Ästhetik zur Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte, von der theoretischen Philosophie zur Geschichte philosophischer Theorien ergibt. Das Resultat der historischen Aufklärung, die, wie gesagt, nicht einfach Gegenaufklärung, sondern Kritik an einem Wissenschaftskonzept ist, stellt am 94

Vgl. etwa Droysen: Grundriß der Historik. Hrsg. v. Hübner. Darmstadt 1974. § 82 S. 357: „Ethik und Historik sind gleichsam Koordinaten. Denn die Geschichte gibt die Genesis des ,Postulats der praktischen Vernunft', das der ,reinen Vernunft 4 unauffindbar blieb." Er formuliert damit einen geschichtsphilosophischen Grundsatz der Historischen Schule insgesamt, der das moralische und politische Engagement rechtfertigt. 95 Ebenso Schnädelbach: Philosophie in Deutschland. 1831 -1933. Frankfurt/M. 1983. S. 53 unter Berufung auf Meinecke. 96 Vgl. v. Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. aaO. S. 172.

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Ende ein historisches Bewußtsein dar, das als historisch ausgebildet sich zugleich selbst als etwas Historisches begreift und — relativiert. Indem es sich als Bewußtsein des Historischen und als Reflexion, d. h. als Bewußtsein seiner selbst als historisches Produkt, in den unabgeschlossenen Gesamtprozeß der Geschichte bereitwillig und konsequent einschließt, obwohl es nicht länger sicher sein kann, daß sein jeweiliger, historisch bedingter Kenntnisstand und sein jeweiliges, wissenschaftliches Erklärungs- oder Verstehenspotential dem Prozeß als Ganzem angemessen sind, entsteht allmählich ein skeptischer, zum Relativismus als Lebensform neigender, resignativer Zug des Denkens, der einen neuerlichen Umbruch herausfordert. Es fallt heute rückblickend nicht mehr schwer zu erkennen, daß aus dem wissenschaftlichen Umgang mit der Geschichte menschlicher Kultur keine normativen Ansprüche hergeleitet werden können; die wissenschaftliche Ermittlung und Aufbereitung historischer Fakten und Zusammenhänge gestattet es, um der wissenschaftlichen Objektivität willen, lediglich, ihr Vorhandensein zu konstatieren; normative Orientierungen für die Zukunft sind daraus, ohne Zuhilfenahme anderer Mittel, kaum zu erwarten 97 . Feststellungen darüber, ob eine individuelle Begebenheit sich so oder anders verhält, warum der in Rede stehende Sachverhalt so und nicht anders geworden ist, ob auf einen gegebenen Sachverhalt regelmäßig, mit großer oder geringer Wahrscheinlichkeit ein anderer Sachverhalt folgt, werden die Frage, was in einer konkreten Situation zu tun ist, gewiß beeinflussen, aber die Richtung der Entscheidung legen sie keineswegs objektiv fest. Darum weist uns das anschauliche Bild vom „organischen Wachstum" der rechtlichen Begriffe und Sätze, abgesehen davon, daß es sich mangels Analysierbarkeit zum Aufbau eines Systems nicht eignet, durchaus in die falsche (biologische) Richtung, denn anders als in der Natur, wo Entwicklungsvorgänge, wenn sie „normal" verlaufen, auch zum wahren (und zugleich richtigen!) Ende führen, sind Entwicklungstendenzen im Kultur- und Rechtsbereich, nur weil sie vorhanden (wahr) sind, keineswegs schon als „richtig" und künftige Entscheidungen bestimmend gerechtfertigt; nur anhand eines übergeordneten Beurteilungsrahmens, der selbst nicht historisch begründet werden kann, läßt sich sagen, welche der dingfest gemachten Tendenzen Fehlentwicklungen und welche „organisch" sind, d. h. einen Fortschritt in Richtung auf ein als richtig erkanntes Ziel bringen. Selbst die aus dem Umkreis der klassischen Philologie stammende These, die Objektivität des historischen Wissens beruhe wesentlich auf der Wissenschaftlichkeit des Wissenserwerbs, d. h. auf der Methode der Quellensicherung und Quellenkritik, enthält trotz der strikten Ausrichtung auf das faktisch Vorhandene gewisse Gefahren, durch die sich schon Hegel veranlaßt sah, der entstehenden Praxis der Historischen Schule „Subjektivismus" vorzuwerfen 98 . Denn ebensowenig wie unreflektierte „Ver97 Vgl. etwa Weber. Der Sinn der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: derselbe: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3. Aufl. Tübingen 1968. S. 489 ff., 508 ff. 98

17*

Vgl. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland. 1831-1933. aaO. S. 63.

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nunft" kann „geschichtlicher Sinn" allein hinreichenden Schutz vor der Selbsttäuschung gewähren, die eigene Einbildungskraft und den eigenen, konstruktiven Scharfsinn bezüglich angeschauter Zusammenhänge für objektiv, in der Natur der Sachen liegend, zu betrachten. So kann schließlich auch die historisch-systematische Methode heute nicht mehr den Anspruch erheben, die Begründung juristischer Entscheidungen wissenschaftlich zu sichern, wenngleich sie bei Streitfragen zur Ermittlung der empirischen Entscheidungsgrundlage unentbehrlich bleibt". Was aus den sorgfaltig getroffenen Feststellungen des Historikers über die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse einer Epoche, oder speziell einer Kodifikationszeit, über damalige Konfliktlagen, über Regelungsabsichten und Wertvorstellungen des „historischen Gesetzgebers", die erwarteten Wirkungen, zu beobachtende Entwicklungstendenzen u. a. mehr am Ende für Schlußfolgerungen zu ziehen sind, liegt, selbst wenn es keinen Zweifel an den Fakten gibt, jenseits dessen, was historische Methode an idiographischer Entscheidungshilfe bereitzustellen vermag. Wenn sie sich gleichwohl nicht nur als eine auf das Einzelne und Eigentümliche gerichtete, empirisch-beschreibende, sondern ebenso als normative Methode ihr Ansehen bewahrt hat, so liegt das an dem Umstand, daß heute fast alle Lebensbereiche durch verfassungsmäßig zustande gekommene Gesetze geregelt sind und Rechtsentscheidungen auf Grund von Normen erfolgen, an deren Inhalt Exekutive und Judikative gebunden sind; die empirische Feststellung des Regelungsgehaltes scheint deshalb kraft der verfassungsmäßig verankerten Gesetzesbindung unmittelbar in eine normative Entscheidungsanweisung umzuschlagen. Ich nenne diese Interpretation hier subjektiv-teleologisch, weil sie aus den Entstehungsbedingungen des auslegungsbedürftigen Gesetzes, insbesondere aber aus den vom historischen Gesetzgeber verfolgten Zwecken, den maßgeblichen Sinn des Textes erschließt 100 . 99 Das bislang nicht angesprochene, wiewohl in den Rahmen des Historismus gehörende Wissenschaftskonzept der „Hermeneutik", das sich im Anschluß an die Arbeiten Schleiermachers als universale Lehre des Verstehens und Auslegens etablierte, sei hier einstweilen zurückgestellt, zumal es die dogmatische Voraussetzung des maßgeblichen Textes, unter der sowohl die theologische, die klassisch-philologische als auch die juristische Hermeneutik als Kunst der Vermittlung mit normativem Anspruch (d.h. mitteilend und Gehorsam fordernd) seit alters stand, nicht (mehr) kennt. Vgl. hierzu Gadamer. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 3. Aufl. Tübingen 1972. S. 162 ff., 250 ff. 100 Infolge der wachsenden, historischen und wissenschaftstheoretischen Verunsicherung hat die auf den empirischen Willen des historischen Gesetzgebers und seine politischen Zweckvorstellungen gerichtete, subjektiv-teleologische Auslegung — Ziel und Weg zugleich bestimmend — in den letzten Jahren viele, neue Anhänger gefunden; vgl. etwa Rüthers: Unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus. Tübingen 1968. S. 181 f.; Naucke: Der Nutzen der subjektiven Auslegung im Strafrecht. In: Festschr. f. K . Engisch. Frankfurt/M. 1969. S. 274 ff.; Engisch: Einführung in das juristische Denken. 5. Aufl. Berlin/Köln/Mainz 1971. S. 91 ff.; derselbe: Die Einheit der Rechtsordnung. Heidelberg 1935. S. 89 f.; Säcker: Die Konkretisierung vager Rechtssätze durch Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. In:

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

11. Für und wider die subjektiv-teleologische

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Auslegung

Aus der umfangreichen, das Für und Wider erörternden Literatur verdienen folgende Argumente vorrangig unsere Aufmerksamkeit: Die disparate Anforderung an alle juristischen Entscheidungsinstanzen, einerseits gesetzestreu, andererseits gerecht zu entscheiden, könne zu einem befriedigenden Ausgleich nur gebracht werden, wenn man im Hinblick auf die herzustellende, gerechte Lebensordnung die vom Gesetzgeber getroffene Auswahl an materialen Zwecken (als Mittel zur Verwirklichung derselben) und Werten (als Rangbestimmung zwischen verschiedenen Zwecken) uneingeschränkt anerkenne und als (die formalen, ethischen Prinzipien konkretisierende) Handlungsanweisungen allen Entscheidungen zugrunde lege. Im demokratischen Verfassungsstaat sei allein der Gesetzgeber durch das Mehrheitsprinzip ausreichend legitimiert, den Wertungsrahmen zu bestimmen, materiale Ziele zu setzen, Entwicklungen einzuleiten oder abzubrechen, wirtschaftliche und soziale Prozesse in bestimmte Richtungen zu steuern. Dies werde ihm erheblich erschwert, wenn er das Recht nicht als technisches Instrument einer rational vorausplanenden und gestaltenden Politik oder zur Schlichtung gesellschaftlicher Konflikte und Interessenwidersprüche frei verfügbar einsetzen könne, weil ausführende Instanzen durch den Versuch, einer höheren Gerechtigkeit zu dienen, die Effektivität der technischen Umsetzung beeinträchtigten. Nur durch die verbindliche Festlegung auf den empirisch erkennbaren, gesetzgeberischen Willen werde gesichert, daß verfassungsmäßig zustandegekommene Gesetze von den staatlichen Behörden auch tatsächlich zur Geltung gebracht würden, daß die beabsichtigte Wirkung der Normen, wie sie sich aus der Zielbestimmung und der Menge aller verfügbaren Informationen ergebe, mit dem Anspruch des Rechtsanwenders, wissenschaftlich, d. h. entscheidungstheoretisch, rational zu handeln, realisiert werde 101 . Darüber hinaus würden die Gerichte, die seit jeher in dem Verdacht stünden, eigenen, subjektiven Wertungen den Vorzug zu geben, endlich gezwungen, bei der Begründung der von ihnen praktizierten Gesetzesanwendung ihre wahren Motive offen zu legen. Selbstverständlich werde nicht verkannt, daß in einer rasch fortschreitenden Gesellschaft Rechtsfortbildung heute unentbehrlich sei; auch der bestinformierte, erfahrungswissenschaftlich beratene Gesetzgeber 102 könne nicht voraussehen, welche Entwicklung die Lebensverhältnisse in ARSPh. 1972. 215 ff.; Rödig: Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens. Berlin/Heidelberg 1973. S. 279 ff.; Röhl: Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung. Tübingen 1974. S. 296 ff.; Kilian: Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung. Darmstadt 1974. S. 97 f.; Köbl: Aspekte der Gesetzesbindung. In: Sozialrechtsprechung. Festschr. für das Bundessozialgericht. Bd. 2. Köln/Bonn/München 1979. S. 1005ff.; Koch/Rüßmann: Juristische Begründungslehre. München 1982. S. 180 ff. u. a. 101 Zu den immanenten Problemen der Entscheidungstheorie vgl. oben S. 109 ff. 102 Zu den Fragen der Wissenschaftsberatung der Legislative vgl. Beutel: Experimental Jurisprudence and the Scienstate. Hrsg. v. Rehbinder und Rebe. Bielefeld 1975; dazu meine Bespr. RdA 1975, 257.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Zukunft nähmen und ob die von ihm getroffenen Konfliktregelungen oder angestrebten Ziele überhaupt bzw. auf dem eingeschlagenen Wege praktisch verwirklicht werden könnten. Entscheidend sei aber, daß nur durch den Zwang, sich offen mit den empirisch festgestellten, möglicherweise inzwischen überholten Rechtsvorstellungen des historischen Gesetzgebers auseinanderzusetzen, eine objektiv kontrollierbare Abgrenzung legitimer Rechtsfortbildung von subjektiver Rechtsdeutung und einem unterschwellig sich vollziehenden „Bedeutungswandel' erreicht werde. Dabei wird freilich selten zugegeben oder gesehen, daß mit der Anerkennung dieser Auffassung ein stark gesetzespositivistischer Zug in der Rechtsauslegung durchgesetzt würde, wie er etwa im angloamerikanischen Recht üblich ist 1 0 3 . Denn jeder Abweichung von einer empirisch festgestellten, „wahren", gesetzlichen Regelung könnte, von einhellig beurteilten Extremfallen abgesehen, der schwer zu überwindende Einwand entgegengestellt werden, daß es Aufgabe des hierfür berufenen Gesetzgebers sei, als „unrichtig" betrachtete Regelungen zu beseitigen; solange er untätig bleibe, gebe er eben zu erkennen, daß er die „de lege ferenda" vorgetragenen Begründungen nicht für überzeugend halte. Angesichts der radikal in Frage gestellten Geeignetheit rechtswissenschaftlicher Methoden zur rationalen Begründung von Entscheidungen und, gleichermaßen, der Effektivität der Entscheidungssteuerung durch Gesetze dürfte gerade der „staatstheoretische" Gesichtspunkt ein wesentliches Motiv für die erstaunliche Renaissance der subjektiven Auslegungstheorie und der empirisch-historischen Methode im einschlägigen Schrifttum gewesen sein. Trotz des anerkennenswerten Strebens nach höherer, wissenschaftlicher Rationalität juristischer Argumentation ist zunächst zu beachten, daß wir uns nicht mehr auf einem rechtswissenschaftlichen, sondern auf einem rechtsdogmatischen Felde bewegen, weil einmal die verfassungsrechtlich verankerte Gesetzesbindung offensichtlich für die Rechtswissenschaft selbst nicht gilt, zum anderen, weil diese sich bei der Erforschung rechtlicher Zusammenhänge, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe 1 0 4 , schlechterdings nicht auf eine entscheidungstheoretisch fundierte, technische Umsetzung politisch-gesellschaftlicher Planungen in die soziale Wirklichkeit einschränken darf. Aber auch als Bestimmung einer dogmatischen Position der Rechtsanwendung unterliegt die Argumentation erheblichen Bedenken 105 . So wie nach Art. 20 I I I GG vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an Gesetz und Recht, so ist „die Gesetzgebung", d. h. sind die sich nacheinander ablösenden, historischen Gesetzgeber, an 103 Vgl. Lüderitz: Auslegung von Rechtsgeschäften. Karlsruhe 1966. S. 29, 30; Esser: Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 176 f f , insbes. Anm. 156; Tipke: Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis. Köln 1981. S. 28. Anm. 43; Fihentscher: Methoden des Rechts. Bd. 2. Tübingen 1975. S. 123 ff. 104 Vgl. oben S. 97ff, 124f. 105 Vgl. zur älteren Literatur Mennicken: Das Ziel der Gesetzesauslegung. Eine Untersuchung zur subjektiven und objektiven Auslegungstheorie. Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970. S. 19 f f , 30 ff.

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die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Daraus folgt einmal — was kein Anhänger der subjektiv-teleologischen Auslegung bestreiten wird —, daß sich der historische Gesetzgeber im grundrechtsgeschützten Raum nicht nach freiem Belieben bewegen kann, daß sein gesetzgeberisches Ermessen hinsichtlich der Auswahl der zu verfolgenden Zwecke und der Festlegung der Zweckpräferenzen inhaltlichen Beschränkungen unterliegt, weil das Grundgesetz naturrechtliche Traditionen auf- und übernehmend, selbst eine Reihe von Wertentscheidungen schon getroffen hat 1 0 6 . Daraus folgt weiter, daß der historische Gesetzgeber als einer von vielen anderen, die unter dem Begriff „Gesetzgebung" zusammengefaßt werden, nicht über, sondern innerhalb der Gesamtrechtsordnung steht, und deshalb auf die gleiche Weise, wie seine eigenen, normierten Zweckvorstellungen diejenigen früherer, historischer Gesetzgeber derogieren oder modifizieren, von nachfolgenden Gesetzgebern und deren, in einzelnen Gesetzesänderungen oder ganzen Regelungszusammenhängen niedergelegten Zweckvorstellungen derogiert oder modifiziert wird. Selbst wenn also ein einzelner, historischer Gesetzgeber zunächst eine konsistente Präferenzordnung bezüglich der zu verfolgenden, politischen Ziele besessen haben sollte, was angesichts der zahlreichen, unterschiedlichen Strömungen in den mehrheitsbildenden, großen Parteien und der häufig bedeutenden Einflußnahme kleiner Koalitionspartner auf die Gesetzgebungspolitik wenig wahrscheinlich ist und jedenfalls empirisch kaum jemals sicher festzustellen sein dürfte, so würde doch die Konsistenz dieser Präferenzordnung, auf deren geschichtlichen Autoritätswert der Rechtsanwender verbindlich festgelegt werden soll, durch die veränderten Ziel- und Präferenzvorstellungen der nachfolgenden „historischen Gesetzgeber" aufgehoben. Ohne feste Zweckpräferenzen ist aber auch entscheidungstheoretisch, wie wir gesehen haben, wegen des Wirkungszusammenhangs verschiedener Maßnahmen ein rationales Urteil über die Geeignetheit der eingesetzten Mittel, d. h. in unserem Fall der zur Durchsetzung wirtschaftlicher oder sozialer Ziele instrumental verwendeten Rechtsnormen, nicht möglich. Solange nicht das Verhältnis der den zahlreichen Gesetzen zugrunde liegenden, empirisch ermittelten, unterschiedlichen Zwecke zueinander im Sinne der Errichtung und Erhaltung einer widerspruchsfreien „Gesamtzweckordnung" geklärt ist — ein Desiderat, das weder der meist aktuellen Tagesfragen zugewandte, ständig wechselnde Gesetzgeber noch die unter Zeitdruck entscheidende Gerichtspraxis, sondern (wenn überhaupt) am ehesten eine „normal" arbeitende Rechtswissenschaft für begrenzte Zeiträume zu erfüllen vermag —, solange kann eine Interpretationsmethode, die den Rechtsanwender auf den jeweils empirisch festgestellten „Willen des historischen Gesetzgebers" kraft verfassungsrechtlicher Gesetzesbindung festlegen will, ohne ihm Zweckerwägungen zu gestatten, nicht überzeu106

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Normierung von Grundrechten in der Verfassung immer wieder als Errichtung einer „objektiven Wertordnung" bezeichnet worden; vgl. etwa BVerfGE 7,198 ff., 205; 7, 377 ff., 404; 32,98 ff., 108; 33, 23 ff., 29 u. ö.

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gen. Daß damit den Gerichten effektiv Rechtssetzungsmacht zuwächst, ist richtig, aber verfassungsrechtlich unbedenklich, sofern es wie bisher gelingt, der Verwirklichung subjektiver Wertentscheidungen durch den „politischen Richter" objektive, rechtliche Grenzen zu ziehen 107 . Nun mag es durchaus einzelne Gesetze und Rechtsnormen geben, bei denen der offen zutage liegende Zweck des historischen Gesetzgebers durch die Zwecke anderer Gesetze oder Normen, soweit ersichtlich, weder derogiert noch modifiziert worden ist und die formulierten Regeln im Hinblick auf ihre soziale Wirksamkeit als geeignete Mittel zur Durchsetzung desselben außer Frage stehen. Kann wenigstens in diesen Fällen wegen der geschilderten Unabgeschlossenheit der Zweckdiskussion, der verbreiteten Zweifel, ob eine materiale Ordnung des Zweckhandelns überhaupt möglich ist, mit gutem dogmatischem Gewissen die Gerechtigkeitsfrage als ungelöstes Problem ausgeklammert und zugunsten der Gesetzestreue unterstellt werden, daß im demokratischen Verfassungsstaat die wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen, politischen Zweckvorstellungen des von der Mehrheit getragenen Gesetzgebers und demgemäß jedes in der verfassungsmäßig vorgeschriebenen Weise zustande gekommene Gesetz per se gerecht sind? Kann zumindest hier Legalität mit Legitimität gleichgesetzt und eine Rechtsanwendung auf der empirisch ermittelten Grundlage von den Gerichten verlangt werden? Soweit dahinter die Überzeugung steht, daß im demokratischen Rechtsstaat die politische Zwecksetzungskompetenz des Gesetzgebers gegenüber den Organen der anderen Staatsgewalten (Art. 20 I I GG) Vorrang besitzt und niemand befugt ist, seine eigene, subjektive Überzeugung von dem, was gerecht sei, an die Stelle der vom Gesetzgeber gewollten Konfliktlösung zu rücken, weil in der Demokratie die Mehrheit ein Recht daraufhat, daß politische Zielvorgaben des von ihr bevollmächtigten Gesetzgebers von den ausführenden Organen loyal hingenommen werden, wird man bei grundsätzlicher Zustimmung daran erinnern müssen, daß der Rechtsstaat des Grundgesetzes mehr als ein bloßer Gesetzesstaat ist 1 0 8 . Dem gern ins Feld geführten Argument der „demokratischen Legitimation" steht entgegen, daß Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip miteinander verbunden sind und sich dadurch gegenseitig begrenzen; die Entscheidung des Volkes ist nicht deshalb rechtmäßig, weil sie vom Volke stammt oder von ihm legitimiert ist, sondern nur deshalb, wenn und weil sie im Rahmen der Rechtsordnung als „Recht" erkannt werden kann 1 0 9 . Dies festzustellen, obliegt nicht allein der Verfassungsgerichts107 Die Formulierung „Gesetz und Recht" in Art. 20 I I I GG hat offensichtlich eine „gesetzeskorrigierende" Funktion. Vgl. Bertelmann: Die Ratio Decidendi zwischen Gesetzesanwendung und Rechtssatzbildung anhand höchstrichterlicher Rechtsprechung. Diss. Bonn 1975. S. 40 ff., unter Hinweis auf die Verhandlungen des Hauptausschusses, in: Jahrb. d. öffentl. Rs. Bd. 1.1951. S. 201; Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 4. Aufl. aaO. S. 353; Fikentscher: Methoden des Rechts. Bd. IV. Tübingen 1977. S. 327 ff. m. weit. Nachw. los vgl. Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. I. München 1977. § 18 I I 7. S. 467 ff. m. weit. Nachw. 109 Stern aaO. S. 469.

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barkeit als dem „Schlußstein des Rechtsstaats", sondern im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung auch den einzelnen Gerichten 110 . Eine Rückkehr zum formalen Rechtsstaat, der vollziehende Gewalt und Rechtsprechung bedingungslos an das Gesetz bindet, ohne dieses selbst anderen als formellen Bindungen zu unterwerfen, kommt nach der geschichtlichen Erfahrung der Hilflosigkeit gegenüber gesetzlichem Unrecht nicht mehr in Betracht; der materiale Rechtsstaat aber, der von den Gesetzgebungsakten verlangt, daß sie inhaltlichen Anforderungen genügen, sofern sie Geltung beanspruchen, bedarf wachsamer, an Verfassung und anderen übergesetzlichen Maßstäben orientierter Richter. Ob ihre Entscheidungen dabei dem Mehrheitswillen entsprechen oder nicht, ist unerheblich, denn der Wille der „Mehrheit" hat weder Anspruch auf Wahrheit oder Richtigkeit, noch bietet er Gewähr oder auch nur Wahrscheinlichkeit für praktische Vernunft. Das Mehrheitsprinzip ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Demokratie; seine Legitimität hängt davon ab, daß die in Wahlen oder Meinungsumfragen unterlegene Minderheit als gleichberechtigte Alternative präsent bleibt 1 1 1 . Die Anerkennung von Freiheit durch Freiheit ist die vorgegebene, transzendental fundierte Regel autonomer Normsetzung welcher Autorität auch immer, die ihrerseits die Geltung und Verbindlichkeit von Recht überhaupt erst rational begründet 112 ; „Mehrheit" im historisch-empirischen Sinn kann folglich politischen Zielvorstellungen nur zeitweilig, nie auf Dauer und nie uneingeschränkt rechtliche Geltung verschaffen. Die Unabgeschlossenheit der Zweckdiskussion sowie die mangelnde Bestimmtheit der postulierten, materialen Wertordnung, samt der Gefahr, sie im Einzelfall zu verfehlen, fallt demgegenüber deutlich geringer ins Gewicht. Gegenüber diesen grundsätzlichen Einwänden treten diejenigen, welche sich aus der Anwendung der Methode selbst ergeben, in den Hintergrund. Sowenig man sich unter dem Begriff der „Gesetzgebung" (Art. 20 GG) einen einzelnen Gesetzgeber vorstellen darf, der kontinuierlich, gleichsam überzeitlich, die vorhandene Rechtsordnung zu einer gerechten Lebensordnung weiter ausbaut, so wenig trifft die Vorstellung zu, in einer parlamentarischen Demokratie könne 110 Vgl. Schach. Die verfassungskonforme Auslegung. In: Juristische Schulung (JuS) 1961. S. 269 ff.; Michel: Die verfassungskonforme Auslegung. In: JuS 1961. S. 274 ff.; Haak: Normenkontrolle und verfassungskonforme Auslegung des Richters. Bonn 1963; Eckardt: Die verfassungskonforme Auslegung. Ihre dogmatische Berechtigung und ihre Grenzen im deutschen Recht. Berlin 1964; Burmeister: Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung. Diss. Köln 1966; Göldner: Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung. Berlin 1969; Zippelius: Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen. In: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe zum 25jährigen Bestehen des BVerfGs. 2. Bd. Tübingen 1976. S. 108 ff.; Prümm: Verfassung und Methodik. Beiträge zur verfassungskonformen Auslegung, Lückenergänzung und Gesetzeskorrektur. Berlin 1977. 111

Vgl. Grimm: Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat? In: JuS 1980. S. 704 ff., 708. 112 Vgl. oben S. 156.

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mit empirischen Mitteln die gesetzesleitende, politische Zielvorstellung des jeweiligen historischen Gesetzgebers als bloßes Faktum ohne Schwierigkeiten und für jeden unbezweifelbar sicher festgestellt werden. Sieht man von einigen neueren Gesetzen ab, bei denen der Gesetzgeber wenigstens Globalziele normativ bestimmt hat 1 1 3 , ergibt sich bei den großen Kodifikationen wie bei den auf kleinere Regelungsbereiche beschränkten, einzelnen Gesetzen, erst recht aber bei den zur Fallentscheidung benutzten Normen, der angesteuerte Zweck durchweg erst aus dem Rückschluß der einsehbaren oder vermuteten, sozialen Wirksamkeit der eingesetzten Mittel. Dies ist dann freilich, wegen der Schwierigkeit, einzelne Wirkungen aus einem gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang auszugrenzen und bestimmten Normen oder Gesetzen zuzuordnen, schon keine empirisch-feststellende Tätigkeit mehr, sondern abwägende Interpretation. Bestimmt man andererseits den Zweck nicht aus dem Normtext und seiner sozialen Wirksamkeit, sondern aus begleitenden Materialien, so wird ein loyales, den Gedanken demokratischer Legitimation beherzigendes Gesetzesverständnis, das die Absichten des gewählten Parlaments aus den Protokollen über die Debatten im Plenum entnehmen zu können meint, arg enttäuscht werden; in der Rechtswirklichkeit sind im Hinblick auf empirische Zweckfeststellungen ergiebige Plenumsdebatten und streitige Argumentation rar 1 1 4 . Gesetze gehen heute—was in Anbetracht einer ins Massenhafte gewachsenen Normproduktion nicht weiter verwunderlich ist — nicht mehr aus dem gewählten Parlament hervor, sondern regelmäßig aus der von der jeweiligen Regierung geführten Ministerialbürokratie. Wie dort Gesetzentwürfe entstehen, welche Personen, Verbände, Parteien, welche partikularen Interessen, welche (echten oder bloß vorgeschobenen) Gemeinwohlvorstellungen letztlich die Formulierung der Rechtsnormen beeinflußt haben, bleibt verständlicherweise im Dunkeln; die sich in den Kommentaren der mit den internen Vorgängen vertrauten Referenten niederschlagenden, ins Einzelne gehenden Kenntnisse mögen die angestrebten Ziele, beabsichtigten Wirkungen und leitenden Wertvorstellungen der eingeweihten Personen später erhellen, verpflichten jedoch mangels demokratischer Legitimation der Autoren niemanden zu ihrer alleinigen oder auch nur vorrangigen Beachtung. Was andererseits aus den sprachlich konzentrierten Gesetzesbegründungen und Ausschußberichten der beauftrag113 Vgl. Höger: Die Bedeutung von Zweckbestimmungen in der Gesetzgebung der Bundesrep. Deutschland. Berlin 1976; ζ. T. wird eine verstärkte Aufnahme solcher Zielbestimmungen gefordert, etwa von Baden: Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß. Baden-Baden 1977. S. 275. Dies würde an der Notwendigkeit einer Interpretation im Lichte anderer Zwecke nichts ändern. 114

Vgl. Wank: Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Berlin 1978. S. 61 f. mit statistischen Belegen; zum tatsächlichen Ablauf der Gesetzgebungsverfahren Loewenberg: Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen 1969. S. 338 ff.; v. Lucius: Gesetzgebung durch Parlamentsausschüsse? In: AöR 97 (1972). S. 568; Schäfer. Der Bundestag. Eine Darstellung seiner Aufgaben und seiner Arbeitsweise. 2. Aufl. Opladen 1975. S. 84 ff.; Schröder: Gesetzgebung und Verbände. Berlin 1976. S. 138 ff.

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ten Gesetzesverfasser in vielfach gefilterter Form an Intentionen und zielstrebigen, rechtspolitischen Kräften zu ermitteln ist, darf zwar mit gutem Grund dem Parlament „zugerechnet" werden 115 , reicht aber wiederum zur genaueren Bestimmung der Bedeutung und Reichweite der anzuwendenden Vorschriften aus naheliegenden Gründen nur selten aus. Erfahrungsgemäß bleibt nicht bloß die Phantasie des Regeln produzierenden Verstandes hinter der Wirklichkeit zurück, sondern ebenso der in Sprache gefaßte Sinn derselben hinter dem ausdrucksbedürftigen Gegenstand, dem eigentlich Gedachten und Gewollten. Hinzu kommt, daß gerade in politisch umstrittenen Rechtsbereichen häufig mit den getroffenen Regelungen neben einem mehr oder weniger deutlich hervorgehobenen Hauptzweck verschiedene Nebenzwecke verfolgt oder doch zumindest in ihren Wirkungen gebilligt werden, ohne daß ihr Rang- und Gewichtsverhältnis untereinander und im Verhältnis zum Hauptzweck vorher geklärt w i r d 1 1 6 . 12. Das Ziel objektiv-teleologischer

Interpretation

Da es mir vorerst nur darum geht, deutlich zu machen, daß auch der auf die Überzeugung einer erfolgreichen Verknüpfung empirischer Feststellungen mit dem verfassungsrechtlichen Gebot des Gesetzesgehorsams begründete Anspruch der subjektiv-teleologischen Auslegung auf Vorrang vor allen anderen Methoden der Rechtsfindung nicht gerechtfertigt ist 1 1 7 , breche ich die — das Thema keineswegs erschöpfende — Diskussion an dieser Stelle ab und wende mich noch kurz der objektiv-teleologischen Interpretation zu. Diese Weise applizierender Auslegung von Rechtstexten unterscheidet sich von der eben behandelten dadurch, daß bei ihr der Rechtsanwender zur Ermittlung des maßgeblichen Sinnzusammenhanges auf Zwecke zurückgreift, die nicht von tatsächlich existierenden Personen oder Personengruppen verfolgt wurden oder werden, vielmehr „ i m Rahmen der geltenden Rechtsordnung" und im Hinblick auf das „Gemeinwohl" aller Rechtsgenossen oder die „praktische Vernunft" objektiv geboten sind. Ihr liegt die Einsicht zugrunde, daß Recht sowohl Ordnungs- als auch Steuerungsaufgaben zu erfüllen hat, welche in Rücksicht auf das höchste Ziel des Rechts nur dann sinnvoll aufeinander abgestimmt werden können, wenn man in der Rechtsordnung, einschließlich der hinter ihr stehenden Staatstheorie und Ethik, gegenüber den Bestrebungen politischer, 115 Zur sog. „Paktentheorie" vgl. Engisch'. Einführung in das juristische Denken. aaO. S. 95; Mennicken: Das Ziel der Gesetzesauslegung. aaO. S. 34, jeweils m. w. Nachw. 116 Vgl. etwa zum Sozialrecht und der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Köbl\ Aspekte der Gesetzesbindung. aaO. S. 1029 ff. 117 Der Vorrang der subjektiv-teleologischen Interpretation läßt sich auch mit der Unterscheidung zwischen „jungen" und „alten" Gesetzen nicht retten (Vgl. Wank: Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung. aaO. S. 64 f. und das dort gebildete Beispiel). Ob „Wortlaut" und „Systematik" den Vorrang haben oder der „Wille des Gesetzgebers", steht auch bei einem „jungen" Gesetz nicht absolut fest, sondern entscheidet eine an der Verfassung und der Rechtsidee orientierte Abwägung. Vgl. das Gegenbeispiel bei Pawlowski: Methodenlehre für Juristen. aaO. Rdnr. 110.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kräfte, die der historische Gesetzgeber repräsentiert, ein selbständiges System erblickt, das als Teilganzes, unabhängig von Wirtschaft und Gesellschaft, kraft seiner friedenssichernden und streitschlichtenden Ordnungsfunktion Beharrungsvermögen und Eigendynamik entfaltet, in die zwar der jeweilige Gesetzgeber die Macht hat, gestaltend und verändernd einzugreifen, welcher er sich aber auf der anderen Seite nie gänzlich entziehen kann. Daraus ergeben sich für den Rechtsanwender eine Reihe von Fragen, für deren Beantwortung es zweckmäßig ist, einerseits zwischen neueren und älteren Gesetzen, andererseits zwischen solchen mit überwiegend in die Zukunft gerichteter Planungs- oder Steuerungsfunktion und solchen mit überwiegend rückwärtsgewandter Ordnungsfunktion zu unterscheiden. Handelt es sich um ein relativ neues Gesetz mit Planungscharakter, dessen Wirksamkeit im anvisierten, sozialen Regelungsbereich man noch nicht abschätzen kann, weil einschlägige Erfahrungen bislang fehlen, so wird der Rechtsanwender in der Regel gegenüber der Planungs- und Zwecksetzungskompetenz des Gesetzgebers und seinem beträchtlichen Informationsvorsprung im Hinblick auf die empirische Analyse der Gegenwart und etwaiger, zu befürchtender Fehlentwicklungen kaum die Möglichkeit haben, die Geeignetheit der Gesetze als Instrumente zur Verbesserung eines vorhandenen Rechtszustandes mit vernünftigen Gründen überzeugend in Abrede zu stellen; er wird sich deshalb darauf beschränken, das Gesetz in den vorhandenen Zweck- bzw. Rechtszusammenhang einzuordnen und zu prüfen, welche Veränderungen dadurch eingetreten sind, insbesondere welche Rechtspositionen neu begründet, gestärkt oder umgekehrt, welche geschwächt oder aufgehoben wurden und ob dies im Hinblick auf Verfassung und Gemeinwohl mit der vom Gesetzgeber angeführten (oder einer anderen) Begründung zu rechtfertigen ist. Ebenso wird er bei einem neueren Gesetz mit überwiegendem Ordnungscharakter verfahren, nur daß ihm hier die selbständige Beurteilung der vom Gesetzgeber vorgenommenen Wertungen bereits erheblich leichter fallt, weil der, wie oft behauptet wird, auf wissenschaftlich gesicherten, prognostischen Kenntnissen beruhende Informationsvorsprung entfallt. Handelt es sich dagegen um ältere Gesetze, so ist die Einordnung in den rechtlichen Gesamtzusammenhang meist längst vollzogen, haben Rechtsprechung und Schrifttum je nach Alter des Gesetzes mehr oder weniger umfangreiche Interpretationsarbeit vorgeleistet. Bei Gesetzen mit Steuerungsfunktion läßt sich erkennen, ob die intendierten Wirkungen eingetreten sind, welche positiven oder negativen Nebenwirkungen hervorgerufen wurden, ob eine Verstärkung, Abschwächung oder gegebenenfalls Änderung der Zielrichtung erforderlich ist oder nicht. Bei Gesetzen mit Ordnungscharakter wiederum hat sich durch die zahllosen Einzelentscheidungen und ihre Auswertung in Grund- und Leitsätzen (Fallnormen) eine neue Rechtslage gebildet, welche sowohl die vorgesetzliche als auch die vom historischen Gesetzgeber gewünschte mehr oder weniger korrigierend überlagert. Je größer der Abstand zur Entstehungszeit des Gesetzes, desto freier ist bei objektivteleologischer Interpretation der Umgang mit dem Wortlaut des Gesetzes und

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

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seinem etwaigen, ursprünglichen Zweck, desto mehr verschiebt sich die Orientierung des Rechtsanwenders vom positiven Gesetz hin zum positiven Recht 1 1 8 . Ursprünglich hat man die auf der Grundlage der objektiven Auslegungstheorie dem Rechtsanwender mit der objektiv-teleologischen Interpretation eingeräumte, relativ freie, selbstverantwortliche Stellung gegenüber dem Gesetzestext und seinen ursprünglichen Intentionen allerdings erheblich enger gesehen. Unter der im 19. Jahrhundert noch für selbstverständlich gehaltenen Voraussetzung, daß jedes Gesetz eine vernünftige, gerechte und zweckmäßige Ordnung herzustellen beabsichtige — angesichts des klassen- und schichtspezifischen Bewußtseins vieler Parlamentarier und der offenen und versteckten Pressionen organisierter, partikularer Interessen auf das Parlament und die von ihm beauftragten Gesetzesverfasser heute eine bedenkliche Unterstellung 119 — wollte man lediglich im Unterschied zur historisch-philologischen Hermeneutik statt des Willens, der Absicht, oder besser des Sinnes oder Zweckes, welchen der Autor und Urheber mit dem Normtext verband, denjenigen freilegen, den der Rechtsanwender zum Zeitpunkt der Anwendung des Gesetzes, also unter Berücksichtigung der Zeitdifferenz, aus dem Wortlaut und dem Textzusammenhang entnehmen kann. Fast gleichzeitig versuchten drei bedeutende Juristen des neu entstandenen Deutschen Reiches, die Autonomie der ratio legis gegenüber der intentio legislatoris, den aktuellen Ordnungswert der Rechtsnormen gegenüber dem historischen Autoritätswert des Gesetzgebers, zur Geltung zu bringen 120 . I m Jahre 1885 schrieb Adolf Wach: „Die Theorie der Gesetzesauslegung (juristische Hermeneutik) ist die Lehre von der Feststellung des Gesetzesinhaltes... Der Gegenstand der Auslegung ist die Lex scripta, sind die vom Gesetzgeber als Gesetz in den verfassungsmäßigen Formen ausgesprochenen Worte... Der Zweck der Auslegung ist ein wissenschaftlicher, nicht ein gesetzgeberischer, ein deduktiver, nicht ein produktiver. Es soll das Recht zur Erkenntnis, nicht zur Entstehung gebracht werden . . . " 1 2 1 Unbeirrt in dem Glauben an die Autorität des Gesetzes und die Möglichkeit, seine immanente Vernünftigkeit mit wissenschaftlichen Mitteln explizieren zu können, ohne sich in Wertungen zu verstricken, die jenseits des wissenschaftlich Feststellbaren 118 Vgl. im einzelnen Fikentscher: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Bd. IV. Tübingen 1977. Kap. 31. S. 129 ff. 119 Daß der Parlamentarismus eine der Ursachen der Krise des Gesetzesbegriffs ist, stellte schon Wieacker: Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodifikationsidee. In: Festschr. f. Gustav Boehmer. Bonn 1954. S. 34 ff., 43 ff. fest; zustimmend Fikentscher: Methoden des Rechts. Bd. IV. aaO. S. 135 ff. 120 Vgl Wach: Handbuch des deutschen Zivilprozeßrechts. Bd. 1. Leipzig 1885. S. 254ff.; Binding : Handbuch des Strafrechts. Bd. 1. Leipzig 1885. S. 450ff.; Kohler: Über die Interpretation von Gesetzen. In: Zeitschr. f. das Privat- u. öfftl. R. d. Gegenwart. Bd. 13. 1886. S. 1 ff. 121

Wach aaO. S. 254, 255.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

liegen und dem Verdacht der Subjektivität ausgesetzt sind, führte er weiter aus: „Aus dem Zwecke der Auslegung folgt, daß sie wie ihren Gegenstand, so ihre Grenze an dem Gesetz findet. Was nicht Gesetz geworden, kann nicht als sein Inhalt festgestellt werden. Gesetz kann aber nur geworden sein der mögliche oder wirkliche Gedankeninhalt der Gesetzesworte... Derselbe ist eine Gedankenäußerung besonderer Art. Er ist Willensäußerung nicht nur in dem Sinne, daß die Äußerung ein Gewolltes ist, sondern daß das Geäußerte selbst Wille ist. Es ist nicht nur Vorstellung... nicht nur Wunsch, sondern ein kausal normierendes Wollen; nicht ist es Wort, hinter welchem ein Wollen steht, sondern Wort gewordener Wille ..." 1 2 2 Wie nun aus diesem Sprache gewordenen „Willen", aus diesen gesetzlichen Imperativen, für die Rechtsunterworfenen ein „Sollen" wird, warum sie an diesen Willen unverbrüchlich gebunden sind, erörtert Wach nicht; für ihn ist es noch selbstverständlich, daß der Wille des Gesetzes — wie der Wille des Gesetzgebers — kein ethisch ungebundener Wille ist, keine politische Willkür, daß Rechtssätze in Bewertungsnormen wurzeln, die ethisch begründete Billigungen und Mißbilligungen aussprechen. Denn jeder Imperativ setzt ja notwendig das Urteil voraus, daß dem Verlangten ein besonderer, eigentümlicher Wert zukommt, weswegen er eben gefordert wird 1 2 3 . „Das Gesetz soll seiner Idee nach das vernünftige Wesen des sich zur allgemeinen Norm eignenden Willens darstellen. Darin liegt seine sittliche Hoheit und der Adel der Beschäftigung des Interpreten. Daher ist als gewollt anzusehen nicht nur das im Gesetz ausdrücklich Gesagte, sondern auch das vernünftigerweise mit dem Gewollten Mitgewollte." 1 2 4 Ist ihm also das Problem einer wissenschaftlichen Begründung praktischer Vernunft noch nicht voll bewußt, so hat er jedenfalls gesehen, daß man beim Inhalt des jeweiligen Gesetzes, dem „ausdrücklich Gesagten", schlechterdings nicht stehen bleiben kann. Wie aber kommt man über den „wirklichen Gedankeninhalt der Gesetzesworte" hinaus, ohne die Lex scripta zu verlassen, ohne „unwissenschaftlich" und „produktiv" zu werden? Wachs Antwort lautet: „Das Gesetz ist ein fortdauernde Geltung beanspruchender Wille, eine konstante lebendige Kraft. Daraus folgt, daß die juristische Hermeneutik wesentlich verschieden ist und sein muß von der philologisch-historischen. Letztere ist die Darlegung einer historischen Tatsache, die juristische Auslegung ist die Eingliederung des Teiles in das Ganze, die Unterordnung des Speziellen unter das Allgemeine, des Mittels unter den Zweck... Das Gesetz tritt ein in die Rechtsordnung, um ein Stück derselben zu sein und Theil zu haben an ihrem vernünftigen Wesen. Das Gesetz ist zu betrachten im Zusammenhange mit dem Ganzen... Es muß sich einfügen in die Logik der Rechtsordnung und empfangt dadurch einen bestimmten, vielleicht vom Gesetzgeber ganz anders und 122

Wach aaO. S. 256. Jodl: Allgemeine Ethik. Hrsg. v. Börner. Stuttgart 1918. S. 26; ähnlich Moore: Principia Ethica. Übers, u. hrsg. v. Wisser. Stuttgart 1970. S. 186 f. 124 Wach aaO. S. 257. 123

I. Zum Gehalt der Interpretationsmethoden von Rechtssätzen

271

unrichtig gedachten Sinn. Zur Beseitigung von Widersprüchen wird es möglicherweise einer dem Wortlaut widersprechenden Auslegung unterworfen..." 125 . In der Tat liegen die Maßstäbe für die Entwicklung des Gesetzes nicht vorprogrammiert in diesem selbst wie die Gestalt des Baumes im Samenkorn, sondern im übergeordneten Ganzen der Rechtsordnung, das seinen Gliedern Sinn verleiht; nur deshalb kann das „Gesetz einsichtiger sein als der Gesetzgeber", ist es gerechtfertigt, „dem letzteren den Gedanken zu unterlegen", er wolle das Gesetz so verstanden wissen, „wie es vernünftigerweise im Verhältnis zu seinem Zweck und dem übrigen Recht verstanden werden muß." 1 2 6 Folgerichtig ist jedes Gesetz als „Zeitdokument" in ein „System" umzuarbeiten; jedoch leistet dies entgegen Wach nicht ein okkulter, Geltung beanspruchender Wille, eine „konstante, lebendige Kraft", welche die Rechtswissenschaft bloß objektiv beschreibt, sondern die praktische Jurisprudenz selbst, insbesondere die höchstrichterliche Rechtsprechung, unterstützt von der Rechtsdogmatik 127 . Wie sie dies tut, insbesondere ob die herangezogenen semantischen, logischen, systematischen, historischen und konstruktiven Interpretationsmittel den Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität verbürgen, ist damit freilich, wie der Überblick gezeigt hat, noch nicht dargetan; denn im Gegensatz zur historisch-philologischen Methode der Quellensicherung und Quellenkritik, der historischen Rückversetzung in einen vergangenen Zustand, ist die juristische Hermeneutik offensichtlich gegenwartsbezogen, applikativ und damit in einem dialektischen Sinne produktiv-schöpferisch. Daß die Vernünftigkeit der Gesetze nicht etwa in einem formalen Sinne, als bloß logisch-systematischer Zusammenhang von Rechtsbegriffen, verstanden wurde, sondern zugleich in einem weitergehenden, materialen Sinne als immanente Teleologie, als ein Zusammenhang von Rechtszwecken, zeigen besonders deutlich die Ausführungen von Josef Kohler, die dieser kurze Zeit später, 1886, veröffentlicht hat: „Die gewöhnliche Lehre (sc. gemeint ist die subjektiv-teleologische Interpretation) ist irrig; nicht was der Verfasser des Gesetzes will, ist entscheidend, sondern was das Gesetz will — allerdings hat das Gesetz keinen Willen im psychologischen Sinne, wohl aber einen Willen im teleologischen Sinne als organisches Zweckstreben; und es treten nicht diejenigen Rechtsfolgen ein, welche der Verfasser des Gesetzes beabsichtigt, sondern diejenigen, welche sich aus dem organischen Zweckstreben des Gesetzes ergeben, welche sich als Ausfluß des im Gesetze geschaffenen geistigen Organismus darstellen..." 128 Und weiter: „... Die Aufgabe der Interpretation ist 125

Wach aaO. S. 257. Wach aaO. S. 258. 127 Vgl. Esser: Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts. 3. Aufl. Tübingen 1974. S. 258. 128 Kohler: Über die Interpretation von Gesetzen. aaO. S. 1, 2 unter Berufung auf den „goldenen Satz" des Celsus: Scire leges non hoc est verba earum tenere sed vim ac potestam. 126

272

C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

es nicht, das vom Verfasser des Gesetzes Gedachte wieder zu denken; ihre Aufgabe ist es, das Gesetz in der Weise durchzuarbeiten, daß die in ihm enthaltenen Principien zu Tage treten, so daß sich die gesetzliche Bestimmung in ihrem richtigen juridischen Charakter enthüllt, daß sie sich als der Ausläufer eines Princips erweist, mit derjenigen Qualification und Functionsstellung, welche ihr nach Maßgabe dieses Principes zukommt." 1 2 9 Sieht man einmal von dem verfehlten Bild eines „organischen Zweckstrebens" bzw. „geistigen Organismus" ab, das falsche Assoziationen hervorruft und schamhaft den augenscheinlichen Mangel einer eigenständigen, ganzheitlichen Logik verdeckt, so wird doch richtig erkannt, daß das, was die Rechtsordnung als Ganzes trägt, Prinzipien sind, und daß die Funktion und damit die Bedeutung (der Sinn und Zweck) der Rechtssätze nicht allein von den empirischfinalen Zwecken der historischen Gesetzgeber und der jeweils hinter ihnen stehenden, gesellschaftlichen Mächte (den sog. Realinteressen oder Kausalfaktoren) abhängt 130 , sondern ebenso von objektiven Zwecken der Rechtsordnung, welche allein durch die innere Vernünftigkeit derselben gefordert sind und also vom Gesetzgeber nicht explizit erstrebt zu werden brauchen 131 . Man setzte voraus, daß die Rechtswissenschaft diese objektiven Zwecke ermitteln und die ihnen gemäßen Rechtsbegriffe bilden könne, ohne allerdings schon fähig zu sein, den Weg zu einer geeigneten Theorie der Begriffsbildung aufzuzeigen. Die Lockerung der Gesetzesbindung durch die Vernachlässigung des Wortlauts und die Abkehr von der philologisch-historischen Methode schien durch die stillschweigende Unterstellung der Identität von gesetzgeberischer und objektivpraktischer Vernunft sowie die noch weitgehend vorhandene Konformität der Wertvorstellungen gerechtfertigt und richterliche Willkür schon wegen des Gerichtsaufbaus und des Prozeßrechts nicht zu erwarten. In dem Maße, in dem durch die sich verschärfenden, geistig-politischen Auseinandersetzungen in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, vorbereitet, gefördert und begründet durch ein an der Naturwissenschaft orientiertes Wissenschaftsverständnis, das alle „Metaphysik", d. h. alle Fragen nach Zweck und Wert, nach Sinn und Orientierung als unbegründbar aus der Wissenschaft hinauswies und sich auf Erarbeitung von Technologien beschränkte 132 , allmählich ins allgemeine Bewußtsein rückte, daß positives Recht möglicherweise nicht auf einem unbezweifelbaren Fundament ruht, sondern wie alle Wertvorstellungen dem Verdacht der Ideologie und partikularer Interessenverwirklichung ausgesetzt ist, in eben diesem Maße mußte die objektiv-teleologische Interpretationsmethode in eine Krise geraten. Denn wenn praktische Vernunft wissenschaftlich, d. h. objektiv 129

Kohler aaO. S. 7, 8. Vgl. oben S. 47 ff. 131 Allerdings wirken sie auch nicht von selbst wie die aristotelische „Form"; vgl. oben S. 53 ff. 132 Zum Einfluß des Positivismus vgl. Schönfeld: Grundlegung der Rechtswissenschaft. Stuttgart/Köln. 1951. S. 68 ff., 510 ff.; Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 4. Aufl. aaO. S. 39 ff.; Schnädelbach: Philosophie in Deutschland. aaO. S. 88 ff. 130

II. Historische Rekonstruktion der Wissenschaft

273

und rational, nicht begründet werden kann, der Rechtsanwender demnach vergeblich nach ihr suchen wird, muß das positivistische, „staatstheoretische" Argument der strikten Bindung an den sich in den Gesetzen niederschlagenden Mehrheitswillen wieder an Überzeugungskraft gewinnen 133 ; wo in der Praxis weder einvernehmlich noch nach verbindlichen, materialen Gesichtspunkten entschieden werden kann, muß formal entschieden werden. „Positives", d. h. in der verfassungsmäßig vorgeschriebenen Form gesetztes Recht und „subjektive" Ethik sind zu trennen. Wer sich auf Vernunft beruft, muß nachweisen, daß es sie gibt; sonst macht er sich ideologieverdächtig; der Versuch einer Begründung wurde im ersten Teil der Arbeit in einigen, erweiterungsbedürftigen Ansätzen unternommen. Kann Wissenschaft weiterhelfen? Nach dem noch immer herrschenden, positivistischen Verständnis von dem, was Wissenschaft soll und Wissenschaft kann, wohl kaum; aber dieses Wissenschaftsverständnis gründet, wie wir heute immer klarer erkennen, selbst auf einem meta-wissenschaftlichen Vorverständnis, das der Überprüfung bedarf. Die sich stellende Aufgabe ist dabei eine wissenschaftstheoretische und wissenschaftsgeschichtliche zugleich, insofern sich in der historischen Distanz nicht nur verschiedene Wissenschaften, sondern auch verschiedene Verständnisse davon, was Wissenschaft ist, also verschiedene Wissenschaftsbegriffe, ausmachen lassen. U m dies näher zu erläutern, möchte ich noch einmal weiter ausholen. II. Historische Rekonstruktion des Unternehmens Wissenschaft 1. Analytische Wissenschaftstheorie Kant bezeichnete Forschung, die sich nicht auf Gegenstände, sondern auf die wissenschaftliche Erkenntnis von Gegenständen bezieht, als transzendental. Untersuchungen dieser Art nennt man im heutigen Sprachgebrauch metatheoretische Analysen; sie werden von der analytischen Wissenschaftstheorie durchgeführt. Zu ihrem Arbeitsbereich zählen alle Fragen, die sich mit der wissenschaftlichen Begriffs- und Theorienbildung sowie der empirischen Signifikanz von Begriffen und Theorien befassen, ferner die Probleme, die bei der Prüfung, Begründung und Bestätigung erfahrungswissenschaftlicher Theorien entstehen, schließlich der in den letzten Jahrzehnten immer stärker in den Vordergrund drängende Komplex der sprachlogischen Untersuchungen im weitesten Sinne des Wortes. Wissenschaftstheorie als Metatheorie einzelwissenschaftlicher Erkenntnis und Metatheorie der Alltags- bzw. Wissenschaftssprache ist also in der Terminologie Kants eine Fortsetzung der früheren Transzendentalphilosophie und beschäftigt sich vornehmlich mit Sätzen, Systemen von Aussagen und von Begriffen, den linguistischen Gebilden der Objektsprachen, ihren semantischen Entsprechungen sowie Argumentations- und Begründungs133

Ζ. B. KochIRüßmann: Juristische Begründungslehre. München 1982. S. 182 f.

18 Mittenzwei

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

weisen. Analytische Wissenschaftstheorie wurzelt in der von David Hilbert begründeten Metamathematik und widmete sich ursprünglich den Grundlagenproblemen der mathematischen Disziplinen, erfuhr aber nach und nach eine Verallgemeinerung und dehnte ihr Forschungsinteresse auf andere Wissensgebiete, insbesondere die Erfahrungswissenschaften aus, blieb dabei jedoch stets ihrem Instrumentarium, den mathematisch-logischen Methoden, treu. Zum Themenkreis der Wissenschaftstheorie wird heute außerdem ein Problembereich gerechnet, der sie für den Rechtswissenschaftler über das transzendentalphilosophische Interesse an seiner Tätigkeit hinaus interessant macht: das Gebiet der praktischen Entscheidungen unter Risiko. Wissenschaftstheorie als Metatheorie des rationalen Handelns untersucht die formale Struktur praktischer Überlegungen, auf denen rationale Entscheidungen bestimmter Art beruhen 1 . Unter den mannigfachen, philosophischen Trieben, die der Baum der Philosophie in unserem Jahrhundert hervorgebracht hat, nahm der Zweig der Wissenschaftstheorie bislang eine einzigartige Stellung ein. Wie keine andere philosophische Richtung verstand sie es, in der Arbeit an der gemeinsamen Aufgabe, das Gefüge der Wissenschaften durch den Einsatz aller verfügbaren Mittel logischer Analyse zu erforschen und durchsichtig zu machen, die Einheit und Geschlossenheit der Fragestellungen und Arbeitsmethoden zu bewahren. Sicherheit und Stetigkeit des Fortschritts verdankte die Wissenschaftstheorie indessen nicht nur der besonderen Verläßlichkeit ihres methodischen Rüstzeugs, das intersubjektive Kontrolle und Korrektur in vollkommenem Maße gestattete, sondern vor allem der übereinstimmenden Auffassung von Wissenschaft, welche im wesentlichen als ein System von Sätzen (Aussagen, Propositionen) mit spezifischen logischen Relationen verstanden wurde 2 . Hier zeigte der mathematische Erbteil der Wissenschaftstheorie seine Wirkung: Die logische Beweisführung ist eine Methode, durch welche Mathematiker über Axiome und Definitionen zu Lehrsätzen gelangen; die Deduktion verknüpft Sätze mit Sätzen. Wie selbstverständlich wird dabei vorausgesetzt, daß mathematische Theorien als Systeme von Sätzen zu betrachten seien. Die grundlegende Idee der modernen Logik und Metamathematik, daß nämlich Theorien bestimmte Systeme oder Klassen von Sätzen sind und sich die Untersuchung auf die logischen Ableitungsrelationen zwischen den Elementen dieser Klassen zu konzentrieren habe, wurde angesichts ihrer außerordentlichen Fruchtbarkeit ohne Rücksicht auf die Abhängigkeit der Theorien von der Aktivität bestimmter historischer Wissenschaftsgemeinschaften und der eigengesetzlichen Dynamik wissenschaftlichen Fortschreitens kritiklos verallgemeinert 3. Ohne die Begriffs- und Theo-

1

Stegmüller. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie. Bd. IV. 1. Halbbd.: Personelle Wahrscheinlichkeit und rationale Entscheidung. Berlin/Heidelberg/New York 1973. S. 1-3. Vgl. oben S. 109ff. 2 Vgl. Popper. Logik der Forschung. 3. Aufl. Tübingen 1969. S. 31; Ströker. Wissenschaftsgeschichte als Herausforderung. Frankfurt/M. 1976. S. 7.

II. Historische Rekonstruktion der Wissenschaft

275

rienbildungen in den empirischen Wissenschaften in Objekte zu verwandeln, die exakten metatheoretischen Studien zugänglich gewesen wären, wurden die erprobten Denkweisen der mathematischen Grundlagenforschung samt ihrer selbstverständlichen Voraussetzung in die Wissenschaftstheorie übernommen. Wissenschaft war danach Axiomatik plus Modelltheorie plus Korrespondenzregeln plus Beobachtungssprache; alles andere wurde als unwesentlicher Aufputz aus dem Wissenschaftsbegriff entfernt. Dergestalt methodisch und gegenständlich festgelegt, zeigte sich Wissenschaftstheorie an Wissenschaftsgeschichte verständlicherweise nicht interessiert; so wenig man die Geschichtlichkeit des gemeinsamen Forschungsgegenstandes leugnete, so sehr betonte man die Eigenständigkeit des wissenschaftstheoretischen Interesses neben dem historischen Interesse an der Wissenschaft: Nicht die geschichtliche Nachzeichnung physikalischer Gesetze, biologischer Theorien, rechts- oder wirtschaftswissenschaftlicher Argumentationen, historischer Erklärungen sei ihr Thema, sondern die systematische, logische Rekonstruktion, nicht die Dynamik der Wissenschaft, sondern ihre logische Struktur 4 . Den naheliegenden Einwand, eine solchermaßen statische Betrachtung der Wissenschaften liefere allenfalls Momentaufnahmen kurzfristiger Systemzustände und werde der wechselvollen Entwicklung der Wissenschaftssysteme nicht gerecht, ignorierte man; freilich schien sich der dynamische Aspekt der Wissenschaften einer logischen Analyse auch völlig zu entziehen. So boten Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte jahrzehntelang das einträchtige Bild eines geregelten Zusammenwirkens bei getrennten Zuständigkeiten und einander ergänzenden Betrachtungsweisen. 2. Thomas S. Kuhns Schilderung paradigma-geleiteter

Normalwissenschaft

Diese friedliche Eintracht wurde 1962 durch die Veröffentlichung einer eher unauffälligen, wissenschaftsgeschichtlichen Monographie empfindlich gestört, deren Verfasser Thomas S. Kuhn bescheiden vorgab, er wolle mit seiner Untersuchung nur die verbreitete Auffassung von der linearen Entwicklung der Wissenschaft durch allmähliche Wissensakkumulation bekämpfen und durch eine andere Theorie der wissenschaftlichen Entwicklung ersetzen, deren ungewöhnliche, inzwischen weltweite Resonanz aber offenbarte, daß eine empfindliche Stelle der damals uneingeschränkt herrschenden, logisch-analytischen Wissenschaftstheorie getroffen worden war 5 . Die wesentlichen Gedanken der Kuhnschen Untersuchung, welche auf der Dichotomie von normaler und außerordentlicher Wissenschaft beruhen, lassen sich, wie folgt, zusammenfas3

Feyerabend : Wider den Methodenzwang. Frankfurt/M. 1976. S. 349 ff.; Stegmüller. Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 2. Stuttgart 1975. S. 509 f. 4 Vgl. Ströhen Wissenschaftsgeschichte als Herausforderung. Frankfurt/M. 1976. S. 8. 5 Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. International Encyclopedia of Unified Science. Vol. II. Nr. 2. 1962; 2. Aufl. 1970. Deutsch: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Übersetzt ν . Simon. Frankfurt/M. 1973. 18*

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

sen: „Normale Wissenschaft" ist eine von paradigmatischen Vorstellungen geleitete, sich allmählich verfestigende Forschungstradition. Unter einem „Paradigma" hat man sich dabei die Summe der von den meisten Fachleuten einer Disziplin anerkannten, wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit vorzustellen, welche der Gemeinschaft dieser Fachleute für eine gewisse Zeit ein Modell (samt Theorien, Gesetzen, normativen Regeln, Methoden und Hilfsmitteln) für die Lösung als brennend empfundener Probleme liefert, um auf diese Weise im Verlauf der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung zur Grundlage einer bestimmten, festgefügten Tradition wissenschaftlicher Forschung zu werden 6 . Paradigmen erlangen ihre herausragende Stellung in den einzelnen Fachbereichen, weil sie bei der Lösung aktueller Probleme erfolgreicher sind als konkurrierende Modelle. Anfangs ist der Erfolg freilich mehr eine Verheißung, an ausgesuchten und unvollkommenen Beispielen aufgezeigt. Aber der wissenschaftliche Alltag besteht in nichts anderem als in der Verwirklichung jener Verheißung, eine Verwirklichung, „die durch Erweiterung der Kenntnis der vom Paradigma als besonders aufschlußreich offenbarten Fakten, durch Verbesserung des Zusammenspiels dieser Fakten mit den Voraussagen des Paradigmas, sowie durch weitere Präzisierung des Paradigmas selbst herbeigeführt wird" 7 . Paradigmen sind nicht wie Flexionsmuster in der Grammatik Objekte bloßer Wiederholung, sondern ähneln, wie Kuhn, der den Begriff einführte, selbst sagt, mehr einer „juristischen Entscheidung im common law", die, einmal gefallt und anerkannt, zum Objekt weiterer Präzisierung und Spezifizierung unter neuen oder strengeren Voraussetzungen wird 8 . Die frühen Stadien der meisten Wissenschaften sind durch das Sammeln und Anhäufen vielfaltiger, zufällig erlangter Fakten und den hartnäckigen Wettstreit verschiedener Auffassungen über das Wesen ihres Gegenstandes gekennzeichnet, wobei jede Auffassung zumindest teilweise auf wissenschaftlicher Beobachtung und Methode beruht und alle Auffassungen in etwa mit den gesammelten Fakten vereinbar sind. Zweifellos schränken Beobachtung und Erfahrung den Kreis möglicher, wissenschaftlicher Überzeugungen ein, sind jedoch offensichtlich nicht zureichend, um ihren Grundstock eindeutig festzulegen. Ein gewisses, willkürliches Element, nachträglich ableitbar aus zufalligen persönlichen und historischen Umständen, formt die wissenschaftliche Überzeugung mit, die zu einer bestimmten Zeit von einer bestimmten Gemeinschaft von Wissenschaft6

Kuhn aaO. S. 11, 28, 29. Er hat bei seiner Beschreibung der normalen Wissenschaft zunächst lediglich die Geschichte der Naturwissenschaften im Blick und nennt als Beispiele u. a. die Ptolemäische-Kopernikanische Astronomie, die Aristotelische-Newtonsche Dynamik, die Korpuskular- bzw. Wellenoptik. Subtilere Paradigma-Modelle lassen sich aus der Geschichte der einzelnen Fachwissenschaften nur mit einigem Aufwand herausarbeiten, eine Aufgabe, bei der die Wissenschaftsgeschichte selbst bei den Naturwissenschaften noch ganz am Anfang steht und die bei den Geistes- und Sozialwissenschaften noch gar nicht in Angriff genommen wurde. 7 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. aaO. S. 44, 45. 8 Kuhn aaO. S. 55. Im deutschen Text des Buches von Kuhn wird der Begriff „common law" irreführend mit „allgemeinem Recht" übersetzt.

II. Historische Rekonstruktion der Wissenschaft

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lern vertreten wird. Vermag sich ein bestimmtes Modell, das keineswegs alle bekannten Fakten zu erklären braucht, als das bessere gegenüber anderen durchzusetzen, so verschwinden allmählich die alten Schulen, entweder durch Tod oder durch Übertritt ihrer Mitglieder zum neuen Paradigma. Wer sich an alte, mehrheitlich überwundene Ansichten klammert, wird durch Nichtachtung seiner Arbeit aus der neu formierten Fachwissenschaft ausgeschlossen, muß alleine weitermachen oder sich einer anderen Gruppe anschließen. Wer sich dagegen dem neuen Paradigma anschließt, braucht in seinen Hauptwerken nicht mehr zu versuchen, sein Forschungsgebiet neu aufzubauen, angefangen von den Grundprinzipien bis zur Rechtfertigung jedes neu eingeführten Begriffs. Er kann — ja muß — dort fortfahren, wo andere Forscher ihre Untersuchungen und Darstellungen des Wissensstandes abgeschlossen haben, und seine Arbeitskraft ausschließlich auf die zunehmend subtileren und dem Laien nicht mehr verständlichen Aspekte seines Forschungsgebietes verwenden 9. Durch Konzentration der Aufmerksamkeit auf einen relativ kleinen Bereich mehr oder minder esoterischer Probleme zwingt das Paradigma die Forscher, ein Teilgebiet der Welt mit einer Genauigkeit und bis zu einer Tiefe zu durchforschen, wie sie ohne die erwähnte Erleichterung hinsichtlich der Grundlagen nicht zu leisten wäre. Dabei besitzt die normale Wissenschaft anscheinend eine Art Mechanismus, welcher ein Nachlassen der vom Paradigma auferlegten Bindungen gewährleistet, sobald dieses nicht mehr wirksam funktioniert und die Forschung lähmt. Die Wissenschaftler beginnen dann, sich von den Regeln und Normen des Paradigmas wieder zu lösen, während das Wesen ihrer Forschungsprobleme sich ändert. Vorher jedoch, solange das Paradigma erfolgreich anleitet, löst die Fachwissenschaft Probleme, die ihre Mitglieder ohne die Bindung an das Paradigma nicht hätten lösen, ja zum Teil sich nicht einmal hätten vorstellen können 10 . Normale Wissenschaft, als Entstehung und Fortdauer einer bestimmten Forschungstradition verstanden, so wie sie in der empirisch und theoretisch orientierten Fachliteratur zum Ausdruck kommt, erschöpft sich weitgehend in der Lösung dreier verschiedener Klassen von Problemen: der Bestimmung von Fakten, die für das Paradigma signifikant sind, der gegenseitigen Anpassung von Fakten und Paradigma, sowie der allmählichen Präzisierung des Paradigmas selbst. Die Auswahl der durch Beobachtung und Experimente gewonnenen Fakten, über welche die Wissenschaftler in Fachzeitschriften ihre Fachkollegen fortlaufend unterrichten, wird danach getroffen, ob sie, gemessen am Paradigma, für die Natur der Dinge besonders aufschlußreich sind. Durch ihre Verwendung bei der Lösung von Problemen hat das Paradigma sie dazu prädestiniert, mit größerer Exaktheit und in einer größeren Vielfalt von Zuständen bestimmt zu werden. Fakten sind dann besonders aufschlußreich, wenn sie unmittelbar mit Voraussagen aus der Paradigmatheorie verglichen 9 10

Kuhn aaO. S. 21 f., 39 ff. Kuhn aaO. S. 46, 94, 95.

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werden können, dem Bemühen dienen, die Übereinstimmung von Theorie und Wirklichkeit zu demonstrieren, oder geeignet sind, das Paradigma zu präzisieren und verbliebene Unklarheiten zu erhellen. Freilich ist das Problem der Anpassung und Präzisierung des Paradigmas sowohl experimenteller wie theoretischer Natur: die Arbeit an Fakten und Theorie bringt nicht nur neue Informationen hervor, sondern präzisiert zugleich das Paradigma, indem es dem Original anhaftende Mängel beseitigt 11 . Das Überraschendste am Verhalten der Wissenschaftler in normalen Wissenschaftsperioden ist nach den Studien Kuhns ihr mangelndes Interesse an Neuheiten, sei es an Begriffen oder Phänomenen. Ihre ganze Geschicklichkeit und ihren ganzen Scharfsinn verwenden sie auf die Lösung vom Paradigma vorgegebener Rätsel („puzzles"). Ein erfolgreicher Wissenschaftler ist nicht ein Entdecker substantieller Neuheiten, sondern ein Experte im Rätsellösen („puzzlesolving"). Von anderen dringlichen Problemen unterscheiden sich die vom Paradigma aufgegebenen dadurch, daß sie vermutlich eine Lösung haben, und was die Wissenschaftler herausfordert, ist ihre Überzeugung, daß jeder von ihnen, wenn er nur geschickt genug ist, beim Lösen der Rätsel Erfolg haben wird. Probleme, mögen sie noch so wichtig und drängend sein, die wahrscheinlich auch die scharfsinnigsten Forscher nicht lösen können, sind als Geschicklichkeitstest ungeeignet; nicht der innere Wert entscheidet darüber, ob ein Problem als wissenschaftlich anerkannt wird, sondern das sichere Vorhandensein einer Lösung. Andere Probleme, einschließlich vieler, die früher unter anderen Voraussetzungen Norm gewesen sind, werden als metaphysisch abgelehnt, als Angelegenheit einer anderen Disziplin betrachtet oder offen für zu diffizil gehalten, um Zeit daran zu verschwenden. So ist es möglich, daß ein Paradigma die Wissenschaftsgemeinschaft von sozial wichtigen Problemen isoliert, wenn sie sich nicht auf die Rätselform bringen und mit Hilfe des vom Paradigma gelieferten begrifflichen und instrumentalen Rüstzeugs ausdrücken lassen12. Normale Wissenschaft als eine Art „Aufräumarbeit", bei der die meisten Wissenschaftler zwangsläufig ihr ganzes Leben damit verbringen, eine Vielzahl vom Paradigma gestellter, instrumentaler, begrifflicher und logisch-mathematischer Rätsel zu lösen, gründet auf der Annahme, daß die wissenschaftliche Gemeinschaft, der man angehört, weiß, wie die Welt beschaffen ist, und stellt den rastlosen, hingebungsvollen Versuch dar, die Daten des jeweiligen Fachgebiets in die in strenger, verinnerlichter Fachausbildung erlernten Begriffsschubladen hineinzuzwängen. Viele Erfolge solchen Unterfangens gehen darauf zurück, daß die Gemeinschaft in den Phasen normaler Wissenschaft fundamentale Neuerungen, welche das starke Netzwerk begrifflicher, theoretischer, instrumentaler und methodologischer Verpflichtungen zu lockern und der mühseligen, fachlichen Kleinarbeit den Sinn zu rauben geeignet sind, gemein11 12

Kuhn aaO. S. 47-57. Kuhn aaO. S. 58-61.

II. Historische Rekonstruktion der Wissenschaft

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sam abwehrt und ihr einmal errungenes Paradigma — psychologisch verständlich — mit beträchtlichem Aufwand hartnäckig verteidigt. Neue Phänomene aufzudecken und zu erklären, ist nicht das Ziel normaler Wissenschaft. Was nichts zur Verdeutlichung der vom Paradigma bereits erfaßten Phänomene und Theorien beiträgt, wird entweder überhaupt nicht gesehen oder einfach ignoriert. Fachleute normaler Wissenschaftsperioden erheben nicht den Anspruch, neuen Phänomenen und Theorien nachzuspüren, und oft genug verhalten sie sich gegenüber von anderen gefundenen intolerant 13 . Außenseiter haben in der Regel keine Chance. Diese Einengung des Gesichtskreises, verursacht durch das zeitweise blinde Vertrauen auf ein Paradigma, ist fraglos ein Mangel, andererseits aber, wie schon erwähnt, unabdingbare Voraussetzung für die fortschreitende Entwicklung der einzelnen Fachwissenschaften. Natürlich gibt es immer wieder außerordentliche Probleme, und es kann sein, daß gerade ihre Lösung die wissenschaftliche Tätigkeit als Ganze so besonders lohnend macht. Aber diese Probleme treten nur bei besonderen Gelegenheiten zutage, die durch das Fortschreiten der normalen Wissenschaft vorbereitet werden. Die Arbeit im Zeichen des Paradigmas kann auf keine andere Weise durchgeführt werden, und das Paradigma im Stich lassen hieße, die Wissenschaft, die es definiert, nicht länger ausüben 14 . 3. Zum Begriff

des Paradigmas

Obwohl sich Kuhn alle Mühe gibt, den zentralen Begriff seines Wissenschaftskonzepts, das „Paradigma", als Kern der normalen Wissenschaft so genau wie möglich herauszuarbeiten, und es mit Hilfe vieler Beispiele in immer neuen Wendungen kenntnis- und facettenreich beschreibt, bleibt für den Leser in dieser Hinsicht ein Rest nicht weiter aufzuklärender Vagheit übrig. Das hat verschiedene Gründe: Anknüpfend an die Analogie zwischen Rätseln (puzzles) und Problemen normaler Wissenschaft, zeigt Kuhn, daß Regeln vorhanden sein müssen, die sowohl die Art der annehmbaren Lösungen wie die methodischen Schritte, durch welche sie erzielt werden sollen, einschränken. Ähnlich wie bei Zusammensetzspielen, Kreuzworträtseln, Schachproblemen usw. nicht alle denkbaren Problemlösungen als zulässig angesehen werden, bestehen innerhalb einer bestimmten Forschungstradition Regeln im erweiterten Sinne von festgelegten Standpunkten oder Vorverständnissen, welche Ergebnisse (wie etwa auch im Rechtsfindungsprozeß) nur dann akzeptieren, wenn sie in Wechselbeziehung zu einer „Theorie" gebracht werden können; ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, gilt das der Forschungstradition zugängliche Problem auch nicht als gelöst. Die augenfälligsten Kategorien solcher Regeln sind die expliziten Darlegungen wissenschaftlicher Gesetze, Konzeptionen und Theorien. Solange sie unangefochten gelten, helfen sie, Rätsel aufzugeben und annehmbare 13

Vgl. etwa Barber. Resistance by Scientists to Scientific Discovery. In: Science. Bd. C X X X I V (1961). S. 596-602. 14 Kuhn aaO. S. 57, 112, 113.

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Lösungen abzugrenzen. Regeln wie diese sind aber weder die einzigen noch die interessantesten, die das Studium der Wissenschaftsgeschichte an den Tag bringt. Auf einer niedrigeren und konkreteren Ebene als der von Gesetzen und Theorien lassen sich in den Erfahrungswissenschaften zum Beispiel eine Vielzahl von Bindungen an bevorzugte Arten der Instrumentation oder legitime Anwendungen anerkannter Instrumente feststellen, auf einer höheren Ebene, weniger zeitlich und örtlich begrenzt, metaphysische Bindungen mit zumindest methodologischen Konsequenzen. Das Überraschendste ist nach Kuhn jedoch, daß eine höchst determinierte Tätigkeit wie die normale Wissenschaft von Regeln nicht restlos bestimmt wird: Die Kohärenz normaler Wissenschaft, so behauptet er, wird nicht von gemeinsamen Regeln, Voraussetzungen und Annahmen gewährleistet, sondern vom Paradigma selbst; Regeln leiten sich zwar vom Paradigma her, aber Paradigmen können die Forschung selbst da noch führen, wo Regeln fehlen 15 . Folglich ist ein Paradigma mehr als die Summe von Theorien, Gesetzen, Zuordnungsregeln und erläuternden Beispielen, ohne daß allerdings genau erkennbar wird, was dieses „Mehr" eigentlich ist. Kuhn geht noch einen Schritt weiter: Wer als Historiker ein bestimmtes Fachgebiet zu einem bestimmten Zeitpunkt erforscht, macht die Erfahrung, daß die Suche nach Regeln schwieriger und weniger befriedigend ist als die Suche nach Paradigmen. Die Ursache dafür sieht Kuhn in dem Umstand liegen, daß Wissenschaftler bestimmter Spezialgebiete zu bestimmten Zeiten zwar der übereinstimmenden Auffassung sein können, Männer wie etwa Newton, Maxwell oder Einstein hätten dauerhafte Lösungen für eine Gruppe außergewöhnlicher Probleme gefunden, daß diese Einigkeit aber keineswegs eine unterschiedliche Beurteilung der besonderen abstrakten Charakteristika, welche die Lösungen dauerhaft machen, ausschließt. M i t anderen Worten: Übereinstimmung in der Identifikation eines Paradigmas setzt Übereinstimmung in der Interpretation nicht voraus. Das Fehlen einer Standardinterpretation oder die Unmöglichkeit für den Historiker, mit dem gemeinsamen Paradigma zugleich die gemeinsamen Regeln angeben zu können, hindern ein Paradigma nicht an der Leitung der Forschung: man ist sich durchaus darüber einig, was als ein legitimes Problem und was als eine zulässige Lösung dieses Problems anzusehen ist. Die Übereinstimmung wird zwar durch die Formulierung von Regeln gefestigt, die Existenz eines Paradigmas bedeutet aber keineswegs das Vorhandensein eines vollständigen Satzes von Regeln 16 . Was den Forscher an eine normalwissenschaftliche Tradition bindet, wenn ein Satz kompetenter Regeln fehlt, versucht Kuhn mit Hilfe sprachphilosophischer Überlegungen Wittgensteins zu verdeutlichen 17 . Was muß man wissen, fragt 15

Kuhn aaO. S. 62-67. Vgl. Polanyi: Personal Knowledge. Chicago 1958. Kap. V, VI, der daraufhinweist, daß der Erfolg eines Wissenschaftlers weitgehend von stillen, durch praktische Arbeit erworbenen Kenntnissen abhängt, die nicht expressis verbis formuliert werden können. 17 Vgl. oben S. 223 ff. 16

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dieser, wenn man Begriffe wie „Sessel", „Besen" oder „Spiel" unzweideutig gebrauchen will? Die übliche Antwort lautet: Man muß wissen, was ein Sessel, Besen oder Spiel ist, d. h. man muß eine Reihe von Elementen kennen, die den vom Begriff bezeichneten Gegenständen gemeinsam ist. Wittgenstein kommt zu einem anderen Ergebnis: Wenn es auch richtig sei, daß die Erörterung gemeinsamer Eigenschaften von Gegenständen die richtige Anwendung der Begriffe erleichtere, so gebe es doch keine Gruppe von Attributen, die gleichzeitig auf alle Glieder der Klasse und nur auf sie anwendbar wären. Entscheidend für den richtigen Gebrauch der Begriffe sei die Verwandtschaft der bezeichneten Gegenstände, ihre Familienähnlichkeit. Wittgenstein erläutert seine Einsicht am Beispiel von Vorgängen, die man „Spiele" nennt. Wer Brett-, Karten-, Ball-, Tanz- und Kampfspiele miteinander vergleicht, wird schwerlich etwas finden, was allen gemeinsam ist: Sind sie alle unterhaltend oder gibt es überall eine Konkurrenz der Spieler, ein Gewinnen und Verlieren? Sind immer Geschick und Glück beteiligt? Wer eine Anzahl als Spiele bezeichneter Tätigkeiten nacheinander betrachtet, findet viele Entsprechungen, aber mit der Betrachtung jeder neuen Tätigkeit gehen gemeinsame Züge verloren, tauchen neue auf. Man sieht, im Großen wie im Kleinen, ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, gerade so, wie zwischen den Mitgliedern einer natürlichen Familie 18 . Spiele, Besen, Sessel sind für Wittgenstein solche Familien, von denen jede durch ein Netzwerk einander übergreifender und sich kreuzender Ähnlichkeiten bestimmt wird. Die Existenz dieses Netzwerks erklärt hinreichend, warum man bei der Identifizierung der den Begriffen entsprechenden Gegenstände oder Tätigkeiten Erfolg hat. Ähnliches, meint Kuhn, dürfte für die verschiedenen Forschungsprobleme und -verfahren innerhalb einer bestimmten Forschungstradition gelten. Entscheidend ist weniger, daß sie gemeinsam einen expliziten oder völlig aufdeckbaren Satz an Regeln erfüllen, die der Wissenschaftstradition ihr charakteristisches Gepräge geben, als vielmehr ein durch Ähnlichkeit oder Anpassung hervorgerufener Bezug auf diesen oder jenen Teil des wissenschaftlichen Corpus, den die historische Gemeinschaft bereits zu den anerkannten Leistungen rechnet. Forscher arbeiten nach Modellen, die sie sich im Laufe ihrer Ausbildung durch Lehre und Literaturstudium angeeignet haben, ohne oft genau zu wissen oder auch wissen zu müssen, welche Eigenschaften diesen Modellen den Status von Gemeinschaftsparadigmata verleihen. Aus diesem Grunde brauchen sie keinen vollständigen Satz Regeln 19 . Später hat Kuhn unter dem Eindruck einer ausufernden Paradigmadiskussion und aufkommender Mißverständnisse versucht, den Begriff wieder enger an seine ursprüngliche Bedeutung des „Musterbeispiels" heranzuführen 20 . Drei Elemente seien für den Paradigmabegriff 18 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M. 1967. S. 45 ff. (48/49). Vgl. dazu v. Savigny: Die Philosophie der normalen Sprache. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1974. S. 28 ff. 19 Kuhn aaO. S. 68-71.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

wesentlich: a) Eine wissenschaftliche Gemeinschaft, deren Mitglieder sich durch die Gemeinsamkeiten der Ausbildung und ihrer ersten, noch abhängigen Tätigkeit, durch intensive Kommunikation und eine verhältnismäßig einmütige Beurteilung von Fachproblemen, aber auch durch das Studium weitgehend der gleichen Literatur allmählich von anderen Gruppierungen absondern, so daß der Austausch von Informationen und Meinungen über die Gruppengrenzen hinweg zunehmend schwieriger wird; b) eine disziplinäre Matrix, die aus einer Menge ansonsten unverbundener Menschen eben diese wissenschaftliche Gemeinschaft formt, indem sie durch Festlegung von Grundsätzen, symbolischen Verallgemeinerungen — in Anlehnung an Kant könnte man von apriorischen Konstruktionen sprechen 21 — und Arbeitsregeln eine intensive, fachbezogene Kommunikation gewährleistet; c) Modelle und Standardbeispiele, die Analogien ermöglichen oder als konkrete Problemlösungen Muster für künftige, gleich oder ähnlich gelagerte Fälle ergeben 22. Sei eine ausreichende Menge akzeptierter Standardbeispiele vorhanden, bildeten die Mitglieder der Wissenschaftsgemeinschaft ihre eigenen Problemlösungen diesen Mustern nach, ohne daß es nötig sei, sich vorher darüber zu verständigen, welchen Eigenschaften diese Beispiele ihre herausgehobene Stellung verdankten 23 . Die Bedeutung des dritten Elements des Paradigmabegriffs liegt in der Frage begründet, wie Wissenschaftler symbolische Verallgemeinerungen mit der Natur verknüpfen (bzw. übersetzt auf das Gebiet des Rechts, wie Juristen allgemein formulierte Gesetze, Grund- oder Leitsätze an empirische Sachverhalte herantragen). Wissenschaftstheoretisch wird diese Frage mit Hilfe von Zuordnungsregeln gelöst, d. h. mit einem „System" operationaler Definitionen wissenschaftlicher Begriffe 24 . Kuhn bezweifelt, daß die in einer Wissenschaftsgemeinschaft vorhandenen Zuordnungsregeln ihrer Zahl und ihrem Gehalt nach zur Erklärung der tatsächlichen Zuordnungen, wie sie ständig problemlos vorgenommen würden, auch nur annähernd ausreichen; eine viel größere Rolle spiele, nicht nur in der Ausbildung der Studenten, sondern überhaupt, die 20 Kuhn: Second Thoughts on Paradigms. In: Suppe (Hrsg.): The Structure of Scientific Theories. Urbana 111. 1974. S. 459 ff. Deutsch: Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigmas. In: Kuhn: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. v. Krüger. Übers, v. Vetter. Frankfurt/M. 1977. S. 389ff.; vgl. auch das Vorwort Kuhns aaO. S. 40 ff. 21 Vgl. Hübner: Kritik der wissenschaftlichen Vernunft. Freiburg/München 1978. S. 20 ff., 52 ff., 265 ff. 22 Kuhn: Die Entstehung des Neuen. aaO. S. 390 ff. 23 Kuhn: Die Entstehung des Neuen. aaO. S. 41,42; an dieser Stelle räumt er ein, daß er unter „Paradigma" zunächst nur exemplarische Problemlösungen verstanden, der Begriff jedoch im weiteren Verlauf der Nachforschungen ein „Eigenleben" entfaltet und seinen Herrschaftsbereich schließlich auf „die umfassende Menge der Positionen" ausgedehnt habe, welche die Mitglieder einer bestimmten, wissenschaftlichen Gemeinschaft vertreten. Beide Bedeutungen seien ihm nach wie vor wichtig, wenn sie auch verschieden bezeichnet werden sollten, um sie besser auseinanderhalten zu können. 24

Vgl. oben S. 249 f.

II. Historische Rekonstruktion der Wissenschaft

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Lösung praktischer Aufgaben mit Hilfe schon bekannter Problemlösungen, wobei die Hauptschwierigkeit darin bestehe, die Ähnlichkeit zwischen scheinbar ganz verschiedenen Problemen zu erkennen und eine Analogie herzustellen 25; sei dies gelungen, ergebe sich ein passender Formalismus meist von selbst. Ja, er glaubt, die Beliebigkeit der mit Hilfe von Zuordnungsregeln bestimmten Begriffsklassen behindere nicht nur, wie wir gesehen haben, die Systembildung — mit jeder erzwungenen Änderung einer Klassengrenze ändert sich der ganze Bau — sondern zugleich die strategische Verarbeitung von Erfahrungen anhand von Ähnlichkeitskriterien ohne Neuanpassung der Begriffe 26 . Die juristische Parallele liegt auf der Hand. Niemand wird bestreiten, daß in der juristischen Praxis der weitaus größte Teil der anfallenden praktischen Probleme bei der Anwendung abstrakt formulierter Rechtssätze nicht mit Hilfe der oben dargestellten Interpretationsmethoden, sondern in Analogie zu früher bereits entschiedenen, anerkannten Standardbeispielen gelöst wird. Da jedoch die durch Analogie gewonnene Lösung nicht wie in der Naturwissenschaft durch Experimente bewährt oder widerlegt werden kann, sondern allein auf erworbener Urteilskraft beruht, stellt sich im Rechtsbereich viel eher die Frage, in Bezug auf welches Kriterium der Urteilende die Ähnlichkeit begründet. Ich möchte das Problem hier allerdings nicht weiter verfolgen, denn nicht dieses Element macht den Kuhnschen Paradigmabegriff über den engeren, naturwissenschaftlichen Bereich der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte hinaus interessant und fruchtbar, sondern die anderen. 4. Die Struktur

außerordentlicher

Wissenschaft

Normale Wissenschaft als Tätigkeit des Rätsellösens, wie Kuhn sie schildert, ist ein in der Anhäufung und Vertiefung von Wissen eminent erfolgreiches, zielsicheres Unternehmen, das in jeder Hinsicht der üblichen Vorstellung von wissenschaftlicher Arbeit exakt entspricht. Woran es ihr gebricht, ist die Fähigkeit, neue und unvermutete Phänomene, faktische oder theoretische Neuheiten, wahrzunehmen und zu verarbeiten, und zwar gerade dann, wenn sie erfolgreich ist. Da wissenschaftliche Forschung aber im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neue, ungewohnte Einsichten aufgenommen hat, wenn auch meist erst nach aufwendigen, kräftezehrenden Kämpfen, muß es eine wissenschaftliche Tätigkeit geben, die über bloßes, paradigmatisch bestimmtes Rätsellösen hinausgeht: Kuhn nennt sie die „außerordentliche Wissenschaft". Auch diese Phasen der Wissenschaftsgeschichte zeigen regelmäßig wiederkehrende Strukturen, gewöhnlich beginnend mit dem Bewußtwerden von Anomalien, hervorge25 So schon Mach: Die Ähnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung. In: Annalen der Naturphilosophie. I. 1902. 26 Kuhn aaO. S. 412. Hier liege eine Ursache, warum sich die Bedeutung und der Anwendungsbereich von Begriffen mit der Zeit verändern könne; doch nur die Vorstellung, die Bedeutung oder Anwendbarkeit hänge von den vorher definitorisch gezogenen, willkürlichen Grenzen ab, wecke den Wunsch nach solcher Redeweise.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

rufen durch theoretische Schwierigkeiten oder durch Enttäuschung vom Paradigma erzeugter Erwartungen, sich fortsetzend mit der mehr oder minder ausgedehnten Erforschung der Unstimmigkeiten und abschließend mit der Berichtigung des Paradigmas durch Austausch von Paradigmakategorien und -verfahren oder durch Wechsel des Paradigmas selbst 27 . Aus der Wahrnehmungspsychologie ist bekannt, welch große Schwierigkeiten es Versuchspersonen bereitet, unerwartete Tatsachen, die ihrer Vorstellungswelt nicht entsprechen, zu entdecken und sich bewußt zu machen 28 . Gleiches gilt nach Kuhn für Wissenschaftler: Wie beim Spielkartenexperiment wird das Neue vor einer durch bestimmte Erwartungen geprägten Vorstellungswelt nur mit Mühe und unter Überwindung beträchtlicher innerer Widerstände erkannt. A m Anfang wird nur das wahrgenommen, was man erwartet hat, selbst wenn später, unter den gleichen Umständen, das Neue schon deutlich zutage tritt; danach, mit zunehmender Bekanntschaft, wächst das Bewußtsein, daß etwas nicht stimmt oder falsch abläuft, es beginnt eine Phase des Suchens und Veränderns, bis das anfanglich Anomale zum Erwarteten geworden ist. Anomalien stellen sich nur ein, weil Wissenschaftler einen paradigmatisch bestimmten Erwartungshorizont haben. Je exakter und umfassender das jeweils benutzte Paradigma ist, desto empfindlicher reagiert es als Seismograph auf Anomalien, desto größer ist seine Neigung zu wechseln29. Allerdings wäre es eine irrige Annahme zu glauben, Wissenschaftler würden durch bewußt gewordene Anomalien zur Aufgabe ihres Paradigmas veranlaßt. Hat eine wissenschaftliche Auffassung einmal den Status eines Paradigmas erlangt, wird sie nur dann für ungültig erklärt, wenn ein anderer Paradigma27

Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. aaO. S. 80, 92. Bruner und Postman : On the Perception of Incongruity: A Paradigm. In: Journal of Personality. Bd. X V I I I (1949). 206-223, beschreiben ein Experiment, bei dem Versuchspersonen eine Reihe von Spielkarten nach kurzer und kontrollierter Belichtungszeit identifizieren mußten. Die meisten Karten waren die üblichen Spielkarten, einige jedoch waren verändert worden (ζ. B. rote Pik sechs, schwarze Herz vier). Selbst bei kürzesten Belichtungszeiten erkannten viele Versuchspersonen die Mehrzahl der Karten, bei geringfügiger Verlängerung waren alle in der Lage, die Karten zu identifizieren. Während bei den normalen Karten die Benennung gewöhnlich stimmte, wurden die falschen Karten fast immer, ohne sichtbares Zögern und ohne Anzeichen der Überraschung, als normale Karten bezeichnet. Offensichtlich ordneten sie alle Versuchspersonen in die aus vorangegangenen Erfahrungen hervorgegangenen, verfestigten Begriffskategorien ein. Bei Verlängerung der Belichtungsdauer begannen die Kandidaten zu zögern und zeigten durch ihr Verhalten, daß sie sich der Anomalien langsam bewußt wurden. Eine weitere Verlängerung der Belichtungsdauer steigerte die Anzeichen der Verwirrung bis schließlich, manchmal ganz plötzlich, die meisten Versuchspersonen die richtige Identifikation hervorbrachten. Danach fiel es ihnen leichter, auch die übrigen falschen Karten zu erkennen. Einige Versuchspersonen waren allerdings überhaupt nicht in der Lage, die erforderlichen Korrekturen an ihrem Vorverständnis vorzunehmen. Vgl. dazu ferner Rohracher: Einführung in die Psychologie. 9. Aufl. Wien/Innsbruck 1965. S. 300 ff. (304/ 305) m. weit. Nachw. 28

29

Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. aaO. S. 94, 95.

II. Historische Rekonstruktion der Wissenschaft

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Kandidat bereit steht, um ihren Platz einzunehmen. Kein bislang durch das Studium der Wissenschaftsgeschichte aufgedeckter Entwicklungsprozeß hat nach Kuhn auch nur entfernte Ähnlichkeit mit der methodologischen Schablone der Falsifikation von Theorien durch unmittelbaren Vergleich mit der Natur, wie sie von Karl Popper und seiner einflußreichen, wissenschaftstheoretischen Schule vertreten wird 3 0 . Anomalien können Paradigma-Modelle schon deshalb nicht falsifizieren, weil deren Anhänger den Konflikt sofort durch zahlreiche Präzisierungen und ad hoc-Modifizierungen auszuräumen versuchen werden und weil vor allen Dingen kein Paradigma, das je Grundlage für wissenschaftliche Forschung war, alle ihre Probleme vollständig lösen konnte. Zwar bemüht sich normale Wissenschaft fortwährend, Theorie und Tatsachen in bessere Übereinstimmung zu bringen, eine Tätigkeit, die man durchaus als Prüfen, Bestätigen oder Verwerfen ansehen kann, aber ihr Ziel ist die Lösung von Rätseln, die nur existieren, solange das Paradigma Gültigkeit besitzt. Wer unfähig ist, die Rätsel zu lösen, diskreditiert nicht das Paradigma, sondern sich selbst. Widersprüche, Anomalien gibt es immer, auch die hartnäckigsten fügen sich am Ende regelmäßig der normalen Praxis, oft genug eliminiert durch Vorgänge auf anderen Teilgebieten, die niemand, selbst keiner der Eingeweihten, vorhersehen konnte 31 . Anomalien, die eine Krise der normalen Wissenschaft bewirken, müssen also mehr sein als bloße Regelwidrigkeiten, sie müssen die Aufmerksamkeit der angesehensten Fachvertreter auf sich ziehen und durch besondere Umstände ein Gewicht bekommen, das ihre Bewältigung zur Hauptaufgabe der ganzen Disziplin macht. Die ersten Angriffe auf das Widerstand leistende Problem halten sich gewöhnlich noch eng an die erlernten Paradigmaregeln, aber bei anhaltender Erfolglosigkeit oder bloßen, die Mehrheit der Wissenschaftler nicht befriedigenden Teilerfolgen setzt ein Wuchern von Paradigmapräzisierungen ein, das die Regeln der normalen Wissenschaft in zunehmendem Maße lockert. Aufweichen des Paradigmas, Lockern der Regeln, diffuse Ausbrüche von Wissenschaftlern aus traditionell fachwissenschaftlichen Bereichen in außerfachwissenschaftliche Bereiche, offene Bereitschaft, alles zu versuchen, um eine neue Grundlage zu finden, der Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem Zustand der Fachwissenschaft, das unablässige Debattieren von Grundsatzfragen, all das sind Symptome für den Übergang von normaler (am Paradigma arbeitender) zu außerordentlicher (nach einem Paradigma suchender) Forschung. Mangels eines einleuchtenden Grundes, nach bestimmten, versteckten Informationen zu suchen, erscheint die Fülle der zusammengetragenen Fakten nicht nur wahllos und zufallig, sondern überdies auf die Vielfalt der leicht greifbaren 30 Popper. Logik der Forschung. 3. Aufl. Tübingen 1969. S. 8,14 ff., 47 ff., 92 f., 254 ff. und öfter; ders.: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge. 4. Aufl. London 1972. S. 111 ff., 220f., 240 und öfter. 31 Zu Poppers Ansichten ausführlich Kuhn: Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschaftlichen Arbeit? In: Kritik und Erkenntnisfortschritt. Hrsg. v. Lakatos u. Musgrave. Braunschweig 1974. S. 1 ff.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Daten beschränkt. Und alle wissenschaftlichen Krisen enden sodann mit dem Auftauchen eines neuen Paradigmaanwärters und dem nachfolgenden Kampf um seine Anerkennung. Der Übergang vom krisengeschüttelten alten Paradigma zum neuen, aus dem nachfolgend eine neue Periode normaler Wissenschaft hervorgeht, ist keineswegs ein kumulativer Prozeß der Wissensanhäufung, wie bei einer Präzisierung oder Ausdehnung des alten Paradigmas; es ist vielmehr ein Neuaufbau des Gebietes auf veränderten Grundlagen, meist unter Revision elementarster, theoretischer Vorstellungen, mindestens aber unter Abänderung zahlreicher Paradigmaregeln, -methoden und -anwendungen. Ist der Übergang abgeschlossen, haben die Mitglieder des betreffenden Fachgebietes ihre Anschauung über Arbeitsgebiet, Methoden und Ziele in einem Maße verändert, daß man das Ergebnis mit einem psychologischen Gestaltwandel vergleichen kann 3 2 . Ähnlich wie politische Revolutionen durch ein wachsendes, oft auf einen Teil der politischen Gesellschaft beschränktes Gefühl eingeleitet werden, daß die existierenden Institutionen den sozialen Problemen, die sie zum Teil selbst erst geschaffen haben, nicht mehr gerecht werden, so werden wissenschaftliche Revolutionen durch ein wachsendes, ebenfalls oft auf eine kleine Untergruppe der Wissenschaftsgemeinschaft beschränktes Gefühl ausgelöst, daß ein bestehendes Paradigma bei der Erforschung der Natur hinsichtlich der von ihm selbst vorgezeichneten Probleme keine zufriedenstellenden Dienste mehr leistet. Politische Revolutionen verfolgen das Ziel, Institutionen gerade auf den Wegen zu ändern, die von diesen Institutionen verboten werden; infolgedessen enden sie nur erfolgreich, wenn es ihnen gelingt, die Normen der Institutionen zu lockern und ein Interregnum zu schaffen, indem ein konkurrierendes Programm zum Neuaufbau der Gesellschaft den beharrenden Kräften mit den Techniken der Massenüberredung—oft genug mit Gewalt—genügend Anhänger abgewinnen kann. Ähnliches gilt offensichtlich für wissenschaftliche Revolutionen: Wie die Wahl zwischen konkurrierenden, politischen Systemen erweist sich auch die Wahl zwischen konkurrierenden, wissenschaftlichen Paradigmen als eine solche zwischen unvereinbaren Lebensweisen der betreffenden Wissenschaftsgemeinschaft; dabei verteidigt jede Gruppe in der Auseinandersetzung mit der anderen zirkulär ihr eigenes Paradigma mit eben diesem Paradigma. Die kreisenden Argumente sind nicht mehr als ein mit rhetorischen Mitteln mehr oder weniger ausgefeilter Überredungsversuch, welcher für niemanden logisch oder auch nur probabilistisch zwingend ist, der sich weigert, in den Kreis einzutreten. Keine 32

Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. aaO. S. 111 -127,151 -154,165. Über die von v. Ehrenfels, Wertheimer, Köhler, Koffka und Mezger begründete und geführte „Gestaltpsychologie", Gestaltbegriff und -Wechsel vgl. Rohracher. Einführung in die Psychologie. 9. Aufl. Wien/Innsbruck 1965. S. 186 ff. Weinhandl(Hrsg.): Gestalthaftes Sehen. Ergebnisse und Aufgaben der Morphologie. 4. Aufl. Darmstadt 1978. (m. einem Verzeichnis der wichtigsten Schriften v. Christian v. Ehrenfels); Wellek: Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie. 2. Aufl. Bern/München 1969; für die Entwicklung in den USA Carr. An Introduction to Space Perception. 1935. S. 18-57; ferner Hanson: Patterns of Discovery. Cambridge 1958. Kap. I.

II. Historische Rekonstruktion der Wissenschaft

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Seite ist im Widerstreit der Meinungen bereit, der anderen all die nicht empirischen Voraussetzungen zuzubilligen, welche sie für die Vertretung ihres Standpunktes braucht. Wenn auch jede Gruppe hoffen mag, die andere dazu zu bewegen, die Dinge mit ihren Augen zu sehen, so kann doch keine hoffen, ihren Standpunkt als den richtigen zu beweisen, denn der Wettstreit der Paradigmen kann nicht durch Beweise entschieden werden. Wie bei politischen Revolutionen gibt es auch bei der Wahl eines Paradigmas keine höhere Norm als die Billigung durch die maßgebliche Gemeinschaft. Änderung der paradigmatischen Vorstellungen einer Fachwissenschaft durch Mehrheitsentscheid bedeutet aber nicht nur gewandelte Weltsicht, veränderte Sicht des Fachgegenstandes, sondern zugleich, auf die Wissenschaft zurückwirkend, Änderung der Normen für zulässige Probleme, Auffassungen und Erklärungen und damit eine neue Definition der Wissenschaft selbst. Folgerichtig wird den Anhängern unterlegener Paradigmata bestritten, daß ihre Arbeit wissenschaftlichen Fortschritt bringe, mag deren geistig-schöpferische Tätigkeit, am eigenen Modell gemessen, auch durchaus die Kriterien wissenschaftlicher Leistung erfüllen 33 . Kuhns These, Paradigmen seien sowohl für die Wissenschaft als auch für die Natur konstitutiv, bedarf hinsichtlich ihres zweiten Teils noch einer Erläuterung: Unbefangen, analytischer, erkenntnistheoretischer Anschauung folgend, könnte man die These so verstehen, daß sich zwar mit jedem Paradigmawechsel die Interpretationen der Wissenschaftler ändern, die Beobachtungen selbst jedoch durch die Umwelt und das Wahrnehmungssystem ein für allemal fixiert sind. Die Wissenschaftler würden sich dann nach einem Paradigmawechsel zwar nicht in einer anderen, wohl aber in einer anders interpretierten Welt befinden. Kuhn, der diese gängige Auffassung als vertretbar toleriert, meint mit seiner These jedoch mehr: Was während einer wissenschaftlichen Revolution geschieht, kann seiner Ansicht nach nicht vollständig auf eine neue Interpretation individueller und stabiler Daten zurückgeführt werden. Solche Interpretation vermag ein Paradigma nur zu präzisieren, nicht zu korrigieren; was nach wissenschaftlichen Krisen zu Paradigmakorrekturen führt, sind nicht überlegte Interpretationen, sondern plötzliche, ungegliederte Ereignisse, dem Gestaltwechsel ähnlich, wie man ihn aus der Wahrnehmungspsychologie kennt. Bei diesen Ereignissen erweisen sich die empirischen Daten keineswegs als stabil, sondern entweder als ganz neu oder als unvergleichbar anders. Aus Äpfeln werden gleichsam Birnen, nicht lediglich zu Birnen uminterpretierte Äpfel; man sieht dieselben Linien und doch die Umrisse einer anderen Gestalt. Nachdem die angestrengten Bemühungen, eine neutrale Beobachtungssprache zu entwickeln, um unmittelbare, sinnliche Erfahrung als ein für allemal fixiert und stabil zu erweisen, bislang gescheitert sind 3 4 , und die Versuche, den erkenntnistheoreti33

Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. aaO. S. 128-150. Stegmüller. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie. Bd. II. Theorie und Erfahrung. 2. Halbbd. 1973. S. 27 ff.; Feyerabend : Wider den Methodenzwang. 1976. S. 234,235; Hanson: Patterns of Discovery. 1958. S. 19. Vgl. ferner die frühe Kritik (1934) Poppers, Logik der Forschung. S. 60-70, an Protokoll- und Basissätzen. 34

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

sehen Standpunkt zu retten, der während dreier Jahrhunderte die westeuropäische und angelsächsische Philosophie so oft geleitet hat, hoffnungslos erscheinen, weil moderne psychologische Experimente die zugrundeliegende Theorie der Wahrnehmung und des Geistes nicht bestätigen, ist die Schlußfolgerung unausweichlich, daß Theorien nicht nur menschliche Interpretationen gegebener Fakten sind, sondern daß sie die für ein bestimmtes Paradigma relevanten Tatsachen in der Sicht des Wissenschaftlers überhaupt erst konstituieren. Anhänger verschiedener Paradigmen erklären nicht bloß die nackten Daten der gemeinsamen, unmittelbar einsichtigen Erfahrungswelt verschieden, sie leben tatsächlich in verschiedenen Erfahrungswelten, denn es gibt keine von einem Paradigma unabhängigen Begriffe und ohne Begriffe ist — wie schon Kant sagte35 — Anschauung blind. Paradigmen bestimmen weite Bereiche der Erfahrung, ja es ist, als ob sich die Natur den Paradigmen entsprechend zurechtbiegen lasse36. 5. Die Frage des wissenschaftlichen

Fortschritts

Nach diesen Ausführungen ist es am Ende keine Überraschung mehr, daß Kuhn seine Leser auffordert, die Vorstellung, jeder Paradigmawechsel führe die Wissenschaftler und die von ihnen Lernenden näher an die Wahrheit heran, aufzugeben. Der von ihm beschriebene Entwicklungsprozeß sei ein Prozeß der Evolution von primitiven Anfängen her, dessen aufeinanderfolgende Stadien charakterisiert seien durch ein zunehmend detailliertes und verfeinertes Naturverständnis; aber nichts von dem, was darüber gesagt worden sei und noch gesagt werden könne, mache ihn zu einem Evolutionsprozeß auf etwas hin 37. Wenn etwas der Erklärung bedürfe, dann nicht, wie vielfach angenommen, der Umstand, weshalb Wissenschaftler die Wahrheit über die Natur entdecken oder ihr immer näher kommen, sondern, wieso Wissenschaft — unser sicherstes Beispiel für wohlbegründete Kenntnisse — überhaupt Fortschritte erzielt. Unsere Aufgabe sei es, herauszufinden, wie sie diese Fortschritte tatsächlich mache; hierzu sei freilich noch eine Menge ernster, empirischer Forschung nötig 3 8 . Kuhn meint, wir müßten unsere gängige Vorstellung von der Beziehung zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und der sie ausübenden Gemeinschaft der Wissenschaftler umkehren, als Ursache erkennen lernen, was gewöhnlich als Wirkung angesehen wird: Wissenschaftliche Tätigkeit wird nicht anerkannt, 35

Kant: Kritik der reinen Vernunft. 1781. A 51, Β 75. Kuhn aaO. S. 163 ff., 168 ff., 180, 198; ebenso Feyerabend: Wider den Methodenzwang. 1976. S. 104 ff., 111 ff., 121 ff., 378 ff. mit Beispielen und weit. Nachw. Zur erkenntnistheoretischen Grundlage vgl. oben S. 25 ff. 37 Kuhn aaO. S. 223 ff. 38 Kuhn: Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschaftlichen Arbeit? In: Kritik und Erkenntnisfortschritt. Hrsg. v. Lakatos u. Musgrave. Braunschweig 1974. S. 20. 36

II. Historische Rekonstruktion der Wissenschaft

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weil sie wirklich Fortschritt bedeutet, sondern weil sie anerkannt wird, bedeutet sie Fortschritt. Von einer einzelnen Gemeinschaft her betrachtet, handele es sich nun um Wissenschaftler, Künstler oder Theologen, bedeutet jedes Ergebnis schöpferischer Arbeit Fortschritt, mit der Einschränkung freilich, daß die Gemeinschaft die Prämissen des Autors akzeptiert. Dagegen wird keine kreative Schule Arbeiten anerkennen, die zwar objektiv Fortschritt bedeuten mögen, für die angesprochene Gruppe jedoch keine Bereicherung ihrer kollektiven Leistung bringen. Wenn man, wie viele es tun, bezweifeln will, daß nichtwissenschaftliche Arbeitsbereiche Fortschritte machen, so kann man es nicht deshalb tun, weil einzelne Gemeinschaften keine aufzuweisen hätten, sondern höchstens aus dem Grund, weil auf diesen Gebieten immer mehrere Schulen konkurrieren, von denen jede Prämissen, Ziele und Normen der anderen in Frage stellt. Gleiches gilt übrigens für die Naturwissenschaften in vorparadigmatischen und revolutionären Phasen, wenn verschiedene Schulen miteinander um die Herrschaft ringen; auch hier wird dann gewöhnlich Zweifel an der bloßen Möglichkeit eines Fortschritts artikuliert, falls andere Paradigmen angenommen werden sollten. Im Ergebnis unterscheidet sich wissenschaftlicher Fortschritt von Fortschritten auf anderen Gebieten, wo konkurrierende Schulen sich gegenseitig die Grundlagen bestreiten, nur dadurch, daß ihn der Außenstehende leichter erkennen kann, weil er in Phasen normaler Wissenschaftstätigkeit offenkundig und unbestritten ist. Die Leistungsfähigkeit der Normalwissenschaft gegenüber anderen wissensmehrenden Tätigkeiten wird allerdings nicht nur dadurch erhöht, daß die Gemeinschaft sich durch die Annahme eines gemeinsamen Paradigmas vom Zwang befreit, fortwährend ihre Grundlagen zu überprüfen, und sich ausschließlich auf die subtilsten und esoterischsten Phänomene konzentrieren kann, sondern auch durch einen andernorts nicht zu beobachtenden Grad der Absonderung von den Forderungen des täglichen Lebens. Es gibt keine der wissenschaftlichen vergleichbare Berufsgemeinschaft, in welcher sich die Arbeit des Einzelnen so ausschließlich an die Mitglieder der Gruppe richtet und von deren Werturteil abhängt. Gerade weil man in reifen Wissenschaftsgemeinschaften nur für einen Kreis fachkundiger Kollegen arbeitet, der Werte und Überzeugungen teilt, kann man einen bestimmten Satz Normen unbedenklich voraussetzen, ohne sich um abweichende Ansichten anderer Gemeinschaften oder Schulen zu kümmern, kann man seine Aufmerksamkeit ganz auf Probleme konzentrieren, von denen man annehmen darf, daß sie zu lösen sind, braucht man sich von außen keine Probleme aufdrängen zu lassen, die zwar dringend der Lösung bedürfen, für deren Lösung aber keine zureichenden Hilfsmittel vorhanden sind 39 . Das praktische Verdienst ist für einen Wissenschaftler einer reifen Wissenschaftsgemeinschaft eine zweitrangige Frage, entscheidend für den Erfolg der von ihm vorgeschlagenen Lösung eines begrifflichen oder instrumentellen Rätsels ist allein die Anerkennung durch die Mitglieder seiner professionellen Gemeinschaft 40 . 39

Kuhn aaO. S. 212-216.

19 Mittenzwei

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Kuhn bekennt, daß er nicht weiß, was wissenschaftlicher Fortschritt eigentlich ist; zuviele Fragen sind offen. Zweifellos hat sich die Masse der wissenschaftlichen Kenntnisse im Laufe der Zeit vergrößert, Theorien werden immer genauer formuliert, an den Gegenstand der Untersuchung besser angepaßt, immer neue Gebiete werden der rätsellösenden Tätigkeit erschlossen: aber wie steht es mit dem Nichtwissen, nimmt es zu oder ab? Probleme, die in den letzten dreißig Jahren von der Wissenschaft gelöst wurden, existierten vor hundert Jahren noch gar nicht als offene Fragen. Zu allen Zeiten scheinen wissenschaftliche Kenntnisse beinahe alles zu erschöpfen, was man wissen kann: Ungelöste Fragen gibt es zu jeder Zeit nur auf dem Horizont der vorhandenen Kenntnisse. Ist es nicht möglich, daß zeitgenössische Wissenschaftler weniger über unsere Welt wissen als Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts über die damalige Welt? Sind die Lücken zwischen den Berührungspunkten wissenschaftlicher Theorien mit der Wirklichkeit — und mehr als gelegentliche Berührungen gibt es nicht! — heute nicht größer und zahlreicher, als sie es jemals in der Vergangenheit waren? Und wie steht es mit der „Einheit der Wissenschaft"? Offensichtlich wird trotz gelegentlicher Erfolge die Kommunikation über die Grenzen der einzelnen Fachgebiete hinweg immer schwieriger und schlechter. Steigt mit der Masse der Kenntnisse nicht auch die Anzahl unvereinbarer Gesichtspunkte, welche eine immer größer werdende Anzahl von Spezialisten anwendet? Die Liste der offenen Fragen läßt sich fortsetzen; solange sie nicht beantwortet sind, wird man nach Kuhn schwerlich erklären können, was wissenschaftlicher Fortschritt eigentlich ist. Seiner Ansicht nach wird die gesuchte Erklärung letzten Endes psychologischer oder soziologischer Natur sein 41 . III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion 1. Zum veränderten,

wissenschaftlichen

Selbstverständnis

Wenn es auch nicht das erste Mal ist, daß auf die Eigenart der Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse hingewiesen wird 1 , so ist es doch 40 Ob dies allerdings für die moderne Naturwissenschaft noch zutrifft, ist zweifelhaft! Vgl. Böhmeivan den Daele/Krohn: Die Finalisierung der Wissenschaft. In: Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. v. Diederich. Frankfurt/M. 1974. S. 276 f f , die zum entgegengesetzten Ergebnis kommen. 41 Kuhn: Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschaftlichen Arbeit? aaO. S. 20, 21; ähnlich jetzt der ehemalige Popper-Schüler Lakatos: Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen. In: Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. v. Diederich. Frankfurt/M. 1974. S. 55 ff. (56): Jede rationale Rekonstruktion der „internen" Geschichte eines Wissenschaftsgebietes bedarf der Ergänzung durch eine empirische (sozio-psychologische) „externe" Geschichte. 1

Kuhn selbst (aaO. S. 8) nennt als seine Auffassung beeinflussend die Schriften von Koyré: Etudes Galiléennes. 3 Bde. Paris 1939; Meyer son: Identity and Reality. Übers, v. Loewenberg. New York 1930; Metzger: Les doctrines chimique en France du début du X V I I e a la fin du X V I I I e siècle. Paris 1923; dieselbe: Newton, Stahl, Boerhaave et la

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

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den wissenschaftsgeschichtlichen Analysen Kuhns zum ersten Mal gelungen, im englisch-sprachigen Bereich eine größere, wissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit auf Aspekte der Wissenschaftsentwicklung aufmerksam zu machen, welche von der herrschenden Wissenschaftstheorie bislang nicht beachtet wurden 2 , welche aber gerade dem Geisteswissenschaftler im allgemeinen und dem Rechtswissenschaftler im besonderen wichtige Aufschlüsse über Bedeutung und Grenzen ihrer Tätigkeit geben. Kuhns Wissenschaftskonzept fördert nicht nur das Verständnis für die Probleme und Auseinandersetzungen innerhalb der geisteswissenschaftlichen Fachwissenschaften selbst, sondern zugleich die Selbsteinschätzung gegenüber den seit dem 19. Jahrhundert dominierenden Naturwissenschaften und deren wachsenden, wissenschaftstheoretischen Ansprüchen, welchen die Geisteswissenschaften, einschließlich der Rechtswissenschaft, zugegebenermaßen nicht genügen konnten 3 . Es weckt Interesse an sprachphilosophischen Überlegungen, das Verhältnis von Sprachkompetenz und Wirklichkeitsbewußtsein, Hermeneutik und Kommunikationsgemeinschaft betreffend, es befreit rechtswissenschaftliche Forschung von Überforderungen durch die Sozialwissenschaften. Treffen Kuhns Thesen über die Dynamik des Wissenschaftsprozesses zu, gerät der Vorbildcharakter der Naturwissenschaften, nach dem viele Geistes- und Sozialwissenschaftler schielten, ins Wanken. Getroffen wird aber nicht nur das Selbstverständnis der Naturwissenschaften als einer rationalen, kontrollierbadoctrine chimique. Paris 1930; Maier: Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert. Rom 1949; Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiven. Basel 1935; (dazu Fleck: Erfahrung und Tatsache. Ges. Aufsätze. Hrsg. v. Schäfer und Schnelle. Frankfurt/M. 1983. m. Bibliographie). Zu ergänzen wären vor allem die Namen von Duhem: Le mixte et la combinaison chimique. Essay sur l'évolution d' une idée. 1902; derselbe: Les sources des théories physiques. Paris 1905; derselbe: La théorie physique. Paris 1906. 2. Aufl. 1914; deutsch: Das Ziel und die Struktur physikalischer Theorien. Leipzig 1908. 2. Aufl. Hamburg 1968; derselbe: Le système du monde. 7 Bde. 1913 -1917; Mach: Erkenntnis und Irrtum. 1905. 5. Aufl. 1926; derselbe: Die Mechanik — historisch — kritisch dargestellt. 9. Aufl. Leipzig 1933 (Neudr. Darmstadt 1963); derselbe: Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken. 1883; Poincaré: Wissenschaft und Hypothese (1902). Dtsch. 3. Aufl. Leipzig 1928. Neudruck Darmstadt 1974; derselbe: Der Wert der Wissenschaft (1905). Dtsch. 1906; derselbe: Wissenschaft und Methode (1906). Dtsch. 1914. 2 Kuhn bezeichnet das mangelnde, historische Bewußtsein der englischsprachigen Philosophie als einen wesentlichen Grund für die Kluft zur kontinentalen, philosophischen Tradition. Vgl. Kuhn: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. v. Krüger. Übers, v. Vetter. Frankfurt/M. 1977. Vorwort S. 36. 3

Vgl. z. B. Kamiah/Lorenzen: Logische Propädeutik. Mannheim/Wien/Zürich 1967. S. 13: „Führende Vertreter der Logik jenseits des Ozeans verbinden in der Tat ihre Forschung mit einem Glaubensbekenntnis, das sie selbst als strenge „Wissenschaftlichkeit" deklarieren und dessen Dogmen vorschreiben, der Mensch und seine Sprache seien so etwas wie Objekte der Physik ... und vernünftige Wissenschaft sei in jedem Fall exakte Wissenschaft nach dem Leitbild der Mathematik einerseits, der Physik andererseits." 19*

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ren, anderen Wissenschaften epistemologisch und methodisch überlegenen Wissenschaft, getroffen wird auch der Anspruch des kritischen Rationalismus, normativ sagen zu können, was Wissenschaft ist und was nicht, getroffen wird schließlich die logisch-analytische Wissenschaftstheorie insgesamt, sofern sie davon ausgeht, Naturgesetze und -theorien seien Systeme von Sätzen, Aussagen, Propositionen, welche gleich den Sätzen der Mathematik logisch untersucht werden können. Naturwissenschaft galt der Wissenschaftstheorie im Unterschied zu weiten Bereichen der Geisteswissenschaft herkömmlicherweise (und in einem praktischen, auf menschliche Bedürfnisse bezogenen Sinne natürlich zu Recht) als ein rationales Verfahren der Erkenntnisgewinnung und -Vermehrung. Daraus leitete sich das verbreitete, historisch nicht überprüfte Urteil ab, daß sie sich stetig entwickle und folglich eine rational nachvollziehbare Vergangenheit habe. Dieses Urteil könnte sich nun im Lichte der historischen Untersuchungen Kuhns und der von ihm konzipierten Theorie der geschichtlichen Entwicklung von Wissenschaft als Vorurteil entpuppen. Rationalität im Sinne erkenntniskritischen Verhaltens und methodischer, intersubjektiv kontrollierbarer Verfahren läßt sich — wenn überhaupt — nur in den Phasen paradigmageleiteter Normalwissenschaft nachweisen, nicht aber in den Phasen eines revolutionären Paradigmawechsels (des Austausches der forschungsleitenden, disziplinären Matrix), welche man bisher — wenn auch unter anderem Aspekt — als die Zeiten eigentlichen wissenschaftlichen Fortschritts angesehen hat. Indem Kuhn aber Rationalität auf die Arbeit an Paradigmen reduziert, reduziert er Rationalität zugleich auf geschichtliche Strukturen und historische Bedingungen und behauptet damit die Veränderlichkeit und Wandelbarkeit der Rationalität selbst. Die Idee vom Fortschritt der Naturwissenschaft als kumulativem Prozeß, sei es durch Anhäufung von Daten und Erkenntnissen, sei es durch Erweiterung und Verallgemeinerung von Theorien, ist grundsätzlich in Frage gestellt. Trifft es zu, daß in den Naturwissenschaften nicht — wie bisher ganz überwiegend angenommen — neutrale Beobachtung der Naturvorgänge, strenge Prüfung und Bewährung der aufgestellten Hypothesen an der Erfahrung, induktive Bestätigung der Gesetze, Überzeugung der Mitglieder der Wissenschaftsgemeinde durch rationale Argumente die Kategorien sind, welche darüber entscheiden, ob alte Paradigmen durch neue verdrängt werden, sondern vielmehr Wille und Bekenntnis neuer Forschungsgenerationen für etwas Neues auf Grund von Glauben, Überredung, Propaganda, Bekehrungserlebnissen, Gestaltwandel und Tod, so haben sie den Geisteswissenschaften an Rationalität des Verhaltens ihrer Mitglieder prinzipiell nichts voraus. Es nimmt nicht wunder, daß Kuhns Thesen in dieser Hinsicht besonders heftiger Kritik ausgesetzt sind; der kritische Rationalismus als eine der einflußreichsten Wissenschaftstheorien sieht sich durch seine historischen Untersuchungen nicht nur in Einzelfragen gestellt, sondern im Kern getroffen; seine Anhänger bestreiten deshalb einen wesentlichen Teil der Diskussion 4 .

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

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2. Karl R. Poppers Wissenschaftskonzept Karl Popper als Haupt dieser wissenschaftstheoretischen Richtung, welche die analytisch-deskriptive Kompetenz zur Beschreibung der Wissenschaft ebenso beansprucht wie die Kompetenz zur methodologischen Normierung derselben, vertritt zwar selbst eine nicht kumulative, revolutionäre Fortschrittstheorie des Wissens, die er bereits Anfang der dreißiger Jahre in Auseinandersetzung mit dem logischen Empirismus bzw. Induktivismus, besonders der „Wiener Schule", und dem wissenschaftstheoretischen Konventionalismus 5 am Leitfaden der Theorienfalsifikation entworfen hatte. Der Induktivismus wurde damals kritisiert, weil seine beiden Grundannahmen, die Annahme, daß sich Tatsachensätze aus Tatsachen herleiten lassen, und die Annahme, daß es gültige, induktive, d. h. gehaltvergrößernde Schlüsse gibt, unbewiesen oder sogar nachweisbar falsch sind 6 . Der Konventionalismus wurde kritisiert, weil ein Vergleich intuitiver Einfachheit wissenschaftlicher Theorien nur als subjektives Werturteil möglich ist und deshalb keine brauchbare Grundlage für die Kritik von Theorien liefert. Popper schlug stattdessen vor, tatsachengebundene, raumzeitlich singuläre „Basissätze" und nicht raumzeitlich universelle Theorien auf Grund von Konventionen zu akzeptieren — also im Grunde eine weitere Variante des revolutionären Konventionalismus. Wissenschaftlicher Natur sollte eine Theorie nur dann sein, wenn sie mit einem Basissatz in Konflikt gebracht werden konnte; widersprach sie dem akzeptierten Basissatz, so war sie als falsifiziert zu verwerfen. Eine wissenschaftliche Theorie mußte außerdem in der Lage sein, neuartige, im Lichte alter Theorien unerwartete Tatsachen vorherzusagen, wenn sie als wissenschaftlich gelten wollte 7 . Poppers Wissenschaftskonzept war der Versuch einer Antwort auf die Problemstellung der Wissenschaftstheorie nach dem Zusammenbruch des sog. Rechtfertigungsdenkens. Jahrhundertelang hatte man unter Wissen bewiesenes Wissen verstanden — bewiesen durch die Kraft der Vernunft und durch die 4 Vgl. Lakatos/ Musgrave (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Braunschweig 1974; Diederich (Hrsg.): Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Beiträge zu einer diachronen Wissenschaftstheorie. Frankfurt/M. 1974; Müller!Schepers/Totok (Hrsg.): Die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Wissenschaftstheorie. Wiesbaden 1977; Radnitzky!Andersson: Fortschritt und Rationalität der Wissenschaft. Tübingen 1980; dieselben (Hrsg.): Voraussetzungen und Grenzen der Wissenschaft. Tübingen 1981. 5 Vgl. Duhem: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. Leipzig 1908. 2. Aufl. Hamburg 1968; Dingler: Die Ergreifung des Wirklichen. 1955. Frankfurt/M. 1969. Kap. I IV; dazu Diederich: Konventionalität in der Physik. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zum Konventionalismus. Berlin 1974; Schäfer: Erfahrung und Konvention. Zum Theoriebegriff der empirischen Wissenschaften. Stuttgart 1974. 6 Vgl. Stegmüller: Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und moderne Antworten. In: Lenk (Hrsg.): Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie. Braunschweig 1971. S. 13-74. 7 Popper. Logik der Forschung. 1. Aufl. 1934. S. 3 f f , 47 f f , 60 ff.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Evidenz der Sinne. Es galt als Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit, sich unbewiesener Behauptungen zu enthalten und die Kluft zwischen gedanklicher Spekulation und begründetem Wissen möglichst kleinzuhalten. Aber die beweisende Kraft des menschlichen Verstandes und der Sinne samt dem darauf beruhenden Gebäude der intellektuellen Werte des Naturwissenschaftlers waren durch die Entwicklung der modernen Physik in Frage gestellt worden 8 . Bis dahin nicht bezweifelte Grundbegriffe wie Raum, Zeit, Kausalität, Stetigkeit oder Anschaulichkeit mußten überdacht, allgemeine Vorstellungen vom Erkenntnisprozeß revidiert werden. Es wurde allmählich klar, daß man bei der Beobachtung empirischer Vorgänge nicht von außen in die Dinge hineinschaut, sondern daß die Beobachtung selbst eine Interaktion von Subjekt und Objekt, von Beobachter und Beobachtetem darstellt, folglich ein Begreifen von Dingen und Vorgängen immer zugleich ein Ergreifen ist, was auf den Geltungsanspruch naturwissenschaftlicher Aussagen nicht ohne Rückwirkung bleiben konnte. Nachdem man bereits im Anschluß an Kant eingesehen hatte, daß streng logische Deduktion nur ein Schließen, d. h. ein Übertragen von Wahrheit, nicht aber ein Beweisen, ein Begründen von Wahrheit, ermöglicht, konnte man sich zunächst lange nicht auf die Art und Weise einigen, wie Axiome zu gewinnen sind, deren Wahrheit nunmehr mit anderen als logischen Mitteln bewiesen werden mußte. Während man auf der einen Seite unbeschränkt Erfahrung, intellektuelle Intuition und Offenbarung als wirkungsvolle Beweisarten zulassen wollte, akzeptierte man auf Seiten der logischen Empiristen als Basis der Wissenschaft nur eine kleine Menge von Tatsachenaussagen, die einer bestimmten logischen Form genügten und sich als Wahrheitsfunktionen darstellen ließen. Um wissenschaftliche Theorien auf dieser schmalen empirischen Grundlage beweisen zu können, versuchte man eine stärkere Logik als die deduktive zu entwickeln — die sog. induktive Logik. Die großen Anstrengungen der Rationalisten in der Nachfolge Kants und der Empiristen in der angelsächsischen Tradition, die synthetischen Sätze a priori bzw. die Sicherheit der empirischen Basis und die Gültigkeit des induktiven Schließens zu retten, waren vergeblich: die Neu-Kantianer scheiterten an der nicht-euklidischen Geometrie und der modernen Physik, die Empiristen an der Unmöglichkeit, Sätze aus Tatsachen zu beweisen und eine induktive, gehaltvermehrende Logik aufzubauen 9 . Diese Situation hatte Popper vor Augen, als er seine Vorschläge unterbreitete. Sein Falsifikationismus bedeutete einen schweren Rückschlag für das rationale Denken, zugleich aber einen Fortschritt im Hinblick auf die utopischen Maßstäbe der Wissenschaftlichkeit dieser Zeit. Aus seinen Vorstellungen 8

Vgl. Hermann: Die Jahrhundertwissenschaft. Werner Heisenberg und die Physik seiner Zeit. Stuttgart 1978. 9 Lakatos : Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes. In: Criticism and the Growth of Knowledge. Hrsg. v. Lakatos / Musgrave. London 1970. S. 91 95.

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entwickelte sich freilich im weiteren Verlaufe ein naiver, dogmatischer Falsifikationismus eines Teils seiner Anhängerschaft, der zwar die Trüglichkeit aller wissenschaftlichen Theorien vorbehaltlos einräumte und eine Übertragbarkeit der Sicherheit empirischer Grundeinsichten auf die Theorien selbst bestritt, der jedoch zugleich dazu neigte, die empirische Evidenz gegen eine Theorie als einzige Instanz ihrer Beurteilung zu behaupten: wenn die Wissenschaft Theorien auch nicht beweisen könne, so könne sie sie doch widerlegen, und zwar „mit voller logischer Sicherheit" 10 . Man war bereit, einen Satz nicht nur dann als wissenschaftlich gelten zu lassen, wenn er eine bewiesene Tatsachenaussage darstellte, sondern auch dann, wenn er nichts weiter war als eine falsifizierbare Aussage, vorausgesetzt, man gab im voraus ein Experiment an, bei dessen Fehlschlagen man willens war, den Satz ohne Zögern bedingungslos zu verwerfen. Die Grenze zwischen Theoretiker und Praktiker wurde scharf gezogen: der erste schlug vor, der zweite schlug ab — unwiderruflich im Namen der Natur. Mit nicht falsifizierbaren (nicht tautologischen) Aussagen machte man kurzen Prozeß: ihnen wurde der wissenschaftliche Rang abgesprochen 11. Diese Form eines dogmatischen Falsifikationismus beruht jedoch ebenso wie der von Popper kritisierte Induktivismus auf zwei falschen Grundannahmen, nämlich einmal auf der Vorstellung, es gäbe eine natürliche Grenze zwischen theoretischen, spekulativen Sätzen auf der einen Seite und empirischen oder Beobachtungssätzen („Basissätzen") auf der anderen Seite, zum anderen auf der Vorstellung, ein Satz, der das psychologische Kriterium der Faktizität befriedige, sei durch Tatsachen bewiesen, also wahr. Es gibt aber weder eine Wahrnehmung, die nicht von Erwartungen durchsetzt ist, und infolgedessen auch keine natürliche Grenze zwischen theoretischen und empirischen Sätzen, noch kann jemals eine Tatsachenaussage auf Grund eines Experimentes bewiesen werden; Sätze lassen sich nur aus Sätzen herleiten, aus Tatsachen folgen sie nicht. Erfahrungen können einen Basissatz ebensowenig beweisen, „wie ein Faustschlag auf den Tisch" 1 2 . Darüber hinaus dürfte es, selbst wenn die beiden Annahmen vertretbar wären, wohl schwerlich gelingen, die wichtigsten wissenschaftlichen Theorien zu falsifizieren, weil diese ein singuläres Ereignis, das ihnen widerspricht, nur dann als anomal betrachten, wenn unbezweifelbar feststeht, daß kein anderer Faktor in einem nicht näher bezeichneten RaumZeit-Bereich seinen Einfluß geltend macht. Unter dieser Bedingung geraten die wenigsten Theorien, für sich allein genommen, mit einem Basissatz in Wider10 Z. B. Medawar: The Art of the Soluble. 1967. S. 144; Braithwaite : Scientific Explanation. 1953. S. 367/368 (anders S. 19); richtigstellend Popper: Logik der Forschung. 3. Aufl. Tübingen 1969. S. 23 Zusatz * * 1. 11 Ayer. Language, Truth and Logic. 2. Aufl. 1946. S. 38; deutsch: Sprache, Wahrheit und Logik. Stuttgart 1970. S. 48 ff.: „wissenschaftlich unsinnig". 12 Popper selbst: Logik der Forschung. 1934. S. 71 unter Berufung auf Fries: Neue Kritik der Vernunft. 3 Bde. 2. Aufl. 1828 - 31 ; Lakatos: Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes. In: Criticism and the Growth of Knowledge. Hrsg. v. Lakatos /Musgrave. London 1970. S. 91 ff., (97 ff.).

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spruch, und niemand wird behaupten, daß universelle Nicht-Existenz-Aussagen, die eine derartige Bedingung ausräumen, zur beobachtbaren, durch Erfahrung beweisbaren, empirischen Basis gehören. Gerade den ausgereiften Theorien in der Geschichte der Wissenschaft, einschließlich allen statistischen Theorien, welche heute als Grundgesetze der Natur betrachtet werden, müßte, weil sie unwiderlegbar sind (keine endliche Stichprobe kann eine allgemeine, statistische Theorie widerlegen), der wissenschaftliche Rang abgesprochen werden. Popper hat diese Einwände vorausgesehen und die Schwierigkeiten von Anfang an methodologisch dadurch zu umgehen versucht, daß er alle Basissätze als bloß vorläufig wahr, durch Beschluß festgesetzt, unterstellte 13 . Nach Poppers konventionalistischem Falsifikationismus beruht sowohl die Feststellung, was ein „Beobachtungs-" oder „Basissatz" ist als auch die Trennung der Menge der annehmbaren Basissätze von den nicht annehmbaren auf einer Entscheidung. Die volle Einsicht in die Fehlbarkeit der beiden notwendigen Entscheidungen und die Übernahme des Risikos, das die Wissenschaftsgemeinschaft dabei eingeht, bedeuten aber nur dann einen Fortschritt gegenüber empiristischem Rechtfertigungsdenken, wenn zugleich ein Kriterium bereitgestellt wird, mit dessen Hilfe die Willkür des Annehmens und Streichens von Basissätzen in Grenzen gehalten werden kann. Andernfalls wären Basissätze gegenüber anderen Satzsystemen nicht mehr ausgezeichnet und jede Theorie ließe sich halten, indem man Basissätze, die ihr widersprechen, einfach striche. Popper schlug als Lösung vor, solche Basissätze als Falsifikatoren auszuwählen, die wegen ihres Zusammenhanges mit wohl bewährten Beobachtungstheorien sozusagen zum unproblematischen Hintergrundwissen der Wissenschaftsgemeinschaft einer bestimmten Zeit gehören. Diese Basissätze sollten nicht nur gewissen formalen Anforderungen genügen, sondern aus der Menge aller Beobachtungssätze auch dadurch herausgehoben sein, daß sie ihrerseits nachprüfbar sind, und zwar je leichter, um so besser 14. Sollte eines Tages zwischen wissenschaftlichen Beobachtern eine Einigung über Basissätze, die zur Falsifikation geeignet sind, nicht mehr erzielt werden können, bliebe die Überprüfung von wissenschaftlichen Theorien ohne jedes Ergebnis. Er räumte ein, daß dann die Arbeit des Forschers am Turmbau der Wissenschaft eingestellt werden müßte. Den in der beschlußförmigen Feststellung von Basissätzen liegenden Dogmatismus hielt er für ebenso harmlos wie den in der Überprüfung von Basissätzen steckenden unendlichen Regreß, weil Basissätze einmal, wenn nötig, jederzeit überprüft werden könnten, zum anderen durch ihre Überprüfung nichts begründet, sondern lediglich nicht Bewährtes beseitigt werde. Die Beschlußfassung der Wissenschaftsgemeinschaft selbst sah Popper vor allem dadurch geregelt, daß einzelne Beobachtungssätze nicht logisch isoliert, sondern immer im Zusammenhang mit der zur Aufgabe gestellten Überprüfung von Theorien und den sich dabei ergebenden systematischen Fragen anerkannt 13 14

Popper: Logik der Forschung. 1934. S. 69 ff. Popper. Logik der Forschung. 1934. S. 59, 66, 70.

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

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werden. Die Festsetzung der Basissätze erfolgt nur anläßlich der Anwendung von Theorien und ist Teil dieser Anwendung, welche die Theorien erprobt; wie die jederzeit wiederholbare Anwendung, so ist die Festsetzung ein durch theoretische Überlegungen geleitetes, planmäßiges Handeln. Die empirische Basis der objektiven Wissenschaft ist also auch für Popper nichts Absolutes, im Gegenteil, sie schwankt. Wissenschaft baut nicht auf Felsengrund, eher in einen Sumpf, in den sie Pfeiler senkt. Und wenn Wissenschaftler aufhören, tiefer zu graben, dann nicht, weil sie auf festen Untergrund gestoßen sind, sondern weil sie hoffen, daß die benutzten Pfeiler vorläufig tragen werden 15 . Entscheidungen spielen in dieser Methodologie eine Schlüsselrolle, Entscheidungen, die völlig falsch sein können. Trotzdem sind sie für ihn das geringere Übel gegenüber einem Fallibilismus, der alle intellektuellen Wertmaßstäbe samt der Idee des Fortschritts der Wissenschaft in seiner Verzweiflung aufgibt und überall nur noch chaotisches Wuchern von Hypothesen sieht, die weder objektiv begründet noch verworfen werden können. Für Popper gibt es angesichts dieser Konsequenzen nur die Wahl zwischen einer riskanten, konventionalistischen Methodologie und dem Irrationalismus, zumal er hofft, auf jene Weise durch Eliminierung wenigstens einiger Theorien eine allmähliche Annäherung an eine überzeitliche, unwandelbare Rationalität zu erreichen. Für ihn ist die Auslese jener Theorie, die im Wettbewerb mit ihren Konkurrentinnen am strengsten geprüft wurde und die allen Falsifikationsversuchen am besten standhielt, ein Schritt in Richtung auf die endgültige Klärung der Probleme, obwohl natürlich auch er keine Beurteilungsmaßstäbe zu nennen in der Lage ist, mit deren Hilfe man ermessen könnte, ob die Wahrheitsnähe mit der Ablösung einer Theorie durch eine andere nun zu- oder abnimmt. Der Gedanke, daß womöglich mit einer falsifizierten Theorie etwas Wahres endgültig beseitigt und durch etwas Falsches ersetzt wird, darf den Wissenschaftler nicht schrecken, denn wenn er sich auf die Verteidigung der Theorie versteift, bis ihre Unhaltbarkeit zwingend bewiesen ist, kann er auch nach Popper durch Erfahrung schwerlich eines Besseren belehrt werden 16 . Damit verschiebt sich das Problem zu den Fragen, wo nach diesem Verfahren die Grenze zwischen den problematischen und den nicht problematischen Fällen liegt, wann die Verteidigung einer Theorie gerechtfertigt ist und wann nicht, welches der vielen anomalen Phänomene zum Gegenstand des alles entscheidenden Experimentes zwischen konkurrierenden Theorien auszuwählen ist, warum es einen Unterschied macht, ob jemand erst eine neue Theorie aufstellt und dann ein Phänomen erfolgreich voraussagt, oder erst das Phänomen findet und dazu eine Theorie erdenkt, Fragen, auf die man bislang keine befriedigende Antwort gefunden hat. Vergleicht man die hier in aller Kürze skizzierten Wissenschaftsauffassungen Poppers und Kuhns miteinander, so werden die erkenntniskritischen Gemein15 16

Popper: Logik der Forschung. 3. Aufl. Tübingen 1969. S. 70-75, 76 (Zusatz 1968). Popper: Logik der Forschung. aaO. S. 23.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

samkeiten, die beide von den besonders im angelsächsischen Raum verbreiteten, empiristischen Konzeptionen trennen, ebenso deutlich wie die unterschiedliche Beurteilung des Wissenschaftszieles und der Wissenschaftsrationalität. Während Kuhn sowohl dem Gedanken eines wissenschaftlichen Fortschrittes in Richtung auf etwas hin als auch der Idee einer zeitunabhängigen, unwandelbaren Rationalität skeptisch gegenübersteht, kann Wissenschaft für Popper nicht nur ihren biologischen, vom technischen Interesse an Naturbeherrschung geleiteten Zweck erfüllen, nämlich sich in praktischer Anwendung zu bewähren, sondern auch ihren intellektuellen Zweck, in Annäherung an die Wahrheit immer neue, vertiefte und verallgemeinerte Fragen aufzufinden und die vorläufigen Antworten immer von neuem und immer strenger zu prüfen 17 . Werden geltende Theorien durch widersprechende Tatsachen und Ereignisse im Lichte neuer Theorien falsifiziert, dann ändert sich für ihn nicht der Begriff der Rationalität, wenngleich die entstehende Theorienabfolge auch nicht als Kumulation von bewiesenem Wissen gedeutet werden darf. Vielmehr lösen sich die Theorien wie bei Kuhn gegenseitig ab, das Wissen wird revolutioniert. Andererseits setzt Poppers an der Rationalität der Wissensentwicklung festhaltende Wissenschaftstheorie unverzichtbar voraus, daß die neu etablierten Theorien im Vergleich mit den falsifizierten empirisch gehaltvoller sind und die Prognose neuer Tatsachen erlauben, also im Ergebnis eine weitere Annäherung an die Wahrheit bedeuten. Dieses Festhalten an einem durch Falsifikation möglichen Fortschritt durch sprunghafte Annäherung an die Wahrheit hat die Konsequenz, daß man sich Erkenntnisfortschritt gleichwohl zumindest quasikumulativ oder quasi-induktiv vorstellen muß 1 8 , ein Resultat, daß Kuhn wegen der von ihm behaupteten „Inkommensurabilität" von Paradigmen nicht billigen kann 1 9 . Obwohl also Popper eine revolutionäre Theorienabfolge und Wissensvermehrung annimmt, vertritt er gleichzeitig eine Theorie ungebrochener Rationalität und stetiger Annäherung an die Wahrheit über und hinter der Geschichte und ihren Revolutionen, die an den von ihm geschmähten G. W. F. Hegel erinnert 20 .

17

Popper: Logik der Forschung. 3. Aufl. Tübingen 1969. S. 225, 226 (Zusatz 1968). Popper spricht selber von einer „Quasi-Induktion": Logik der Forschung. aaO. S. 221 f. 19 Ablehnend auch Lakatos : Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen. In: Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Eingel. u. hrsg.v. Diederich. 1974. S. 55 ff. (66, 87 ff.): Poppers konventionalistisches System von Regeln für das Spiel Wissenschaft ist ohne echte erkenntnistheoretische Relevanz, solange wir ihm nicht eine Art metaphysischen („induktiven") Prinzips überlagern, nach welchem uns das von der Methodologie spezifizierte Spiel die beste Chance gibt, die Wahrheit zu erreichen; ohne ein solches Prinzip ist das Spiel der Wissenschaft ein Spiel wie jedes andere. 18

20

Vgl. Baumgartner: Hat der Disput um die Wissenschaftsgeschichte das Selbstverständnis der Wissenschaften und der Wissenschaftstheorie verändert? In: Die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Wissenschaftstheorie. Hrsg. v. Müller/Schepers u. Totok. Wiesbaden 1977. S. 29 ff. (30).

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

3. Poppers Kritik

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an Kuhns „Normalwissenschaft"

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß Popper in seiner Kritik an der Kuhnschen Wissenschaftsauffassung zwar anerkennt, daß dieser die Distinktion von normaler Wissenschaft und wissenschaftlicher Revolution erstmals klar herausgearbeitet habe, eines Unterschiedes, dessen er sich bislang kaum bewußt gewesen sei, daß er aber in dem, was Kuhn als normale Wissenschaft bezeichne und was in der Wissenschaftsgeschichte fraglos immer wieder vorkomme (deshalb auch vom Wissenschaftshistoriker zu beachten sei), nur eine bedauerliche Entartung zu sehen vermöge. Der unkritische, nicht revolutionäre Professionelle, der dem Dogma des Tages folge und sich neuen Gedanken und Theorien erst öffne, wenn sie nach tüchtiger Propaganda von fast jedermann akzeptiert und also Mode geworden sind, sei ein schlecht ausgebildeter, gelerntes Wissen auf Routineprobleme anwendender, kurz: bemitleidenswerter Mann. Er halte es für einen Irrtum, diese Phasen der Wissenschaft, deren Existenz er nicht bestreite, als „normal" zu betrachten 21 . Sicherlich gebe es ein „Haus", ein wissenschaftliches Lehrgebäude, eine allgemein anerkannte Problemsituation, welche es den Wissenschaftlern erlaube, ihr eigenes Werk in die vorhandene Struktur der Wissenschaft einzupassen, ohne jeweils ganz von vorne anfangen zu müssen, auch sei er sich mit Kuhn darüber einig, daß ein gewisser Dogmatismus notwendig sei, um zu verhindern, daß Theorien verworfen werden, bevor ihre reale Kraft erprobt sei; gleichwohl glaube er im Gegensatz zu ihm, daß Wissenschaft ihrem Wesen nach kritisch sei, aus kühnen, durch Kritik kontrollierten Vermutungen bestehe, sich keineswegs normalerweise an vorherrschenden Theorien oder Paradigmen orientiere, sondern sich in fortlaufender, fruchtbarer Auseinandersetzung mit solchen Theorien befinde, kurzum recht eigentlich „revolutionäre" Tätigkeit sei 22 . Wenn Kuhn behaupte, die Rationalität der Wissenschaft setze einen gemeinsamen Rahmen voraus, der von einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen Menge fundamentaler Annahmen abhänge, auf die man sich geeinigt haben müsse, bevor man sich rational auseinandersetzen und rational kritisieren könne, so vertrete er eine weithin akzeptierte, modische These: die These des Relativismus, die er für falsch halte. Natürlich sei es leichter, innerhalb eines gemeinsamen Rahmens über Rätsel als über den Rahmen fundamentaler Annahmen selbst zu diskutieren; aber die relativistische These, wonach der Rahmen nicht kritisch besprochen werden könne, lasse sich ihrerseits kritisch besprechen und halte der Kritik nicht stand. 21 Popper. Normal Science and its Dangers. In: Criticism and the Growth of Knowledge. Hrsg. ν . Lakatos/ Musgrave. 1970. S. 51 f f , 52, 53. Kuhns Antwort: Wenn wissenschaftliche Revolutionen im Verwerfen von Rahmenwerken oder wichtiger Bestandteile derselben bestehen, worüber man einig sei, dann ist Forschen innerhalb eines Rahmenwerkes nur die Kehrseite der Münze. Herausbrechen aus einem Rahmenwerk bedeutet unvermeidlich Hereinbrechen in ein anderes; wer an einem Rahmen festhält, ist deshalb keineswegs einfach ein Opfer von Indoktrination. In: Reflections on my Critics. Ebenda. S. 231 f f , 242. 22

Popper. Normal Science and its Dangers. aaO. S. 51, 55.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

In der Wissenschaft sei — im Gegensatz zur Theologie — die kritische Auseinandersetzung mit und der Vergleich von Theorien und Rahmenwerken, die im Wettstreit miteinander liegen, immer möglich. Die Behauptung, verschiedene Rahmen verhielten sich zueinander wie ineinander unübersetzbare Sprachen, sei ein Dogma — und dazu ein gefahrliches. Der „Mythos des Rahmens" sei das zentrale Bollwerk des Irrationalismus unserer Tage 23 . Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, als bewege sich Popper bei seiner Stellungnahme zu den Kuhnschen Thesen genau in den Bahnen, die letzterer als Paradigmenwettkampf dargestellt hat: A n der entscheidenden Stelle, warum er die relativistische Rahmenthese als logischen und philosophischen Fehler ablehne, beruft sich Popper auf „seinen Glauben" an die „absolute" und „objektive" Wahrheit im Sinne Tarskis 2*, einen Glauben, zu dem man andere zwar bewegen, von dem man aber nicht hoffen kann, ihn als den richtigen zu beweisen. Wer sich im Widerstreit der Meinungen weigert, Poppers Standpunkt zu akzeptieren, kann nur mit rhetorischen Mitteln überredet oder durch Mißbilligung der maßgeblichen Wissenschaftsgemeinschaft zur Aufgabe seiner Ansicht genötigt, nicht aber logisch oder auf andere Weise zwingend widerlegt werden; diese Einsicht gilt für die Wissenschaftstheorie nicht minder als für die Wissenschaften selbst 25 . Kuhn kann Poppers einseitig an einem methodologischen Regelkanon orientierte Idee der Rationalität schon deshalb nicht akzeptieren, weil seine an vielen Stellen geäußerten Bedenken gegen die Ergiebigkeit logischer Analysen für die Erklärung der Wissenschaftsentwicklung in der nicht widerlegbaren Überzeugung wurzeln, daß Wissenschaft nicht in erster Linie als eine Klasse von Sätzen oder ein System von Aussagen begriffen werden darf, sondern als ein geschichtliches Produkt einmaliger Forschungsgemeinschaften, deren jeweilige individuelle Aktivität Entstehung und Fortbestand historisch ermittelbarer Wissenschaft konstituieren. Seine häufige Bezugnahme auf den Gruppenkonsens von Wissenschaftlern als Voraussetzung für die normalwissenschaftliche Praxis des Rätsellösens im Rahmen eines Paradigmas bzw. die Auflösung dieses Gruppenkonsenses als Zeichen aufziehender Wissenschaftskrisen zum Anlaß zu nehmen, ihn des 23

Popper aaO. S. 56, 57; zur Sprachenparallele vgl. Kuhn: Reflections on my Critics. aaO. S. 267-271. 24 Popper aaO. S. 56: „...I do believe in 'absolute' or 'objective' truth, in Tarski's sense (although I am, of course, not an 'absolutist' in the sense of thinking that I, or anybody else, has the truth in his pocket). I do not doubt that this is one of the points on which we are most deeply divided..." Vgl. Kuhns Antwort in : Reflections on my Critics. aaO. S. 264266. 25 Vgl. Hübner: Duhems historische Wissenschaftstheorie und ihre Weiterentwicklung. In: Philosophie und Wissenschaft. 9. Deutscher Kongreß für Philosophie. Meisenheim 1971. S. 319-337; derselbe: A priori — A posteriori. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. München 1973. S. 119-125, wo er nicht weniger als 5 Kategorien a priori getroffener Festsetzungen unterscheidet, die für die Formulierung von Theorien jedweder Art (ζ. B. auch der Geschichtswissenschaft) benötigt werden und die alle durch eine bestimmte historische Sicht begründet sind, welche die betreffende Wissenschaft umgreift.

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

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„Irrationalismus" zu zeihen, darf Kuhn berechtigterweise als polemische Entgleisung zurückweisen, zumal dieser von verschiedenen Seiten erhobene Vorwurf geeignet ist, gemeinsame erkenntnistheoretische Einsichten — jedenfalls zwischen den genannten Personen — zu verhüllen. Zugegebenermaßen ist das von Kuhn vertretene Strukturschema der Wissenschaften für den kritischen Rationalismus Poppers eine Herausforderung im doppelten Sinne: Zum einen erscheint Rationalität des wissenschaftlichen Verhaltens auf die Phasen normaler Wissenschaft und paradigmatisch geleiteter Arbeit zurückgenommen, dorthin, wo wegen fehlender kritischer Zielsetzungen rationale Argumentation, wie Popper sie versteht, nicht stattfindet; zum anderen soll sie als methodologisch gesicherte Wahl genau da, wo sie der Idee kritischer Rationalität nach am ehesten realisierbar erscheint, nämlich in der kritischen Auseinandersetzung über die Grundlagen konkurrierender Paradigmen, nicht oder nur beschränkt möglich sein. Die Zurückweisung der Logik und Methodologie der Forschung auf einen zweitrangigen Platz bei der Analyse des Wissenschaftsprozesses ist nicht bloß für Popper, sondern für die gesamte logisch-analytische Wissenschaftstheorie eine Provokation. Wenn Popper auf die Herausforderung mit dem Einwand reagiert, Wissenschaftler seien nicht Gefangene ihres eigenen paradigmatischen Rahmens, vielmehr jederzeit frei, aus ihm auszubrechen und einen kritischen Vergleich verschiedener Bezugsrahmen vorzunehmen, so rennt er einerseits offene Türen ein, insofern Kuhn diese prinzipielle Möglichkeit nirgends leugnet, und verfehlt andererseits die von Kuhn aufgeworfene Frage, inwieweit nämlich diese Möglichkeit konkret etwas zum Verständnis dessen beiträgt, was in den Augen des Wissenschaftshistorikers im Verlauf der Entwicklung der Wissenschaften praktisch geschah und was immer noch faktisch geschieht. Was kann ein ausschließlich an methodologischen Regeln orientierter Rationalitätsbegriff in einer Situation leisten, in welcher ein allgemein anerkannter Regelkodex verloren gegangen ist? Die Wahl der Wissenschaftler zwischen verschiedenen Bezugsrahmen ist doch gerade deshalb keine rationale Wahl (wenigstens im Sinne Poppers), weil methodologische Regeln, die als Maßstab vernünftiger Entscheidung dienen könnten, in Zeiten wissenschaftlicher Krisen umstritten sind und allseits anerkannte Feststellungen über die Leistungsfähigkeit konkurrierender Rahmenvorstellungen nicht gestatten. Die subjektive Entscheidung eines einzelnen Forschers oder einzelner Forschergruppen für ein bestimmtes Paradigma auf Grund von Bewertungsgesichtspunkten, die rationalistischen Prinzipien nicht gehorchen, aus Gründen der methodologischen Selbstbeschränkung auf rein formale Verfahrenspostulate auch gar nicht gehorchen können, ist das Ergebnis methodologischer Ratlosigkeit und in der Tat durch keine höhere Norm gerechtfertigt als durch die Billigung der jeweiligen Forschungsgemeinschaft 26. 26

Ebenso Ströhen Wissenschaftsgeschichte als Herausforderung. Frankfurt/M. 1976. S. 39/40.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

4. Die Rationalität der Theorienwahl Man hat die Objektivität wissenschaftlicher Theorienwahl und damit zugleich die rationale Rekonstruktion wissenschaftlichen Wachstums gegenüber der sozio-psychologischen, nicht von der Logik der Forschung, eher von der Geschichtswissenschaft und Soziologie zu untersuchenden Komponente des Überzeugungsvorganges zu retten versucht, indem man die Beseitigung des harten Kerns eines Paradigmas und seiner Fähigkeit zur Bildung von Schutzzonen damit begründete, daß ein konkurrierendes Forschungsprogramm oder Paradigma sowohl die Erfolge des Rivalen besser oder gleich gut erklärt als auch, darüber hinaus, neue Aspekte heuristischer Kraft offenbart 27 . Leider scheitert dieser Versuch, der Objektivität der Theorienwahl eine rationale Grundlage zu sichern, an der unbestrittenen Tatsache, daß die vorausgesetzte Leistungsfähigkeit des bevorzugten Paradigmas nicht von Anfang an erkennbar ist, vielmehr sich lediglich schrittweise nach und nach, mit Unterbrechungen, gegebenenfalls sogar nur unter Überwindung von Rückschlägen beweisen läßt. Wenn im späteren Rückblick auf die überstandene Wissenschaftskrise der Wert des Paradigmanachfolgers gegenüber seinem Vorgänger eindeutig beurteilt werden kann, ist aber die Wahl, deren Objektivität in Frage stand, längst getroffen und man kann höchstens nachträglich feststellen, daß der Paradigmaanwärter zu Recht die Chance erhalten hat, sich als Nachfolger zu qualifizieren. Die ex post als objektiv richtig erkannte Entscheidung erlangt folglich erst zu einem Zeitpunkt ihre für die Rationalität der Wahl legitimierende Funktion, an dem die anfangliche Unvollkommenheit und mangelnde Strukturierung des Paradigmakandidaten, wie sie zur Zeit der Wahldebatten bestanden, längst überwunden sind 28 . Wen wundert es, daß die sich historisch als bloßer Schein entpuppende Objektivität der Theorienwahl den Historiker Kuhn zu dem Schluß führt, dem Verhalten der Wissenschaftler und ihrer Argumentationspraxis komme für das Ergebnis der Wahl mehr Gewicht zu als den formalen Regeln der Wissenschaftslogik? Im übrigen muß daran erinnert werden, daß der kritische Rationalismus angesichts des von Popper anerkannten, erkenntnistheoretischen Trilemmas (Dogmatismus — unendlicher Regreß—psychologische Basis) 29 selbst gezwungen ist, auf das Verhalten der Wissenschaftler zurückzugreifen, das zu seiner 27

Vgl. Lakatos : Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes. In: Criticism and the Growth of Knowledge. Hrsg. v. Lakatos und Musgrave. London 1970. S. 91 ff. (154 ff.). 28 Kuhn: Reflections on my Critics. In: Criticism and the Growth od Knowledge. Hrsg. v. Lakatos u. Musgrave. 1970. S. 231 ff. (262); zu dem Versuch von Lakatos, über eine „Methodologie der Forschungsprogramme" Poppers Konzept mit demjenigen Kuhns zu verbinden, kritisch auch Baumgartner: Hat der Disput um die Wissenschaftsgeschichte das Selbstverständnis der Wissenschaften und der Wissenschaftstheorie verändert? In: Müllerl Schepers/Totok (Hrsg.): Die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Wissenschaftstheorie. Wiesbaden 1977. S. 29 ff., 32 ff. 29

Popper: Logik der Forschung. 3. Aufl. 1969. S. 60 f., 69 f.

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

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Bestimmung inhaltlicher Prinzipien bedarf und mit formalen Regeln allein nicht zu fassen ist. Das methodische Prinzip der Falsifikation von wissenschaftlichen Theorien wird durch Beschlüsse der Wissenschaftsgemeinschaft über Basissätze gesichert, die Popper allerdings bislang nicht näher bezüglich der Bedingungen ihres Zustandekommens untersucht hat. Ja er hat darüber hinaus das kritischrationale Verhalten im allgemeinen als eine Einstellung gekennzeichnet, zu der man sich, ohne auf etwas anderes zurückgreifen zu können, entscheiden muß 3 0 . Handelt es sich aber bei den Beschlüssen der Wissenschaftler nicht um willkürliche, sondern um vernünftige, und fallt insbesondere ihre grundsätzliche Entscheidung für kritisch-rationales Verhalten nicht beliebig aus, so wird hier auf eine Rationalität zurückgegriffen, die im Hinblick auf das Wissenschaftskonzept Kuhns von Popper und seinen Anhängern gerade verleugnet wird. Die stillschweigend getroffene Unterscheidung von Willkür und Vernunft im Bereich der die Wissenschaftsmethodologie konstituierenden Entscheidungen setzt implizit einen Rationalitätsbegriff voraus, der die Grenzen einer bloß wissenschaftslogischen Rationalität sprengt 31 . 5. Weitere Einwände gegen die Normalwissenschaft Während Popper die Existenz von normaler Wissenschaft, so wie sie Kuhn schildert, ausdrücklich nicht bestreitet, sondern sie lediglich als Entartung bedauert, bezweifeln andere Kritiker bereits ihr bloßes Vorkommen. Watkins' programmatische Replik enthält dabei neben ernst zu nehmenden Einwänden eine Reihe interpretierender Behauptungen, die leicht zurückzuweisen sind, weil sie Kuhns Darstellung der Wissenschaft unangemessen verzerren. So beruht beispielsweise die Unterstellung, für Kuhn sei es „haarsträubend unrichtig" anzunehmen, in Phasen normalen Wissenschaftsverlaufs würden Theorien überprüft 32 , auf einem nicht korrekten Gebrauch des mehrdeutigen Begriffs „Theorie". Da Kuhn zwischen paradigmatischen Theorien und daraus abgeleiteten Theorien unterscheidet, ist eine Theorienfalsifikation keineswegs ausgeschlossen, lediglich das Rahmenwerk, das Paradigma selbst, ist nach seiner Ansicht auf diese Weise nicht nachprüfbar 33 . Wenn er sich gegen das Falsifikationsprinzip wendet, dann nicht deshalb, weil er es für eine ungeeignete Methode hält, sondern weil es den tatsächlichen Vorgang nicht richtig wiedergibt: Wissenschaftler sehen beim Rätsellösen normalerweise auf die Bewährung ihrer Hypothesen, nicht auf ihre Widerlegung, auf das positive Ergebnis, nicht auf das negative. Es verzerrt auch die Darstellung Kuhns, wenn Watkins so tut, als sei normale Wissenschaft eine normative Forderung Kuhns, die erst verwirklicht 30

Popper. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2. Bd. Bern 1958. S. 284. Ströhen Wissenschaftsgeschichte als Herausforderung. Frankfurt/M. 1976. S. 43. 32 Watkins: Against 'Normal Science'. In: Criticism and the Growth of Knowledge. Hrsg. v. Lakatos u. Musgrave. London 1970. S. 28, 29. 31

33

Kuhn · Logic of Discovery or Psychology of Research? In: Criticism and the Growth of Knowledge. Hrsg. v. Lakatos u. Musgrave. London 1970. S. 4.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

werden müßte, und nicht die Beschreibung eines vorgefundenen Sachverhalts. Anscheinend ohne es zu merken, projiziert er dabei den eigenen Anspruch, der die Kompetenz zur analysierenden Beschreibung mit der zur methodologischen Normierung verquickt, auf die Haltung des Diskussionsgegners. Damit zusammenhängend unterstellt er Kuhn eine Höherbewertung der Normalwissenschaft gegenüber der außerordentlichen Wissenschaft, die dieser nirgends vornimmt, und zwar nicht etwa, weil sie, gemessen an Arbeitsstunden, tatsächlich den überwältigenden Teil der wissenschaftlichen Arbeit ausmacht, sondern weil Kuhn — und das ist diskreditierend gemeint — gleich einem Theologen in der außerordentlichen Wissenschaft eine Periode der Krise, des Schismas, der Verzweiflung, kurz: eine geistige Katastrophe, sehe34. Kuhn hat sich selbst gegen die Verdrehung seiner Darstellung gewandt und geltend gemacht, daß die Erklärung, wie das Unternehmen Wissenschaft funktioniert, nichts damit zu tun hat, ob man es positiv oder negativ bewertet. Normalwissenschaft erlaube eben die Erforschung bestimmter Bereiche in einer Tiefe und Ausführlichkeit, die ohne festen Rahmen unvorstellbar wäre, und bereite so wissenschaftliche Umwälzungen, welche das ausmachen, was Watkins wissenschaftlichen Fortschritt nenne, recht eigentlich erst vor; aus strategischen Gründen halte er sie deshalb für gleich wichtig 3 5 . Irreführend ist es schließlich, wenn Watkins die ablehnende Haltung Kuhns gegenüber der These einer Wissensakkumulation auf die Normalwissenschaft bezieht, wo selbstverständlich das Wissen um das jeweilige Paradigma „undramatisch Schritt für Schritt", also gleichsam akkumulativ wächst 36 . Sieht man von diesen Entstellungen ab, so bleiben drei sachliche Einwände übrig, die der Diskussion bedürfen: Erstens vermißt Watkins ein hinreichend präzises Kriterium, das anstelle des ersatzlos gestrichenen Kriteriums der Falsifizierbarkeit darüber entscheidet, wie lange die stets vorhandenen Anomalien, welche jedes Paradigma in Kauf zu nehmen hat, noch erträglich sind bzw. wann sie zu seiner Preisgabe zugunsten eines neuen Paradigmaanwärters zwingen. Es müsse ein kritisches Niveau geben, bei dem eine Menge von Anomalien, die man noch tolerieren kann, in eine nicht mehr tolerable Menge übergehe. Solange nicht bekannt sei, wo dieses kritische Niveau liege, könne man ein solches Kriterium allerdings im Gegensatz zu Poppers Kriterium immer nur nachträglich, in retrospektiver Anwendung, geltend machen 37 . Kuhn hat eingeräumt, daß vorausschauend das Ende einer Tradition, die im Rahmen einer Theorie Rätsel löst, nicht bestimmt werden kann, jedoch klar gestellt, daß auch der Gedanke der Theorienprüfung nur im Prinzip präzise sei, sich in der praktischen Anwendung aber, nämlich dort, wo es gelte zu entscheiden, ob eine Theorie durch ihre Überprüfung falsifiziert sei oder nicht, sich in nichts von der 34 35 36 37

Watkins aaO. S. Kuhn : Reflections Watkins aaO. S. Watkins aaO. S.

31-33. on my Critics. aaO. S. 236, 237, 246, 247. 31/32. 30.

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

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gerügten Unbestimmtheit seines Kriteriums unterscheide. I m übrigen sieht er darin keinen essentiellen Nachteil, wie Watkins unterstellt, weil jeder Wissenschaftler selbst entscheiden müsse, ob seine Weiterarbeit an einer Theorie noch lohne oder ob er sich besser nach Alternativen umsehe. Viele Urteile, wonach eine Theorie aufgehört habe, eine rätsellösende Tradition hinreichend zu stützen, hätten sich rückblickend als falsch erwiesen. Wäre das Urteil der Fachleute von Anfang an einstimmig gewesen, hätte man es freilich nicht bemerkt. Umgekehrt sollte niemand abgehalten werden, das Wagnis auf sich zu nehmen, nach möglichen Alternativen zu suchen, auch wenn es manchem verfrüht erscheine 38. Zum zweiten bestreitet Watkins generell die Möglichkeit, daß am Ende einer Periode normalwissenschaftlicher Forschung, wie Kuhn sie darstellt, überhaupt ein neues Paradigma auftauchen könne. Durch ein einziges herrschendes Paradigma geleitet, habe der Wissenschaftler weder Zeit noch Gelegenheit, sich in kritische Distanz zu begeben und Schritt für Schritt Alternatiworschläge auszuarbeiten. Da indessen über die Bedeutung des Paradigmawechsels für die Wissenschaftsentwicklung auch nach Kuhn kein Streit bestehen könne, folgert er, daß es so etwas wie normale Wissenschaft gar nicht gebe 39 . Er unterstellt bei dieser Überlegung einmal mehr eine These, die Kuhn nicht vertreten hat, nämlich daß es zwischen dem Ende der Herrschaft eines alten Paradigmas und dem Beginn der Herrschaft eines neuen Paradigmas kein Interregnum gebe. Kuhn hat im Gegenteil ausführlich geschildert, wie sich allmählich die Fesseln des alten Paradigmas lockern, wie sich die Wissenschaftler von dem unfruchtbar werdenden Paradigma zu lösen beginnen, Alternativen ausdenken und diskutieren und wie schließlich ein Kampf zwischen verschiedenen Modellvorstellungen entbrennt. Die Entwicklung eines Paradigmakonkurrenten ist weder auf den Kopf eines einzelnen Wissenschaftlers beschränkt noch das Produkt eines Augenblicks, selbst wenn sich später Anhänger des alten Paradigmas durch einen dem Gestaltwechsel vergleichbaren, geistigen Vorgang überzeugen lassen. Schließlich macht Watkins 40 drittens geltend, daß Paradigmen, wären sie wirklich, wie Kuhn behauptet, unvergleichbar (inkommensurabel), nebeneinander bestehen können müßten, ohne sich logisch gegenseitig auszuschließen, ein Argument, das auch von anderen Kritikern vorgebracht worden ist und konkret anhand der Wissenschaftsgeschichte zu prüfen sein wird. Gegen die Existenz „normaler Wissenschaft" wendet sich auch Feyerabend , jedoch unter anderem Aspekt und mit anderer Intention. Er stimmt mit Kuhn überein, daß der Versuch, Wissen zu schaffen, eine Führung braucht, eine Theorie, einen Gesichtspunkt, der es dem Wissenschaftler ermöglicht, Wesentli38

Kuhn aaO. S. 248. Watkins aaO. S. 34-37; er scheint dabei die Widersprüchlichkeit seiner Argumentation zu übersehen, welche Normalwissenschaft nacheinander als normative Forderung, als Masse der wissenschaftlichen Arbeit und als gar nicht möglich behandelt. 40 Watkins aaO. S. 36. 39

20 Mittenzwei

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

ches von Unwesentlichem zu trennen, der ihn informiert, in welchen Bereichen der Forschung am ehesten nennenswerte Ergebnisse zu erzielen sind. Kuhn habe diesen Gedanken aber dadurch verschärft, daß er nicht nur den Gebrauch theoretischer Annahmen, sondern darüber hinaus die exklusive Auswahl einer bestimmten Menge von Ideen, das monomanische Interesse an bestimmten Gesichtspunkten für die Wissensvermehrung bzw. -Vertiefung als notwendig verteidige, weil nur so der jeweilige theoretische Rahmen ausgeschöpft und damit zugleich überwunden werden könne. Diese funktionale Begründung der normalen Wissenschaft fördere in seinen Augen Schwierigkeiten dreierlei Art zutage: Erstens sei es nicht leicht einzusehen, warum wissenschaftliche Revolutionen überhaupt erwünscht seien, da sie doch lediglich einen Paradigmawechsel verursachen, der die Lage der Wissenschaft nicht verbessere, weil prä- und postrevolutionäre Paradigmen inkommensurabel gegenüberstünden. Zweitens lasse das „Prinzip der Beharrlichkeit", nämlich Kuhns methodologischer Vorschlag, aus einer Anzahl von Theorien jene auszuwählen, welche die fruchtbarsten Ergebnisse verheißt und sie trotz logischer und empirischer Gegenargumente als Grundlage festzuhalten, nicht mit dem Umstand in Einklang bringen, daß nur das Wuchern konkurrierender Theorien die Möglichkeit in sich berge, von einem Bezugsrahmen zu einem anderen überzuwechseln. Die einleuchtende Vernünftigkeit, an entwicklungsfähigen Theorien festzuhalten, um sie zu verbessern und scheinbar unlösbare Schwierigkeiten zu bewältigen, habe die Konsequenz, daß selbst eindeutige Tatsachen zur Widerlegung der Theorie nicht mehr ausreichen, vielmehr andere Theorien ersonnen werden müssen, welche die Schwierigkeiten der ersten hervorheben und zugleich Lösungen versprechen; denn nur in diesem Fall werde die Beseitigung der ersten Theorie vom Prinzip der Beharrlichkeit selbst gefordert. Wenn aber die Änderung von Paradigmen das Ziel sei, müsse man auch bereit sein, Alternativen zum herrschenden Paradigma einzuführen und zu formulieren, oder, wie Feyerabend es ausdrückt, müsse man ein „Prinzip des Proliferierens" (ein Prinzip der Ideenwucherung) akzeptieren. Dies führe sogleich zur dritten Schwierigkeit, zu dem Verdacht nämlich, daß normale Wissenschaft, so wie Kuhn sie beschreibe, historisch gesehen, nicht existiere. Habe jedes Paradigma mit Anomalien zu kämpfen und werden Paradigmen nur mit Hilfe von Alternativen überwunden, dann spiele der Pluralismus von Theorien eine historische Rolle. Man könne annehmen, daß Perioden normaler Wissenschaft, wenn es solche überhaupt jemals gegeben habe, nie sehr lange dauerten, und Feyerabend schließt die Forderung an, sogleich mit der Vermehrung von Theorien zu beginnen und das Zustandekommen normaler Wissenschaft nicht zu erlauben. Kuhns Entdeckung der Funktion der Beharrlichkeit, die er irrtümlich als Periode der Beharrung eingeführt habe, müsse mit Poppers Entdeckung, daß Wissenschaft durch die kritische Diskussion alternativer Ansichten gefördert werde, zu einer Synthese gebracht werden; das wahre Verhältnis der Beharrlichkeit und der Proliferation sei ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit und der Wechselwirkung 41 .

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

307

Kuhn selbst hat sich gegen den ersten Einwand Feyerabends damit verteidigt, daß er ein vollständiges oder unausweichliches Versagen der Kommunikation nie behauptet habe. Dort, wo dieser einfach von Inkommensurabilität rede, habe er gewöhnlich auch von partieller Kommunikation gesprochen; im übrigen glaube er an eine beliebige Verbesserung der Kommunikation, so wie die Umstände es verlangen und die Geduld der Teilnehmer es erlaube. Zum zweiten stimme er mit Feyerabend überein, daß die zentralen Episoden des wissenschaftlichen Fortschritts die wissenschaftlichen Revolutionen seien, nur könnten sie nach seiner Auffassung nicht die ganze Wissenschaft ausmachen: zwischen den einzelnen Revolutionen sei noch etwas anderes im Gange. Erkenne man an, daß Wissenschaftler ihre Ideen notwendigerweise innerhalb eines theoretischen Rahmens entwickeln müssen, so könne die Herrschaft eines solchen Rahmens über die Geister nicht bloß stumpfsinnige, langweilig ermüdende Kleinarbeit bedeuten, und ebensowenig richtig sei es zu sagen, Wissenschaftler hätten die Möglichkeit, jederzeit aus ihrem Rahmen auszubrechen. Etwas als notwendig und zugleich als frei verfügbar zu behaupten, sei ein Widerspruch. „Revolution in Permanenz" als Forschungsstrategie, die Forderung, Wissenschaftler sollten zu jeder Zeit Kritiker und Vermehrer alternativer Theorien sein, verliere den Unterschied zwischen wissenschaftlicher, d. h. auf einem ausführlichen und präzisen Forschungsplan beruhender, und philosophischer, ständig auf Kritik und Neuerung bedachter, Argumentation aus dem Auge. Selbst wenn aber eine Theorie vorhanden sei, die einem Fachgebiet den Übergang in eine Reifephase erlaube — ein Vorteil, den keine Vorschrift zu erzwingen vermag — müßten sich die Wissenschaftler keineswegs unbedingt jenen Rätseln widmen, die ihnen die Theorie anbiete. Vielmehr stehe es ihnen frei, sich statt dessen wie die Mitglieder von Proto-Wissenschaften zu benehmen, und ihre Arbeit auf die Suche nach potentiell schwachen Punkten der herrschenden Theorie und die Entfaltung von Alternativen zu verlegen 42. Zum dritten, so kann man Kuhns Gegenargumente ergänzen, muß man ,Normalwissenschaft 4 als Beschreibung dessen, was Wissenschaftler bisweilen tatsächlich tun, und als Strukturschema bei der Diskussion auseinanderhalten. Einwände gegen die Existenz normaler Wissenschaft und Einwände gegen die historische Struktur, die Kuhn daraus ableitet, verlangen gesonderte Betrachtung. So erweckt es einen zwiespältigen Eindruck, wenn Feyerabend in seinem Beitrag wie schon zuvor Watkins zunächst behauptet, Normalwissenschaft existiere historisch gesehen nicht, dann fordert, normale Wissenschaft nicht zu erlauben, um im nächsten Satz wiederum einzuräumen, er wisse nicht, ob es normale Wissenschaft je gegeben habe, jedenfalls vermute er, daß sie nie lange Perioden der Wissenschaft gefüllt haben könne. Den Höhepunkt dieser Verwirrung bildet ein von ihm selbst gebildetes Beispiel, das den ständigen 41 Feyerabend : Consolations for the Specialist. In: Criticism and the Growth of Knowledge. Hrsg. v. Lakatos u. Musgrave. London 1970. S. 197 f f , 201-212. 42 Kuhn: Reflections on my Critics. aaO. S. 231 f f , 232, 241-246.

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308

C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Konkurrenzkampf einander ausschließender Paradigmen belegen soll, ihn aber schließlich zu dem Eingeständnis nötigt, „selbstverständlich (hätten) nicht alle Wissenschaftler an der Debatte teilgenommen, vielmehr die große Mehrheit sich weiterhin kleinen Rätseln gewidmet" 43 . Überhaupt fällt auf, wie bei Feyerabend die Vorstellung von dem, was ist, was wünschbar, erlaubt oder nicht erlaubt ist und was sein sollte, kontaminiert; folgerichtig stellt er auch nicht fest, wie Wissenschaft wirklich abläuft, sondern entwickelt eine der rationalistischen Methodologie wünschenswerte, alternative Möglichkeit, wie Wissenschaft ablaufen könnte. Damit ist aber gegen das durch historische Untersuchungen gestützte Faktum normaler Wissenschaft nichts ausgerichtet 44. 6. Was heißt „wissenschaftliche

Revolution"?

Kuhns funktionale Begründung der Normalwissenschaft, wenn es wissenschaftliche Revolutionen gibt, dann muß es auch eine wissenschaftliche Normallage geben, — von den Popper-Schülern Watkins und Feyerabend bezweifelt, weil sie in der Wissenschaftsentwicklung eine permanente Revolution erblicken — wird von anderen Kritikern umgekehrt gerade mit dem Argument in Frage gestellt, es gebe keine wissenschaftlichen Revolutionen und deshalb keine Normalwissenschaft. Ausgehend vom Begriff der Revolution' in der politischen Geschichte, behauptet Toulmin , die Diskontinuitäten der Wissenschaftsgeschichte wie der Geschichte überhaupt seien weniger tiefgehend und besser erklärbar, als Kuhn annehme. Die Veränderungen, welche während einer normalen bzw. während einer revolutionären Phase der wissenschaftlichen Entwicklung stattfanden, schafften keine Situation, in der auf der theoretischen Ebene vollständige Verständnislosigkeit zwischen den Vertretern der neuen und der älteren wissenschaftlichen Ideensysteme herrsche. Selbst wenn man einräume, daß die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens wichtige begriffliche Verwerfungen mit sich bringe und begriffliche Systeme, die sich innerhalb einer wissenschaftlichen Tradition gegenseitig verdrängen, auf verschiedenen, inkongruenten Prinzipien und Axiomen aufbauten, müsse man sich doch vor Kuhns revolutionärer These hüten, denn das Ersetzen eines Begriffssystems durch ein anderes habe gute, wenn auch nicht in noch breiteren Begriffen oder noch allgemeineren Axiomen formalisierbare Gründe. Was in der Systemdebatte von den Anhängern sowohl der älteren als auch der neueren Ansicht vorausgesetzt werde, sei kein gemeinsamer Grundstock der Prinzipien und Axiome, wohl aber ein solcher an „Auswahlverfahren" und „Auswahlregeln" , welche man nicht so 43

Feyerabend aaO. S. 207, 208. Feyerabend hat dies später eingesehen und entschlossen dem „Kritischen Rationalismus" den Rücken gekehrt. Vgl. Feyerabend : Wie wird man ein braver Empirist? Ein Aufruf zur Toleranz in der Erkenntnistheorie. In: Krüger (Hrsg.): Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften. Köln/Berlin 1970. S. 302 ff.; derselbe: Against Method. In: RadnerI Winokur (Hrsg.): Minnesota Studies in the Philosophy of Science. Bd. IV. Minneapolis 1970. S. 17 ff.; derselbe: Wider den Methodenzwang. Frankfurt/M. 1976. 44

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

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sehr als „wissenschaftliche Prinzipien", denn als „konstitutive Prinzipien der Wissenschaft" ansehen müsse. Diese mögen sich, wie Imre Lakatos es für den Fall der Kriterien des mathematischen Beweises demonstriert habe, im Laufe der Geschichte ändern, aber ihre Veränderung vollziehe sich viel langsamer als diejenige der Theorien, über welche sie richten. Begriffliche Inkongruenzen zwischen den Ideen aufeinanderfolgender Generationen von Wissenschaftlern tauchten in der Wissenschaftsgeschichte so häufig auf, daß man in ihnen schwerlich eine dramatische Unterbrechung der ,normalen', kontinuierlichen Konsolidierung der Wissenschaft im Sinne von wissenschaftlichen Revolutionen' erblicken könne. Die sogenannten Revolutionen verblaßten damit zu bloßen Variationseinheiten im Prozeß der wissenschaftlichen Veränderung, die absolute Form des Übergangs von einem System zum anderen, mit dem Begriff der wissenschaftlichen Revolution untrennbar verbunden, schrumpfe zu einer Folge von größeren und kleineren begrifflichen Modifikationen mit lediglich quantitativen Unterschieden untereinander. Verschwinde aber bei genauerem Hinsehen der überrationale Aspekt der geschichtlichen Diskontinuitäten, so löse sich auch die Basis der Unterscheidung zwischen »normaler' und ^evolutionärer' Veränderung in der Wissenschaft — der eigentliche Gehalt von Kuhns Wissenschaftstheorie — in Nichts auf und die Trennungselemente seines Wissenschaftskonzepts seien zerstört 45 . Toulmin plädiert statt dessen für eine Theorie der wissenschaftlichen Evolution, die sowohl über Kuhns „Katastrophentheorie" als auch über jene naiven Ansichten einer einförmigen Wissensakkumulation hinausführt und wie in anderen historischen Disziplinen das Problem der historischen Veränderung als Problem der Variation und der selektiven Beharrung neu interpretiert 40 . Es läßt sich nicht leugnen: Toulmin gelingt es in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Kuhnschen Wissenschaftskonzept, Schwierigkeiten sichtbar zu machen und Fragen zu stellen, die Kuhn zu Modifikationen seiner Theorie bzw. dem Bekenntnis zwingen, daß er die Antworten nicht wisse. Wahrscheinlich hatte Kuhn ursprünglich, als er in Anlehnung an die politische Geschichte den Ausdruck Revolution' wählte, um wissenschaftliche Umbrüche zu kennzeichnen, an jene großen Umwälzungen in der Naturwissenschaft gedacht, wie sie anfangs erwähnt wurden. Später, als er klarer sah, daß nicht Makro-, sondern Mikro-Revolutionen sein Arbeitsthema sind, jener — wie er selbst sagt — wenig untersuchte Typus der begrifflichen Veränderung auf einem bestimmten Fachgebiet, der in der Wissenschaftsgeschichte häufig vorkommt und wesentlich zu ihrem Fortschritt beiträgt, wurde seine Wortwahl zu einer Belastung des üblichen Wortgebrauchs von Revolution'. Sieht man von der terminologischen 45 Toulmin : Does the Distinction between Normal and Revolutionary Science hold Water? In: Criticism and the Growth of Knowledge. Hrsg. v. Lakatos und Musgrave. London 1970. S. 39 ff. (41-45). 46 Vgl. auch Toulmin : Die evolutionäre Entwicklung der Naturwissenschaft. In: Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Beiträge zur diachronischen Wissenschaftstheorie. Eingel. u. hrsg. v. Diederich. Frankfurt/M. 1974. S. 249 ff.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Übertreibung ab und entkleidet man die Trennungselemente ,normal' und ,revolutionär' ihrer rhetorischen Wirkung, dann kommt freilich eine hinter dem revolutionären Pathos verborgene, bislang nicht gelöste Schwierigkeit zum Vorschein: Wie weit müssen die begrifflichen Verschiebungen zwischen den paradigmatischen Modellen einer älteren und einer jüngeren Wissenschaftsgeneration gehen, damit der Übergang als Revolutionierung des Rahmenwerks (und nicht bloß als Korrektur des alten Paradigmas) bezeichnet werden kann? Toulmin vermutet, daß, abgesehen von einigen wenigen Jahrhundertereignissen, keine begriffliche Inkongruenz weit genug ging, um Kuhns ursprüngliches Kriterium zu befriedigen und fordert deshalb ein neues Abgrenzungsmerkmal 47 . Eine Antwort auf derartige Fragen ist schon deshalb schwierig zu finden, weil die Unterscheidung zwischen normalen und außerordentlichen Episoden der Wissenschaftsgeschichte ein sehr eingehendes historisches Studium erfordert, das bislang nur in wenigen Bereichen geleistet worden ist und von Kuhn alleine auch nicht geleistet werden kann 4 8 . Kuhn hat auf die Kritik hin seinen ursprünglichen Gedankengang insofern korrigiert, als er jetzt bei der Bewertung ,normal' oder revolutionär' nicht mehr allein auf den wissenschaftlichen Gegenstand schaut, sondern zugleich auf die ihn bearbeitende, wissenschaftliche Gemeinschaft: Für wen ist die vorgenommene Veränderung ,normal' bzw. ,revolutionär'? Es genügt nicht, das verändernde Ereignis namhaft zu machen, um die Bewertung vornehmen zu können, vielmehr ist es nötig, die Natur der Gruppenverpflichtungen vor und nach dem Ereignis zu kennen. Manche wissenschaftlichen Probleme bilden zur gleichen Zeit den Gegenstand mehrerer Wissenschaftsgemeinschaften, ohne eine kennzeichnende Spezialität für sie zu erlangen, andere werden zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Aspekten von einzelnen Gruppen bearbeitet. M i t der Benennung des gemeinsamen wissenschaftlichen Gegenstandes sind jene Gruppen, die gemeinsamen kognitiven Verpflichtungen gehorchen, nicht ausreichend identifiziert; gleich wichtig ist es zu wissen, welche Elemente der Erziehung und Bildung die Gruppe der Wissenschaftler, die jene spezielle Forschung betreibt, zusammenhält, wie weit die relative Vollständigkeit der Kommunikation und die relative Einstimmigkeit des fachlichen Urteils reicht, wie viele Mitglieder der Gemeinschaft angehören, wo die Grenzen zu rivalisierenden Schulen verlaufen und welche Veränderungen der Denkweise notwendig sind, um von einer Gruppe in eine andere überwechseln zu können. Unter Berücksichtigung solcher individueller Forschungseinheiten wird es nach Kuhn möglich sein zu bestimmen, welche konkreten Ereignisse für keine der Gemeinschaften, welche von ihnen für einzelne Gruppen und welche für die ganze Wissenschaft „revolutionär" gewesen sind 49 .

47

Toulmin : Does the Distinction between Normal and Revolutionary Science hold Water? aaO. S. 47. 48 Zu den Schwierigkeiten vgl. auch Williams : Normal Science, Scientific Revolutions and the History of Science. In Criticism and the Growth of Knowledge. Hrsg. v. Lakatos u. Musgrave. London 1970. S. 49, 50.

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

7. Eine Neuinterpretation

wissenschaftlicher

311

Theorien

Diese „Soziologisierung" des Forschungsansatzes — Kuhns grundlegende Kategorien der Wissenschaftsgeschichte, nämlich Normalwissenschaft, wissenschaftliche Revolution und Paradigma, werden nunmehr von ihm relativ zum Begriff der Wissenschaftsgemeinschaft (scientific community) verstanden — beschwört freilich die Gefahr eines „historischen Relativismus" herauf und hat zu neuerlichen Versuchen geführt, die logische Struktur der historischen Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte zu retten 50 ; hervorstechen dabei die Bemühungen von Sneed und Stegmüller, die „irrationalen Elemente" des Kuhnschen Wissenschaftsverständnisses nicht zu leugnen, sondern ernst zu nehmen und logisch zu interpretieren 51 . Auf dem Boden des herkömmlichen, metamathematischen Konzepts der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie und der daraus hergeleiteten Vorstellungen über das Verhältnis von Theorie und Erfahrung, bzw. wissenschaftlicher Theorien untereinander, konnte dies freilich nicht gelingen; vielmehr war ein Umdenken, ja geradezu ein „psychologischer Gestaltwechsel" bezüglich des Charakters wissenschaftlicher Theorien vonnöten 5 2 , um zu erkennen, daß diese —jedenfalls in der Physik—keine Systeme von Aussagen (Klassen von Propositionen) sind, wie man bisher meist angenommen hatte, sondern mengentheorethische Prädikate, die man mehr oder minder erfolgreich gewissen komplexen Gegenständen — bei Sneed physikalischen Systemen — unter der Voraussetzung, daß ihnen eine mathematische Struktur 49

Kuhn: Reflections on my Critics. aaO. S. 231, 252, 253; ferner derselbe: Die Entstehung des Neuen. Frankfurt/M. 1977. Vorwort. S. 43 f.; derselbe: Logik oder Psychologie der Forschung? Ebda. S. 357 ff. 50 Zur „Historismusdiskussion" vgl. Baumgartner. Hat der Disput um die Wissenschaftsgeschichte das Selbstverständnis der Wissenschaften und Wissenschaftstheorie verändert? In: Müller/Schepers/Totok (Hrsg.): Die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte für die Wissenschaftstheorie. Wiesbaden 1977. S. 29 ff., 31 ff., 36; Mittelstraß: Historismus in der neueren Wissenschaftstheorie. Ebenda. S. 43 ff., 51 f.; Schnädelbach: Wissenschaftsgeschichte und Historismus. Ebenda. S. 62 ff.; Bubner. Faktum der Wissenschaft und Paradigmenwechsel. Ebenda. S. 78 ff., 89 ff. 51 Vgl. Sneed: The Logical Structure of Mathematical Physics. Dordrecht 1971; derselbe: Describing Revolutionary Scientific Change. A Formal Approach. In: Proceedings of the 5th Internat. Congr. of Logic, Methodology and Philosophy of Science. London (Ontario) 1976; Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analyt. Philosophie. Bd. II. 2. Halbbd. Berlin/Heidelberg/New York 1973. S. 27 ff., 153 f f , 203 ff.; derselbe: Theoriendynamik und logisches Verständnis. In: Diederich: Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt/M. 1974. S. 167 ff.; derselbe: Structures and Dynamics of Theories. Some Reflections on J. D. Sneed and Th. S. Kuhn. In: Erkenntnis 9 (1975). S. 75 ff.; derselbe: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel. Stuttgart 1979. S. 108 f f , 131 ff.; derselbe: Eine kombinierte Analyse der Theoriendynamik. Verbesserung der historischen Deutungen des Theorienwandels mit Hilfe mengentheoretischer Strukturen. In: Radnitzky/Andersson (Hrsg.): Voraussetzungen und Grenzen der Wissenschaft. Tübingen 1981. S. 277 ff. 52 So ausdrücklich Stegmüller: Akzidenteller (nicht substantieller) Theorienwandel und Theorienverdrängung. In: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem Wandel. aaO. S. 133.

312

C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

angemessen ist, zuordnen konnte. Wo es um die Widerspruchsfreiheit, die Entscheidbarkeit, die Vollständigkeit, die Unabhängigkeit von Axiomen usw. geht, wie in der Metamathematik, ist die Gleichsetzung von Theorien mit Satzklassen zugestandenermaßen fruchtbar, weil die auftretenden Probleme sich auf Fragen über das Bestehen von Ableitungs- und Folgerungsbeziehungen zwischen Sätzen (Propositionen) zurückführen lassen, nicht jedoch dort, wo sich das von Kuhn beschriebene Phänomen normaler Wissenschaft beobachten läßt. Wissenschaftler, die sich einer bestimmten Tradition verpflichtet fühlen, verfügen über ein und dieselbe Theorie und man wird ihnen nicht gerecht, wenn man dieses „Verfügen" als Glauben an die Richtigkeit einer Klasse von Sätzen statt als Handhaben eines Werkzeugs interpretiert; denn trotz der gemeinsamen Grundlage können die Wissenschaftler mit ihr ganz verschiedene Überzeugungen und verschiedene Annahmen verbinden 53 . Gibt man die Aussagenkonzeption preis, verändert sich auch der Begriff der Rationalität: galt bislang, entsprechend dem Vorbild logischer Argumentation in der Mathematik, nach der einen Auffassung nur das induktive Schließen, nach der anderen nur die deduktive Methode der strengen Nachprüfung als korrekt, so ist man, nachdem die fiktive Gleichsetzung von mathematischen und empirischen Satzklassen durchschaut ist, nicht mehr gezwungen, die Rationalität der Erfahrungswissenschaften auf einen Begriff spezifisch-empirischer Argumentation zu gründen; ja es gibt überhaupt keinen Grund mehr, auf nur einer Art von wissenschaftlicher Rationalität zu beharren. Und in der Tat ersetzt Stegmüller den monistischen Rationalitätsbegriff durch einen dualistischen, indem er der normalen Tätigkeit innerhalb einer Theorie und der theorieüberschreitenden, außerordentlichen in Krisenzeiten verschiedene Rationalitätskriterien zuschreibt 54 . Ein weiterer Vorteil der Neuorientierung im Hinblick auf den Paradigmabegriff Kuhns steckt in der durch Öffnung nach vorne erzeugten Beweglichkeit wissenschaftlicher Theorien; nimmt man an, daß jede Theorie einen Strukturkern Κ besitzt, der bei normal-wissenschaftlicher Arbeit trotz aller Ausgestaltungen der Theorie beibehalten wird, und einen Strukturrahmen E, den man ständig neuen Prüfungen unterzieht, so wird der ursprünglich mit dem Entwurf des Strukturkerns verbundene Bereich I 0 typischer Anwendungen anhand von Standardbeispielen ständig durch neue ergänzt und allmählich umfassend erweitert 55 . Wissenschaftlicher Fortschritt wird dadurch erzielt, daß man einerseits durch möglichst spezifische Aussagen über den intendierten Anwendungsbereich I (I 2 lo) den Strukturrahmen E ausdehnt (oder verschärft), andererseits erdachte Anwendungsfälle empirisch erprobt (Maximierung von I bei gegebenem E), wobei der theoretische und empirische Prozeß sich gegenseitig begrenzen. Explikation von Theorien, Ausgestaltung und Entfaltung von 53

Stegmüller. Theoriendynamik und logisches Verständnis. aaO. S. 172. Stegmüller aaO. S. 173. 55 Stegmüller aaO. S. 187 verwendet den Paradigmabegriff Kuhns übrigens im engen Sinne, d. h. er bezeichnet damit nur die „Menge der intendierten Anwendungen einer Theorie", also eine bestimmte Komponente seines Theoriebegriffs. 54

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

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wissenschaftlichen Systemen, ist schon insofern rational und ein Fortschritt, als sichtbar gemacht wird, was alles in einer Theorie (bzw. einem System) steckt, was sie leistet und was sie nicht leistet; ohne Explikation bleibt jede Theorie, bleibt jedes System unzusammenhängend, fragmentarisch, bruchstückhaft, unharmonisch. Besteht die normale Tätigkeit eines Wissenschaftlers im Ausbau des Theoriekerns und in der Vergrößerung seines Anwendungsbereichs, so kann ihm zwar dies oder jenes Vorhaben mißlingen, jedoch wird der Mißerfolg nicht als Falsifikation der Theorie, vielmehr höchstens als Disqualifikation des Wissenschaftlers angesehen werden 56 . Allerdings kann sich das Problem der Anwendbarkeit auf bestimmte, intendierte Anwendungsfalle derart verschärfen, daß die jeweilige Wissenschaftsgemeinschaft weitere Versuche aufgibt und, zu der von Kuhn beschriebenen, außergewöhnlichen Forschung übergehend, nach neuen, erfolgversprechenden Strukturkernen Ausschau hält. Prinzipiell gibt es drei Möglichkeiten, die zu einer bestimmten Zeit festgelegte Menge I 0 der intendierten Anwendungen einer Theorie zu bestimmen: a) explizit extensional, indem man alle Anwendungen der Theorie mittels einer Liste aufzählt; b) intensional, d. h. durch Definition eines Merkmals, welches für die Zugehörigkeit zu I notwendig und hinreichend ist; und c) paradigmatisch (unvollkommen intensional) durch die Angabe von Standardbeispielen für die Zugehörigkeit zu I. Die dritte Möglichkeit dürfte — nicht nur in den Naturwissenschaften — am häufigsten vorkommen, weil nur sie den Freiraum läßt, den ein Wissenschaftler zu eigener Tätigkeit braucht; sie erklärt auch, warum Wissenschaftler trotz Übereinstimmung in der Grundlage miteinander unverträgliche Hypothesen vertreten können, läßt sich doch der Strukturkern, selbst bei Wahl der gleichen paradigmatischen Ausgangsmenge I 0 , zu ganz verschiedenen Erweiterungen benützen. Auch im revolutionären Verdrängungsprozeß zwischen konkurrierenden Theorien kann Falsifikation keine Rolle spielen, weil keine noch so große Anzahl gescheiterter Versuche, den jeweiligen Strukturkern in fruchtbarer Weise auszuweiten, einen schlüssigen Beweis dafür liefert, daß dieses Unterfangen unmöglich ist; der Mißerfolg trifft allemal den Handwerksmeister, nicht sein (bislang mehr oder weniger gut zu gebrauchendes) Werkzeug, die Theorie. Erst wenn die Wissenschaftsgemeinschaft ein Werkzeug ausfindig gemacht hat, mit dem sie noch „besser" arbeiten zu können glaubt als mit dem alten, legt sie es nach geraumer Zeit beiseite. Während jedoch Kuhn nicht sagen kann, wann eine Theorienverdrängung zu einem Erkenntnisfortschritt führt und wann nicht, er sich vielmehr in dieser Frage hilfesuchend an die Sozialwissenschaften wendet, wobei ihm anscheinend eine Lösung des Problems mit Hilfe von Kriterien vorschwebt, die aus der darwinistischen Evolutionstheorie bekannt sind, will Stegmüller den Unterschied anhand eines mengentheoretischen, inhaltlich 56

Stegmüller aaO. S. 174, 189 ff., sieht hier also Popper gegenüber Kuhn im Unrecht; Theorien seien im hohen Grade unempfindlich gegen mögliche falsifizierende Erfahrung; diese Eigenschaft der Theorien als Produkt einer verwerflichen Immunisierungsstrategie aufzufassen, welche rationales, wissenschaftliches Denken korrumpiere, sei irrig.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

adäquaten „Begriffs der Theorienreduktion" bestimmen 57 . Revolutionärer, wissenschaftlicher Fortschritt liegt danach vor, wenn die verdrängte Theorie auf die an ihre Stelle tretende reduziert werden kann. Ist eine solche Reduktion möglich, erscheint auch die These Kuhns von der „Inkommensurabilität" der Theorien in einem neuen Lichte: Zwar ist es richtig, daß innerhalb des Aussagenkonzepts von Theorien die Grundbegriffe der einen nicht mit Hilfe der Begriffe der anderen definiert werden können, daß Axiome und Lehrsätze der einen Theorie nicht aus Axiomen und Lehrsätzen der anderen herleitbar sind; mengentheoretisch betrachtet, ist eben der Strukturkern der Ersatztheorie mit dem Strukturkern der verdrängten Theorie nicht identisch; gleichwohl ist es möglich, einen Vergleich zwischen den Strukturkernen, ihren intendierten Erweiterungen und gelungenen, praktischen Anwendungen vorzunehmen und festzustellen, was sie bezüglich Deutung, Erläuterung und Interpretation von Sachverhalten — oder auch in prognostischer Hinsicht — leisten 58 . Kuhns These, daß wissenschaftliche Revolutionen keinen kumulativen Fortschritt bedeuten, ist demnach dahin zu modifizieren, daß zwar Begriffs- und Satzgerüst innerhalb der Aussagenkonzeption einer Theorie nicht mit dem Begriffs- und Satzgerüst einer anderen Theorie verglichen werden kann, daß aber ein Leistungsvergleich möglicherweise eine Reduktion der einen Theorie auf die andere zutage fördert. Kann die neue Theorie Unklarheiten beseitigen und Widersprüche aufheben, mit der die alte bislang vergeblich kämpfte, oder stellt sie in überzeugender Weise umfassendere Zusammenhänge mit anderen Theorien (Systemen) her, so ist sie der alten Theorie offenbar überlegen. In diesem Fall ist es dann durchaus noch sinnvoll, von einem „wissenschaftlichen Fortschritt" zu sprechen, wenn auch nicht in Richtung auf eine „wahre Verfassung der Natur", so doch in Richtung auf ein umfassenderes Verständnis funktionaler Zusammenhänge zu menschlichen Zwecken. Es ist gegenwärtig noch nicht abzusehen, inwieweit die angedeutete Auffassung Stegmüllers über wissenschaftliche Theorien und seine Interpretation der Wissenschaftsdynamik eine befriedigende Antwort der Wissenschaftstheorie auf die Herausforderung Kuhns darstellt 59 , jedenfalls führt sie ein ganzes Stück über die erwähnte Kontroverse Kuhns mit Popper und seiner Schule hinaus. Die ausdrückliche Beschränkung auf die Probleme der theoretischen Physik hat aus der Sicht des Rechtswissenschaftlers allerdings den Nachteil, daß eine sinngemäße Übertragung auf andere Wissenschaftsbereiche, die weniger formal und quantitativ durchgebildet sind als die mathematische Physik, nur im Wege erheblicher Umdeutungen denkbar ist. Kuhn hat zwar bei der Beschreibung seines Entwicklungsmusters ebenfalls in erster Linie an die Physik gedacht, seinen Paradigmabegriff jedoch intuitiv so gefaßt, daß er durchaus in anderen 57 Stegmüller. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. II. 2. Halbbd. Berlin/Heidelberg/New York 1973. S. 144 ff. 58 Stegmüller. Theoriendynamik und logisches Verständnis. aaO. S. 198 f. 59 Kritisch Hübner. Kritik der wissenschaftlichen Vernunft. Freiburg/München 1978. S. 291 ff.

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

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Forschungsbereichen fruchtbar gemacht werden kann; nicht zuletzt auf diesem Umstand beruht ein Großteil der Resonanz, die sein Buch weltweit gefunden hat. Im Blickwinkel der eingeschränkten Zielsetzung Stegmüllers ist es verständlich, wenn der Begriff des Paradigmas nur mehr in einer seiner beiden Hauptbedeutungen erscheint, nämlich derjenigen der Problemlösung durch analoge Heranziehung von Standardbeispielen, während die zweite Hauptbedeutung, das, was Kuhn zuletzt als „disziplinäre Matrix" bezeichnete, aus der logischen Rekonstruktion weitgehend herausfallt. Damit geht aber die Einsicht verloren, daß nicht nur einzelne wissenschaftliche Theorien, sondern ganze Theoriensysteme, ja sogar die wissenschaftstheoretische Deutung derselben, paradigmatischen Umwälzungen unterworfen ist, und folglich die Rekonstruktion eines Teilbereiches, nämlich der über eine „Theorie verfügenden Normalwissenschaft", zu kurz greift. Es ist schwer vorstellbar, daß die Inkommensurabilität vor- und nachrevolutionärer Paradigmen, die Kuhn als die Unvereinbarkeit von Weltentwürfen interpretiert, durch die Unvergleichbarkeit der ohne weiteres objektivierbaren und rationaler Diskussion zugänglichen Strukturkerne einzelner Theorien — von der Physik abgesehen — angemessen beschrieben wird. So wenig das Beharren auf einer einzigen Art wissenschaftlicher Rationalität einleuchtet, so wenig spricht dafür, rationale Rekonstruktion von vornherein auf logische und formal faßbare, pragmatische Aspekte einzuengen. Im übrigen ist mit der begrifflichen Unterscheidung von Strukturkern Κ (dem nichtempirischen Apriori der Theorie) und der Erweiterung E noch nicht dargetan, wie diese beiden Bereiche objektiv (also nicht willkürlich durch den jeweiligen Betrachter) gegeneinander abzugrenzen sind. Welche Kriterien zeichnen eine formale Konstruktion, ein Prinzip, eine leitende Idee als gegen empirische Kritik unempfindlichen Strukturkern aus, wie werden sie selbst gerechtfertigt? Keine formale, mengentheoretische Darstellung kann bei dieser Frage inhaltliche Untersuchungen darüber ersparen, warum es in einer bestimmten historischen Epoche nicht bloß psychologisch verständlich, sondern sachlich begründet war, sich auf ein Paradigma zu versteifen. 8. Die Erforschung kultureller Regelsysteme als wissenschaftsgeschichtliche Leitidee Fassen wir das Wesentliche zusammen und ziehen wir erste Schlußfolgerungen: Kuhn hat mit der von ihm herausgearbeiteten Unterscheidung zwischen Phasen normaler, fachwissenschaftlicher und außerordentlicher, um ihre Grundlagen und um ihr Selbstverständnis ringender Wissenschaft intuitiv einen Wesenszug neuzeitlicher Wissenschaft überhaupt getroffen; der von ihm dabei als Grenzkriterium benutzte Paradigmabegriff mag ungenau und Mißverständnissen ausgesetzt sein, er bringt jedoch als Summe einer facettenreichen Beschreibung treffend zum Ausdruck, was man in der Terminologie des Idealismus als die Vorgängigkeit der praktischen vor der theoretischen Vernunft bezeichnen kann. Auf allen Gebieten wissenschaftlicher Forschung liegen der Konstruktion und Beurteilung von Theorien eine Reihe von Festsetzungen

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

voraus, die weder eine logische noch eine transzendentale Verbindlichkeit besitzen und einzig und allein historisch, aus einer bestimmten Wissenschaftstradition heraus, begründet und verstanden werden können. U m solche Wissenschaftstraditionen greifbar zu machen, ist es notwendig, über einzelne fachwissenschaftliche Theorien oder Theoriengruppen hinaus das ganze geschichtliche System einer bestimmten Epoche als „Systemmenge" ins Auge zu fassen. Die Struktur dieser Systemmengen wird dabei, wie sich mit guten Gründen vermuten läßt, einerseits wohl im Einklang mit den zeitgenössischen, physikalischen, biologischen, psychologischen und sonstigen Theorien stehen, darüber hinaus aber ganz wesentlich durch Regeln bestimmt sein, die Menschen, aus welchen Gründen auch immer, selbst gesetzt haben: Regeln des Staatslebens, der Wirtschaft, der Religion, der Kunst und nicht zuletzt der Sprache 60 . Diese dem Wandel unterworfenen, geschichtlichen Regelsysteme, deren es ebenso viele gibt, wie unterscheidbare Lebensbereiche, besitzen infolge ihrer Vagheit mehr oder weniger große Entscheidungsspielräume und lassen sich wegen ihrer Komplexität und Größe als Gesamtsystem wohl kaum erfassen, entbehren darum jedoch weder einer einsehbaren, inneren Harmonie mannigfach in Beziehung gesetzter Teile, noch der Rationalität und Logik, um nicht konkreten historischen Wissenschaftsgemeinschaften bei einem bestimmten, erreichten Kenntnisstand als paradigmatischer Wegweiser und damit als Basis rationaler Entscheidungen dienen zu können. Natürlich ist damit nicht gesagt, daß die gegliederten Teilsysteme nicht miteinander konkurrieren, um Vorherrschaft ringen, sich gegenseitig als Mittel zu eigenen Zwecken gebrauchen, so daß nur fortwährende, angestrengte Bemühung um inneren Ausgleich einseitiges, erdrückendes Übergewicht einzelner Teile oder ein Auseinanderbrechen in chaotische Regellosigkeit und Willkür verhindert. Der Makel der Unstimmigkeit und des Widerspruchs innerhalb einer historischen Systemmenge, der Verstoß gegen den theoretischen bzw. praktischen Imperativ als Vernunftgebot 6 1 , ist die bewegende Ursache für die mit den jeweils vorhandenen Mitteln aus sich selbst heraus bewirkte, innere Wandlung des Gesamtsystems; und die von Kuhn so treffend beschriebene Entfaltung und Mutation wissenschaftlicher Paradigmen ist ganz wesentlich Selbstbewegung solcher Systemmengen in Richtung auf ein besser durchschautes Ganzes 62 . Kulturelle Regelsysteme als geschichtliche Teilsysteme eines größeren Ganzen haben die gleiche logische Form wie naturwissenschaftliche Theorien, insofern bei ihnen die (vergangene) Wirksamkeit eines strukturierten Zusammenhangs von Handlungsanweisungen in einem Gebilde kultureller Erscheinungen in gleicher Weise vorausgesetzt wird wie bei naturwissenschaftlichen (ζ. B. 60

Vgl. Hübner: Kritik der wissenschaftlichen Vernunft. Freiburg/München 1978. S. 193 ff. 61 Vgl. oben S. 198. 62 Ähnlich Hübner aaO. S. 202 f.; die Idee der „Selbstbewegung" von Systemen (des objektiven Geistes) geht auf Hegel zurück (vgl. oben S. 85 f.), dessen Dialektik Hübner aaO. mißversteht. Ob Geschichte „kontingent" ist oder nicht, kann niemand wissen!

III. Kritik und Modifikation der historischen Rekonstruktion

317

physikalischen) Theorien die Wirksamkeit eines strukturierten Zusammenhangs von Gesetzmäßigkeiten in einem Gebilde natürlicher Erscheinungen; und auch das Problem der Rechtfertigung der apriorischen Festsetzungen und Grundsätze stellt sich in beiden Bereichen in gleicher Weise. Das kausale oder probabilistische „Erklären" der Phänomene mit Hilfe naturwissenschaftlicher Theorien bzw. (ehemals) wirksamer kultureller, politischer, religiöser und sonstiger Regeln ist das Spiegelbild zum teleologischen „Verstehen" derselben in Richtung auf einen systematischen Zusammenhang im Interesse der Herstellung von Ganzheiten, wobei es nicht darauf ankommt, ob das Ziel der Einheit und Harmonie wirklich erreicht worden ist oder nicht. Nur in der teleologischen Perspektive läßt sich von Fehlentwicklungen sprechen, von Störungen, Widersprüchen und Ungereimtheiten, die nach Beseitigung bzw. Aufhebung drängen, nur in diesem Blickwinkel zeigt sich, wie das, was ist, nach dem fordert, was sein soll. Die Grenze zwischen nomologischen und idiographischen, zwischen Naturund Geisteswissenschaften wird an dieser Stelle wissenschaftstheoretisch durchbrochen und in den Gegensatz zwischen realitätsbezogenem, deduktiv-nomologischen Wissenserwerb und geltungsbezogener, teleologischer Rechtfertigungsbemühung verwandelt. Regelsysteme und die ihnen eigene Handlungswirksamkeit waren und sind das bevorzugte Thema der hermeneutisch-dialektischen Philosophie, die in der wissenschaftlichen Grundlagendiskussion hier nunmehr ihre Rechtfertigung erfahrt; nach Ansicht dieser Denktradition sind Ereignisse und Handlungen nur durch den Rückbezug auf teleologische Hintergründe oder, in der Terminologie des 19. Jahrhunderts, auf den „geschichtlichen Geist" verstehbar. So zerfällt etwa schon bei Hegel die Aufgabe der historischen Erklärung in die Teilaufgabe des Verstehens des Zusammenhangs zwischen subjektivem (zwecksetzendem) und objektivem Geist, der alle Zwecksetzungen (als Prämissen praktischer Schlüsse) mit den geschichtlich-objektiv gewordenen Zwecksystemen vermittelt, und in die Teilaufgabe des Berichtens und Beschreibens von Situationen, in denen sich die Beziehungen zwischen subjektiv gesetzten und objektiv „vorgegebenen" Zwecken (oft entscheidend) modifizieren 63 . Gegenstand historischer Erklärungen ist nach Hegel nicht allein die Individualpraxis einzelner Personen oder die Partialpraxis einer Gruppe (ζ. B. einer Wissenschaftsgemeinschaft), sondern auch die aufeinanderfolgende Gesamtpraxis ganzer Epochen. Wer dieses systematische Streben nach höherer Einheit und Harmonie als rein ästhetisches Phänomen begreift oder gar der Unterdrückung von Widersprüchen und der Verfälschung der Wirklichkeit zeiht, verkennt sowohl den Charakter der menschlichen Vernunft als auch das Ethos der Verpflichtung der Wissenschaftsgemeinschaft auf eine wie immer definierte Wahrheit und wird dem Grundproblem praktischer Philosophie, der Rechtfertigung von Zwecken und Normen, nicht näherrücken. Stetigkeit des Fortschritts, wie Hegel annahm, 63 Vgl. Riedel. Teleologische Erklärung und praktische Begründung. In: Apelj M anninen ITuomela: Neue Versuche über Erklären und Verstehen. Frankfurt/M. 1978. S. 7ff., 21.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

ist damit keineswegs behauptet, denn so wie jede Änderung eines Teilsystems Rückwirkungen auf das Gleichgewicht im Gesamtsystem hat, so führt auch jede Änderung zu neuen Fragestellungen, neuen Forschungszielen und Systembegriffen, ohne daß jemand sagen könnte, wohin der eingeschlagene Weg die Wissenschaft am Ende führt.

IV. Tradition und Neuerung in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft 1. Rechtswissenschaft

als Normalwissenschaft

Nach diesem Blick über den Zaun in ein Problemfeld zeitgenössischer, wissenschaftstheoretischer Diskussion, herausgefordert durch die Thesen eines historischen Wissenschaftskonzepts, das gegenüber geschichtslosem, mathematisch-strukturalistischem Denken und einseitig rationalistischem Wissenschaftsverständnis dem vernachlässigten gesellschaftlich-dynamischen Entwicklungsaspekt zu seinem Recht verhilft, ist es an der Zeit, einige Parallelen zur gegenwärtigen Diskussion in der Rechtswissenschaft zu ziehen. Sieht man von der (jedenfalls für die Erfahrungswissenschaften) wiederentdeckten, historischen Perspektive ab, so sind es vor allen Dingen zwei Einsichten, die aus der geschilderten, wissenschaftstheoretischen Diskussion für den Entwurf einer theoretischen Basis methodisch geleiteter, juristischer Forschungsarbeit festzuhalten sind: Kuhns Entdeckung der Normalwissenschaft und die damit zusammenhängende Unterscheidung verschiedener Argumentationsrahmen und -ebenen. Beide Einsichten ziehen methodische Konsequenzen nach sich, die es nun herauszuarbeiten und darzustellen gilt. Vorausgesetzt, es ist möglich, in der Rechtswissenschaft ebenso wie auf anderen Fachgebieten durch Bestimmung einzelner paradigmatischer Rahmen normale und außerordentliche Wissenschaft abzugrenzen und durch Kennzeichnung der Übergänge von einem Rahmen zum anderen wissenschaftliche Entwicklung erkennbar zu machen, dann hat dies zur Folge, daß künftig der Gebrauch paradigmaabhängiger, innertheoretischer Regeln und Methoden von dem Gebrauch paradigmaunabhängiger, intertheoretischer Regeln geschieden werden muß; innertheoretische Regeln und Methoden versagen, wo die Gemeinsamkeit des sichernden Paradigmas fehlt, und intertheoretische Regeln der Diskussion sind nicht geeignet, Lösungen von wissenschaftlichen Detailproblemen allgemeine Anerkennung und Verbindlichkeit zu sichern. Da Kuhn selbst keinen Begriff des paradigmatischen Rahmens liefert, ja sogar die Auffassung vertritt, daß er sich grundsätzlich begrifflicher Bestimmung entziehe, bleibt zunächst nichts anderes übrig als zu versuchen, anhand der von ihm beschriebenen Symptome normalwissenschaftlicher Forschung analoge Tätigkeiten auf rechtswissenschaftlichem Gebiet sichtbar zu machen. Die Beschreibung des Paradigmas als die in einer bestimmten Tradition wissen-

IV. Tradition und Neuerung in der Rechtswissenschaft

319

schaftlicher Forschung herangereifte Summe anerkannter Leistungen, welche einer Gemeinschaft von Fachleuten zeitweise ein Modell samt Gesetzen, Theorien, normativen Regeln, Methoden und Hilfsmitteln zur Lösung sachbezogener Probleme liefert, legt schon durch die Äquivokation der Begriffe Gesetz, Theorie und Regel den Gedanken nahe, normalwissenschaftliche, juristische Tätigkeit in der Ausarbeitung von positiven Gesetzen zu Normgefügen und Gesetzessystemen, gerichtlicher Entscheidungen zu präjudizierenden Regeln der Rechtsprechung, allgemeinen Rechtsgrundsätzen, Prinzipien oder Leitvorstellungen zu sehen. Positive Gesetze wählen unter denkbaren, alternativen Lösungsvorschlägen für konkrete Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens bestimmte erfolgversprechende aus und schreiben sie für jedermann verbindlich vor; dadurch setzen sie sicherlich nicht nur der Rechtspraxis, sondern auch der Rechtswissenschaft selbst einen Rahmen für die weitere Diskussion. Ob allerdings die vom Gesetzgeber jeweils ausgewählte Lösung des Ordnungsproblems tatsächlich besser ist als andere und sich überhaupt verwirklichen läßt, muß erst der juristische Alltag erweisen, der in nichts anderem besteht — so könnte man in leichter Abwandlung von Kuhns eigenen Worten sagen —, als in der Erweiterung der Kenntnis über praktische, für das Gesetz besonders aufschlußreicher Fälle, in der Verbesserung des Zusammenspiels von sozialer Wirklichkeit und gesetzlicher Normierung und in der fortschreitenden Präzisierung des Gesetzes selbst. Ähnliches gilt für höchstrichterliche Urteile, die, einmal gefallt und als Leitsatzentscheidungen anerkannt, nicht bloß wie Flexionsmuster wiederholt, sondern unter neuen und strengeren Voraussetzungen zu immer feineren Regeln fortentwickelt werden. Die Phase der Entstehung eines Gesetzeswerkes bis zu seinem Erlaß ist gewöhnlich gekennzeichnet durch das Sammeln und Anhäufen einschlägiger, sozialwissenschaftlicher, kriminologischer, medizinisch-psychologischer oder naturwissenschaftlicher Fakten, deren Vielfalt und zufalliges Vorhandensein eine objektive Auswahl unter den im Wettstreit liegenden Auffassungen über den Inhalt der zu treffenden Regelung nicht zulassen. Sieht man einmal von den politischen Besonderheiten ab, die in einem gesetzgebenden MehrparteienParlament herrschen, und unterstellt man eine Verwissenschaftlichung der Gesetzgebung, wie sie verschiedentlich vorgeschlagen worden ist 1 , oder zumindest doch eine wissenschaftliche Beratung, dann kann in der Regel jeder der vorgelegten Gesetzentwürfe wenigstens zu einem Teil wissenschaftliche Beobachtung und methodisches Vorgehen für sich in Anspruch nehmen. Nicht anders als in den Naturwissenschaften schränken Fakten, Beobachtung und Erfahrung (hinsichtlich der zu erwartenden sozialen Wirkungen) sowie methodologische Richtlinien den Kreis der möglichen Lösungen zwar ein, sind jedoch offensichtlich außerstande, das aus persönlichen und weltanschaulichen Gründen ableitbare, willkürliche Element der Überzeugungsbildung bei beratenden Wissen1 Vgl. ζ. B. Beutel: Experimental Jurisprudence and the Scienstate. In: Industriegesellschaft und Recht. Hrsg. ν. M. Rehbinder und Β. Rebe. Bd. 1. Bielefeld 1975; dazu meine Bespr. in RdA 1975, 257.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

schaftlern und entscheidenden Parlamentariern auszuschalten. Gleichwohl ist, nachdem einmal die mehrheitliche Entscheidung zugunsten des einen oder anderen Gesetzentwurfs getroffen wurde, auch in der Rechtswissenschaft zu beobachten, daß sich die meisten Rechtswissenschaftler — auch diejenigen, die gegen den Entwurf Stellung bezogen hatten — dem neuen Gesetz als Arbeitsmodell zuwenden. Wer sich an alte, nicht Gesetz gewordene Entwürfe klammert, wird mit dem für Juristen typischen Argument, es handele sich um Äußerungen de lege ferenda, nicht de lege lata, aus der sich neu formierenden Gemeinschaft der Gesetzesexperten ausgeschlossen und muß sich ein anderes Arbeitsfeld suchen. Wer dagegen am Gesetz arbeitet, braucht dessen Zwecke, Grundprinzipien oder neu eingeführte Begriffe nicht von neuem zu rechtfertigen, sondern kann mit seiner Untersuchung sofort dort anfangen, wo der Gesetzgeber und andere Wissenschaftler aufgehört haben. Konzentrierte Aufmerksamkeit auf einen relativ kleinen, sozialen Problembereich führt auch in der Rechtswissenschaft zu beachtlicher geistiger Durchdringung aller damit zusammenhängenden, rechtlichen Fragen. Und genau, wie Kuhn es schildert, beginnen sich die vom Gesetz auferlegten Bindungen wieder zu lockern, wenn sich Anomalien im Sinne vom Gesetz aufgenötigter, von den Fachleuten als unbefriedigend empfundener Entscheidungen häufen oder sich die Überzeugung von einer veränderten, sozialen Problemlage durchsetzt. Normalwissenschaft ist aber nicht nur die Arbeit an positiven Gesetzen, wie sie uns in der juristischen Fachliteratur (Kommentaren, Monographien, Abhandlungen in Fachzeitschriften) begegnet, sondern auch die Auseinandersetzung mit den zahllosen Entscheidungen der Rechtspraxis, insbesondere der Gerichte, in Form von Gutachten, Stellungnahmen, Anmerkungen und Aufsätzen, sofern es um die Signifikanz bestimmter, praktischer Fälle für Gesetzesnormen oder die gegenseitige Anpassung von geregelter Materie und gesetzlichen Voraussetzungen oder Rechtsfolgen geht; zur Normalwissenschaft lassen sich schließlich — mit gewissen Einschränkungen — die juristischen Lehrbücher, Examens- und Doktorarbeiten zählen. Auch ein erheblicher Teil der juristischen Fachliteratur zeichnet sich durch einen hohen Grad der Spezialisierung aus, der die Kenntnis des zugrunde liegenden Bezugsrahmens voraussetzt und folglich nur von Fachkollegen richtig verstanden werden kann, an die sich denn die veröffentlichten Arbeiten auch alleine zu richten pflegen. Praktische Fälle sind dann besonders aufschlußreich, wenn sie die Übereinstimmung der vom Gesetz erstrebten Ordnung und der eingetretenen Wirkung demonstrieren, oder geeignet sind, verbliebene Unklarheiten zu erhellen oder unvorhergesehene Lücken des Gesetzes zu füllen. Die Parallele zwischen Arbeit am Gesetz und Arbeit am Paradigma stimmt selbst da noch, wo es zu entscheiden gilt, ob gegenseitige Anpassung von Normgefüge und Wirklichkeit lediglich zu einer Präzisierung des Gesetzes durch Beseitigung der dem Original anhaftenden Mängel oder zu einer Veränderung im Sinne eines Rahmenwechsels geführt hat. Freilich darf nicht übersehen werden, daß die Ähnlichkeit von Kuhnschen Paradigmen und Rechtsgesetzen größtenteils auf den von beiden

IV. Tradition und Neuerung in der Rechtswissenschaft

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erzeugten Bindungen hinsichtlich der theoretischen Auffassung bzw. rechtlichen Ordnung eines Wirklichkeitsausschnittes beruht und genau hier auch endet. Rechtswissenschaft als Normalwissenschaft beschäftigt sich zwar ganz überwiegend mit Gesetzen, doch Gesetze bilden deswegen nicht den paradigmatischen Rahmen der Rechtswissenschaft als Normalwissenschaft. Rechtswissenschaftler brauchen mehr als gesetzliche Regelungen, um die Zuversicht eines Normalwissenschaftlers zu erreichen, juristische Rätsel lösen zu können, sie benötigen verbindliche Regeln der Gesetzesanwendung, -Vervollständigung und -fortbildung, welche positive Gesetze selbst nicht liefern 13 . Doch bevor wir uns der Frage des paradigmatischen Rahmens juristischer Normalwissenschaft näher zuwenden, wollen wir den Vergleich mit dem von Kuhn entworfenen Wissenschaftsschema weiter durchführen: Ein erfolgreicher Jurist im normalwissenschaftlichen Bereich ist kein Entdecker substantieller Neuheiten — etwa im Sinne des kühnen Entwurfs sozialgestalterischer Pläne und Lösungsvorschläge —, sondern ein Experte im Rätsellösen. Seine ganze Geschicklichkeit und seinen ganzen Scharfsinn verwendet er auf die Lösung der von den Gesetzen vorgegebenen „puzzles", die sich von anderen rechtlichen Problemen vor allem dadurch unterscheiden, daß sie vermutlich eine Lösung haben. Es herrscht die allgemeine Überzeugung, jeder, der die Kunst der Rechtsanwendung geschickt zu handhaben verstehe, werde selbst schwierige Rätsel bestimmt lösen; folgerichtig werden erfolglose Versuche selten der Unvollkommenheit der gesetzlichen Regelung oder den zur Verfügung stehenden Methoden angelastet, sondern fallen disqualifizierend auf den Rechtsanwender zurück. Man wird deshalb in der rechtswissenschaftlichen Fachliteratur vergeblich nach dem Eingeständnis eines Juristen suchen, er habe angesichts der unvollkommenen gesetzlichen Regelung und unzureichender, rechtswissenschaftlicher Methoden gewisse Rechtsprobleme nicht lösen können; stets wird noch ein Weg gefunden — und seien die bemühten Rechtsgrundsätze noch so windig und die methodische Ableitung noch so dubios. Mag diese Besonderheit im Rechtsbereich auch Zweifel auslösen, ob es sich dabei überhaupt noch um normalwissenschaftliches Verhalten im Sinne Kuhns handelt (oder nicht vielmehr um den nahtlosen, unreflektierten Übergang zur außerordentlichen Wissenschaft), die Parallele zu seinen Erkenntnissen stimmt bereits wieder, wenn man beobachtet, mit welch rastloser Hingabe auch die Gesetzesexperten ihr Leben lang versuchen, anhand der in strenger, verinnerlichter Ausbildung erlernten Verfahrensregeln und Rechtsbegriffe die vielen von den Gesetzen aufgegebenen begrifflichen, theoretischen und methodischen Rätsel rational zu bewältigen. Man braucht in der Geschichte der Rechtswissenschaft nicht lange nach Beispielen zu suchen, um zu belegen, daß auch hier fundamentale Neuerungen, die das Netzwerk begrifflicher, theoretischer und methodologischer Bindungen zu lockern geeignet sind, auf den geschlossenen Widerstand derjenigen Fachleute treffen, welche um den Sinn ihrer mühseligen, fachlichen Kleinarbeit bangen müssen, und daß andererseits rechtswissenschaftliche la

Von Ausnahmen wie Art. 1 des Schweizerischen ZGB abgesehen.

21 Mittenzwei

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Forschung auf bestimmten Teilgebieten dann die größte Genauigkeit, Breite und Tiefe der Rechtsentfaltung erzielt, wenn das Vertrauen der jeweiligen Experten in die Gerechtigkeit der vorgegebenen Gesetze und in die Zuverlässigkeit ihres wissenschaftlichen Rüstzeugs am größten ist. 2. Strukturkerndiskussion

und Paradigmakrise

Jede Beschreibung der Rechtswissenschaft wäre freilich unvollständig, würde sie die kreativen Beiträge jener Mitglieder verschiedener juristischer Fachgemeinschaften negieren, die aus Unzufriedenheit mit dem geltenden, positiven Recht oder den gängigen Auffassungen über die Ermittlung gerechter Entscheidungen, aus Interesse an den Grundfragen des Staates und des gesellschaftlichen Zusammenlebens, ihre ganze Kraft darauf konzentrierten, ihr jeweiliges Spezialgebiet von den Grundlagen her neu zu konzipieren. Die von Kuhn auf verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaften herausgearbeiteten, aufeinanderfolgenden Phasen von normaler und außerordentlicher Wissenschaft, Krise und Revolution im Sinne der Auswechselung verbindlicher Bezugsrahmen lassen sich in der Rechtswissenschaft wegen der direkten Abhängigkeit ihres wissenschaftlichen Gegenstandes, der positiven Rechtsordnung, von den politischen Verhältnissen in historischen, staatlichen Gebilden natürlich bei allen politischen Erschütterungen und sozialen Umwälzungen feststellen, die zu wesentlichen Änderungen der Verfassung und/oder anderer wichtiger Gesetze öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Inhalts führten. Da Verfassung und Gesetze augenscheinlich zum Paradigma juristischer Normalwissenschaft zu rechnen sind, müssen umgekehrt wesentliche Verfassungs- und Gesetzesänderungen zugleich als Veränderung des Strukturkerns des Paradigmas verstanden werden. Der Unterschied zu den Naturwissenschaften besteht darin, daß die Veränderung nicht durch Meinungsbildung innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft selbst bewirkt, sondern von außen, durch Staat und Gesellschaft aufgedrängt wird. Da Loyalität gegenüber dem neuen Strukturkern zwar eine freie Entscheidung, nicht aber eine psychologisch gefestigte Überzeugung voraussetzt, vollzieht sich die Kernveränderung auch nicht in der von Kuhn beobachteten Form des psychologischen Gestaltwechsels, vielmehr ist es Rechtswissenschaftlern durchaus möglich, mehrere Kerngestaltungen nebeneinander zu sehen und gegeneinander abzuwägen. Die von Popper geforderte, kritische Diskussion alternativer Rahmenwerke ist in der Rechtswissenschaft, jedenfalls soweit es um unterschiedliche Regelungsentwürfe geht, ein alltägliches Geschäft, sie bleibt jedoch in der Regel ein Teil der juristischen Normalwissenschaft. Vergleichbar ist lediglich die Notwendigkeit der Existenz eines Rahmens, denn wenn die Rechtswissenschaft keinen gesetzlichen Rahmen vorfände, würde sie sich mit der Zeit selbst einen schaffen. Es lassen sich in der Geschichte der Rechtswissenschaft aber auch Vorgänge finden, die dem krisenhaften Übergang zur außerordentlichen Wissenschaft und zum Paradigmakampf, wie er oben beschrieben wurde, näher kommen als die

IV. Tradition und Neuerung in der Rechtswissenschaft

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durch politische Umwälzungen und sozialen Wandel bewirkten, materiellen Gesetzesänderungen; solche Vorgänge, die den Gegenstand der Rechtswissenschaft, nämlich die Erkenntnis des Rechts und seine Begründung betreffen, aber auch das Selbstverständnis der Wissenschaftsgemeinschaft und den Wissenschaftsbegriff, möchte ich rückblickend im nächsten Abschnitt beleuchten. Der seit Jahrzehnten andauernde Streit über den Sinn und die Brauchbarkeit der juristischen Interpretationsmethoden, das ständige Bemühen um die Klärung und Festigung der Grundlagen, die phantasievollen Anleihen bei anderen Fachwissenschaften, der schwer überblickbare Wirrwar der Auffassungen und Begriffsbildungen legt die Vermutung nahe, daß wir uns auch gegenwärtig eher in einer handfesten Paradigmakrise denn in einer ruhigen Phase normalwissenschaftlicher Arbeit befinden. Die Ursache hierfür dürfte, bei aller Vorsicht der Beurteilung gegenwärtiger Zustände anhand wissenschaftshistorischer Strukturmerkmale, in der schon angedeuteten Krise des Gesetzesbegriffes zu suchen sein, auf den juristisch-methodisches Denken im kontinentaleuropäischen Rechtskreis größtenteils ausgerichtet ist 2 . So eigenartig es klingen mag, Parlamentarismus und Demokratisierung haben nicht nur den in unserer Rechtstradition allenthalben hochgeschätzten Kodifikationsgedanken, die Idee einer allumfassenden, gesetzlichen Regelung, sondern auch die traditionell nicht hinterfragte, alleinige Geltung des Gesetzes — als des entscheidenden Grenzbegriffs zwischen äußeren, allgemein verbindlichen Rechtsnormen und inneren, bloß individuell verbindlichen, ethischen Maximen und Verhaltensregeln — irreparabel erschüttert 3. Wo eine gefestigte, parlamentarische Tradition die direkte Umsetzung politischer Zwecksetzungen durch die jeweils gerade herrschenden, parteipolitischen Gruppierungen in allseits verbindliche Gesetzesform gestattet, wo das Bedürfnis nach ständiger, politischer Kurskorrektur und die Kurzlebigkeit der Gesetze die historische Bedingtheit gesetzlicher Vorschriften in bisher nicht gekannter Schärfe ins Bewußtsein treten läßt, kann man nicht die gleiche Hochachtung vor dem Gesetz erwarten wie in Zeiten, in denen die Gesetzgebung weniger kurzatmig war. Eine Rechtspolitik, die nicht das historische gewordene Recht pflegt, sondern es nach Gutdünken neu macht, ändert oder abschafft, weil die politischen Zwecksetzungen schneller wechseln als eindringende, rechtswissenschaftliche Arbeit dauert, schadet der Idee des Gesetzes als des Inbegriffs des Beständigen im gesellschaftlichen Wandel, ja scheint sie in weiten Rechtsbereichen zu widerlegen, kehrt das TechnischInstrumentale des gesetzten Rechts hervor und nimmt dem Rechtswissenschaftler die Hoffnung, durch geduldige, aufopferungsvolle Arbeit am Gesetz einen Fortschritt in Richtung auf die Verwirklichung des „richtigen Rechts" erzielen zu können. Deshalb läßt sich normalwissenschaftliche Arbeit heute nur noch dort beobachten, wo geringe politische Relevanz und Massenwirksamkeit einen 2 Vgl. etwa Engisch'. Einführung in das juristische Denken. 5. Aufl. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971. S. 43 f f , 178. 3 Ebenso Fikentscher. Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Bd. IV. Tübingen 1977. S. 135 f.

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C. Wissenschaftsgeschichtlicher Bezugsrahmen

Reifungsprozeß der Gesetze begünstigten, wie etwa in Teilen des Bürgerlichen Rechts und des Prozeßrechts; hier nun wiederum sind die alternden, gesetzlichen Vorschriften durch Rechtsprechung und Rechtsdogmatik und deren inzwischen weitgehend anerkannte, rechtsschöpferische Aus- und Umgestaltungen derart vielschichtig überlagert, daß man das geltende Recht nicht länger mit dem Gesetzesrecht gleichsetzen kann. Wenn fehlende politische Eintracht den Glauben an den Willen des Gesetzgebers zur Gerechtigkeit und damit zugleich die Gesetzes- und Kodifikationsidee in Frage stellt 4 , muß sich Rechtswissenschaft, die ohne die Beständigkeit des Gesetzesrechts eines geeigneten positiven, wissenschaftlichen Gegenstandes ermangelt, nach einer anderen, paradigmatischen Grundlage umschauen, um über die Kurzlebigkeit der in den zeitgenössischen Gesetzen verwirklichten, politischen Zwecke hinweg die Kontinuität der Rechtsentwicklung im Auge behalten zu können. Indem sie den Primat der Gesetze für eine wissenschaftliche Deutung des Rechts zugunsten einer gesetzestranszendierenden Betrachtung verwirft, und sich im Rückgriff auf Verfassung und Vernunft theoretischer und praktischer Grundsätze und Maximen vergewissert, wird sie zunächst gewahr, daß richterliche Entscheidungen weder an logischer Konsistenz und systematischer Gliederung noch bezüglich der Offenlegung gesellschaftlicher Bedürfnisse, historisch bedingter Einflüsse und ethischer Wertungen hinter dem zurückstehen, was herkömmliche, methodische Auslegungskunst an Aussagen aus einem Gesetz ermittelt 5 . Wenn Richterrecht deshalb auch mit guten Gründen in gleicher Weise wie verfassungsgemäß erlassene Gesetze zur Explikation und Fortbildung des Rechts herangezogen werden kann, so ist mit ihm doch noch nicht jene paradigmatisch-leitende Grundschicht erreicht, auf der Rechtswissenschaft ihre methodenorientierte, theoretische Arbeit fortsetzen könnte. In dem hier aufgezeigten Referenzdreieck: Wissenschaftstheorie — Wissenschaftsgeschichte — Wissenschaftssoziologie stellt sich das Problem des richtigen Rechts in einer den Anforderungen der Gerechtigkeit genügenden Gesellschaftsordnung auf dreierlei Weise: als transzendentalphilosophische Begründungsproblematik von Freiheit (Gleichgerechtigkeit), als empirisch-anthropologische Ermittlungsproblematik menschlicher Bedürfnisse, die sich nur durch gesellschaftlichen Zusammenschluß und gesellschaftliche Solidarität befriedigen lassen (Sachgerechtigkeit), und als organisationstheoretisches Problem der Ordnung des Rechts zum Rechtsstaat (Systemgerechtigkeit). Doch soll uns dies hier noch nicht weiter beschäftigen, vielmehr erst einmal empfanglich machen für ganz andersartige Rechtsverständnisse vergangener Wissenschaftsepochen.

4

Vgl. schon Wieacker: Aufstieg, Blüte und Krisis der Kodifikationsidee. In: Festschr. f. G. Boehmer. Bonn 1954. S. 34 ff., 48. 5 Vgl. Fikentscher. Methoden des Rechts. aaO. Bd. IV. S. 141f.

D. Die Entwicklung neuzeitlicher Rechtswissenschaft als Abfolge paradigmatischer Rechtsverständnisse I. Die unbezweifelbare Autorität überlieferter Texte Die Geschichte neuzeitlicher Rechtswissenschaft beginnt mit der gegen Ende des 11. Jahrhunderts in Bologna entstandenen Rechtsschule der Glossatoren 1; ihre geistige Selbständigkeit gegenüber dem Vorangegangenen, die ein Teilphänomen eines großartigen, geistigen Aufschwunges ist, der das ganze 12. Jahrhundert erfüllt 2 , und in den westlichen Ländern Europas — in Deutschland mit einiger Verzögerung — nach der Belebung der Bildung in den Kloster- und Kathedralschulen zur Gründung zahlreicher Universitäten führt, berechtigt uns zu der Annahme, hier nicht nur, soziologisch betrachtet, zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten wieder eine relativ homogene Wissenschaftsgemeinschaft vorzufinden, die sich hauptberuflich mit der Pflege des Rechts beschäftigt, sondern ebenso ein paradigmatisches Rechtsververständnis 3. 1. Das Justinianische Recht als Forschungsgegenstand einer entstehenden Rechtswissenschaft Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung ist das von Justinian 533/34 η. Chr. kodifizierte, römische Recht, das den Glossatoren im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts erstmals in einer vollständigen Handschrift bekannt wird und bei ihnen die gleiche begeisterte Regsamkeit und intensive Hingabe hervorruft wie bei den Theologen und Philosophen die etwa zur gleichen Zeit wieder erschlossenen platonischen und aristotelischen Schriften 4. Das rasch wachsende Ansehen verdankt die Rechtsschule von Bologna nicht zuletzt dem politischen Umstand, daß sich die Glossatoren mit ihrer emsigen Bearbeitung und 1 Vgl. Fitting : Die Anfange der Rechtsschule zu Bologna. Berlin/Leipzig 1888; derselbe: Zur Geschichte der Rechtswissenschaft am Anfang des Mittelalters. Halle 1875; Seckel: Die Anfange der europäischen Jurisprudenz im 11. und 12. Jahrhundert unter Ausschluß der Kanonistik. In: Savigny-Zeitschr. 45 (1925). S. 391 ff. 2 Vgl. Haskins: The Renaissance of the Twelfth Century. Cambridge (Mass.) 1927. (Nachdr. Cleveland, Ohio 1965). 3 Ob das römische Recht auch in der Zeit zwischen dem 6. und 11. Jahrhundert „wissenschaftlich" gepflegt oder bloß schulmäßig behandelt worden sei, ist zwischen deutschen und italienischen Romanisten streitig; jedenfalls beginnt im 12. Jhd. eine abgrenzbare Phase (normal-) wissenschaftlicher Arbeit. Vgl. Wesenberg/ Wesener. Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte. 3. Aufl. Lahr 1976. S. 26; Koschaker: Europa und das römische Recht. 4. Aufl. München/Berlin 1966. S. 69 ff. 4

Vgl. Wieacker:

Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl. Göttingen 1967. S. 45 ff.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

Vermittlung des römischen Rechts als die natürlichen Bundesgenossen der deutschen Kaiser erweisen, obwohl ihre Absichten zunächst durchaus mehr theoretischer, um Wissen bemühter, denn praktischer, um Anwendung und Wirkung besorgter Natur sind. Stützt sich doch die verbreitete Überzeugung von der universalen Geltung des römischen Rechts vornehmlich auf die alte Idee eines heiligen, römischen Reiches, das, von den römischen Kaisern zum Schutze der Christenheit providentiell errichtet, in der Kaiserwürde der deutschen Könige fortlebt. Diese Idee einer „renovatio imperii romani", von Otto III. zu neuem Leben erweckt und schon von seinen Nachfolgern gelegentlich als Legitimationsgrundlage zur Heranziehung des römischen Rechts genutzt, wirkt über die nächsten Jahrhunderte weiter und befestigt schon unter den Stauferkaisern — als eifrige Förderer der Universität Bologna bekannt — den Glauben an die allgemeine Geltung des römischen Rechts als einem kaiserlichen zumindest im damaligen Reichsgebiet zu einem politischen und staatsrechtlichen Dogma 5 . Die Justinianische Kompilation des römischen Rechts ist keine Kodifikation im modernen Sinne und von der Praxis niemals als solche gebraucht worden; sie enthält nur zum geringsten Teil anwendungsgerecht formulierte Rechtssätze, vielmehr bietet sie in der Hauptsache eine Fülle von Kasuistik, die mangelhaft geordnet, vielfach widerspruchsvoll und in der praktischen Handhabung schwierig ist. So verlangt der praktische Gebrauch des Corpus iuris nach einer geistigen Vermittlung, die den komplexen Rechtsstoff durch vorbereitende Arbeit griffbereit zurechtlegt; genau diese Arbeit vollbringen die Glossatoren, indem sie durch tiefdringendes, lebenslanges Studium die verschiedenen Textstellen erläutern, Parallelstellen ausfindig machen und zusammenstellen, Widersprüche aufdecken und zu beseitigen suchen, gelegentlich auch schon Summen mit systematisch-ordnendem Einschlag verfertigen. Auf diesem Wege gelangen sie im Laufe der nächsten beiden Jahrhunderte zu einer Beherrschung des Justinianischen Rechts, die zu keiner anderen Zeit mehr erreicht, geschweige denn übertroffen wird und typisch ist für eine normalwissenschaftliche Forschung, wie ich sie oben in Anlehnung an Kuhn geschildert habe 6 . Gegenstand der wissenschaftlichen Bearbeitung in Bologna, und später auch an den anderen, von Bologna beeinflußten Universitäten ist eine sich nicht unerheblich vom antiken Original unterscheidende Textfassung, die den Namen „Littera Bononiensis" oder „Vulgata" trägt. Zu einer verbindlichen Feststellung dieses Vulgattextes, der in verschiedenen, leicht voneinander abweichenden Handschriften überliefert ist, kommt es damals nicht, weil die einzelnen Glossatoren die Texte nicht nur erläutern, sondern auch ständig kritisch bearbeiten. Üblicherweise unterscheiden sie fünf Bände: 1) Digestum vetus (D. 1.1-24.2); 2) Infortiatum (D. 24.3-38.17); 3) Digestum novum (D. 39.150.17); 4) Codex (Bücher 1-9); 5) Volumen parvum, enthaltend Très libri 5

StintzingILandsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Erste Abt. München/Leipzig 1880. S. 6 f. 6 Vgl. oben S. 275ff.

I. Die unbezweifelbare Autorität überlieferter Texte

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Codicis (Bücher 10-12 des Codex), Institutiones und Authenticum (in 9 Collationes). Anfang des 13. Jahrhunderts fügt Hugolinus de Presbyteris die „Libri feudorum" dem Authenticum als zehnte Kollation an, und zwar deren zweite Rezension mit einem Anhang von mittelalterlichen Kaisergesetzen. Später wird diese Rezension durch die Vulgatfassung der Libri feudorum ersetzt, die nicht mehr alle Kaisergesetze des Anhangs der zweiten Rezension enthält; nur das Gesetz, betreffend den Frieden von Konstanz von 1183 und die „Constitutio de statutis et consuetudinibus contra libertatem ecclesiae editis" Friedrich II. von 1220 behaupten als sog. „Extravagantes" ihren Platz im Volumen. Im 14. Jahrhundert kommen noch zwei Konstitutionen Heinrich VII. von 1312 hinzu, die entweder ebenfalls als Extravagantes oder vereinzelt als elfte Kollation bezeichnet werden. In dieser Form findet sich das Corpus iuris Justinians noch in den ersten Druckausgaben des 15. und 16. Jahrhunderts 7. Nur wenige Werke der mittelalterlichen Rechtsliteratur, die für eine Beurteilung der Arbeitsweise der Glossatoren unentbehrlich sind, liegen in modernen kritischen Ausgaben gedruckt vor. Zwar werden die beiden berühmtesten Texte der Glossatorenzeit, die Summen des Azo Portius (gest. v. 1235) zu Codex und Institutionen und die „Glossa ordinaria" des Accursius (1185-1263 ?) 8 , welche die Glossen der älteren Juristen zusammenfaßt und als kanonische Summe der Bologneser Schule, die Gründungsphase abschließend, in der Folgezeit die Autorität der Pandekten selbst erreicht, schon im 15. Jahrhundert vielfach gedruckt, doch sind fast sämtliche voraccursischen Glossen nur handschriftlich überliefert und nur wenigen Spezialisten bekannt 9 . So ist für den wissenschaftstheoretisch Interessierten die Untersuchung der Glossatorenschule im Hinblick auf die typischen Arbeitsweisen und ein etwaiges, paradigmatisches Rechtsverständnis nur durch das leichter Zugängliche gesichert und weiterer Bewährung bedürftig. Herkömmlicherweise trennt man in der mittelalterlichen Legistik die Schule der Glossatoren von der Schule der Postglossatoren, Kommentatoren oder Konsiliatoren, wobei man die zeitliche Grenze zwischen den beiden Perioden in der Mitte des 13. Jahrhunderts, also etwa zur Zeit der Entstehung der „Glossa ordinaria" des Accursius, zieht. Da die spätere Schule ohne jeden Bruch aus der früheren hervorgeht, sich lediglich durch eine weiter verfeinerte und vervollkommnete Technik der Quellenerläuterung und eine stärkere Betonung der praktischen gegenüber der theoretischen Rechtsbetrachtung auszeichnet, ist die Unterscheidung hier nur insofern von Bedeutung, als sie die typische Entwicklung normalwissenschaftlicher Tätigkeit einer homogenen Wissenschaftsge7 Vgl. Weimar: Die legistische Literatur der Glossatorenzeit. In: Coing (Hrsg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 1. München 1973. S. 129 ff., 156 m. weit. Nachw. 8 Vgl. Landsberg'. Die Glosse des Accursius und die Lehre vom Eigentum. Leipzig 1883; Weimar: Die legistische Literatur der Glossatorenzeit. aaO. S. 173 ff., 202 ff. (zu Azo) m. weit. Nachw. 9 Vgl. Weimar aaO. S. 150.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

meinschaft kennzeichnet. Zunächst dem gemeinsamen, wissenschaftlichen Gegenstand mit äußerster Passion und Spannkraft zugewandt, beginnt das theoretische Interesse allmählich zu verflachen, wenn die angewandten Arbeitsweisen keine wesentlichen Ergebnisse mehr zutage fördern und die gewonnenen Einsichten in einer für die Gemeinschaft gültigen Weise summiert worden sind; ohne zunächst die gemeinsame Grundüberzeugung aufzugeben, ja im Gegenteil, durch die bisherige, erfolgreiche Arbeit in ihr bestärkt, beginnen sich die vom erschlossenen Paradigma auferlegten Bindungen, welche die Forschung lähmen, zu lockern, wendet sich die Mehrzahl der Wissenschaftler neuen, Erfolg verheißenden Aufgaben zu, die sich in diesem Fall ganz von selbst aus der natürlichen Differenz zwischen Theorie und Praxis, zwischen exegetisch aufbereiteten Mustern und den Anforderungen einer vielgestaltigen, sozialen Realität ergeben; Paradigma und Fakten verlangen nach gegenseitiger Anpassung. Ist die Tätigkeit der Glossatoren hauptsächlich der Erschließung des Sinnes des Justinianischen Gesetzbuches zugewandt, so geht es den Kommentatoren um die Durchsetzung der erarbeiteten Regeln in einer Praxis, die in Italien von den Statuten der Kommunen, von langobardischem und kanonischem Recht beherrscht ist und auch in anderen Teilen des Reiches auf Widerstand stößt. Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die ersten deutschen Universitäten, die im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts gegründet werden; es versteht sich fast von selbst, daß nur die kanonischen und römischen Rechtsbücher und die dazu vorhandene, reichliche italienische und französische Literatur Gegenstand von Forschung und Lehre sind. Schon die Ausbildung der die Wissenschaftsgemeinschaft bildenden Professoren in Italien und Frankreich sowie die gesamteuropäisch geübte Methode der Textexegese verhindern von vornherein jegliches akademische Interesse am heimischen, deutschen Recht; die noch näher zu besprechenden, philologischen Verfahren der Texterläuterung und Textkritik sind nur auf schriftlich niedergelegte, kodifizierte Rechte anwendbar, und eben daran mangelt es; eine Gesetzgebung im nennenswerten Umfange gibt es bis zur Entstehung der Territorialstaaten nicht. Hinzu kommt, daß die älteren Universitäten meist als geistliche Anstalten gegründet werden und überwiegend Kleriker als Gelehrte beschäftigen, deren Interessen selbstverständlich erst einmal auf das kanonische — noch vor dem römischen — Recht gerichtet sind und deren Lehre der Ausbildung eines Nachwuchses dient, der anfangs überwiegend in der geistlichen Verwaltung der Kirche und der Rechtspflege nach kanonischem Recht sein Brot findet; wie denn auch das römische Recht nachweislich über das kanonische Recht im deutschen Rechtsleben Fuß faßt 10 . Der Arbeitsmethode entsprechend ist der Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit, der Rechtsstoff, nicht, wie heute üblich, nach systematischen Gesichtspunkten, sondern nach der Verschiedenheit der quellenmäßigen Grundlagen unter den Rechtswissenschaftlern aufgeteilt. Obwohl, wenigstens im deutschen 10

Vgl. Stintzing/Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. aaO. 1. Abt. S. 21 ff.; Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. aaO. S. 71 ff.

I. Die unbezweifelbare Autorität überlieferter Texte

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Reich, zu einer Fakultät vereinigt, bilden kanonisches und römisches Recht zwei getrennte Abteilungen, von denen jede bis weit in das 16. Jahrhundert ihre eigenen akademischen Grade verleiht. Die äußerliche, durch die Arbeitsweise bedingte Teilung des Rechtsstoffes beschränkt sich nicht nur auf den Gegensatz der beiden Rechte, sondern geht entsprechend der äußeren Gliederung des Quellenapparates — Decretum, Decretalien, liber Sextus, Clementinen 11 — Institutionen, Codex, Pandekten (Digestum vetus, infortiatum, novum) — noch weiter. Unter den besoldeten Lehrstellen gelten nach dem akademischen Herkommen und den Universitätsstatuten die für den Codex vorbehaltenen als die vornehmsten, sind die Wissenschaftler doch hier mit den kaiserlichen Gesetzen im engeren Sinne unter Einfügung der „Authenticae" und also mit der letztlich entscheidenden, neuen Gestalt des Justinianischen Rechts befaßt. Die heute wissenschaftlich höher eingeschätzten Pandekten kommen erst allmählich zu größerem Ansehen und einem Übergewicht in der Lehre, während die Vertretung der Institutionen, gering besoldet und Anfangern oder Humanisten überlassen, auf der untersten Stufe der akademischen Anerkennung steht 12 . Gerade deshalb wird die einen Paradigmenwechsel ankündigende, wissenschaftliche Krise ihren Ausgangspunkt hier nehmen, muß der Institutionarius doch, will er seine Befähigung zu höheren Aufgaben dartun, die ganze Fülle überlieferter, antiker Gelehrsamkeit in seinen Vorlesungen aufbieten oder das Besondere seines Arbeitsgebietes sichtbar machen. 2. Die wissenschaftliche

Arbeitsweise der Glossatoren und Kommentatoren

Grundlage jeder wissenschaftlichen Ausbildung des Rechts ist der Stand der allgemeinen, wissenschaftlichen Bildung einer bestimmten, historischen Epoche; man kann in der Rechtswissenschaft als einer praxisbezogenen Fachwissenschaft keine Methoden oder Arbeitsweisen erwarten, die nicht in der allgemeinen, wissenschaftlichen Bildung der Zeit in irgendeiner Weise vorgebildet sind. So beruht denn auch die angesprochene Exegese überlieferter Texte auf den Denkmöglichkeiten, welche die mittelalterliche Wissenschaft dem Juristen bietet, nämlich den aus der Spätantike überkommenen, sog. „artes liberales", vor allem Grammatik, Rhetorik und Dialektik 1 3 . Worterklärungen, Definitionen, sorgfaltige Ermittlung der logischen Zusammenhänge durch Sammlung von Parallelstellen und Aufhebung von (scheinbaren) Widersprüchen, Harmonisierung der Texte, insbesondere durch das Verfahren der Begriffsspaltung, der divisio, sind das Handwerkszeug, mit dem sich der scholastisch vorgebildete Rechtswissenschaftler der ersten Wissenschaftsperiode seinem Gegenstand 11

Vgl. Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. aaO. S. 74 ff.; Nörr: Die kanonistische Literatur. In: Coing (Hrsg.): Handb. d. Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 1. München 1973. S. 365 ff. m. weit. Nachw. 12 StintzinglLandsberg aaO. Abt. 1. S. 26. 13 Vgl. Coing : Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm. In: Handb. d. Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. aaO. Bd. 1. S. 39 ff., 69.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

nähert. Das Trivium, bestehend aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik (Logik), betrifft im wesentlichen die Lehre der lateinischen Sprache und Literatur, die Lehre vom Auffinden des Redestoffs (Topik) und der Gliederung der Rede mit der eigens für die Gerichtsrede entwickelten Quaestionenlehre 14, sowie die Lehre vom wissenschaftlichen Beweis und von der logischen Ordnung des Stoffes. Es sind dies zugleich die Elemente der sog. „Scholastik", des Inbegriffs einer sprachlich-logisch orientierten Denkweise, welche, den modernen semantischen Bestrebungen aufs engste verwandt, die Hohen Schulen des Mittelalters auf allen Gebieten beherrscht und mit deren Mitteln man sich den überlieferten, autoritativen Texten nähert, handele es sich nun um die Bibel, das Corpus iuris, die Articeila (das in Salerno bearbeitete Corpus von Schriften des Hippokrates, Cornelius Celsus und anderer Mediziner) oder das physikalische Werk des Aristoteles; die Arbeit des Rechtswissenschaftlers ist durch die spätantike Dialektik (Logik) ebenso geprägt wie durch das Begründen mit Autoritäten wie durch die Teilung des Unterrichts in lectio und disputatio gegebenen Bedingungen 15 . Betrachtet man die legistische Literatur äußerlich, so fallt eine bestimmte, sich wiederholende Gliederung der Glossen auf, deren unterscheidbare Teile sich im Laufe der Entwicklung häufig sogar zu selbständigen Literaturgattungen auswachsen. Gemäß dem didaktischen Zweck vermittelt der Glossator regelmäßig zunächst eine Vorstellung von dem Inhalt des Textes, zeigt dann Verbindungen innerhalb der Quellen auf und prüft schließlich jede Stelle auf ihre Brauchbarkeit zur Lösung praktischer Rechtsprobleme 16. Den rhetorischen Aufbauregeln entsprechend beginnen die Schriften mit Vorbemerkungen (prooemia), die Aufschluß über den Verfasser, Entstehung, Methode und Intention der Schrift geben. Es folgen allgemeine Einleitungen in das betreffende Wissensgebiet — sog. materiae, auch accessus, principium, praefatio, praelu14 Eine mittelalterliche Sonderform der Rhetorik ist die „ars dictandi", die sich mit den Regeln der Schriftstellerei, besonders des Brief- und Urkundenstils, befaßt. 15 Vgl. näher Geyer: Die patristische und scholastische Philosophie. In: Überweg: Grundriß der Geschichte der Philosophie. Bd. II. 11. Aufl. Berlin 1928. S. 141 ff., 152 ff.; Grabmann: Die Geschichte der scholastischen Methode. Bd. II. München 1911 (Nachdr. 1961). S. 13 ff., 54 ff.; Kristeller. Beitrag der Schule von Salerno zur Entwicklung der scholastischen Wissenschaft im 12. Jhd. In: Koch (Hrsg.): Von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters. Leiden/Köln 1959. S. 84 ff.; derselbe: Studies in the Renaissance Thought and Letters. 2. Aufl. Rom 1969. S. 495 ff.; Mantius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. Bd. II. München 1923 (Nachdr. 1965). S. 638 ff.; Bd. III. München 1931 (Nachdr. 1964). S. 175 ff., 286 ff.; Meyer: Die Quaestionen der Rhetorik und die Anfange der juristischen Methodenlehre. In: Savigny-Zeitschr. Rom. Abt. 68 (1951). S. 30 ff. (bezügl. der jur. Methode zu eng!). 16

Vgl. näher v. Savigny : Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. Bd. III. Heidelberg 1834 (Nachdr. Bad Homburg 1961). S. 552 ff.; v. Schulte: Die Geschichte der Quellen und Literatur des canonischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart. Bd. I. Stuttgart 1875 (Nachdr. Graz 1956). S. 213 f.; Landsberg: Die Glosse des Accursius und ihre Lehre vom Eigenthum. Leipzig 1883. S. 45 ff.; Weimar: Die legistische Literatur und die Methode des Rechtsunterrichts der Glossatorenzeit. In: lus commune 2 (1969). S. 43 ff., 47ff.

I. Die unbezweifelbare Autorität überlieferter Texte

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dium, introitus oder praeparatoria genannt 17 ; sie sind in allen Bereichen der mittelalterlichen Wissenschaft üblich und finden sich, der Aufteilung des Rechtsstoffes unter den Rechtswissenschaftlern folgend, zu allen vier Teilen des Corpus iuris. Wie es die rhetorischen Regeln vorsehen, werden in den „materiae" Name, Gegenstand, Methode und Zweck (nomen, materia, intentio, utilitas oder finis) der bearbeiteten Quelle sowie ihr Ort im philosophischen System (pars philosophiae) behandelt 18 . Da die juristischen Einleitungen häufig selbständig aufgezeichnet und weitergegeben werden, erwecken sie in der Überlieferung den Eindruck eigenständiger Schriften, aus denen sich später denn auch erste Ansätze zu quellenunabhängigen, allgemeinen Rechtslehren entwickeln. Anschließend führen sog. „Introductions titulorum" den Leser an das im jeweiligen Titel des Quellenbuches behandelte Rechtsgebiet heran, wobei die Erläuterung der Begriffe in der Titelüberschrift manchmal dazu benutzt wird, den Zusammenhang mit den vorangehenden und nachfolgenden Titeln, sei es verbindend, sei es unterscheidend, herzustellen. Da diese Einführungen in die Unterabschnitte manchmal schon Gliederungen (divisiones) oder Zusammenfassungen (summulae) des Rechtsstoffes bieten, entwickeln sich aus ihnen später die ebenfalls auf allen damaligen Wissenschaftsgebieten bekannten, verschiedenen Arten der Summenliteratur. Ähnliche „introductiones" finden sich zu den einzelnen „leges" und „constitutiones" sowie vor längeren Paragraphenketten; den „summulae" entsprechen hier die „casus legum", d. h. charakteristische Beispielsfalle, die den mitgeteilten oder aus dem Text rekonstruierten Tatbestand einer Quellenstelle und die Fallösung zusammenfassen und in der Mediaevistik als Literaturtyp unter dem Namen „commenta" oder „casus" bekannt sind 19 . Nach den introductiones titulorum bzw. legum folgen Textinterpretationen im engeren Sinne; sie reichen von der Angabe von Textvarianten, über Erklärungen schwieriger Begriffe und Sätze mit Hilfe von Definitionen oder umschreibenden Wiedergaben bis zur Abgrenzung und Begründung rechtlicher Entscheidungen unter Anführung (adlegatio) anderer Quellenstellen. Die Allegation von Parallelstellen bereichert dabei nicht nur den rhetorischen Fundus an Argumenten bei der Lösung konkreter Rechtsprobleme, sondern bildet mit fortschreitender Quellenkenntnis die Grundlage für die Einfügung der einzelnen Textstellen in größere Ordnungszusammenhänge 20. Widersprechen 17 Vgl. Kantorowicz: Studies in the Glossators of the Roman Law. Cambridge 1938 (Nachdr. Aalen 1969). S. 37 ff. 18 Das Recht gehört zusammen mit der Ethik in den dritten Teilbereich der Philosophie; den ersten Teil bildet die Logik, den zweiten die Physik. 19 Vgl. v. Savigny: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. Bd. V. Heidelberg 1850 (Nachdr. Bad Homburg 1961). S. 306 ff., 344 ff., Weimar. Die legistische Literatur und die Methode des Rechtsunterrichts der Glossatorenzeit. In: lus commune 2 (1969). S. 43 ff., 79f. 20 Vgl. Kuttner. Repertorium der Kanonistik (1140-1234). Citta del Vaticano 1937. S. 3 ff.; ferner Dolezalek: Der Glossenapparat des Martinus Gosia zum Digestum Novum. In: Savigny-Zeitschr. Rom, Abt. 84 (1967). S. 245ff., 250ff.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

sich verschiedene Quellenstellen, so spricht man von einer „quaestio légitima" und bemüht sich, den Unterschied zwischen den Texten herauszuarbeiten (sog. solutio contrarium), indem man nach dem Grund der gegensätzlichen Regelung forscht 21 . Quaestiones legitimae beruhen auf dem im Corpus iuris (Codex 1.17.2.15) ausgesprochenen, von den Rechtswissenschaftlern dieser Entwicklungsphase uneingeschränkt akzeptierten Prinzip der Widerspruchslosigkeit der Quellen und dienen dem Nachweis seiner Richtigkeit. Wissenschaftliche Systembildung liegt einer Wissenschaftsgemeinschaft, die den Rechtsstoff nach den verschiedenen Quellenteilen auf ihre Mitglieder verteilt, natürlich noch fern; gleichwohl entwickeln sich aus den elementaren, logischen Verfahren der begrifflichen Analyse, der „Distinktion" quellenmäßig gegebener Oberbegriffe über die Heranziehung entgegengesetzter Merkmale in Unterbegriffe 22 eine Vielzahl kleiner und kleinster Systeme von Rechtsbegriffen (divisiones), Tatbeständen und Rechtsfolgen (distinctiones) 23 , die in der nächsten Phase normalwissenschaftlicher Paradigmaentfaltung Ansatzpunkt zu weitergehenden, systematischen Überlegungen sein werden. Den Glossatoren geht es zunächst einmal mehr um die Unterscheidung selbst und um die Gliederung ihres Textes, weisen doch die überlieferten Quellen entweder, wie die Codextitel, überhaupt keine inhaltliche (sondern bloß eine chronologische) Anordnung auf oder, wie etwa die einzelnen Digestentitel, eine ziemlich undeutliche. Da das aristotelische Kategorienschema kein praktikables und seine Dialektik kein inhaltlich bestimmtes Gliederungsprinzip bietet, gilt das Interesse vor allem der überlieferten Topik (Rhetorik) in der Form der Gerichtsrede (genus iudiciale), nach der alle Argumente entweder „a persona" oder „a re" (bzw. a negotio) stammen 24 . Viele Stellen des Corpus iuris enthalten einen oder mehrere Rechtsgedanken, die nicht allein im Zusammenhang des jeweiligen Titels von Bedeutung sind, 21 Dem Arbeitsgang wird gewöhnlich das Wort „quare" vorangestellt; vgl. Genzmer: Quare glossatorum. Erstausgabe zweier Quare-Sammlungen, nebst einer Studie aus Emil Seckeis Nachlaß. In: Gedächtnisschrift f. Emil Seckel. Berlin 1927. S. 1 ff.; Schulz: Die Quare-Sammlungen der Bologneser Glossatoren und die Problemata des Aristoteles. In: Atti Verona I. 1953. S. 295 ff. 22 Vgl. Genzmer: Die iustinianische Kodifikation und die Glossatoren. In: Atti del Congresso Internazionale di Diritto Romano. Bologna/Pavia 1934. S. 345 ff., 397 f.; Otte : Dialektik und Jurisprudenz. Untersuchungen zur Methode der Glossatoren. Frankfurt/M. 1971. S. 73 ff. 23 Vgl. Seckel: Distinctiones glossatorum. Studien zur Distinctionenliteratur der romanistischen Glossatorenschule, verbunden mit der Mitteilung unedierter Texte. In: Festschr. der Berliner Jur. Fakultät für Ferdinand von Martitz. Berlin 1911 (SeparatNachdr. Graz 1956) S. 281 ff.; Kuttner: Repertorium der Kanonistik. aaO. S. 208 ff.; Kantorowicz: Studies in the Glossators of Roman Law. Cambridge 1938 (Nachdr. Aalen 1969). S. 214 ff. 24 Vgl. Cicero: De inventione. De optimo genere oratorum. Topica. London/ Cambridge (Mass.) 1960.1. X X I V 34; eingehend: Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. München 1960. S. 201 ff.; Fuhrmann: Das systematische Lehrbuch. Göttingen 1960. S. 58 ff.

I. Die unbezweifelbare Autorität überlieferter Texte

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sondern auch in anderen Bereichen als Argument—im Sinne eines autoritativen Beweisgrundes — in Betracht kommen; demgemäß fertigt man Sammlungen einschlägiger Quellenstellen an, dabei zwischen allgemein anwendbaren Argumenten (sog. generalia) und bloß beschränkt anwendbaren (specialia) unterscheidend und an der betreffenden Stelle der Exegese jeweils sowohl auf die im Text enthaltenen als auch auf die an Parallelstellen auffindbaren Argumente hinweisend 25 . Quellenstellen, die einen behaupteten Beweisgrund nicht tragen, sondern im Gegenteil ihm widersprechen, werden ebenfalls in Paaren entgegengesetzter Argumente gesammelt und sind in sog. „Brocardica" — als einer besonderen Art von Quaestiones legitimae — überliefert; seit dem 12. Jahrhundert sind ihnen Lösungen (sog. solutiones contrarietatum) 26 beigefügt, aus denen später Rechtsregeln herausgearbeitet werden, die auf Fälle anwendbar sind, für welche die Quellen selbst keine Lösung enthalten 27 . Ist die Erläuterung der Textstelle abgeschlossen, beginnen die Glossatoren mit der Diskussion von rechtlichen Tatbeständen, die mit der Textstelle in Beziehung stehen, ohne dort jedoch unmittelbar behandelt oder gar entschieden zu sein; man bezeichnet die nicht aus den Quellen selbst (lex), sondern aus einem Sachverhalt (factum) entstehenden Rechtsprobleme als „quaestiones de facto". Da für eine eingehende Darlegung aller für die Entscheidung dieser Sachverhalte einschlägigen Gesichtspunkte der Raum fehlt, beschränkt man sich freilich meist auf eine knappe Wiedergabe der Tatbestände, Rechtsfolgen und Quellenstellen, aus der man die Lösung ableitet; herrscht unter den Wissenschaftlern keine Einigkeit über die Lösung (sog. dissensiones dominorum bzw. controversiae), gibt man sowohl die abweichenden Meinungen als auch die Namen der Gelehrten an. Die eingehende Erörterung der Fälle bleibt offenbar dem mündlichen Unterricht vorbehalten 28 . In der Zeit der Kommentatoren, als die „Glossa ordinaria" des Accursius als maßgebliches Erläuterungswerk zu den 25

Vgl. v. Savigny: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter. Bd. III. Heidelberg 1834 (Nachdr. Bad Homburg 1961). S. 567 ff.; Stintzing/Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. 1. Abt. München/Leipzig 1880. S. 108,116; Taeuber: Geld und Kredit im Mittelalter. Berlin 1933 (Nachdruck Frankfurt/M. 1969). S. 143 ff. 26 Im Unterschied zu den solutiones contrariorum; vgl. Weimar: Die legistische Literatur und die Methode des Rechtsunterrichts der Glossatorenzeit. In: lus commune 2 (1969). S. 43 ff., 61. 27

Vgl. Elsener: Regula iuris, Brocardum, Rechtssprichwort nach der Lehre von Franz Schmier OSB und im Blick auf den Stand der heutigen Forschung. In: Ottobeuren 7341964. Beiträge zur Geschichte der Abtei. Augsburg 1964. S. 177 ff., 190 ff., Kuttner: Repertorium der Kanonistik. aaO. S. 232 f., 239,408,416 f.; Lang: Rhetorische Einflüsse auf die Behandlung des Prozesses in der Kanonistik des 12. Jahrhunderts. In: Festschr. f. Eduard Eichmann. Paderborn 1940. S. 69 ff.; derselbe: Zur Entstehungsgeschichte der Brocardasammlungen. In: Savigny-Zeitschr. Kanon. Abt. 62 (1942). S. 106 ff.; Weimar: Argumenta brocardica. In: SG 14 (Studia Gratiana post octava Decreti saecularia. Collectanea historiae iuris canonici) 1967. S. 89 ff., 101 ff. 28 Vgl. Weimar: Die legistische Literatur der Glossatorenzeit. In: Coing (Hrsg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 1. München 1973. S. 129 ff., 144.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

justinianischen Rechtsquellen eine überragende Stellung erlangt und zur weithin anerkannten Basis der Interpretation wird, verlagert sich das wissenschaftliche Interesse von den allgemeinen Problemen der Exegese immer stärker zu diesen praktischen Fällen, deren Einzelfragen intensiv behandelt werden. Die Orientierung an praktischen Einzelproblemen vertieft zweifellos das Verständnis der Rechtsquellen und verfeinert das exegetische Instrumentarium, es stellt aber die grundlegenden Gemeinsamkeiten der legistischen Wissenschaft (noch) nicht in Frage. So sind auch die überlieferten Kommentare der Postglossatoren im wesentlichen nach dem gleichen Schema aufgebaut wie die Glossen: a) divisio: Aufgliederung des Quellentextes; b) summa: zusammenfassende Inhaltsangabe; c) casus: zur Erläuterung des Textes gebildeter Schulfall; d) expositio litterae: Ausführungen zum Textverständnis (Wortverständnis); e) notabilia: merkenswerte, rechtliche Gesichtspunkte von allgemeinerer Bedeutung (collectio notabilium); f) oppositiones (contraria): mögliche Einwände gegen die Auslegung durch unvereinbare Quellenstellen (quaestiones legitimae) und ihre Erledigung durch distinctiones; zugleich Sammlung übereinstimmender oder inhaltlich verwandter Quellenstellen (letztere werden zuweilen auch anderweit piaziert); g) quaestiones: weitere Probleme, die mit der Textstelle sachlich zusammenhängen; Einführung praktischer Rechtsfalle (quaestiones de facto) 29 . Das Schema stellt ein Arsenal verschiedener, sich überschneidender, exegetischer Methoden dar und spiegelt die traditionelle Lehrtechnik an den damaligen Universitäten wider 3 0 ; als Stoffgliederung erfahrt es allerdings dadurch erhebliche Veränderungen, daß die meisten Autoren — aus den angegebenen Gründen — an den Abschnitten e) bis g) das weitaus größte Interesse haben und diese deshalb extrem ausweiten. In zahlreichen oppositiones wird vor allem die im Laufe der Zeit stark wachsende Zahl der Lehrmeinungen abgehandelt und die in langen Reihen aneinander geschlossenen quaestiones machen schließlich den größten Teil der Kommentierung aus.

3. Die scholastischen Wurzeln der Semantik Werfen wir einen Blick zurück auf die eingangs des ersten Abschnitts besprochenen, heute gebräuchlichen, dogmatischen Interpretationsmethoden, so hat ganz offenbar die wortgetreue, logisch-grammatische Auslegung 31 in der Glossatorenzeit ihre historische Wurzel. Wie wir heute zuverlässig wissen, nehmen im 12. Jahrhundert mit dem Bekanntwerden des aristotelischen Organons in lateinischer Übersetzung die sprachlich-logisch orientierten Studien einen gewaltigen Aufschwung; sind bis dahin von den 6 Teilen des 29

Vgl. Horn: Die legistische Literatur der Kommentatoren und die Ausbreitung des gelehrten Rechts. In: Coing (Hrsg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Bd. 1. München 1973. S. 261 f f , 324. 30 Vgl. Burmeister. Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich. Wiesbaden 1974. S. 241 ff. 31 Vgl. oben S. 230ff.

I. Die unbezweifelbare Autorität überlieferter Texte

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Organons nur die beiden ersten, die Lehre von den Begriffen (Kategorien) und vom Satz (Peri hermenias, De interpretatione) samt einer Einleitung des Porphyrins (233-304) in die Kategorien („Isagoge") geläufig, so wird diese Trilogie (die seit dieser Zeit sog. „lqgica antiqua") ersetzt durch eine „logica vetus", zu der außer der wiederentdeckten ersten und zweiten Analytik (der Lehre vom Schluß bzw. Beweis), die Topik (Dialektik), die sophistischen Widerlegungen und anfangs auch das Corpus der logischen Schriften des Boethius (ca. 480-525) gerechnet werden, der am Ausgang der Antike die aristotelische Logik in die lateinische Sprache übersetzt und erstmals umfassend dargestellt hat 3 2 . Die Schriften des Boethius — er schrieb u. a. Kommentare zur „Isagoge" des Porphyrius, zu den Kategorien, zwei zur Lehre vom Satz, je einen zur Topik des Aristoteles und Ciceros, tradierte die Syllogistik in drei eigenen Arbeiten: „Introductio ad syllogismos categoricos", „De syllogismo categorico" und „De syllogismo hypothetico", und übte mit seinen Werken „De differentiis topicis" und „De divisionibus" bis in die humanistische Logik hinein nachhaltigen Einfluß aus — sind vor dieser Zeit weitgehend überdeckt und verdrängt durch die enzyklopädischen, aber einfachen Schuldarstellungen der artes liberales eines Martianus Capeila (5. Jhd.), eines Cassiodor (ca. 490-580) oder Isidor von Sevilla (ca. 570-636), aber auch durch Kompendien wie die des Augustinus (354-430) oder des Alcuin (gest. 804); für die Frühscholastiker, denen die griechische Literatur im wesentlichen noch verschlossen ist, ist ihre Wiederentdeckung von unschätzbarem Wert. Das aristotelische Organon, Cicero und Boethius sind die Quellen, aus denen die Scholastik ihre Kenntnis von der antiken Logik schöpft 33 ; daneben treten mit zeitlich und örtlich beschränkter Wirkung die logischen Schriften des Adam von Balsham, des Garlandus Compotista und vor allem diejenigen des Peter Abaelard(1079 -1142). Das leidenschaftliche, nicht zuletzt aus theologischen Motiven gespeiste Interesse der Scholastiker an der Logik der Sprache, das sich in zahllosen Kommentaren und weiterführenden Quaestionen niederschlägt, führt zunächst zu intensiven Analysen der „proprietates terminorum", deren subtile Schwierigkeiten sich in umfangreichen Sammlungen von Sophismen niederschlagen 34, und schließlich — auch hier in wissenschaftsgeschichtlich kennzeichnender Weise — zur Lösung von der engeren Thematik der „logica antiqua" überhaupt. Für die Vertreter der „logica modernorum" 35 ist es dann neben der Signifikanz der analysierten Eigenschaften bedeutungstragender Teile sprachlicher Sätze (categoremata) besonders die Lehre von der Supposition, die das allgemeine Interesse auf sich zieht und je nach Position im Universalienstreit verschiedene 32 Vgl. Grabmann: Aristoteles im 12. Jahrhundert. In: Mittelalterliches Geistesleben. Abhandlungen zur Geschichte der Scholastik und Mystik. Bd. III. München 1956. S. 64 ff. 33 Vgl. Otte : Dialektik und Jurisprudenz. Untersuchungen zur Methode der Glossatoren. Frankfurt/M. 1971. S. 17 ff. 34 Vgl. Grabmann: Die Sophismataliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. Münster 1940. 35 Vgl. De Rijk (Hrsg.): Logica modernorum. Assen 1962-67. 1.2.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

Behandlung erfahrt. Neben den Traktaten, die mit den verschiedenen Suppositionsarten im allgemeinen (De suppositionibus) befaßt sind 36 , fallen die zahlreichen, besonderen Erscheinungen gewidmeten Abhandlungen auf, etwa Termini betreffend, die nur für Existierendes gebraucht werden (appellatio) oder die den Referenzbereich modal oder temporal erweitern (ampliatio) oder eingrenzen (restrictio) 37 ; oder Abhandlungen über Termini, die zur Verifikation der Aussage einer Reduktion bedürfen (sog. termini resolubiles, exponibiles und officiales). Auch die nicht bedeutungstragenden Bestandteile eines sprachlichen Satzes (syncategoremata), die sein formales Gerüst ausmachen38, erfahren in Sammeltraktaten, speziellen Abhandlungen (wie z. B. „De relativis", „De reduplicati vis", „De incipit et desinit") und Lehrstücken — besonders zur Konsequenzenlehre und den thematisch damit verbundenen Antinomien—eine eingehende Behandlung 39 . Unter den vielen Versuchen, die „antike" und die „moderne" Logik zusammenzufassen und schulgerecht zu kodifizieren, ist der „Summulae logicales" des Petrus Hispanus (Papst Johannes X X I , 1210/201277) ein ähnlicher Erfolg beschieden wie der „Glossa ordinaria" des Accursius40. Weder die umfassende „Summa logicae" des Wilhelm von Ockham (ca. 1300-1350) noch die „Perutilis logica" des Albert von Sachsen (ca. 1316-1390), noch die „Logica magna" des Paulus Vene tus (gest. 1429), um nur einige der bedeutendsten zu nennen, konnten ihr den Rang streitig machen; mit Ausnahme von Oxford und Cambridge wird sie an den meisten Universitäten zur Pflichtlektüre erklärt, daher immer wieder abgeschrieben, kommentiert und erweitert. Mehr als 300 erhaltene Handschriften und beinahe 200 zum großen Teil mit umfangreichen Kommentaren angereicherte Editionen, die in den ersten 150 Jahren des Buchdruckes erscheinen, bezeugen die überragende Stellung dieses Werkes für die scholastische Wissenschaft 41. Erst unter dem Druck der humanistischen Reformbestrebungen, der Polemik und Verachtung, welche deren Anhänger den logischen Feinheiten der Scholastik entgegenbringen, büßt die Logica modernorum ihre führende Stellung ein, gehen ihre Errungenschaften wieder verloren, und zwar gleich so gründlich, daß sie erst in unserem Jahrhundert am Leitfaden der heutigen Logik und Semantik wieder entdeckt worden sind.

36 Zur Supposition vgl. Bochénski : Formale Logik. Freiburg/München 1956. S. 186 ff.; Menne: Einführung in die Logik. 2. Aufl. München 1973. S. 19 ff.; ferner Saarnio: Untersuchungen zur symbolischen Logik. Helsinki 1935. 37 Vgl. Bochénski : Formale Logik. aaO. S. 199 ff. 38 Vgl. Bochénski aaO. S. 180 f. 39 Vgl. Pinborg: Logik und Semantik im Mittelalter. Stuttgart/Bad Cannstatt 1972. S. 13ff. 40 Vgl. De Rijk (Hrsg.): Peter of Spain. Tractatus called afterwards Summulae logicales. Assen 1972. 41 Vgl. De Rijk aaO. X C V - C I .

I. Die unbezweifelbare Autorität überlieferter Texte

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4. Der Einfluß der Scholastik auf das zeitgenössische Rechtsverständnis Es bedarf eigentlich keiner näheren Begründung, daß eine auf die Erfassung von sprachlichen Texten spezialisierte Rechtswissenschaft, wie diejenige der Glossatoren- und Kommentatorenzeit, an den Fortschritten der zeitgenössischen Sprachwissenschaft regen Anteil nimmt, zumal sie eine eigene juristische Methodenlehre nicht kennt. Nähere Untersuchungen einer größeren Anzahl von Glossen haben genau den Befund zutage gefördert, den man auf Grund der Rezeptionsgeschichte der Dialektik erwarten kann, nämlich daß seit Irnerius die „vetus logica" auch bei den Glossatoren in steter Benutzung ist 4 2 . Placentinus (gest. 1192), Azo, Accursius und ihre Zeitgenossen haben ihre zum Teil gründliche Kenntnis der einschlägigen, logischen Werke durch eine Reihe von Zitaten ausdrücklich kundgetan; es kommt allerdings auch vor, daß weniger bedeutende Glossatoren Ergebnisse aus fremden Schriften übernehmen, ohne selbst tiefer in die logische Problematik eingedrungen zu sein, so daß neben virtuoser Handhabung dialektischer Verfahren, auch bloße Nachahmung, Unkenntnis und Fehldeutungen festzustellen sind. Nicht anders als heute erreichen auch damals die logischen Überlegungen zeitgenössischer Logiker, etwa eines Peter Abaelard, einen Schwierigkeitsgrad, der vom Durchschnitt der Glossatoren nicht bewältigt werden kann 4 3 ; und nicht anders als heute streben auch damals nicht alle Glossatoren nach sicherer Erkenntnis dessen, was gilt, nach Rechtswahrheit, sondern sind ganz zufrieden, wenn sie durch die zur Verfügung stehenden, methodischen Verfahren befähigt werden, je nach praktischem Bedürfnis einfallsreich, widerspruchsfrei und psychologisch überzeugend zu argumentieren 44 . Für den vorliegenden Zusammenhang ist es von großem Interesse zu wissen, worauf das unbeirrte Vertrauen der Rechtswissenschaftler in die logischen, grammatischen und dialektischen Arbeitsweisen 45 , die wir als nach heutigem Verständnis durchaus unzulänglich kennengelernt haben, jahrhundertelang beruht. Semantische Analyse von Sprache und logische Beweisführung befriedigen den wissenschaftlichen Erkenntniswillen nur dort, wo die ermittelten Gehalte der Werke kraft ihrer Autorität über jeden vernünftigen Zweifel erhaben und logische Urteile (Aussagen) an Axiome, d. h. fundamentale, unbeweisbare, aber der autonomen Kritik entzogene, allgemeine Sätze gebunden sind. Genau dies läßt sich von den überlieferten Texten der Antike feststellen: Die mittelalterlichen Wissenschaftler empfinden die wiederentdeckte, antike Vorkultur als maßgebliche und zeitlose Gestalt ihres eigenen Lebens 42 Vgl. Otte : Dialektik und Jurisprudenz. Untersuchungen zur Methode der Glossatoren. Frankfurt/M. 1971. S. 22 ff., passim. 43 Vgl. etwa Abaelardus: Logica 'Ingredientibus' — Glossae super Periermenias. Ed. v. Geyer. In: Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. 21 (1927). 307 ff. Abaelardus: Dialectica. Ed. v. de Rijk. Assen 1956. 44 Otte aaO. S. 229. 45 Zur Dialektik vgl. oben S. 70 f.

22 Mittenzwei

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

und kommen nicht auf den Gedanken, ihre für alle Entscheidungen richtungweisende Geltung in Frage zu stellen, wiewohl ihnen die Interpretation der historischen Texte zum Zwecke der Ermittlung und Applikation des dogmatischen Textsinnes auf die veränderten Lebensverhältnisse als Problem durchaus schon bewußt ist und als Aufgabe, die unaufhörlich höchste Anstrengung der erkennenden Vernunft fordert, vor Augen steht. „Der weltgeschichtlich folgenreichste Ausdruck dieses Grundverhältnisses ist die überwältigende Herrschaft der Heiligen Schrift, der Konzilien und der Kirchenväter über die Theologie; aber kaum anders steht die vorcartesische Philosophie zu Aristoteles und Plato , die Naturkunde zu Aristoteles' Physik und Plinius' Naturgeschichte und noch der Humanismus zum klassischen Autor: sie sind nicht historische Zeugen der Wahrheit oder Wirklichkeit der Dinge, sondern diese Wahrheit und Wirklichkeit selbst. Die gleiche Autorität ist für alles Rechtsdenken zufolge des heilsgeschichtlichen Ursprungs des Reichs das justinianische Corpus iuris, und es ist mehr als ein Spiel mit Worten, wenn man sagt, es habe über das mittelalterliche Rechtsbewußtsein die Gewalt einer Rechtsoffenbarung gehabt." 46 Der Glossator eignet sich den Rechtstext demgemäß nicht in einem Akt freier Entscheidung als willkürliche, axiomatische Grundlage seiner Forschungen an, sondern achtet ihn als heilige Überlieferung einer zeitlos gültigen Ordnung sowohl der individuellen wie der gesellschaftlichen Verhältnisse hoch. 47 . Er verfolgt mit seiner Textexegese nicht die gleichen Ziele wie moderne Hermeneutiker, es geht ihm keineswegs um die Wahrheit oder Richtigkeit der im Text enthaltenen Aussagen und Sollensforderungen vor dem Forum einer voraussetzungslosen Vernunft, um historisches Verständnis der Zusammenhänge und Gründe oder um Nutzanwendung im praktischen Leben, vielmehr in erster Linie um die Vergewisserung der unumstößlichen Wahrheit der autoritativen Mitteilung mit Hilfe des Organs der Vernunft, der Logik. Recht sprechen bedeutet unter diesen Umständen, die semantisch ermittelte „ratio scripta" des überlieferten Textes, die Wort gewordene Vernunft des Corpus iuris, unmittelbar, d. h. ohne Reflexion über die Vernünftigkeit selbst, auf die unterbreiteten Sachverhalte anwenden. Das Rechtsverständnis der Glossatoren ist in seinen tieferen Schichten geprägt von naturrechtlichen Vorstellungen des frühen Mittelalters, die ihrerseits in den philosophischen Systemen der griechisch-hellenistischen Welt und der christlichen Ethik ihren Ursprung haben. Gemäß der Dreiteilung in ewiges, natürliches und menschliches Gesetz, aus der Thomas von Aquin (1225-1274) unter Berufung auf Augustinus und unter Wiederaufnahme stoischer Begriffsbildungen in seiner „Summa theologiae" eine systematische Begründung der Ethik des Mittelalters entwickelt, leiten nicht nur Legisten, sondern auch Kanonisten und Moraltheologen Gedanken des „ius naturale" aus Institutionen und 46

Wieacker. Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl. Göttingen 1967. S. 49 f. Wie es im übrigen auch der germanischen Auffassung vom Recht entspricht, daß dieses nicht willkürlich gesetzte Gebotsordnung, sondern unantastbare Lebensüberlieferung ist. Vgl. Ebel: Geschichte der Gesetzgebung. 2. Aufl. Göttingen 1958. S. 12 ff., 29 ff. 47

I. Die unbezweifelbare Autorität überlieferter Texte

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Digesten ab; wie ja umgekehrt das Corpus iuris selbst nachweislich Elemente des stoischen Naturrechts aufgenommen hat. Der Antrieb Generationen von Wissenschaftlern, sich vorbehaltlos und enthusiastisch einem überlieferten Rechtsbuch zuzuwenden und auszuliefern, ist also nicht allein fachlich zu erklären; er ist in gleichem Maße durch das zu allen Zeiten bestehende Bedürfnis nach einer sicheren, ethischen Grundlage für die politischen und sozialen Entscheidungen der eigenen Zeit motiviert. 5. Humanistische Kritik

und beginnende Krise

Fassen wir zusammen: Das kontinental-europäische Recht ist im Mittelalter nicht in erster Linie von Richtern, sondern von Universitätsgelehrten, von Rechtswissenschaftlern, geschaffen worden; es verdankt seine Verbreitung den Rechtsschulen der mittelalterlichen Universitäten, ohne welche die gemeinsame, lateinische Rechtskultur nicht verständlich ist. So wie das Recht als Teil einer alle Wissensgebiete umfassenden, lateinischen Kultur mit den Problemen der politischen und wirtschaftlichen Organisation, mit Religion und Moral der Zeit in engem Zusammenhang steht, so stammen die Denkmethoden der Rechtswissenschaft, das Verständnis des Rechts, Ziele und Wertungen, auf welchen es beruht, aus der Geistesbildung der Zeit. Die leitenden, paradigmatischen Vorstellungen müssen deshalb in eine Krise geraten, als mit dem Aufkommen klassischer Studien im 15. und 16. Jahrhundert die Anhänger des Humanismus, deren Bildungsideal unter Zurückdrängung der alles überdeckenden, christlichen Überlieferung auf das heidnische Altertum ausgerichtet ist, das Unhistorische der autoritätsgebundenen Denkweise zu durchschauen und zu kritisieren beginnen. Ist das Corpus iuris bislang als heiliges und ehrfurchtgebietendes Buch verstanden und ausgelegt worden, so betrachten die Humanisten es nunmehr als eine Manifestation römisch-antiken Geistes, nicht als kasuistische Sammlung unmittelbar geltender, weil zeitlos gültiger Gebote und Verbote, die man lediglich applikativ nach praktischen Erfordernissen zeitgemäß zu deuten hat, sondern als ein historisches Zeugnis, das ohne Rücksicht auf seinen gegenwärtigen Nutzen ausschließlich in seinem wahren, historischen Sinn zu erforschen ist. Gedanken der späteren Historischen Rechtsschule vorwegnehmend, formulieren sie damit erstmals ein Wissenschaftsverständnis, dem die kirchlichen und sonstigen Bindungen des Mittelalters lästig werden, weil sie Wahrheit nicht länger als durch die christliche Lehre festgelegt und vorgegeben, sondern als für die Zukunft aufgegeben betrachten, der sich Forschung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und ohne Behinderung von außen anzunähern habe 48 . Unter diesem Blickwinkel müssen die bislang hochgeschätzten, logischsemantisch orientierten Auslegungsverfahren als einseitige, bloß formale Verstandesmethoden erscheinen, mit denen man das Wesentliche eines Textes nicht 48

Vgl. Koschaker: Europa und das römische Recht. 4. Aufl. München/Berlin 1966. S. 105 f. 22*

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

erreichen kann, weil sie eine kritische Auseinandersetzung mit der Quelle weder vorsehen noch erlauben. Wer, wie die Glossatoren und Kommentatoren, nur das Justinianische Gesetzbuch, später allenfalls noch die Quellen der heimischen Statutarrechte zur Kenntnis nimmt, alle anderen antiken Quellen aber ignoriert (Graeca non leguntur), kann zum interpretierten Text schwerlich den nötigen Abstand gewinnen, um hinter ihm das geschichtliche, römische Recht zu erkennen. So verdanken wir erst den mit der antiken Literatur umfassend vertrauten Humanisten die Entdeckung und Edition wichtiger Handschriften juristischer Texte (etwa der „Florentina", der ältesten Handschrift der Digesten) sowie ein textkritisches Verfahren zur Ermittlung von Interpolationen, dessen geschickte Handhabung in der Spätphase des Humanismus auch Vertretern der Historischen Rechtsschule zur Ehre gereicht hätte 49 . II. Die Begründung des Rechts aus logischen Systemen der Vernunft 1. Schulenstreit und Experimentierphase Den vielfältigen Gründen der nach 1500 n. Chr. eintretenden Umbildung des wissenschaftlichen Denkens sowohl im allgemeinen als auch im juristischen Bereich kann hier nicht im einzelnen nachgegangen werden; entscheidend dürfte das in der bewundernden Vertiefung in die Literatur des klassischen Altertums gewonnene Bewußtsein vom Eigenwert der individuellen Persönlichkeit gewesen sein, das nicht nur die Höherwertigkeit des Christentums, insbesondere in seiner konkreten, historischen Gestalt gegenüber der (idealisierten) Antike in Frage stellte, sondern vor allem nach größerer, individueller Freiheit im Denken und Erkennen, Glauben und sittlichen Bewerten gegenüber den Fesseln einer zunehmend als beengend und anmaßend empfundenen, wissenschaftlichen (und kirchlichen) Doktrin verlangte. Äußerlich betrachtet, sind es die typischen Krisenerscheinungen, wie sie sich allenthalben bei der erzwungenen Lockerung paradigmatischer Bindungen beobachten lassen. Zunächst noch bemüht, das überkommene Paradigma — mit dem Justinianischen Gesetzbuch als Kern — zu verteidigen und aller neu auftauchenden Phänomene durch Eingliederung in die vorgegebene Ordnung Herr zu werden, ist bald das kritische Stadium erreicht, in dem die Vielfalt der Einzelheiten, welche die intensiven, klassischen Studien und die ausgedehnten, wissenschaftlichen Kontroversen anhäufen, das Ganze zu verdunkeln drohen, wo unüberwindbare Lehr- und Gliederungsschwierigkeiten die ersten wissenschaftlichen „Außenseiter" veranlassen, unter mutiger Inkaufnahme existentieller Konflikte mit den Hütern der überlieferten Ordnung die ausgetretenen, scholastischen Pfade zu verlassen, neue Wege zu suchen, als Fortschritt zu propagieren und politisch durchzusetzen. Daß es bei dem Sammeln von Anhängern nicht zimperlich zugeht, daß Hohn und Spott, 49

Vgl. Stintzing/Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. 1. Abt. München/Leipzig 1880. S. 175 ff.

II. Rechtsbegründung aus logischen Vernunftsystemen

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maßlose Polemik, moralische Verachtung und Feindseligkeit an der Tagesordnung sind, ist auch für den Kampf mit der scholastischen Rechtswissenschaft bezeugt1. Literatur und Unterricht beginnen ihre einheitliche Gestaltung zu verlieren; trotz noch vorhandener Übereinstimmung hinsichtlich des zu behandelnden Rechtsstoffes werden Unterschiede im Aufbau nicht nur von Land zu Land, sondern von Universität zu Universität sichtbar; das Bild der Wissenschaften wird farbig und differenziert, man hat den Eindruck, daß auch im juristischen Unterricht und in der von ihm geprägten, juristischen Literatur, viel und gern experimentiert wird. Die im Geistesleben des 16. und 17. Jahrhunderts am intensivsten betriebene Disziplin der Philosophie, die Logik, spaltet sich in nicht weniger als sieben Schulrichtungen auf. Wilhelm Risse unterscheidet: 1) Die rhetorische Logik der Ciceronianer; 2) die humanistisch-aristotelische Logik der Melanchthon-Schule, insbesondere an protestantischen Universitäten; 3) die ramistische Dialektik, namentlich an den calvinistischen Hochschulen; 4) die auf die griechischen Quellen zurückgreifenden Altaristoteliker und Averroisten, vorwiegend in Italien (ζ. B. Jacobus Zabarella, Padua); 5) die scholastische Logik verschiedener Richtungen, vorwiegend in Spanien und Portugal; 6) die auf dem klassischen Aristotelismus, der Scholastik und dem Ramismus fußende sog. systematische Schule des 17. Jahrhunderts und 7) die ebenfalls bis weit in das 17. Jahrhundert hineinführenden Zweige der lullistischen Tradition (Kombinatorik, Lingua universalis, Mathematisierung) 2 . Im 17. und 18. Jahrhundert kommen hinzu: a) die rationalistische Lehre der Cartesianer, historisch wirksam in der „Logik von Port Royal" und Geulinck's „Logica restituta"; b) die Verbindung von Logik und Mathematik, insbesondere durch Leibniz : c) die Spätscholastik; d) die erkenntnistheoretische Richtung der englischen Empiristen und e) die Aufklärung in Frankreich und Deutschland (z. B. Christian Wolff und seine Schule). Natürlich hat der Richtungskampf zwischen den Logikern und Methodikern Rückwirkungen auf das Methodenverständnis der Juristen; bringt man die Entwicklung auf einen vereinfachenden Nenner, so tritt der scholastischen Rechtswissenschaft des Mittelalters die humanistische Rechtswissenschaft der frühen Neuzeit, dieser die logisch-systematische Rechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts gegenüber 3. Die berechtigte, wenn auch aus heutiger Sicht übertrieben scharfe Kritik der Humanisten am scholastischen Lehrverfahren der Logik kennzeichnet auch die sich wandelnde, methodologische Einstellung der führenden Rechtswissenschaftler 4. Kritisiert werden weniger die Grundlagen der scholastischen Logik 1

Vgl. StintzinglLandsberg aaO. S. 90 f.; Burmeister. Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich. Wiesbaden 1974. S. 28 f. 2 Vgl. Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 1. (1500 -1640). Stuttgart/Bad Cannstatt 1964; Bd. 2. (1640-1780). 1970. 3 Vgl. Coing: Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm. In: derselbe (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. 2. Bd. 1. Teilbd. München 1977. S. 29 f.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

als ihre Ausführung im Unterricht, die unter pädagogischen Gesichtspunkten obskuren und unnützen Lehrstücke, die Umständlichkeit der Lehrweise, die Verderbtheit der Sprache, der die Quellen überdeckende Wall von autoritativen Kommentierungen. Die „modi significandi" werden als sprachliche Vergewaltigung verurteilt, die „proprietates terminorum" in die Grammatik (Rhetorik), die „praedicabilia" und „praedicamenta" in die Metaphysik verwiesen. Der scholastischen Lehre wird vorgehalten, es gehe ihr nicht um sachliche Argumente, sondern bloß um Worte, nicht um Sachprobleme, sondern um Autoritäten; sie ersticke in Distinktionen und sophistischer Diskussion unnützer Fragen, vermenge theologische und philosophische Probleme, hermeneutische, metaphysische und logische Fragen. Ihr Formalismus führe vom konkreten Inhalt fort, verleite zu Trugschlüssen, und die Logizität beruhe nicht auf der Geltung konventioneller Formeln, sondern auf der Begrifflichkeit der Sachverhalte. Die Liste der Beanstandungen läßt sich, je nach dem Standpunkt der humanistischen Kritiker, weiter fortsetzen. 2. Humanistische Rechtswissenschaft Auch die humanistisch fundierte Rechtswissenschaft ist der scholastischen zunächst in der Gestaltung des Rechtsunterrichts entgegengetreten; gemäß den humanistischen Ideen fordert sie die Verwendung des klassischen Lateins, den Gebrauch der damals modernen Methoden der klassischen Philologie (also Textkritik und Verständnis des Corpus iuris mit Hilfe der antiken Literatur), die Mißbilligung sowohl des mittelalterlichen Lateins als auch der scholastischen Methode und des Inhalts der mit ihr geschaffenen Apparate, endlich die Aufgeschlossenheit für die neuen logischen Bestrebungen der Zeit 5 . Zunächst nur von Einzelnen vertreten, ist der Erfolg in der Generation der Schüler, zumindest an den protestantischen und calvinistischen Universitäten, durchschlagend: die meisten geben die mittelalterliche Form der Exegese auf, die weitläufigen Darstellungen der mittelalterlichen Lehre und ihrer Kontroversen, der communis opinio doctorum in pro und contra, verschwinden, das Justinianische Recht rückt wieder in den Mittelpunkt, der Text wird klar und konzentriert aus sich selbst heraus oder unter Heranziehung antiker Autoren erläutert, historische und textkritische Erwägungen werden eingeführt, die strenge Bindung an den Aufbau der Rechtsquellen beginnt sich zu lockern und systematischen Überlegungen hinsichtlich der Stoffaufteilung Platz zu schaffen 6 . Wissenschaftliche Begeisterung für das idealisierte Altertum, pädagogisch4 Vives·. Adversus pseudo dialecticos. Selestadii. 1520. (München, Staatsbibliothek); Ramus: Aristotelicae animadversiones. Paris 1543. (Neudr. Stuttgart/Bad Cannstatt 1964); zusammenfassend Tribbechovius: De doctoribus scholasticis. Giessae 1665; Jena 1719. (Berlin, Staatsbibliothek). 5 Coing aaO S. 30. 6 Zum Stand der Forschung vgl. Troje: Die Literatur des gemeinen Rechts unter dem Einfluß des Humanismus. In: Coing (Hrsg.): Handbuch der Quellen. aaO. S. 615 ff. m. weit. Nachw.

II. Rechtsbegründung aus logischen Veunftsystemen

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methodologische Neigung auf Grund eines neuen Menschenbildes und des platonisch inspirierten Willens zur religiösen Erneuerung sowie ein aus der gleichen Quelle entspringendes, durch die Entdeckung geistiger Gesetzlichkeiten gestärktes, logisch-systematisches Interesse schaffen die Voraussetzungen für das Entstehen eines neuen Typs juristischer Literatur und bilden Kräfte aus, die den wissenschaftlichen Geist und damit zugleich die Rechtswissenschaft und das leitende Rechtsverständnis bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestimmen werden 7 . Es ist ein wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswerter Vorgang, wie Gelehrte des 16. Jahrhunderts unter der — den revolutionären Wandel notdürftig kaschierenden — Devise des „ordo iuris" sich von der das ganze Mittelalter hindurch unangefochten geltenden (und einem in Urkunden überlieferten, normativ verbindlichen Forschungsgegenstand auch angemessenen) Methode der logisch-grammatischen Exegese zu befreien suchen. Die verwirrende, unübersichtliche Vielfalt des jahrhundertelang angehäuften Rechtsstoffes erzwingt die Abkehr von einer Methode, die in der Folge vieler Forschergenerationen durch unablässige Wiederholung jede schöpferische Kraft eingebüßt hat und deren virtuose Handhabung zum Schluß nur noch verdeckt, daß man in Wahrheit auf der Stelle tritt. Das Ganze der Rechtsordnung, das man zunächst noch als etwas Vorgegebenes überblicken und durchschauen will, wird durch die bloße Analyse in Form von Quaestionen und Distinktionen nicht mehr erreicht. Textkritische, unkommentierte, zum Durchlesen wieder geeignete Ausgaben des Corpus iuris — die erste, unglossierte Ausgabe ist die von Holoander, Nürnberg 1528-1531 — lassen die Hoffnung aufkeimen, die Stoffanordnung der überlieferten, historischen Texte nach obersten und einheitlichen Prinzipien rational konstruieren zu können, wofür die Idee — des wiederentdeckten und dem vorherrschenden Aristotelismus entgegengestellten Piaton — einer Koinzidenz von ratio und natura, von Vernunft und Wirklichkeit, von rationalen Konstruktionsprinzipien und extramental existierender Seinsordnung das metaphysische Fundament liefert. 3. Die ramistische Logik und Wissenschaftslehre Petrus Ramus (1515-1572), der historisch einflußreichste Logiker des 16. Jahrhunderts, in dem die verschiedenen Strömungen seiner Zeit (humanistische Aristoteleskritik, ciceronische Dialektik, platonische Ideenlehre) zusammenfließen, ist einer der ersten gewesen, der die „naturgemäße Ordnung" des in einer jeden wissenschaftlichen Disziplin vorgefundenen Wissensstoffes gefordert hat; „natürlich" ist für ihn eine Ordnung, die der Natur des menschlichen Geistes entspricht, in dessen Ideen sich die Strukturen der Welt widerspiegeln. Gott hat unserem Geist die Natur mit „ewigen Charakteren" eingeschrieben; sie sind das 7 Vgl. Wieacker. Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl. Göttingen 1967. S. 88ff., 146 ff., 162 ff.; StintzinglLandsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. aaO. S. 140 ff.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

apriorische Fundament allen Wissens, ohne welches keine Wissenschaft, die für ihre Lehre Wahrheit beansprucht, auskommen kann. Die natürliche Logik, der Verstand als Abbild göttlicher Vernunft, ist der unumstößliche, nicht hintergehbare Ausgangspunkt allen Denkens: „Comparatur igitur dialectica... natura, doctrina, exercitatione. Natura namque disserendi principium instituit, institutum doctrina perpetuis et congruentibus consiliis instruit, instructum ab arte exercitatio in opus educit atque absolvit. H i sunt très libri ad omnis disciplinae fructum, laudemque necessarii, quorum primum aeternis characteribus in animis nostris Deus... imprimit, secundum naturae diligens observator imitatis notulis ad aeternarum illarum notarum exemplar effìgit, tertium manus linguaque... amplectuntur. Itaque de tribus dialecticae partibus prima... tertiaque... sunt in nobis... secunda... sola extrinsecus... assumenda est." 8 Durch diese Einbettung der ratio in die Ideen, durch die Teilhabe an den Urbildern des Seins ist die Logik als die Lehre des Denkens der Ideen transzendental — und nicht bloß psychologisch — begründet. Ausgehend von der natürlichen Fähigkeit des Menschen zum Denken, unterscheidet Ramus, gemäß der ciceronianischen Einteilung der Logik, „inventio" und „dispositio" (iudicium), Eingebung und Verarbeitung, Lehrsätze zum Auffinden des wesentlichen Materials und der Mittelbegriffe der Argumentation und Lehrsätze zur Darstellung bzw. Beurteilung begrifflicher Zusammenhänge9. Die „inventio" als diskursive Fragemethode zur Gewinnung von Erkenntnissen sowie wegweisender Richtpunkte sachlicher Problementscheidung sammelt das im „iudicium" zu beurteilende Material unter diesem angemessenen Begriffen. Das nachfolgende „iudicium" als Inbegriff des Problemkomplexes der Syllogistik, Methodenlehre und Ideenschau dient der Läuterung des anfangs verwirrten Denkens und schreitet deshalb nicht (wie bei Aristoteles) vom Begriff über das Urteil zum Schluß fort, sondern beginnt sofort mit dem Syllogismus. Da nach Ramus der Wahrheitsbegriff nicht an den Anfang, sondern an das Ende der Lehre vom „iudicium" gehört, versteht er die syllogistische Darstellungsweise der Dialektik als Theorie wissenschaftlicher Darstellung schlechthin und versucht sie über die bekannte, formale, aristotelische Syllogistik hinaus mit Hilfe der Lehren platonischer Dialektik zu einem einheitlichen System allen Wissens auszubauen. So führen seine Überlegungen weiter zu einer zweiten Stufe des „iudicium", der Methodenlehre, wo die Syllogistik mit der Ideenlehre Piatons verbunden wird; sie soll durch schrittweisen, erfahrungsgeleiteten Abstieg vom Allgemeinen zum Besonderen, bzw. umgekehrt durch schrittweise, erfahrungsgeleitete Ausgliederung des Besonderen aus dem Allgemeinen, Einzelerkenntnisse unter allgemeine Wesenserkenntnisse ordnen. Ramus rechtfertigt das Verfahren mit der platonischen Lehre der „anamnesis", der impliziten Teilhabe an den Ideen vor aller ratio, und widerspricht der aristotelischen Lehre, dergemäß die Prinzipien der Einzelwis8

Ramus: Dialecticae partitiones seu institutiones. Paris 1543. (Neudruck Stuttgart/Bad Cannstatt 1964). fol. 5v f.; zit. nach Risse aaO. Bd. 1 S. 124 f. 9 Ausführlich Risse aaO. S. 128 ff.

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senschaften induktiv erst am Ende rationaler Untersuchung zu gewinnen sind. Das Leitbild wissenschaftlicher Darstellung ist also die strenge Deduktion in Verbindung mit begrifflicher Einteilung, jedenfalls für die unveränderlichen Sachverhalte in einer Welt sich wandelnder Erscheinungen; auf den ersteren gründet apodiktisch festes Wissen, auf den anderen nur mit Wahrscheinlichkeit geltende, subjektive Klugheit. Ramus geht es bei seiner auf dem skizzierten Grundriß aufgebauten Dialektik noch nicht um eine erkenntniskritische Analyse des menschlichen Verstandes, wie sie ein Jahrhundert später einsetzen wird, sondern um dessen Befähigung zum „Wiedererkennen der Ideen" und um eine ontologisch gerechtfertigte Anweisung zum praktischen Gebrauche von Regeln für das Erfinden, Schlußfolgern und Anordnen. Gerade dieser praktische, an rhetorische Traditionen der Antike anknüpfende Charakter seiner Dialektik scheint den humanistisch gebildeten, aber praktisch orientierten Rechtsgelehrten des 16. und 17. Jahrhunderts im Hinblick auf den als notwendig anerkannten Zweck einer natürlichen Systematik komplexer Stoffgebiete angezogen und genügend Aussicht auf eine erfolgreiche, systematische Rekonstruktion des Rechts verheißen zu haben. Dies um so mehr, als die von Ramus entwickelten Prinzipien dem einzelnen Systematiker in bezug auf die Art und Weise der Kategorienbildung den denkbar weitesten Spielraum lassen. Kennzeichnend für alle an ihn anschließenden Systeme ist eigentlich nur die überall streng durchgeführte „Dichotomie", d. h. die Spaltung aller Begriffe in zwei aus Bejahung und Verneinung einer Eigenschaft resultierende Artbegriffe, im Anschluß an das berühmte Schema des Porphyrios von Tyros (234-301 n. Chr.) und die bekannte Methode der Definition eines Begriffes: Definitio fit per genus proximum et differentiam specificam 10. 4. Hermann Vultejus' Iurisprudentia

Romana

Typische Beispiele für die an Ramus anknüpfenden, systematischen Versuche sind die „Iurisprudentia Romana" des Hermann Vultejus (1555-1634) und die „Dicaeologicae" des Johannes Althusius (1557-1638) 11 . Unter Aufgabe der historisch überlieferten „Legalordnung" der justinianischen Pandekten bemüht sich Vultejus in seinem Werke, nach Art der Institutionen-Kompendien des 19. Jahrhunderts in kurzen Lehrsätzen eine vollständige Übersicht über das gesamte justinianische Recht zu entwerfen. Dabei geht er von der Geschichte der Quellen 10

Vgl. Menne: Einführung in die Logik. 2. Aufl. München 1973. S. 29. Vulteius: Iurisprudentiae Romanae a Iustiniano compositae. Libri duo. Marburg 1590. 7. Aufl. 1628, zuletzt 1748; Althusius: Dicaeologicae libri très, totum et universum ius, quo utimur, methodice complectentes. Herborn 1617. Dem Werk liegt der erste systematische Versuch des Althusius von 1586 zugrunde: Iurisprudentiae Romanae libri duo ad leges methodi Rameae conformati et tabellis illustrati. Basel 1586. 2. Ausgabe Herborn 1588, der möglicherweise seinerseits schon Vultejus zum Vorbild gedient hat. Einen kurzen Überblick über die Gliederung der Schrift gibt Gierke : Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Breslau 1880. 5. Aufl. Aalen 1958. S. 39 Anm. 8. 11

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aus (lib. I, c. 1-3), führt jedoch die Trichotomie des Gaius (ius omne in tribus est occupatum, in hominibus, in rebus, in iudiciis) auf eine dichotomische Gliederung zurück, unterscheidet das „ius absolutum" (lib. I, c. 4-78) vom „ius relatum" (lib. II), zerlegt das erstere in das „ius personarum" und das „ius rerum", behandelt beim „ius relatum", das die Kenntnis des ersteren voraussetzt, das „iudicium" sowie Praxis und Gebrauch des Rechts. In der Lehre vom „ius personarum" unterscheidet er eine consideratio absoluta und relata hominis, setzt sich dabei zunächst mit den natürlichen Eigenschaften der Person an sich (caput civile) und ihren Beziehungen zu anderen Personen (status iuris gentium) auseinander (lib. I, c. 4-10), um anschließend das reine Recht der Person an der Person, d. i. die potestas publica (lib. I, c. 11-15) und privata (lib. I, c. 16-25), sowie das durch „res sive facta quasi medium" bedingte Recht an der Person, d. i. die Obligation (lib. I, c. 26-61) darzustellen. Die potestas publica wird wiederum zerlegt in ecclesiastica und politica, die potestas privata in domestica und administratoria (tutela, cura); die Obligationen zerfallen in constituendae (conventio, delictum) und dissolvendae (ipso iure, ope exceptionis). Im zweiten Teil des ersten Buches (lib. I, c. 62-78) über das „ius rerum" versteht Vultejus das Wort „res" zunächst in seiner weitesten Bedeutung (omnia de quibus dici non potest, quod sint personae) und zergliedert sodann in bekannter Weise in „res corporales" und „incorporales", letztere weiterhin in res „quantitatis" und „qualitatis". Die res quantitatis sind Wert, Gewicht, Maß; alle übrigen incorporalia heißen res qualitatis. Von diesen sind einige „magis in facto quam in iure, ut est possesio"; andere „magis in iure quam in facto, ut dominium". Besitz und Eigentum sind die „iura rerum extra res posita in homine", sie sind gleichsam Eigenschaften der Sachen (cetera autem iura rebus ipsis insunt), an denen wir Besitz und Eigentum haben, nämlich Servituten. Folglich werden letztere vor Besitz und Eigentum behandelt, wobei die Erörterung der accessiones rerum, der res nullius und res alicuius den Übergang bildet. Die „causa dominii acquirendi" ist das Gesetz selbst, die „modi acquirendi" zerfallen in „iuris naturalis sive gentium" und „iuris civilis", letztere in „praescriptio" und „successio", diese wiederum in universalis (Erbrecht) und singularis (Schenkung und Legat). Im zweiten Buch erörterte Vultejus zunächst die allgemeinen Lehren von den Personen im Prozesse sowie vom Beweise, sodann die Klagearten, den Ablauf des Verfahrens und einzelne Teile des Prozesses. Besonders gelungen ist dabei, jedenfalls nach dem damaligen Stande der Quellen, die Darstellung des Formularprozesses (lib. II, c. 26) und die klare Herausarbeitung der inneren Unterschiede zum — vom kanonischen Recht beeinflußten — „processus iudiciarius novus", womit das Werk abschließt 12 .

12

Vgl. »Stintzing!Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. 1. Abt. München-Leipzig 1880. S. 457 ff.

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5. Die systematische Erfassung des Rechts durch Johannes Althusius Wer sich die Mühe macht, die von Vultejus scharfsinnig durchdachte Darstellung des gesamten Rechtsstoffes nach Art des „arbor Porphyriana" in ein übersichtliches Schema zu bringen und mit dem „System" des Gaius oder dem weiterentwickelten des Corpus Justinianus in seinen Einzelheiten zu vergleichen, der wird kaum bestreiten wollen, daß Vultejus in der Tat eine verbesserte Anordnung des Stoffes gelungen ist, welche die methodische Durchdringung desselben und damit zugleich das Lehren und Lernen erleichtert, mag auch aus heutiger Sicht die eine oder andere der getroffenen Unterscheidungen als willkürlich keine Billigung mehr finden. Dies gilt fraglos in noch höherem Maße von den systematischen Überlegungen des Althusius in seinen „Dicaeologicae" von 1617. Hier wird die nach ramistischem Muster durchgeführte Systematisierung des Stoffes gleichsam auf die Spitze getrieben und die dialektische Spaltung von den obersten Grundbegriffen bis in die feinsten Verästelungen des Rechtsstoffes mit äußerster Konsequenz zu Ende geführt. Ausgehend von dem Gegensatz zwischen „partitio" und „divisio", d. h. der Zerlegung in Bestandteile (membra) und der Auseinanderlegung in Arten (species), unterscheidet Althusius bei der Disposition seines Werkes erstmals zwischen einem allgemeinen und einem besonderen Teil der Rechtslehre, eine Differenzierung, die sich später allgemein durchsetzt und heute als selbstverständlich betrachtet wird. Den allgemeinen Teil der Rechtslehre unterteilt er in zwei Hauptabschnitte: „negotium symbioticum" und „ius", gemäß der Einsicht, daß alle Rechtsverhältnisse aus zwei Elementen (membra) bestehen, nämlich aus den sozialen Tatsachen oder Tatbeständen des Rechtslebens und ihrer rechtlichen Regelung oder juristischen Form. Das soziologische Material der rechtlichen Ordnung faßt er allerdings sogleich mit juristischen Kategorien, indem er aus dem „factum civile", den Geschäften dieser Welt (negotia symbiotica), soweit sie von Menschen in ihrem korporativen Zusammenleben getätigt werden, als Unterbegriffe Sachen und Personen ableitet, auf welche sich als Rechtsobjekte bzw. -Subjekte alle rechtlichen Vorgänge beziehen lassen. Nur in diesem Rechtssinn, nicht in ihrer sozialen Funktion, untersucht und zergliedert Althusius die Tatbestände des Rechtslebens weiter, dabei die Erörterung ihrer physischen, politischen, ethischen, theologischen, historischen und logischen Aspekte ausdrücklich in andere Wissenschaftsbereiche verweisend (lib. I, cap. 1, nr. 9-10). Zunächst folgt nun die Lehre von den Sachen, ihre partitio in reelle und ideelle Teile und ihre divisio in Einzelsachen und Gesamtsachen (c. 1, nr. 11 44) mit den üblichen, weiteren Unterteilungen in körperliche (bewegliche — unbewegliche, Haupt- u. Nebensachen, Früchte — Impensen) und unkörperliche (Handlungen und fungible Sachen, soweit bei ihnen der Wert als Substanz erscheint, getrennt nach Wertarten, Wertmassen und Geld). Daran schließt sich die Lehre von der Rechtsperson an (homo iuris communionem habens) und ihrer beiden Species, den homines singulares und den homines coniuncti, consortiati et cohaerentes, den Einzelmenschen samt dem Einfluß angeborener

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und erworbener Zustände (lib. I, c. 5-6) und den Korporationen, den natürlichen und gewillkürten Personengesamtheiten (lib. I, c. 7-8). A n dieser Stelle baut Althusius auch die sozialen Beziehungen ein, die wir heute als „öffentlichrechtliche" bezeichnen; er versteht unter Korporationen alle sozialen Gebilde, angefangen von der Ehe und Familie über Vereine und Verbände bis hin zu Gemeinden, Provinzen und Staaten. In der nun folgenden Lehre von der menschlichen Tat schildert Althusius die Rechtspersonen als Subjekte rechtsgeschäftlichen Handelns (Tun und Unterlassen unterscheidend), durch welches Sachen zu Elementen von Lebensverhältnissen gestaltet werden (lib. I, c. 9-12). Als Erfordernisse rechtlich relevanter Handlungen erscheinen einerseits „voluntas" (hierbei von dies, conditio und modus, von vis, metus und error, von dolus und culpa handelnd) und andererseits facultas (potentia et auctoritas facientis); den Abschluß bildet eine Betrachtung der verschiedenen Arten von factum merum — als dem Gegensatz zum rechtlich relevanten Handeln (lib. I, c. 12 nr. 12-17). Die heute allen geläufige Verweisung der allgemeinen Lehren von Sachen, Personen und Handlungen in einen vorbereitenden Teil hat Althusius aufgrund seiner systematischen Vorstellungen von einer Rechtsordnung als erster vollzogen; desgleichen ist die Unterscheidung von Einzelpersonen und Kollektivpersonen in der Lehre vom Rechtssubjekt eine originäre Frucht seiner systematischen Anstrengungen 13 . Dem ersten Hauptabschnitt über Rechtspersonen, Rechtshandlungen und Rechtsgegenstände stellt Althusius unter dem Titel ,,/ws" das System der juristischen Lehrbegriffe gegenüber, das wiederum in zwei Teile zerfallt: in die Lehre von der „constitutio iuris", dem objektiven Recht, und von den „species iuris", den subjektiven Rechten. Das objektive Recht untergliedert er in positives Recht und Naturrecht, jenes in geschriebenes und ungeschriebenes, dieses in absolutes und relatives, verbietendes und erlaubendes, insoweit allerdings die Grenzen des Herkommens nicht überschreitend. Die Begründung des Rechts (lib. I, c. 13-17) erfolgt durch vernunftgemäße Ableitung aus der Natur und Eigenschaft des negotium; während das Naturrecht von der recta ratio communis nach den allgemeinen Bedürfnissen menschlicher Gemeinschaft aufgestellt werde, erzeuge die recta ratio specialis das positive Recht gemäß den besonderen Bedürfnissen einer zeitlich und örtlich begrenzten Lebensgemeinschaft (vita socialis). Naturrecht und positives Recht scheinen dabei in seinem System auf gleicher Stufe zu stehen, sich weder gegenseitig ausschließend noch gar bekämpfend, wobei freilich das positive Recht bei der notwendigen Anpassung an die konkreten, geschichtlichen Verhältnisse die Übereinstimmung mit den obersten Grundsätzen des Naturrechts aufrecht erhalten muß, um überhaupt Recht zu sein (lib. I. cap. 14). Althusius findet hier Gelegenheit, das reiche, empirische Material der natürlichen und geschichtlichen Rechtserfahrung in sein System einzuarbeiten.

13 Vgl. v. Gierke : Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Breslau 1880. 5. Aufl. Aalen 1958. S. 42 Anm. 16.

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Was die subjektiven Rechte betrifft, so lassen sie sich nach seiner Auffassung wiederum in zwei große Gruppen zusammenfassen: in die dinglichen und persönlichen Rechte, dominium und obligatio, die Herrschaftsverhältnisse über Sachen und die persönlichen Rechte und Verpflichtungen (lib. I, cap. 18,34). Die dinglichen Rechte gliedert er in Rechte an eigenen und an fremden Sachen: Eigentum, Besitz, Servituten; in Rechte an der eigenen Person oder an fremden Personen: Freiheit, sittliche Ehre, Keuschheit, körperliche Unversehrtheit, wobei er den Rechten an sich selbst die „potestas privata" über Sklaven, Leibeigene, aber auch Hauskinder und Gesinde gegenüberstellt (lib. I, cap. 1931). Die potestas privata wird weiter gespalten in ein ius in personam et rem und in ein ius in personam; ersteres ergibt die potestas privata domestica (plena an Sklaven, minusplena an Freigelassenen und Leibeigenen des zeitgenössischen Rechts, sowie als eheliche und väterliche Gewalt) bzw. administratoria (tutela und cura), letzteres die potestas privata correctoria et moderatoria (an jüngeren Verwandten und an Schülern) oder clientelaris. Althusius arbeitet in diesen Abschnitt erneut Gedanken ein, die wir aus heutiger Sicht als öffentlichrechtlich aus diesem Zusammenhang ausscheiden würden, und behandelt im Anschluß an die potestas privata das Eigentum an öffentlichen Sachen (Staatsgut — Kirchengut), sowie die öffentliche Gewalt über Personen, aufgegliedert in allgemeine Staatsgewalt, vom Volke ausgehend (publica potestas universalis), und besondere Staatsgewalt (publica potestas limitata, specialis, particularis), nämlich historisch erwachsene Hoheitsrechte oder Amtsgewalten. Abschließend kommt er auf die zweite Art der subjektiven Rechte, die Obligation, in ihren allgemeinen Bezügen zu sprechen. Neben diesem großen „Allgemeinen Teil", oder wie Althusius selbst sagt, den „membra" des Rechts, steht der „Besondere Teil", die „species"; dieser zerfallt in die „dicaeodotica" und die „dicaeocritica", d. h. in die Zuteilung der Rechte und in das Verfahrensrecht. In der Lehre von der Zuteilung der Rechte an die Menschen unterscheidet Althusius „dicaeodotica acquirens" (Rechtserwerb) und „dicaeodotica amittens" (Rechtsverlust), sei es auf Grund von Vertrag oder Delikt. Die Behandlung des Rechtserwerbs füllt den ganzen Rest des ersten Buches, beginnend mit den allgemeinen Sätzen über den Erwerb von Rechten (lib. I, cap. 35), dann dem Eigentumserwerb (lib. I, cap. 36-63), wobei unter den derivativen Erwerbsarten das gesamte Erbrecht dargestellt wird 1 4 , endlich die Begründung obligatorischer Verhältnisse samt der Lehre vom Abschluß und den Wirkungen der Verträge und der ausführlichen Darstellung der einzelnen Vertragsarten. Nach der äußeren Einteilung des Buches, welche der methodischen Gliederung nicht ganz entspricht, ist es der 4. Teil des 1. Buches, zunächst allgemein über Verträge (cap. 64-67), dann über die einzelnen Kontrakte nach 14 Die Kapitel 35-63 bilden den 3. Teil des 1. Buches; sie behandeln occupatio (cap. 36), traditio (cap. 37), fructuum perceptio (cap. 38), coniunctio rerum (cap. 39), nützliche Verwendung (cap. 40), usucapio (cap. 41, 42), successio (cap. 43-63); als successio in die potestas privata den Erwerb von Vormundschaft und Kuratel aus verschiedenen Delationsgründen (cap. 54, 60-62).

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römischem Schema handelnd (cap. 68-89), dabei Ehevertrag (cap. 75), Adoption (cap. 80) und societas publica (cap. 81) der societas anschließend und zahlreiche Verträge neueren Rechts unter dem contractus innominati (cap. 87-89) einordnend; es folgen pacta (cap. 90), quasi-contractus (cap. 91-95) und contractus mediati (Verpflichtung durch Gewaltunterworfene und Stellvertreter, cap. 9697). Das erste Buch endet mit der Behandlung des Deliktsrechts, welches Althusius über die rein privatrechtlichen Aspekte hinaus zu einem vollständigen System des Strafrechts ausbaut (lib. I, cap. 98-146); dabei trennt er nach italienischem Vorbild in „moderner" Weise die allgemeinen Verbrechensmerkmale und die Lehre von der Strafe von den besonderen Verbrechensarten. Die Lehre vom Verlust der Rechte (dicaeodotica amittens) füllt das zweite Buch des Werks und beschäftigt sich mit dem Untergang von Rechten im allgemeinen durch actus contrarli (cap. 2), Erlaß und Verzicht (cap. 3), Vergleich (cap. 4), Eideszuschiebung (cap. 5), Verjährung (cap. 6), natürlichem oder bürgerlichem Untergang der Sache oder Person (cap. 7-9), restitutio in integrum und res iudicata (cap. 10), den Beendigungsgründen bei Pfandrechten und Vormundschaften (cap. 11), den besonderen Aufhebungsgründen von dominium und possessio (cap. 12,13), schließlich den eigentümlichen Beendigungsarten der Obligation, insbesondere der Erfüllung (cap. 14-22) und der auf Deliktsobligationen beschränkten Tilgung durch „venia et gratia" (cap. 23). Das dritte und letzte Buch des Werks enthält die zweite Hälfte des besonderen Teils, die Dicaeocritica, die Lehre von der Verhandlung und Entscheidung einer „quaestio ex dicaeodotica orta". Althusius gliedert den Stoff des Verfahrensrechts in uns heute vertrauter Weise in die Abschnitte Prozeßpersonen (personae) und Prozeßhandlungen (quaestiones); als Prozeßpersonen behandelt er das Gericht (cap. 1-5) und die Parteien (litigantes, cap. 6), als Prozeßhandlungen die Klagen (actiones, einschließlich der accusationes, cap. 7-20) und Einreden (exceptiones, cap. 21-24). Die folgenden Kapitel 25-26 enthalten die Regeln der Klagebeantwortung und Litiscontestation; die Kapitel 27-45 das Beweisrecht, Kap. 46 das Schlußverfahren, Kap. 47 das Urteil, Kap. 48 die Vollstreckung, Kap. 49 die Citation, Kap. 50 die Kontumaz, Kap. 51 die Prozeßvollmacht, Kap. 52 Kaution und Gefahrdungseid, Kap. 53 interlocutio iudicis, Kap. 54 die summarischen Prozeßarten, Kap. 55-57 die Rechtsmittel. Ich habe die Gliederung der „Dicaeologicae" des Johannes Althusius hier so ausführlich wiedergegeben, weil an diesem Werk besonders augenfällig wird, wie methodische Scheidekunst, außergewöhnliche, geistige Spannkraft und Wille zum System einen verwickelten Stoff zu durchdringen und zu ordnen vermag. Sicherlich kann man die von Althusius entworfene Ordnung des Rechts für anfechtbar halten 15 und bemängeln, daß dieser eigenständige Versuch einer Enzyklopädie des geltenden Rechts über eine formale Gliederung des römischen 15 Vgl. Trojé: Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts. In: Philosophie und Rechtswissenschaft. Hrsg. v. Blühdorn u. Ritter. Frankfurt/M. 1969. S. 63 ff. (85).

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Zivilrechts nicht wesentlich hinauskommt 16 . Auch sei zugestanden, daß es trotz aller begrifflichen Anstrengung Althusius nicht gelingt, für alle Rechtsinstitute den ihrer Bedeutung gemäßen Platz zu finden 17. Auf die ersten System versuche des Gaius und der justinianischen Juristen zurückblickend, läßt sich jedoch schwerlich bestreiten, daß die Ordnung des Stoffes, was Geschlossenheit und Folgerichtigkeit betrifft, alles Vorangegangene übertrifft, mögen die mit Hilfe logischer Schablone gewonnenen Unterscheidungen, an heutigen Ordnungsvorstellungen gemessen, bisweilen auch eher scharfsinnig als einsichtig, eher begrifflich klar als kritisch begründet erscheinen und im Ergebnis der ersehnte, qualitative Sprung von der hergestellten zur inneren, natürlichen Einheit, wie er Petrus Ramus vorschwebte, mißlungen sein. M i t den genannten systematischen Werken ist zu Beginn des 17. Jahrhunderts die jahrhundertealte Ordnung des Rechtsstoffes nach den überlieferten, autoritativen Rechtsquellen zugunsten einer Ordnung nach Sachzusammenhängen erstmals überwunden; da die Hochachtung der Wissenschaftsgemeinschaft vor dem autoritativen Rechtstext, wie wir gesehen haben, nichts Äußerliches war, sondern auf einer die Forschung tragenden Grundanschauung beruhte, ist mit der Aufgabe der Legalordnung zugleich eine wesentliche Veränderung des Paradigmas eingetreten, ohne daß den führenden Wissenschaftlern damals ein möglicher neuer Konsens bezüglich der gemeinsamen Forschungsgrundlage schon klar vor Augen gestanden hätte. Sehen wir auch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die systematischen Darstellungen nach ramistischem Vorbild sich häufen und die von Fragment zu Fragment fortschreitende Vorlesung allmählich verschwinden 18 , so verhindern neu aufkommende, induktiv orientierte Strömungen wie der Empirismus doch eine Konsolidierung des logischsystematischen Standpunktes; erst die Pflege des Naturrechts in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zieht die systematischen Fragen wieder in den Vordergrund und gibt ihnen eine gültige, paradigmatische Grundlage. 6. Hugo Grotius' Versuch einer Grundlegung des Rechts Acht Jahre nach Johannes Althusius' „Dicaeologicae" erscheint 1625 das Hauptwerk des Holländers Hugo Grotius: „De iure belli ac pacis libri très", dem für die Entwicklung des Rechtsverständnisses eine fruchtbare Vermittlerrolle zufallt, obwohl man auf den ersten Blick „nichts besonders Neues an ihm entdecken kann, weder im Inhalt noch in der Form, weder im Ziel noch im Weg, in der Methode, in welcher sich Neuerungen grundsätzlicher Art sonst 16 Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. 4. Aufl. Tübingen 1963. S. 211. 17 StintzinglLandsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. 1. Abt. München-Leipzig 1880. S. 474. 18 Vgl. Stintzingl Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. 2. Abt. München/Leipzig 1884. S. 24 f.; Coing: Die juristische Fakultät und ihr Lehrprogramm. In: derselbe (Hrsg.): Hdb. der Quellen und Literatur der neueren europ. Privatrechtsgeschichte. 2. Bd. 1. Teilbd. München 1977. S. 38.

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anzukündigen pflegen." 19 Grotius faßt den Begriff des „Krieges" so weit, daß er unter diesem Aspekt das gesamte Rechtsleben erörtern kann. Er unterscheidet vier Arten von „Krieg": Kampf der Individuen untereinander, Kampf der Individuen gegen den Staat bzw. umgekehrt des Staates gegen die Individuen und schließlich Kampf zwischen den Staaten selbst; alles, worüber Menschen rechten können und worüber ein Rechtsverfahren denkbar ist, wird damit erfaßt. So behandelt das zweite der drei Bücher denn auch Rechtsprobleme wie die Formen des Eigentums (Gemeineigentum, Sondereigentum), die Formen des Rechtserwerbs und -Verlustes, Fragen des Vertragsschlusses und der Willenserklärung, die Verpflichtung zum Schadensersatz, Eherecht, Erbrecht, Versprechen und Eid, das Recht der Körperschaften, Staatsgewalt und Rechtsauslegung, Strafrecht und vieles mehr. Das dritte Buch ist dem Kriegsrecht im engeren Sinne gewidmet und erörtert Handlungen, die auf Grund allgemeiner Regeln des Naturrechts erlaubt bzw. verboten sind, etwa das Tötungsrecht, Raub, Verwüstung, Repressalien, Geiselnahme, List und Lüge, das Recht auf Leib und Leben, das Recht der Beschlagnahme von Eigentum der Untertanen für Kriegszwecke, Kriegserklärung, Waffenstillstand, Kapitulation, Friedensverträge usw. Im ersten Buch befaßt sich Grotius mit dem Problem des gerechten Krieges und kommt zu dem Ergebnis, daß er aus drei Gründen gerechtfertigt sein kann: zur Verteidigung gegen Angriffe, zur Wiedererlangung des Weggenommenen und zur Bestrafung bei Verletzung göttlichen oder natürlichen Rechts. Die in unserem Zusammenhang bedeutsamen Prolegomena des Werkes behandeln die allgemeinen Rechtsgrundlagen. Grotius weist zunächst die Auffassung zurück, das Recht werde allein von Nützlichkeitserwägungen getragen und diene dem Vorteil des Stärkeren; nicht der Nutzen im menschlichen Handeln, sondern das gesellige Wesen des Menschen ergebe eine Reihe von Grundsätzen, auf welchen das Recht letztlich beruhe. Erste Quelle des Rechts sei darum die vernünftige und soziale Natur des Menschen und die sich daraus ergebenden Folgerungen und Richtlinien des menschlichen Verhaltens müßten als denknotwendig auch dann gelten, wenn es Gott nicht gäbe; die zweite Rechtsquelle sei aber der Wille Gottes, insofern er als Schöpfer der Natur diese Grundsätze vorschreibe (De iure belli ac pacis. Buch I. 1. §§ 3,10,12). Obwohl der Gedanke nicht neu ist und das philosophische Problem erst mit der Frage beginnt, was zu dieser menschlichen Natur gehört und was wir über sie wissen können, liegt hier die Ursache der ideengeschichtlichen Wirkung des Buches. Nachdem im Zeitalter der Glaubenskämpfe das Vertrauen auf die Autorität der Überlieferung geschwunden und die christliche Grundlage des Naturrechts erschüttert ist, muß sie nach weit verbreiteter Überzeugung der Zeitgenossen neu fundiert werden, und zwar so, daß sie ohne Rücksicht auf Konfession und Glaubensbekenntnis von jedem vernünftigen Menschen logisch und ethisch 19 Schönfeld: Grundlegung der Rechtswissenschaft. Stuttgart/Köln 1951. S. 313; allerdings ist Descartes' epochemachende „Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs" (1637) noch nicht erschienen.

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akzeptiert werden kann. Was aber sollte das anderes sein als die objektive Vernunft selbst, durch welche sich der Mensch seiner Natur nach von allen anderen Lebewesen unterscheidet (Proleg. §§ 7, 8)? A u f diese Vernunfterkenntnis muß man nach Grotius zurückgehen und aus ihr alle weiteren Regeln des menschlichen Zusammenlebens in vernünftigen Schlußfolgerungen entwickeln (aaO. Buch II. 8. § 1), wobei uns Aristoteles die besten Dienste leiste, wenn wir ihn mit der durch das Christentum gewonnenen Freiheit läsen, ohne seine Schriften und uns mit dessen ganzen Schwierigkeiten zu belasten. Nicht Kirche und nicht Staat, auch nicht Theologie oder Moralphilosophie, sondern allein der Gedanke des Rechts, den Gott in den vernunftbegabten Menschen gepflanzt habe, bringe, davon ist Grotius zutiefst überzeugt, die aus den Fugen geratene, menschliche Gesellschaft wieder ins Lot (Proleg. § 12); Rechtsglaube und durch das Studium der Antike gewonnene Humanität sind die Grundantriebe seines Denkens 20 . Obwohl sich Grotius auf Aristoteles beruft, greift er bei der anthropologischen Grundlegung seines Rechtsverständnisses weniger auf peripatetische denn auf stoische Gedanken in ciceronischer Überlieferung zurück; es ist die stoische Lehre von der ersten und der zweiten Natur des Menschen — die Unterscheidung der ersten naturgemäßen Dinge und der Vernunftnatur —, auf der seine rechtsphilosophische Einsicht beruht. Das Herzstück der stoischen Anthropologie bildet die Trieblehre, dergemäß der Mensch durch Empfindungen seines Körpers Vorstellungen empfängt, die automatisch und spontan Triebe auslösen; der Trieb ist ein Erleiden, ein Afflziertwerden, der zum „Affekt" (Pathos), zur Leidenschaft entartet, sobald er, von der Vernunftseele im Menschen ungebändigt, übermäßig stark wird. Behält die Vernunft den Trieb aber in der Gewalt, so daß die Bewegungen der Seele, die wir in jedem Trieb vor uns haben, geordnet sind, entsteht aus jedem Menschen als Mikrokosmos ein Abbild des vernunftdurchwalteten Makrokosmos, bildet sich der menschliche „Wille" als vernunftgemäßer Trieb, eine Vorstellung, die sich die Philosophen das ganze Mittelalter bewahrt haben 21 . Noch Kant unterscheidet in diesem Sinn zwischen einem niederen und einem höheren Begehrungsvermögen, zwischen bloßem Afflziertwerden und sich selbst bestimmender, praktischer Vernunft. Es ist vor allem der frische, unüberlegte Eindruck, der nach Ansicht der Stoiker zu falschem Urteilen und den verschiedenen Arten des Wahns (Schmerz, Furcht, Begierde, Lust) führt, und die Aufgabe des Menschen besteht darin, die Enge des Augenblicks zu sprengen und der objektiven Wahrheit zum Sieg zu verhelfen. Tugend ist nach der stoischen Lehre die rechte Vernunft (orthos logos, ratio recta), deren inhaltliche, ethische Normen sich aus dem Urtrieb der Menschennatur, nämlich der aus sinnlicher Selbstwahrnehmung entspringenden Zueignung (Oikeiosis) seiner selbst, ergeben. Von der entfalteten Selbstbeziehung 20

Vgl. Wieacker. Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl. Göttingen 1967. S. 291. Vgl. Hirschberger: Geschichte der Philosophie. Bd. 1.11. Aufl. Freiburg/Basel/Wien 1979. S. 258 f. 21

23 Mittenzwei

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dehnt sich die Oikeiosis auf Angehörige, die politische Gemeinschaft und schließlich die gesamte Menschheit aus; überhaupt auf alles, was das Ich und seine Erweiterung in die Gemeinschaft erhält und schützt, was Nützliches fördert und Schädliches fernhält. Je vollständiger der Mensch das Werk der sittlichen Befreiung durch die rechte Vernunft in sich selbst vollbringt, um so stärker wird, wie die Stoiker glauben, der Trieb zur Gemeinschaft in ihm wirken. Durch diese Bestimmung entstehen in der stoischen Ethik zwei relativ entgegengesetzte Richtungen, einerseits auf individuelle Unabhängigkeit, andererseits auf Gestaltung des menschlichen Gemeinschaftslebens zielend. Weil aber nur dem vernünftigen Denken und Wollen, das den Menschen von allem Äußeren und auch von anderen Menschen unabhängig macht, ein unbedingter Wert zugemessen wird, ist in dieser Denkweise mit der Freiheit des einzelnen zugleich die Anerkennung der Freiheit des anderen und die Anerkennung einer Gemeinschaft zwischen allen Vernunftbegabten enthalten; sie führt zu der Forderung, daß ein jeder seine besonderen Zwecke den Zwecken und Bedürfnissen der Gesamtheit unterordne. Denn vernünftig handelt und denkt der Mensch nur, sofern sein persönliches Tun dem allgemeinen, für alle Vernunftwesen gleichen Gesetz entspricht, das alle als Teile eines wesentlich zusammengehörigen Ganzen bestimmt 22 . Der Trieb nach Gemeinschaft ist somit nach der stoischen Lehre mit der Vernunft selbst gegeben, denn in seiner Vernunft weiß der Mensch sich als Teil des Ganzen, der Allvernunft, und eben damit als verpflichtet, seinen eigenen Vorteil dem Ganzen unterzuordnen: „mundum autem censent regi numine deorum, eumque esse quasi communem urbem et civitatem hominum et deorum, et unumquemque nostrum eius mundi esse partem; ex quo illud natura consequi, ut communem utilitatem nostrae anteponamus." 23 A u f dieser Grundlage entwickelt Grotius im Anschluß an Cicero folgende Lehre: Es gebe gewisse erste Naturprinzipien, welche von den Griechen als die naturgemäßen, ersten Dinge bezeichnet worden seien, sowie gewisse spätere Prinzipien, die man diesen ersteren vorziehen müsse. Zu den naturgemäßen Dingen gehöre der allen Lebewesen eigene Selbsterhaltungstrieb, der jeden verpflichte, sich in seinem ihm von der Natur mitgegebenen Zustand zu erhalten, alles Naturgemäße zu tun und alles Naturwidrige zu unterlassen. Habe man die Einsicht in die natürlichen Dinge des Lebens gewonnen, so folge unmittelbar die Erkenntnis, daß die ersten, natürlichen Grundsätze mit der Vernunft, die den Menschen auszeichne und höher stehe als Leib und sinnliche Empfindung, in Einklang stehen müssen, daß der Mensch in seinem praktischen Tun seinen 22

Vgl. Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. 3. Teil. 1. Abt. 5. Aufl. Leipzig 1923. (Nachdr. Hildesheim 1963) S. 292 f. 23 Cicero: De finibus bonorum et malorum. Ed. v. Atzert. Zürich/Stuttgart 1964. III. 19.64. („Nach Meinung der Stoiker wird die Welt durch das Walten der Götter regiert; sie sei daher gleichsam die gemeinsame Stadt und der gemeinsame Staat der Götter und der Menschen, und jeder von uns sei ein Teil dieser Welt. Daraus folgt ganz natürlich, daß wir Gemeinnutz dem Eigennutz vorziehen.").

II. Rechtsbegründung aus logischen Vernunftsystemen

355

natürlichen Trieben nur soweit folgen darf, als es die rechte Vernunft gestattet. Der erste Naturtrieb könne uns wohl an die rechte Vernunft verweisen, aber die rechte Vernunft müsse jedem weit wichtiger sein als der natürliche Trieb. Da diese Lehre völlig einleuchtend sei, müsse man bei den Problemen des Naturrechts zwar zunächst auf die Übereinstimmung mit den ersten Prinzipien achten, dann aber zu den später entstandenen, gleichwohl höherwertigen Vernunftgrundsätzen übergehen (aaO. Buch I. cap. 2.1). So entspringe das Naturrecht zum einen der „Oikeiosis", dem Grundtrieb des Menschen, nicht nur zur Erhaltung seiner eigenen Existenz, sondern auch zur Fürsorge für seine Mitmenschen. Es sei der Geselligkeitstrieb (appetitus societatis), der Trieb nicht gerade zu einer beliebigen, wohl aber zu einer friedlichen, vernünftig geordneten, harmonischen Gemeinschaft, den man auf Grund eines Schattens von Vernunft auch im Tierreich, etwa bei der Versorgung des Nachwuchses, beobachten könne. Beim Menschen verbinde sich dieser Trieb mit der nur ihm eigenen Fähigkeit, gemäß seiner Vernunft nach Regeln zu erkennen und zu handeln. Die Sorge für die Gemeinschaft, welche mit der menschlichen Vernunft übereinstimme, sei die Quelle des Naturrechts im engeren Sinne (aaO. Proleg. §§ 6 ff.). Aber auch unabhängig vom Geselligkeitstrieb habe die menschliche Vernunft das Vermögen, das Zuträgliche und Schädliche für die Gegenwart und für die Zukunft zu erkennen; und diesem vernünftigen Urteil zu folgen, entspreche der Vernunftnatur des Menschen überhaupt, nicht nur dem sozialen Wesen. Die Übereinstimmung mit der Vernunftnatur als solcher nennt Grotius das Naturrecht im weiteren Sinne (aaO. Proleg. §§ 9, 12). Die Bestimmungen des Naturrechts im engeren wie im weiteren Sinne beträfen denknotwendige Wahrheiten, die sich· sowohl a priori als auch a posteriori feststellen ließen; a priori, weil die Prinzipien des Naturrechts durch sich selbst offenbar und evident seien, wenn man nur den Sinn gebührend auf sie richte, der natürlichen Sinneswahrnehmung vergleichbar; a posteriori, weil eine Übersicht über die Meinungen der Philosophen, Historiker, Dichter und Redner einen „consensus communis" zu erkennen gäbe (aaO. Buch I. 1. § 12; Proleg. § 39). Allerdings tritt in der Durchführung seines Programms die apriorische Beweisführung, nämlich die Ableitung des Naturrechts aus der Übereinstimmung mit der rationalen und sozialen Natur des Menschen, zurück, obwohl nur sie allein, wie Grotius selbst sagt, zu sicheren Ergebnissen führt. Das besondere Gewicht seiner Darlegungen liegt auf dem sekundären, aposteriorischen Nachweis des Naturrechts aus der gemeinsamen Rechtsüberzeugung aller gesitteten Völker, welcher zwar von geringerer Sicherheit, dafür jedoch „volkstümlicher" (popularior) sei und ihm vor allem Gelegenheit gibt, seine überragende Gelehrsamkeit zu präsentieren: von Hesiod und Homer über die antike und christliche Literatur, die schöngeistige, philosophische, theologische und juristische, über Mittelalter und spanische Spätscholastik häuft er eine Fülle von naturrechtlichen Aussagen an, die alles bis dahin Gebotene übertreffen. Die ungeheure Menge gesammelten Materials nutzt er nicht nur als literarische Autorität, sondern durchaus als Zeugnis dauernd lebendigen Naturrechts, dabei 23'

356

D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

ganz unbefangen Entscheidungen gegen das römische und gemeine Recht treffend; zwar verführt historische Naivität gelegentlich zur Hypostasierung empirisch-historischer Rechtssätze zu angeblich zeitlosem Naturrecht, im ganzen gesehen jedoch ist die Sammlung überlieferter Rechtswahrheiten auf anthropologischer Grundlage auch aus heutiger Sicht durchaus geeignet, ein fundamental neues Verständnis des Rechts zu begründen 24 . Es sind drei Eigenschaften, die das neue Naturrecht auszeichnen: es ist ein weltliches Recht, es ist ein für alle Völker und alle Zeiten geltendes Recht und es ist ein zweckbestimmtes, auf das Wohl der Bürger gerichtetes Recht. Weltliches Recht ist es insofern, als Grotius seine Unabhängigkeit von Gott behauptet und anders als etwa noch Petrus Ramus den „habitus principiorum" als Teilhabe am ewigen Gesetz, der „lex aeterna", nicht mehr kennt. Die Säkularisation hat für das Privatrecht die praktische Folge, daß an das kanonische Recht verlorengegangene Sachgebiete, wie etwa das Eherecht, im Laufe der Zeit zurückerobert werden; das weltliche Eherecht beispielsweise hat seine philosophische Grundlage in der Idee einer vernünftigen Natur des Menschen 25 . Ein überall geltendes, zeitloses Recht ist es insofern, als es an die Bedingungen der Existenz und Erkenntnis aller Menschen anknüpft und durch die Rechtserfahrung der gesamten, menschlichen Kulturgeschichte bezeugt wird. Und ein zweckbestimmtes Recht ist es schließlich, weil Grotius an den ordnenden, friedenstiftenden Charakter des Rechts glaubt, ohne freilich schon abzusehen, daß der teleologische Gesichtspunkt den Ehrgeiz der absolutistischen Gesetzgeber der im Entstehen begriffenen Territorialstaaten wecken wird, über eine bloße Gelegenheitsgesetzgebung zur Behebung dringender Mißstände hinaus zu einer alle menschlichen Bereiche umfassenden, das Naturrecht verdrängenden, gesetzlichen Gestaltung des sozialen Zusammenlebens fortzuschreiten. 7. Die Erweiterung

der naturwissenschaftlichen

Methode durch Descartes

M i t der Begründung eines neuen, paradigmatischen Rechtsverständnisses auf dem Fundament der ersten Prinzipien einer objektiven, menschlichen Vernunft ist allerdings noch kein Weg aufgezeigt, der von diesem rechtsethischen Standpunkt zur systematischen Durchdringung des vorhandenen Rechtsstoffes und einer methodologischen Neuorientierung rechtswissenschaftlicher Forschung führt, die über das hinaus geht, was Vultejus, Althusius u. a. auf ramistischer Grundlage schon geleistet haben. Der Aufgabe, ein logisch bündiges System widerspruchsfreier Axiome und Folgesätze zu entwerfen, nehmen sich unter dem Eindruck der naturwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Fortschritte erst die Nachfolger von Grotius in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts an, unter denen Samuel Pufendorf (1632-1694), Christian 24 Ebenso Wieacker. Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. aaO. S. 299 f.; Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. 4. Aufl. Tübingen 1963. S. 261. 25 Vgl. Schwab: Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 1967. S. 125 ff., 128.

II. Rechtsbegründung aus logischen Veunftsystemen

357

Thomasius (1655-1728) und Christian Wolff (1679-1754) herausragen 26. Für den weiteren Verlauf der methodologischen Diskussion ist nämlich der Umstand entscheidend, daß es der Naturwissenschaft, d. h. genauer der Physik, gelingt, unter Ablösung von der bisherigen, philosophischen Grundlage die empirisch-induktive und die mathematisch-deduktive Denkweise in einer naturwissenschaftlichen Methode zu vereinigen und damit die allgemeine Bewegung des Denkens nach Form und Inhalt neu zu bestimmen. Beflügelt durch die humanistische Kritik an der Unfruchtbarkeit des Syllogismus, der lediglich das schon Gewußte beweisend oder widerlegend herausstellt, und deren Forderung, das begriffliche Denken aufzugeben und zu den Sachen zurückzukehren, sucht die Gemeinschaft der Naturwissenschaftler nach einer ars inveniendi, einer Methode der Forschung, die einen sicheren Weg zum Auffinden des Neuen, noch nicht Gewußten, bietet und findet sie in der mathematischen Rekonstruktion der experimentell, mit Hilfe von Messungen ermittelten Tatsachen. Im Rückblick auf diese Entwicklung faßt Kant anderthalb Jahrhunderte später zusammen: „... Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ... so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufallige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat die Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfall zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde... " 2 7 Die Prinzipien der Vernunft, deren sich die Physik bedient, sind mathematische Prinzipien, und die physikalische Einsicht reicht genau so weit, wie die mathematische Theorie der Bewegung trägt. Das methodologisch Neue an den 26

Vgl. zu diesen Stintzingl Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. München/Leipzig 1898. S. 11 ff., 71 ff., 198 ff.; Wolf: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. 4. Aufl.Tübingen 1963. S. 311 ff., 371 ff. m. weit. Nachw.; Schönfeld: Grundlegung der Rechtswissenschaft. Stuttgart/Köln 1951. S. 321 ff., 339 ff. 27 Kant: Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. Königsberg 1787. Β X I I I .

358

D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

Anfängen neuzeitlicher Naturforschung ist einerseits die Korrektur des Empirismus durch die Mathematik und andererseits die Entwicklung des gestaltlosen Pythagoreismus der humanistischen Tradition durch den Empirismus zu einer mathematischen Theorie 28 . René Descartes (1596-1650) ist es dann, der dem methodischen Gedanken ein Postulat von großer Tragweite hinzufügt, indem er verlangt, die induktive (resolutive) Methode müsse zu einem einzigen Prinzip höchster, absoluter Gewißheit führen, von dem aus alsdann nach kompositiver (deduktiver) Methode der gesamte Umfang der Erfahrung systematisch zu entwickeln und zu erklären sei. So wie die in der Wahrnehmung gegebenen physikalischen Erscheinungen in ihre einfachen Bewegungselemente zerlegt, anschließend mit Hilfe mathematischer Rekonstruktionen zu einem Ganzen logischer Ableitungen zusammengefügt werden, so will Descartes, die naturwissenschaftliche Methode verallgemeinernd, durch induktive Enumeration und eine kritische Sichtung aller Vorstellungen zu einem einzigen Punkte vordringen, um von hier aus die Ableitung aller weiteren Wahrheiten zu gewinnen. Damit rückt die Mathematik, nach Descar tes' Auffassung insbesondere die Geometrie, in eine zentrale, methodologische Stellung. Die Seinsgewißheit des denkenden Bewußtseins ist die erste, grundlegende, rationale Wahrheit (nicht eine erste Erfahrung, wie später angenommen wird), die Descartes durch die analytische Methode ausmacht 29 ; es ist eine Intuition, ein einfaches, distinktes Begreifen des reinen, aufmerksamen Geistes, welches keinen Zweifel übrig läßt, allein dem „Lichte der Vernunft" (lumen naturale) entspringend 30 . Nur was aus intuitiv klar Erkanntem mit Notwendigkeit, d. h. deduktiv erschlossen wird, ist wissenschaftlich gesichert. Kriterium der Wahrheit ist für Descartes die „perceptio clara et distincta" 31 ; er definiert: „... Denn zu einer Erkenntnis (perceptio), auf die ein sicheres und unzweifelhaftes Urteil gestützt werden kann, gehört nicht bloß Klarheit, sondern auch Deutlichkeit. Klar nenne ich die Erkenntnis, welche dem aufmerkenden Geiste gegenwärtig und offenkundig ist, wie man das klar gesehen nennt, was dem schauenden Auge gegenwärtig ist und dasselbe hinreichend kräftig und offenkundig erregt. Deutlich (distincta) nenne ich aber die Erkenntnis, welche, bei der Voraussetzung der Stufe der Klarheit, von allem übrigen so getrennt und unterschieden ist, daß sie gar keine anderen Merkmale in sich enthält." 32 Wahrheit ist eine Sache

28

Vgl. Windelband/Heimsoeth: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 15. Aufl. Tübingen 1957. § 30. S. 333 f. 29 Vgl. Descartes : Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Übers, v. Fischer. Stuttgart 1969. 4. Kap. 30 Vgl. Descartes : Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Übers, v. Gäbe. Hamburg 1972. Regel III. 5. 31 Vgl. Descartes : Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Übers, v. Buchenau. Hamburg 1915. (Nachdr. 1965). III. 2; derselbe: Abhandlung über die Methode. aaO. 4. Kap. 32 Descartes : Die Prinzipien der Philosophie. Übers, v. Buchenau. 4. Aufl. Hamburg 1922. Teil 1. Nr. 45.

II. Rechtsbegründung aus logischen Vernunftsystemen

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der Vernunft, auch wenn sie Schwierigkeiten mit der Feststellung hat, welches die Dinge sind, die wir „deutlich" begreifen; das Kriterium der „adaequatio intellectus et rei" wird nicht mehr verwandt. Der mathematisch-geometrische Charakter des cartesischen Gedankensystems, nach dessen Vorbild Benedictus de Spinoza (1632-1677) wenig später „more geometrico" seine Ethik aufbauen wird, beruht also auf den beiden, nach Regel 3 allein zulässigen Säulen der Intuition und der Deduktion, auf der methodischen Analyse des Bewußtseins zur Gewinnung einfacher, unmittelbar einsichtiger Elemente, die nicht als aposteriorische Erfahrung, sondern als apriorische Wahrheiten aufgefaßt werden, und der synthetischen Zusammensetzung dieser Elemente zu komplizierteren Erkenntnissen, deren Gewißheit durch die logische Stringenz der kompositiven Methode gesichert ist. Die Möglichkeit deduktiver Ableitung erlaubt das sichere Wissen auch solcher Sätze, die nicht evident sind, wofern nur, wie Descartes selbst sagt, „aus wahren und erkannten Prinzipien eine zusammenhängende und nirgendwo unterbrochene Tätigkeit des Denkens... deduziert ist, nicht anders, als wenn wir das letzte Glied einer langen Kette mit dem ersten zusammenhängend erkennen, obgleich unsere Augen nicht mehr mit einem und demselben Blick auf alle Zwischenglieder, von denen jener Zusammenhang herrührt, achten, wenn sie sie nur alle eins nach dem anderen durchmustert haben, und wir uns erinnern, daß die einzelnen Glieder mit ihren Nachbargliedern vom ersten bis zum letzten zusammenhängen"33. So besteht die ganze Methode in der Ordnung und Disposition dessen, worauf man seine Erkenntniskraft richten muß, um irgendeine Wahrheit zu finden, nämlich in der stufenweisen Zurückführung verwickelter und nicht durchschauter Sachverhalte (propositiones) auf einfachere Elemente, bzw. umgekehrt von der Intuition, dem Einfachsten, zur Erkenntnis aller anderen über diesselben Stufen wieder hinauf 34 . Die übrigen Operationen des Geistes jedoch, welche die Dialektik diesen beiden als Unterstützung beisteuere, seien unnütz oder vielmehr als Hindernisse zu betrachten, weil man dem unverfälschten Lichte der Vernunft nichts hinzufügen könne, was es nicht in irgendeiner Weise trübe. I m übrigen gäbe es nur wenige reine und einfache Naturen, die zuerst und an sich selbst intuitiv erkannt werden könnten, nicht in Abhängigkeit von irgendwelchen anderen, sondern unmittelbar in den Erfahrungsdaten oder vermittels eines uns „eingeborenen Lichtes" 35 . Das Vertrauen auf die Evidenz der Vernunfterkenntnis (lumen naturale) beruht bei ihm auf den Beweisgründen für das Dasein Gottes, dessen Vollkommenheit Wahrheit involviert 36 . 33

Descartes : Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. aaO. Regel 3. Nr. 8. Descartes aaO. Regel 5. „Proposition" bedeutet bei ihm übrigens nicht Satz oder Urteil, d. h. eine im Dialog unterbreitete oder vorgeschlagene (proponierte) Aussage, sondern den zur Untersuchung vorgelegten Sachverhalt, das Gefragte, vor der Untersuchung noch Unbekannte, aber durch gewisse Daten Bestimmte. 35 Descartes aaO. Regel 4, 2; 6, 6. 36 Descartes : Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. aaO. Kap. 4. 34

360

D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

Descartes Versuch, Erkenntnistheorie und Methodenlehre von der Mathematik, besonders der Geometrie her, zu reformieren, unterliegt sehr bald einem Mißverständnis, das seine methodische Intention geradezu verkehrt: Will er die analytische Methode bei den einzelnen Problemen im großen Maßstab angewendet wissen und denkt er sich die synthetische als einen entdeckenden Fortschritt von einer Gewißheit zur anderen, so verwechseln seine Nachfolger die schöpferische Tätigkeit, auf die es Descartes ankommt, alsbald mit jenem beweisenden System der Darstellung, wie es in Euklids Lehrbuch der Geometrie vorliegt. Der monistische Zug seiner Methodologie, ihre Aufstellung eines höchsten Prinzips, aus dem alle andere Erkenntnisgewißheit folgt, macht aus der neuen Forschungsmethode rasch wieder eine „ars demonstrandi", zumal der akademische Zwang zur Anfertigung von Lehrbüchern in dieser Methode eine sehr geeignete Form vorfindet. Das zeigt sich, als Pufendorf es unternimmt, aus dem einzigen Prinzip der — aus der „imbecillitas", d. h. der Ohnmacht des auf sich gestellten Menschen folgenden — „socialitas", d. h. der notwendigen Gemeinschaftsbildung heraus nach geometrischer Methode das ganze System des Naturrechts als logische Notwendigkeit zu deduzieren; und für den klar durchdachten Lehrstoff der lateinischen Lehrbücher, die Christian Wolff im 18. Jahrhundert entwirft, kann es in der Tat keine bessere Form geben 37 . Die Uminterpretation der geometrischen Methode in eine demonstrative hat freilich auch einen sachlichen Grund: Ihrer Herkunft aus der Physik entsprechend, liegt ihr unausgesprochen ein kausales Verständnis der Natur zugrunde, denkt man bei ihrer Anwendung, auch wenn unter mathematischem Blickwinkel nur quantitativ erfaßte Größen mit Hilfe von Relationsbegriffen verglichen werden, letztlich in den Kategorien von Ursache und Wirkung. Dies birgt die Gefahr in sich, daß der Mensch als Teil der Natur in die Prozesse einer kausalen, extensional beschreibenden Naturwissenschaft gerät und neben den Aspekten der Quantität und kausalen Verknüpfung sowohl die Aspekte der Qualität und Intensionalität als auch der Freiheit des menschlichen Willens samt seinen werthaften Zwecksetzungen (Kultur) aus dem Gesichtskreis des Forschers verschwindet. Normen können bei einer kausal verstandenen, analytischsynthetischen Methode, nur als faktisch geltend oder willkürlich erzwungen begriffen werden, wie ja schon die Naturrechtsvorstellung des Zeitgenossen Thomas Hobbes (1588-1679) deutlich an den Tag legt. Glücklicherweise hat Pufendorf diese Gefahr frühzeitig erkannt und sie mit der Herausarbeitung des Unterschiedes zwischen physischer und geistig-moralischer Welt wenigstens teilweise gebannt 38 ; das Naturrecht als Inbegriff der Regeln, welche den 37

Zum Methodenverständnis Pufendorfs vgl. Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. München 1972. S. 282 ff.; zu Wolff vgl. Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. aaO. S. 318 ff.; StintzinglLandsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. aaO. S. 198 ff.; Stupp: Mos geometricus oder Prudentia als Denkform der Jurisprudenz. Diss. Köln 1970. S. 7 ff., 33 ff.; Schroeder: Wissenschaftstheorie und Lehre der praktischen Jurisprudenz auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1979. S. 83 ff., 132 ff. 38

Vgl. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. aaO. S. 132 ff.

III. Geschichte des Rechts als positive Wissenschaft

361

Menschen zur Überwindung und Kultivierung seiner empirisch-biologischen Natur anhalten und verpflichten, ist teleologischer, auf Vervollkommnung gerichteter Natur, auch wenn sich sein Zusammenhang und seine Ordnung nur in umgekehrter Richtung demonstrieren und empirisch prüfen lassen39. I I I . Geschichte des Rechts als positive Wissenschaft i. Systematisches Naturrecht Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Naturrechts; die Idee, das Recht im Wege der Analyse auf erste, einfache, jedem einsichtige, weil eingeborene und darum absolut zu verstehende Prinzipien zurückzuführen und dann synthetisch, Schritt für Schritt, die ungeheure Masse des Rechtsstoffes neu aufzubauen, dabei sich mit der logischen Ableitung zugleich der Notwendigkeit, d. i. der inhaltlichen Richtigkeit des Rechts, vergewissernd, hat methodische Überzeugungskraft und beherrscht, bei allem Streit über Einzelheiten, das Rechtsbewußtsein der führenden Wissenschaftler. Die Erklärungen der Menschenrechte in Nordamerika und Frankreich im sittlichen Vertrauen auf die gottgegebene, menschliche Vernunft sind ebenso wie die am Ende des Jahrhunderts reifenden preußischen, französischen und österreichischen Kodifikationen des gemeinen Rechts Zeugnis von der sozialen Wirkungsmächtigkeit der wissenschaftlichen Idee. Aber diese Idee beruht auf philosophischen Voraussetzungen, die von Anfang an umstritten waren und die mit dem Aufkommen des erkenntniskritischen Empirismus und der erfolgreichen Ausweitung naturwissenschaftlicher Forschung zusehends an Überzeugungskraft verlieren. Während in Deutschland Christian Wolff noch auf dem aristotelisch-scholastischen Wissenschaftsbegriff fußt und Wissenschaft als „Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzuthun", definiert 1 , haben in England John Locke (1632-1704), George Berkeley (1685-1753) und David Hume (1711-1776) das erkenntnistheoretische Fundament dieses Wissenschaftsverständnisses längst untergraben. Für Wolff sind die allgemeinen Prädikate der Sprache noch das Wesen der Dinge, Attribute und Umstände (modi) wohnen ihnen nach seiner Überzeugung inne; die Merkmale eines Begriffes bezeichnen, sofern er ordnungsgemäß definiert ist, das Wesen und die Attribute einer Sache2. Indem die Dinge als seiend oder möglich begriffen werden, sind sie Sachen, die Realität besitzen, unabhängig von ihrer raumzeitli39 1

Vgl. dazu oben S. 45ff., 48 ff.

Wolff. Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. 1713. 14. Aufl. 1754 (Neudr. Hildesheim 1965). Vorbericht § 2; Cap. 7 § 1. 2 Wolff. Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata. Frankfurt/ Leipzig 1728. §§ 55,100; derselbe: Philosophia prima sive Ontologia, methodo scientifica pertractata. 2. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1736 (Neudr. Hildesheim 1962) §§ 144, 150, 154.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

chen Erscheinung. Raum und Zeit sind demgegenüber für Wolff nicht real, sie bestimmen nicht die Gegenstände, sondern werden durch die existierenden Gegenstände bestimmt, sind ohne die realen Dinge nicht vorhanden; so definiert er im Anschluß an Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) Zeit und Raum als die Ordnung der Sukzession bzw. des Gleichzeitigen3. Erkennen bedeutet folglich, sich den Begriff einer Sache erwerben; die der Sache in einer Definition zugeschriebenen, logischen Prädikate stimmen mit den ontologischen Prädikaten überein, eine „Erklärung" (Wolffs Übersetzung von Definition) legt das „Wesen der Sache vor Augen" 4 . Allerdings bedarf es, wie schon Descartes forderte, „deutlicher" Begriffe, d. h. solcher, welche die Merkmale des Begriffes voneinander unterscheiden; und nach dem genannten Vorbild beschreibt Wolff das für den Erwerb solcher Begriffe notwendige, analytische Verfahren des Verstandes: durch sukzessive Zuwendung der Aufmerksamkeit werde das von den Sinnen undeutlich, d. h. ununterschieden Erkannte (ζ. B. ein Baum), allmählich in seine einzelnen Bestandteile zergliedert vom Bewußtsein festgehalten 5 . Wie die korrekt definierten Eigenschaften mit den ontologischen übereinstimmen, so stimmt die logische Wahrheit, die Bestimmbarkeit der Eigenschaft durch den Begriff des erkennenden Subjekts, mit der transzendentalen, ontologischen Wahrheit überein; ohne die letztere kann es keine logische Wahrheit geben6. Die transzendentale Wahrheit ist für Wolff die Ordnung der Dinge dieser Welt, welche unsere Sprache mit ihren logisch wahren Sätzen adäquat wiedergibt 7 . 2. Empiristische

Kritik

und Erkenntnislehre

Die Skepsis gegenüber einem Weltverständnis, in dem mit Hilfe sprachlicher Aussagen das Wesen der Dinge erreicht wird, ist schon in der apriorischen Begründung menschlicher Erkenntnis bei Descartes angelegt. Sein radikaler Zweifel an allem als wahr Überliefertem und Behauptetem und sein Versuch einer Letztbegründung entfacht die wichtige Diskussion über Grundlagen, Wahrheitswert und Reichweite menschlicher Erkenntnis, die dem 17. und 18. Jahrhundert die charakteristische, philosophische Note gibt. Schon Locke begründet in seinem Hauptwerk ausführlich, warum es nach seiner Überzeugung keine eingeborenen Prinzipien des menschlichen Geistes, sei es theoreti3

Wolff: Philosophia prima. aaO. §§ 572, 587, 589. Zu Leibniz' Lehre vom Raum vgl. Kaulbach: Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und Kant. In: Kant-Studien. Erg. Heft 79. Köln 1960. S. 11 ff. 4 Wolff. Vernünftige Gedanken. aaO. Cap. 1. § 48. Vgl. Bissinger: Die Struktur der Gotteserkenntnis. Studien zur Philosophie Christian Wolffs. Bonn 1970. S. 155. 5 Wolff: Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata. Frankfurt/Leipzig 1738 (Neudr. Hildesheim 1968) § 287. 6 Wolff: Philosophia prima. aaO. § 499: „Si nulla datur in rebus Veritas transcendentalis, nec datur Veritas logica propositionum universalium, nec singularium datur nisi in instand." 7 Wolff: Philosophia prima. aaO. § 495; derselbe: Cosmologia generalis, methodo scientifica pertractata. 2. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1737 (Neudr. Hildesheim 1964) §78.

III. Geschichte des Rechts als positive Wissenschaft

363

scher, sei es praktischer (sittlicher) Natur, geben könne: Angeboren seien nur die natürlichen Anlagen und Fähigkeiten, alle Erkenntnisse des Menschen jedoch, einschließlich aller abstrakten Sätze bis hin zu den unbestrittensten, logischen Prinzipien, wie etwa dem der Identität oder des Widerspruchs, seien nachträglich durch Erfahrung erworben 8 . Die Ideen als das, was der Geist in sich selber wahrnimmt und was den unmittelbaren Inhalt der Wahrnehmung und des Denkens oder des Verstandes ausmacht, beruhen für Locke auf Sinneswahrnehmungen (sensations), die allerdings mit dem außer uns Existierenden, der objektiven Welt, nicht mehr Ähnlichkeit haben als etwa die Namen, mit denen wir unsere Vorstellungen benennen, mit dem Vorstellungsinhalt selbst. Der Verstand habe nicht die Kraft, neue Ideen hervorzubringen, alles was er könne, sei das vorhandene Material erinnerter Erfahrung in immer neuer Weise umgestalten: „... M i t der Zeit gelangt der Geist dazu, über seine eigenen Operationen nachzudenken, die er an den durch Sensation gewonnenen Ideen vornimmt, und erwirbt dadurch eine neue Gruppe von Ideen, die ich Ideen der Reflexion nenne. So sind die Eindrücke, die durch Objekte der Umwelt—die für den Geist etwas Äußeres sind — auf unsere Sinne gemacht werden, und des Geistes eigene, auf inneren, ihm eigentümlichen Kräften beruhenden Operationen, die, wenn er selbst über sie nachdenkt, auch ihrerseits Objekte seiner Betrachtung werden... der Ursprung aller Erkenntnis." 9 Locke unterscheidet zwei Grundarten von Ideen (Vorstellungen): einfache und zusammengesetzte, simple und complex ideas, wobei er die einfachen in vier Gruppen einteilt, aus denen sich, wie er meint, das gesamte Material unseres Wissens, samt den durch Wiederholung, Vergleichung und Verbindung entstehenden komplexen Vorstellungen, bildet 1 0 . „... Diese einfachen Ideen, das Material unserer gesamten Erkenntnis, werden dem Geist nur auf den beiden oben erwähnten Wegen zugeführt und geliefert, nämlich durch Sensation und Reflexion. Wenn der Verstand einmal mit einem Vorrat an solchen einfachen Ideen versehen ist, dann hat er die Kraft, sie zu wiederholen, zu vergleichen und zu verbinden, und zwar in fast unendlicher Mannigfaltigkeit, so daß er auf diese Weise nach Belieben neue komplexe Ideen bilden kann. Aber auch der erhabenste Geist oder der umfassendste Verstand hat es nicht in seiner Gewalt, durch noch so große Raschheit oder Mannigfaltigkeit der Gedanken eine einzige neue Idee im Geist zu erfinden oder zu bilden, die nicht auf den oben erwähnten Wegen hineingelangt wäre..." 11 Während der Geist sich bei der Aufnahme aller einfachen Ideen durchaus passiv verhalte, vollbringe er selbständig verschiedene Handlungen, um aus den einfachen Ideen als dem Material und der Grundlage für alles Weitere die 8 Vgl. Locke: Versuch über den menschlichen Verstand (1690). Übers, v. Winckler. Mit Bibliographie v. R. Brandt. 4. Aufl. Hamburg 1981.1 Bd. 1. Buch; 2. Buch. 1. Kap. Man beachte den sprachlichen Unterschied zwischen „eingeboren" und „angeboren". 9 Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. aaO. 2. Buch. 1. Kap. Nr. 24. 10 Locke aaO. 2. Buch. 2. Kap; 7. Kap. Nr. 8. 11 Locke aaO. 2. Buch. 2. Kap. Nr. 2.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

übrigen Ideen zu bilden. Diese Handlungen, mit denen der Geist seine Macht über die einfachen Ideen entfalte, seien vornehmlich drei: Die Kombination einfacher Ideen zu komplexen Ideen, die Herstellung von Relationen zwischen verschiedenen, einfachen oder komplexen Ideen und die Abstraktion allgemeiner Ideen (general ideas) durch Trennung einer Idee von allen anderen, die sie in ihrer realen Existenz begleiten. Hieraus erhelle, daß die Kraft des Menschen und die Methoden, mit denen er operiere, in der intellektuellen Welt annähernd die gleichen seien wie in der materiellen; auf beiden Gebieten nämlich habe er keine Gewalt über den Stoff, den er weder schaffen noch vernichten könne. Alles, was er vermag, bestehe darin, die Materialien entweder miteinander zu vereinigen, sie nebeneinander zu stellen oder sie vollkommen zu trennen 12 . Die Allgemeinvorstellungen (general ideas) erzeugende Abstraktion, welche durch Absonderung der Vorstellung bestimmter Merkmale aus der Vorstellung realer Erscheinungen entsteht und als sprachlich bezeichneter Maßstab zur Repräsentation für alle Dinge derselben Art dient, um real existierende Dinge je nach Übereinstimmung mit dem Muster in Klassen zu ordnen, führt zu keiner Wesenserfassung mehr wie bei Wolff (und in der aristotelisch-scholastischen Tradition), sondern bedeutet lediglich die ökonomische Vorstellungs- und Benennungsvereinfachung eines psychologisch interpretierten Verstandes. Da unser Bewußtsein bei allem Denken und Folgern kein anderes unmittelbares Objekt der Erkenntnis besitzt als seine eigenen Vorstellungen, besteht unser Erkennen allein in der Beschäftigung mit unseren Ideen (Vorstellungen); Erkenntnis ist für Locke nichts anderes als die Wahrnehmung des Zusammenhangs, der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung und des Widerstreits zwischen irgendwelchen Vorstellungen 13 , wonach ihm freilich die Begründung für die Frage, inwieweit irgendeine Idee mit einer außer uns existierenden, realen Tatsache übereinstimmt, schwerfallen muß: Abgesehen von einigen, wenigen Dingen, von denen wir eine sensitive Erkenntnis hätten, die aber nicht über die Objekte hinausreiche, besäßen wir nur eine intuitive Erkenntnis unserer eigenen Existenz und eine demonstrative Erkenntnis von der Existenz eines Gottes 14 ; bezüglich allem anderen müßten verschiedene, nachrangige Grade des Erkennens unterschieden werden 15 . Lockes Erkenntnislehre markiert den Übergang vom Objektivismus des Mittelalters und der auf die Erkenntnisfahigkeit der Vernunft vertrauenden frühen Neuzeit zum Subjektivismus der Moderne, deren wichtigstes Problem bis auf den heutigen Tag die Begründung von Objektivität geblieben ist. Ein erstes Beispiel für eine reine Immanenzphilosophie liefert schon eine Generation später Lockes Landsmann George Berkeley, für den Sein und Vorgestelltwerden bzw. Vorstellen zusammenfallen: esse est percipi vel percipere. Berkeley 12 13 14 15

Locke Locke Locke Locke

aaO. aaO. aaO. aaO.

2. 4. 4. 4.

Buch. Buch. Buch. Buch.

12. Kap. Nr. 1. 1. Kap. Nr. 2. 3. Kap. Nr. 21. 2. Kap.

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radikalisiert die These, daß unsere Erkenntnis es prinzipiell nur mit Ideen (Vorstellungen) als unmittelbaren Gegenständen des Bewußtseins zu tun habe, zu der weitergehenden einer grundsätzlichen Bewußtseinsimmanenz aller Dinge, d. h. aller Gegenstände des Denkens, die hier von vornherein als bloße, immaterielle Bewußtseinsinhalte begriffen werden: Idee ist gleichbedeutend mit Gegenstand und dieser ist gleichbedeutend mit Bewußtseinsinhalt. „ . . . Daß weder unsere Gedanken noch unsere Gefühle noch unsere Einbildungsvorstellungen außerhalb des Geistes existieren, wird ein jeder zugeben. Es scheint aber nicht weniger evident zu sein, daß die verschiedenen Sinnesempfindungen oder den Sinnen eingeprägten Ideen, wie auch immer sie miteinander vermischt oder verbunden sein mögen, nicht anders existieren können als in einem Geist, der sie perzipiert. Dies kann, glaube ich, von einem jeden anschaulich erkannt werden (an intuitive knowledge may be obtain'd of this, by anyone), der darauf achten will, was unter dem Ausdruck „existieren" bei dessen Anwendung auf sinnliche Dinge zu verstehen ist. Sage ich: der Tisch, an dem ich schreibe, existiert, so heißt das: ich sehe und fühle ihn... Dies ist der einzige verständliche Sinn dieser und aller ähnlichen Ausdrücke. Denn was von einer absoluten Existenz nichtdenkender Dinge ohne irgend eine Beziehung auf ihr Perzipiertwerden gesagt zu werden pflegt, scheint durchaus unverständlich zu sein. Das Sein (esse) solcher Dinge ist Perzipiertwerden (percipi). Es ist nicht möglich, daß sie irgend eine Existenz außerhalb der Geister oder denkenden Wesen haben, von denen sie perzipiert werden." 16 Die Abkehr vom materiellen Objekt führt Berkeley nach einer (Anschauung und Denken nicht genügend auseinanderhaltenden) Kritik der Locke sehen Auffassung abstrahierter Allgemeinvorstellungen (general ideas) geradewegs zu einem Nominalismus, der außer individuellen Vorstellungen als rein faktischen Vorgängen — ohne jeden Bezug auf das Wesen der Dinge — nichts mehr anerkennen will, weil alles, was existiere, individuell (particular) sei 17 . Nur die Bezeichnung abstrakter Ideen mit Worten erwecke den Anschein, als komme ihnen Dasein zu; in Wahrheit werde bei solchen stets nur die sinnliche Vorstellung oder die Gruppe sinnlicher Vorstellungen gedacht, die anfangs zur sprachlichen Bezeichnung derselben veranlaßt hätten. Jeder Versuch, das Abstrakte für sich allein vorzustellen, scheitere daran, daß die Sinnesvorstellung als alleiniger Inhalt der geistigen Tätigkeit immer erhalten bleibe. Denn auch erinnerte Vorstellungen und Teilvorstellungen, die sich daraus ablösen ließen, hätten keinen anderen Inhalt als die ursprünglichen Sinneseindrücke, weil eine Idee nie etwas anderes abbilden kann als eine Idee. In der sinnlichen Denktätigkeit bestünden nur sinnliche Einzelvorstellungen und von diesen 16 Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. (1710). Übers, v. Überweg. Hrsg. v. Klemmt. Hamburg 1957. § 3. Zur Kritik vgl. Klemmt, ebda. S. 123 Anm. 11; oben S. 25 ff. 17 Berkeley aaO. Einf. §§ 6 ff., 122 ff. Zur Kritik der These, nur Individualität existiere, die noch von Nicolai Hartmann mit Nachdruck vertreten wurde, vgl. Klemmt: John Locke. Theoretische Philosophie. Meisenheim a. Gl./Wien 1952. S. 89 ff., 260 ff.

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könnten einige wegen der Gleichheit der Sprachbezeichnung andere, ihnen ähnelnde, vertreten. David Hume macht sich die Lehren Lockes und Berkeleys weitgehend zu eigen; die Unterscheidung zwischen äußerer Sinnes- und innerer Selbstwahrnehmung (sensation — reflection) aufnehmend, trennt er — dabei den Sinn etwas verändernd — zwischen ursprünglichen, lebhaften Eindrücken (impressions) und mittelbaren, reproduzierten Vorstellungen, Abbildern (ideas) davon; der Vorstellungsbegriff wird gegenüber Locke enger gefaßt, der Sammelname für Bewußtseinsinhalte überhaupt ist nicht mehr Idee, sondern Perzeption. Die genauere Unterscheidung dient dem Zweck, die Realität, die nicht mehr in objektiven Faktoren gesehen werden kann, durch psychische Merkmale in einigen Bewußtseinsinhalten kenntlich zu machen: Das Wirkliche ist nicht länger die transzendente Außenwelt, sondern die jeweilige, frische und lebhafte Sinnesempfindung, von der wir später blassere Vorstellungen reproduzieren 18 . M i t dem über die Sinneseindrücke gewonnenen Material werde mit Hilfe von Vorstellungsverknüpfungen, die nach Hume in bestimmten, universellen, psychischen Vorgängen des vorstellenden Subjekts begründet sind, mechanisch Kombinationen vorgenommen, die unseren Bewußtseinsinhalt (perception) allmählich bereichern. Er unterscheidet drei Formen der Assoziation: Mechanische Verknüpfungen nach dem psychischen Gesetz der Ähnlichkeit (resemblance), der Berührung in Zeit und Raum (contiguity) und der Verursachung (cause or effect), „...daß diese Aufzählung vollständig ist und daß es außer diesen keine anderen Prinzipien der Assoziation gibt, mag sehr schwer zur Zufriedenheit des Lesers oder sogar zur eigenen Zufriedenheit zu beweisen sein. In solchen Fällen bleibt nichts anderes zu tun, als etliche Einzelfalle durchzugehen und dasjenige Prinzip sorgfaltig zu untersuchen, das die verschiedenen Gedanken miteinander verbindet... Je mehr Fälle wir untersuchen, und je größere Sorgfalt wir aufwenden, um so größere Sicherheit werden wir erlangen, daß die Aufzählung, die wir aus dem Ganzen gewinnen, vollständig und endgültig ist." 1 9 Da Hume im Verlaufe der weiteren Untersuchung die Kausalvorstellung auf die regelmäßige Abfolge zweier Ereignisse in Raum und Zeit zurückführt, bleiben schließlich allein die beiden anderen Prinzipien übrig, wobei das erstere (bei Locke Identität und Relation) im reflexiven Vorstellungsbereich, also vor allem in den mathematisch-geometrisch orientierten Wissenschaften, seine verknüpfende Tätigkeit entfaltet, während das letztere die Welt der Tatsachen beherrscht und erklärt. Die Berührungsassoziation in Raum und Zeit gestalte sich um so erfolgreicher, je mehr empirische Erfahrung man über die mechanischen Vorgänge der Umwelt erworben und je nachhaltiger man sich an sie gewöhnt habe. Das psychische Prinzip der Gewohnheit als letzter gewisser Grund 18

Vgl. Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur. (1739/40). Übers, v. Lipps. Hrsg. v. Brandt. Hamburg 1973. 1. Buch. 1. Teil. 1. Abschnitt; derselbe: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. (1748). Übers, u. hrsg. v. Herring. Stuttgart 1967. 2. Abschn. 19 Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. aaO. 3. Abschnitt.

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verdrängt die ontische Auffassung der Außenwelt und der Versuch des Naturrechtzeitalters, wissenschaftliche Erkenntnis im Vertrauen auf die Teilhabe an einer metaphysischen Weltvernunft aus „unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzutun", wird ersetzt durch den Versuch, Wissen aus psychischen Gesetzen und Empirie zu erklären, was freilich diesem hypothetischen Wissen über die Außenwelt keine Sicherheit mehr zu gewähren vermag und zu einem grundsätzlichen, skeptischen Zweifel, zwar nicht gegenüber den inneren Vorstellungsbeziehungen (relations of ideas), wie den mathematischen Ableitungen, wohl aber gegenüber äußeren „Tatsachenwahrheiten" (matters of fact) führen muß: „... Frage ich, weshalb du von einer bestimmten Tatsache... überzeugt bist, so mußt du mir einen Grund nennen, und dieser Grund wird irgendeine andere, mit jener in Beziehung stehende Tatsache sein. Da du jedoch nicht in dieser Art in infinitum fortfahren kannst, mußt du schließlich bei der Tatsache haltmachen, die deinem Gedächtnis oder deinen Sinnen gegenwärtig ist—oder du mußt zugeben, daß diese Überzeugung gänzlich unbegründet ist.... Aller Glaube an Tatsachen oder wirkliche Existenz stammt lediglich von einem dem Gedächtnis oder den Sinnen gegenwärtigen Gegenstand und einer gewohnheitsmäßigen Verbindung zwischen diesem und irgendeinem anderen Gegenstand..." 20 3. Kants Einfluß auf die Erneuerung der Rechtswissenschaft Diese wissenschaftstheoretisch unbefriedigende, weil jede gesicherte Wissensvermehrung in Frage stellende, Situation ist es, die Kant, wie er später selber sagte, „den dogmatischen Schlummer unterbrach" 21 , und ihn zu einer grundsätzlichen Prüfung der Grenzen menschlicher Erkenntnisfahigkeit veranlaßt. Er erkennt als erster, daß die Widerlegung eines einzigen, aber wichtigen Begriffes der Metaphysik, nämlich dem der Verknüpfung von Ursache und Wirkung (mithin auch der Folgebegriffe der Kraft und der Handlung etc.), als apriorisch unmöglich zu einer gänzlichen Reform der Wissenschaft hätte führen müssen 22 . Das Ergebnis seiner Untersuchungen und die weitere Entwicklung der erkenntnistheoretischen Diskussion, die sich an seine Arbeiten anschloß, habe ich im 1. Teil bereits dargelegt, so daß ich an dieser Stelle darauf verweisen kann 2 3 . Das von Kant neu begründete Verständnis von Wissenschaft bleibt, wie eingehende Untersuchungen der Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft gezeigt haben, nicht ohne nachhaltige Wirkung auf die führenden Rechtswissenschaftler 24 . Unter seinem Einfluß wird die Klärung der Bedingungen, unter 20

Hume aaO. 5. Abschn.; vgl. auch 4. Abschn. Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Riga 1783. A 12/13. In: Werke. Hrsg. v. Weischedel. Bd. 5. S. 118. 22 Kant aaO. A 8-10. 23 Vgl. oben S. 25 ff., 70ff. 24 Vgl. Stühler: Die Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 17801815. Berlin 1978; Schröder: Wissenschaftstheorie und Lehre der praktischen Jurisprudenz auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1979, 21

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denen Einzelwissenschaften, wissenschaftstheoretisch begründet, betrieben werden können, um die Jahrhundertwende zum zentralen Thema der deutschen, idealistischen Philosophie und die Wegbereiter der Berliner Universität, an der Savigny ab 1810 lehren und seine Kampf- und Gründungsschriften formulieren wird, stellen ausdrücklich und übereinstimmend die Verantwortung jeder einzelnen der auf den Universitäten vertretenen Disziplinen vor der Philosophie als allgemeiner Wissenschaftslehre (Fichte) in den Mittelpunkt ihres Reformprogramms 25 . In der Rechtswissenschaft gehören Paul Joh. Anselm v. Feuerbach (17751833) auf strafrechtlichem und Gustav Hugo (1764-1844) auf zivilrechtlichem Felde zu den ersten, die nach gründlichem Studium der kritischen Schriften Kants aus der veränderten Lage wissenschaftstheoretische Konsequenzen ziehen. Feuerbach macht geltend, das materiale Naturrecht, wie es von der Schule Christian Wolffs gepflegt werde, könne die Gestalt einer erkenntniskritischen Rechtswissenschaft nicht länger vertreten, nachdem nunmehr die Unzulässigkeit ihrer absoluten, inhaltlichen Postulate erwiesen und die geschichtliche Bedingtheit und Situationsabhängigkeit aller inhaltlichen Entscheidungen der praktischen Vernunft aufgedeckt sei. „ . . . Die Meinung, als wenn die Vernunft, außer der bloßen Idee der Gerechtigkeit, auch noch ein ganzes System von Rechtsgesetzen in sich fasse; die Vorstellung von der Wirklichkeit einer Rechtsgesetzgebung, welche unabhängig von aller Erfahrung mit allgemein geltender Notwendigkeit gebiete...diese Meinungen waren nichts anderes, als eben viele Grundirrthümer, welche selbst die Idee einer Rechtsphilosophie in ihren Elementen zerstörten." 26 Feuerbach stellt die Idee eines formalen Naturrechts keineswegs in Abrede, sondern betont ausdrücklich, das Gesetz der Vernunft liege „unabhängig von aller positiven Gesetzgebung in der menschlichen Natur als der letzten Quelle aller Rechte und aller Verbindlichkeiten", es sei „ewig wie die Natur selbst, frei von dem Wechsel der Erfahrung, Gesetz aller Gesetzgebung"27. Dennoch könne eine allseitige Bildung der Jurisprudenz nur S. 92 ff., 145 ff.; Blühdorn/Ritter (Hrsg.): Philosophie und Rechtswissenschaft. Frankfurt/M. 1969 (mit Beiträgen zum Einfluß Kants auf die Rechts- und Staatslehre des 19. Jahrhunderts); Stintzing/Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. München/Berlin 1910. 3. Abt. 2. Halbbd. S. 32 ff., 249 ff. 25 Vgl. Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. aaO. S. 368 f.; Anrieh (Hrsg.): Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch den klass. Idealismus u. den romantischen Realismus. Darmstadt 1956. (Mit den programmatischen Vorlesungen bzw. Schriften Schellings, Fichtes, Schleiermachers, Steffens und v. Humboldts aus der Zeit von 1803-1809.); Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reform. Hamburg 1963. S. 31 ff., 65ff.; Wieacker: Wandlungen im Bilde der historischen Rechtsschule. Karlsruhe 1967. S. 8 ff. 26 v. Feuerbach : Blick auf die teutsche Rechtswissenschaft. 1810. Abgedr. in: Kleine Schriften vermischten Inhalts. 1833. (Neudr. Osnabrück 1966). S. 152 ff., 167. 27 υ. Feuerbach : Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft. 1804. In: Blumenberg u. a. (Hrsg.): Theorie der Erfahrung in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1968. S. 61 ff., 65.

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gedeihen, wenn Philosophie, Altertumskunde und Geschichte zugleich auf ihrem Gebiete einheimisch geworden seien und in verständig abgemessener Wirksamkeit, jede in ihrem Teil, zum gemeinschaftlichen Zwecke wirke 2 8 . Aufgabe der Rechtsphilosophie — die er auch Rechtspolitik und Rechtsweisheitslehre nennt — sei es, die gerechtesten Gesetze für ein bestimmtes Volk zu einer bestimmten Zeit aufzufinden und die Kluft zwischen dem formalen Vernunftgesetz und dem positiven Recht stets von neuem zu überwinden. Dies sei nur möglich, wenn die Rechtsphilosophie das Gebiet der Spekulation verlasse und in das Gebiet der Erfahrung, insbesondere der Anthropologie und der Rechtsvergleichung hinüberwechsle 29, um mit Hilfe dieser Erfahrungswissenschaften die Bedingungen der Gesetze zu ermitteln, die den gegenwärtigen, gesellschaftlichen Zuständen am besten gerecht werden. Schon 1789, noch vor Feuerbach, erklärt Gustav Hugo, wie dieser ein Kenner und Verehrer der kantischen Philosophie, Spekulationen über ein natürliches Privatrecht seien wissenschaftlich wertlos, weil unsere Erkenntnis in allen nichtmathematischen Wissenschaften allein der Erfahrung entspringen könne, und nur soweit gesichert sei, wie sie auf Erfahrung beruhe. Prinzipien a priori seien zwar notwendig, jedoch gälten sie wie etwa die kantischen Prinzipien der Ethik und des Naturrechts nur formal als Begrenzungs- und Prüfungsmaßstäbe, ohne irgendeinen materialen Gehalt zu liefern; der Inhalt müsse aus der Erfahrung und der Geschichte genommen werden, um etwas zu haben, worauf man die formalen Prinzipien anwenden könne; aus den Folgen ließe sich dann erkennen, was zu einem allgemeinen Gesetz mehr oder weniger tauge. Bei jeder einzelnen Lehre solle gezeigt werden, wie „außerordentlich wenig des Metaphysischen" dabei sei, wie die „Zensur des positiven Rechts nach der praktischen Vernunft... so gar kein materielles Resultat" gebe. Was nach Hugos Auffassung der kantischen Erkenntniskritik der Jurist zu tun habe, sei das jetzt gültige und das geschichtlich gültig gewesene, positive Recht, in allen Sätzen und Bestandteilen, zu beobachten und zu analysieren, schließlich mit äußerster Behutsamkeit und Selbstbeschränkung die ermittelten Ergebnisse zu Begriffen zusammenzufassen; letztere seien freilich ebenso gefahrlich wie nutzlos, weil sie uns nicht mehr lehrten, als wir vor ihrer Zusammenfügung ohnehin schon wüßten 30 . Wissenschaftliche Jurisprudenz ist für Hugo — sofern man die Juristerei als Handwerk aus dem Spiele lasse — nichts anderes als „auf historische Data angewendete Philosophie", weil die Philosophie des Rechts die Form einer allgemeinen Gesetzgebung und das Prinzip der Kritik aller positiven Gesetzgebung liefere 31 . „Die Rechtsgeschichte steht zu der Philosophie des positiven 28

v. Feuerbach : Blick auf die teutsche Rechtswissenschaft. aaO. S. 161. v. Feuerbach : Idee und Notwendigkeit einer Universaliurisprudenz. In: Feuerbach (Hrsg.): Biographischer Nachlaß v. Anselm v. Feuerbach. 1853. S. 379, 395. 30 Vgl. Stintzingl Landsberg: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. München/Berlin 1910. 3. Abt. 2. Halbbd. S. 19, 37. 31 Vgl. Schröder: Wissenschaftstheorie und Lehre der praktischen Jurisprudenz auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1979. S. 156 ff. 29

24 Mittenzwei

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Rechts in dem Verhältnisse, wie alle Geschichte zu aller Philosophie. Jene muß nach dieser beurtheilt werden, aber diese muß durch beständige Rücksicht auf jene sich vor einseitiger Spekulation bewahren." 32 Wie die Ausarbeitung seiner „Philosophie des positiven Rechts" (d. h. des Naturrechts), etwa am Beispiel der Sklaverei und des Privateigentums, jedoch zeigt, dominieren bei Hugo am Ende Positivität und Gewohnheit (des Sichfügens in das, was ist) eindeutig die gar zu formal verstandene, kritische Vernunft. Es sei gleichgültig, was bei der Untersuchung des positiven Rechts anhand der Kriterien der praktischen Vernunft herauskomme, entscheidend sei, „daß wir uns dem Recht, wie es ein Mahl ist, fügen sollen." 33 Hier offenbart sich eine Möglichkeit der KantInterpretation, die in dessen von Hume beeinflußten, zu engen Erfahrungsbegriff angelegt ist und die letztlich zu einer Negation aller materialen Wert- und Regelerkenntnisse führen muß, wie wir sie denn auch in verschiedenen Richtungen der Kanttradition des 19. und 20. Jahrhunderts beobachten können. Hugo ist ein Vorläufer dieses positivistischen, Sein und Sollen strikt trennenden Kantverständnisses, für das der Zweck allen positiven Rechts die Gewißheit und Zuverlässigkeit einer Regel ist, sei sie nun entstanden, wie sie wolle, ohne Rücksicht auf ihren Inhalt 3 4 ; kann er doch nirgends einen Halt mehr finden, als in dem durch die Geschichte gegebenen Rechtsstoff. Aber die rein geschichtliche Bemühung, das in der Zeit erscheinende Hervortreten von Rechtsbestimmungen und ihre verständige Konsequenz zu betrachten, die aus der Vergleichung derselben mit heutigen Rechtsverhältnissen hervorgeht, hat zwar, wie schon Hegel kritisch zu Hugo bemerkte, in ihrer eigenen Sphäre ihr Verdienst, sie steht jedoch außer Verhältnis mit der philosophischen Betrachtung, insofern nämlich die Entwicklung aus historischen Gründen nicht mit der Entwicklung „aus dem Begriffe" verwechselt und die geschichtliche Erklärung und Rechtfertigung nicht zur Bedeutung einer „an und für sich gültigen Rechtfertigung" ausgedehnt werden darf 3 5 . Durch die Hintansetzung jenes Unterschiedes gelinge es, den Standpunkt zu verrücken und die Frage nach der wahrhaften Rechtfertigung in eine Rechtfertigung aus Umständen, Konsequenz aus Voraussetzungen, die für sich ebensowenig taugen usf., hinüberzuspielen und überhaupt das Relative an die Stelle des Absoluten, die äußerliche Erscheinung an die Stelle der Natur der Sache zu setzen36. Was bei Hugo fehlt, ist Kants Freiheits- und Personbegriff, aus dem man zwar kein inhaltliches Rechtssystem entfalten kann, der andererseits aber doch mehr ist als bloße philosophische Spekulation oder eine begriffliche Hülse, die man erst noch mit historischem Stoff vollstopfen müßte 37 . 32

Hugo: Lehrbuch des Naturrechts. 3. Aufl. Berlin 1809. S. 4. Hugo: Lehrbuch des Naturrechts. 4. Aufl. Berlin 1819. § 113. S. 143. Vgl. dazu Stühler: Die Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 1780-1815. Berlin 1978. S. 140 ff. 34 Hugo im Civilistischen Magazin. Bd. 4. Berlin 1815. S. 127. 35 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin 1821. § 3. Hrsg. v. Reichelt. Frankfurt/M. 1972. S. 20. 36 Hegel aaO. S. 21. 33

III. Geschichte des Rechts als positive Wissenschaft

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4. Das neue Paradigma Stellen wir die Kritik an dem positivistischen Kantverständnis einen Augenblick zurück und betrachten wir die eingetretene Veränderung im Hinblick auf die Formung eines neuen Wissenschafts- und Rechtsverständnisses, so läßt sich feststellen, daß schon vor der Bildung der Wissenschaftsgemeinschaft der Historischen Rechtsschule und der Entfaltung ihres weitreichenden, geistesgeschichtlichen Einflusses mit der betonten Hinwendung zur historischen, d.h. empirischen Behandlung des Rechts, zu sorgfaltiger Sammlung und Sichtung des historischen Materials, zu Beobachtung, Erfahrung und empirisch-analytischer Methode — im Gegensatz zum bislang üblichen Arbeitsbeginn mit Begriffsbestimmungen, logischen Schlußfolgerungen und klassifikatorischen Einteilungen — die äußeren Konturen eines neuen Paradigmas sichtbar werden, das freilich noch des ideellen, die Forschung leitenden Gehalts entbehrt. Denn mit der bloßen Verlagerung des Schwergewichts von der logisch-systematischen (apriorisch-demonstrierenden) zur historischen (aposteriorisch-empirischen) Methode, die beide, wie wir gesehen haben, schon von Petrus Ramus und René Descartes als Einheit behandelt wurden, ist wissenschaftstheoretisch noch nichts gewonnen 38 . Erst in der Uminterpretation und Neubewertung der Begriffe systematisch/historisch im Lichte einer neuen Idee offenbart sich die spezifische Veränderung gegenüber dem Bisherigen, kündigt sich ein Paradigmawechsel an. Diese neue Idee liegt in der im Laufe des 18. Jahrhunderts bewußt gewordenen Erkenntnis begründet, daß Geschichte sich nicht bloß formal in dauernder Veränderung erschöpft (und deshalb für eine auf wahre Erkenntnis gerichtete Wissenschaft sekundär ist), sondern inhaltlich Individualität hervorbringt, die es in ihrer je gegebenen Einmaligkeit und unwiederholbaren Einzigartigkeit als Sinnbild ewiger Ideen festzustellen gilt. Nicht der Glaube an die Autonomie und Autarkie der Vernunft wird in dieser idealistischen Phase der Wissenschaft aufgegeben, wie wenig später in den verschiedenen Varianten des Positivismus, wohl aber der Inhalt verändert oder erweitert. A n die Stelle der Transzendenz tritt die Immanenz des Schöpfungssinnes, neben den Raum die Zeit, neben apriorische Mathematik und Geometrie als wissenschaftliche Vorbilder aposteriorische Biologie, Wachstum, Evolution, neben das mechanische das organische Denken, neben den absolutistischen Staat und seine äußerliche Organisation Volk, Volksgeist (verkörpert in Sprache, Religion, Recht) und innere Ordnung. Das Neue ist der „geschichtliche Sinn", der einer auf das Bleibende im Wandel der Erscheinungen fixierten Wissenschaft und einer nur an allgemeingültigen Rechtswahrheiten interessierten Naturrechtslehre verständlicherweise verborgen bleibt; das Neue ist die bewußt gewordene Personalität des Einzelnen 37

Gegen die vielfach übliche Unterscheidung zwischen „falschem", weil materialen, mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Naturrecht einerseits und „richtigem", weil formalen, moderneren Naturrecht andererseits Schönfeld: Grundlegung der Rechtswissenschaft. Stuttgart/Köln 1951. S. 375. Je reicher der Formalismus ausgebaut ist, um so größer ist seine Reife und sein Gehalt. 38 Abw. Stühler aaO., S. 220, 237 f. Kritisch dazu: Schröder in JuS 1980, 617 ff. 24*

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

wie der Völker, die Überzeugung, daß Wahrheit nicht in dem unzusammengesetzten Ersten und Einfachen liegt, in den Prinzipien, Elementen, den einfachen Vorstellungen, der atomaren Materie usw., sondern im übersummativen, organischen Ganzen am Ende einer Entwicklung, deren planmäßigen Verlauf es zu erforschen gilt. Die abstrakt-rationalistische Grundhaltung des alten Paradigmas weicht nach und nach einer empirisch-individuellen, die auch das Recht nicht länger als Produkt systematischer Entfaltung aus vorher abstrahierten, geschichtslosen Vernunfteinsichten oder gar als Werk eines „vernünftigen" Gesetzgebers verstehen kann, sondern wie die Sprache als organisch gewachsenen, darum nicht zufälligen, geschichtlichen Stoff begreifen muß, in dem sich die Individualität und Eigenart der europäischen Völker manifestiert. Insofern ruht jetzt in der Tat die wissenschaftliche Sicherheit des Wissens, wie es der Empirismus in der Auseinandersetzung mit dem Rationalismus gefordert hat, nicht mehr auf ersten, evidenten Prinzipien, die ihre Gewißheit den logisch gefolgerten Konsequenzen weitergeben, sondern auf empirischen Fakten, aber nicht auf ersten, einfachen, nicht zusammengesetzten Vorstellungen (simple ideas) oder Basisdaten, die durch enumerative oder eliminative Induktion zu hypothetischen Allsätzen generalisiert werden, sondern auf organischen Ganzheiten, deren äußere Form auf Grund innerer, noch zu erforschender Gesetze notwendig so ist, wie sie erscheint, und darum ein normatives Ideal enthält. Dies ist ganz grob der geistesgeschichtliche Hintergrund, vor dem die Mitglieder der Wissenschaftsgemeinschaft der Historischen Rechtsschule ihre Vorstellungen von den Aufgaben der Rechtswissenschaft verbindlich formulieren 3 9 . Es liegt auf der Hand, daß im Vollzug solcher Gedanken der Begriff „System" eine ganz andere Bedeutung erhalten muß; „philosophisch" bzw. „systematisch" arbeiten heißt nicht mehr, unklare Sachverhalte oder Regeln auf einfache, klare Tatsachen oder Grundsätze analytisch zurückführen und von dort mit logischer Notwendigkeit synthetisch zu einer widerspruchsfreien, aber äußerlichen (weil mechanischen) Ordnung neu aufbauen, wie es in der Geometrie vorbildlich getan wird, sondern systematisch arbeiten heißt jetzt, den Entwicklungsprozeß der Sprache und des Rechts analog lebendigen Vorgängen in der Natur als organisches Ganzes verstehen und soweit als möglich begrifflich rekonstruieren, indem man, wie Savigny sagt, die Begriffe „bis an die Wurzel zurückverfolgt" und stets in „lebendiger Verbindung und Wechselwirkung mit dem Ganzen" ansieht. „Historisch" arbeiten heißt nicht mehr, für einen fertigen, logischen Zusammenhang historische Fakten zur empirischen Bestätigung als Beispiele aufsuchen, sondern historisch arbeiten bedeutet, geschichtliche Einzelheiten im Rahmen vorgegebener (innewohnender) Zusammenhänge anschauend begreifen, sprachlich fixieren und aus der enthüllten Einheit heraus fortbilden. Das System behält damit seine Begründungsfunktion, aber es wird nicht mehr als abstraktes, mathematisch-physikalisches, sondern als konkretes, organisch-biologisches interpretiert, in dem das Wissen nicht logisch-formal, sondern genetisch-inhaltlich gesichert ist. Das System stellt nicht nur, wie bei 39

Zu v. Savigny vgl. oben S. 254ff.

III. Geschichte des Rechts als positive Wissenschaft

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vielen Kantianern, die Einheit des Wissens her, sondern vollzieht diese Einheit nach; Individualität bedarf, um sich als sinnvoll zu begreifen, des gliedhaften Zusammenhangs mit dem bestehenden Ganzen der Welt (und Kultur). Folgerichtig wird der Gegenstand der Rechtswissenschaft, das positive Recht, nicht als ein zufälliges und willkürliches Produkt mehr oder minder vernünftiger, historischer Gesetzgeber begriffen — Savigny nennt diese Auffassung die „ungeschichtliche Schule" —, könnte doch dann eine Systematik des Rechts wiederum nichts anderes sein als eine äußere, schematische Einteilung und Anordnung des Stoffs ohne innere Notwendigkeit und damit auch ohne wissenschaftlichen (d.h. begründenden) Wert. Vielmehr sieht Savigny den „Stoff des Rechts durch die gesamte Vergangenheit der Nation gegeben, doch nicht durch Willkür, so daß er zufallig dieser oder ein anderer sein könnte, sondern aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen." 40 Demgemäß unterscheidet sich das gewachsene, wahre Recht von den positiven Gesetzen dadurch, daß es nicht „von ganz zufalligem, wechselndem Inhalt" ist 4 1 , sondern von einer Beschaffenheit, deren „innere Notwendigkeit es zu durchschauen" und die es „zu verjüngen und frisch zu erhalten" gelte 42 . M i t der Umdeutung des positiv gegebenen Rechtsstoffes von einer willkürlichen, vergänglichen Erscheinung in ein evolutionär-notwendiges und damit wissenschaftlich interessantes Phänomen gewinnt die Rechtswissenschaft nicht nur als philosophisch-systematische, sondern ebenso als genetischhistorische jenen Wissenschaftscharakter, welchen ihr die Physik als Erfahrungswissenschaft seit je vorauszuhaben schien; es ist der entscheidende Schritt, den Savigny und die Anhänger der Historischen Schule über die Kantianer Feuerbach, Hugo u. a. hinaus tun, ohne jedoch — wegen der zugrunde liegenden Immanenzphilosophie — schon positivistisch zu sein 43 . Wissenschaftlich etabliert wird damit neben der Rechtsphilosophie (als Wissenschaftslehre und formaler Ethik), der Rechtsgeschichte (als philologisch-kritischer Erfahrungswissenschaft) sowie anderen erfahrungsorientierten Grundlagenwissenschaften erstmals auch die auf die Anwendung des geltenden Rechts ausgerichtete, praktische Jurisprudenz, die Hugo noch als „bloßes Handwerk" betrachtet hat. Denn wenn das wahre Recht aus dem „innersten Wesen der Nation und der Geschichte" erwächst, dann ist es zwingend geboten, das positive Gesetzesrecht von daher zu verstehen und auszulegen; die sprachlich-grammatische, die philosophisch-systematische und die genetisch-historische Interpretation des 40

v. Savigny : Über den Zweck dieser Zeitschrift. In: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft. Bd. 1. Berlin 1815. S. 1 ff., 6 f. 41 v. Savigny : Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. In: Hattenhauer (Hrsg.): Thibaut und Savigny. München 1973. S. 101. 42 v. Savigny: Über den Zweck dieser Zeitschrift. aaO. S. 6. 43 Anders Schneider: Der Ursprung des Positivismus in der Gestalt des Historismus. In: ARSPh. 58 (1972) S. 267 ff.; wie hier Bohnert: Über die Rechtslehre Georg Friedrich Puchtas (1798-1846). Karlsruhe 1975. S. 177 ff.; Schröder: Wissenschaftstheorie und Lehre der praktischen Jurisprudenz. aaO. 164 f. Savigny steht in dieser Zeit Hegel und Schelling sehr viel näher als Kant und Fries (der Hugos Naturrecht so beredt gelobt hat).

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

geltenden Rechts im dargestellten Sinne gewährleistet auf der geschilderten, paradigmatischen Basis jedem applizierenden Rechtspraktiker, geht er nur mit der nötigen, wissenschaftlichen Sorgfalt zu Werke, die Richtigkeit der methodisch gewonnenen Ergebnisse. 5. Die Problematik

des inneren Systems und ungenutzte Forschungsansätze

Die (Wieder-) Entdeckung der aristotelischen Entelechie, der Tatsache, daß es neben physikalisch-mechanischen Vorgängen in der Natur auch biologischorganische gibt, die nicht von einer abstrakten, mathematisch-quantitativ denkenden Vernunft erfaßt werden können, weil sie die Zusammenhänge des Lebens zerreißt, hat auf die geistes- und kulturgeschichtlich orientierten Wissenschaftler um die Wende zum 19. Jahrhundert eine faszinierende, die Forschung neu orientierende Wirkung. Sie macht freilich ein altes Problem neu bewußt, das ich oben als den Gegensatz von kausalem und teleologischem Denken beschrieben habe 44 und das in der unerreichbaren, weil nicht reproduzierbaren Eigentlichkeit und Innerlichkeit einer sich entfaltenden Welt besteht, zu der als letzter Stufe auch der objektive Geist samt seinen geschichtlichen Erscheinungen gehört 45 . Wer ein wissenschaftliches System, das „wahre Erfahrungen" garantieren soll, als organisch, genetisch, innerlich behauptet, muß die vorausgesetzten „organischen Prinzipien" {Savigny) schließlich auffinden und formulieren, wenn die wissenschaftliche Arbeit am Paradigma fruchtbar werden soll. Zweifellos hat die Beantwortung der teleologischen Frage nach dem inneren Zweck der Dinge, nach dem Wesen der Individuen und Völker Rückwirkungen auf das Verständnis von Kunst, Religion, Ethik und Recht, aber die Antwort beruht bei Savigny u. a. nicht auf irgendwelchen, von jedermann nachvollziehbaren Methoden, sondern allein auf Urteilskraft. So kann es auf die Dauer nicht genügen, wenn die Anhänger der Historischen Rechtsschule zwar geltend machen, daß die der geschichtlichen Forschung überantworteten, gesellschaftlichen und kulturellen Vorgänge, einschließlich des Rechts, dem Zufall und der menschlichen Willkür entzogen seien, das „Gesetz der inneren Notwendigkeit" jedoch nicht aufzuzeigen vermögen. Gar zu leicht verdeckt die Analogie zur organischen Natur, daß es zumindest im geistigen Bereich neben Evolution auch Revolution gibt, daß neben Notwendigkeit auch Freiheit herrscht und daß die entscheidende Frage gerade die ist, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen 46 . Zwei Wege haben sich der Historischen Rechtsschule dargeboten, um der aufkeimenden Ratlosigkeit bei der Durchführung des im Kampf gegen das abstrakte Vernunftrecht entworfenen, paradigmatischen Programms zu entkommen: die Dialektik und die Hermeneutik; beide Möglichkeiten hat sie nicht genutzt. Dabei liegt aus heutiger Sicht die Überlegung durchaus nahe, daß 44 45 46

Vgl. S. 45 ff., 52 ff. Vgl. S. 64ff. Vgl. oben S. 259 f.

III. Geschichte des Rechts als positive Wissenschaft

375

sowohl das Recht als auch der Volksgeist, mit dem das Recht in lebendigem Zusammenhang steht, in der Sprache verkörpert sind, daß Sprache sich aber in Begriffen entfaltet und Begriffe dialektisch in Gegensätzen und daß nur in dieser Gegensätzlichkeit der Begriffe ein dynamisches Moment liegt, über welches sich eine Verbindung von Individualität und Gesetzmäßigkeit, von konkreter, historischer Anschaulichkeit und abstrakter Allgemeinheit, von geschichtlichem Wandel und zeitloser Begrifflichkeit denken läßt 4 7 . M i t Recht hält man ja der Schule Christian Wolffs entgegen, daß sie das absolut Notwendige nicht erreicht, indem sie aus der Fülle des überlieferten Rechtsstoffes Prinzipien abstrahiert, solange sie nicht sagen kann, wie man das Notwendige vom Zufalligen trennt; und richtig ist auch die Einsicht, daß dieser Maßstab, wenn es schon keine wahren, eingeborenen, einfachen Prinzipien gibt, aus dem lebendigen Zusammenhang des historisch Individuellen mit einem übersummativen Ganzen ermittelt werden muß. Aber die Konsequenz, Recht dialektisch zu entfalten, wie Hegel es wegweisend mit dem Begriff der Sittlichkeit vorführt 4 8 , hat man nicht gezogen. Auch die zweite Möglichkeit, welche die romantische Hermeneutik bietet, wird nicht aufgegriffen und weiterverfolgt, obwohl ihr ebenfalls die gleiche, forschungsleitende, paradigmatische Überzeugung zugrunde liegt 4 0 . Alles Verstehen und Deuten einer fremden Welt ist nach Friedrich Ast, einem Schüler Schellings, schlechthin unmöglich ohne eine vorausgesetzte, ursprüngliche Einheit und Gleichheit des Geistigen bzw. aller Dinge im Geiste; ohne eine innere Verwandtschaft könne weder das Eine auf das Andere einwirken noch dieses die Einwirkung des anderen aufnehmen. Ziel einer höheren, nicht nur Fakten zusammenstellenden Geschichte sei es, den Geist von allem Zufalligen, Zeitlichen und Subjektiven (individuell wie kollektiv-national) zu reinigen, um ihn in seiner Ursprünglichkeit und Allseitigkeit sichtbar zu machen. Verstehen als reproduktive Wiederholung der ursprünglichen, gedanklichen Produktion bedeute Erkenntnis sowohl des Einzelnen wie des Ganzen der „fremden Welt" unter der Voraussetzung der ursprünglichen Gleichheit der Geister 50 . So wie im Einzelnen das Ganze zu finden sei, so sei durch das Ganze das Einzelne zu begreifen; beide seien mit- und durcheinander gesetzt, ebenso wie das Ganze nicht ohne das Einzelne, als sein Glied, und das Einzelne nicht ohne das Ganze, als seine Sphäre, in der es lebt, gedacht werden könne 51 . So enthalte das Verstehen zwei Elemente, nämlich das Auffassen des Einzelnen und das Zusammenfassen des Besonderen zum Ganzen einer Anschauung, Empfindung 47

Vgl. oben S. 80 ff. Vgl. oben S. 169ff. 49 Vgl. ζ. B. Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik. Landshut 1808. S. 165 ff.; Schleiermacher. Über den Begriff der Hermeneutik mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch. In: Sämtl. Werke. III. Abt. 3. Bd. Hrsg. v. Jonas. Berlin 1835. S. 344 ff. 50 Vgl. Ast aaO. Nr. 70, 71. 51 Vgl. Ast aaO. Nr. 75. 48

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

oder Idee; das Zerlegen in seine Elemente oder Merkmale und das Verbinden des Zerlegten zur Einheit der Anschauung oder des Begriffs 52 . Ast beschreibt diesen Vorgang als einen Zirkel — eine Metapher, die später als „hermeneutischer Zirkel" in der fortschreitenden Vertiefung der hermeneutischen Philosophie zu einer zentralen Denkfigur ausgebaut wird und Probleme zusammenfaßt, welche mit vitiöser, logischer Zirkularität nichts zu tun haben 53 . Jedes Verstehen ist ein kreisendes Bewegen vom Teil zum Ganzen und zurück, wobei sich Teil und vorausgesetztes Ganzes fortwährend verändern, das erstere, weil sich die Kreise ständig erweitern, immer größere Zusammenhänge einbezogen werden, das zweite, weil es als „Ahndung" und „Idee" 5 4 durch das geschichtlich Reale modifiziert und immer bestimmter gefaßt wird. Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen ist das jeweilige Kriterium für die Richtigkeit des ermittelten Sinnes, das Ausbleiben zeigt die Verfehlung desselben an. Schleiermacher, der sich mit Ast kritisch auseinandersetzt, zögert nicht, den Geist und die Kongenialität als letzte Grundlagen der Interpretation anzuerkennen; allein, betrachte man das Geschäft des Auslegens als Ganzes, so müsse man sagen, daß vom Anfang eines Werkes an allmählich fortschreitend das Verstehen des Einzelnen und der sich daraus organisierenden Teile des Ganzen immer nur ein Vorläufiges und Unvollkommenes sei, das Mißverständnisse bezüglich des seiner eigenen Welt entfremdeten Werkes nicht nur nicht ausschließe, sondern geradezu herausfordere; es vervollkommne sich, wenn man größere Teile übersehe, werde aber auch wieder mit neuer Unsicherheit belastet, weil man einen neuen, wenngleich untergeordneten Anfang vor sich habe; nur daß, je weiter man vorrücke, desto mehr auch alles Vorige von dem Folgenden beleuchtet sei. Zwar sei es richtig, daß sich die Aufgabe des Verstehens von der kleineren Einheit eines Satzes über die größere Einheit eines Textes bis hin zu der Totalität der Sprache ausdehnen müsse, aber die bloß spekulative Ableitung aller Einzelheiten aus der Allgegenwart eines Geistes, dessen inhaltliche Bestimmung man nicht von Anfang an erkenne, sei kein Ersatz für das methodische Bemühen des Verstehens und Auslegens. Schleiermacher sucht deshalb die Einheit der Hermeneutik nicht wie Ast in der inhaltlichen Einheit der geschichtlichen Überlieferung, sondern formal in der Einheit des Verfahrens selbst 55 . Weil die Erfahrung der Fremdheit und die Möglichkeit des Mißverständnisses eine universelle sei, sei auch das hermeneutische Verfahren universal und unabhängig davon, ob die zu verstehenden Gedanken schriftlich oder mündlich, in der eigenen oder in fremden Sprachen formuliert seien. Allerdings hat dies auf der anderen Seite zur Folge, daß die Bedeutung des maßgeblichen Textes, unter der die Auslegung — zumal der Juristen und Theologen — seit den Anfangen der Hermeneutik stand, entfallt, und mit dieser Voraussetzung 52

Ast aaO. Nr. 77. Vgl. Gadamer : Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 3. Aufl. Tübingen 1972. S. 178 f., 250 ff., 275 ff. 54 Ast aaO. Nr. 81, 82. 55 Vgl. dazu Gadamer aaO. S. 167,276 f. 53

IV. Gesetzespositivismus und Rechtsbegründungsproblematik

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zugleich die doppelte Funktion des Mitteilens und Verpflichtens. Für Schleiermacher hat jede Rede Jede Schrift, die zwiefache Beziehung auf die Totalität der Sprache und auf die Gesamtheit der Gedanken des Redners bzw. Schreibers; folglich müsse das Verstehen methodisch sowohl auf die Sprache (als grammatische Interpretation) als auch auf die „Tatsache des Denkens", d. h. die psychologische, „das Verstehen der Sprache als eines Aktes fortlaufender Gedankenerzeugung bezweckende Seite" (psychologische Interpretation) gerichtet sein. Grammatische Schwierigkeiten würden meist durch ein komparatives Verfahren überwunden, indem man ein schon verstandenes Verwandtes dem noch nicht Verstandenen nahebringe und so das Nichtverstehen in immer engere Grenzen einschließe. Die psychologische, auf die geschichtliche Individualität des Redners oder Schreibers gerichtete Interpretation, die ihre höchste Vollkommenheit erreiche, wenn der Interpret den Autor besser verstehe, als dieser selbst von sich Rechenschaft geben könne, bedürfe zur Nachbildung des schöpferischen Aktes der Gedankenproduktion des Divinatorischen (Vorahnenden) und Einfühlenden sowie einer komparativen Methode, die einen Vergleich mit eigenen Werken des Autors oder verwandten Typen literarischer Produktion etc. gestatte. Die psychologische Wendung der Auslegung in Richtung auf die Erforschung der individuellen Eigenheit des Bewußtseins bei Schleiermacher, die gegenüber Ast ein Verständnis von Fremdheit ganz anderer Art bekundet und im heraufziehenden Historismus eine bedeutende Rolle spielen wird 5 6 , weist der wissenschaftlichen Hermeneutik einen Weg, auf dem die Historische Rechtsschule, wenn sie ihm gefolgt wäre, über die Erforschung der „Absichten" des Gesetzgebers und seiner tatsächlich gedachten Gedanken zu einer Art des Rechtsverständnisses vorgedrungen wäre, das von einem gemeinsamen, objektiven Sinn, einer „ratio legis" 57 , nichts mehr gewußt hätte und das ich oben als „subjektiv-teleologisch" charakterisiert habe 58 . Sie hätte dann freilich eine Entwicklung genommen, die mit ihrem paradigmatischen Selbstverständnis nicht in Einklang gestanden und ihr den falschlich gemachten Vorwurf, dem Gesetzespositivismus den Weg bereitet zu haben, zu Recht eingetragen hätte. IV. Gesetzespositivismus und das Problem der BegründungrichtigenRechts Î. Zum methodischen Verständnis der Historischen Rechtsschule Die historische Rechtsschule ist, wie gesagt, die angedeuteten, methodischen Wege nicht gegangen, um dem erhobenen Anspruch positives Recht begründen56

Vgl. Gadamer aaO. S. 185 ff. Vgl. Thibaut : Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts. 2. Aufl. 1808. Hrsg. u. eingel. v. Geldsetzer. Düsseldorf 1966. S. 11 ff., 58 ff. 58 Vgl. oben S. 260 ff. 57

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

der Wissenschaftlichkeit zu behaupten, sondern zum logisch-systematisch gesicherten Begriffssystem der rationalen Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts zurückgekehrt; zu eben jener Begrifflichkeit, die sie im Kampf um die Durchsetzung des eigenen Paradigmas ebenso geringschätzig wie einseitig als abstrakt und unlebendig kritisiert hat. Wer beispielsweise das bedeutendste Lehrbuch des römischen Rechts (und des Zivilrechts) der Historischen Rechtsschule, nämlich Savignys Darstellung des heutigen Römischen Rechts, aufschlägt, wird rasch feststellen, daß der Aufbau des Werkes keineswegs, wie man es nach den Programmsätzen eigentlich erwarten sollte, die organische Entwicklung des Rechts aus den römischen Quellen — so wie es geworden ist — verstehend nachvollzieht, sondern den Stoff nach Gesichtspunkten, die in den römischen Quellen keine Grundlage haben und von außen an ihn herangetragen werden, in konventioneller Weise gruppiert. Das begriffliche Schema, auf dem Savigny sein System errichtet und das die Grundlage seiner wissenschaftlichen Arbeit bildet, entstammt der systematischen Gestaltungskraft eines Althusius Pufendorfs oder Christian Wolffs ; in diesem statischen Rahmen stellt er dar, was nach seiner Meinung als positives Recht in Deutschland gilt. Vom organischbeweglichen Systembegriff, der die Rechtssätze nicht formal-logisch, strukturell, sondern genetisch-dynamisch begründet, ist in Savignys Alterswerk, sieht man von der nicht klar ausgeführten Theorie der Rechtsinstitute ab, nicht viel übrig geblieben1. Dennoch wäre es nicht richtig, darin ein Scheitern oder die Aufgabe der verkündeten, paradigmatischen Position zu sehen. Der Unterschied zum Vernunftrecht des 18. Jahrhunderts kommt ja nicht nur im fortentwickelten Systembegriff zum Ausdruck, der weder ein more geometrico konstruiertes, ideales System des wahren Rechts meint, das dem positiven Recht (als Korrektiv) gegenübersteht, noch einen subjektiven, inneren Zusammenhang wissenschaftlicher Lehren (wie bei Chr. Wolff), vielmehr den jeder empirischen Wissenschaft vorgegebenen, inneren Zusammenhang des positiven Rechts selbst. Noch 1840 spricht Savigny im ersten Band seines Systems ausdrücklich davon, daß „alle Rechtsinstitute in einem System verbunden" seien und die systematische Methode in der „Erkenntnis und Darstellung des inneren Zusammenhangs oder der Verwandtschaft (bestehe), wodurch die einzelnen Rechtsbegriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verbunden werden" 2 . Der Unterschied zum Vernunftrecht des 18. Jahrhunderts liegt auch in dem durch die kritischen Schriften Kants bewirkten, vertieften Verständnis der obersten Prinzipien des Rechts. Dies wird besonders in dem Werke Georg Friedrich Puchtas (1798-1846) deutlich, der als Schüler Savignys nachweislich auf dessen späteres Systemverständnis Einfluß genommen hat. Puchta folgt 1

Sein Institutsbegriff ähnelt eher einem „Theorie-Kern" (oben S. 312 f.) als einem „organischen" Gebilde. Vgl. Wilhelm: Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1958. S. 51 ff. 2 v. Savigny : System des heutigen römischen Rechts. Bd. 1. Berlin 1840. S. 10. Vorrede XXXVI.

IV. Gesetzespositivismus und Rechtsbegründungsproblematik

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zwar der Rechtsentstehungslehre Savignys und bedient sich auch seiner organisch-metaphorischen Sprache; er leitet die einzelnen Rechtssätze, die das positive Recht eines bestimmten, individuellen Volkes bilden, aus dessen Volksgeist ab und behauptet — wie Savigny für die Rechtsinstitute — einen organischen Zusammenhang zwischen ihnen 3 . „Das Recht ist ein vernünftiges und dies ist die Seite, von welcher es ein System ist, einen Organismus von Gattungen und Arten bildet." (sie!)4 Es sei „die Aufgabe der Wissenschaft, die Rechtssätze in ihrem systematischen Zusammenhang, als einander bedingende und voneinander abstammende zu erkennen, um die Genealogie der einzelnen bis zu ihrem Prinzip hinauf verfolgen und ebenso von den Prinzipien bis zu ihren äußersten Sprossen herabsteigen zu können." 5 Bei diesem Geschäft würden Rechtssätze zum Bewußtsein gebracht, die in dem Geist des jeweiligen, nationalen Rechts verborgen, weder in der Überzeugung der Volksgenossen noch in den Aussprüchen des Gesetzgebers zum Vorschein gekommen, die also ureigenstes Produkt wissenschaftlicher Forschung seien. So trete neben den Volksgeist und den Gesetzgeber die Wissenschaft als dritte Rechtsquelle; ihr Recht sei, da durch die Tätigkeit wissenschaftlich arbeitender Juristen hervorgebracht, Juristenrecht. Was Puchta hier als methodische Aufgabe beschreibt, ist keine die Herkunft klärende „Genealogie der Rechtssätze" anhand die historische Notwendigkeit bezeugender „organischer Prinzipien", sondern die uns bereits wohlbekannte Deduktion bzw. Reduktion qua Abstraktion mit Hilfe der Regeln der formalen Logik; und das Begriffssystem, das sich aus dieser Arbeit ergibt, ist auch kein inneres, aus der Bewegung der Begriffe entstandenes, sondern ein äußeres, klassifikatorisches System. Der Volksgeist, obwohl historisch-empirisch, gegenständlich gedacht, wird nicht zum Objekt erfahrungswissenschaftlicher Untersuchung gemacht, sondern in seiner Gegebenheit intellektualistisch gesetzt. Die Legitimität des einzelnen Rechtssatzes ruht auf der logischen Folgerichtigkeit der Ableitung und der Vernünftigkeit des Systems. Ob das System freilich vernünftig ist, hängt von der inhaltlichen Bestimmung des oder der obersten Prinzipien ab, aus denen durch Hinzufügung artbildender, gegensätzlicher Merkmale die nachgeordneten Begriffe und Regeln abgeleitet werden. Hier nun muß Farbe bekannt werden, was dies wohl für Prinzipien sein, wie sie begründet werden sollen, da sowohl die einfachen, eingeborenen Ideen Descartes als auch die inhaltlichen Prinzipien Hugo Grotius' und Pufendorf s wissenschaftstheoretisch verworfen wurden. Für Puchtas System ist dieses oberste Prinzip der nicht als evident vorausgesetzte, sondern apriorisch begründete, formale, darum jedoch nicht gehaltlose, kantische FreiheitsbegrifP; aus ihm leitet er den Begriff 3

Vgl. Puchta: Cursus der Institutionen. 1. Bd. Geschichte des Rechts bei dem römischen Volk mit einer Einleitung in die Rechtswissenschaft und Geschichte des römischen Civilprozesses. 1841. 9. Aufl. Hrsg. v. Krüger. Leipzig 1881. § 15. S. 21. 4 Puchta aaO. § 2. S. 5. 5 Puchta aaO. § 15. S. 22. 6 Vgl. Puchta aaO. §§ 1-6.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

des Rechtssubjekts als einer Person (im ethischen Sinn) und des subjektiven Rechts als der rechtlichen Macht einer Person über einen Gegenstand ab. Erst nach dieser transzendentalen Begründung des Rechts entfaltet er seine Vorstellung von den untergeordneten Begriffen des positiven Rechts, deren ethischer Gehalt mit zunehmender Vermittlung durch begriffliche Zwischenglieder freilich immer weiter verblaßt. Daß die Freiheitsidee in der Tat das einzige, erfahrungsunabhängige, weil erkenntnistheoretisch begründete, transzendentalphilosophische Prinzip der Ethik ist, an dem positives Recht ausgerichtet werden kann, habe ich im ersten Teil der Arbeit aufzuzeigen versucht 7. Daraus folgt einmal, daß der Historischen Rechtsschule weder der Vorwurf gemacht werden darf, sie sei unkritisch in das vorkantische, ontologisch-ungeschichtliche Naturrechtsdenken zurückgefallen, noch sie habe durch die Betonung der historischen Methode und ein dinglichempirisches Volksgeistverständnis dem aufkommenden, geistlosen Positivismus des 19. Jahrhunderts den Weg geebnet. Denn weder bei Savigny noch bei Puchta wird die Verbindung zur idealistischen Philosophie zerrissen und die ethische Grundlage des Rechts aus dem Auge verloren. Daraus folgt zum anderen, daß in die so harsch getadelte Begriffsjurisprudenz, als deren Begründer Puchta betrachtet wird, ethische Grundvorstellungen des deutschen Idealismus eingegangen sind, die selbst noch am Ende des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches, in sublimierter Form in den ausgefeilten Begriffssystemen etwa eines Bernhard Windscheid oder Andreas v. Tuhr fortleben, wenngleich man sich angesichts des herrschenden Zeitgeistes jetzt scheut, auf rechtsphilosophische (und gar idealistische!) Begründungen zurückzugreifen 8. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß der eingeschlagene Weg die Gefahr in sich birgt, die Geschichtlichkeit des positiven Rechts, deren man sich durchaus bewußt ist, zu verfehlen 9. Denn der Einwand, daß apriorisch begründete Rechts- und Begriffssysteme ohne das Korrektiv erfahrungswissenschaftlich gesicherter Erkenntnis dessen, was geworden und nun faktisch gegeben ist, die soziale Wirklichkeit nicht erreichen, kann nicht durch die Berufung auf den Volksgeist ausgeräumt werden, zumal wenn man praktisch einer relativierenden, antiquarischen Geschichtsforschung huldigt oder nur an der dogmengeschichtlichen Entwicklung von Rechtsverhältnissen oder Rechtssätzen interessiert ist, ohne die Zusammenhänge mit anderen den Volksgeist konstituierenden und die gesellschaftliche Wirklichkeit spiegelnden Zeugnissen wie Religion, Philosophie, Literatur oder Sozialgeschichte miteinzubeziehen. Auf diese Weise läßt sich schwerlich zu den gesellschaftlichen Bedingungen vorstoßen, welche die Rechtsregeln in ihrer je besonderen, geschichtlichen Gestalt hervorgebracht haben. Und so ist es in der weiteren, geistesgeschichtlichen Entwicklung denn auch vor allem der antiformalistische Protest gegen den 7

Vgl. oben S. 149 ff. Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 4. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1979. S. 24 f. 9 Vgl. zur Kritik Hegels an Kant oben S. 167 f. 8

IV. Gesetzespositivismus und Rechtsbegründungsproblematik

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Verzicht einer sich zwar geschichtlich verstehenden, aber logisch-systematisch arbeitenden Rechtswissenschaft auf den notwendigen Bezug zur gesellschaftlichen und sozialen Wirklichkeit, der zum Aufbau eines neuen, vom Primat der Erfahrung ausgehenden, an der modernen Wissenschaftsentwicklung orientierten, szientistischen Paradigma führt 1 0 . Die von der historischen Rechtsschule beanspruchte, wissenschaftliche Führungsrolle, die bis zu Hegels Tod in Deutschland von der überragenden Stellung der Geschichtsphilosophie und danach von den universalen, kulturellen Ideen des Historismus getragen wurde, ist zu keiner Zeit ganz unbestritten gewesen. Anfangs von vorhistorischen Traditionen bedrängt, die in der Geschichte als Inbegriff individueller Ereignisse keine Wissenschaft zu sehen vermochten 11 , sind es ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die sich aus der Bevormundung durch die Philosophie lösenden Naturwissenschaften, die Soziologie, Psychologie und darwinistisch beeinflußte Anthropologie, die das herrschende, historische Paradigma unter den üblichen, polemischen Übertreibungen mit politisch-moralischen Argumenten in Frage stellen und für die Kulturwissenschaften allmählich eine Neuorientierung erzwingen. Es ist jetzt nicht mehr die Begrifflichkeit und Wirklichkeitsferne allein, die an der Historischen Rechtsschule bemängelt werden, sondern das tiefer gehende, die gesamte Geschichtswissenschaft betreffende Problem des Relativismus, das die Zweifel an der wissenschaftlichen Anleitungsfahigkeit des Paradigmas übermächtig werden läßt. Denn gibt man die geschichtsphilosophische Überzeugung auf, daß aus dem begrifflich nachvollzogenen Gewordensein der Kultur und des Rechts sowohl Sinn als auch Normativität erwachsen, dann ist über die Idee der Individualität selbst bei erfolgreicher, normalwissenschaftlicher Arbeit eine objektive, wissenschaftliche Begründung der gebotenen und erreichbaren Ziele menschlichen Handelns in weltgeschichtlicher Perspektive von vornherein nicht zu erreichen. 2. Erfahrung

als Wissenschaftskriterium

Das nachidealistische, wissenschaftliche Bewußtsein, das einen grundlegenden Funktions- und Strukturwandel des Wissenschaftsverständnisses einleitet, versucht sich in Deutschland nach 1830 zunächst durch fortgesetzte Polemik gegen die scheinbar erhebliche Angriffsflächen bietende, romantisch-idealistische Naturphilosophie zu stabilisieren, die noch von der Einheit zwischen Philosophie und Wissenschaft ausging und ein philosophisches Definitionsmonopol für wissenschaftliches Wissen beanspruchte. Ihr lag das modifizierte, 10 Vgl. Wieacker. Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl. Göttingen 1967. S. 402. Zur Entwicklung innerhalb der Historischen Rechtsschule Wilhelm: Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1958. S. 28 ff. 11 Man vergleiche etwa Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. 2. Bd. 38. Kap. In: Werke. Zürich 1977. Bd. IV. S. 516 ff.; zur Geschichte des Begriffs „Geschichte" Brunner/Conze/Kosellek (Hrsg): Geschichtliche Grundbegriffe. Histor. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 2. Bd. Stuttgart 1975. S. 593 ff.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

klassische Wissenschaftskonzept zugrunde, das bis auf Aristoteles zurückreicht und dessen Elemente wir schon kennengelernt haben 12 : Wissenschaft ist Wissen des Allgemeinen (des Wesens, der Gründe, Ursachen, Prinzipien des Einzelnen und Vergänglichen), des Notwendigen (des ewig Seienden im Wandel) und des Wahren; Erfahrung (Praxis) dagegen Kenntnis des Einzelnen, Zufälligen, Geschichtlichen und für die Wissenschaft nichts weiter als Stoff — „Erfahrungswissenschaft" eine contradictio in adiecto. Dem entspricht die Arbeit des Wissenschaftlers: er bildet Allgemeinbegriffe, fallt gemäß einem Kanon von Schlußregeln logische Urteile und schafft auf diese Weise einen ontologisch verstandenen Urteilszusammenhang. M i t der von Descartes vollzogenen Wendung nach innen, zur menschlichen Vernunft als letzter Grundlage wissenschaftlichen Wissens, verlieren zwar die Wissenschaft konstituierenden Merkmale der Allgemeinheit, Notwendigkeit und Wahrheit ihre ontologische Bedeutung, weil man sich der Differenz zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt bewußt wird, doch werden sie dafür nach dem Vorbild der Mathematik zu Struktur- und Geltungsmerkmalen wissenschaftlicher Urteile und definieren, was ein wissenschaftlicher Gegenstand ist. Durch die vorausgesetzte Teilhabe der menschlichen an der absoluten Vernunft nimmt der Wissenschaftsbegriff statt des ontologischen, feststellenden und sinnstiftenden Charakters nunmehr einen gnoseologischen, ausschließlich feststellenden Charakter an, der auch Kants Wissenschaftsverständnis prägt: Die Allgemeinheit der Aussagen garantiert ihren Lehr-, die Notwendigkeit den System- und die Wahrheit den Erkenntnischarakter. Für Kant ist wissenschaftliches Wissen apodiktischer Natur, bloß empirische Gewißheit keine echte Erkenntnis; Naturwissenschaft kann es für ihn nur geben, sofern die Naturgesetze, die ihr zugrunde liegen, nicht bloß induktiv bewährte Erfahrungssätze, sondern mathematisch gesicherte, apriorische Allsätze darstellen. Auch Hegel hält an den Elementen Allgemeinheit, Notwendigkeit und Wahrheit als Wissenschaftsmerkmalen fest, versteht allerdings Wahrheit nicht als Urteilsqualität, sondern (wieder) als absolute Einheit von Begriff und Objekt. Notwendigkeit ist auch nach ihm nur durch den Systemcharakter der Wissenschaft zu sichern, wobei man freilich die Methode nicht von der „untergeordneten" Mathematik „erborgen" dürfe, sondern sich an die immanente Entwicklung des Begriffs zu halten habe. Dieses klassische Wissenschaftskonzept fallt nunmehr einem neuen Leitmodell zum Opfer, das sich in der geschilderten, erkenntnistheoretischen Entwicklung des englischen Nominalismus und Empirismus vorbereitet hat und auf der Überzeugung gründet, daß alles synthetische Wissen aus der Erfahrung stammt: Erfahrung wird zum Definitionsmerkmal von Wissenschaft. Da jedoch — nicht wegen der Singularität und Kontingenz, wohl aber wegen der Differenz zwischen Vorgestelltem und Seiendem — auf die Erfahrung kein Verlaß ist, bedarf es bestimmter Verfahren der Gewinnung und Überprüfung von Fakten, um zu (vorläufig) gesichertem Wissen zu kommen. Wird Erfahrung nicht länger von systematischer Wissenschaft, sondern umgekehrt Wissenschaft von metho12

Vgl. oben S. 245 f.

IV. Gesetzespositivismus und Rechtsbegründungsproblematik

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disch, experimentell gewonnener Erfahrung getragen, dann kann Wissenschaft nicht mehr als ein System kategorisch gesicherter Aussagen, sondern nur noch als ein formaler, nach bestimmten Regeln ablaufender Prozeß mit austauschbarem, unablässig zu erweiterndem Inhalt verstanden werden. Die Umkehrung macht alles Wissen hypothetisch, durch neues Wissen überholbar, ohne daß man hoffen darf, der Wahrheit allmählich näher zu kommen, ist doch die Mannigfaltigkeit des der Erfahrung Zugänglichen unendlich. Wahrheit und Notwendigkeit des gewonnenen Inhalts büßen ihren Charakter als Kriterien der Wissenschaftlichkeit des Wissens ein, die Allgemeinheit ist nicht Wesen oder Grund des Einzelnen, sondern bloß Resultat nominaler Verallgemeinerungen zwecks besserer Übersicht; allein die von der jeweiligen Wissenschaftsgemeinschaft anerkannten Verfahrensregeln definieren die Wissenschaftlichkeit empirischer Untersuchungen. Erfahrung als Wissenschaftskriterium bedeutet den Durchbruch des Empirismus in Deutschland; anfangs eine reine Naturwissenschaftler-Philosophie, welche im Zuge der aus Frankreich übergreifenden (paradoxerweise in Gestalt einer Geschichtsphilosophie auftretenden) Soziologie Auguste Comtes (17981857) auch als „Positivismus" bezeichnet wird, wächst sich die Bewegung, mit dem „Szientismus" zur herrschenden Weltanschauung aufsteigend, bis zum Ende des Jahrhunderts zu einem allgemeinen Bildungsgut mit kulturellem Führungsanspruch aus 13 . Der Positivismus setzt den philosophischen Bemühungen um eine kritische Erkenntnistheorie ein Ende; die transzendentalphilosophische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, die zugleich auf die Explikation des Sinnes von Erkenntnis zielt, wird kurzerhand als „sinnlos" abgeschnitten und durch die methodologische Frage nach den Regeln der Überprüfung wissenschaftlicher Theorien ersetzt. Wissenschaft bewährt sich in den von ihr erbrachten Leistungen; erkenntnistheoretische Selbstreflexion, die den Rahmen der Methodologie übersteigt, ist überflüssig, weil sich der Sinn von Erkenntnis in der praktischen Nützlichkeit der Wissenschaft zeigt: das Erkenntnissubjekt (Bewußtsein, Ich, Geist, Gattung) fallt sowohl aus dem wissenschaftlichen Objekt- als auch aus dem wissenschaftstheoretischen Metabereich heraus. Nach der Rezeption des logischen Systems John Stuart Mills (1806-1873)14 beherrscht zunächst die induktive Variante des positivistischen Denkens das wissenschaftstheoretische Feld; nach Mill liegt die Induktion auch den Schlußformen der Logik und den Axiomen der Mathematik zugrunde; alle Begriffe, Gesetzesaussagen, Theorien, ja selbst das kantische Apriori werden als das Ergebnis empirischer Verallgemeinerungen interpretiert. Aufgabe der Induk13 Vgl. zur Interpretation des Positivismus als einem szientistisch gewandten Empirismus Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt 1968. S. 88 ff., Schnädelbach: Erfahrung, Begründung und Reflexion. Versuch über den Positivismus. Frankfurt/M. 1971. 14 Mill : System of logic, ratiocinative and inductive. London 1843.9. Aufl. 1875. Dtsch. 1849. Übers, v. Schiel (auf Anregung von v. Justus v. Liebig). 4. Aufl. 1877.

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tion ist es nicht, den Ursachen von Erscheinungen in der Realität nachzuspüren, sondern ausschließlich Verlaufsgesetze festzustellen. Später kommt eine deduktive Variante des Empirismus hinzu, die in dem Physiker Heinrich Hertz (18571894) einen bedeutenden Vertreter findet 15. Nach ihm machen wir uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände zurecht und zwar derart, daß die denknotwendigen Folgen dieser Scheinbilder stets wieder Bilder von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände sind. Gelinge es experimentell, die denknotwendigen mit den naturnotwendigen Folgen zur Deckung zu bringen, dann sei auch eine Vorhersage von Abläufen möglich und das Ziel empirischer Wissenschaft erreicht. Sowohl die Herkunft als auch der Einfluß dieser isomorphen Zuordnung von Aussagen und Sachverhalten auf Wittgensteins frühe Weltabbildtheorie ist nach dem schon Ausgeführten unschwer zu erkennen und hat anscheinend, bei aller Skepsis gegenüber der Bildtheorie der Erkenntnis, auch noch die wissenschaftstheoretischen Vorstellungen Poppers beeinflußt 16 . So wird im Wissenschaftsverständnis des Positivismus aus dem Allgemeinen und dem Apriori der klassischen Wissenschaft folgerichtig ein bloßes Hypothesengeflecht, das als systematischer Aussagenzusammenhang seine kategorisch-deduktive Struktur einbüßt und nur noch zu hypothetisch-deduktiven, prinzipiell überholbaren, vorläufigen, theoretischen Ableitungen berechtigt. Wesens- und Substanzbegriffe werden aus der Wissenschaft eliminiert und durch Begriffe ersetzt, mit denen sich funktionale Zusammenhänge zwischen den untersuchten Gegenständen ausdrücken lassen 17 . Dort aber, wo Wissenschaft erfolgreich ist, spiegelt der methodologisch gerechtfertigte Objektivismus den Forschern ein „An-Sich" von gesetzmäßig strukturierten Tatsachen vor und läßt die vorgängige Konstituierung derselben nicht mehr zu Bewußtsein kommen. Von nun an gewinnt das Phänomen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts überragende Bedeutung; der Primat der Erfahrung vor der Theorie bedeutet eine Dynamisierung der Wissenschaft, denn Erfahrung heißt: immer neue Erfahrung. Innovation wird zum wissenschaftlichen Prinzip, die Regeln, mit welchen sich die verfahrensmäßig definierte Wissenschaft identifiziert, sind selbst wesentlich Innovationsregeln. Das Forschungsprogramm, die wissenschaftliche Fragestellung, ist wichtiger als das gewonnene Ergebnis, die spätere Antwort, welche ohnehin demnächst überholt sind; wertvoll ist nur das Fortschreiten, nicht das Verweilen im (angeblich) Bleibenden, Zeitlosen. Der Gegensatz zwischen dem, was uns als wahr erscheint, und dem, was wahr ist, der Gegensatz zwischen dem Streben nach Wissen und dem wirklichen Wissen als 15 Vgl. Cassirer : Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Bd. IV. Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832-1932). 2. Aufl. 1957. (Nachdr. Darmstadt 1973) S. 111 f. 16 Vgl. Pitcher : Die Philosophie Wittgensteins. Übers, v. E. v. Savigny. Freiburg/München 1967. S. 99, 227; Popper: Conjectures and Refutations. London 1963. S. 171. 17 Vgl. zu dieser Entwicklung Cassirer : Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. 1910. Nachdr. Darmstadt 1976.

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Ziel, entfallt; Wissenschaft ist nicht Besitz, sondern unablässiges Bemühen, ein dauerndes Unterwegssein nach (angeblich) fortschrittsverbürgenden Regeln; wer es anders sieht, wird nach bekanntem Muster als zurückgeblieben, durch die Entwicklung überholt, wissenschaftlich nicht mehr ernst genommen. Die Dynamisierung des klassischen Wissenschaftskonzepts durch die erkenntnistheoretischen Ideen des Empirismus ist der wichtigste Aspekt des Strukturwandels seit dem Niedergang des deutschen Idealismus 18 . Einer sich als Erfahrungswissenschaft konstituierenden Forschung entspricht die rein formalistische Interpretation der nichtempirischen Wissenschaften, welche die Genesis der Regeln für die Verknüpfung von Symbolen aus den Augen verlieren 19 ; synthetische Leistungen des erkennenden Subjekts gelten als unmöglich oder werden ignoriert. Auf rechtswissenschaftlichem Gebiet entspricht dem eine formalistische Auffassung rechtlicher Regeln, deren Inhalt beliebig und austauschbar ist. Als ein ständig wachsendes, sich wandelndes, ja auf Veränderung angelegtes Ganzes ist Wissenschaft ein in die Zukunft geöffnetes Handlungsund Interaktionssystem, dessen Leistungsfähigkeit nach dem Wegfall des begründenden Systemideals primär nach dem abgeworfenen Nutzen für die Gattung Mensch beurteilt wird. 3. Die Grundlagen des Utilitarismus

bei J. St. Mill und J. Bentham

So nimmt es nicht wunder, daß mit dem Positivismus auf wissenschaftlichem der Utilitarismus auf ethischem und naturrechtlichem Gebiet seinen Einzug hält; denn wo die einzig gültige Erkenntnisquelle die Erfahrung ist, können auch die Werte nicht ursprünglich, apriorisch, intuitiv und unveränderlich sein, sondern müssen als Interessen empirisch-genetisch ermittelt werden. Genau dies ist denn auch die Ansicht von St. Mill , der mit seinen ethischen Vorstellungen nach Gründung des Deutschen Reiches nicht minder Gehör findet als mit seinen logischen. Nominalismus, Empirismus und Voluntarismus sind das Dreigestirn der englischen Philosophie seit ihren ersten Anfängen im 13. Jahrhundert, wobei der alles durchdringende und zusammenhaltende Utilitarismus, sei er nun individualistisch oder universal gewendet, den Grundton angibt 20 . Freilich werden hier Positivismus und Utilitarismus sehr viel lebensnäher und weniger prinzipiell verstanden als bei den zum Grundsätzlichen neigenden, kontinentaleuropäischen Vettern und haben deshalb auch kaum jemals abschreckende Konsequenzen gezeitigt; dies offenbart sich schon darin, daß Mill von seinem Landsmann Jeremias Bentham (1748 -1832) das Wohlfahrtsprinzip der Beförderung des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl als Maßstab und Ziel jeder vernunftgemäßen, sittlichen Ordnung der Gesellschaft übernimmt, ob18

Schnädelbach: Philosophie in Deutschland. 1831-1933. Frankfurt/M. 1983. S. 118. Zur Kritik des Formalismus in der Grundlagenforschung von Logik und Mathematik vgl. Kambar tel: Erfahrung und Struktur. Frankfurt/M. 1968; Lorenzen: Methodisches Denken. Frankfurt/M. 1968. 20 Schönfeld: Grundlegung der Rechtswissenschaft. Stuttgart/Köln 1951. S. 72. 19

25 Mittenzwei

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wohl dieses Prinzip schlechterdings keine induktive Verallgemeinerung aus der Erfahrung stammender, sozialer Fakten sein kann, sondern ebenso wie das Pufendorfsche Prinzip der „socialitas" einen vernünftigen Sinnentwurf darstellt, nach dem die soziale Wirklichkeit erst noch zu gestalten wäre. Erkenntnistheoretisch betrachtet bleibt das Problem das gleiche, einerlei ob man das geschichtlich Gewordene mit einem reinen Vernunftmaßstab oder auf seine Verträglichkeit mit den Forderungen des Allgemeinwohls prüft. So wie dem Induktionsprinzip eine unbeweisbare Naturkonstanz (bzw. Gewöhnung), so liegt dem Wohlfahrtsprinzip ein ungeklärter Erfahrungsbegriff zugrunde. Gleiches gilt übrigens für Mills Glückseligkeitsprinzip, nach dem der Endzweck allen menschlichen Handelns sowohl für den Einzelnen wie für die Gattung ein möglichst schmerzfreies und freudvolles Dasein sein soll, wobei er Schmerz und Freude nicht nur quantitativ, sondern ebensowohl qualitativ versteht und in letzter Instanz diejenigen entscheiden lassen will, welche die reichste Erfahrung und das gereifteste Bewußtsein besitzen 21 . Sieht man einmal von den tatsächlichen Schwierigkeiten der Beweisführung ab, so widerspricht es der empiristischen Erkenntnistheorie, neben den sinnlichen Gefühlsqualitäten Lust und Unlust andere Gefühle geistiger oder sozialer Natur zum Vergleich zuzulassen oder gar höher zu bewerten; denn für einen konsequenten, erkenntnistheoretisch fundierten Utilitarismus dürfen nur Quantitätsunterschiede des befriedigten Bewußtseins eine Rolle spielen, weil nur quantitative Bestimmungen wie etwa Dauer, Intensität, Fortwirkung, Wahrscheinlichkeit des Eintretens oder möglicher Nebenwirkungen usw. untereinander ohne zusätzliche (nicht empirische) Maßstäbe vergleichbar sind. Sobald außer dem Fundamentalgegensatz von Lust und Schmerz qualitative Differenzen eingeführt werden, wird ein Vergleich der Faktoren (oder gar ein Moralkalkül) unmöglich. Mills Vorstellungen von der sittlichen Neugestaltung der Gesellschaft im Sinne eines befriedigenden Ausgleichs zwischen Individuum und Gemeinschaft beruhen wesentlich auf den Vorarbeiten Jeremias Benthams, dessen „Introduction to the Principles of Morals and Legislation" (1789) Friedrich Eduard Beneke 1830 in Deutschland bekannt gemacht hat 2 2 . Bentham geht davon aus, daß aller Bildung rechtlicher und sittlicher Normen, aller juristischen und ethischen Beurteilung, eine Berechnung von Gütern und Übeln zugrunde liegt; er sucht daher nach Maßstäben, um die Eigenschaften einzelner Handlungen in ihrem sozialen Gesamtwert zu beurteilen. Ist, wie er voraussetzt, die Förderung des Glücks oder Wohles einer möglichst großen Zahl von Menschen die einzige Aufgabe des Gesetzgebers (wie der Moralphilosophie), so hängt das gesamte System der Gesetzgebung (und der Moral) von der empirischen Kenntnis der Lust- und Unlustgefühle im weitesten Sinnen sowie von deren Vergleich und 21

Mill: Utilitarianism. Repr. from Fraser's Magazin. London 1863. S. 17. Bentham: Grundsätze der Civil- und Criminalgesetzgebung. Aus den Handschriften des engl. Rechtsgelehrten Bentham. Hrsg. v. Dumont. Bearb. v. Beneke. 2 Bde. Berlin 1830. Zur Frage der Authentizität des Textes vgl. Jodl: Geschichte der Ethik. Bd. 2.3. Aufl. Wien 1923. S. 684 f.; zu Beneke ebenda. S. 224 ff. 22

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zuverlässiger Berechnung ab. Für diese Berechnung der Lust- und Unlustfolgen zum ersten Male allgemeine Grundsätze aus einem umfassenden Überblick über die menschliche Natur, wie er dem damaligen Kenntnisstand entsprach, entwickelt und aufgestellt zu haben, ist Benthams wissenschaftliches Verdienst auf dem Gebiete einer allgemeinen Theorie des praktischen Lebens 23 . Die Neigung, Nutzen und Schaden des Individuums als einzig möglichen Inhalt menschlichen Wollens zu sehen und die Sittlichkeit von Handlungen nach ihren äußeren Folgen für die Interessen der Mitmenschen zu beurteilen, entspricht voll und ganz dem szientistischen Bedürfnis nach einer rein empirisch-psychologischen Begründung der Ethik aus der Erfahrung. Bemerkenswert in unserem Zusammenhang ist die zentrale Stellung des „Interesse"Begrififs; schon gleich zu Beginn seiner Ausführungen in den „Principles of Morals and Legislation" sagt Bentham: „Interest is one of those words, which not having any superior genus, cannot in the ordinary way be defined." Er sieht im „Interesse" eine Art Urphänomen und fahrt fort: „ A thing is said to promote the interest, or to be for the interest, of an individual, when it tends to add to the sum total of his pleasures: or, what comes to the same thing, to diminish the sum total of his pains." 2 4 Bedeutungsgeschichtlich stammt der Begriff des Interesses ( = Schaden, Entschädigung, Zinsen; Nutzen, Vorteil, Gewinn; Anteilnahme, Aufmerksamkeit, Gefallen; Belang) aus der Schadensersatzregelung des Römischen Rechts: Dort bedeutet er einmal unquantitativ das Beteiligtsein an einem Ereignis; danach bestimmt sich, wer wegen dieses Ereignisses (etwa mit der actio furti) klagen darf. Zum anderen bedeutet „id quod interest" quantitativ den zu ersetzenden Schaden; dieser Schaden wird im Gegensatz zum Sachwert ziemlich frei ermittelt und kann daher auch mittelbare Folgen und entgangenen Gewinn umfassen. Der Gegensatz zwischen öffentlichen und privaten Interessen, zwischen Staatswohl und Vermögensvorteil des Einzelnen (id quod rei publicae interest; id quod privatim interest) durchzieht die Quellen wie ein roter Faden 25 . Die Fähigkeit, die verschiedensten Leistungsinhalte aufzunehmen, führt in der Jurisprudenz des Mittelalters zu immer größerer Beliebtheit des Begriffs, die sich sprachlich in der seit dem 11. Jahrhundert beginnenden, substantivischen Verwendung des Wortes „Interesse" zeigt 26 . In die englische Sprache ist das Wort im 14. Jahrhundert entlehnt worden, wo es wie im Französischen durch Abstraktion der bisherigen Wortinhalte (Schaden, Entschädigung, Zinsen) die allgemeine Bedeutung von (insbesondere materiellem) Nutzen, Vorteil, Profit, Gewinn erhält und die Gesamtheit dessen bezeichnet, was jemandem nützt. In diesem Sinne wird „Interesse" allmählich zum Kernbegriff der sich in der frühen 23

Vgl. dazu Jodl aaO. S. 397 ff. Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. In: The Works of J. Bentham. 1838/43. Ed. by Bowring. Repr. New York 1962. S. 2. 25 Medicus : Id quod interest. Studien zum röm. Recht des Schadensersatzes. In: Forsch. Rom. Recht 14 (1962). S. 294 ff. 26 Medicus aaO. S. 341. 24

25*

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Neuzeit entwickelnden, in der Idee der Staatsraison gründenden Interesse-Lehre des Staates und deren Gegensatz zu den Interessen des Einzelnen 27 . Hobbes ermittelt mit Hilfe der oben geschilderten resolutiv-kompositiven Methode das Streben nach Selbsterhaltung als die Grundlage allen gesellschaftlichen Lebens. Im Streben (endeavour) nach Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen manifestiert sich die Sorge und Zukunftsorientiertheit des menschlichen Handelns, die als — physikalisch vorgestellte — Bewegung und materielles Verursachungsprinzip hinter allen sichtbaren Lebensäußerungen steht. Der Erwerb von Gütern ist selbst wieder Mittel und Voraussetzung für weiteres, erfolgreiches Streben und diese Zweck-Mittel-Beziehung zeigt den Wandel der ethischen Ausgangssituation an 2 8 . In dieser Bedeutung wird der Begriff des Strebens von den Nachfolgern Hobbes' als Eigennutz (self-interest) übernommen. Bei Adam Smith verändert sich der Mechanismus der Vermittlung individueller und kollektiver Interessen durch eine Konsens ermöglichende, weil Sicherheit gewährleistende und das Zusammenleben befriedende, zentrale Herrschaftsmacht zu einem System von Marktgesetzen, nach denen die in freier Konkurrenz rivalisierenden Einzelinteressen automatisch zu einer Selbstregulation und zu einem das Gesamtinteresse der Marktgesellschaft und des Staates garantierenden Einklang finden. Das allen Menschen gemeinsame Interesse nach Lebenssicherung und sozialer Anerkennung orientiere sich an den vorhandenen, ökonomischen Möglichkeiten und erlernten Fertigkeiten und werde zum Träger ökonomischer Kausalität 29 . Während Hobbes die erfahrbare Wirklichkeit dem logischen Zwang des aus einfachen Elementen und sie regierenden Prinzipien entwickelten sozialen Systems des Staates unterwirft, weil er als Rationalist der aufgrund eigener Operation hergestellten Konstruktion eines Artefakts mehr vertraut als der Erfahrung, liest Smith aus der allen Individuen bekannten und selbst verständlichen Realität die Einheit und Kausalität ihres Zusammenhangs heraus; er will nicht mehr im Denken die Synthese des empirisch Erfahrbaren erzwingen, sondern die real sich in der Realität vollziehende Synthese aufweisen 30. Und eben dieses Ziel verfolgt Bentham, wenn er den überlieferten Begriff des „self-interest" als Bewegungsmoment wirtschaftlicher Tätigkeit aufnimmt und eine Klassifikation der „pleasures and pains" entwirft, weil er glaubt, daß nur auf diese Weise die menschlichen Handlungen, welche das menschliche Glück befördern, hinreichend klar bestimmt werden können. Bentham charakterisiert sein auf dem Glücks- und Interessenprinzip beruhendes Moralkalkül folgendermaßen: „ I suppose myself a stranger to all our present 27 Vgl. Meinecke: Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte. 2. Aufl. 1960. Kap. 6. 28 Vgl. dazu Neuendorff : Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx. Frankfurt/M. 1973. S. 32ff. 29 Smith: Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes. Hrsg. v. Waentig. 1. Bd. Jena 1923. S. 18. 30 Vgl. Neuendorff aaO. S. 75.

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denominations of vice or virtue: I am called to consider human actions only with relation to their good or evil effects. I open two accounts; I place on the side of pure profit all pleasures; I place on the side of loss all pains: I faithfully weigh the interests of all parties; the man whom prejudice brands as vicious; he who is accounted virtuous, are, for the moment, equal before me. I wish to judge the prejudice itself, and to weigh in this new balance all actions, with the intention of forming a catalogue of those which ought to be permitted, and of those which ought to be prohibited." 31 Aber wie schon Smith am Ende seiner Stufenfolge von niederen und höheren Interessen (Privat-, Standes-, Staats-, Menschheitsinteressen) 32 trotz des vorausgesetzten Automatismus einer regulierenden Tugend, welche die Prävalenz der zukunftsorientierten und der übergeordneten Gemeinschaftsinteressen fordert, nicht entraten mag, so stört es auch Bentham nicht, daß es mit den logischen Folgen seiner Prinzipien nicht vereinbar ist, wenn er über das Kriterium der Ausdehnung der Lustgefühle auf andere Personen versucht, die Konsequenzen seines individualistischen Standpunktes zu mildern und zu einem altruistischen, das Gemeinwohl berücksichtigenden, ethischen Standpunkt durchzudringen. 4. Der utilitaristische

Einfluß auf R. v. Ihering und die Interessenjurisprudenz

Den Einfluß, den J. St. Mill und J. Bentham auf Rudolf v. Ihering und über ihn auf die Interessenjurisprudenz ausgeübt haben, läßt sich am Beispiel des unvollendeten Iheringschen Werkes „Der Zweck im Recht" (1877) recht gut dokumentieren 33 ; Ihering hat sich dort sowohl mit Mill als auch mit Bentham ausdrücklich auseinandergesetzt. Auf den ersteren kommt er bei der Frage der Grenzen der Staatsgewalt und des Rechts gegenüber der Freiheitssphäre des Einzelnen zu sprechen, eine Frage, die Ihering für ebenso prinzipiell bedeutsam wie unlösbar hält 3 4 . Mill hatte in seiner Schrift über die Freiheit 35 die Grenzen der Gesetzgebung dadurch abzustecken versucht, daß er als einzigen Zweck für einen Eingriff in die Freiheit des Individuums die Verhütung der Benachteiligung anderer anerkannte; das eigene, ob körperliche oder sittliche Wohl sei kein genügender Rechtfertigungsgrund. Ihering, der Mill einen „der bedeutendsten Denker unseres Jahrhunderts" nennt 3 6 , kritisiert zunächst den „Grundirrtum der naturrechtlichen (individualistischen) Doktrin", den Staat und die Gesellschaft vom Standpunkt des Individuums aus aufzubauen; nach dieser Doktrin 31

Bentham aaO. S. 81. Vgl. Smith: Theorie der ethischen Gefühle. Hrsg. v. Eckstein. Leipzig 1926. Bd. 1. S. 415. 33 Vgl. Jodl: Geschichte der Ethik. 3. Aufl. Wien 1923. Bd. 2. S. 522 f.; Coing : Benthams Bedeutung für die Entwicklung der lnteressenjurisprudenz und der allgemeinen Rechtslehre. In: ARSPh 54 (1968). S. 69 ff., 75. 34 Vgl. v. Ihering: Der Zweck im Recht. 5. Aufl. Leipzig 1916. Bd. 1. S. 418 ff. (3. Aufl. S. 536 ff.). 35 Mill : Essay on Liberty. 1859. Übers, v. Pickford. Frankfurt/M. 1860. 36 v. Ihering aaO. S. 419. 32

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hätten Staat und Recht lediglich die Aufgabe, den Übergriff der Freiheit des einen in die Freiheit des anderen zu verhindern — „eine Abgrenzung der Freiheitssphären nach Art der Käfige in der Menagerie, damit die wilden Bestien sich nicht zerfleischen". Er setzt sich dann mit Mills Formel anhand von Beispielen im einzelnen auseinander und weist ihre Unhaltbarkeit nach. Über Bentham sagt Ihering wörtlich: „Einen höchst bedeutenden Fortschritt macht die Erkenntnis des gesellschaftlichen Charakters des Sittlichen mit Bentham. In Deutschland unter dem Einflüsse der der realistisch-praktischen Richtung der Engländer diametral entgegengesetzten ideal-spekulativen Richtung ist derselbe viel zuwenig gewürdigt worden... Bentham war nicht bloß einer der selbständigsten, originellsten Denker, der durch die Fülle und anregende Kraft seiner Gedanken und durch seinen gesunden praktischen Sinn und weittragenden Blick das Studium seiner Schriften in weit höherem Grade bezahlt macht, als dasjenige der Schriften der meisten seiner auf spekulativen Stelzen einherschreitenden . . . Gegner, sondern er hat auch die Ethik um einen Beitrag vermehrt, der ihr meines Erachtens nie wieder verlorengehen kann. Den Gedanken, der bereits bei Leibniz vorübergehend auftauchte: „omne honestum publice utile, omne turpe publice damnosum", und den auch Kant bei seinem „Weltbesten" im Auge hatte, hat Bentham zuerst bewußt und in voller Klarheit erfaßt und ihn unter dem ganz treffenden Namen des Utilitarismus zu einem selbständigen ethischen System ausgebildet." 37 Auch hier kritisiert Ihering, daß Bentham den „vollkommen richtigen Gedanken mit dem völlig irrigen" verbinde, im subjektiv Nützlichen den Maßstab und das Kriterium des objektiv oder gesellschaftlich Nützlichen zu sehen, und dadurch den richtigen Gedanken, der in der Betonung des letzteren lag, wieder preiszugeben. Es sei kein Wunder, daß nach den wuchtigen Schlägen, welche Kant dem Eudämonismus versetzt habe, die Theorie des Sittlichen in Deutschland keinen Boden habe finden können. Wer anhand des kurz skizzierten Interesse-Begriffes den Inhalt des Iheringsehen Werkes durchgeht, wird es nicht übertrieben finden, wenn es in seiner eigenartigen, sofort Aufsehen erregenden Stellung in der Rechtswissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts als „deutscher Benthamismus" bezeichnet worden ist 3 8 . Zwar geht es Ihering nicht wie seinem geistigen Anreger um Fragen der Rechtspolitik und Gesetzgebung, sondern um die Frage der Genesis des Rechts überhaupt, um eine Analyse der Recht erzeugenden, psychischen Kräfte, um die in allen Rechtssätzen und Rechtsanordnungen wirksame Zweckmäßigkeit im Kampf um den Ausgleich zwischen widersprechenden, individuellen und übergeordneten Gesamtinteressen. Die nahe Berührung mit den wissenschaftstheoretischen Grundgedanken des Empirismus und Positivismus hegt ebenso auf der Hand wie der beständige Wechsel zwischen Recht und Sittlichkeit, materiellen und vergeistigten Interessen, einer bei Ihering noch nicht zu ihrem 37 38

v. Ihering : Der Zweck im Recht. aaO. Bd. 2. S. 133 (2. Aufl. S. 170 f.). Jodl aaO. Bd. 2. S. 522.

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gedanklichen Abschluß gekommenen theoretischen Position. Der Rückgriff auf die hinter dem Recht stehenden Zwecke und Interessen, auf das „Leben", bleibt als klares, methodisch verwendbares Prinzip auch dann wertvoll, wenn man die nach Ihering eintretende (nicht mehr wie bei ihm selbst durch einen Nachschein des deutschen Idealismus gemilderte) Materialisierung und Soziologisierung nicht billigt und einräumt, daß die teleologische Methode dazu verführt, Rechtsregeln aus anderen gesellschaftlichen Verhältnissen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft nach den politischen Zweckbegriffen der Gegenwart auszulegen, anstatt die eingetretenen Zweckmetamorphosen (W. Wundt) zu untersuchen und einzubeziehen, oder Rechtssätze vorschnell in ihrer isolierten Zweckmäßigkeit zu betrachten, anstatt sie aus dem — freilich schwer überblickbaren — Ganzen der Rechtsordnung sowie den geschichtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen heraus zu interpretieren, obwohl Zwecke den ihnen innewohnenden Wert nicht aus der wechselnden, konkreten Situation, sondern nur aus einem vorausgesetzten, allerdings ebenfalls wandelbaren, historischen Zweckzusammenhang erhalten können. Die Hoffnung auf eine aus der tatsächlichen Bedürfnisstruktur des Menschen abgeleitete, empirisch begründete, zeitlose Zweckrangordnung ist bis auf den heutigen Tag unerfüllt geblieben 39 . Ihering sieht noch nicht, daß der innere Sinn des Rechts, der geistige Sinnzusammenhang, und der äußere, instrumentale Zweck des Rechts, der auf materiellen Interessen beruhende, funktionale Zweckzusammenhang, auseinandergehalten werden müssen, auch wenn die teleologische Methode „Sinn und Zweck" des Rechts zu ermitteln sucht und beide im Ergebnis in einer höheren Einheit aufgehoben werden müssen 40 . Er ist sich weder des szientistischen, pseudophilosophischen Hintergrundes seiner Zweckjurisprudenz noch der poütischen Folgen bewußt, die sich ergeben, wenn man das Recht an den jeweiligen, wechselnden Zwecken einer historischen Staatsraison festbindet. Denn wenn er auch das Schwergewicht vom Gesetzgeber (als Person) auf die Gesellschaft als das „Zwecksubjekt aller Rechtssätze" verlegt 41 , so macht er sich doch gleichzeitig das Rechtssetzungsmonopol des Staates ausdrücklich zu eigen und erkennt als „Recht" nur die vom Staat aufgestellte Zwangsnorm an 4 2 . Hinter der soziologischen Frage nach der faktischen Wirksamkeit gesetzter Zwecke für die Entstehung des Rechts scheint die philosophische Frage nach dem richtigen oder wahren Zweck des Rechts bzw. nach den möglichen Grundsätzen, die bei seiner Bestimmung beachtet werden müssen, vollkommen zu verschwinden.

39

Vgl. oben S. 203 f. Kritisch zum ständigen Wechsel der Darstellungsweisen Wolf : Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. 4. Aufl. Tübingen 1963. S. 622 ff., 650 f. 41 ν . Ihering aaO. Bd. I. S. 360 (3. Aufl. S. 462). 42 v. Ihering aaO. Bd. I. S. 249 (3. Aufl. S. 320) u. öfter. 40

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5. Die Krise des szientistischen Rechtsverständnisses Iherings Rechtsanschauung wird unbestrittenermaßen zur Grundlage der lnteressenjurisprudenz 43; aus der soziologischen Blickrichtung auf die Gesellschaft als den wahren Urheber des Rechts — der Gesetzgeber ist nur ausführendes Organ — folgt die Forderung Hecks, die den Gesetzen zugrunde liegenden, „kausalen" Interessen zu erforschen („Genetische Interessentheorie"); und aus dem Rechtssetzungsmonopol des Staates ergibt sich zwingend die Anweisung an den Richter, nur dem Gesetz immanente Wertmaßstäbe heranzuziehen, jede Bezugnahme auf außergesetzliche Grundlagen des Rechts, seien es die Natur der Sache, Ethik, Naturrecht oder letztlich die Idee des Rechts, jedoch zu unterlassen 44. So können wir zu Beginn unseres Jahrhunderts auf der neuen, paradigmatischen Grundlage des Szientismus, d. h. eines philosophisch überhöhten Positivismus und Empirismus, drei verschiedene Betrachtungsweisen des Rechts unterscheiden: 1) eine formale, logisch orientierte, die Rechtswissenschaft als eine nichtempirische Disziplin begreifende und deshalb konsequent auf eine allgemeine Rechtslehre ausgerichtete Theorie des Rechts {Kelsens „Reine Rechtslehre" ist der vollendete Ausdruck dieses durch die Neudefinition von Wissenschaft bedingten Gedankens) 45 ; 2) eine empirisch-psychologische Betrachtungsweise (wie etwa die psychologische Rechtstheorie Bierlings) 46 und 3) eine empirisch-soziologische, an der Gestaltung des Rechts interessierte, nach den Inhalten der positiven Rechtsordnung und ihren Beziehungen zu den gesellschaftlichen Kräften und Interessen fragende Rechtsbetrachtung. Alle drei Betrachtungsweisen sind im Laufe unseres Jahrhunderts in eine Krise geraten, weil sie dem Dilemma zwischen erhobenem Wissenschaftsanspruch und der praktischen Forderung nach zuverlässiger, inhaltlicher Bestimmung und ethischer Bewertung des Rechts nicht entkommen konnten. Da aus der empirischen Erforschung der Interessen sowenig wie aus der genetischen Entwicklung von Instituten ein in die Zukunft weisendes Sollen folgt und, von der streng formal verstandenen Logik und Mathematik abgesehen, alles geistige und ideale Sein außerhalb der vom Empirismus und Positivismus anerkannten Erkenntnismethoden liegt, ist ein sich wissenschaftlich verstehender Gesetzespositivismus unvorbereitet und auf die Dauer wehrlos gegen den politischen Machtwillen einer sich ethisch nicht verpflichtet fühlenden Legislative. „ . . . Eine in Jahrhunderten erkämpfte Rechtskultur mußte unterspült und überflutet werden, sobald die im Gesetzesstaat stillschweigend vorausgesetzte, aber nicht garantierte Erwartung dahinfiel, daß der in der Legislative repräsen43 Coing : Benthams Bedeutung für die Entwicklung der Interessenjurisprudenz und der allgemeinen Rechtslehre. In ARSPh 54 (1968). S. 69 ff., 76. 44 Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 4. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1979. S. 51. Anm. 23. 45 Grundlegend hierfür Merkel: Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur „positiven" Rechtswissenschaft und zum allgemeinen Theil derselben. In: Zeitschrift f. das Privat- u. öffentl. R. d. Gegenwart. Wien 1874. S. 1 ff., 402 ff. 46 Vgl. dazu Larenz aaO. S. 42 ff.

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tierte „Gemeinwille" immer ein gerechter Wille wäre, daß Legalität auch Legitimität verbürge. Die kontinentalen Verfassungen haben zwar Grundrechte verkündet, um den Einzelnen oder die Minderheiten gegen den Mehrheitswillen zu schützen, aber für die Kontrolle dieser Sicherungen durch eine unabhängige Gewalt zunächst wenig Sorge getragen . . . Die moralischen Voraussetzungen des Gesetzespositivismus wurden daher bereits erschüttert, als die Interessen mächtiger Gruppen, großer Parteien oder Parteikoalitionen Interessentenrecht schufen, an welches der Richter eben nach den Voraussetzungen des Gesetzesstaates schlechthin gebunden war. Die Entartung des Gesetzespositivismus nach der Zerstörung des Verfassungsstaates wurde freilich im 19. Jahrhundert nicht vorausgesehen. Der Staatsbürger sah vielmehr im Gesetz das feste Bollwerk gegen die Willkür einer obrigkeitsstaatlichen Exekutive, die allein bei der Gesetzgebung an die Mitsprache der Volksvertretung gebunden war." 4 7 Die Krise des Gesetzespositivismus ist also einmal eine Krise der begründenden Kraft des demokratischen Gesamtwillens und seiner politischen Repräsentation; sie ist das Resultat des verlorengegangenen Glaubens an die ethische Legitimation gesetzten Rechts. Diese Einsicht verlangt freilich, zwischen einem legitimen, ethisch fundierten, übergesetzliche Rechtsgrundsätze unbedingt achtenden und einem illegitimen Positivismus zu unterscheiden. Der Kampf gegen die formale Legalität ist ein Kampf gegen die Verbindlichkeit ungerechter Gesetze durch Rückgriff auf die philosophische Frage nach dem richtigen Recht 48 . Die Krise resultiert zum anderen aus der Krise der „Erfahrungswissenschaft" selbst, weil sich ihre ursprünglich als nützlich angesehenen Ergebnisse als ambivalent herausgestellt haben und als alleinige Rechtfertigung von Wissenschaft ohne Abwägung der Folgen nicht länger in Betracht kommen. Diese zweite Einsicht verlangt nach einer Rehabilitierung der Philosophie, und zwar nicht im vordergründigen Sinne einer Wissenschaftstheorie oder Metatheorie wissenschaftlicher Methoden, sondern im Sinne transzendentalphilosophischer Reflexion. 6. Zur Rationalität der juristischen

Interpretation

Es ist an der Zeit, einen Blick auf den Ausgangspunkt dieser geistesgeschichtlichen Betrachtung zurückzuwerfen: Hat sich die Vermutung bestätigt, daß die Rechtfertigung sowohl deskriptiver als auch normativer Theorien lediglich innerhalb bestimmter Lebensformen oder Paradigmen sich überzeugend durchführen läßt und außerhalb derselben sowohl die angewandten Begründungsverfahren als auch die erzielten Ergebnisse ihre intersubjektive „Rationalität" alsbald einbüßen? Die Antwort kann kaum zweifelhaft sein: Wer, wie die Rechtswissenschaftler des Hochmittelalters, von der Autorität überlieferter Rechtstexte zutiefst überzeugt ist und das Corpus iuris wie eine Rechtsoffenbarung behandelt, der wird den mit den Methoden der Grammatik, Logik und 47 48

Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl. Göttingen 1967. S. 460. Wieacker aaO. S. 561 f.

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Semantik erzielten Ergebnissen zumindest grundsätzlich Vertrauen entgegenbringen und ihre Rationalität uneingeschränkt bejahen. Wer dagegen der Überlieferung mißtraut, weil er eine erste Ahnung von der Geschichtlichkeit des Rechts bekommen hat, und statt dessen auf die Kraft der menschlichen Vernunft baut, sie werde die Grundgesetze der menschlichen Gesellschaft schon erkennen und more geometrico entfalten können, der wird mit den üblichen grammatischen und semantischen Explikationen von Textstellen und ihrer Anhäufung in Kommentaren schwerlich zufrieden sein und der aus der aufkommenden Naturwissenschaft entliehenen, resolutiv-kompositiven Methode und den mit ihr erzielten, systematischen Ergebnissen auch im Bereich des Rechts die höhere Rationalität zusprechen. Wer wiederum die Individualität des Menschen und der Völker entdeckt, in ihrem unaufhörlichen Fortschreiten nicht bloß unergründlichen Zufall oder wissenschaftlich unergiebigen Wandel erblickt, die Wahrheit nicht im Einfachen am Anfang, sondern im organisch Gewachsenen und Komplexen am Ende sucht, für den führt nicht die äußerliche, mechanische Entfaltung des Rechts aus ersten Grundsätzen zu rationalen, objektiv verbindlichen Ergebnissen, sondern nur der verstehende Nachvollzug des inneren Entwicklungsganges des Rechts, seiner Institute, Begriffe und Regeln. Wer schließlich weder an ein humanitäres Ziel der Menschheit noch an eine philosophisch begründete Freiheitsethik, noch an die kulturelle Würde der Überlieferung glaubt, sondern nur an das, was sinnlich erfahrbar, in der Anschauung vorhanden und experimentell beweisbar ist, für den kann Recht nur aus dem integrierten, durch Wahlen demokratisch legitimierten Gesamtwillen der modernen Gesellschaften stammen. Zwecke, Ziele, Werte liegen in einem mit wissenschaftlichen Mitteln nicht lösbaren Widerstreit, so daß die Aufgabe des Rechts nur darin besteht, diesen Kampf der Interessen in verfahrensmäßig kontrollierte Bahnen zu lenken und im übrigen den Willen der sich demokratisch durchsetzenden Mehrheit möglichst effektiv instrumental-teleologisch in die Realität umzusetzen. Jedes dieser Rechts-, Wissenschafts- und Methodenverständnisse ist aus menschlicher „Erfahrung" hervorgegangen und deshalb durch „Erfahrung" nicht widerlegbar. Wortgetreue, logisch-systematische, genetisch-systematische, subjektiv- und objektiv-teleologische Rechtsinterpretationen stehen als konkretes Recht schaffende, rationale Methoden gleichberechtigt nebeneinander und beanspruchen doch alle auf Grund ihrer Zuordnung zu einem Paradigma den Vorrang vor den anderen. Der praktisch betriebene Methodensynkretismus ist aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive nur gerechtfertigt, wenn nicht inkommensurable Paradigmen nebeneinander stehen, wenn Rationalität nicht relativ auf geschichtliche Strukturen und historische Bedingungen reduziert ist, sondern wenn die Abfolge der Rechts- und Wissenschaftsverständnisse einen „Fortschritt" einschließt. Ob dies der Fall ist, ob sich die aufgezeigten Lebensformen und paradigmatischen Positionen nicht lediglich revolutionär verdrängt und ersetzt, sondern in Form einer Stufenfolge reduktiv ineinander aufgenommen und evolutionär stetig höher entwickelt haben, kann auf Grund der skizzierten Entwicklung nicht mit Sicherheit beantwortet werden und muß

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selbständigen, auf die geschichtlichen Zusammenhänge genauer eingehenden Untersuchungen vorbehalten bleiben; nach dem ersten Eindruck spricht erheblich mehr für die historische These Thomas Kuhns als für den Fortschrittsglauben des herrschenden Wissenschaftsverständnisses. Jedenfalls ist nach der im ersten Teil dargelegten, erkenntnistheoretischen Position nicht zweifelhaft, welcher Methode in welchem Sinne nach Ansicht des Verf. der Vorrang gebührt; wobei freilich sofort anzumerken ist, daß die hohe Einschätzung des methodischen Verfahrens gegenüber dem Inhalt des Hergestellten und Erfahrenen ihrerseits auf einem Wissenschaftsverständnis beruht, das keineswegs mehr ohne weiteres akzeptiert werden kann. Nicht nur das methodisch Gesicherte — wenn dies auf dem Gebiet praktischer Rechtsanwendung überhaupt möglich ist —, sondern auch das „immer schon" Gewußte und das geschichtlich Erfahrene darf Anspruch auf Rationalität erheben, sofern die unabdingbaren Voraussetzungen wissenschaftlicher Kommunikation gewahrt sind. 7. Das höchste Ziel Es ist das Verdienst der Utilitaristen und der Iheringschen Zweckjurisprudenz, in neuer Weise auf das alte Problem einer durch die praktische Philosophie geführten Staatslehre aufmerksam gemacht zu haben, nämlich darauf, daß das staatlich-politische Handeln ein Unterfall der Lehre vom menschlichen Handeln ist, weil der Staat nicht als scheinrationaler Dienstleistungsbetrieb der unpolitischen und irrationalen, individuellen Existenz gegenübersteht, wie die instrumentalistische Staatslehre seit Hobbes annimmt, sondern als ein „großgeschriebener Mensch" {Piaton) zu betrachten ist 4 9 . Die Wissenschaft vom menschlichen Handeln zielt, wie wir gesehen haben, auf ein Wissen um die geschichtliche Situation des Handelnden, um die Mittel, mit denen ein Handlungsziel zweckrational erreicht werden kann, und auf ein Wissen um die Handlungsziele selbst. Empirisch zeigt sich nur, was weder den genannten Utilitaristen noch Ihering entgangen ist, daß der Mensch Ziele erstrebt, weil er sie für sich, seine Angehörigen oder die Gesellschaft, in deren Namen er handelt, als erstrebenswert und gut ansieht. Diese das Handlungsziel begründende Werthaftigkeit wird jedoch, wenn man nur auf die empirisch feststellbaren Interessen schaut, durch die divergierenden Auffassungen sofort wieder in Frage gestellt, so daß man über die Feststellung des faktischen Wertes eines konkreten Handlungszieles durch Bezug auf einen anderen, höherwertigen Zweck nie zu einer gültigen Wertrangordnung kommt; kann doch jeder als höchstes Ziel gesetzter Wert seinerseits wieder, was seine Rationalität angeht, durch „fundamentalere" Ziele in Frage gestellt werden. Die Bemühung um die Begründung der Rationalität von Handlungszielen führt also zwangsläufig über das empirisch Erfahrbare hinaus zur Frage nach dem wahrhaft Guten und Gerechten und erweist so die philosophische Dimension jeder praktisch orientierten Wissenschaft. 49 Vgl. Matz: Staat. In: Hdb. philos. Grundbegriffe. Hrsg. v. Krings, Baumgartner und Wild. Studienausgabe Bd. 5. München 1974. S. 1403 ff., 1410 f.

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Richtig ist jedoch, daß die Antwort auf die Frage nach dem Guten und Gerechten nicht abstrakt aus ersten Vernunftprinzipien abgeleitet werden kann, sondern daß rationales Handeln geschichtlich, d. h. immer an bestimmte, empirisch zu ermittelnde Bedingungen gebunden ist. Es gibt folglich keine rationalen Inhalte, Zwecke oder Ziele „an sich", weil sich ihr Anspruch, immer und überall zu gelten, nicht begründen läßt; es gibt nur situationsbezogene Werturteile im Rahmen eines „immer schon" vorhandenen, historischen Systems privater und öffentlicher Zwecke 50 . Es ist daher sinnlos, einzelne Ziele getrennt auf ihre Rationalität zu befragen, ohne sich zugleich den geschichtlichen Gesamtzusammenhang, in dem gehandelt werden soll, bewußt zu machen, auch wenn zuzugeben ist, daß dies praktisch ein sehr anspruchsvoller (und wahrscheinlich nur für wenige gangbarer) Weg ist. Die Rationalität des Gesamtzusammenhangs, in welchem jeder Handelnde privat und öffentlich notwendig eingeschlossen bleibt, weil man ihn nicht verlassen kann und Leben „immer schon" Leben in einem Ganzen bedeutet, diese Rationalität besteht wesentlich in der Herstellung von Sinn bzw. Harmonie; hier liegt der letzte Grund für das wissenschaftliche Streben nach Einheit und systematischer Durchdringung. Der Grad der Rationalität hängt ab vom Grad der Systematisierung und optimalen Übereinstimmung des Ganzen, wobei wieder zu beachten ist, daß vorhandene, reale Widersprüche nicht einfach beseitigt, sondern im Hegeischen Sinn dialektisch „aufgehoben" werden müssen. Entsprechend rechtfertigen sich die von der Entscheidungstheorie dem Handelnden zur Verfügung gestellten Gesetze, Regeln und statistischen Hypothesen nur in dem umfassenderen, praktischen Gesamtzusammenhang, in dem sie verwendet werden; auch ihre Rationalität ist lediglich eine situationsbezogene und nicht an ihrer methodischen Zuverlässigkeit, sondern daran zu messen, in welchem Grade sie selbst sich systematisch einordnen lassen51. Der Verdacht, der Rückgriff auf das Gute und Gerechte, auf Ethik und Naturrecht, gefährde den „Rechtsfrieden", beruht auf einem instrumenteilen Mißverständnis des Staates als einer institutionellen Apparatur zur Kanalisierung eines Machtkampfes zwischen einer Vielzahl von Interessenverbänden und Gruppen 52 ; wo die Rechtsordnung, d. h. sowohl die politischen Institutionen als auch das materielle, die Interessenkonflikte schlichtende Recht, als Resultat des politischen Machtkampfes ihre relative Eigenständigkeit verliert, verkümmern die Begriffe „Recht" und „Frieden" einerseits zu einem bloßen Instrument zwangsweiser Durchsetzung auswechselbarer, partikularer Interessen, andererseits zu einem Zustand bloßer Ruhe. Der instrumental verstandene Staat verwaltet einen notwendig in sich rechtlosen Machtprozeß; ein Rechtsmaßstab jenseits der Staatsgewalt würde sie kritisierbar machen und damit in ihrem 50 Hübner. Kritik der wissenschaftlichen Vernunft. Freiburg/München 1978. S. 392 ff.; zur Entwicklung der Wertphilosophie und zum Scheitern des Wertapriorismus Schnädelbach: Philosophie in Deutschland. 1831-1933. Frankfurt/M. 1983. S. 198 ff. 51 Hübner aaO. S. 393. 52 Matz aaO. S. 1405 unter Hinweis auf Bentley, Munroe, Lasswell und Kent.

IV. Gesetzespositivismus und Rechtsbegründungsproblematik

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Bestand gefährden; Ursache und Maß des Rechts kann nach dieser Auffassung nur der menschliche Wille bzw. der Wille der jeweils Herrschenden sein; das Recht ist bloße Funktion der Macht 5 3 . So findet sich auch bei Ihering die Behauptung, daß die Gewalt die Quelle des staatlichen Rechts und das Recht nur jene besondere Art der Gewalt sei, die sich des Vorteils bewußt geworden ist, der im Maßhalten liegt 54 . Er sieht allerdings auch, daß gegen die Behauptung der den Staat Beherrschenden, der Friede sei genau der Rechtszustand, den sie als organisierte Macht gerade produziert haben, sich das „Rechtsgefühl des Volkes", d.h. das objektive Rechtsbewußtsein aufrecht erhält, daß ein sozialer Zustand unter dem Aspekt einer „höheren, guten Ordnung" durchaus als Unfrieden und institutionalisierte Gewaltordnung erscheinen kann, und bezeichnet „die Furcht der Staatsgewalt vor der Reaktion des nationalen Rechtsgefühls als die letzte Garantie der Sicherheit des Rechts" 55 . Bedingung eines wahren Rechtsfriedens ist die Gerechtigkeit, d. h. die Anerkennung einer übergesetzlichen Rechtsidee; Frieden ist nicht die bloße Abwesenheit von Gewalt, sondern eine gerechte, soziale Lebensordnung, in welcher jeder aus dem Fonds der gesamtgesellschaftlichen Früchte das erhält, was ihm zusteht (suum cuique), und die Befriedigung der berechtigten Ansprüche aller die Harmonie des Staatswesens konstituiert; dies ist freilich ein immerwährender, stets neu zu erfüllender Auftrag an den empirischen Rechtsverstand. Wenn also am Ende die Aufgabe eines teleologischen Rechtsverständnisses erfüllt werden soll, so darf man nicht (wie der Neukantianismus) bei der Annahme einer formalen Rechtsidee verharren, sondern muß versuchen, ihr immer von neuem einen materialen, durch den Vorbehalt besserer Einsicht bedingten Gehalt zu geben. Dafür scheint mir eine Aufarbeitung sowohl der transzendentalphilosophischen Begründungsproblematik von Freiheit (Gleichgerechtigkeit) als auch der empirisch-anthropologischen Ermittlungsproblematik menschlicher Bedürfnisse im Rahmen und unter der Bedingung eines vertraglich gesicherten, gesellschaftlichen Zusammenschlusses (Sach- und Verteilungsgerechtigkeit) der richtige Weg zu sein. Recht als Inbegriff verwirklichter Freiheit {Heget) kann als normative Verpflichtung ohne Rückgriff auf einen transzendentallogisch gerechtfertigten Freiheitsbegriff und seine immanente Gesetzlichkeit nicht begründet werden. Aus der empirischen Ermittlung von Interessen folgt zwar die Feststellung von Wertobjekten und eine unter verschiedenen, geschichtlichen Bedingungen wechselnde Rangordnung von Objektwerten, aber keine normative Verbindlichkeit; sie muß deshalb entweder äußerlich durch (staatliche oder gesellschaftliche) Sanktionen erzwungen oder als ethisch gefordert (als Pflicht) von allen begriffen werden. Freiheit gründet auf der sich bewußt gewordenen, autonomen Vernunft und der Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der Welt; als zu gesetzmäßigem Handeln verpflichtende Selbstbestimmung wird sie zur Grundlage des Rechts, weil sie jedem Vernunft53 54 55

Matz aaO. S. 1407. Vgl. v. Ihering: Der Zweck im Recht. aaO. Bd. I. S. 240 ff., 296 ff. v. Ihering aaO. S. 298.

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D. Rechtswissenschaft als Abfolge von Paradigmen

wesen das gleiche Maß an kategorisch verpflichtender Freiheit zubilligt. Aus Freiheit folgt die Anerkennung der Würde der Person des Mitmenschen, die Gleichordnung samt den Regeln des Ausgleichs, die Gleichgesetzlichkeit, die Rechtfertigung des Eigentums als notwendiger Sicherung der Existenz und individuellen Unabhängigkeit u. a. mehr. Aus der Anerkennung von Freiheit durch Freiheit rechtfertigen sich prinzipiell die Normen des Straf-, Privat- und Prozeßrechts. Freiheit läßt sich jedoch empirisch nur in Gemeinschaft mit anderen verwirklichen: das ist der Kern des alten Gedankens vom Menschen als Sozialwesen und seine Rechtfertigung. Ohne sprachliche Kommunikation und arbeitsteilige Kooperation mit anderen gibt es keinen Lernprozeß und also auch keine individuelle Entfaltung. Der Mensch als Sozialwesen unterliegt faktischen Abhängigkeiten, die seine Freiheit über die Gleichgesetzlichkeit und -Ordnung hinaus weiter einschränken. Insoweit menschliches Leben nur durch Teilhabe an der Gesellschaft möglich ist, ergibt sich zwangsläufig der Primat der Gesellschaft und ihrer Ziele; daß zwischen den gedanklichen Extremen des Kollektivismus und des Individualismus jedoch eine Vermittlung möglich (und nötig) ist, hat Hegel in seiner Rechtsphilosophie überzeugend darzulegen gewußt 56 . Aus der Sicht der Teleologie des Handelns, die auch für eine philosophische Staatslehre die Grundlage bildet, ist das Gesamtsystem „Staat" ein übersummatives Ganzes, das alle seine Teil- und Subsysteme integriert, indem es die Widersprüche, die keine „Krankheit", sondern ein produktives, die Gesellschaft bewegendes Element sind, in höheren Einheiten aufhebt. Aus dem Fundamentalkonsens aller Staatsbürger, in einem Staat zusammenleben zu wollen, ergibt sich die Zielvorgabe des Gemeinwohls als oberstem Zweck notwendig ausgeübter Herrschaft. Nur im unhistorischen Blickwinkel nominalistischer Kritik erscheint dieser Begriff (wie derjenige des Guten und Gerechten) als „Leerformel" oder Mengenbezeichnung, weil sie in der Einheit der geschichtlichen Erfahrung, welche sich in den ausgearbeiteten Subsystemen der Existenz-, Friedens- und Rechtssicherung, der Pflege der biologischen, ökonomischen und geistigen Energiequellen des Staates, der Planung und Daseinsvorsorge manifestiert, keinen Sinnzusammenhang zu sehen vermag, der als selbständige Qualität transpersonale Identität und ein Richtmaß begründet. Reflexiv gewonnene, vernünftige Einsicht in die Abhängigkeit von der Entwicklung des Ganzen (egoistisches Motiv) und in den Sinn bzw. Wert des Staates (transpersonales, altruistisches Motiv) befreit vom subjektiven Ausgangspunkt des individuellen Interesses und führt zu staatsbürgerlicher Verantwortlichkeit.

56

Vgl. oben S. 168 ff.

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Mittenzwei

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2*

averzeichnis Abstimmungsparadoxon 135 Allgemeinsätze 247 f. Anthropologie 157 ff., 258, 353 f. Auslegung - historisch-systematische 229, 253 ff. - logisch-grammatische 329 ff., 343 - logisch-systematische 229, 241 ff. - objektiv-teleologische 229, 267 ff. - subjektiv-teleologische 229, 261 ff. - teleologische 13 f., 23, 46, 91 - wortgetreue 229, 230 ff. Bayessche Regel 113 Bedürfnis 14 f., 138, 158 f., 202 ff., 206 Begriffsjurisprudenz 250, 380 Bernoulli-Prinzip 133, 136 Bewußtsein - als einheitsstiftende Instanz 42 f. - Erscheinung 27 ff. - Reflexion 40 f., 61 f., 363 f. - Sprache 93 -Wirklichkeit 27 ff, 364 ff. Determinismus 56 f. Dialektik 70 ff, 84 ff, 374 f. - Logik 87 ff, 344 f. - R e c h t 171 f , 177 - Sprache 80 ff. - S y s t e m 345 ff. Dichotomie 345 ff. Diskurs - Eröffnung 194 ff. - Regeln 180 ff. Dogmatik 99, 103 f , 252 Emotivismus 138 ff. Empirismus 30, 32, 362 ff, 383 ff. Entelechie 53 f , 56, 65 ff, 374 Entscheidungssystem 119 ff. Entscheidungstheorie 47 f , 109 ff, 136 f. - deskriptive 110 f. - normative 111 ff.

Erfahrung 26, 29, 39 f , 251, 369, 394 — als Wissenschaftskriterium 381 ff. Erkenntnis 26 ff, 62, 362 ff. — empiristische Kritik 362 ff. Ethik — Anthropologie 157 ff. - Begründung 141 ff, 149 ff, 159 f. - D i s k u r s 181 ff. — Emotivismus 138 ff. - Konfliktbewältigung 178 ff. - Pflicht 150 f. — Skeptizismus 145 ff. - Sozialethik 161 f , 201 f , 385 f. - Utilitarismus 160 ff, 385 ff. Finalität 51, 55 ff. — finales Denken 47 ff. — Finalnexus 49 — Intention 31, 239 Freiheit 149 ff, 155 ff, 265, 360, 389 -Herrschaft 15 f. -Substanz des Rechts 169ff, 379f, 397 f. Geisteswissenschaft 257 f. Gemeinsinn 72, 174, 236, 267, 355 Gerechtigkeit 14 f , 64, 206 ff, 395 ff. - Gleichgerechtigkeit 324, 397 - Sachgerechtigkeit 324, 397 - Systemgerechtigkeit 324 - Tugend 208 ff. Geschichte - inneres Gesetz 23, 371 ff. Gesetz - B i n d u n g 16, 229, 262, 269f. - K r i s e 323f, 392f. - Ordnungsfunktion 268 - u. Recht 16 ff. - Steuerungsfunktion 268 - Willensäußerung 270 - Z w e c k 263 f , 266, 269 Glossatoren 325 ff.

Sachverzeichnis Hempel-Oppenheim-Schema 52 Hermeneutik 205, 375 ff. — dialektische 317 — juristische 269 ff. Historische Rechtsschule 255 ff, 371 ff, 377 ff. Historismus 255 f , 381 Idealismus — absoluter 42, 258 — formaler 38 f. — materialer 26, 28 Imperativ — kategorischer 153 f , 165 — praktischer 198 — theoretischer 198 Institutionen Justinians 254 Interesse 387 ff. lnteressenjurisprudenz 14, 242 f , 249, 392 Intervallskala 127 f. Kausalität 38, 48 ff, 151, 360, 367 Kausaltheorie — interventionistische 52 f. Kulturwissenschaft 203 ff, 257 f. Legitimation — von Recht und Staat 15 f , 36, 174 ff, 210 ff, 213, 215, 264, 392 f. Letztbegründung 142, 149 ff, 159 f. Logik 70 ff, 87 ff. — aristotelische 70 ff, 87 ff, 334 f. — deontische 182 — induktive 294 — ramistische 343 ff. — Schulrichtungen 341 f. Materialismus 28, 38 Mehrheitsprinzip 261, 264 f. Methode — dialektische 45, 70 ff, 76 ff. — grammatische 230 ff, 329 ff, 343 — historisch-systematische 253ff,37 Iff. — logisch-deduktive 274 — naturwissenschaftliche 52, 356 ff. — objektiv-teleologische 267 ff. — scholastische 329 ff, 343 — subjektiv-teleologische 261 ff. — systematische 241 ff, 345 ff, 378 f. Minimax-Prinzip 113

437

Mittel u. Zweck 15, 49 f , 109 ff. Moralprinzip 165 ff, 192 f , 197 f. Naturrecht 17 f , 22, 35 f , 59 f , 158 ff, 254, 338 f , 352 ff, 360 ff, 368 Normgenese 202 ff. Nützlichkeit 15, 125 ff, 352, 354, 390 — Nutzenindex 132 — Nutzenmessung 133 — Nutzenskala 133 Paradigma 276 ff, 279 ff, 312 ff. — Wechsel 284 ff, 288, 322 ff, 340 f. Pflicht 150 f. Positivismus -juristischer 19, 98f, 370, 393 — logischer 32 — wissenschaftlicher 383 ff. Prädikation 23Iff, 362 -Extension 23 I f f , 313 - I n t e n s i o n 233ff, 313 Präferenzordnung 125 ff. — gesamtgesellschaftliche 133 ff. — kardinale 127, 132 — ordinale 127, 134 f. — probabilistische 133 Präferenzsystem 114 f., 119, 132 Präferenztheorie 125 ff. Problemdefinition 120 ff. Quaestionenlehre 330 ff. Rationalismus 30, 257 -kritscher 293 ff, 302 f. Rationalität 108 ff, 228, 262, 312, 396 — Entscheidungstheorie 111 ff, 136 f. — juristische Methode 393 ff. — Kritik 124 f , 301 — materiale 139, 215 — Präferenzordnung 126 f. — Sozialwahlen 131 ff. — Theorienwahl 301 ff. Realismus 42 — erkenntniskritischer 27 Realität 31, 361 f. Recht - D o g m a t i k 103 ff, - E t h i k 211 ff. — u. Gesetz 16 ff. — richtiges 36, 165, 212 f , 324, 373 — Sittlichkeit 168 ff, 173 ff. -Verständnis 325 ff.

438

averzeichnis

- als wissenschaftlicher Gegenstand 97 ff. - Zwang 391, 397 - Zweck 23, 206, 264, 271 Rechtsfortbildung 261 f., 270 f., 324 Rechtsidee 14, 22, 64, 207, 210, 397 Rechtswissenschaft 95 ff., 124 f., 213, 254, 263, 367 ff. - humanistische 342 f. - Krise 322 ff. - Normalwissenschaft 318 ff. - als Paradigmafolge 325 ff. - systematische 345 ff. Reflexion 40 f. Rhetorik 71, 217, 330 ff. Selbsterhaltung 159 f., 388 Semantik 217, 231, 240 f., 334 ff. Semiotik 217, 230 Sinnkriterium - empirisches 218 f. - logisches 219 f. Skalendilemma 130 f. Sozialwahlen 131 ff. Spieltheorie 115 ff. Sprache - Analyse 34, 217 f., 224 f. - Bezeichnungsfunktion 216 ff. - Dialektik 80 ff. - Geist 61, 82 f. - Kalkül 218 f., 222 - logische Form 220 f. - Metasprache 34, 40, 231 - Objektsprache 230 f. - Orthosprache 179 f. - S p i e l 223 ff., 281 Staatsidee 176 f., 326 System - A n a l y s e 122 f. -Begriff25, 241 ff., 251 - Begriffssystem 345 ff. - Entwicklung 177 - historisch-genetisches 254, 372 ff. - inneres 61, 64, 67, 242, 270 ff., 373 ff. - kulturelles Regelsystem 315 ff. - offenes 20, 252, 385 - Ordnung 242 f. - aus Prinzipien 22, 241, 244 Teleologie - Auslegung 13 f., 23, 46, 91, 267 ff. - Denken 45 ff, 62, 68 f., 271 f., 374 f.

- Dialektik 86 f. - Finalität 51, 55 ff, 261 ff. - formale 108 ff. - Metaphysik 56 f., 272 - Verstehen 317 Topik 71 f , 330 ff. Utilitarismus 14 f., 160 ff, 385 ff. - individualistischer 160 ff. - Sozialwahltheorie 134 Verhältnisskala 127 f. Vernunft 74 f., 149 f., 228 - Gesetzgebung 152 f. - P r i n z i p 165 ff, 191 ff. - ratio recta 353 f. - Sprache 216 Vulgata 326 f. Wahrheit 24, 29, 61, 219, 338, 344 - Ganzheit 44, 46, 67, 244, 359 - Geist 64 - Innerlichkeit 66 f. - Urteilswahrheit 65 f. - Wahrheitskriterium 247, 358 f. -Wirklichkeit 65 f., 358 f. Wahrnehmung 27 Fn. 8, 118, 363 f. Wahrscheinlichkeit 128 ff. Wert - Begründung 141 ff, 149 ff. - D i s k u r s 180 ff, 191 ff. - F r e i h e i t 63 f., 149 ff. - Hierarchie 48, 132, 202, 395, 397 - Ordnung 20 f., 132, 142 f. - Pluralismus 196 ff. - Skala 126 - Verwirklichung 57, 270 - Zweckpräferenz 21, 63, 125 ff., 261 Wesen 66, 257, 361 f. Wiener Kreis 31 f., 293 Wissenschaft - außerordentliche 283 ff, 308 ff, 322 ff. - Begriff 25,94 f., 106 f., 245,249,273 f., 382 -Erfahrung 382ff. - Fortschritt 288 ff, 298, 312 ff, 384 f. -historische 22f., 371 ff. - Konventionalismus 293, 296 f. - K r i s e 285f., 339ff, 362ff, 381 ff, 392 f. -Normalwissenschaft 275ff, 299ff, 303 ff, 318 ff.

Sachverzeichnis - systematische 22, 243 ff, 378 f. - Theorie 33 f , 273 ff, 291 ff, 311 ff Wortsinn(-bedeutung) 235 f. -Extension 231 ff, 313 - I n t e n s i o n 233ff, 313 Zweck - Heterogonie 147 f. - höchstes Ziel 14, 142,202,261,395 ff.

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- u . Mittel 15, 49 f., 109 ff. - objektiver 35, 174 f , 272 -Rangordnung 114f., 119, 206, 263, 267, 391 - im Recht 23, 206, 264, 271, 398 f. - u. Wert 21 - Zweckmäßigkeit 68 f. - Zwecktätigkeit 46 ff, 55 ff, 271 f.