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German Pages 390 [391] Year 2016
Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hg.) Technisierte Lebenswelt
Edition Kulturwissenschaft | Band 70
Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hg.)
Technisierte Lebenswelt Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik
Gefördert durch das Institut für Philosophie und das Institut für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).
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Inhalt
Einleitung Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai & Julia Knifka | 9
L ebensräume Zwischen blow up und Prothese. Gedanken zur Rolle der Technik in der Architektur Elisabeth Bergmann | 35
Neuartige Benutzerschnittstellen für Smart Homes Daniel Pathmaperuma | 55
Körper und Mode. Wahrnehmungsmöglichkeiten technisierter Umwelt Viola Hofmann | 71
K örperwelten Körper im/als Schaltkreis. DIY-Apparaturen und audiovisuelle Praktiken sinnlicher Wahrnehmung Robert Stock | 89
Roboter(proth)et(h)ik: Bionic legs und Exoskelette im Spannungsfeld von Roboterprothesen und Politik Florian Braune | 105
Quantified-Self-Technologien als Indikatoren für die Cyborgisierung des Menschen Marie Lena Heidingsfelder | 125
Leib und Lebenswelt im Zeitalter informatischer Vernetzung Klaus Wiegerling | 139
M edienkulturen Ist der Cyborg in der Realität angekommen? Mobile Medien und Mensch-Maschinen als Elemente des Alltags Bianca Westermann | 159
Thanatographie 2.0. Technologien memorialer Praktiken Ramón Reichert | 173
Veränderte Sprache – Sprachwandel?! Wirkt sich die internetbasierte Kommunikation auf die Sprache aus? Monika Hanauska | 189
GoPro-Vision und involvierter Blick: Neue Bilder der Kriegsberichterstattung Florian Krautkrämer | 209
M öglichkeitsräume Personen verwalten oder Personen sein (müssen)? Normen der Privatheit (nicht nur) in der digitalen Kommunikation Tobias Matzner | 227
Von Quallen-Katzen und Spinnen-Ziegen. Narrative Vernunft und Neogefahren lebendiger Technik Bruno Gransche | 243
Das Wahr-Werden der technischen Welt. Prolegomena zu einer Philosophie des iGestells Klaus Birnstiel | 259
Ästhetik technischer Praktiken im Science-Fiction-Film Natascha Adamowsky | 277
T echniknarrative Der gläserne Mensch in Dave Eggers’ The Circle Szilvia Gellai | 289
»Die Sehmaschine«. Artificial Intelligence und die Ästhetik technischer Überwachung in der T V-Serie Person of Interest Kai Löser | 309
Von autonomen Maschinen und der Kontrolle des Spiele(r)s: Mensch-Technik-Verhältnisse im Computerspiel Martin Hennig | 325
Beyond the Uncanny Valley. Inszenierung des Unheimlichen als Wunsch- und Angstbilder in der Serie Echte Menschen – Real Humans Marie-Hélène Adam & Julia Knif ka | 341
»Wir Phantasten sind die einzigen Realisten«. Interview mit Thomas Le Blanc über das Projekt Future Life – We read the Future Annegret Scheibe | 367
Autorinnen und Autoren | 381
Einleitung Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai & Julia Knif ka
D iskursfelder und Tr ansformationsprozesse Die Technisierung der Lebenswelt gehört als Befund zu den Klischees der Gegenwart. Umso relevanter erscheinen daher fachübergreifende und differenzierende Annäherungen an das Phänomen. Das vorliegende Buch bietet beispielhafte Erörterungen zu aktuellen Entwicklungen, die das Verhältnis von Mensch und Technik grundlegend verändern und Figurationen hervorbringen.1 Die Transformationen vollziehen sich auf zwei wesentlichen Diskursfeldern: im Verhältnis des Menschen zur Natur zum einen und in den gemeinschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander zum anderen.2
1 | Ein theoretisches, philosophisches Projekt, welches in einem bestimmten Sinne die Entstehung von Figurationen zum Gegenstand hat, ist E. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen: In diesem Werk zeigt sich, wie Welt durch kollektive symbolische Formen zugänglich gemacht und gedeutet wird. Die symbolischen Formen, zu denen neben Sprache, Mythos und Wissenschaft u.a. auch Technik gehört, sind nicht nur untereinander vernetzt, sondern begründen gleichzeitig konkrete menschliche Beziehungen und führen zur Herausbildung und Tradierung von Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Vgl. einleitend: E. Cassirer: Versuch über den Menschen sowie ders.: Form und Technik. Weiterführend: Ders.: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1-3. 2 | Mit dieser Bestimmung sind zugleich zwei zentrale Untersuchungsfelder der Kulturwissenschaft abgesteckt. Vgl. K. Hansen: Kultur und Kulturwissenschaft, S. 16.
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Was das erste Feld betrifft, so bedient sich der Mensch schon immer technischer Artefakte und Verfahren, um die Natur zu ergründen, zu beherrschen und zu gestalten. Die naheliegende »klassische Vorstellung von Technik als Inbegriff der Mittel«3 hat allerdings durch die enormen Fortschritte der Informations-, Bio- und Nanotechnologien in den letzten zwei Jahrzehnten an Evidenz verloren. Als überholt gilt nicht mehr nur die Idee von Technik als bloßem Mittel zweckgerichteter, poietischer Handlungen4, sondern auch die Vorstellung von technischen Produkten als klar abgrenzbaren vermittelnden Elementen zwischen Mensch und Lebenswelt. »[D]ass der Mensch mit der Technisierung der Lebenswelt nicht nur diese gestaltet oder verunstaltet, sondern auch sich selbst«5, erlangt angesichts neuester invasiver Technologien eine besondere Brisanz. Technologie- und Wissensmagazine sowie (populär-)wissenschaftliche Zeitschriften6 präsentieren in rascher Folge immer neuere Beispiele für die gegenseitige Durchdringung von Mensch und Technik. Ein Teil dieser Themen wird auch in diesem Band erörtert. Freilich geht das thematische Spektrum weit darüber hinaus und reicht etwa von Wearable-Computing-Systemen, die inzwischen beliebige Körperflächen in Touchscreens verwandeln können7, über elektronische Tattoos der medizinischen Diagnostik zur Aufzeichnung und Überwachung von Hirnaktivitäten8 bis hin zu optogenetischen Hirn-Schnittstellen.9 Folgt man den glanzvoll bebilderten Erzählungen über die neuen ›Mittel‹, Tendenzen und Machbarkeiten der hochtechnologischen Selbstgestaltung 3 | Ch. Hubig: Virtualisierung der Technik, S. 146. 4 | Marshall McLuhans vielzitierte These darüber, dass Medien (gemäß seiner Auffassung im weitesten Sinne) keine neutralen technischen Mittel sind, sondern schon immer über gesellschaftliches Transformationspotenzial verfügen (vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 18) ließe sich etwa mit der enormen sozialen Bedeutsamkeit von Steinäxten in der Yir-Yoront-Kultur illustrieren. Vgl. Th. Fischermann/G. v. Randow: Rettet uns die Technik?, S. 25. 5 | W. Krohn: Technik als Lebensform, S. 17. 6 | Beispielhaft verwiesen sei auf Technology Review, WIRED, Terra Mater, New Scientist (2012-2013). 7 | Es geht um das tragbare Projektionssystem OmniTouch. Vgl. P. Glaser: Wie ein Teil von uns, S. 68. 8 | Vgl. S. Reardon: Ein Pflaster liest Gedanken, S. 23. 9 | A. Lacroix: Unternehmen Unsterblichkeit, S. 29.
Einleitung
und Selbstoptimierung, ist das »Mängelwesen« Mensch10 offenbar dabei, zum Designer seines Körpers, zum »Architekten seiner Identität«11 , zum Schöpfer seines Selbst aufzusteigen. Wie auch immer man derartige Entwicklungen im Einzelnen bewerten mag, erzeugen sie in den Geisteswissenschaften einen steigenden Bedarf an Reflexionsfiguren und Konzepten, die dem Umstand, dass die »vormals als außen gedachte Technik […] verstärkt auch nach innen, in die innere Natur des Menschen verlagert [wird]«12, gerecht werden. So verwundert keineswegs die momentane Konjunktur der von Donna Haraway maßgeblich geprägten Denkfigur des Cyborgs,13 die ursprünglich dazu berufen war, althergebrachte Dualismen westlicher Provenienz – wie Mensch/Tier, Mensch/Maschine, Körper/Geist, Objekt/Subjekt etc. – zu unterminieren. In gängigen Diskursen dient der Begriff aber vielfach dazu, eine informationstechnologisch begründete Zukunftseuphorie anzuheizen, die die cartesische Polarität zwischen res extensa und res cogitans oft weiter verschärft.14 Das von Nicole Karafyllis vorgeschlagene Konzept der Biofakte setzt (wie Cyborgs) ebenfalls beim technisch erweiterten Körper an, akzentuiert und fordert dabei aber das spezifische Moment des Wachstums. Biofakte sind Lebewesen, die, obwohl sie eine technische Zurichtung erfahren haben, wachsen; »aber sie sind in ihrem Wachsen und Werden nicht autonom, d.h. eigengesetzlich«.15 Eben hier, in der begrifflichen Verunsi-
10 | Arnold Gehlen hat die These vom Menschen als Mängelwesen in Anschluss an Herder entwickelt, vgl. A. Gehlen: Der Mensch, S. 20; 32f. 11 | So bezeichnete sich die ›Prothesengöttin‹ Aimee Mullins in ihrer TED-Lecture. Vgl. K. Harrasser: Körper 2.0, S. 23. 12 | N. Karafyllis: Biofakte, S. 17. 13 | Vgl. D. Haraway: Ein Manifest für Cyborgs. 14 | Karin Harrasser sieht in der üblichen Verwendung des Cyborg-Begriffes (stellvertretend z.B. bei L. Clark: Wir Cyborgs) v.a. die Verabsolutierung der körperlichen gegenüber der sozialen Komponente kritisch, da auf diese Weise das originär Subversive der Denkfigur verloren gehe. Vgl. K. Harrasser: Körper 2.0, S. 13-15. Das andere Extrem besteht in der Absolutsetzung des Bewusstseins, wie dies etwa von den Anhängern des Konzepts der technologischen Singularität praktiziert wird. Vgl. A. Lacroix: Unternehmen Unsterblichkeit, S. 28. 15 | N. Karafyllis: Biofakte, S. 15.
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cherung der Autonomie des Wachsens liege, so die Autorin, die Grenze zum Technischen, in dem anstelle der Eigendynamik Programme walten. Wenngleich sowohl Cyborgs als auch Biofakte die problematisch gewordene »Grenze zwischen Lebendigem und Technischem«16 begrifflich zu fassen erlauben, kommt als theoretisches und methodisches Konzept des vorliegenden Bandes weder das eine noch das andere in Frage:17 Erstens, weil sie den Aspekt technologisch manipulierter Körperlichkeit nicht im Kontext des Zwischenmenschlichen sehen und anzusiedeln erlauben. Zweitens, weil beiden Termini die scheinbare Unabhängigkeit in sich abgeschlossener Systeme anhaftet. Demgegenüber zieht die Technisierung der Lebenswelt aus unserer Sicht Transformationsprozesse nach sich, die – wie auch Dierk Spreen bemerkt18 – neben der Ebene der körperlichen Erfahrung auch die von zwischenmenschlichen Interaktionen betreffen. Prüft man die sozialen Beziehungen auf ihre technologische Durchdringung hin, sind nämlich nicht minder einschneidende Veränderungen und Verunsicherungen festzustellen. Diese beschränken sich keineswegs allein auf Formen der Kommunikation. In der Tat prägen den Alltag der Gegenwart vornehmlich Phänomene der umfassenden Digitalisierung, welche das Selbstverständnis des Einzelnen wie der Vielen massiv verändern.19 Inzwischen werden jedoch auch Pfade beschritten, die außer dem mediatisierten Austausch von Kollektiven auch ihre Zusammensetzung beeinflussen könnten, und zwar dahingehend, dass nicht nur humane Akteure an ihnen teilhaben.20 Die Kommunikation und Interaktion 16 | D. Spreen: Der Cyborg, S. 167. 17 | Nichtsdestoweniger räumen wir dem Cyborg einen wichtigen Platz in den aktuellen theoretischen Debatten ein. Vgl. hierzu Bianca Westermanns Beitrag. 18 | D. Spreen: Der Cyborg, S. 167. 19 | Die Frage der Digitalisierung wird derzeit in den Geisteswissenschaften von zahlreichen Forscherinnen und Forschern aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Um nur einige Beispiele jüngeren Datums zu nennen vgl. K. Wiegerling: Philosophie intelligenter Welten; M. Bunz: Die stille Revolution; S. Turkle: Verloren unter 100 Freunden; R. Reichert: Die Macht der Vielen. 20 | Dem Gedanken, dass Handlung nicht per se ein menschliches Privileg darstellt, sondern ihre Auffassung als ein solches erst in der dualistisch aufgestellten Moderne entstanden ist, kommt eine zentrale Stellung in Bruno Latours Ansatz bzw. in der Akteur-Netzwerk-Theorie zu. Vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie. Die ANT geht, jenseits gängiger Dichotomien argumentierend, von ›Kollektiven‹ aus, zu denen menschliche und nicht-menschliche Akteure (Aktanten) miteinander im
Einleitung
mit robotischen Systemen ist stellenweise bereits im Alltag angekommen. Man denke beispielsweise an mit Spracherkennungssoftware ausgestattete Smartphones21 oder auch an soziale Roboter, die als Lösung für den personellen Notstand in der Pflege gelten. Nach Sherry Turkle werden diese intelligenten Artefakte von ihren Nutzern heute schon vielfach als Ersatzmenschen behandelt 22, wobei diese Beobachtung mögliche »Technikzukünfte«23 zu antizipieren gestattet. Solche und ähnliche, in diesem Rahmen in ihrer Fülle nicht einmal annähernd erfassbare Tendenzen verdeutlichen, dass Technik zunehmend als festes Konstituens des Menschen24 verstanden und ihr das Potenzial zugeschrieben wird, ins soziale Miteinander einzurücken. Manche dieser Entwicklungen werden nach und nach in »das Universum der Selbstverständlichkeiten«25 eingehen und dadurch unsere Lebenswelt grundlegend verändern.
L ebenswelt und F igur ationen ›Lebenswelt‹ ist längst nicht mehr der transzendental-phänomenologische Terminus, wie ihn Edmund Husserl in seinem Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936)26 erfasste, sondern hat sich zu einem paradigmatischen Begriff der Handlungsvorgang verschmelzen und die »unser anthropozentrisches Verständnis von Handlung [destabilisieren]«. (H. Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 78.) Da wir es aber zwischenzeitlich vermehrt auch mit intelligenten Artefakten und Geräten zu tun haben, meinen wir diese Prozesse der Destabilisierung besser mit dem Figurationsbegriff fassen zu können. 21 | S. Turkle: Im Gespräch mit Thomas Schulz, S. 66. 22 | S. Turkle: Verloren unter 100 Freunden, S. 203. Diese Akzeptanz trifft und konsolidiert die kühnsten Visionen der Robotik, »ein perfektes Menschimitat zu erschaffen« (Th. Vašek: Maschinen wie wir, S. 146), das uns nicht nur beim Einsatz in verstrahlten Atomreaktoren, sondern bald auch in alltäglichen Arbeitsfeldern vertreten können soll. Vgl. auch K. Kelly: Sind Roboter die besseren Menschen? 23 | Vgl. A. Grunwald: Technikzukünfte. 24 | Vgl. S. Münker: Ich als Netzeffekt. 25 | H. Blumenberg: Lebenswelt, S. 27. 26 | Vgl. E. Husserl: Die Krisis.
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Gegenwart entwickelt, der durch verschiedene philosophische Traditionen aufgegriffen und verändert wurde.27 Dieser Band knüpft an das von Alfred Schütz mundanisierte Konzept 28 von Lebenswelt an. In diesem Verständnis bezieht sich der Begriff auf die »Totalität der Natur- und Sozialwelt«29, die der Mensch als schlicht gegeben vorfindet und als »alltägliche Wirklichkeit«30 erfährt. Das fraglose Erleben dieses »vornehmliche[n] und ausgezeichnete[n]«31 Wirklichkeitsbereiches impliziert jedoch nicht seine Unveränderbarkeit. Im Gegenteil: Die alltägliche Lebenswelt ist jene Region, in die der Mensch »eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt«32 . Sie wird damit zu demjenigen Raum, in dem transformativ gewirkt wird, bedeutet also »Schauplatz« und »Zielgebiet«33 des menschlichen Handelns zugleich: »Wir handeln und wirken folglich nicht nur innerhalb der Lebenswelt, sondern auf sie zu. Unsere leiblichen Bewegungen greifen in die Lebenswelt ein und verändern ihre Gegenstände und deren wechselseitige Beziehungen.« 34
Ein invariantes Strukturmerkmal der Lebenswelt, welches schon für die Husserlsche Ausprägung des Begriffes charakteristisch war, ist ihre 27 | Die ideengeschichtlichen Einflüsse, wie »die Subjektivierung des Weltbegriffs seit Kant in ihrer Bedeutung für Husserls Lebensweltbegriff« sowie die anthropologischen, soziologischen und konstruktivistisch-wissenschaftstheoretischen Anschlüsse an diesen, rekonstruiert R. Welter: Der Begriff der Lebenswelt. Zu den phänomenologischen Wurzeln und den Dimensionen der Husserlschen ›Lebenswelt‹ sowie unterschiedlichen Fassungen des Begriffes u.a. bei Hans B lumenberg, Alfred Schütz, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann vgl. die umfassende Darstellung von B. Waldenfels: Lebenswelt. Vgl. auch: N. Psarros: Der Begriff der Lebenswelt; B. Waldenfels: In den Netzen der Lebenswelt; R. Sierra: Kulturelle Lebenswelt. 28 | Vgl. D. Šuber: Die soziologische Kritik, S. 477. 29 | A. Schütz: Strukturen der Lebenswelt, S. 32. 30 | Ebd., S. 31. 31 | Ebd., S. 29. 32 | Ebd., S. 29. 33 | Beide ebd., S. 32. 34 | Ebd., vgl. auch S. 29f.
Einleitung
grundlegende Bezogenheit auf das Subjekt 35: Jedoch verweist die Lebenswelt bereits bei Husserl auf eine »intersubjektiv vergemeinschaftete Erfahrung«36, d.h., dass das Subjekt immer schon in Gemeinschaft mit anderen zu denken ist. Schütz enthebt die Lebenswelt der transzendentalen Sphäre und mundanisiert sie.37 So ist »[d]er vergesellschaftete Mensch«, der die Lebenswelt in dynamischen, pragmatischen Prozessen wirkend gestaltet, »eine Vorgegebenheit der Welt- und Selbsterfahrung«.38 Zum Modus der Ermächtigung und der Veränderung der alltäglichen Lebenswelt gehören technische Praxen, »die mit poietischem Handeln oder den Resultaten des poietischen Handelns zu tun haben«.39 Die Rede von einer ›technisierten Lebenswelt‹ soll demnach verdeutlichen, dass unsere alltägliche Wirklichkeit auf technischen Praxen basiert, die unsere Welt- und Selbsterfahrung verändern, respektive eine Veränderung derselben ermöglichen.40 Wir richten die Aufmerksamkeit auf die 35 | Vgl. auch E. Ströker: Einleitung, S. xxi. Husserls Konzeption der Konstituierung der Welt ist auf dem Boden der Subjektivität begründet, wohingegen es zum Beispiel im amerikanischen Pragmatismus (Dewey) keine »universelle Subjektform geben [kann], sondern allenfalls soziohistorische, und d.h. eben letztlich kontingente soziale Definitionen dessen, was ein Subjekt, ein Individuum […] ausmacht«. Vgl. Keller: Der menschliche Faktor, S. 90. Zu Husserl und Theorien im Anschluss an diesen vgl. C. Meßner: Das Subjekt als Horizont. 36 | E. Husserl: Cartesianische Meditation, S. 110. 37 | Mit Daniel Šubers Worten wird somit »Husserls ›Primat des Bewusstseins‹ durch den ›Primat der Sozialität‹ substituiert[…].« Vgl. D. Šuber: Die soziologische Kritik, S. 477. 38 | A. Schütz: Strukturen der Lebenswelt, S. 542. Vgl. auch D. Šuber: Die soziologische Kritik, S. 447. 39 | A. Grunwald: Technisches Handeln und seine Resultate, S. 192. Vgl. auch D. Hartmann/P. Janich: Methodischer Kulturalismus. 40 | Aus technikhistorischer Perspektive betont auch Martina Hessler die Wichtigkeit der Aufgabe, »das Mensch-Technik-Verhältnis auf der Ebene der menschlichen Erfahrungen, der täglichen Routinen und Praktiken zu beschreiben« (M. Hessler: Die technisierte Lebenswelt, S. 279), argumentiert aber bewusst auf der Basis der Husserlschen Fassung der Lebenswelt, um damit die technische Vermitteltheit des Weltzuganges bzw. »Mensch und Technik als Handlungseinheit« (Ebd., S. 276) zu fokussieren. Wir folgen ihr zwar insofern, als wir die Prozesshaftigkeit des technischen Wandels in den Blick nehmen wollen. Jedoch geht es uns weniger
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Lebenswelt des Alltags, ihre Transformation und Bedingtheit durch technische Entwicklungen, welche sowohl neue Möglichkeitsräume eröffnen als auch auch Risiken bergen. Die durch neue Technologien entstehenden Interferenzen, Abhängigkeiten und Verflechtungen zwischen Mensch und Technik wollen wir in Anlehnung an Norbert Elias mit dem Begriff der Figuration fassen. Der Terminus wurde ursprünglich als Korrektiv zeitgenössischer soziologischer Theorien eingeführt und wurde erst unlängst in der Kommunikationsund Medientheorie aufgegriffen.41 Wir knüpfen an das originäre Konzept an, mit dem Elias der Auffassung, die das Individuum als ›außerhalb‹ der Gesellschaft existierend betrachtet, gegenzusteuern gedachte.42 Der Figurationsbegriff sollte die soziologische Dichotomie von Individuum und Gesellschaft auflösen und jene dynamischen Interdependenzgeflechte beschreiben, die soziale Beziehungen kennzeichnen.43 um den Prozess der Vermittlung in der Handlungseinheit von Mensch und Technik, sondern um Prozesse der Grenzverschiebung – quasi um Verschiebungen der M itte – zwischen ihnen, denen wir uns mit dem Figurationsbegriff annähern wollen. Für technikphilosophische Betrachtungen der technisierten Lebenswelt siehe u.a. W. Kogge: Das Maß der Technik; W. Krohn: Technik als Lebensform; Ch. Hubig: Virtualisierung der Technik. 41 | Kommunikative Figurationen stehen im Fokus des Interesses des gleichnamigen, von den Universitäten Bremen und Hamburg initiierten Forschungsverbundes. Sie begreifen kommunikative Figurationen »als musterhafte, medienübergreifende Interdependenzgeflechte von Kommunikation […], in denen und durch die Menschen ihre soziokulturelle Wirklichkeit und deren symbolischen Bedeutungsgehalt konstruieren.« Vgl. die Beschreibung des Forschungsansatzes auf www.kommunikative-figurationen.de. Unter Figurationen werden weiterhin Netzwerke von Individuen verstanden, wiewohl Seitenblicke auf die Akteur-Netzwerk-Theorie bestätigen, dass Geräte »als (mit-)handelnde Objekte« (A. Hepp: Die kommunikativen Figurationen, S. 105) gleichsam »darauf warten, eine Figuration zu erhalten«. Hepp zitiert hier Bruno Latour: Eine neue Soziologie, S. 123f. 42 | N. Elias: Über den Prozess der Zivilisation, S. 54; ebenso: Ders.: Was ist Soziologie?, S. 141. Stefan Bertschi bietet einen systematischen Vergleich von Elias Konzept mit ähnlichen Ansätzen z.B. bei Georg Simmel und Niklas Luhmann. Vgl. S. Bertschi: Im Dazwischen, besonders: S. 207-248. 43 | Es geht ihm zugleich um die Positionierung der Soziologie als Wissenschaft.
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Zur Veranschaulichung dieser dynamischen, sich wandelnden Verflechtungen der Menschen wählt Elias die Metapher des Spiels und des Tanzes und zeigt zweierlei auf: Zum einen, dass das Individuum und die Gesellschaft keine voneinander unabhängigen Sondergebilde sind, sondern dass Individuen ihre Bedeutung – ebenso wie bei einem Tanz 44 – erst in der Pluralität und in der miteinander vollzogenen Handlung erhalten. Zum anderen soll die Umschreibung der Figuration als »Spielgefüge« die Bedeutungsebene des »Spannungsgefüges« etablieren: In dieser Kontextualisierung erscheint die Figuration als ein sich »wandelnde[s] Muster, das die Spieler als Ganzes miteinander bilden, also nicht nur mit ihrem Intellekt, sondern mit ihrer ganzen Person, ihrem ganzen Tun und Lassen in ihrer Beziehung zueinander.«45 Dieser Aspekt von Beziehungen bildet sich auch in gesellschaftlichen Tänzen ab: Obwohl die gleichen Tänze von unterschiedlichen Individuen ausgeführt werden können, bedarf ein Gesellschaftstanz in jedem Fall Partner, die zu- und miteinander tanzen. Der Vergleich richtet den Blick auf die Beweglichkeit und Dynamik, die Figurationen eigen sind.46 »Das Geflecht der Angewiesenheit von Menschen aufeinander, ihre Interdependenzen sind das, was sie aneinander bindet. Sie sind das Kernstück dessen, was hier als Figuration bezeichnet wird, als Figurationen aufeinander ausgerichteter, voneinander abhängiger Menschen.« 47
Die Abhängigkeit verweist auf die dynamischen Machtgefüge zwischen Individuen. Figuration ist demnach als ein »Beziehungsbegriff«48 zu verstehen, dessen Zweck es ist, die interdependenten Handlungen, die das menschliche Miteinander ausmachen, hervorzuheben. Mit dieser begrifflichen Relationsbestimmung von Individuum und Gesellschaft sowie der Akzentuierung von Abhängigkeit und Dynamik reagiert Elias nicht nur auf die seines Erachtens inadäquate soziologische Theoriebildung, sondern auch auf das statische Menschenbild des homo clausus.
44 | N. Elias: Über den Prozess der Zivilisation, S. 71. 45 | N. Elias: Was ist Soziologie?, S. 142. 46 | N. Elias: Über den Prozess der Zivilisation, S. 71. 47 | Ebd., S. 70. 48 | N. Elias: Was ist Soziologie?, S. 143.
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Elias hinterfragt die Selbstverständlichkeit des im homo clausus fixierten Bildes, nach dem sich Menschen »als im Innern von allen andern Wesen und Dingen abgeschlossene, völlig auf sich gestellte Individuen erleben«49, die wie »durch eine unsichtbare Mauer von dem, was ›draußen‹ vor sich geht, abgetrennt«50 sind. In dieser anthropologischen Zuschreibung wird die Vorstellung der Leibnizschen Einzelmonaden ebenso reproduziert wie die im cartesianischen Denken verankerte, der menschlichen Selbsterfahrung zugrundeliegende radikale Trennung von Innen- und Außenwelt. Dabei könnte sich nach Elias diese als ewig und selbstverständlich hingenommene Grunderfahrung lediglich als ein Typ der Selbsterfahrung erweisen, »der für eine bestimmte Stufe in der Entwicklung der von Menschen gebildeten Figurationen und der diese Figurationen bildenden Menschen selbst charakteristisch ist«.51 Da der Figurationsbegriff als sprachliches und theoretisches Werkzeug zwischen Individuum und Gesellschaft sowie zwischen Innen und Außen ansetzt, um diese jeweils miteinander zu verbinden, eignet er sich in hohem Maße für Überlegungen, welche die derzeitigen Grenzverschiebungen im Verhältnis von Mensch und Technik adressieren. Diese Verschiebungen bedeuten vielfach eine Öffnung des homo clausus, und zwar nicht nur weil neue Technologien einem förmlich auf und in den Leib rücken, sondern weil sie neuartige Kollektive generieren. Dies ist, um beim Körper zu bleiben, bei Bodyhackern ebenso der Fall wie bei selbsternannten Cyborgs. Bei näherer Betrachtung verschiedener subkutaner Praktiken der Selbstveränderung zeigt sich allerdings auch oft, dass diese trotz der Manipulation der Körpergrenzen mit einem dichotomischen Menschenbild verknüpft sind: Die formale Auf brechung des »Selbst im Gehäuse«52 geht durch die Absolutsetzung der Körperlichkeit mit einer ideellen Schließung einher. Diese gegenläufigen Tendenzen lassen sich an Soziotechniken wie Quantified-Self-Technologien ebenfalls veranschaulichen. Der menschliche Körper wird hier im Kontext der Lebenspraxis erfasst. Die individuelle Datenerfassung erfolgt mit dem Wunsch, Selbsterkenntnisse zu gewinnen und diese mit anderen zu teilen. Die neuen technologischen Möglichkeiten zur Quantifizierung der körperlichen Natur entthronen 49 | N. Elias: Über den Prozess der Zivilisation, S. 52. 50 | Ebd., S. 64. 51 | Ebd., S. 59. 52 | Ebd., S. 57.
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das Innere, das Geistige. Diese Denkweise stabilisiert das ohnehin vorherrschende naturwissenschaftlich-mechanistische Weltbild, das in körperlichen Messwerten als Instrumente der Selbsterkenntnis Gestalt annimmt. Dabei zeichnet sich der Versuch ab, sich durch die exakte Berechnung des Außen neu zu erfahren, das Innere durch das Außen zu erklären. Die biologischen Beschränkungen des Menschen haben zwar seit jeher Einfluss auf seine Selbstauffassung gehabt, aber »was ihn biologisch definiert, erschöpft seine Möglichkeiten nicht als Mensch.«53 Umgekehrt kennzeichnet die besagte reduktive dualistische Denkart auch jene trans- und posthumanistischen Diskurse, die das Innere und Geistige verabsolutierend Leib und Sterblichkeit technologisch zu überwinden propagieren.54 Ein wesentlicher Grund für diese teils immer noch vorhandenen Polaritäten dürfte die dem Menschen eigene Verschränkung von Natürlichkeit und Künstlichkeit sein. Als grenzrealisierendes Wesen zeichnet sich der Mensch nach Helmuth Plessner dadurch aus, eine selbstbezügliche Position einnehmen und somit das eigene Erleben reflektieren zu können.55 Aus dieser Fähigkeit der Selbstdistanzierung, der sogenannten exzentrischen Positionalität, ergibt sich für ihn allerdings die Notwendigkeit »künstlicher Grenzziehungen«56, was unter anderem durch poietisches Handeln, durch Artefakte und durch die Aneignung der Welt mittels Technik geschieht. Diese natürliche Künstlichkeit des Menschen sowie die Unmöglichkeit, »die Grenze zwischen natürlichem und künstlichem Sein präzise festlegen zu können«57, führen aber dazu, dass er sich selbst und seinen Mitmenschen verborgen bleibt, ein Geheimnis, ein homo absconditus. Selbst wenn er sich die Welt durch sein Tun aneignet, wird er sich »nie ganz in seinen Taten erkennen – nur seinen Schatten, der ihm vorausläuft und hinter ihm zurückbleibt, einen Abdruck, einen Fingerzeig auf sich selbst.«58 Der Einsatz neuester Technologien steht ver53 | H. Plessner: Homo absconditus, S. 143. 54 | Vgl. S. Selke: Die Spur zum Menschen wird blasser, S. 27-28. 55 | Vgl. H. Plessner: Die Stufen des Organischen; sowie Ders.: Homo absconditus. Die methodische Überwindung der Innen-Außen-Dichotomie war sowohl für Plessner als auch Elias ein zentrales Anliegen. Für eine Engführung ihrer Entwürfe vgl. K-S. Rehberg: Positionalität und Figuration. 56 | Vgl. J. Fischer: Exzentrische Positionalität, S. 278. 57 | O. Mitscherlich: Der Mensch als Geheimnis, S. 6. 58 | H. Plessner: Homo absconditus, S. 144.
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mutlich mehr denn je für das menschliche Unterfangen, sich »in den Griff [zu bekommen]«.59 Dass aber Technik nicht nur neue Möglichkeiten dafür bietet, dem eigenen Geheimnis auf die Spur zu kommen, sondern dabei auch neue Abhängigkeiten generiert und das soziale Miteinander nachhaltig beeinflusst, steht außer Zweifel. Wie genau die Interdependenzgeflechte durch Technik verändert werden, ob Technologien zum festen Bestandteil der (bislang menschlichen) Figurationen avancieren werden und welchen Platz der Mensch sich selbst in der technisierten Lebenswelt einräumt – es sind diese Fragen, die beispielhaft in den einzelnen Beiträgen des Bandes aus der Sicht von unterschiedlichen Disziplinen weiter diskutiert werden. Dabei wird eine thematische Bewegung vom Außen des Menschen in sein Inneres vollzogen, um die gegenwärtigen Realisierungen, Verschiebungen und Dynamiken der Grenze im Mensch-Technik-Verhältnis zu analysieren und für künftige Untersuchungen Anhaltspunkte über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik zu liefern.
L ebensr äume Die Transformationen unserer Lebenswelt sind in vielerlei Formen präsent: Die sich rasant entwickelnden technologischen Neuerungen erzeugen neue kulturelle Praktiken, gesellschaftliche Debatten sowie mediale Produkte und Berichterstattungen, in denen die Problemstellungen den konkreten Erfindungen oft vorauseilen. Die Beiträge setzen an den technologischen Erscheinungen von Lebensräumen und den alltäglichen Praxen an. Neben den Bereichen der Kommunikation und der Mobilität gilt vor allem das Wohnen als Indikator für eine zunehmende Technisierung unseres Alltags. Doch sind es tatsächlich spektakuläre technische Effekte, die die Häuser der Zukunft prägen? Elisabeth Bergmann hinterfragt kritisch die Rolle von Technik in der Architektur und lotet dabei aus, wie gerade durch eine technische Durchdringung unseres Wohnraums eine neue Nähe zur Natur erreicht werden kann. Statt einer gewaltsamen Überformung der Natur durch Artefakt und Elektronik sieht Bergmann in einer ›natürlichen Technik‹ das Potential für eine Architektur der Zu59 | Ebd., S. 141.
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kunft, die eine harmonische Mimese des Natürlichen darstellt und auf aktuelle und zukünftige Bedürfnisse der Bewohner ausgerichtet ist. Neue Technologien strukturieren und bedingen darüber hinaus die innere Raumerfahrung. Daniel Pathmaperuma gewährt Einblick in hoch entwickelte User Interfaces, über die wir uns in das Steuerungssystem eines Smart Home einschalten können, einer intelligenten häuslichen Umgebung, die ihre Funktionen bereits im Grunde selbstständig kontrolliert. Maximale Nutzerfreundlichkeit und Flexibilität der diversen Anwendungen stehen im Vordergrund und sollen dazu beitragen, vor der Herausforderung einer drohenden Energiekrise neue Strategien zu entwickeln. Wo Mode und Technik Konvergenzen eingehen, verschwimmen die Grenzen zwischen Innen und Außen zu technisierten Transgressionsräumen: Viola Hofmann zeigt, dass nicht nur die Haut als Fläche taktiler Erfahrung zur gestalt- und programmierbaren Oberfläche wird, sondern dass innovatives Mode- und Textildesign den ganzen Körper involviert. An dieser Schnittstelle formiert sich durch subjektive Körperlichkeit und objektivierten Technikdiskurs ein experimenteller Erfahrungsraum, der es erlaubt, technische Szenarien zu erproben und diese sich sowohl mental als auch physisch anzueignen.
K örperwelten Mit der Einschreibung neuer Technologien in den Körperdiskurs oder gar ganz materiell in den menschlichen Körper selbst befassen sich die folgenden Untersuchungen des Bandes. Robert Stock bezieht sich auf die Subkultur der Bodyhacker, die technische und oft subkutane Implantate zum integralen Bestandteil ihres Körpers machen und sich deshalb als Cyborgs begreifen. Stock situiert Bodyhacking als Phänomen vor allem im Spannungsfeld zwischen dem Ausgleich körperlicher Mängel (z.B. in Form neuartiger prothetischer Implantate) und der Erweiterung oder sogar Überwindung vormals naturgegebener menschlicher Grenzen. In Form einer Do-it-yourself-Kultur artifizieller Körperaufrüstung tritt hier ebenfalls der Experimentalcharakter des Körpers in den Vordergrund, der sich für intrakorporale Techniken öffnet. Auch Florian Braune stellt seine Ausführungen zu robotischen Prothesen und Exoskeletten als diskursive Schnittstelle von Robotik, Medi-
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zin und Politik in den Kontext letztlich auch moralischer Fragen nach technologischer Machbarkeit und ihren ideologischen Konsequenzen. Schutz, Optimierung und Regenerierungschancen des menschlichen Körpers durch Robotik bergen nicht nur die Gefahr einer undurchsichtigen Fremdbestimmung von außen, sondern auch einer erhöhten Toleranz gegenüber kriegerischen Auseinandersetzungen. An diesen diskursiven Aspekt der Selbstoptimierung des »Mängelwesens« Mensch60 schließen auch die von Marie Heidingsfelder beleuchteten Quantified-Self-Technologies an: Technische Artefakte wie portable Messgeräte oder Systeme zur selbstbezogenen Datenerhebung ermöglichen dem Menschen einen datenbasierten Zugang und so eine neue Form der Erkenntnis über sich selbst sowie die Maximierung der eigenen Ergebnisse im Wettbewerb mit anderen. Die eigene Lebensführung kann so am Diktat der technischen (Selbst-)Überwachung ausgerichtet werden, damit optimierte Werte erzielt werden, sei es im Bereich der physischen Gesundheit, der körperlichen Fitness oder des Empfindens von Glück. Die Frage, inwiefern sich in den technologischen Veränderungen und Erweiterungen menschlicher Lebenswelt zugleich eine Steigerung und ein Verlust von individueller oder kollektiver Autonomie überlagern, ist für das ganze Spektrum der in diesem Band versammelten Untersuchungen zentral und öffnet einen Horizont weiterer Fragestellungen, die in die Matrix unserer zeitgenössischen Kultur eingeprägt sind: Wie sublimiert sich dieses Spannungsverhältnis in Form von kulturellen Praktiken oder spezifischer Wissenschaftsdiskurse? Und welche Strategien menschlichen Umgangs mit Technik einerseits, aber auch technischer Weiterentwicklung andererseits resultieren aus dieser Ambivalenz von gesteigerter Selbstbestimmung und zunehmender Fremdbestimmung durch Technik? Auch Klaus Wiegerling sieht das Verhältnis von Körperlichkeit und Lebenswelt unter dem Einfluss von intelligenten Technologien im Wandel begriffen: Körperfunktionen werden ubiquitär steuerbar, als Folge löst sich die natürliche Widerständigkeit des Körpers auf – so wird er letztlich zum integrativen Bestandteil eines intelligenten, technischen Metasystems. Dies führt einerseits zu einem erweiterten Horizont von Handlungsmöglichkeiten, aber auch zum Diktat des technisch Überformten und Perfektionierten, das zur neuen Norm erhoben wird. 60 | Vgl. Anm. 10.
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M edienkulturen Die Beiträge dieses thematischen Panels spüren den Korrelationen von neuen Technologien und menschlicher Selbsterfahrung nach. Es wird deutlich, dass sich die Tendenz einer zunehmenden Technisierung lebensweltlicher Bereiche an diskursiven und praktischen Ausformungen von Netz- und Maschinenwelten zeigt. Bianca Westermann schließt an die Cyborg-Debatte an und wirft die Frage auf, inwiefern sich moderne Kommunikationstechnologien wie Smartphones oder Tablets als Cyborg-Technologien klassifizieren lassen. Sie schlägt vor, den Cyborg-Begriff über subkutane Mensch-Technik-Verschmelzungen hinaus um eine funktionale Ebene zu erweitern, auf der ein zur Kommunikation genutztes Smartphone als temporäre Konstituente des Körpers gewertet wird. Die kulturelle Attraktivität des weitgefassten Cyborg-Begriffs besteht neben der Erfassung seiner Transformativität in seinem Potential zur Irritation, das auf gegenwärtige Entwicklungskontexte und Konfliktfelder der Technikdiskurse verweist. Die Auswirkungen neuer digitaler und sozialer Medien auf kulturelle Praktiken werden in Ramón Reicherts Aufsatz über Thanatographie im Social Web deutlich. Virtuelle Friedhöfe, Gedenkstätten oder Kondolenzseiten führen nicht nur zu einer Transformation der Rituale und Orte von Trauer und Erinnerung, sondern stilisieren Tod und Trauer auch zu Faktoren von Entertainment in der virtuellen Welt. Die Frage, was mit dem Facebook-Profil eines Verstorbenen passiert, wenn Datenschutz und kollektive Trauerbewältigung kollidieren, ist nur ein Beispiel für zahlreihe Leerstellen im Bereich eines virtuellen Lebens nach dem Tod. Im Zusammenhang mit diesen Grauzonen und bedeutungsoffenen Möglichkeiten der Virtualität muss die vernetzte Gesellschaft noch Strategien entwickeln. Die Geschichte sprachlichen Wandels ist untrennbar verknüpft mit der Entwicklung neuer Techniken und Technologien. Ein halbes Jahrtausend nach dem Eintritt in das Gutenberg-Zeitalter fokussiert Monika Hanauska die Bedeutung moderner Massen- und Kommunikationsmedien und ihres Gebrauchs durch Sprachnutzer auf die sprachlichen Normen unserer Gegenwart. Besonders instantane, schriftbasierte Medien wie Chats oder Messaging-Systeme werden häufig als Faktor für die Degeneration sprachlicher Kompetenzen gesehen. Hanauskas Untersuchungen illustrieren, dass vielmehr divergierende Schreibpraktiken existieren, die sich
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abhängig von Faktoren wie Kontext, Intention und Zielgruppe zwischen normativer Schriftsprache und konzeptioneller Mündlichkeit verorten. Mit neuen Techniken und Medien des Sehens rückt bei Florian Krautkrämer erstmals eine dezidiert visuelle Technik in den Fokus. Seit den Revolutionen des arabischen Frühlings sind Amateur- und Handyfilme als Dokumentation dieser politischen Prozesse auf sozialen Plattformen, aber auch in traditioneller medialer (Fernseh-)Berichterstattung weit verbreitet. Krautkrämer situiert dieses neue Genre an der Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichem Raum, zwischen den an der politischen Aktion beteiligten Körpern als Erweiterung des physisch präsenten Sehenden, was den Eindruck unmittelbarer und unmanipulierter Bilder erzeugt.
M öglichkeitsr äume Die Veränderung unserer Lebenswelt ist nicht nur bedingt durch die materiell präsenten, physisch wirkenden Techniken selbst: Technikwelten sind auch und insbesondere Möglichkeitsräume, da sie dadurch bestimmt werden, wie wir Technik und Mensch jeweils und in ihrem Verhältnis zueinander definieren und imaginieren. Dieser Fragestellung tragen jene Aufsätze Rechnung, die eine dezidiert epistemologische und ontologische Perspektive auf den Themenkomplex einnehmen. Die zunehmende Digitalisierung der Alltagswelt durch neue Kommunikationstechnologien und die schier unendlichen Facetten des Social Web schufen neben der Euphorie einer partizipativen Kultur auch die Furcht vor dem gläsernen Menschen und eines totalen Verlusts der Privatsphäre. Doch sind wir nur offline privat und ist es wirklich der Weg in die Digitalität, der uns erst transparent und einsehbar werden lässt? Tobias Matzner bestreitet diese duale Struktur und konstatiert, dass wir die Erscheinungen unserer selbst grundsätzlich in Abhängigkeit von Bedeutungshorizonten gestalten, für die spezifische Normen gelten. Matzner ergründet in seinen Untersuchungen die besondere Bedeutung von Privatheitsnormen im Kontext digitaler Kommunikation. Bruno Gransche legt den Fokus auf den Zusammenhang von Technik, utopischen Denktraditionen sowie von der Relation menschlichen Handelns zu Gefahren und Risiken Er formuliert dabei unter Bezugnahme auf den durch Günther Anders geprägten Begriff des »invertierten
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Utopisten« die These, dass zeitgenössische und künftige Technologien unsere Gesellschaft vor die Herausforderungen neuartiger Neogefahren stellen und uns mit entsprechenden unabsehbaren Effektgesamtheiten konfrontieren. Ein Bewältigungsmechanismus kann im Entwickeln von Strategien bestehen, die Unvorstellbares in Vorstellbares transformieren, um nicht a priori im Stadium eines Technik-Traumas zu stagnieren. Mit Blick auf gegenwärtige Technologien entwickelt Klaus Birnstiel Heideggers Philosophie des Gestells in Anknüpfung an zeitgenössische Techniktheoretiker zu einer Philosophie des iGestells weiter. Er argumentiert, dass nicht mehr die starren Technologien des Industriezeitalters, sondern vielmehr die kleinen, anpassungsfähigen, virtualitätsaffinen, omnipräsenten Technologien, sogenannte »flüssige Technik«, unseren Alltag bestimmen, sich gar »mit menschlichen Seinsweisen verschränk[en]«. Aus dieser Beobachtung heraus formuliert er Vorbemerkungen zu einer künftigen Technikphilosophie.
Techniknarr ative Der Begriff der Möglichkeitsräume indiziert bereits eine semantische Nähe zu narrativen, fiktionalen Welten der Science-Fiction, die den letzten Untersuchungsschwerpunkt des Bandes bilden. Szilvia Gellai nimmt Dave Eggers’ dystopischen Roman The Circle zum Anlass, um sich dem gläsernen Menschen als einem typischen Akteur der Gegenwart zu nähern. Inspiriert durch den amorphen Stoffzustand des Glases und insbesondere durch dessen non-ergodischen Charakter, fokussiert sie den Zusammenhang, der zwischen den Bewegungsmustern, den Freiheitsgraden und der Berechenbarkeit der Figuren besteht. In ihrer Romananalyse zeigt sich nicht nur, dass der gläserne Mensch bei Eggers »freiwillig zu jener Projektion erstarrt, die sich aus seinen Daten berechnen lässt«, sondern auch, dass der amerikanische Autor mit der revolutionären Utopie eines Lebens im Glashaus gänzlich aufräumt. Kai Löser unterzieht am Beispiel der Fernsehserie Person of Interest eine extrapolierende und fiktionale Umsetzung von intelligenter Überwachungstechnik einer eingehenden Analyse und hinterfragt die Strategien der filmisch-ästhetischen Inszenierung maschineller Beobachtung. Die Sehmaschine der Serie durchdringt nicht nur visuell die Gegenwart der narrativen Welt, sondern berechnet im Sinne des Pre-crime aus den gesammelten Daten
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zukünftige Verbrechen und macht diese somit vermeidbar. Vor dieser Folie verhandelt das Narrativ die psychologische und politische Konstitution einer Gesellschaft, die zwischen steter Fremd- und Selbstbeobachtung zunehmend sowohl zum Material als auch zum Interaktionspartner der Algorithmen technischer Systeme wird. In der Analyse von Martin Hennig wird das Medium des Computerspiels thematisiert. Hennig zeigt verschiedene Ausgestaltungen und Tendenzen der dort figurierten Mensch-Technik-Verhältnisse auf. Er sieht im Medium des Computerspiels nicht nur die Realisierung eines selbstreferentiellen Technikbezugs, sondern auch die Entfaltung technischer Szenarien und Dystopien. Diese umfassen technische Körpermodifikationen, den Trend zu Öko-Technologien und Einschränkungen räumlicher Erfahrung in Systemen technischer Überwachung im Videospiel. Natascha Adamowsky befasst sich mit dem Genre des Sciene-Fiction-Films aus kulturwissenschaftlicher Perspektive und legt dabei den Fokus insbesondere auf die Ästhetik technischer Praktiken. In einem Vergleich der beiden RoboCop-Versionen aus den Jahren 1987 und 2014 fragt sie nach Verschiebungen hinsichtlich der Inszenierung von Technik und ihren kulturellen Bedeutungshorizonten. Tritt der RoboCop der 1980er Jahre als mythologisch aufgeladener und mit unermesslicher körperlicher Stärke ausgestatteter Superheld auf, der in seinem Roboterkörper gefangen seine eigene Menschlichkeit zurückzuerlangen versucht, werden im Remake neue Akzente gesetzt: Adamowsky sieht den RoboCop des 21. Jahrhunderts als Schutzphantasie einer vernetzten, technologisch durchdrungenen und überwachten Gesellschaft, in der die Autonomie von der Kontrolle über die eigenen Daten abhängt und titanische Heldenfiguren es selbst sind, die uns vor ihrem eigenen Gefährdungspotential schützen. Die Figur des künstlichen Menschen dient im fiktionalen Geschehen häufig als Projektionsfläche menschlicher Affekte und Eigenschaften sowie einer Ambivalenz von Vertrautheit und Entfremdung. In der Interaktion mit Androiden oder Robotern erfahren sowohl die künstlichen als auch die ›echten‹ Menschen eine ontologische Bestimmung, in der es möglicherweise sogar zu Akzentverschiebungen kommen kann. Der Untersuchung dieser Fragestellung widmen sich Marie-Hélène Adam und Julia Knifka am Beispiel der schwedischen Fernsehserie Real Humans. Ihre Analyse enthüllt die Roboter der Serie in ihrer Manifestierung des Topos des Unheimlichen als Hypostase sich bedingender Wunsch- und Angstbilder und Reflexionsfiguren für Affekte der Sehnsucht und Verdrängung, die stark von prävalenten Geschlechterdiskursen geprägt sind.
Einleitung
Im Gespräch zwischen Thomas Le Blanc und Annegret Scheibe wird schließlich der Bogen von der Science-Fiction zurück zur Wirklichkeit geschlagen. Der Leiter der Phantastischen Bibliothek Wetzlar berichtet über das Projekt Future Life – We read the Future, das auf dem einmaligen Fundus der Wetzlarer Buchsammlung basierend seit über zehn Jahren Partner aus der Industrie und Wirtschaft mit den innovativen Ideen von Science-Fiction-Autoren über Kommunikation, Mobilität, Energietechnik und Ernährung versorgt. Die Entwürfe der Science-Fiction und unsere alltägliche Lebenswelt könnten sich einander also schneller annähern, als man es angesichts der technologischen Fortschritte der Gegenwart ohnehin erwartet oder befürchtet hat. *** Die in diesem Band versammelten Beiträge halten die Ergebnisse der von den Herausgeberinnen organisierten interdisziplinären Nachwuchstagung »Veränderte Lebenswelt(en): Figurationen von Mensch und Technik« fest, die am 23.-25. Mai 2014 am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) stattfand. Das Spektrum der Vorträge wird hier um weitere Aufsätze von Forscherinnen und Forschern aus den Bereichen der Architekturgeschichte, Linguistik und Philosophie ergänzt. Wir danken dem Karlsruhe House of Young Scientists am KIT und der Fachschaft der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften für die Ermöglichung der Tagung sowie allen Kolleginnen und Kollegen, die uns bei der Durchführung der Veranstaltung unterstützt haben, darunter insbesondere Prof. Dr. Andreas Böhn, Jörg Hartmann, Raoul Schrievers und den Moderatorinnen und Moderatoren der verschiedenen Panels. Dem Institut für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien und dem Institut für Philosophie gilt ein besonderer Dank für Bereitstellung finanzieller und ideeller Mittel zur Durchführung der Tagung und Realisierung des Sammelbandes.
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Lebensräume
Zwischen blow up und Prothese Gedanken zur Rolle der Technik in der Architektur Elisabeth Bergmann Jetzt nämlich Lasst uns bekämpfen die Natur Bis wir selber natürlich geworden sind. Wir und unsere Technik sind noch nicht natürlich Wir und unsere Technik Sind primitiv. B ertolt B recht / D er F lug der L indberghs , 1928
blow up -Technik Ein Extrem des Einsatzes von Technik im Bereich der Architektur, das ich wegen seiner inszenierten und überzogenen Aufgeblähtheit blow up nennen möchte, finden wir in einigen Bauten der sogenannten High-Tech-Architektur. Üblicherweise sind es Fassaden oder Gebäudeformen, die hochtechnologische Effizienz suggerieren, tatsächlich aber oft nur enttäuschend wenig technische Raffinessen oder Neuerungen bieten. Effekthascherisch wird ein populäres feature inszeniert und aufgeblasen, als könnte seine visuelle Beschwörung einen oftmals vorhandenen Mangel an technischer Perfektion wettmachen. Es braucht nicht weiter ausgeführt werden, dass diese Art der Inszenierung wenig nutzbringend ist und die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten der Technik ignoriert. Sollte Technik im architektonischen Bereich nicht vielmehr möglichst unauffällig, integriert, natürlich sein? Gleichsam wie eine kaum bemerkbare Prothese?
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N atürliche und primitive Technik Im eingangs zitierten Flug der Lindberghs1 ruft Bertolt Brecht auf, die Natur zu bekämpfen, bis wir selbst natürlich geworden seien. Thomsen, Müller und Kindt2 versuchen, aus diesen Zeilen Brechts »Naturauffassung« abzuleiten. Aber sagt dieser Passus nicht viel mehr über seine Auffassung der Technik als über seine Naturauffassung aus? Die Technik sei »noch nicht natürlich«, schreibt er. Dies impliziert, sie sollte es werden, denn sonst bleibe sie »primitiv«. Inspirierend ist die Schlussfolgerung, die Thomsen, Müller und Kindt aus ihrer Beobachtung ziehen: »Offensichtlich erwartete Brecht als Ziel des technischen und gesellschaftlichen Fortschritts den Zustand einer ›neuen Natürlichkeit‹ des Menschen. Doch zunächst ist die Natur feindlich und muss überwunden werden. Das kann jedoch nicht dadurch erreicht werden, dass die Natur mit Hilfe der Technik unter die Herrschaft des Menschen gezwungen wird. Im Gegenteil: Das Flugzeug, das ›schwächer als ein Baum an der Küste‹ (3, 14), ›kraftlos wie ein Blatt ohne Ast‹ (3, 14) zum Spielball der Elemente wird, gelangt gerade deshalb zum Ziel, weil es sich ›natürlich‹ verhält und zu einem Teil des Schneesturms wird. Der Flug der Lindberghs illustriert den Prozess der Evolution, in dem sein vorläufiger, primitiver Charakter und die Unvollkommenheit seiner Technik den Menschen zunächst in ein antagonistisches Verhältnis zur Natur setzen, das nur durch erfolgreiche mimetische Adaption überwunden werden kann.« 3
Wie könnte eine solche erfolgreiche mimetische Adaption in der Architektur aussehen?
M enschenzutr ägliche Technik Diesen Gedanken möchte ich einen Diskussionsbeitrag zur Architekturtheorie von Jochen Meyer zur Seite stellen. In seinen Überlegungen zu einer lebensverbundenen Theorie der Architektur4 fordert er, Architektur 1 | B . Brecht: Der Flug der Lindberghs. 2 | F. Thomsen/H-H. Müller/T. Kindt: Ungeheuer Brecht. S. 98-105. 3 | Ebd., S. 103 f. 4 | J. Meyer: Perspektiven der Architekturtheorie. o. S.
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müsse nicht nur umweltverträglich sein, sondern vor allem menschenverträglich oder vielmehr menschenzuträglich werden. Obwohl dies eigentlich selbstverständlich sein solle, verstoße die formale Aufdringlichkeit, verletzende Grobheit und ästhetische Belanglosigkeit aktueller Bauten eklatant gegen dieses Prinzip der Menschenzuträglichkeit und sei stattdessen menschenverachtend und destruktiv. – Aber wie sollte eine dem Menschen zuträgliche Architektur beschaffen sein? Da Meyer Überlegungen zur Architekturtheorie anstellt, gibt er dazu keine konkreten Hinweise. Es genügt sicher nicht, seine Negativabgrenzung ins Positive umzukehren, denn nur formal-ästhetische Kriterien reichen nicht aus, um ein Gebäude menschenzuträglich zu machen. Meyer plädiert außerdem für eine naturverbundene Architektur. Dies beinhaltet für ihn nicht nur einen respektvollen Umgang mit der Natur, sondern die Natur müsse »als Prinzip in die Architektur integriert und transzendiert werden«.5 Dazu müsse das heute immer noch geltende Paradigma einer dem Leitbild der Technik verpflichteten Architektur des Funktionalismus aufgegeben werden. Auch damit bleibt er zu abstrakt. Wie könnte Natur tatsächlich in die Architektur integriert und transzendiert werden?
»E mpathische « und » schwesterliche « Technik Der Stuttgarter Architekt und Bauingenieur Werner Sobek setzt als Nachfolger von Frei Otto und Jörg Schlaich am Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren der Universität Stuttgart auf eine Form von Technik, die meines Erachtens Brechts Vorstellung von natürlicher Technik und dem von Jochen Meyer propagierten Prinzip der Menschenzuträglichkeit recht nahe kommt und sowohl auf eine veränderte Lebenswelt reagiert als auch selbst eine neue Lebenswelt erschafft. Für ein ressourcenschonendes und vollständig recyclebares Bauen entwickelte Sobek den sogenannten Triple Zero Standard6: Das Gebäude erzeugt mehr Energie, als es selbst benötigt (zero energy), verursacht keinerlei Emissionen (zero emissions) und kann rückstandslos in den Stoff kreislauf rückgeführt werden (zero waste). Als Prototyp dieser Idee gilt sein eigenes 1999-2000 in Stuttgart erbautes
5 | Ebd. 6 | Büro W. Sobek: Aktivhaus B10, Kurzbeschreibung, S. 1 f.
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Wohnhaus.7 2011 errichtete Sobek in Berlin ein Effizienzhaus Plus mit Elektromobilität, das mit dem von ihm erzeugten Energieüberschuss die Elektrofahrzeuge der Bewohner mitversorgt. Diese Ideen weiterentwickelnd prägte er den europaweit markenrechtlich geschützten Begriff ›Aktivhaus‹.8 Er steht für Gebäude, die ihren gesamten Energiebedarf aus nachhaltigen Quellen selbst erzeugen und nicht nur passiv, z. B. durch gute Wärmeisolierung, sondern aktiv das Energiemanagement übernehmen. Sie messen und optimieren alle Energieströme und können antizipativ auf relevante Veränderungen des Außenraums oder im Gebäude reagieren.9 Abbildung 1 und 2: Aktivhaus B10, Montage der beiden FlyingSpaces-Module
Quelle: Pressefotos Büro Sobek. Foto: Zooey Braun.
7 | Vgl. dazu W. Blaser/F. Heinlein: R128 by Werner Sobek. 8 | Büro W. Sobek: Aktivhaus B10, Begriffsdefinition ›Aktivhaus‹, S. 1. 9 | Vgl. den Beitrag von Daniel Pathmaperuma über Smart Homes in diesem Band.
Zwischen blow up und Prothese
Am 8. Juli 2014 wurde das weltweit erste voll funktionale10 Aktivhaus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung eröffnet. Trotz seiner vielen Innovationen wurde es in nur acht Monaten geplant und gefertigt sowie an einem Tag komplett montiert.11 Wie alle Wohngebäude von Werner Sobek erhielt es ein aus der Adresse abgeleitetes Namenskürzel: B10 für Bruckmannweg 10. Der nur rund 15 Meter breite, sechs Meter tiefe und etwas mehr als drei Meter hohe12 weiße Quader verschwindet fast zwischen den berühmten Bauten der Werkbundausstellung von 1927. Von weitem könnte man ihn für eine Doppelgarage halten. Abbildung 3: Aktivhaus B10, Gesamtansicht
Foto: Elisabeth Bergmann.
10 | Büro W. Sobek: Aktivhaus B10, Architektonisches Konzept, S. 1. 11 | Büro W. Sobek: Weltweit erstes Aktivhaus in Stuttgart, S. 3. 12 | Büro W. Sobek: Aktivhaus B10, Technische Daten, S. 1.
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Abbildung 4 und 5: Aktivhaus B10, Westfassade in der Dämmerung
Quellen: Pressefoto Büro Sobek. Foto: Zooey Braun; Foto: Elisabeth Bergmann.
Steht man jedoch davor, stellt eine komplett verglaste Fassade mit rahmenlosen Aluminium-Schiebefenstern wie eine Vitrine den Innenraum zur Schau. In der Dämmerung scheint der weiß gerahmte Quader mit der holzbeplankten Terrasse dank effektvoller Beleuchtung zu schweben. Bei Tageslicht sind unter dem Gebäude verlegte Rohre und Kabel zu sehen.
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Abbildung 6: Aktivhaus B10, Stellplatz für Elektroauto
Quelle: Pressefoto Büro Sobek. Foto: Zooey Braun.
Noch bis zum Sommer 2015 soll B10 von den Smart Home-Spezialisten der alphaEOS AG13, die seine Gebäudesteuerung und Energiemanagement entwickelt haben, als Büroraum genutzt werden – und tatsächlich auch als ›Garage‹ für einen Elektro-Smart. Für das Folgejahr werden momentan aus einer Vielzahl von Bewerbungen Bewohner ausgewählt14, um die selbstlernende Gebäudesteuerungstechnik in der Wohnnutzung zu erproben. Nach Abschluss des Forschungsprojekts soll das Gebäude zurückgebaut und transloziert15 werden. Schon diese architektonischen Details lassen ahnen, dass die Lebenswelt der heutigen Büronutzer und weit mehr noch die der potentiellen Bewohner vom Konventionellen abweicht. Sicher ist das Arbeiten und Wohnen in einer Vitrine nicht jedermanns Sache. Aber dies ist nicht entscheidend für das Konzept, sondern inszeniert lediglich das Projekt 13 | Büro W. Sobek: Weltweit erstes Aktivhaus in Stuttgart, S. 3. 14 | Auskunft Johan Strandberg, alphaEOS AG, Besichtigung B10 am 9.2.2015. 15 | Büro W. Sobek: Weltweit erstes Aktivhaus in Stuttgart, S. 3.
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als Teil des von der Bundesregierung geförderten Forschungsclusters »Schaufenster Elektromobilität«16. Auch das Parken im Gebäude17 mag ungewohnt sein, bietet jedoch viele Vorteile: Das Auto kann bequem in der Wohnung be- und entladen werden; ältere Menschen oder Behinderte können leichter ein- und aussteigen; die Reichweite der Batterie wird voraussichtlich steigen, da der Wagen vortemperiert ist und deshalb weniger Strom zum Heizen bzw. Kühlen braucht, und dank eines drehbaren Bodenelements muss man noch nicht einmal rückwärts ausparken. Als Zufahrt dient ein Terrassensegment. Alle vier Segmente der Terrasse18 vor der Westfassade können hydraulisch um 90° nach oben geklappt werden und zur Wärmedämmung oder als Sicht- und Einbruchsschutz die Glasfassade komplett verschließen. Momentan stoppt dieser Mechanismus kurz vorher19, da der Aufenthalt in einem allseitig verschlossenen Raum unangenehm sein könnte. Doch weit mehr als die architektonischen verändern die technischen Details des Aktivhauses die Lebenswelt der Bewohner – und deren Umfeld. Wenn es, wie geplant, aus erneuerbaren Quellen doppelt so viel Strom, wie es benötigt20, erzeugen wird, kann es zwei Elektroautos, zwei E-bikes und das Weißenhofmuseum mitversorgen. Das erste und einzige nachrüstbare Smart Home System21 steuert alle Energiesysteme über eine App und vernetzt so Gebäudesteuerung und Elektromobilität besonders eng. Dadurch bietet es den Bewohnern ungewohnten Komfort, den die Entwickler »Cozy Arrival«, »Lock/Eco-Modus«, »Keyless Go« und »Rush Departure«22 nennen. Dies umschreibt, dass bei Ankunft der Bewohner die Räume bereits optimal klimatisiert sind, da das System über den GPS-Sender im Elektroauto dessen Position erkennt und Heizung oder Kühlung rechtzeitig einschaltet. Nähert sich das Fahrzeug dem Haus, öffnet sich automatisch das Tor. Da das System die Nutzergewohnheiten registriert, fährt die Jalousie in die gewünschte Position und die Räume werden entsprechend beleuchtet. Die Elektroautos sind 16 | Ebd., S. 1. 17 | Büro W. Sobek: Aktivhaus B10, Architektonisches Konzept, S. 4. 18 | Ebd. 19 | Auskunft Johan Strandberg, alphaEOS AG, Besichtigung B10 am 9.2.2015. 20 | Büro W. Sobek: Weltweit erstes Aktivhaus in Stuttgart, S. 1. 21 | Büro W. Sobek: Firmenbeschreibungen, S. 1. 22 | Büro W. Sobek: Aktivhaus B10, Gebäudeautomation, S. 1 f.
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immer rechtzeitig geladen. Es erübrigt sich, zu überlegen, ob die Haustür abgeschlossen oder der Herd ausgeschaltet ist. Die gesamte Haustechnik fährt in den Energiesparmodus und alle Zugänge werden verschlossen, sobald die Bewohner das Haus verlassen. Eine zentrale Steuereinheit, die alphaEOS BASE, verknüpft alle technischen Komponenten des Hauses (Türen, Fenster, Licht, Heizung, Kühlung, Stromzufuhr) und die Elektrofahrzeuge. Sie sind über eine eigens entwickelte App mit dynamischer und kontextabhängiger Bedienoberfläche steuerbar, die sich an Nutzergewohnheiten oder Tages- und Jahreszeiten anpasst. Beispielsweise rücken bei Einbruch der Dunkelheit die Bedienelemente für Beleuchtung in den Vordergrund. Die gesamte Haustechnik kann so einfach und intuitiv per Touchpad gesteuert werden. Abbildung 7: Aktivhaus B10, Bedienoberf läche der App
Quelle: Pressefoto Büro Sobek.
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Sensoren und Aktuatoren kommunizieren per EnOcean Funk miteinander. Die Nutzer können ihre Termine in einen elektronischen Kalender eintragen und mit der Haustechnik verknüpfen. Das Interface23 schlägt dem Nutzer auch Handlungen vor, die aber einfach gelöscht werden können oder automatisch nach einer gewissen Zeit verschwinden. Umfassender wird der Eingriff wenn ein sogenannter Avatar24 integriert ist, der die Nutzer zu einem möglichst nachhaltigen Verhalten motivieren soll und ihn daran erinnert, die Terminplanung regelmäßig anzupassen. Er ist als positiv-emotionale Rückmeldung durch Gestik oder Mimik gedacht. Aber wer sich noch an die nervtötende, an den Bildschirm klopfende, lächelnde Büroklammer von Microsoft erinnert, wird skeptisch sein. Das System ›lernt‹ zwar aus den Lebensgewohnheiten der Nutzer, sie können aber auch einen anderen Tagesrhythmus vorkonfigurieren oder die Steuerung über die App per Tablet-Computer oder Smartphone selbst übernehmen. Werner Sobek nennt B10 deshalb ein »empathisches Haus«25, das nicht dem Prinzip von Bill Gates‘ Haus entspreche, in dem, wenn er einen Erdbeerjoghurt esse, dessen Kühlschrank automatisch einen Erdbeerjoghurt nachbestelle und der arme Mann sein ganzes Leben Erdbeerjoghurt essen müsse. B10 sei eher wie ein ständig betanktes Auto, das den Komfort steigere und die Nutzung optimiere. Aktive Eingriffe der Bewohner seien jederzeit möglich, für einen optimalen Gebäudebetrieb aber nicht erforderlich. Dies gilt auch für das Energiekonzept. Der Nutzer muss sich nicht darum kümmern, ob beispielsweise der Eisspeicher26 voll ist, der das Gebäude kühlt, als Langzeitspeicher überschüssige Wärme aus dem Gebäude aufnimmt und im Winter auch als erste (und wichtigste) Wärmequelle27 dient. Die auf dem Dach installierten Photovoltaik-Module mit integrierter Solarthermie (PVT)28 sind nur eine sekundäre Wärmequelle, erzeugen Strom und übernehmen die Nachtauskühlung. Eine Hydraulikmatrix29 23 | Büro W. Sobek: Aktivhaus B10, Interface, S. 1. 24 | Ebd., S. 2. 25 | D. Meyhöfer/W. Sobek: Bau 2015, gefilmtes Interview zum Leitthema: Energie- und Ressourceneffizienz. 26 | Büro W. Sobek: Aktivhaus B10, Energiekonzept, S. 3. 27 | Ebd., S. 1. 28 | Ebd., S. 1 f. 29 | Ebd., S. 3 f.
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koppelt alle Erzeuger und Abnehmer von Kälte und Wärme direkt miteinander. Da in allen Komponenten dasselbe Arbeitsfluid verwendet wird, entfallen Wärmetauscher und unnötige Schnittstellen. Das Gebäudeautomationssystem steuert den effizienten Einsatz der Hydrauliksteuerung. Im Sommer können zum Beispiel Überschüsse der PVT-Anlage über die Matrix direkt in den Pufferspeicher zur Trinkwassererwärmung eingespeist werden. Ist der Ertrag in der Übergangszeit geringer, steuert ihn die Matrix in die Flächenheizsysteme in Wänden, Fußboden und Decke. Im Winter wird die Wärmepumpe damit betrieben. Über eine algorithmusgestützte Steuerung30 der Glasfassade kann zusätzlich gelüftet und gekühlt werden. Aber auch hier bestimmt der Bewohner, ob er einfach selbst ein Fenster öffnet oder tatsächlich einen Algorithmus braucht, der Lufttemperatur und Windgeschwindigkeit misst und dann die erforderliche Fenster-Öffnungsfläche ermittelt. Auch die Luftfeuchtigkeit wird ständig gemessen und so ausgeglichen, dass der Taupunkt nie unterschritten wird und kein Wasser kondensiert. – Ein Energiekonzept, das eine aufwendige Abtrennung von der Umwelt überflüssig macht und es ermöglicht, mit neuen Baumaterialien zu experimentieren. Eine Fassade kann plötzlich aus Stoff statt Stein sein. Dies ermöglicht leichtes Bauen. Und leichtes Bauen ist immer auch ressourcenschonend. Leichte Bauten hinterlassen meist einen weniger tiefen ökologischen ›Fussabdruck‹. Sie kommen mit kleineren Fundamenten oder sogar völlig ohne Fundamentierung aus. Im Extremfall des Bauens mit Luft müssen sie lediglich am Davonschweben gehindert werden. Vielversprechend erscheint mir auch der Ansatz, die Energiesysteme von Immobilie und Mobilität als Einheit zu begreifen. Der meiner Ansicht nach interessanteste und zukunftsträchtigste Aspekt des Energiekonzepts ist das vorausschauende Energiemanagement und die Anbindung an ein virtuelles Kraftwerk.31 Das Energiemanagement ermittelt aus Nutzerverhalten, Wetterprognose und Strompreisentwicklung für einen Tag im Voraus Energieverbrauch und -erzeugung und stimmt alle thermischen und elektrischen Energieströme aufeinander ab. Erzeugt das Gebäude mehr Strom, als es benötigt, können die Elektrofahrzeuge oder die Hausbatterie32 (die mit einer Speicherkapazität von 11 30 | Ebd., S. 2. 31 | Büro W. Sobek: Aktivhaus B10, Smart Grid, S. 1. 32 | Büro W. Sobek: Aktivhaus B10, Energiekonzept, S. 4f.
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kWh auch bei Stromausfall den störungsfreien Betrieb des Gebäudes und der Messtechnik gewährleistet) als Pufferspeicher genutzt werden. Ermittelt das virtuelle Kraftwerk, dass es lukrativer ist Strom zu verkaufen, wird er ins Netz eingespeist33 und hilft so Spitzenverbrauchszeiten auszugleichen. Es können auch mehrere Bauten zu einem ›Aktivhausverbund‹34 zusammengeschlossen und gemeinsam bilanziert werden. Entscheidend ist nicht die Überschussmaximierung, wie bei anderen Plusenergiehäusern, sondern eine intelligente Verbrauchssteuerung. Dies ermöglicht es weltweit erstmals auch Nachbargebäude mitzuversorgen. Werner Sobek spricht vom »Prinzip der Schwesterlichkeit«35, da ein neues Gebäude einen energetisch schwächeren Altbau mitversorgt. Dadurch verändert B10 nicht nur die Lebenswelt seiner Bewohner, sondern auch die der Umgebung. Es gibt seinen Energieüberschuss virtuell an das denkmalgeschützte Weißenhofmuseum im Le Corbusier-Haus ab. Die Energiebilanz wird ausgeglichen, ohne dass es eine umweltbelastende und das Baudenkmal beeinträchtigende Isolierung braucht. Die Prothese, die hier die Möglichkeiten erweitert, muss noch nicht einmal am ›Körper‹ des ›Hilfsbedürftigen‹ angebracht sein. Ein Standort in der Nähe genügt.
D ie naturnahe architek tonische P rothese Die feine, gazeartig wirkende Haut der von Jörg Gibl, Frei Otto und Ted Happold realisierten Voliere36 im Münchner Tierpark Hellabrunn bemerkt man erst, wenn sie in der Sonne auf blitzt. Keine sichtbaren Nähte stören den hauchzarten Schleier. Für diesen Effekt wurden die einzelnen Bahnen des nur 3,5 Millimeter feinen Gitterdrahtgeflechts mit einer eigens dazu entwickelten ›Schweißzange‹ mit Tausenden von Schweißpunkten verbunden. Sie ist nicht nur licht- und luftdurchlässig; auch alle Geräusche und Gerüche dringen hindurch. Regen, Schnee und Hagel hält sie nicht ab, sondern filtriert höchstens leicht.
33 | Auskunft Johan Strandberg, alphaEOS AG, Besichtigung B10 am 9.2.2015. 34 | Vgl. www.wernersobek.de unter Greentech/Aktivhaus® 35 | Büro W. Sobek: Weltweit erstes Aktivhaus in Stuttgart, S. 2. 36 | Vgl. dazu W. Nerdinger: Frei Otto. S. 308.
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Abbildung 8: Blick in das im Sonnenlicht schillernde Netz der Voliere, Tierpark Hellabrunn, München
Quelle: O. Frei/ B. Rasch: Gestalt finden: auf dem Weg zu einer Baukunst des Minimalen, S. 109, Abb. 4, Foto: Sabine Schanz, Fotoarchiv des Instituts für leichte Flächentragwerke, Universität Stuttgart.
Ein zartes Netz begrenzt einen organisch geformten Raum, ohne ihn von der Umgebung abzutrennen. Die großen Bäume des Tierparks können unter der Hülle ungestört weiterwachsen. Auch der Blick auf die Umgebung wird nicht verstellt oder behindert. Keine eingeschnittenen Fenster lassen ihn nur ausschnittweise zu, son dern er ist von jedem Standpunkt aus ungehindert möglich. Das Netz verzaubert dabei die umgebende Landschaft eher noch und steigert sie in ihrer Wirkung, wird sie doch wie durch einen Weichzeichner betrachtet. Nichts trübt den Eindruck, zwischen 20 verschiedenen
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freifliegenden Vogelarten hindurchzuschlendern, mit ihnen einen sanft herausgelösten Naturausschnitt zu teilen, und nicht etwa gemeinsam mit ihnen in einen Käfig gesperrt zu sein.37 Selbst die mächtigen Metallmasten, die einzigen sichtbaren technizistischen Konstruktionselemente, stören diesen Eindruck nicht, verschwinden sie doch größtenteils zwischen hohen Bäumen oder werden von dem herabhängenden Netz überlagert. Gemeinsam mit den Seilen und Schäkeln, die das Netz an den Mastspitzen verankern, wirken sie eher wie Zeltstangen oder aufgerichtete Baumstämme. Die Trennung zwischen Innen und Außen ist auch dadurch aufgehoben, dass die Voliere von innen und außen begehbar ist, da die Maschenweite des Edelstahl-Wellgitters nur 60 x 60 mm beträgt. Dies hat beim Aufstellen den Vorteil, dass kein Baugerüst erforderlich ist. Das Netz verhindert zwar das Wegfliegen der Vögel, wird aber vom Zoobesucher erst dann als abgeschlossener Raum wahrgenommen, wenn die Münchner Schneemassen sich darauf türmen und die Voliere in ein gigantisches Iglu verwandeln. Dann dringt kaum noch Licht ins Innere, das zum ›griseligen‹ Schwarz-Weiß-Foto mutiert. Bevor sich die Schneedecke zum Iglu schloss, rieselte Schnee herein und setzte sich auf Ästen und Zweigen ab. Verschneite Landschaft oder Schnee im Zimmer, wie wattiger Kunstschnee auf Weihnachtsbäumen? Über verschneite Wiesen stapfen oder durch Reinigungsschaum auf dem Teppich? Im Außen-Innen-Innen-Außen dieses Iglus ist es verwirrend sich ›zu verorten‹. Doch nicht nur Innen und Außen verschmelzen. Auch Bauform und Raumform sind identisch – eine Besonderheit zugbeanspruchter Konstruktionen. Der Münchner Architekt Jörg Gibl hatte, ähnlich wie Günter 37 | Interessanterweise scheint es fast, als teilten die Vögel diese Einschätzung, obwohl das Netz ihre Lebenswelt faktisch begrenzt: Während meiner Aufenthalte in der Voliere habe ich nie ein Tier gesehen, das gegen das Gitterdrahtgeflecht geflogen wäre oder die hospitalistischen Verhaltensweisen mancher Zootiere gezeigt hätte. Offensichtlich irritiert es die Vögel nicht, dass das Netz entsprechend der Lichtverhältnisse mehr oder weniger transparent wirkt. Anscheinend genügt es, wenn sie Form und Ausmaße einmal erfasst haben. Ob ihrem Verhalten die organische Form eher entgegenkommt als ein quaderförmiger Käfig? Dieser Eingriff in die Lebenswelt der Vögel erscheint mir weniger drastisch als das Beschneiden ihrer Schwingen. Dann erscheint ihr Lebensraum zwar unbegrenzt, faktisch erreichbar ist ihnen aber nur eine Höhe von ein bis zwei Metern.
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Abbildung 9: Innenansicht der Voliere mit Hochpunkt der Netzkonstruktion, Tierpark Hellabrunn, München
Quelle: O. Frei: Natürliche Konstruktionen. Abb. S. 117, Foto: Frei Otto, Fotoarchiv des Instituts für leichte Flächentragwerke, Universität Stuttgart.
Behnisch 1972 beim Entwurf des Olympiadaches, einen Damenstrumpf über die Modellstützen gespannt und so 1978 die Auftraggeber von der Idee der ›leichten Wolke‹ überzeugt. Um diese erdachte Wolke Realität werden zu lassen, zog er Frei Otto als Berater hinzu, der bereits ähnliche Gebilde nicht nur entworfen, sondern auch gebaut hatte. Gemeinsam mit einem britischen Ingenieurteam unter der Leitung von Ted Happold konnte die Stahlnetz-Konstruktion 1980 errichtet werden. Dabei erhielt die 5.000 m2 große Netzfläche ihre zuvor im Hängemodell festgelegte Form vor Ort, indem sie über bewegliche, einen halben Meter lange Klemmplatten an zehn Masten bis zu 20 Meter hochgezogen wurde. Stahlbeton-Fundamente bilden den umlaufenden Bodenabschluss.
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Abbildung 10: Innenansicht bei geschlossener Schneedecke, Voliere, Tierpark Hellabrunn, München
Quelle: O. Frei: Natürliche Konstruktionen. Abb. S. 111, Foto: Klaus Bach/ IL, Fotoarchiv des Instituts für leichte Flächentragwerke, Universität Stuttgart.
Bauaufgabe war es, eine Voliere für 20 Vogelarten zu errichten. Üblicherweise ein Käfig, durch den der Zoobesucher die Tiere sehen kann. Meist mit wenig Bewegungsspielraum für die Vögel und kaum Gelegenheit zur Interaktion zwischen Mensch und Tier. Modernere Konzepte stecken die Zoobesucher in ›Käfige‹ und die Tiere laufen ›frei‹ herum. Sollen Vogelarten auch im Flug gezeigt werden, scheidet diese Variante von vornherein aus. Die in München realisierte Lösung optimiert die Lebens- und Erlebniswelt von Tier und Mensch gleichermaßen. Sie vermischt sie miteinander und sie sperrt nicht ein, sondern zieht lediglich eine kaum wahrnehmbare Grenze, indem sie einen Ausschnitt der Natur herauslöst und umfasst.
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Die Begehbarkeit solcher Netzkonstruktionen faszinierte bereits László Moholy-Nagy, der 1929 schrieb: »eine neue fase [sic.] der besitznahme von raum: eine menschenstaffel in schwebend durchsichtigem netz, wie eine flugzeugstaffel im äther«.38 Damit beschreibt er treffend die neuartigen »Lebenswelt«, die derartige Konstruktionen erschließen. Sie scheinen geradezu das schwerelose Schweben im Raum zu ermöglichen. Sie bieten also nicht nur als kaum spürbare Raumbegrenzung völlig neuartige Möglichkeiten, den Lebensraum von Tieren zu teilen, ohne dass dazu ein Zaun oder gar ein Käfig notwendig wäre. Sie überwinden auch elegant die Trennung von Innen und Außen. Und sie eröffnen dem Menschen eine dritte Dimension, die ihm als flügellosem Wesen sonst nur mit aufwendigen technischen Apparaturen zugänglich ist. Er erlebt eine Erfahrung, die dem Fliegen nahe kommt – wenn auch auf einer vorgegebenen Flugbahn. Eine naturnahe, kaum sichtbare ›Prothese‹ erweitert die Möglichkeiten ungetrennten Naturerlebens und erschließt neue Sphären. Die Grenzen der Lebenswelt verwischen und weiten sich.
S teigerung oder V erlust von A utonomie Diese Gedanken zur Rolle der Technik in der Architektur gingen von den Überlegungen aus, wie Technik im Bereich der Architektur sinnvoll eingesetzt werden kann, wie sie dabei auf eine veränderte Lebenswelt reagiert und inwiefern sie eine neue Lebenswelt schafft. Architektur ist immer gleichzeitig Begrenzung und Erweiterung von Lebenswelt, Steigerung und Verlust von Autonomie. Sie bietet Schutz, engt aber auch ein. Ausgehend vom beschriebenen Spektrum des Einsatzes von Technik zwischen blow up und Prothese, soll abschließend analysiert werden, ob und wie dies Autonomie erhöht oder begrenzt. Inszenierte blow up-Technik täuscht eine Steigerung von Autonomie oder Komfort lediglich vor. Oft bringt die gewollte Inszenierung sogar funktionale Nachteile. Primitive Technik, nach Brechts Definition, will die Autonomie des Nutzers zu steigern, indem sie (erfolglos) versucht, Natur mittels Technik zu bezwingen. Natürliche Technik hingegen, passt sich an die Natur an, versucht sie mimetisch zu adaptieren. Ergänzt man diesen Ansatz um Jochen Meyers Forderung nach menschenzuträglicher 38 | L. Moholy-Nagy: Von Material zu Architektur, S. 10.
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Architektur, lässt sich daraus der Anspruch ableiten, Architektur müsse nicht nur die Autonomie des Bewohners steigern, sondern sogar einen Verlust von Autonomie bei Krankheit, Alter oder Behinderung ausgleichen. Werner Sobeks B10 wird diesem Anspruch in Teilen gerecht, indem es neuartige Komfortszenarien anbietet und das gesamte Energiemanagement weitgehen selbsttätig übernimmt. Die Befürchtung, die Technik könnte dabei zu autonom werden oder der energiesparendes Verhalten anmahnende Avatar könnte als lästig, bevormundend oder gar als erneuter Verlust von Autonomie empfunden werden, scheinen die Entwickler des Smart Home Systems vorhergesehen zu haben: die App bietet die Möglichkeit, den Avatar zu ignorieren, dann verschwindet die Anzeige nach einiger Zeit. Auch die Daten zur An- und Abwesenheit der Bewohner sind ausreichend geschützt. Die empathische Technik lernt aus den Nutzergewohnheiten und passt sich optimal an. Der Bewohner kann, muss sich aber nicht um das Energiemanagement von Haus und Fahrzeugen kümmern. Das Prinzip der Schwesterlichkeit bringt außerdem den Vorteil, energetisch autonom zu sein. Es verlangt zwar eine gewisse Rücksicht, da sich der Aktivhausverbund natürlich vor allem bei energiesparendem Verhalten rechnet. Dafür bringt es für den Neubau aber auch höchstmögliche Einnahmen aus dem Verkauf von Energie, da das System diese zu Spitzenbedarfszeiten verkauft. Das Weißenhofmuseum im Le Corbusier-Haus ist durch den Verbund zwar in seiner Autonomie eingeschränkt, dafür aber vom Zwang zur Wärmedämmung befreit. Selbstverständlich schränkt auch die naturnahe architektonische Prothese der Münchner Voliere die Lebenswelt von Vögeln und Zoobesuchern ein. Für den Besucher ist diese Einschränkung nur vorübergehen und freiwillig. Für die Tiere bringt das Leben in einem Zoo immer einen äußert weitgehenden Verlust von Autonomie. Doch das Netz erlaubt ihnen immerhin zu fliegen und nicht nur mit beschnittenen Schwungfedern hilflos am Boden herumzuflattern. Die vermeintlich unbegrenzte Welt der Vögel in Tierparks ohne Käfige oder Volieren ist meines Erachtens nur ein Zugeständnis an die Besucher, die weder den Lebensraum der Tiere erweitert noch deren Autonomie steigert. Auch unter dem Aspekt der Autonomiesteigerung sind es also die empathische und schwesterliche Technik oder die möglichst naturnahe architektonische Prothese, die über das reine Behausen hinaus den Be-
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wohner autonomer machen und gewisse Einschränkungen seiner Alltagsautonomie sogar auffangen und ausgleichen können. Je natürlicher und intuitiver dabei die Technik und vor allem auch ihre Schnittstellen zum Menschen (wie Apps, Bedienelemente u. ä.) sind, desto höher ist auch die Akzeptanz technischer Neuerungen. Die beste Technik funktioniert auch in der Architektur unauffällig und zuverlässig im Hintergrund und erweitert wie ein neues Organ, ein zusätzliches oder durch eine Prothese ersetztes Körperteil Lebenswelt, Autonomie und Wohlbefinden des Menschen.
L iter atur Büro Werner Sobek: »Aktivhaus B10«, Informationsmaterial zur Verfügung gestellt am 23.1.2015 Büro Werner Sobek: »Firmenbeschreibungen«, Informationsmaterial zur Verfügung gestellt am 23.1.2015. Büro Werner Sobek: »Weltweit erstes Aktivhaus in Stuttgart«, Presseinformation, Stuttgart, Juli 2014. Blaser, Werner; Heinlein, Frank: R128 by Werner Sobek. Bauen im 21. Jahrhundert. Basel, 2002. Brecht, Bertold: »Der Flug der Lindberghs. Ein Radiolehrstück für Knaben und Mädchen [1928]«, in: Werke, Bd. 3, Berlin, Weimar, Frankfurt, 1988, S. 7-24. Meyer, Jochen: »Perspektiven der Architekturtheorie. Überlegungen zu einer lebensverbundenen Theorie der Architektur«, in: Wolkenkuckkucksheim, Internationale Online-Zeitschrift zur Theorie der Architektur der Technischen Universität Cottbus, 9/2 (2005), o. S., http:// www.cloud-cuckoo.net/openarchive/wolke/deu/Themen/042/Meyer/ meyer.htm, Zugriff am 30.1.2015. Meyhöfer, Dirk/Sobek, Werner: »Bau 2015, Leitthema: Energie- und Ressourceneffizienz«, gefilmtes Interview, https://www.youtube.com/ watch?v=G6zJFs62aL0&feature=youtube, Zugriff am 30.1.2015. Moholy-Nagy, László: Von Material zu Architektur, Passau 1929. Nerdinger, Winfried: Frei Otto. Das Gesamtwerk, Basel 2005. Otto, Frei: Natürliche Konstruktionen. Formen und Konstruktionen in Natur und Technik und Prozesse ihrer Entstehung, Stuttgart 1982.
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Otto, Frei/Rasch, Bodo: Gestalt finden. Auf dem Weg zu einer Baukunst des Minimalen. Ausstellung in der Villa Stuck, München, anlässlich der Preisverleihung des Deutschen Werkbundes Bayern 1992 an Frei Otto und Bodo Rasch, München 1992. Sobek, Werner: Homepage des Büros, http://www.wernersobek.de, Zugriff am 14.12.2014. Thomsen, Frank/Müller, Hans-Harald/Kindt, Tom: Ungeheuer Brecht. Eine Biographie seines Werks, Göttingen 2006.
Neuartige Benutzerschnittstellen für Smart Homes Daniel Pathmaperuma You have to start with the customer experience and then work backwards to the technology. You can’t start with the technology and then figure out where you can sell it. S teve J obs
Benutzerschnittstellen gibt es notwendigerweise ebensolange, wie es Maschinen gibt. Dabei schien die Komplexität dieser Schnittstelle zunächst an die Zahl der zu kontrollierenden Funktionen gekoppelt, für jede Einstellmöglichkeit gab es einen entsprechenden Hebel, ein entsprechendes Stellrad. Die ersten Schnittstellen bestanden dabei aus nicht viel mehr als einigen Anzeigen und Hebeln, mit denen das Verhalten der jeweiligen Maschine beeinflusst werden konnte. Mit fortschreitender Komplexität der Maschinen wurde es jedoch notwendig, die Funktion (z.B. die Geschwindigkeitssteuerung einer Dampflokomotive) von der direkten Bedienung (z.B. Kohle nachlegen, Dampfdruck regeln) zu entkoppeln. Heutige Maschinen sind oft so komplex, dass längst nicht mehr für jede Funktion ein dedizierter Schalter existiert, sondern einzelne Funktionen abstrahiert oder zusammengefasst werden. Je nach Wichtigkeit und Gebrauchshäufigkeit sind diese Funktionen dann direkt aufruf bar oder über eine baumartig verschachtelte Menüstruktur erreichbar. 1991 beschrieb Mark Weiser in seinem Artikel The computer for the 21st century eine für damalige Verhältnisse visionäre Art von Computern. In seiner Vorstellung würden die damals üblichen einzelnen Großrechner und Personal Computers (PCs) durch eine Vielzahl kleinerer, vernetzter Computer abgelöst, die nicht mehr als Computer wahrzunehmen sind,
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sondern als Teil unserer Umgebung unauffällig und fortwährend Dienste erbringen.1 Sieht man sich in unserer heutigen Welt um, so kann man erkennen, wie nah Weiser mit seinem Zukunftsentwurf an der 22 Jahre später eingetretenen Realität lag. Der einzelne PC pro Haushalt wurde längst abgelöst von einer Vielzahl von Smart Phones, Tablet-PCs, Notebooks, Internet-Fernsehern und Spielekonsolen, aber auch digitalen Schrittzählern, Pulsmessern und bald auch Smart Watches oder Smart Glasses. Die klassischen Desktop-Anwendungen werden mehr und mehr durch Cloud-Dienste abgelöst, die jederzeit, überall und vor allem auf einer Vielzahl verschiedener Geräte verfügbar sind. Dabei besteht das, was der Benutzer letzten Endes als Anwendung wahrnimmt, nicht notgedrungen aus einem einzigen Dienst, sondern kann aus einer Komposition verschiedenster einzelner Dienste bestehen. Die eigentliche Technik wird für den Nutzer mehr und mehr unsichtbar. In diesem Geflecht steht der Nutzer also einer sehr komplexen Technologie gegenüber, die er möglichst effizient und korrekt bedienen soll. Hier wird deutlich, welche wichtige Rolle die Schnittstellen spielen, die den Benutzer mit der Technologie verbinden: die Benutzerschnittstellen (user interfaces, kurz: UIs). Der Benutzer verlässt sich also darauf, dass ihm für ihn interessante und relevante Funktionen und Dienste auf eine verständliche und intuitive Weise präsentiert werden. Dabei verwendet er ›Metaphern‹, die ihm die komplexen Vorgänge veranschaulichen und begreif bar machen2 . Es ist daher wichtig, dass die in Interfaces verwendeten Metaphern und Analogien gut durchdacht sind und den Vorstellungen des Benutzers entsprechen, um Fehlbedienungen zu vermeiden. In einem Experiment verglichen Lansdale, Simpson und Stroud3 die Effektivität von Markern (Sterne, Quadrate usw.) zur Erinnerung an bestimmte Dokumente. Zum einen wollten sie die Frage klären, ob automatisch zugewiesene Marker genauso effektiv sind wie vom Benutzer selbst gewählte. Andererseits ging es ihnen auch darum herauszufinden, ob Symbole (Icons) in jedem Fall hilfreicher sind als Worte. Den Testpersonen wurden im Experiment eine Reihe von Werbeanzeigen vorgelegt. 1 | Diese Vorstellungen fallen heute mit unter den Begriff ubiquitous computing. 2 | So verwenden Betriebssysteme Ordner, die auf dem Schreibtisch liegen, um die Dateiablage einfacher vorstellbar zu machen. 3 | M. W. Lansdale/M. Simpson/T. R. M. Stroud: A comparison of words and icons as external memory aids in an information retrieval task.
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Diese wurden – entweder von den Testpersonen selbst oder von den Experimentatoren – mit Markern versehen. Nach einer Pause sollten die Testpersonen sich mit Hilfe der Marker an bestimmte Anzeigen erinnern. Es stellte sich heraus, dass selbstvergebene Marker deutlich besser funktionierten als fremdzugewiesene. Die Autoren erklären dies damit, dass sich jeder Benutzer im Kopf selbst ein System zurechtlegte, nach dessen Logik er eine Verknüpfung von Informationen in den Dokumenten zu den entsprechenden Markern erstellen konnte. Der Unterschied zwischen Symbolmarkern und Textmarkern trat vor diesem Aspekt in den Hintergrund und spielte nahezu keine messbare Rolle mehr. Auch Averbukh kommt in seiner Studie4 zur Wahl von Metaphern für spezialisierte Anwendungen zu einem vergleichbaren Ergebnis. Er schließt daraus, dass es für die Entwickler spezialisierter Systeme essentiell sei, Darstellungen zu finden bzw. zu entwickeln, die sich so weit wie möglich mit den Vorstellungen der späteren Benutzer decken. Dies bezieht sich sowohl auf die Domäne als auch auf die Zielsetzung und Funktionsweise des Systems. Führt man diesen Gedanken weiter, so kommt man zu der Schlussfolgerung, dass entweder das Interface für jeden Benutzer speziell individualisiert werden oder aber die Zielsetzung und Funktionsweise des Systems so klar kommuniziert werden muss, dass sich die Vorstellungen der Benutzer nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Symbole können dabei helfen, die Wahrnehmung und die Orientierung – gerade auch im Kontext technischer Systeme – zu erleichtern und zu beschleunigen. So zeigten schon Arend, Muthig und Wandmacher5, dass Symbole (Icons) Benutzern dabei helfen, sich in Menüstrukturen zurechtzufinden. Interessanterweise wurde dieser Effekt verstärkt, wenn die Symbole abstrahiert waren und nicht exakt die Funktion darstellten, die sich hinter einem bestimmten Menüpunkt verbarg. Die Autoren erklärten den Vorteil von Symbolen gegenüber Text damit, dass das visuelle System des Menschen mehrere Symbole gleichzeitig wahrnehmen und verarbeiten kann, wohingegen Worte einzeln interpretiert werden müssen. Die Eindeutigkeit und Intuitivität eines Interfaces zu erreichen ist heute schwieriger denn je, da heutige Interfaces multifunktional und 4 | V. L. Averbukh: Visualization Metaphors. 5 | U. Arend/K.-P. Muthig/J. Wandmacher: Evidence for global feature superiority in menu selection by icons.
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multimodal sein sollen: Ein Dienst kann durch eine Vielzahl von Interfaces und Varianten bedient werden. So kann zum Beispiel das Betrachten einer Nachrichten-Website etwa über einen Webbrowser an einem PC erfolgen oder auch über eine Mobile App auf einem Smart Phone; ebenso kann man sich die Nachrichten von einem entsprechenden Gerät vorlesen lassen. Andererseits soll ein Interface eine Vielzahl verschiedener Dienste zugreif bar machen. Als Beispiel sei hier noch einmal ein Smart Phone genannt: Es ermöglicht den Zugang zu E-Mails ebenso wie zu Kalender, Telefon, Spielen, Nachrichten usw. Zudem sollte nach Möglichkeit eine gewisse Personalisierbarkeit möglich sein: Eine neue Mail sollte z.B. über ein kleines Brief-Symbol auf dem Desktop genauso erkenntlich gemacht werden können wie durch ein blinkendes Lämpchen am Smart Phone oder das Augenrollen eines digitalen Haustiers.6 Schließlich sollte ein Interface auch alltagstauglich sein und sich unauffällig in den Tagesablauf integrieren lassen, ohne dabei unangenehm aufzufallen oder dem Nutzer unnötige zusätzliche Handlungen und Schritte abzuverlangen. Die geforderte Personalisierbarkeit erfordert auf der Diensteebene zunächst eine sehr saubere Trennung von Funktion und Bedienung. Nur so kann in einem zweiten Schritt – dem Interface-Design – die Schnittstelle frei auf die speziellen Bedürfnisse der Benutzer angepasst werden. Das Design des Interfaces erfolgt dann use-case-abhängig.
B enut zerschnit tstellen für S mart H omes Zu den bereits erwähnten digital personal assistants kommt in Zukunft eine weitere Klasse von Geräten und Diensten hinzu: Im Zuge der Transformation des klassischen Energiesystems hin zu Nachhaltigkeit durch den Einsatz erneuerbarer Energiequellen, dem damit verbundenen Bedarf an demand side management sowie der Einführung der Elektromobilität wird das Konzept des Smart Homes (oder genauer gesagt des Energy Smart Homes) eine weitere Verbreitung erleben. 6 | Als Beispiel für ein solches digitales Haustier sei hier der Nabaztag/Karotz genannt, ein kleiner Plastikhase, der auf verschiedene Ereignisse reagieren kann. Unglücklicherweise wurden die Serviceplattform und der Verkauf des Karotz im Februar 2015 eingestellt.
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Hier soll nicht nur einfach die Heizung automatisch vom Sommerbetrieb in den Wintermodus wechseln, sondern der gesamte Haushalt soll sich entlang der Bedürfnisse der Bewohner möglichst energieeffizient, günstig und CO2-neutral verhalten. Um dabei die Bedürfnisse der Verbraucher eines Haushalts möglichst gut auf die aktuell verfügbare Energie aus erneuerbaren Quellen abzustimmen, ist ein Geflecht aus verschiedenen Prädiktions- (Wetter, Energiepreis, Nutzerverhalten) und Steuereinheiten notwendig, die die Wünsche der Bewohner erahnen und für sie umsetzen können. Damit die Bewohner ihre Wünsche und Bedürfnisse auch formulieren und kommunizieren können, ist ein verständliches Interface für die effiziente Nutzung eines Energy Smart Home unerlässlich. So zeigen verschiedene Studien (u.a. von Kalz et al.7 oder Wagner und Knapp8), dass Gebäude, die theoretisch eine ausgezeichnete Energieeffizienz aufweisen sollten, oft hinter den Erwartungen zurückbleiben. Der Grund hierfür liegt vor allem in der suboptimalen Betriebsweise der Häuser, bei der verschiedene Komponenten nicht korrekt aufeinander abgestimmt werden oder die Bediener schlicht mit der Komplexität überfordert sind. Ein Interface für ein Energy Smart Home muss folglich so einfach und allgemein nutzbar sein wie das Haus selbst; das dafür notwendige Vorwissen sollte auf ein Minimum begrenzt sein.
Beispiele existierender Teillösungen Ein guter Ansatz für ein intuitives und leicht verständliches Interface ist das NEST Thermostat (vgl. Abbildung 1). Durch einfaches Drehen an diesem intelligenten Thermostat kann der Bewohner die gewünschte Raumtemperatur einstellen. Das Gerät gleicht diese mit der tatsächlichen Temperatur ab und steuert die angeschlossene Heizung bzw. Klimaanlage entsprechend an. Seine ›Intelligenz‹ kommt durch die Lernfähigkeit des Thermostats zum Tragen. Es merkt sich die Einstellungen, die der Benutzer in der Vergangenheit vorgenommen hat und erstellt daraus einen Schaltplan für 7 | D. E. Kalz/J. Pfafferott/M. Fischer et. al.: Retrofit and monitoring of a printing office building in Karlsruhe, Germany. 8 | A. Wagner/Th. Knapp: Monitoring and Optimizing the Energy Performance of the Museum Ritter in Waldenbuch, Germany.
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Abbildung 1: Das NEST Thermostat ist ein einfach zu bedienendes, intelligentes Interface für die Klimasteuerung eines Hauses.
Foto: Nest Labs Inc.
die Zukunft. So ist es in der Lage, die Heizung zu einer bestimmten Zeit am Morgen hochzufahren. Über den ebenfalls verbauten Bewegungssensor soll das Gerät feststellen, ob jemand zu Hause ist und ggfs. den Away-Modus aktivieren, der zu einer energiesparenden Temperaturabsenkung führt. Zusätzlich ist es mit dem Internet verbunden. So kann der Bewohner die Klimakonfiguration seines Hauses auch aus der Ferne – z.B. über die passende App – regeln. Die Firma Nest integriert in diesen Ansatz mehr und mehr Use-Cases. Unter dem Label works with NEST werden eine Reihe von Geräten und Anwendungen aufgelistet, für die eine ereignisbasierte Aktion hinterlegt werden kann. So können z.B. Daimler-Fahrzeuge, die über die Sonderausstattung „drive-kit-plus“ eine iPhone-Integration nachgerüstet haben, dem Haus die baldige Ankunft des Bewohners mitteilen und so eine entsprechende Klimatisierung initialisieren. Während der Abwesenheit des Bewohners kann die Klimatisierung des Gebäudes heruntergefahren (und entsprechend viel Energie gespart) werden, ohne dass es zu Komforteinbußen kommt. Das intelligente Thermostat soll so zum Mittelpunkt des intelligenten Hauses werden.
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Ein anderes Beispiel für ein solches use-case-spezifisches Interface ist das in gezeigte Smart Ei, das auch Henden in ihrer Studienarbeit9 beschreibt. Es kann in einem Energy Smart Home dazu genutzt werden, den optimalen Start- bzw. Endzeitpunkt für eine zeitflexible Anwendung (z.B. die Spülmaschine oder den Wäschetrockner) zu bestimmen. Als Analogie diente für diesen Entwurf eine Küchenuhr. Sie hat den Vorteil, dass die Funktionsweise quasi jedem bekannt ist und der ursprüngliche Zweck (Setzen eines Timers) der neuen Verwendung (Bestimmen eines Endzeitpunkts) sehr nah kommt. Abbildung 2: Das Smart Ei dient zur Eingabe des spätesten Endzeitpunkts eines Haushaltsgerätes. Durch die verschiedenen Farben erhält der Benutzer ein direktes Feedback zu seinen Einstellungen.
Dazu wählt der Benutzer zunächst durch Drehen der oberen Hälfte die gewünschte Anwendung aus und bestätigt sie durch einen Druck auf die (einzige) Taste (vgl. Abbildung 2). Danach wählt er, wieder durch Drehen, den Endzeitpunkt aus, der so dem Energie Management System (EMS) des Hauses kommuniziert wird. Durch die farbige Hintergrundbeleuchtung des Anzeigefeldes erhält der Nutzer ein direktes Feedback über die Auswirkungen seiner Einstellungen. Zudem kann er über den eingeblendeten Zeithorizont abschätzen, ob und wann sich eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt lohnt. Die finale Wahl wird mit einem weiteren Druck auf den Knopf bestätigt. 9 | M. Henden/D. Pathmaperuma: Alternative Benutzerinterfaces für Smart Homes.
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Das Smart Ei stellt damit ein sehr einfaches Interface für einen ganz bestimmten Zweck dar. Es ist aufgrund seines intuitiven Auf baus sehr einfach zu erlernen bzw. zu bedienen. Im Gegenzug dazu ist es allerdings auch nicht sehr allgemein, sondern lediglich für diesen einen use-case konzipiert. Es kann somit auch nicht als alleiniges Interface für das EMS dienen, sondern muss durch weitere Interfaces ergänzt werden, um die gesamte Palette der Funktionen des EMS verfügbar zu machen. Abbildung 3: Durch das Drehen der oberen Hälfte des Eis wird zunächst eine Anwendung gewählt, die Wahl wird per Knopfdruck bestätigt. Dann kann im zweiten Schritt der gewünschte Endzeitpunkt festgelegt werden. Sowohl der farbige Zeithorizont als auch die Hintergrundfarbe des Displays geben dabei ein direktes Feedback zur Bewertung der Auswahl.
Tangible U ser I nterfaces (TUI) Es ist ohne Weiteres möglich, den Zustand eines Smart Homes vollständig darzustellen, indem ein Interface sämtliche Informationen, die zur Verfügung stehen, anzeigt. Damit überträgt man jedoch dem Benutzer die Aufgabe, sich ein Gesamtbild des aktuellen Zustandes zu machen und dieses zu bewerten. Von einem modernen Assistenzsystem, wie z.B. einem EMS, kann man jedoch mehr erwarten. Dem Benutzer sollte überflüssige oder repetitive Arbeit erspart werden. Hierzu zählt auch das Bewerten von Standardsituationen. Ein fortschrittliches EMS könnte solche
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Bewertungen selbst vornehmen und den Benutzer lediglich in nicht-eindeutigen oder kritischen Situationen mit einbeziehen. Der Benutzer würde hierzu dem System gewisse Befugnisse übertragen, so dass dieses in seinem Namen und im gesetzten Rahmen eigenständig handeln kann. Ein Beispiel hierfür stellt die intelligente Ansteuerung eines Blockheizkraftwerk (µBHKWs10) dar. Im Jahr 2011 stellte der Energieversorger RWE in Kooperation mit Vaillant, einem Anbieter von Heizungen und verwandten Produkten, ein BHKW vor, das über einen sogenannten Öko-Heizstab verfügte. Im Normalbetrieb stellt das BHKW Wärme und Strom zur Verfügung. Mit dem Heizstab, der im Warmwasserspeicher verbaut ist, kann jedoch das Wasser statt mit Gas mit Strom erhitzt werden. Die Warmwasserbereitung aus Strom gilt traditionell als nicht besonders energieeffizient, da im Normalfall vorhandene Wärmeenergie zunächst (verlustreich)11 in elektrische Energie gewandelt und transportiert werden muss; eine direkte (lokale) Erwärmung durch Verbrennung ist weit weniger verlustbehaftet12 . Der Gedanke des Öko-Heizstabs greift jedoch bereits die Philosophie neuer Energiesysteme auf: Hier ist Strom nicht immer gleich Strom und auch die Verluste bzw. die mit der Stromproduktion verbundene CO2-Freisetzung muss von Fall zu Fall bewertet werden. Der Betrieb des Heizstabes mit Kohlestrom wäre nach wie vor hochgradig ineffizient und somit zu vermeiden. Anders sieht es aus, wenn zu bestimmten Zeiten tatsächlich sehr viel Strom aus erneuerbaren Quellen zur Verfügung steht. Dieser Strom steht theoretisch – insbesondere wenn er eigentlich überflüssig ist – quasi kostenlos und CO2-neutral zur Verfügung. In einer solchen Situation hätte auch eine Brennwertheizung mit einem Wirkungsgrad von nahe 100% nach wie vor einen höheren CO2-Ausstoß (und außerdem auch Brennstoff kosten). Der Vergleich fällt nun also eindeutig zugunsten der Warmwasserbereitung mittels Strom aus. Damit dies in der Praxis auch umsetzbar ist, muss die aktuelle Situation im Energienetz bekannt sein, um entscheiden zu können, welcher Energieträger genutzt werden sollte. Diese Entscheidung ist jedoch eine 10 | Ein Blockheizkraftwerk (kurz BHKW) ist eine Art der Kraft-Wärme-Kopplung. BHKWs stellen gleichzeitig Strom und Wärme zur Verfügung. 11 | Kohlekraftwerke haben einen Wirkungsgrad von 20-45%. 12 | Moderne Brennwertheizungen erreichen Wirkungsgrade von nahezu 100%.
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rein sachliche, die (im Normalfall) unabhängig von weiteren Präferenzen getroffen werden kann. Somit ist sie prädestiniert dafür, an eine Maschine bzw. ein EMS delegiert zu werden. Das EMS kann diese Entscheidung also von Fall zu Fall transparent im Hintergrund fällen, ohne den Benutzer weiter einbeziehen zu müssen. In diesem Zusammenhang kam es am Energy Smart Home Lab (ESHL) des KIT, das auch über ein µBHKW mit angeschlossenem Warmwasserspeicher inklusive elektrischer Heizpatrone verfügt, zu einer interessanten Beobachtung. Während der vielen dort durchgeführten Führungen und Präsentationen kamen immer wieder Bedenken zur Sprache, die (potentielle) Bewohner und Besucher bewegten: Die Kontrolle über die eigenen vier Wände geht verloren, wenn Entscheidungsbefugnisse (sei es nun der Energieträger für die Heizung oder der Startzeitpunkt der Spülmaschine) an ein EMS abgegeben werden. Aus diesem Grund wurde in die Benutzerschnittstelle des ESHL eine Funktion hinzugefügt, die jederzeit die Entscheidung des EMS überstimmen und eine sofortige Ausführung nach Benutzerwunsch erzwingen konnte. Das Vorhandensein dieser Möglichkeit allein trug sehr zur Beruhigung der Bewohner bei. In der Praxis wurde diese Funktion von den Bewohnern jedoch nicht benutzt, es genügte die (beruhigende) theoretische Verfügbarkeit dieser Möglichkeit. Damit der Benutzer also nicht die Kontrolle über sein Haus und dessen Zustand verliert bzw. komplett aus der Hand geben muss (oder auch nur das Gefühl hat, dies tun zu müssen), ist es notwendig, den aktuellen Zustand des Hauses und des EMS mit einem Blick erfassbar zu machen. Dazu muss dieser Zustand jedoch stark kondensiert dargestellt werden, so dass es einem Menschen auch möglich ist, ihn mit einem Blick zu erfassen, und nicht das Ablesen und Interpretieren verschiedener Diagramme erfordert. Im Umfeld des Energy Smart Homes geht es in den meisten Fällen primär nicht darum, sich in einer Menüstruktur zurechtzufinden, sondern eher den komplexen Zustand des Systems schnell und einfach wahrnehmbar zu machen. Ein vergleichbares Problem wurde im Kontext von Kurznachrichtensystemen (etwa Instant Messengern oder Kurznachrichten auf Mobiltelefonen) ebenfalls mit Symbolen gelöst. Im Gegensatz zum (bewegten) Bild des Gesprächspartners bei der Videotelefonie oder zumindest der modulierten Stimme in einem herkömmlichen Telefonat ist das Erkennen der Gemütslage des Kommunikationspartners nur auf
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Basis von Text schwierig, insbesondere wenn dieser Text so kompakt wie möglich sein soll. Die Lösung besteht hier in der Verwendung sogenannter Emoticons (oft auch Smileys genannt). Sie ermöglichen die Übermittlung komplexer Gemütszustände, die ein Kommunikationspartner mit bestimmten Aussagen verknüpft, in sehr kompakter Weise (oft nur 2-3 Zeichen). So wird neben der eigentlichen Inhaltsebene (der geschriebene Text) eine weitere Kommunikationsebene erschlossen. Verschiedene Untersuchungen (u.a. Rivera, Cooke und Bauhs13 oder Huang, Yen und Zhang14) zeigen, dass die Anreicherung von Maschineninteraktionen mit solchen Emoticons einen positiven Effekt nicht nur auf die Benutzererfahrung (u.a. der wahrgenommene Informationsreichtum und die Nützlichkeit) hat, sondern auch einen wertvollen Beitrag zur effektiven Übermittlung von Informationen leistet. Es sollte folglich möglich sein, die Benutzerinteraktion mit einem Energy Smart Home auf eine ähnliche Weise zu bereichern und zu vereinfachen. Insbesondere in Hinblick auf die begrenzten Möglichkeiten herkömmlicher externer Anreize zur Motivation von Benutzern zur aktiven und kontinuierlichen Teilnahme an einem zukünftigen dynamischen Energiesystem scheint es ratsam, beim Entwurf der Benutzerschnittstelle auf eine angenehme und gehaltvolle Benutzererfahrung zu achten. Ein weiterer sehr wichtiger Punkt ist in diesem Zusammenhang die Alltagstauglichkeit. Um ein dauerhaftes Engagement der Benutzer zu fördern, muss sich das Benutzerinterface eines Smart Homes nahtlos in den Alltagsablauf integrieren lassen. An dieser Stelle wird der Gegensatz von einer ›virtuellen Welt‹, die mit klassischen grafischen Benutzerschnittstellen (Graphic User Interfaces, GUIs) durch Symbole, Abbildungen und Menüs dargestellt wird zur realen Wirklichkeit des täglichen Lebens der Bewohner deutlich. Ein Weg, hier einen Medienwechsel zu vermeiden, bilden ›begreif bare‹ Benutzerschnittstellen (Tangible User Interfaces, TUIs). Hier werden bestimmte Eigenschaften digitaler Systeme in die reale Welt projiziert, indem sie durch dynamische physische Gegenstände repräsentiert werden und so in den Lebensalltag des Benutzers eintreten.
13 | K. Rivera/N. J. Cooke/J. A. Bauhs: The Effects of Emotional Icons on Remote Communication. 14 | A. H. Huang/D. C. Yen/X. Zhang: Exploring the potential effects of emoticons.
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Hiroshi Ishii erklärte 200815 den Vorteil von TUIs gegenüber herkömmlichen GUIs dadurch, dass Menschen im Laufe ihrer Evolution/Phylogenese hochentwickelte Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Manipulation ihrer physischen Umwelt ausbildeten. Viele dieser Fähigkeiten kommen jedoch bei der Nutzung klassischer, grafischer Benutzerschnittstellen nicht zum Tragen. Das MIT führte zu diesem Thema verschiedene Versuche durch. So nutzen Kalanithi und Bove16 sogenannte Connectibles, um ein soziales Netzwerk aufzubauen und darüber zu kommunizieren. Dabei wird jeder Kontakt durch ein elektronisches Gadget – dem Connectible – repräsentiert, das auf ein sogenanntes friendFrame aufgesteckt wird. Einstellungen, die an einem dieser Gadgets vorgenommen werden, werden automatisch an das Gegenstück übertragen. Wie bereits beim Schritt von reiner Textkommunikation zu Emoticons, berichten die Autoren auch hier von einer gesteigerten Begeisterung der Kommunikationsteilnehmer und einem Gefühl des ›intensiver-eingebunden-Seins‹. Abbildung 4: Die Hangster verfügen über einen Hauptmotor, mit dem sie sich auf und ab bewegen können, um so über den Zustand des entsprechenden Nutzers zu informieren. Mittels bis zu zwei weiteren Hilfsmotoren sind wei-tere Aktionen möglich, um z.B. neue Nachrichten zu signalisieren.
Foto: Tangible Peripheral Interactive Avatars for Instant Messaging
15 | H. Ishii: The Tangible User Interface and its Evolution. 16 | J. J. Kalanithi/V. M. Jr. Bove: Connectibles: Tangible Social Networks.
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Bereits 2006 hatten Jack Schulze und Matt Webb ihre Idee des Availabot17 vorgestellt. Der Availabot war eine kleine Figur, die – ähnlich wie Drückfiguren kleiner Kinder – aus mehreren Segmenten besteht und über einen gespannten Faden aufrecht gehalten wird. Lässt die Fadenspannung nach, fällt die Figur in sich zusammen. Schulze und Webb verbanden die Figur mit ihrem Instant Messenger so, dass sie sich bei der Verfügbarkeit bestimmter Kontakte aufrichtete. Dem Benutzer sollte so ein schneller Überblick über seine Kontaktliste ermöglicht werden, ohne die Notwendigkeit, einen PC oder ein Smart Phone bedienen zu müssen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen Peek, Pitman und The mit ihrem Hangster Konzept (vgl. Abbildung 4). Dabei dient eine kleine, von der Decke hängende Figur u.a. dazu, die aktuelle Verfügbarkeit von Personen für Chats zu repräsentieren. Im Gegensatz zum Availabot dient die Figur hier nicht allein der Visualisierung eines Zustands, sondern kann auch zur Bedienung verwendet werden. Die Eingabe erfolgt dabei direkt durch Herabziehen bzw. Hochdrücken der Figur. Weitere Komponenten wie Motoren, Servos oder LEDs in der Figur ermöglichen die Übermittlung zusätzlicher Informationen, z.B. ungelesene Nachrichten oder Einladungen. Die Figuren bestehen aus bedruckter Pappe, die individuell gestaltet und dann um den elektronischen Kern herum befestigt wird. Dadurch ist der Individualisierbarkeit nahezu keine Grenze gesetzt. Auch das ReaDIYmate 18 Projekt verfolgt das Ziel, Ereignisse der digitalen Welt greif bar zu machen. Auch hier kommen auf Pappe gedruckte Figuren zum Einsatz. Der Kern besteht hier aus einem Arduino Microcontroller, der um Module für das Abspielen von MP3s sowie zur WLAN-Kommunikation ergänzt wurde. Die ReaDIYmate Figuren können so von Werk aus auf Ereignisse in sozialen Netzwerken reagieren und Stücke von Soundcloud19 abspielen. Außerdem ist es über den Dienst ifthis-than-that20 auch für Menschen ohne Programmierkenntnisse sehr einfach möglich, weitere Aktionen hinzuzufügen. 17 | http://berglondon.com/projects/availabot/ 18 | Mit der Schreibweise ReaDIYmate soll betont werden, dass es sich hier um ein Do-It-Yourself Projekt handelt und nicht um ein fertiges Produkt. Die Menschen sollen dadurch ermutigt werden, ihre eigenen Ideen umzusetzen. http://readiymate.com 19 | https://soundcloud.com 20 | https://ifttt.com/
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A usblick Eine Möglichkeit, den Zustand eines Energy Smart Homes mit einem Blick erfassbar zu machen, ist die Nutzung eines digitalen Haustiers. Solche Tiere gibt es seit längerem für die verschiedensten Zwecke. Diese Haustier-Imitate sind oft darauf ausgelegt, Emotionen darstellen zu können, um eine emotionale Bindung zu ihren Besitzern herzustellen. Wie Kusahara und Donath erklären, ist eine solche emotionale Bindung schon mit relativ einfachen Mitteln herzustellen. Wichtig ist hier vor allem, dem TUI eine Art Persönlichkeit zu geben. Hierdurch neigen menschliche Betrachter sehr schnell dazu, unrealistische oder künstliche Aspekte in der Erscheinung eines solchen TUIs zu übersehen und es als eine Art digitalen Gefährten zu akzeptieren, dem wie selbstverständlich ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit gebührt. So kann z.B. der von Hodson beschriebene Jibo Roboter – ein Haushalts- und Familienroboter – Gesichter erkennen und wendet sich in Gesprächen jeweils dem Sprecher zu. Zudem reagiert er auf bestimmte gesprochene Kommandos. Entwickelt wurde er von Cynthia Breazeal, die am MIT die Personal Robots Group gründete und leitet. Das Gesicht des Roboters besteht aus einem Display, auf dem ein einzelnes Auge eingeblendet ist. Mit Hilfe dieses Auges soll der Roboter seinen ›aktuellen emotionalen Zustand‹ vermitteln. Natürlich verfügt der Roboter nicht über wirkliche Emotionen, sondern folgt nur einfachen Regeln. Das süße und verspielte Aussehen, das an eine Figur aus einem Pixar-Kinderfilm erinnert, soll jedoch dazu führen, dass Menschen ihn als lebendigen Mitbewohner wahrnehmen und akzeptieren. Breazeal schreibt dazu, dass die Repräsentation eines internen Zustandes via Emotionen dem menschlichen Benutzer dabei hilft, ein brauchbares mentales Modell des Roboterverhaltens zu erstellen. So wird dessen Verhalten verständlicher und voraussagbarer und die Interaktion mit dem Roboterverhalten wird intuitiver, natürlicher und angenehmer. Ähnlich wie Ishii argumentiert sie, dass Menschen im Laufe ihrer Entwicklung eine soziale und emotionale Intelligenz erlangt haben, die ihnen das tägliche Zusammenleben erleichtert bzw. erst ermöglicht. Folglich sei es nur natürlich, dass Roboter/Maschinen, deren Zweck es ist, in dieser Umgebung zu funktionieren, über ähnliche Fähigkeiten verfügen sollten. Abschließend lässt sich sagen, dass die Energiewende nur dann gelingen kann, wenn eine ausreichend große Flexibilität beim Energiever-
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brauch erreicht werden kann. Energy Smart Homes stellen einen eleganten Ansatz dar, diese Flexibilität bereitzustellen. Damit dies auch in der Praxis funktioniert, muss die Bedienung solcher Smart Homes einfach, intuitiv und angenehm gestaltet werden. Die vorgestellten Beispiele, insbesondere die Tangible User Interfaces, stellen einen vielversprechenden Ansatz hierzu dar.
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Körper und Mode Wahrnehmungsmöglichkeiten technisierter Umwelt Viola Hofmann
E inleitung Oft werden Technik und Mode im alltäglichen Sprachgebrauch als »absolute Metaphern« verwendet.1 Das heißt, es wird vorzugsweise in verallgemeinernder Tendenz über ›die Technik‹ oder ›die Mode‹ gesprochen. Dabei werden im jeweiligen Grundbegriff alle vertrauten und unvertrauten technologisch oder modisch zu nennenden Verhältnisse umgrenzt. Durch die Beifügung des bestimmten Artikels ›die‹ werden Technik und Mode quasi verdinglicht, wenn nicht gar personalisiert. Auf diesem Wege werden sprachbildlich zwei Phänomene erfasst, die mit so vielen Zusammenhängen, verschiedenen Tatsachen und Vorstellungen unserer Lebenswelt verquickt sind, dass sie sie erheblich beeinflussen. Als absolute Metaphern verweisen ›die Technik‹ und ›die Mode‹ daher auch auf ihre ubiquitäre Präsenz und wesentliche Bedeutung in modernen und (post-) postmodernen Gesellschaften. Scheinbar eigengesetzlich und schwer durchschaubar, auch dies ist ein Teil der jeweiligen Legenden über ›die Technik‹ und ›die Mode‹ werden sie als autonom generierte und kulturell invasive Mechanismen beschrieben. Technik und Mode werden tendenziell als etwas Gemachtes, als Derivate menschlicher Existenzbedingungen imaginiert und dargestellt. Da sie das menschliche Leben unentrinnbar von ›außen‹ zu okkupieren und es künstlich zu gestalten scheinen, wird beiden Phänomenen
1 | Vgl. J. Ropohl: Technikbegriffe zwischen Äquivokation und Reflexion, S. 47.
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eine große Macht zugeschrieben.2 Zahlreiche Beispiele, die die als ohnmächtig oder tyrannisch empfundene Beziehung zwischen Mensch und Mode, Mensch und Technik in Schrift und Bild verarbeiten, ließen sich an der Stelle heranziehen.3 Trotzdem oder dennoch sind Technik und Mode in der westlichen Industriegesellschaft zu Parametern geworden, die das Bemessen von Relativismen wie Wandel, Dynamik und Fortschritt erst ermöglichen. Mit dem sich immer rascher vollziehenden Austausch obsoleszent gewordener Dinge durch neues und ›besseres‹ technisches/modisches Design, mit Paul Virilio könnte man dies als »das bewegliche Voranschreiten« der den Menschen »umgebenden Dinge« beschreiben, werden die Perspektiven von Realraum und Echtzeit dynamisiert. 4 Mit anderen Worten, der andauernde technische und modische Wandel speist unablässig den Eindruck eines schneller auf den Menschen zukommenden Zukunftshorizonts. Allerdings könnte die Einschätzung von Mode oder Technik gemessen an ihrem gesellschaftlichen Beitrag, bleibt man bei allgemeinen Bedeutungszuweisungen, nicht unterschiedlicher sein. Technik und Mode werden zwar mindestens seit der Aufklärung als größere zivilisatorische Teilsysteme anerkannt, dabei aber völlig gegensätzlich qualifiziert und hierarchisiert. Die Vorstellungen über den gesellschaftlichen Wert von Technik und Mode fallen an der Stelle auseinander, an der beide am kulturell festgelegten Grad ihrer Nützlichkeit bewertet werden. Gemäß recht fest gefügter, tradierter Allgemeinauffassungen gilt die Technik als rational und als ein zweckdienlich organisiertes Sachsystem5, während die
2 | Vgl. G. Banse/ R. Hauser: Technik und Kultur – Ein Überblick Banse, S. 17-40; B. Vinken: Mode nach der Mode. 3 | Im Falle der Mode kursieren in Europa schon seit dem Mittelalter Karikaturen, die sie als teuflisches oder groteskes Wesen darstellen. Zum Überblick vgl. G. Wolters: Teufelshörner und Lustäpfel; A. Rasche/ G. Wolters: Ridikül! Beispielhaft für eine Technologiekritik im tragikomischen Gewand ist der Film Modern Times (1936) von Charles Chaplin. Der von Chaplin verkörperte ›kleine Mann‹ gerät im wahrsten Sinne des Wortes in das Räderwerk der entfremdenden Automatenindustrie. 4 | P. Virilio: Die Erorberung des Körpers, S. 164. 5 | J. Banse/ R. Hauser: Technik und Kultur – Ein Überblick, S. 19.
Körper und Mode
Mode lediglich als ein oberflächliches Akzidenz angesehen wird, deren ständiges Wechselspiel im Gegenteil auf Unvernunft gründet.6 Mit diesen eindimensionalen und dekontextualisierenden Technikwie Modeparadigmata wurden und werden vor allem auch aus Sicht der Kleidungs- und Modeforschung diverse Einbettungskonstellationen von ›Technik in der Mode‹ und ›Technik als Mode‹ verschleiert. Dem gilt es entgegenzuhalten, dass in jeglichem Ausdruck von Mode ein Enthalten-sein von komplexen, objektivierten und sedimentierten Technologien vorausgesetzt werden muss. Dies betrifft sowohl das Planungsapriori und die konkrete Konstruktion textiler Objekte als auch die Inkorporation neuer Technologien und die experimentelle Erprobung fiktiver Technoszenarien am Körper. Damit erhält die Mode, da sie per se auf den menschlichen Körper zielt und als Interface von Technischem und scheinbar Nicht-Technischem fungiert, eine besondere Bedeutung für die Perzeption von Technik. Über diese Schnittstellen gilt es in meinem Beitrag anhand einiger Beispiele zu berichten. Zuvor jedoch möchte ich zur Fundierung kurz auf die Verbindungen von Technik und Mode eingehen.
Technik und M ode als K ooper ationspartner In der theoretischen Reflexion werden Mode und Technik in der jüngeren Zeit durch verschiedene kulturwissenschaftliche Disziplinen unter einem erweiterten Kulturbegriff als anthropologische Konstanten und kulturelle Dispositive begriffen. Die kulturalistische Perspektive verdeutlicht, dass Technik oder Mode als soziale Phänomene in der jeweiligen Raum- und Zeitkonstellation mit alltäglichen Dingen, Prozessen, Verhaltensweisen und Lebensführungen verwoben sind, sie modifizieren und neu gestalten. Diese Konzeptionen, Technik und Mode selbst als Kultur zu begreifen, haben freilich ihre eigenen Vorgeschichten.7 Im Falle der Mode zieht die stärkere Gewichtung des Gegenstandsfeldes in einigen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, vor allem in der volkskundlichen Kleidungsforschung, die Überkreuzung beider Bereiche nach sich. Seit den 1980er Jahren hat sich ein verstärktes 6 | S. Bovenschen: Über die Listen der Mode, S. 10-30. 7 | Vgl. G. Mentges: Für eine Kulturanthropologie des Textilen, S. 11-54 ; G. Banse/ A. Grunwald: Technik und Kultur.
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Interesse an Kleidung, an ihrer Materialität und damit an den vorgeschalteten textilen Fertigungsverfahren, handwerklichen oder industriellen Arbeitsprozessen und Wirtschaftskomplexen herausgebildet. Realien wie textile Materialien, textile Objekte, Werkzeuge, Geräte und Maschinen sowie verschiedene Quellen, die Auskunft geben über textiltechnische Prozesse und Wissen, geraten in den Blick, um die Arbeitstätigkeit, Produktions- und Lebenssituation von Menschen in Verbindung mit der symbolischen Produktion von Welt zu ergründen.8 Diesen Bereich der Technik und ihre Entwicklungsbedingungen sowie Auswirkungen auf Gesellschaften möchte ich als Verbindung von Technik und Mode auf der ersten Ebene bezeichnen als ›01 Fabrikation von Textildingen‹ (s. Abb. 1). Mit der Stärkung der materiellen Kulturforschung und der Formierung der Textil- und Modeforschung als eigenständige Disziplin und ihrem Fokus auf medialisierte und materialisierte Identitätsarbeit, hat sich ein neuer Technikbegriff im Gegenstandsbereich etabliert, der der sozialen Technik und der der Körpertechnik. Der Einsatz von Körper und Kleidung wird als spezialisierte Darstellungs- und verhaltenstechnik verstanden. Diese auf das menschliche und soziale Selbst bezogene Interdependenz von Mode und Technik möchte ich als Verbindung der beiden Phänomene auf der zweiten Ebene bezeichnen als ›02 Fabrikation von Modekörpern‹ (s. Abb. 1). Jennifer Craik hat den Ansatz der Körper- und Modearbeit in Anlehnung an Marcel Mauss (Techniques du corps) und Pierre Bourdieu für die Modeforschung fruchtbar gemacht. Wie sie sagt, werden Körper »…›getragen‹, durch Technologien der Bewegung, der Beherrschung, der Präzision der Gesten und durch kontinuierliche Anpassung entsprechend der Dynamiken des Habitus«.9 Der Körper ist demnach soziale Ressource 8 | Kerstin Kraft hat in einer Publikation neueren Datums noch einmal auf den Einfluss André Leroy-Gourhans hingewiesen, der wegweisend war bezüglich der Aufschlussmöglichkeiten von Materialbeschaffenheit und Herstellungsprozessen hinsichtlich voraussetzbaren Wissens in Verbindung mit sozialen und symbolischen Implikationen. Kraft selbst beschäftigt sich mit der Technomorphologie, d.h. der Ausformung abstrakten Wissens, das sich, so ihr Ansatz, nachgerade durch das Praktizieren textiler Tätigkeiten selbst formiert. K. Kraft: Grundlegende Betrachtungen zur Technik –Technomorphologische Analysen des Textilen, B1-B31. 9 | J. Craik: Mode als Körpertechnik. Körperarbeit, Modearbeit, S. 289.
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und soziales Instrument, der mit drei Modalitäten der Dressur kombiniert oder verschmolzen wird, der physiologischen, dies betrifft alle Formen der physischen Darstellung, der psychologischen, das betrifft die Dimension der internalisierten Normen, und der soziologischen, das betrifft die Verständigung über Konsensregeln.10 Abbildung 1: Fabrikation des Technokörpers
Eigene Grafik
Diese Repertoires werden seit dem 20. Jh. immanent durch neue technische Errungenschaften erweitert. Im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts löst sich die Textilproduktion von der handwerklichen Fertigung und wird überwiegend industriell und als Massenprodukt hergestellt. Neue Maschinen, chemische Möglichkeiten – erstmals gelingt es Materialien11 und Farben künstlich zu erzeugen – eröffnen neue Denkräume für die Mode. Der Körper wird in bahnbrechender Weise als ein technomorpher Körper entworfen. In seiner Überantwortung an den Bereich der Technik dient er einerseits als Experimentierfeld für visionäre textiltechnische Errungenschaften, zum anderen ist er konkretes Akkumulatormedium von neuer Technik. 10 | Ebd. 11 | Vgl. A. Steinert: Kunstseidene Welten, S. 185 – 254.
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Aber auch zuvor, besieht man die Kleidungs- und Modegeschichte, ist der plastische Körper keiner, dessen Konturen durch die Kleidhülle lediglich nachgezeichnet werden. Vielmehr wird sein Erscheinungsbild gezielt seziert und konkret verletzt, um ihn neu zu formen und zu verformen. Silhouetten und Körperteile werden nach dem jeweiligen Ideal beharrlich geschnürt, gepresst oder gewölbt, Haltungen und Beweglichkeit werden verändert sowie durch Schönheitsoperationen und Diäten umgestaltet. Bei diesen drastischen Körperdressuren handelt es sich kaum noch um oberflächliche Eingriffe. Vielmehr werden Knochen, Fleisch und Haut selbst zum veränderbaren Stoff der Mode. In jüngster Zeit erscheinen die Grenzen der Zurichtbarkeit des Körpers erweitert, durch das »Ineinanderwachsen von Körper und Technologie«.12 Biofaktische Hybridisierung, endo- und exogene Manipulationen greifen in das Außen und Innen des Körpers ein. Das Leben selbst als »veraltet geltende evolutionäre Strategie«13 wird durch die sich mit »Bio-, Informations- und Nanotechnik« eröffnenden Gestaltungsmöglichkeiten den »Moden unterworfen«, so Petra Eisele und Elke Gaugele.14 Diese dritte Ebene der Verschränkung von Technik und Mode möchte ich als ›03 Fabrikation des Technokörpers‹ benennen (s. Abb. 1).
D ie leibliche A kkumul ation visionierter technischer Z ustände Die Soziologin Aida Bosch schreibt, der Mensch verfüge im Alltag über zahlreiche Dinge, mit denen er korrespondiert. Zweck und Gebrauch der Dinge wiederum formten menschliche Handlungen und Seinszustände.15 Folgt man Bosch, ist die Mensch-Ding-Beziehung daher nicht nur von symbolischer Natur, sondern in gewisser Weise technisch-programmatisch verfasst.16 Wie sich diese Formung konkret gestaltet, verdeutlicht sie am Beispiel des Autos in Rekurs auf den Technikphilosophen Max Bense. »Der Mensch hat ein Auto, und das Auto ist. Der Mensch ist nicht 12 | E. Gaugele/ P. Eisele: Technonaturen oder: neues organisches Design, S. 26. 13 | Vgl. G. Uhlmann/ H. Jokinen: KunstMensch, S. 49. 14 | E. Gaugele/ P. Eisele: TechnoNaturen oder: neues organisches Design, S. 26. 15 | A. Bosch: Sinnlichkeit, Material, Symbolik, S. 50. 16 | Ebd., S. 60.
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das Auto. Doch im Vorgang des Fahrens« werde dieser Unterschied aufgehoben. Dabei stellt sich die Frage: »Ist es das Auto, das fährt, oder fährt der Mensch?«17 Die Antwort lautet, beide fahren. Der Mensch bewegt sich, wobei das Auto den Vorgang des Bewegens formt. Das Auto bzw. das »technische Ding und sein Einfluss lassen sich nicht aus der Handlung isolieren oder herauslösen«, sonst wäre die menschliche Bewegung im Raum eine andere.18 Dieses Problem des ›wer-bewegt-wen‹, wirft man einen Blick auf das frühe 20. Jahrhundert, beginnt offensichtlich mit zunehmender Intensität den Diskurs zu ergreifen. So sicher man sich sein kann, dass sich die technischen Konstellationen immer wieder verändern werden, so sicher kann man sich sein, dass die Technik zu einem einflussreichen Koinzidenzphänomen für Leib und Körper werden wird. Unter dem Eindruck der allmählichen Objektivierung des Körpers und seiner befürchteten Zurücksetzung hinter die Technik stellen sich Fragen nach den kommenden menschlichen Handlungsmodi und Seinszuständen. Abbildung 2: Development of Wireless Telegraphy, Lewis Baumer
S. Lee: Fashioning the Future, S. 16
17 | Ebd. 18 | Ebd.
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In zahlreichen Entwürfen und Umsetzungen in der Textilindustrie samt ihren Labors, in der Bekleidungs- und Modeindustrie sowie ihren distribuierenden Medien und in der künstlerisch-gestalterischen Avantgarde wird der Körper sehr konkret nach seiner künftigen Rolle befragt. Er wird in Beziehung gesetzt zu den technischen Dingen und zu den technischen Funktionen, die in diesen Dingen stecken.19 Eine Zeichnung von Lewis Baumer für das britische Satiremagazin Punch aus dem Jahr 1906 (Abb. 2) zeigt zum Beispiel eine Dame und einen Herren, die sich in einer parkähnlichen Landschaft befinden. Sie sitzen auf französischen Klappstühlen. Beide Personen sind zeitgenössisch bürgerlich elegant gekleidet. Ihren Ausgehhüten sind Antennen aufgepflanzt und auf den Knien jeder Person befindet sich jeweils ein dunkler Kasten, aus dem sich ein Band entrollt. Der Bildtitel Development of Wireless Telegraphy verrät, dass es sich um telegraphische Apparaturen handelt und die Antennen dem Empfang von elektrischen Wellen dienen. Um 1900 wurde die bereits selbstverständliche Telegrafie durch den Funk innoviert. Die neue Funktechnik ermöglichte eine drahtlose Übermittlung von codierten Buchstaben und Zahlen, die noch zwischen fest installierten Antennen und Empfangsgeräten übersendet werden mussten. Es ist nicht zu übersehen, dass die Vision des Zeichners das Gegebene verarbeitet, in dem Fall die bereits vorhandene Funktechnik. Allerdings überschreitet er in der bildnerischen Gestaltung den konventionellen Rahmen, indem der zeitgenössische Mensch und die Telegrafie mit etwas theoretisch Machbarem, nämlich dem Funkmenschen zusammengeführt werden. Was zunächst kurios anmutet, lässt sich als symbolische Anthropomorphisierung deuten. Durch die derartige Aneignung der Technik vollzieht sich ein kreativer Übersprung, der den üblichen »Referenzbereich« von Alltagspraktiken »überschreitet«, und der so gesehen »neue Bausteine für Wirklichkeitsbilder und Weltmodelle liefert«.20
19 | Sehr radikal haben die italienischen Futuristen, die russischen Konstruktivisten und Suprematisten sowie die Bauhaus-Künstler und -Künstlerinnen mit den Kleidungskonventionen gebrochen, wobei u.a. das Verhältnis Mensch-Maschine, Dynamik und Mechanik durch ungewöhnliche Materialästhetik und verwandelbare Kleidung thematisiert wurden. Vgl. G. Framke: Künstler ziehen an. 20 | E. List: Die Kreativität des Lebendigen und die Entstehung des Neuen, S. 325.
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Sehr ähnlich, in einer nicht weniger eigentümlichen Mischung aus zeitgenössischem Alltagsgewand und DIY-Apparaturen, präsentieren sich etliche andere Versuche, das Problem der zukünftigen mobilen und interaktiven Vernetzung zu verhandeln. Betrachtet man etwa die frühen anwendungsorientierten Studien des Radiohat von Steve Mann von 1980 bis Mitte der 1990er Jahre, werden Schutzhelmen und Baseballmützen Antennen aufgepflanzt. Dem Körper werden klobige Geräte umgeschnallt, bis sich nach und nach, beeinflusst durch die elektronische Miniaturisierung, ›stromlinienförmigere‹ Lösungen ergeben, die auf den ersten Blick nicht mehr preisgeben, was in ihnen steckt (Abb. 3).21 Weiteres Anschauungsmaterial zeigt, dass Radiowellen, Computertechnologie und andere grundlegende Innovationen als funktionale Additive dem Menschen mehr und mehr auf den Leib gerückt werden.22 Technische Bauteile fusionieren mit der Kleidung, werden in sie integriert. Abbildung 3: Radiohat, Steve Mann
Radiohat in: S. Lee: Fashioning the Future, S.16.
21 | S. Lee: Fashioning the Future, S. 16. 22 | Reiches Anschauungsmaterial bieten die 290 Abbildungen, Grafiken, Drucke, Fotos, Filmstills, Studien, Werbungen etc., bei S. Lee.
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Als Wearables und Smart Clothes werden leit- und messfähige Textilien schließlich selbst zu Benutzeroberflächen. Auf bestimmte Körperzonen verteilt erlauben Touchpads via Bluetooth den Zugriff auf mitgeführte Datenpakete sowie Kommunikations- und Ortungsnetze. Der User aktiviert das System und gibt die Befehle per Selbstberührung. Durch die mit der Hand am Körper eingeleiteten Signale tritt ins Bewusstsein, dass der menschliche Leib selbst Teil des technischen Apparates ist. Seit einiger Zeit bereits können durch marktfähige Smart Textiles köpereigene Werte und physiologische Einflüsse gemessen, abgerufen und als Daten verwertet werden. Diese Textilien können als Körperüberzüge in Gewebelagen funktional geschichtet werden: Eine Schicht kann mit Sensoren versehen sein, eine andere als Speicher dienen, eine weitere kann Licht oder Geräusche und wieder eine andere kann Beschleunigung und Ortsveränderungen registrieren. Die Schichten können über Bluetooth verbunden werden und bilden wie die Haut eine semipermeable Grenze zwischen innen und außen. Die eigenen Vitalfunktionen können dadurch kontrolliert und mit anderen geteilt werden.23 Mittlerweile tauschen Laufzirkel ebenso wie Diätclubs ohne Vorbehalte in Hyperräumen persönliche Daten aus. Auch Gefühlszustände können über elektronische, physikalische und physische Impulse angezeigt und übermittelt werden. Das sogenannte Hug Shirt, das ein Beispiel für Experience Design darstellt, simuliert seinem Träger Umarmungen, Wärme oder den Herzschlag einer anderen Person. Mittels Mobiltelefon werden die physikalischen Impulse als Gefühlmessages von einer sendenden Person übermittelt.24
S econd S kin und S kinthetik Die »Rhetorik der Überwindung der Haut«, die am »Ende des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Topos« geworden ist, scheint damit realisiert.25 »Die Epidermis, das flächenmäßig größte Organ des Menschen«, das hat Claudia Benthien für die 1990er Jahre befunden, »wird als Inter23 | Vgl. den Beitrag von M. Heidingsfelder über Quantified-Self-Technologies in diesem Band. 24 | Vgl. u.a. I. Loschek: Wann ist Mode?, S. 147ff; E. Gaugele/ P. Eisele, S. 32. 25 | C. Benthien: Haut, S. 11.
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face entdeckt«.26 Vor allem die Vorstellung zu dieser Zeit, dass Kontakte von »Haut zu Haut über physische Distanzen hinweg« möglich sein werden, dass man mittels Datenanzügen den gesamten empfindenden Körper in die virtuelle Realität mitnehmen könne, löste unter dem Stichwort Cybersex einen Skandal aus.27 Die Aufregung um eine derartige Manipulation von Haut und Körper erweist demnach, welche immense kulturelle und symbolische Bedeutung die Haut hat, und sie deckt gleichsam einen Grundwiderspruch auf: nämlich, dass die Haut trotz ihrer kulturellen Beschreibbarkeit als eine natürliche, autarke und abgeschlossene Körperoberfläche imaginiert wird. 28 Die anthropo-soziologische Designtheorie definiert die Haut als erste Hülle des Menschen, die Kleidung als zweite und die Architektur als dritte Hülle. Diese Hüllen umgrenzen die »künstlich geschaffenen Bezirke« des Menschen, und fungieren als Medien menschlicher Expressivität und sozialer Verständigung, weil sie ›designt‹ werden.29 Menschheitsgeschichtlich sind Haut und Kleidung miteinander verbunden. Als Entität verschränken sie sich zu einer leiblichen »Schutz- und Ausdrucksleistung«.30 Bestimmte Eigenschaften von Textilien unterstützen den Körper physiologisch, wärmen, kühlen, wirken sich auf den Feuchtigkeitstransport aus, schotten gegen Regen, Kälte und Wind ab und facettieren ihn sozial. Insofern sind Kleidungstextilien, wie Craik es formuliert hat, im doppelten Sinne ein kultureller Body Enhancing Apparatus sowie eine technoide Apparatur der Körper- und Leibverbesserung, ohne die der Mensch nicht ohne weiteres zu denken ist.31 Die Eigenlogik von Innen und Außen, die das Körper-und-Kleid-Verhältnis bestimmt, hält das Textile allerdings auf einer gewissen Distanz zum tragenden Körper. Zwar besitzt Kleidung eine spezifische physische Form, die auf den Körper hin konzipiert ist, wegen ihrer Auswechselbar26 | Ebd. 27 | Ebd. 28 | Ebd. 29 | J. Fischer: Interphänomenalität, S. 103. Fischer rekurriert auf die Theoreme von Scheler-Plessner-Luckmann (Interphänomenalität) und Scheler-Plessner-Luckmann (Ausdrucksüberschuss) vgl. a.a.O. S. 93. 30 | Ebd., S. 103. 31 | J. Craik: Uniforms Exposed, S. 168.
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keit ist sie aber auch eine Sache, in der der Körper steckt. Die permanent gemachte Erfahrung des Hinein- und Herausschlüpfens, des An- und Ablegens, Wechselns und Neuarrangierens untermauert, dass diese Beziehung jederzeit kündbar ist. Ein Kleidungsstück wird nachgerade leblos, wenn es im Moment des Ungetragenseins zusammenfällt oder schlaff am Bügel hängt. Dieser unabschließbare Prozess der Grenzüberschreitung zwischen Innen und Außen stellt eine Demarkationslinie der im Eigentlichen so intensiven Beziehung zwischen Mensch-Körper-Kleidung dar. Das Problem ist ein dauerndes Reiz-Thema in der Mode. Abbildung 4: Fish Dress
Abbildung 5: Mutilate, Walter Van Beirendonck
Fish Dress in: S. Lee: Fashioning the Future, S. 64.
Mutilate in: S. Lee: Fashioning the Future, S. 72.
In diesem Zusammenhang sind eine Zeichnung aus dem Jahr 1830, die eine Dame in einem Fish Dress (Abb. 4) zeigt, oder Walter Van Beirendoncks Mutilate von 1997, eine computergenerierte Ich-Mutation zu einem Fabel-Hybrid-Wesen (Abb. 5), interessant. Sie sind als metaphorisch-dialogisch angelegte Körperdesigns zu verstehen, die eine auf Dauer angelegte Grenzüberschreitung zwischen Kleid und Körper explizieren. Die Kombinationen von Fisch oder Reptil und Mensch konzipieren einen hybriden Körper, der in seiner zunächst grotesken Anmutung eine Projektionsmöglichkeit für die Erweiterung des menschlichen Außen anbietet.
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Van Beirendoncks Beispiel ist zudem bedeutsam, da seinem Entwurf wenige Jahre später die ersten biomimetischen Body Suits im Profischwimmsport folgen, bevor sie 2010 unter dem Vorwurf des Technodopings wieder verbannt wurden. Das High-Tech-Material der Ganzkörperanzüge imitiert die Nanolandschaft der rauen, widerhakenbesetzten Hautoberfläche von Haien. Das als Fastskin patentierte Fabrikat soll zusätzlich dank spezieller Nähte den Strömungswiderstand optimieren. Elastische Bänder, die das kompressionsfähige Material zusätzlich verspannen, sollen den Körper durch das ›softe‹ Exoskelett auf ›Stromlinie‹ halten, ihm Auftrieb geben und die Muskeln unterstützen. Eine kommerzielle Werbung für den Anzug zeigte eine Montage, die einen Schwimmer in Gleitphase unter einem Hai platziert.32 Die techno-ästhetische Inszenierung legt einen scheinbar vollzogenen evolutionären Fortschritt nahe und verschleiert, dass es sich um ein symbolisches Technik-Upgrading handelt. Die Leistungsverbesserung ist realiter kaum messbar. Unter dem Stichwort Second Skin oder Skinthetik wird unterdessen konsequent mit der Verwachsung von Haut und Textilien durch textile Implantate, Hautentnahmen und der Überwucherung von Haut experimentiert. Die Firma KnoWear entwarf um die Jahrtausendwende ein Konzept für skinthetische Implantate und sagte für das Jahr 2020 voraus, dass Haute Couture-Unternehmen und große Brands ihre Markenidentität und Markenbindung zukünftig über plastische Hautunterfütterungen herstellten. Bestimmte Körperpartien sollen demnach von Designern unverkennbar gestaltet werden und dem Konsumenten eingepflanzt werden können. Für Chanel, Louis Vuitton und Nike gab es bereits Werbestrecken für solche Markenimplantate. In einer Laufstegsimulation für Chanel tragen die Models an Rücken und Armen mustermäßig eingelagerte, erhabene Implantate, die die markante Polstersteppung der Chanel-Tasche aufnimmt. Das Logo des Unternehmens, das gekreuzte C ist ebenfalls unter der Haut implantiert.33 Andere Firmen, Entwickler und Designer arbeiten an subkutanen Varianten mit zusätzlichen Funktionen, die über Body Displays bzw. »Digital Tattoo Interfaces gesteuert werden«.34 Das Produkt wäre der inneren Logik nach als Smart Skin oder Smart Flesh zu bezeichnen. 32 | www.insidespeedo.com 33 | Vgl. S. Lee: Fashioning the Future, S. 70f. 34 | Vgl. Digital Tatoo Interfache auf emergingtrendsinvisualtechnology.wikia.com
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Martin Margiela hat 1997 mit Bakterien gearbeitet und verschiedene Materialien und Kleider mit unterschiedlichen Kulturen besetzt und sie überwachsen lassen, so dass die Stoffe zu einem sich ständig verändernden Organismus mutierten. Das Projekt suggeriert, der zukünftige Körper selbst werde vom »lebenden Material« überwuchert und gehe mit ihm eine Symbiose ein.35 Vergleichbares hat das Tissue Art Projekt entwickelt. Aus DNA der Mäusehaut und der DNA menschlicher Knochenhaut wurde 2004 auf einem Trägermaterial, nach dem Prinzip des Tissue-Engeneerings, eine winzige Haut-Jacke gezüchtet. Die allmählichen Wachstumsfortschritte konnten vom Publikum in einer Ausstellungssituation besichtigt werden. Die technischen Apparaturen wurden dabei dramatisch inszeniert und erzeugten eine unheimliche Labor-Atmosphäre, gleich einer modernen Frankenstein’schen Versuchsanstalt.36 Mit dem Projekt sollte, wie die Initiatoren sagten, Kritik an der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen sowie an technischen Machbarkeitsphantasien geübt werden.37 Besonders dieses letzte Beispiel mit seinem aktualen Charakter, dem Bezug zur genetischen Programmierung, hat intensive emotionale Spannungen ausgelöst, obwohl bekannt war, dass es sich um eine künstlerische Versuchsanordnung handelte. Das provokative Spiel mit dem Körperlichen zwingt nachgerade zu einer »affektiven und kognitiven Verarbeitung« besonders sensibler Poblemlagen.38 Wie bei allen anderen Beispielen praxeologischer Technik-Visionen scheint das Angebot zunächst einen überschaubaren Versuchsrahmen zu schaffen, der an der Stelle eine Möglichkeit zum gefahrlosen Probehandeln bietet. Von größerer Wichtigkeit erscheint jedoch, dass der eigentlich subjektiviert geglaubte Körper als »Nullpunkt aller Erfahrung in den Vordergrund« rückt.39 »Situiertheit, Kontingenz und Prozessualität haben also einen anderen Ursprung als den der Diskursivität – sie sind vielmehr im Eigensinn des Körpers selbst zu verankern.«40 Mit seinen künstlichen Bezirken und Oberflächen
35 | Vgl. S. Lee: Fashioning the Future, S. 72. 36 | http://tcaproject.org/vl/ 37 | Vgl. S. Lee: Fashioning the Future, S. 68f. 38 | A. Böhn: Technik und Kultur, S. 140. 39 | E. List: Grenzen der Verfügbarkeit, S. 75. 40 | H. Haker: Biofakte, S. 82.
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ist der menschliche Körper ein Wahrnehmungs- und Vollzugsorgan, an dem noch nicht Bezeichnetes in den Erkenntnishorizont rückt.
L iter atur Banse, Gerhard/Hauser, Robert, »Technik und Kultur – Ein Überblick«, in: Gerhard Banse/Armin Grunwald (Hg.), Technik und Kultur. Bedingungs- und Beeinflussungsverhältnisse, Karlsruhe: KIT Scientific Publishing 2010, 17-40. Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg: Rohwolt 1999, S. 11. Böhn, Andreas: »Technik und Kultur«, in: Gerhard Banse/Armin Grunwald (Hg.), Technik und Kultur. Bedingungs- und Beeinflussungsverhältnisse, Karlsruhe: KIT Scientific Publishing 2010, S. 129- 142. Bosch, Aida: »Sinnlichkeit, Material, Symbolik. Die Beziehung zwischen Mensch und Objekt und ihre soziologische Relevanz«, in: Moebius, Stephan/Prinz, Sophia (Hg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 49-89. Bovenschen, Silvia: »Über die Listen der Mode«, in: Dies. (Hg.), Die Listen der Mode, Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1986, S. 10-30. Craik, Jennifer: »Mode als Körpertechnik. Körperarbeit, Modearbeit«, in: Gabriele Mentges(Hg.), Kulturanthropologie des Textilen (2005), S. 287-305, hier S. 289. Craik, Jennifer. Uniforms Exposed. From Conformity to Transgression, Berg Publishers: Oxford/New York 2005. Framke, Gisela (Hg.): Künstler ziehen an. Avantgarde-Mode in Europa 1910-1939, Heidelberg: Edition Braus 1998. Fischer, Joachim: »Interphänomenalität. Zur Anthropo-Soziologie des Designs«, in: Moebius/Prinz 2012, S. 91-107. Gaugele, Elke/Eisele, Petra: »Technonaturen oder: neues organisches Design«, in: Dies. (Hg): TechnoNaturen. Design & Styles, Wien: Schlebrügge.Editor 2008, S. 16-39. Haker, Hille: »Biofakte-Prolegomena zum Selbst-Verhältnis zwischen Cyberspace und genetischer Kontrolle«, in: Nicole Karafyllis (Hg.), Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn: mentis 2003, 61-84.
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E inleitung Seit einiger Zeit hat sich der Begriff body hacking zu einem neuen Schlagwort entwickelt. Es verweist einerseits auf Do-it-yourself (DIY)-Praktiken, die bis in die 1970er Jahre zurückzuverfolgen sind und im Bereich alternativer subkultureller Vergemeinschaftungen zu verorten sind.1 Andererseits beziehen sich body hacker auf das Hacker-Ethos und sind daran interessiert, auf Open-Access-Basis neue (digitale) Technologien zu entwickeln oder bereits vorhandene zu modifizieren, um somit weitere Nutzerpraktiken zu erschließen. In diesem Rahmen beabsichtigen sie, die Horizonte sinnlicher Wahrnehmungen zu verschieben oder diese möglicherweise gänzlich neu zu bestimmen.2 Dabei bringen die Vertreter der body hacking-Szene zu ihrer Selbstinszenierung verstärkt die Bezeichnung des Cyborgs ins Spiel, der in diesem Zusammenhang vor allem auf das Subkutanitätskriterium rekurriert.3 Dass diese Taktik als Performance im Rahmen einer durch Aufmerksamkeit strukturierten Öffentlichkeit zu verstehen ist, zeigt u.a. der Hinweis auf die Überlegungen von Amber 1 | Vgl. S. Duncombe: Notes from underground; A. Spencer: DIY; T. Triggs: Scissors and glue. 2 | Vgl. u.a. B. N. Duarte: Entangled agencies. Zu Hacking-Praktiken im Computer-Bereich und der Gentechnik vgl. S. Levy: Hackers; M. Wohlsen: Biopunk. 3 | Vgl. D. Spreen: Der Cyborg, S. 170. Grundlegend zum Begriff des Cyborgs vgl. D. Haraway: A manifesto for cyborgs.
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Case, die zu bedenken gibt, dass nicht nur implantierte Technologie, sondern schon der Gebrauch von Smartphones deren Nutzer als »Cyborgs« qualifizieren würde.4 An dieser Stelle sollen aber weniger die Praktiken der body hacker im Mittelpunkt stehen, wie sie von Tim Cannon oder anderen realisiert werden.5 Vielmehr fokussiert der vorliegende Beitrag den Zusammenhang von DIY-Apparaturen, menschlichen Körpern und künstlerischer Performance, um dabei Re-Konfigurierungen sinnlicher Wahrnehmungen, insbesondere jene des Hörens, aufzuzeigen. Ausgangspunkt ist zum einen die Überlegung, dass Praktiken der experimentellen Verschaltung des Körpers mit elektrischen Regelkreisen nicht unbedingt ein Novum der Digitalkultur darstellen.6 Zum anderen werden Körper und die Grenzen sinnlicher Wahrnehmung im Feld der Kunst zunehmend hinterfragt und ihre Bedeutungen zur Disposition gestellt.7 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, sind Effekte dieser Prozesse ebenfalls im Bereich der DIY-Praktiken zu beobachten. Der Hauptteil des Artikels analysiert die Werke von Neil Harbisson und Daito Manabe und beschreibt Konstellationen, die in Video-Aufzeichnungen von Performances aus dem Zusammenspiel verschiedener am Geschehen Partizipierender resultieren. Es geht insofern nicht um Performances als einmalige Ereignisse, sondern um deren Verfertigung im Rahmen audiovisueller Produktionen, die zwischen alternativer Netzkultur und kommerzialisierbaren Innovationen kontemporärer Populärkultur zu situieren sind. Ziel ist es, diejenigen Experimentalanordnungen und -räume nachzuvollziehen, die Körper als »dehnbare, sich dehnende und ausgedehnte, kulturell kodierte Gebilde« adressieren.8 Dabei gilt es zwar, die Relevanz technischer Objekte in der Performance-Kunst zu berücksichtigen.9 Auch die intrinsische Verknüpfung von Körpern und Praktiken wird bedacht.10 In einer weiterführenden Perspektive liegt der 4 | Vgl. A. Case: We are all cyborgs now. 5 | Vgl. KPG: Bio-Hacking; M. Hoopenstedt: DIY-Cyborg. 6 | Vgl. A. Elsenaarr/R. Scha: Electric body manipulation as performance art; siehe auch den Beitrag von Bianca Westermann in diesem Band. 7 | Vgl. A. Jones: Body art; M. Schwartzman: See yourself sensing. 8 | S. Schade: Hybride Ausdehnungen des Medialen und des Körpers, S. 62. 9 | Vgl. C. Salter: Entangled, S. xxi-xxiii. 10 | Vgl. S. Hirschauer: Praktiken und ihre Körper.
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Fokus in Anschluss an die Arbeiten von Knorr-Cetina und Rheinberger aber auf Experimentalräumen, in denen sich komplexe Prozesse der Wissensproduktion verorten.11 In der Konfiguration dieser Räume werden menschliche Körper, entsprechende techné und die Umgebung wechselseitig miteinander verfertigt. Dabei wird anhand der Fallbeispiele auch davon ausgegangen, dass menschliche Körper sich in genuiner Weise durch ihre Signalverarbeitungsstrategien als »electrical system« beschreiben lassen und folglich als integrale Elemente der performierten Schaltkreise begriffen werden können.12 Insofern setzt sich der vorliegende Artikel von Argumenten der Enhancement oder Posthumanismus-Debatte ab – auch wenn diese von den Künstlern ins Gespräch gebracht werden, da dort prinzipiell von einer ›Ganzheit‹ oder ›Abgeschlossenheit‹ des Körpers ausgegangen wird und der Fokus auf einer technisch-prothetischen Erweiterung bzw. Verbesserung liegt.13
N eil H arbisson : E yeborg Vor rund zehn Jahren traf Neil Harbisson auf den Ingenieur Adam Montandon, zusammen entwickelten beide den Eyeborg.14 Es handelt sich um ein DIY-Implantat, das es Harbisson ermöglicht, Farben wahrzunehmen. Dieses Device operiert mit einer Kamera, verarbeitet Farbsignale, die im Sichtfeld des farbblinden Künstlers erscheinen, und gibt sie in Form von Audiosignalen aus. Während es zuerst an dessen Hinterkopf befestigt war und dort die Vibrationen auf den Schädelknochen übertrug und somit eine Wahrnehmung der Farben ermöglichte, hat sich Harbisson mittlerweile einen entsprechend mit dem elektronischen Auge verschalteten Sensor implantieren lassen. Durch die dauerhafte Verschaltung von Körper und dem Eyeborg verändert sich die Wahrnehmung des Künstlers und bedingt u.a., dass er im Traum keine Farben sehen, sondern sie vielmehr hören würde. In der Inszenierung seiner künstlerischen Identität nimmt 11 | Vgl. H-J. Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge; K. Knorr-Cetina: Wissenskulturen. 12 | A. Elsenaar/R. Scha: Electric body manipulation as performance art, S. 21. 13 | Vgl. kritisch dazu N. K. Hayles: How we became posthuman, S. xiv. 14 | Zu Montandon, der sich als »Experte für digitale Zukunft« bezeichnet vgl. http://www.adammontandon.com/ vom 13.03.2014.
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Harbisson diesen Umstand als Anlass, um sich als »Cyborg«15 darzustellen. Es gehe ihm insofern auch nicht vorrangig um eine Kompensation seiner Sehbehinderung, als vielmehr darum, den Körper und die Sinne zu »hacken«.16 Entsprechend seiner Wahrnehmung, die er selbst als »Sonochromatismus« bezeichnet, tritt Harbisson auch in Szene:17 Er präsentiert sich mit Anzügen, Socken oder Schuhen, die – aus der Sicht Normalsehender – starke Farbakzente bieten und verweist mit diesem Auftreten auf die besondere Stellung der Art und Weise, wie er seine Umwelt und die darin vorkommenden Farben »sieht«.18 Um der veränderten Umweltwahrnehmung Harbissons nachzuspüren, an die ein ebenso modifiziertes Körperverständnis gebunden ist, wird nun auf einige kurze Videoclips eingegangen, die der Künstler auf Internetseiten und Video-Sharing-Plattformen veröffentlicht hat. Eine Variante, die Sicht- bzw. Hörweise des Eyeborgs filmisch zu erzeugen, kann anhand des Fruit Song nachvollzogen werden. Die Gestaltung des Videos ist sehr reduziert: Vor einem weißen Hintergrund erscheinen nacheinander verschiedene Früchte und Gemüse. Eine Ähnlichkeit dieser visuellen Abfolge mit der Kunst der Popart ist wohl nicht zufällig und unterstreicht, dass Harbisson sich in eine als innovativ geltende Kunst- und Musikproduktion einschreiben möchte.19 So zeigt das Video jede Frucht in Begleitung eines ständig sich wiederholenden kurzen Sinustons, der eben auf jener Frequenz angesiedelt ist, die der Eyeborg dem Blau der Pflaume, einer Orange, dem Gelb der Banane oder dem Dunkelblaugrün der Aubergine zuordnet. Das Obst wird je einzeln und nacheinander eingeblendet,
15 | Hier wird ein enger Cyborg-Begriff verwendet, der auf das Subkutanitätskriterium abhebt. Vgl. D. Spreen: Der Cyborg, S. 170. 16 | Vgl. TED Weekends. ›Hacking our senses‹. WATCH: How a Colorblind Cyborg ›Hears‹ Color. Siehe auch den Kommentar von E. Park: Ethical issues in cyborg technology. 17 | Vgl. C. F. Laferl/A. Tippner: Zwischen Authentizität und Inszenierung. 18 | Vgl. F. Falzeder: Body-Hacker und Cyborgs. Ein Mann hört rot. 19 | Das Cover der Debut-LP The Velvet Underground & Nico (1967) gestaltete Andy Warhol mit einer Banane auf weißem Hintergrund. Der Clou bestand darin, dass die Banane ein Aufkleber war, hinter dem nach dem Abziehen eine rosafarbene Frucht erschien. Vgl. I. Ellis: Rebels wit attitude, S. 109.
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so dass in ihrer Abfolge eine melodische Tonfolge hörbar gemacht wird.20 Es handelt sich um eine Übersetzung der Wahrnehmung Harbissons, in der die Kamera die Perspektive des Eyeborgs einnimmt und dessen Lautproduktion auf der Tonspur eingespielt wird. Die Simulation trägt den Charakter eines Labor-Experiments, in der die Objekte rekonfiguriert und damit störende Farbeinflüsse eliminiert werden, um so möglichst den reinen Klang einer einzelnen Frucht – wie er vom Eyeborg produziert wird – mess- und damit auch hörbar zu machen.21 Im Gegensatz zum Fruit Song setzen sich die sonochromatischen Porträts Harbissons dem vollen Farbspektrum eines Gesichts aus, in dem laut Auskunft des Künstlers 360 Farbnuancen im Spiel sind: »Wenn ich das Gesicht von Menschen betrachte, höre ich unterschiedliche Töne. Ich höre die Farbe ihrer Haare, ihrer Augen, ihrer Lippen, ihrer Haut und schreibe die Noten auf eine Partitur. Von jedem Gesicht habe ich so einen Akkord. Es gibt hässliche Gesichter, die sehr harmonisch klingen[,] und schöne Gesichter, die sehr disharmonisch klingen.« 22
Eine filmische Herstellung der Wahrnehmung Harbissons bzw. des Eyeborgs bietet das sonochromatische Porträt des Fotografen Valentino Blas.23 Das Gesicht Blas‘ wird in extremen Nahaufnahmen gezeigt, die in schwarz-weiß gefärbt sind und somit den farbblinden Blick Harbissons simulieren: zuerst das rechte Auge, dann das Haar, darauf folgt der Mund sowie das linke Auge und schließlich das Kinn. Eine Überblendung mit Unschärfe-Effekt leitet danach zur letzten Einstellung über, die das Gesicht im Ganzen zeigt. Die extremen Nahaufnahmen fragmentieren den Körper und schaffen die Voraussetzung, den Ton der Körperpartien zu bestimmen, aber selbst dies bleibt ambivalent, da jeweils mehrere Sinustöne im Spiel sind. Erst im Abspann werden die Messungen exakt angegeben und die genauen Frequenzen der beiden Augen, des Haares, der Haut und Lippen in der Form, wie sie der Eyeborg gemessen hat, einge-
20 | Vgl. N. Harbisson: Fruit Song. 21 | Vgl. K. Knorr-Cetina: Wissenskulturen, S. 45–52; B. Latour: Gebt mir ein Laboratorium. 22 | J. Macher: Neil Harbisson – der Cyborg. 23 | Vgl. N. Harbisson: Sonochromatic Portrait.
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blendet.24 Zum Ende des Videos wird zudem deutlich, wie sich der Höreindruck des Gesichts bei Harbisson darstellt: Das Gemisch der Töne, die der Eyeborg produziert, und die hier auch einer weiteren soundtechnischen Bearbeitung unterzogen wurden, gerät zu einem anhaltenden Flimmern und Flirren. Der Blick der Kamera erzeugt in Kombination mit den Eyeborg-Sounds einen Eindruck derjenigen medialen Konfiguration, in der sich Harbissons Sehen und digital fabrizierte Klänge miteinander verschränken. Eine andere Konkretion des künstlerischen visuell-vibrierenden Hörens findet sich in der Videoaufzeichnung eines Farbkonzerts, das im Mai 2013 in London stattfand. Dort kreierte Harbisson die Socken-Sonate Nr. 1, indem er sich unterschiedlich farbige Socken vor sein Gesicht und den Eyeborg hielt.25 Die so entstandenen Sounds unterzieht Harbisson im Verlauf der Performance einer Weiterverarbeitung auf seinem Laptop, wofür er digitale Audio- und Kompositionsprogramme verwendet. Die Eyeborg-Lautproduktion wird geloopt, mit Delays und anderen Effekten bearbeitet, so dass ein rhythmisiertes elektronisches Musikstück ertönt. Diese Komposition mag nicht besonders originell erscheinen. Sie erhält aber durch die Präsenz von Harbisson, der in gelber Hose und rotem Sacko die Bühne betritt, sowie durch die im Hintergrund an die Wand projizierten großformatigen Farbkuben – visuelle Effekte, die auf die Farbe der Socken verweisen – durchaus eine gewisse Unverwechselbarkeit. Im Rahmen dieser »apparativen Versuchsanordnung«26 verschränken sich der Körper und die sinnliche Wahrnehmung Harbissons nicht mehr nur mit dem Eyeborg, sondern werden einem diffizilen Ensemble zugeordnet, das aus verschiedenen Agenturen besteht, die in ihrem Zusammenspiel die Wahrnehmungsweise des Eyeborgs performieren. Harbisson betont in Interviews häufig, dass er den Eyeborg nicht nur für das konventionelle Farbspektrum, das dem menschlichen Sehen zugänglich ist, nutzen möchte. Er sei vielmehr daran interessiert, sowohl Infrarot- als auch ultraviolettes Licht wahrzunehmen:
24 | Das Auge wird z.B. mit einer Frequenz von 735.7263358 Hz angegeben. 25 | Vgl. Colour Concert. Neil Harbisson at TEDMEDLive Imperial College 2013. 26 | S. Schade: Hybride Ausdehnungen des Medialen und des Körpers, S. 62.
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»you can keep upgrading the senses and perceiving more and more the longer you use it I guess. [...] I can now perceive near infrared and near ultraviolet, but the next stage is to perceive them from afar and just continue to extend this to be able to hear colours underwater and also in space.« 27
In dieser Beschreibung Harbisson klingen durchaus die Argumente bezüglich der Verbesserung des menschlichen Körpers an.28 Etwas das technisch machbar erscheint, sollte auch ausprobiert werden, argumentieren viele Vertreter aus den Reihen der sogenannten Bodyhacker oder Posthumanisten.29 Aus der Perspektive dieser Untersuchung erscheint es jedoch relevanter, dass – wenn der menschliche Körper wie eingangs beschrieben als elektrisches System begriffen und damit zum Bestandteil weiterer Schaltkreise werden kann – die offizielle Anerkennung seiner grundlegenden Technizität auf dem Spiel steht. So war Harbisson Mitbegründer der Cyborg Foundation und setzte sich dafür ein, dass die englischen Behörden ein Passbild für seinen Ausweis akzeptierten, das ihn mit seinem Eyeborg zeigt.30 Diese Anerkennung sei ihm wichtig, gehöre das Device doch zu ihm, da es ihm nicht nur die Wahrnehmung von Farben erlaube, sondern integraler Teil seines Körpers sei: »I insisted that I wanted to have it included in the photo as it was an extension of my senses and a part of my body.«31
V erschaltungen im S plit-S creen Das zweite Fallbeispiel setzt sich ebenfalls mit Praktiken der Verschaltung von Körpern und DIY-Apparaturen auseinander, wobei in diesem Fall die politische Dimension eine weniger große Rolle spielt, als das bei 27 | R. Bryant: People ›will start becoming technology‹. 28 | Vgl. M. Christen: Der Einbau von Technik in das Gehirn, S. 197; siehe auch: C. Coenen (Hg.): Die Debatte über ›Human Enhancement‹. 29 | Vgl. u.a. B. N. Duarte: Entangled agencies, S. 3. 30 | Vgl. Life with extra senses. Neil Harbisson and Moon Ribas at TEDxMuscat 2013 auf YouTube. 31 | Zitiert nach R. Bryant: People ›will start becoming technology‹. Harbissons Schilderung ähnelt Kevin Warwicks Selbstdarstellungen und Experimenten. Vgl. K. Warwick: Cyborg morals, cyborg values, cyborg ethics, S. 134.
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Harbisson der Fall ist. Gerade auf der Ebene künstlerischer (Selbst-)Inszenierungen sowie in Bezug auf den Gebrauch audiovisueller Praktiken zur Adressierung sensorischer Wahrnehmungen bestehen jedoch gewisse Parallelen, wie gleich ersichtlich werden wird. So wird etwa die Verschränkung körperlicher Bewegungen und apparativer Versuchsanordnungen auch in den Live-Performances des Trios Perfume aus Japan artikuliert. Daito Manabe, Programmierer und DIY-Experimentator, designte für die Tour der Girl-Band deren weiße Anzüge, die mit elektronischen Komponenten versehen sind und als Projektionsfläche für ein Kaleidoskop digitaler Graphik fungieren, wobei letztere zudem mit projizierten Hintergrundbildern auf der Bühne interagiert. Es handelt sich um »a combination of motion capture, visual programming and projection mapping technology«32, die in ähnlicher Form auch von der Performance Eclipse/Blue entworfen wird.33 Manabe und weitere seiner Mitstreiter der Gruppe Rhizomatiks widmen sich bereits seit einigen Jahren der Gestaltung experimenteller Umgebungen, die den menschlichen Körper und die sinnliche Wahrnehmung als zentralen Schauplatz des Geschehens bestimmen.34 Dies ist zum Beispiel im Video electric stimulus to face – test 3 zu beobachten, das seit 2008 über eine Million Mal auf YouTube angeklickt wurde.35 Bei dem ca. dreiminütigen Clip handelt es sich um eine Webcam-Aufnahme, die nur aus einer Einstellung besteht. Das Gesicht Manabes, das mit einer Naheinstellung kadriert wird, erscheint in der Bildmitte und ist mit zahlreichen Elektroden versehen. Die Kabel führen aus dem Kader heraus, so dass die Art und Weise der Verschaltung nur erahnt werden kann. Wenn aber auf der Tonspur die abstrakte Elektro-Musik ertönt und das Künstler-Gesicht sich abrupte und rhythmisch beginnt zu bewegen, so wird klar, dass hier keine Körperdaten oder Gehirnströme gemessen werden. Vielmehr wird die Gesichtsmuskulatur Manabes als Zielobjekt elektrischer Impulse in Szene gesetzt, wobei unterschiedlichen Instrumenten bzw. Tonhöhen verschiedene Gesichtsregionen zugeordnet werden. 32 | J. Hadfield: Daito Manabe set to work his visual magic at Electraglide. Vgl. L. Jobey: Performance. Daito Manabe’s light fantastic. 33 | Vgl. D. Manabe/N. Thing: Eclipse/Blue. 34 | Vgl. K. Holmes: Hacking the human body. Meet Daito Manabe; J. Noble: Daito Manabe. 35 | Vgl. D. Manabe: electric stimulus to face – test 3.
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Die amateurhaft wirkende medizinische Versuchsanordnung stellt das DIY-Prinzip aus und verweist dabei – wenn auch in vereinfachter Form – auf die Anfänge elektronischer Musik mit ihren modularen Synthesizern und analogen Stecksystemen.36 Darüber hinaus werden im Rahmen der aufgezeichneten Performance auch Grenzen und Möglichkeiten des Hörens auf neue Weise verhandelbar. Indem das Gesicht durch die reduzierte Kameraarbeit als Spektakel Kontur gewinnt, erhält die dort mit der Technik des »face visualizers« realisierte Choreographie auf der Basis der Wahrnehmung elektrischer Signale eine erhöhte Sichtbarkeit.37 In zugespitzter Form wird die per elektrischem Impuls induzierte Gesichtsstimulation von Manabe im Clip electric stimulus to face – test 7 einem Test unterzogen, wobei die Zahl der Probanden auf 36 Personen erhöht wird.38 Die vierminütige Aufzeichnung verwendet für die Darstellung des Tests einen Split Screen, so dass alle mit Elektroden und Kabeln versehenen Gesichter simultan im Kader erscheinen. Die Rekonfigurierung der Gesichter ist dabei nicht nur auf die Kadrierung durch Nahaufnahme zurückzuführen. In ähnlicher Weise wie die Objekte in Harbissons Fruit Song sind hier die Köpfe jeweils vor weißem Hintergrund platziert. Die Abkoppelung von einem subjektiven Raum bedeutet zugleich die Suspendierung anderer, in diesem Zusammenhang nicht relevanter körperlicher Regionen. Auf diese Weise wird die Zusammenführung der Gesichter in einem experimentellen Bildraum befördert. Auch räumliche Distanzen rücken in den Hintergrund und schaffen eine Beobachtbarkeit der verschiedenen Reaktionen auf elektrische Impulse. Zugleich erweist sich auch die zeitliche Ebene als relevant, denn die Gesichter, oder besser deren Bewegungen werden durch die Musik synchronisiert. Nicht einzelne Regungen oder individuelle Mimik erfahren eine Hervorhebung, sondern das als kollektiv konstruierte Wahrnehmungspotenzial der Gesichtsmuskeln. Die Strukturierung des Videos orientiert sich dabei an einer flachen Hierarchie, bei der die Musik zwar die zentrale Instanz darstellt, sie aber auf der auditiven Ebene angesiedelt ist und damit keine mittelbare Sichtbarkeit im Kader erhält, wie dies bei anderen Performances der Fall ist.39 36 | Vgl. T. Holmes: Electronic and experimental music, S. 240. 37 | Vgl. D. Manabe: Face visualizer. Face instrument. 38 | Vgl. D. Manabe: electric stimulus to face – test 7. 39 | Vgl. die Ausführungen zu Eric Whitacres »Virtual Choir« bei R. Reichert: Die Macht der Vielen, S. 142-144.
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Insofern operiert die Musik einerseits im Hintergrund. Andererseits wird sie durch Kabel und Elektroden gleichermaßen mit den Gesichtern auch visuell verbunden. So wird plausibel, dass das der Musik entsprechende akustische Frequenzspektrum über algorithmische Berechnungen die Körper der Teilnehmenden erreicht, dort gehört und in eine koordinierte Bewegungsabfolge der angesprochenen Muskeln übersetzt wird. Voraussetzungen dafür sind jedoch die Indifferenz und Reglosigkeit der Probanden gegenüber dem Reizfluss, dem sie sich aussetzen. Der Logik dieser »Partizipationsminimierung«40 widersetzen sich die Körper allerdings manchmal, wie vereinzelte Reaktionen der Probanden zeigen (wie z.B. Lachen oder schmerzhafte Gesichtsausdrücke). In anderen Versuchsanordnungen ist es jedoch Manabe selbst, der sich als Dirigent fremder Muskelstrukturen ins Bild setzt. Dafür greift der japanische Experimentator auf myoelektrische Sensoren zurück, die u.a. zur Steuerung von Hand- oder Armprothesen entwickelt wurden.41 Diese Sensoren, die elektrische Spannungen von sich bewegenden Muskeln messen und in Steuersignale umwandeln, werden von Manabe zweckentfremdet. An der Hand des Musikers befestigt werden die ausgeführten Bewegungen genutzt, um einen Drum-Computer anzusteuern. Jedem Finger wird ein Schlaginstrument zugeordnet.42 In diese Operation wird eine weitere Person involviert: So zeigt das Testvideo Manabe zusammen mit einem Musikerkollegen, dessen Gesicht mit Elektroden versehen ist. Beide Probanden sind über Kabel mit einem weiteren, d.h. einem Computer verknüpft. Manabe improvisiert verschiedene Rhythmen, indem er mit den Fingern unterschiedliche Regionen des Gesichts der Testperson antippt. Der direkte Körperkontakt und die authentische Reaktion auf ihn werden in diesem Experimentalraum subvertiert: Denn die Gesichtsbewegung des Probanden ist nicht der Berührung zuzuschreiben, sondern dem elektrischen Steuerungsimpuls, der in Manabes Hand gemessen, über den Computer prozessiert, in Schlagzeugtöne übersetzt, dann an die Muskeln des Probanden zurückgeführt und schließlich als faziale Choreographie inszeniert wird. Der Clip, der aus nur zwei Einstellungen mit fester Kameraperspektive besteht, erreicht seinen Kulminationspunkt, als auch der Proband in das Geschehen eingreift: Indem er die Hand 40 | S. Hirschauer: Praktiken und ihre Körper, S. 82. 41 | Vgl. u.a. C. Pylatiuk/L. Döderlein: Bionische Armprothesen, S. 1173. 42 | Vgl. D. Manabe: electric stimulus to face – myoelectric sensor test 1.
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Manabes berührt, setzt er sich selbst in die Lage, den eigenen Gesichtsausdruck mittels des elektrischen Schlagzeugspiels zu modellieren.43 Auf ähnliche Weise inszeniert auch der Versuchsauf bau im ersten Teil von Manabes Performance auf der Transmediale die künstlerisch gestaltbare Medialität von Individuationsprozessen.44 Dort wurde ein ›Kopierversuch‹ wiederholt, der schon an anderer Stelle mit entsprechenden Ergebnissen vorgestellt wurde: Während Manabes expressive Mimik durch die in seinem Gesicht angebrachten myoelektronischen Sensoren gemessen wird, kann sie in abstrakte Geräusche übersetzt und zugleich auf die Gesichter seiner Musikerkollegen übertragen werden.45
S chluss Die Produktionen von Neil Harbisson und Daito Manabe entwerfen in exemplarischer Weise Verknüpfungen audiovisueller Praktiken und experimenteller Versuchsanordnungen, wobei erstere und letztere in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und sich wechselseitig verfertigen. So ordnet sich Harbissons Körper nicht nur dem Eyeborg, sondern einer umfassenden Apparatur zu, mittels derer sich sein »Sonochromatismus« konstituiert. Manabes Experimente sind auf die Einbeziehung mehrerer Körper angelegt, für welche sich Zumutungen und Herausforderungen hinsichtlich ihrer Teilhabe am »embodied act of musical performance«46 stellen. In Anlehnung an Hauser kann hier von einer »biotechnological art« gesprochen werden, in der die Verschränkung sinnlicher Wahrnehmung mit DIY-Apparaturen erprobt wird.47 Obwohl in ihren Akzentuierungen verschieden verweisen Harbissons und Manabes Werke gleichermaßen auf den Bereich der Performance- und Video-Kunst, in der Experimente wie Stelarcs »ping body«48 oder Arthur Elsenaars »remote«49 herkömmliche Konzeptualisierungen des Körpers 43 | Vgl. Ch. Salter: Entangled, S. 252. 44 | Vgl. Daito Manabe. Performance at Transmediale 11. Berlin 2011. 45 | Vgl. D. Manabe: copy my facial expression into my friends’ – test 0. 46 | Ch. Salter: Entangled, S. 217. 47 | Vgl. J. Hauser: Biotechnology as Mediality. 48 | Vgl. V2_ Institute for the Unstable Media: Stelarc. 49 | Vgl. A. Elsenaar: rEmote. a.k.a. Compose your emoticon.
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in Frage stellen. Solche Projekte setzen sich auf unkonventionelle Weise mit der Konzeptualisierung des menschlichen Körpers als elektrisches Signalsystem auseinander und transponieren dessen Bedeutungen durch seine Einbindung in weitere Schaltkreise. Ob diese Praktiken dann aber tatsächlich Cyborgs bzw. »posthumane« Körper hervorbringen, ist sicher streitbar und zudem eine Frage des Labeling. Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die genannten Video-Performances in einer Populärkultur zu verorten sind, die sich zunehmend durch eine bionische Komponente zu charakterisieren scheint. Darauf lassen nicht nur die Videos und Auftritte von the first bionic pop star Viktoria Modesta oder die der Tänzerin Adrianne Haslet-Davis schließen.50 Auch das Projekt Mindtunes wäre zu nennen, in dem hippe Elektro-Sounds von Menschen mit körperlicher Behinderung per Elektroenzephalogramm sowie unter Mitwirkung von DJ Fresh kreiert wurde.51 Aber auch damit ist nur ein kleiner Ausschnitt eines wachsenden Felds umrissen, in dem Körper sowie künstlerische, experimentelle und audiovisuelle Praktiken aufeinandertreffen und das in Zukunft weiterer Analysen bedarf.
V ideos »Colour Concert. Neil Harbisson at TEDMEDLive Imperial College 2013«, https://www.youtube.com/watch?v=6P8O5JXlAJg vom 13.03.2014. »Daito Manabe. Performance at Transmediale 11. Berlin 2011«, https:// www.youtube.com/watch?v=nN5p4YgE2WM vom 13.12.2014. Harbisson, Neil: »Fruit Song«, https://www.youtube.com/watch?v=HH2 voukljPs vom 13.03.2014. Harbisson, Neil: »Sonochromatic Portrait. Valentino Blas, 2011«, https:// www.youtube.com/watch?v=KLyT-Oifywk vom 13.03.2014. Manabe, Daito/ Nosaj Thing: »Eclipse/Blue«, https://www.youtube.com/ watch?v=QYsfrtl88kA vom 05.12.2014. Manabe, Daito: »copy my facial expression into my friends’ – test 0«, https://www.youtube.com/watch?v=VtRVvBSbonk vom 13.12.2014.
50 | Vgl. L. Gannes: Dancing on a bionic leg; J. Plunkett: Pop riposte. 51 | Vgl. S. Kösch: Mental. Smirnoff Mindtunes.
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Manabe, Daito: »electric stimulus to face – myoelectric sensor test 1«, https://www.youtube.com/watch?v=oh8YYONrLIc vom 13.12.2014. Manabe, Daito: »electric stimulus to face – test 3«, https://www.youtube. com/watch?v=YxdlYFCp5Ic vom 13.12.2014. Manabe, Daito: »electric stimulus to face – test 7«, https://www.youtube. com/watch?v=CvmE4TZfeuo&list=UUg_m3Y7A_K12cvIDNxzhH4A vom 13.12.2014. Manabe, Daito: »Face visualizer. Face instrument«, http://www.daito.ws/ en/work/smiles.html#1 vom 13.12.2014.
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Roboter(proth)et(h)ik: Bionic legs und Exoskelette im Spannungsfeld von Roboterprothesen und Politik Florian Braune
E inführung Sogenannten Bionic legs und Exoskeletten wird im Bereich der Prothetik bzw. der Rehabilitationsmedizin ein großes Entwicklungspotential zugesprochen. Nachfolgend wird nach einem Überblick zum gegenwärtigen Stand technischer Möglichkeiten von ›Roboterprothesen‹ zunächst nach der gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Art von Prothesen als hochindividualisierte Mensch-Maschine-Schnittstellen im Spiegel ihrer sprachlichen Reflexion gefragt, um dann mit dem Versuch einer Problematisierung und Bewertung ihrer nicht nur dezidiert ›medizin‹-ethischen Aspekte zu schließen. Insbesondere die Möglichkeiten der politischen Inanspruchnahme von Prothesen werfen an der Schnittstelle von Medizin und Politik eine Reihe von Fragen auf: Der Einsatz von robotischen Prothesen als Instrument des Enhancements und der ›Vermeidung‹ gravierender Verletzungen wirken sich auf denkbare (außen-)politische Szenarien aus. Im Folgenden bezieht sich der Begriff des Enhancements daher auf jene »medicinal and procedural interventions that can be used to improve a human characteristic or state beyond what is necessary to optimise their health.«1 Erst durch die Fortschritte der (Medizin-)Prothetik stehen der Politik spezifische Optionen hinsichtlich militärisch vorgetragener Interventionen bereit, von denen sonst mit Blick auf erwartbare Verluste vermutlich Abstand genommen würde. Der Medizin könnte da1 | P. D. Scripko: Enhancement’s place in medicine, S. 293-296.
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durch eine wichtige Rolle in der Schaffung der Möglichkeitsbedingungen politischer Vorhaben zukommen. Im Ausblick wird daher der Frage nach der Notwendigkeit einer ›Roboterethik‹ im Kontext der Enhancement-Debatte nachgegangen.
R oboterprothesen und S pr achstr ategien ihrer gesellschaf tlichen A k zep tanz Sprachstrategien der Akzeptanz Die Einführung von Roboterprothesen als medizinischen Hilfsmitteln setzt ihre gesellschaftliche Akzeptanz voraus. Mit Blick auf ihre technische Komplexität und möglichen ethischen Implikationen ist ihre Präsenz in einer diesbezüglich sensibilisierten Öffentlichkeit nicht unbedingt selbstverständlich, werden sie doch (auch) als technische Eingriffe in die menschliche Natur betrachtet.2 Neben medialen Verkürzungen sind es nicht selten auch Fehlwahrnehmungen, die den spezifischen Diskurs prägen: Man denke dabei nur an den Begriff des Cyborgs und den diversen Charakteristika, die ihm – zumindest popkulturell – zugesprochen werden.3 Zu möglichen Fehleinschätzungen bezüglich auch nur antizipierter Nebenwirkungsrisiken tragen u.a. auch sogenannte »gesundheitspolitische Schlüsselbegriffe« bei.4 Diese führen wie ›Aufklärung und Zustimmung‹ (Informed Consent) in ihrer Übertragung auf ›neue‹ Herausforderungen, wie sie beispielsweise mit der Roboterprothetik einhergehen können, im Subtext ihrer Begrifflichkeiten bereits spezifische Norm- und Wertvorstellungen mit sich.5 In ihrer diskursiv verkürzenden Darstellung bleibt dann wenig Raum für Ausdifferenzierungen, die wie im Falle der Roboterprothetik eine unvoreingenommenere medizinethische Meinungsbildung hinsichtlich ihres Anwendungsspektrums erlaubten. 2 | W. van den Daele: Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement, S. 110. 3 | Vgl. A. Rauscher: Terminator, S. 429. 4 | S. Kessler/F. Braune: Unterschiedliche Begriffe sozialer Ungleichheit, S. 140. 5 | Vgl. F. Braune: Informed Consent im kulturbedingten Spannungsfeld, S. 185-197.
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Insofern geben unterschiedliche, mehr oder weniger subtile Sprachstrategien zur Akzeptanzerhöhung oder auch nur der bloßen Wahrnehmung Hinweise auf das Spannungsverhältnis von Roboterprothesen und ethischen Herausforderungen. Schon das angedachte Anwendungsspektrum von Prothetik birgt unterschiedliche Ebenen von Spannungsfeldern. Die erste Ebene betrifft die Zielsetzung: Entweder wird auf die Wiederherstellung eines status quo ante bzw. eines solchen grundsätzlich angenommenen im Falle einer qua Geburt bestehenden Mobilitätseinschränkung fokussiert oder auf antizipierte Fähigkeiten, die über die eigentliche Wiederherstellung hinausreichen. Welches Profil wird also adressiert: bloße Kompensation oder Erweiterung? Die Unterscheidung ist diffizil – gilt es doch mittelfristig als vorstellbar, dass eine bionische Armprothese mit Hilfe einer Gedankensteuerung angesprochen wird. Auf der zweiten Ebene wird nach den Ursachen der Notwendigkeit eines Einsatzes von Roboterprothesen gefragt: Die Bereitstellung von Technik dient als Linderung spezifischer Ereignisse mit biographischen Konsequenzen hinsichtlich der Mobilität. Aber inwieweit sind diese Konsequenzen scheinbar unvermeidbare Unfallfolgen oder aber eine im Grunde elektive Risikoperzeption im Rahmen eines militärischen Kontextes? Die anklingenden Kontexte ›zivil‹ bzw. ›militärisch‹ sind im Spiegel der gesellschaftlichen Akzeptanz, die sich auch sprachlich vermitteln, von Bedeutung.
Schlüsselwort Bionik: ›Natürlichkeit‹ der Verbesserung Der zugrundeliegende Technikansatz stellt in seiner Kurzdefinition ›Bionik‹ die Übertragung von Phänomenen der Natur auf die Technik heraus.6 Die Wortschöpfung Bionik, die sich aus dem Wortpaar Bio-logie und Tech-nik ergibt, suggeriert durch den Rückbezug auf eine naturwissenschaftliche Disziplin eine gewisse ›Natürlichkeit‹ und insinuiert damit zugleich Harmlosigkeit. Etwaige Bedenken werden so abgeschwächt, die Akzeptanz erhöht. Durch den Verweis auf Technik hingegen gelingt eine Operationalisierung von als natürlich gedachten Konzepten durch menschliche Kreativität. Graduell handelt es sich also um eine Referenz auf natürliche Vorbilder: Einerseits erfolgt eine Imitation der Natur und andererseits wird eine Steigerung der menschlichen Fähigkeiten vorgenommen. Im Grunde ist damit das ethische Spannungsfeld bereits ange6 | Vgl. W. Nachtigall: Bionik, S. 4.
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legt. Bionik wirkt als Impulsgeber für medizinisch indiziertes Ersetzen, Wiederherstellen und Ergänzen. In der Summe ergibt sich ein Erweiterungspotential, das als ›Verbesserung‹ markiert wird.
R oboterprothesen : Technologien – politische I nanspruchnahme – e thische I mplik ationen Technologien Für die Enhancement-Debatte bedeutsam ist der Ausgangspunkt der Entwicklung ›mikroprozessorgesteuerter‹ Prothesen als medizinischer Hilfsmittel. In ihrer parallelen Fortentwicklung zu einem elektiven Instrumentarium ohne medizinische Indikation liegt der entscheidende Schritt in den Bereich des Enhancements begründet. Während Bionic legs einen Gliedmaßenersatz z.B. nach Amputation zu kompensieren helfen, dienen biomechanische Hilfsskelette – auch ›Exoskelette‹ genannt – ›übergestreift‹ zur Unterstützung des eigenen Skelettes nicht nur hinsichtlich Stärke und Ausdauer der Entlastung, sondern sie ermöglichen zudem eine höhere Belastung. Roboterprothesen in Form von ›Teilexoskeletten‹ erlauben es dann auch von Paraplegie betroffenen Anwendern zu stehen und zu laufen. Es entstehen innerhalb der technischen Spezifikationen Übergangsbereiche zwischen der Kompensation einer als defizitär empfundenen Situation, d.h. der Rehabilitation, und der Erweiterung des Anwendungsspektrums, also des Enhancements. Davon gesondert zu klären ist aber auch die Frage nach dem Mobilitätswunsch und -anspruch an sich: Immobilität muss nicht zwingend als pathologisch wahrgenommen werden. Der Aspekt ist insofern von Bedeutung, als technische Möglichkeiten in medizinischer Hinsicht keine Automatismen generieren sollten. Insbesondere die hier skizzierte Interaktion von Mensch und Maschine bedarf der Akzeptanz einer medizinischen Behandlungsentscheidung – so man dem Konzept von Aufklärung und Zustimmung (Informed Consent) als Prämisse entsprechen will. Im Gegensatz zur körpernahen Prothetik zeichnen sich ›ferngesteuerte robotische Armprothesen‹ durch eine räumliche Trennung aus – z.B. als Applikation an einem Rollstuhl. Sie sind als Hilfsmittel u.a. für Menschen mit Querschnittslähmung (besonders Tetraplegie) gedacht. Die Verortung der zugrundeliegenden Technologien zwischen Rehabilitation
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und Enhancement kommt auch in den Anwendungsbereichen zum Tragen: Entsprechen mobilitätseingeschränkte und ältere Menschen eher einem medizinisch relevanten Profil, dessen Bedeutung durch demographische Entwicklungen zunimmt, zählen Katastrophenschutz und weitere extreme Arbeitsumfelder mit hoher körperlicher Beanspruchung bereits in den Bereich der Ausweitung physischer und gegebenenfalls auch psychischer Leistungsfähigkeit.
Politische Inanspruchnahme Die vorgestellten technologischen Entwicklungen eröffnen auch aus (außen-)politischer Sicht neue Optionen: Bei militärischen Einsätzen erlauben Exoskelette beispielsweise höhere Traglasten. Im Vergleich zu herkömmlichen Einsätzen könnten dann weniger Soldaten mehr Ausrüstung mit sich führen – z.B. Waffen. Aber auch die Evakuierung von verletzten Soldaten würde erleichtert. In der Summe versprechen diese Entwicklungen eine Reduktion politischer Risiken, die mit gesellschaftlichen Debatten bezüglich der Sinnhaftigkeit (außen-)politischer Engagements verknüpft sein können. Die militärische Verwendung der beschriebenen Technologien bezieht dabei ihre Entwicklungsimpulse und Innovationsschübe zumindest in demokratischen Systemen, die der erhöhten Legitimation bedürfen, aus politischen Prozessen, die katalysierend wirken: So trägt die Robotik– als implizit politische Idee – neben der Effizienz vor allem zu einer verminderten humanen Vulnerabilität bei. Auch wenn einmal eingeführte Robotersysteme einer gewissen Eigendynamik unterliegen mögen, geht ihrer Implementierung zunächst ein gesellschaftlicher Diskurs, der sich in eine mehr oder weniger explizite politische Entscheidung übersetzt, voraus. Robotersysteme können dabei als Teilbereich der Robotik subsumiert werden. Das Verhältnis des Menschen zu seinen durch die Robotik induzierten Möglichkeiten bietet im Sinne einer Technikfolgenabschätzung viele offene Diskurse.7 Der Einsatz unterstützender Robotersysteme bei militärischen Interventionen vermag aus Sicht ihrer Befürworter durch die geringere Anzahl benötigter menschlicher militärischer Kräfte effektiver zu wirken. Das koinzidente, scheinbar entlastende Moment der Robotertechnologie im 7 | A. Winfield: Robotics.
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Sinne der Vermeidung des Einsatzes weiterer menschlicher Ressourcen generiert keine zwingende Eigenlogik. Es befördert aber den Prozess der Implementierung solcher Technologiesysteme. Denn etwaige politische Kontroversen in den Entsendestaaten hinsichtlich des politischen Verantwortungsbewusstseins bieten damit weniger Kontrapunkte. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hält fest: »Ohnehin stehen liberale Demokratien dem Krieg als Instrument zur Durchsetzung eines politischen Willens skeptisch bis ablehnend gegenüber.« 8 Die Anwendung außenpolitisch motivierter Gewalt bedarf der besonderen Rechtfertigung. Sie gewinnt als Option innerhalb des politischen Instrumentariums aber an Gewicht, wenn sich ›vorausschauend‹ gesellschaftspolitische Kontroversen ›vermeiden‹ lassen können, wie sie z.B. den Debatten um ›eigene‹ Gefallene inhärent sind. Verschiedene, sich teils ergänzende Strategien konstituieren in der Summe einen solchen Ansatz der ›Vermeidung‹: So erinnert der Rückgriff auf ›Berufssoldaten‹ an die Inkaufnahme von Gefährdungssituationen als einem Berufsrisiko, dem in letzter Konsequenz eine private Entscheidung zugrunde liegt. Ähnlich verhält es sich auch bei privaten Sicherheitsdienstleistern: Schon die rhetorische Nähe zum Begriff des ›Söldners‹ schwächt ihre gesellschaftliche Anerkennung und damit auch Fürsorgebereitschaft ab. Im eigentlichen operativen Sinn gehören auch Robotik und Medizin zu Technikfeldern, die entlastend in Anspruch genommen werden: Während mit Hilfe der Robotik versucht wird, den vulnerablen Faktor ›Mensch‹ grundsätzlich auszuklammern, kommt der Medizin die begrenzende Funktion zu, den Menschen vor dem größten anzunehmenden Schaden, dem Sterben, zu bewahren bzw. gravierende Schäden in ihren Auswirkungen zu beschränken – beispielsweise auch durch bionische Prothesen. Diskursiv betrachtet drängt sich allerdings noch ein weiteres Deutungsmuster auf: Die Verfügbarmachung von Hightech dient offenbar auch als Kompensation für die politische Uneindeutigkeit hinsichtlich des erbrachten ›Opfers‹. Die eng mit der Wertfrage verbundene Sinnfrage – ›Wofür?‹ – wird durch den Versuch des ›medizintechnischen‹ Ausgleichs eines entstandenen Schadens politisch entschärft. In der Kombination von Robotik und Medizin beansprucht die Politik (liberaler Demokratien) die moderne Intensivmedizin also als ›Vermeidungsressource‹ – hinsichtlich eigener Opfer bei bewaffneten Konflikten, 8 | H. Münkler: Der Wandel des Krieges, S. 269.
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welche die Legitimation gewaltsamer außenpolitischer Interventionen in Frage stellen könnten.
Ethische Implikationen Wissenschaftlich betrachtet werden Roboterprothesen dem Gebiet der Robotik zugeordnet. Taxonomisch firmiert die Prothetik als Untergruppe der sogenannten Serviceroboter. Weitere untergliedernde Charakteristika sind: feste Installation, unterschiedliche Modi ihrer Fernsteuerung, humanoides Erscheinungsbild und humaninteraktive Potentiale.9 Erst diese nähere Klassifikation erlaubt es, die durch die Prothetik eröffneten Potentiale einer genaueren ethischen Bewertung zu unterziehen sowie das jeweilige Aufgabenspektrum einer Roboterprothese zu identifizieren. Die nähere Beschreibung bettet die Prothetik in den übergeordneten Robotikdiskurs ein und ermöglicht es, die Mensch-Maschine-Schnittstelle interdisziplinär auszuleuchten. Eine zentrale ethische Fragestellung, die unmittelbar mit der Technik der Robotik verknüpft ist, ruft die Steuerung der Technologie hervor: Es betrifft vor allem die Möglichkeit, Bionic legs nicht nur über eine manuell bediente elektronische Kontrolleinheit zu steuern, sondern Steuerungssignale direkt am Kopf abzufangen, die vom Gehirn ausgesendet werden.10 Der aktuelle Forschungsstand zum Thema ›Gedankensteuerung‹ muss allerdings aufgrund seiner militärischen Relevanz als umstritten gelten:11 Es ist wenig plausibel, dass die sich aus der Weiterentwicklung sogenannter Brain-Interfaces ergebenen Erkenntnisse, die in die Richtung von Fortschritten bei autonomen Systemen und künstlicher Intelligenz weisen, mit Dritten geteilt werden, solange man sich davon militärische Vorteile verspricht.12 Die dahinterstehende Idee der Gedankensteuerung von Maschinen ist nicht neu: So lassen sich Prothesen mit großer Präzision steuern – mittels einer Software, die Signale von ins Hirn implantierten Elektroden empfängt und interpretiert. Allerdings birgt die Implantation Gefahren, man bedenke etwa die permanente Infektionsgefahr durch Kabel, die aus dem Schädel herausführen. Diese Problematik lässt sich 9 | A. Winfield: Robotics, Position 691. 10 | N. V. Thakor: Translating the brain-machine interface. 11 | Vgl. P. W. Singer: Wired for War. 12 | Ebd. vgl.: Position 1401.
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durch die Elektroenzephalografie (EEG) entschärfen. Die Signalabnahme erfolgt hier durch Elektroden, die auf einer Kappe angebracht sind; einer sogenannten skull cap. Doch es tritt ein neues Problem auf: Die aufgezeichneten Signale sind weniger präzise und für komplexe Bewegungsabläufe, wie sie für einen Arm oder eine Hand typisch sind, unzureichend. Sie genügen aber der Steuerung von Bionic legs. Selbst die Zahl der Elektroden lässt sich reduzieren. Die notwendige Kappe ist leichter zu tragen. Der Entwicklung ging eine komplexe Analyse und der Abgleich von Bewegungsmustern und entsprechenden Hirnaktivitäten voraus. Eine Umsetzung der Idee erfolgte beispielsweise mit einem Teilexoskelett (der neuseeländischen Firma Rex Bionics), das von Dritten unabhängiges Stehen und Laufen ermöglicht und für Gedankensteuerung adaptiert wurde.13 Die Implementierung baut dabei auf zwei Stufen auf: Zunächst findet die Technik Anwendung bei Menschen, die bereits laufen konnten und sich zu ›erinnern‹ vermögen, was »Laufen« bedeutet. In einem weiteren Schritt könnte dann Menschen das Laufen ermöglicht werden, die von Geburt an querschnittsgelähmt waren – als eine Form der ›Bewegungsimitation‹. Auch eigentliche Exoskelette lassen sich prinzipiell so steuern. Beim sogenannten Hybrid Assistive Limb, dessen Akronym ›HAL‹ Assoziationen zu HAL 9000 in Stanley Kubricks 2001: Space Odessey evoziert, erfolgt die Detektion der Signale allerdings noch auf der Haut. Sie antizipieren und verstärken die Muskelimpulse zur Unterstützung von Körperbewegungen des Trägers. Eine Gedankensteuerung wird zumindest angedacht. In Japan ist ›HAL‹ mittlerweile als sogenannter nursing-care robot zugelassen.14 Er unterstützt und entlastet u.a. seinen Träger bei körperlich anspruchsvollen Aufgaben wie dem Heben und Tragen. In Bezug auf diese Eigenschaften soll bereits 2011 eine Anwendung bei Aufräumarbeiten in Fukushima erfolgt sein.15 Inwieweit der Einsatz als medizinisches Hilfsmittel zur Erhöhung der Mobilität und die damit demonstrierte Anwendungsreife tatsächlich langfristig ein neues Anwendungsspektrum erschließt, wird sich weisen müssen. Zugleich macht diese Entwicklung deutlich, dass der Übergang von einem medizinischen Hilfsmittel zu ei-
13 | Bionics (I): A mind to walk again. 14 | K. Inagaki: Japan aims to turn robotics into profit. 15 | J. Ryall: Robot suit to help in Fukushima clean-up.
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nem aus dem ursprünglichen medizinischen Kontext gelösten Profil fließend ist. Die gedanklich exakte und komplexere Steuerung von extern fixierten robotischen Armprothesen z.B. bei Tetraplegie kann bisher nur durch Implementierung von Elektroden in den motorischen Steuerungsbereichen der Hirnrinde ermöglicht werden. Zum gegenwärtigen Stand der Technik kann noch nicht von einer echten Armprothese gesprochen werden. Allerdings handelt es sich dabei um ein dynamisches Forschungsfeld, auf dem mit beständigen Fortschritten zu rechnen ist.16
R oboter (proth) e t (h) ik – V ersuch einer P roblematisierung und B e wertung Ersatz durch Prothetik Am Anfang steht die Entscheidung zur Amputation von Gliedmaßen. Denn der eigentliche Verlust von Gliedmaßen stellt die scheinbar simple conditio sine qua non dar. Häufig wären sie zwar potentiell erhaltbar – tendenziell allerdings eher unter zivilen Bedingungen, wie sie in militärischen Konflikten oft nicht vorhanden sind.17 Entsprechend müssen Amputationsentscheidungen bei komplexen Verletzungen möglicherweise Kriterien genügen, die sich im Vergleich zu zivilen Gesichtspunkten weniger stark an der Erhaltung orientieren. Nun sind Amputationsentscheidungen keine Domäne der Militärmedizin. Sie sind auch im zivilen Umfeld zu treffen. Hier kann aber im Zweifel auf spezifische Ressourcen – dazu zählt u.a. auch medizinisches Erfahrungswissen – für den Einzelfall zurückgegriffen werden, um die Amputationsentscheidung zunächst zurückzustellen. Diese Einzelfallentscheidungen lassen sich aber offensichtlich nicht ohne weiteres auf militärmedizinische Ansätze übertragen, die stärker von katastrophenmedizinischen Überlegungen und indirekt auch von politischen Imperativen der Gesamtüberlebensrate geleitet werden. 16 | B. Jarosiewicz et al: Advantages of closed-loop calibration in intracortical brain–computer interfaces for people with tetraplegia. 17 | Vgl. A. Stannard et al: Outcome after vascular trauma in a deployed military trauma system.
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Fragen nach der Integrität und der Identität Eine so gravierende Behandlung wie die Amputation und der Ersatz durch Prothetik oder Transplantation wirft zudem ›Fragen nach der Integrität und der Identität‹ auf. Die hier berührte Frage nach dem Wesen des Menschseins ist auch für die Bewertung eines gedanklich möglichen Enhancementpotentials wesentlich. Klärungsbedarf besteht zudem auch wegen des Phänomens der zeitverzögerten Amputation als einem im sehr strikten Sinne elektiven Eingriff: Trotz Erhaltungsbemühungen entscheidet sich der Betroffene für eine nachträgliche Amputation und ggf. den Ersatz durch eine bionische Prothese.18 Die Gründe dafür bestehen in anhaltenden Schmerzen und der Perspektive auf eine eingeschränkte Funktionsfähigkeit selbst nach jahrelanger Physiotherapie.
Stehen und Laufen Eine Prothese, die einen Teil der Funktionen übernehmen könnte, avanciert damit zur besseren Alternative – gerade weil sie ›Stehen und Laufen‹ ermöglicht. Mobilität verhilft demjenigen, der sie für sich als wesentlich erachtet, zu einem Ausdruck von Autonomie und damit seiner Würde. Der inhärente ethische Wert ist unmittelbar ersichtlich: Die Gestaltung der eigenen Lebensführung frei von unmittelbaren räumlichen Beschränkungen kann als Voraussetzung für einen Lebensentwurf im Einklang mit den eigenen Wertvorstellungen aufgefasst werden. Kurt Bayertz hat auf den kulturhistorischen Zusammenhang zwischen dem Selbstbild des Menschen und dem aufrechten Gang aufmerksam gemacht: Für die menschliche Identitätsbildung war der aufrechte Gang eines der Wesensmerkmale.19 Die durch Bionic legs oder (Teil-)Exoskelette erlangte Befähigung zum Stehen und Laufen trägt mit Blick auf Knochendichte, Atmung und Herz-Kreislaufsystem zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes bei. Damit geht eine Erhöhung der Lebensqualität einher, die aus medizinethischer Sicht zu begrüßen ist. Das gilt auch für Anwendungen von Exoskeletten in der Physiotherapie, z.B. nach einem Hirninfarkt. Unter ethischen Gesichtspunkten lassen sich auch die Kosten des Einsatzes von Roboterprothesen betrachten: Der Kostenpunkt für Bionic legs liegt geschätzt bei 150.000 $. Die Kosten einer lebenslangen Pflege für einen 18 | G. Zoroya: Some wounded troops choose amputation. 19 | Vgl. K. Bayertz: Der aufrechte Gang.
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25-Jährigen mit einer hohen Querschnittslähmung werden mit ca. 3 Mill. $ veranschlagt.20 Bezogen auf die Potentiale, die Roboterprothesen zugesprochen werden, könnte ihr Einsatz als medizinisches Hilfsmittel zu einer Kostensenkung im Gesundheitswesen beitragen und das ethische Spannungsfeld der Allokation der Mittel entlasten helfen.
Personalisierte Medizin Als hochindividualisierte Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine stellen Hightech-Prothesen in ihrer Anwendung eine Form der ›personalisierten Medizin‹ dar. Obgleich sie ihre Anwender in ihrer Alltagsbewältigung unterstützen, bleibt festzuhalten, dass sich ihre Applikation als medizinische Intervention nur zur ›Imitation‹ eines status quo ante eignen. Aus medizinethischer Sicht erscheint dieser Aspekt erheblich: Diese Form der ›Simulation‹ im Sinne einer Nachahmung zieht eine etwas schwächere Indikation und Rechtfertigung zur medizinischen Intervention nach sich. In letzter Konsequenz stellt dieser Versuch der Kompensation nur die zweite Wahl dar. Er bezieht seine Attraktivität aus der momentanen Alternativlosigkeit dieser ›Therapie‹. Da es gegenwärtig an Alternativen mangelt, die einen echten status quo ante ermöglichten, mag diesem Einwand zunächst nur rhetorische Qualität zugesprochen werden. Doch technische Innovationsschübe in der Robotik verzögern möglicherweise die Entwicklung anderer Therapieverfahren, wie z.B. Stammzelltherapien, die eine eigentliche Heilung in Aussicht stellen könnten. Damit würden zumindest an dieser Stelle nicht nur antizipierbare ›Problemfelder‹ des Enhancements ›zurückgestellt‹, sondern auch die insbesondere mit der Roboterprothetik verbundene sogenannte dual-use-Problematik.
Dual-use-Problematik Die seit langem diskutierte Dual-use-Problematik markiert bereits für sich selbst ein eigenständiges Problemfeld:21 Im Windschatten zivilen Nutzens besteht demnach die Möglichkeit zur Entwicklung und Ausrei-
20 | Bionics (I): A mind to walk again. 21 | Vgl. J. A. Alic/L. M. Branscomb/H. Brooks et.al.: Beyond Spinoff: Military and Commercial Technologies in a Changing World.
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zung auch militärischer Potentiale.22 Eine eindeutige Festlegung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf zivile Zwecke ist vorab aber kaum zu leisten. Denn erst ihre Bewertung aus politisch-ethischer Perspektive erlaubt es, eine Zweckgebundenheit zu postulieren. Mit Hilfe der Roboterprothetik eröffnensich zunächst Wiederherstellungs- bzw. Kompensationsmöglichkeiten. Technische Spezifika wie z.B. innovative Sensorik oder gesteigerte Belastungsparameter erlauben es dann im nächsten Schritt in den Bereich des Enhancements vorzudringen. Gerade dieses sich erweiternde Spektrum ist in militärischer Hinsicht von Bedeutung. In den Vordergrund rückt aber primär das zivile Anwendungsspektrum – ist es doch mit Blick auf die gesellschaftliche Akzeptanz beispielsweise in Deutschland politisch leichter zu rechtfertigen: Einen Eindruck davon vermittelt die in jüngerer Zeit mit Verve an deutschen Universitäten unter dem Stichwort Zivilklausel geführte Debatte bezüglich der Zielsetzung universitärer Forschung.23 Der unmittelbare zivile Nutzen hingegen erscheint evident bzw. weniger problembehaftet. Insbesondere aber durch die – bewusst – fehlende Transparenz gerät die medizinethische Bewertung der dual-use-Problematik zu einer diffizilen Angelegenheit. Es geht aber nicht darum, das dual-use-Dilemma einer ›politischen Beurteilung‹ zu unterziehen. Vielmehr gilt es, die Problematik zu benennen und ihre medizinethischen Konsequenzen herauszustellen: Die ›(militär-)technischen Entwicklungspotentiale‹ lassen sich als eine Form von Entgrenzung und ›Eskalation‹ charakterisieren: Den Ausgangspunkt bilden Bionic legs und (Teil-)Exoskelette als medizinische Hilfsmittel etwa bei einer Querschnittslähmung. Der nächste Schritt besteht in der Anwendung biomechanischer Hilfsskelette auch ohne medizinische Indikation. Unter medizinethischen Gesichtspunkten erscheint diese ›Umwidmung‹ problematisch, weil ein als medizinisches Hilfsmittel gedachtes Instrument zur Erlangung militärisch-politischer Ziele eingesetzt werden kann, die nach ihrer spezifischen Binnenlogik den Tod eines Gegners zumindest nicht ausschließen. Damit läge ›mittelbar‹ ein Verstoß gegen moralische Normen ärztlichen Handelns vor. Im Raum stehen zudem erhöhte Grade der ›Automatisierung‹: Gedanklich wird damit bereits der Weg über die Reduktion des vulnerablen ›Personals‹ mit Hilfe biomechanischer 22 | M. J. Selgelid: Ethics and Censorship of Dual-Use Life Science Research, S. 140. 23 | J. Vicari: Balanceakt zwischen Krieg und Frieden.
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Hilfsskelette zu vollständig automatisierten Systemen beschritten. Neben ihrer technischen Effizienz erlaubten sie dem Militär die Planung von Einsätzen mit »fewer boots on the ground«.24 Mit der Abnahme der Anzahl vulnerabler Personen sinkt das Risiko für Verletzte bzw. Tote im Einsatz. Diese Entwicklungsperspektiven sind insbesondere für Regierungen liberaler Demokratien attraktiv, dennbei außenpolitischen Interventionen drohen die als zu hoch empfundenen menschlichen Verluste immer mehr die ohnehin schwache Legitimationsgrundlage zu entziehen. Das ›technisch-innovative Potential‹ der Roboterprothetik erzeugt zugleich eine Eigendynamik, die in Richtung Enhancement weist. Das ›innovationstreibende‹ Moment verhilft dieser Form von Prothesen zu einem Hightech-Image. Versehen mit Zuschreibungen wie cutting edge oder early adopter, kann es zugleich als ›Mittel der Akzeptanzbeschaffung‹ dienen.25 Die so erwirkte Reputation vereinfacht perspektivisch die militärische-politische »Aufklärung und Zustimmung« bei der Rekrutierung von Soldaten hinsichtlich persönlicher Gefährdung bei (Auslands-)Einsätzen. Sie ist einfacher zu erzielen, wenn ggf. ein größeres Spektrum technischer Hilfsmittel wie z.B. Bionic legs zur Verfügung steht bzw. Risiken etwa durch Exoskelette minimiert werden. Es entsteht in der Außenwahrnehmung auch ein Bild der ›Fürsorge‹: Das Militär oder der Staat ›kümmert‹ sich um ›seine‹ Veteranen. So ließ sich der britische Schatzkanzler George Osborne 2013 vernehmen: »Our troops are heroes who have and continue to give absolutely everything for their country and it is only right that we do everything possible to help them, especially when they suffer injury.«26 Der Eindruck steht im starken Kontrast zum Umgang mit der Problematik des PTSD und seinen auf defizitären Versorgungsstrukturen beruhenden Folgen. Die Roboterprothetik kann so auch einen wesentlichen Bestandteil zur Kompetenzerhaltung leisten: Betroffene aus einem militärischen Umfeld sind oft sogenannte ›Gewaltspezialisten‹. Ihre im Rahmen einer komplexen und teuren Ausbildung erlernten bzw. antrainierten Fähigkeiten bleiben einer Institution wie beispielsweise den Streitkräften damit – zumindest teilweise – erhalten. Ein ehemaliger Kampfpilot ist als Drohnenpilot vorstellbar. 24 | N. Schörnig: Die Verlockung des automatisierten Krieges, S. 196. 25 | Vgl. ›Bionic legs‹ for military amputees. 26 | Vgl. Injured soldiers to get ›bionic legs‹.
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Drohender Autonomieverlust? Die Entwicklung einer ›Gedankensteuerung‹ für die Roboterprothetik bildet möglicherweise den entscheidenden Punkt auf einer ethischen Bewertungsskala. Dieser Faktor reflektiert die Sorge vor einem drohenden Autonomieverlust, der aus ethischer Sicht eine Zäsur darstellte. Damit geht die Befürchtung einher, der Grad des Autonomieverlusts lasse sich eins zu eins in ein Manipulationspotential übersetzen, das eine Persönlichkeitsveränderung zur Folge habe.27 Natürlich ist es nicht die Technologie selbst, sondern der sie nach seinen Vorstellungen programmierende Mensch, der Anlass zur Sorge bereiten könnte. Die Kombination aus den Potentialen Hardware und Software, also der eigentlichen Prothetik und ihrer Steuerung durch den Anwender selbst oder aber auch durch Dritte, weist eine gewisse Nähe zu Utopien bzw. Dystopien auf, wie sie beispielsweise Stanislaw Lem mit seiner »Moralprothese« antizipiert hat.28 Es geht insbesondere um die Frage, inwieweit das Vermögen zur Fremdsteuerung die Gefahr einer Entmündigung birgt? Dabei wird auch die grundsätzliche Frage nach – noch – autonomen Handlungen innerhalb informationeller Netzwerke und Verdichtung berührt. Problematisch wären beispielsweise die vorstellbare Negierung oder aber auch ›unwillentliche‹ Durchführung von spezifischen Bewegungsmustern. Eine Prothetik könnte mit einer Sensorik ausgestattet werden, die den Umgang ihres Anwenders mit Alkohol protokolliert und über frei zu programmierende Parameter kontrolliert. Ein Exoskelett ließe sich als (semi-)autonomes System dahingehend ausstatten, körperlich aggressive Handlungen zu unterstützen oder bei bestimmbaren Einflussgrößen sogar auszulösen. Gedanklich unterliegen hier der Roboterprothetik Annahmen, die über die Wiederherstellung bzw. ›Optimierung‹ von Bewegungsmustern hinausweisen. Der Begriff der ›Prothetik‹ wird weniger strikt gefasst und zugleich aber in Richtung Enhancement geöffnet. Parallel ergibt sich durch das Manipulationspotential, das im Bereich der Prothetik als Charakteristikum prinzipiell angelegt ist, in der Verknüpfung mit Enhancementvorstellungen eine neue Qualität der Einflussnahme durch Gedankensteuerung bzw. externe Zugriffsmöglichkeiten. Damit gewinnt die Frage 27 | O. Müller: Ethische Fragen bei Neurotechnologien. 28 | P. Swirski: Betrization Is the Worst Solution … with the Exception of All Others, S. 47.
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nach den Grundfesten der prioritär gesetzten menschlichen Autonomie eine neue Dringlichkeit – kollidiert sie doch möglicherweise mit einer technisch definierbaren Systemautonomie der Prothetik. Die (medizin-) ethische Bewertung unterliegt dabei allerdings der Unschärfe einer Trennlinie von Realität und Fiktion – nicht zuletzt befördert durch das Science-Fiction-Genre.29 So eröffnet die positive Darstellung (semi-)autonomer (Kontroll-)systeme zur Sicherung der Lebensqualität – beispielsweise bei Demenz – neue Spielräume der Sozialkontrolle:30 Die Legitimation dieser Intervention ergibt sich aus dem möglichen medizinischen Benefit bezüglich einer demographischen Herausforderung, wie sie mit einer vermeintlich problembehafteten, überalternden Bevölkerungsstruktur in Verbindung gebracht wird. Fürsorge und Aufrechterhaltung bestehender Sozialstrukturen auch in – geographisch betrachtet – abgelegenen Gebieten mit Hilfe von extern gesteuerten oder autonomen Robotersystemen erfahren eine weniger problematische Einschätzung.31 Das der medizinischen Entgrenzung innewohnende Merkmal eines Kontinuums weist aber durch die zunehmende Konturlosigkeit medizinischer Diagnostik im Kontext sozial frei bestimmbarermedizinischer Werte eine problematische Nähe zu sozialen Vorgaben auf.32 Das vorgeblich einer individuellen Entlastung dienende Robotersystem könnte dann zu einer Entmündigung durch gesellschaftlich sanktionierte Parameter führen.
Zusammenfassende ethische Evaluation Mit der Roboterprothetik und ihr im Vorfeld zugrundeliegenden intensivmedizinischen Entscheidungen kann von ›politischer Seite‹ auf ein ›medizinisches Instrumentarium‹ zurückgegriffen werden, das es erlaubt, auf spezifische und bestimmende (außen-)politische Parameter einzuwirken: Die (Militär-)Medizin wird in Anspruch genommen, um politische ›Risiken‹ durch ›Vermeidung‹ von ›Opfern‹ zu reduzieren. Denn ob außenpolitischen Interventionen unter Einsatz von militärischer Gewalt zugestimmt wird, hängt auch vom wahrscheinlichen Ausmaß der eigenen Verluste ab. Eine jeweils diskursiv neu zu bestimmende Größenord29 | Vgl. Killer robots and future shocks. 30 | Vgl. G. Stollberg: Medizinsoziologie, S. 28. 31 | Vgl. Robots to help people with dementia in Western Isles. 32 | Vgl. W. Viehöver/P. Wehling: Entgrenzung der Medizin, S. 17f.
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nung gilt es nicht zu überschreiten. Andernfalls droht im politischen Diskurs die Gefahr des Legitimationsverlustes.33 Diese Entwicklung geht mit Konsequenzen für die Medizin einher: In den Rahmen neuer Therapiekonzepte der Kriegschirurgie und Intensivmedizin sowie ihrer (Spät-) Folgen ist auch die Roboterprothetik eingebettet. Ihr ist die dual-use-Problematik aufgrund ihrer technischen Potentiale zur Steigerung militärischer Effizienz gleichfalls eingeschrieben. Aus medizinischer Sicht ist dieses ethische Spannungsfeld kaum auflösbar: So fungieren im Bereich ›regenerativer Therapieansätze‹ zivil bzw. militärisch als wechselseitige Impulsgeber. Die ›Wissensoszillation‹ legt weder eine Konversion noch eine Militarisierung der Medizin zwangsläufig nahe, sondern eher eine hybride Operationalisierung medizinischen Wissens. In der Rehabilitationsmedizin sind forschungsinduzierte ›Eskalationskaskaden‹ kaum vermeidbar: Der prothetische Gliedmaßenersatz eröffnet über das Spektrum funktioneller Wiederherstellung die Möglichkeit der Inanspruchnahme künstlicher Exoskelette zur Kampfwertsteigerung. Umgekehrt ergeben sich aus militärischen Notwendigkeiten zivile Benefits: Der Raven-Prototyp für den robotchirurgischen Einsatz unter Kriegsbedingungen erweist sich im Vergleich zum zivil entwickelten da Vinci-System als kompakt und preiswert. Seine open-source-Architektur gilt als forschungsfreundlich. Es handelt sich dabei um eine genuin militärische Entwicklung, die das Pentagon angestoßen hat.34 Die häufige Uneindeutigkeit der politischen Aussage trägt allerdings zur Problematik medizinethischer Doppelstandards im Spannungsfeld von (Militär-)Medizin und ärztlichem Ethos bei. Aus ethischer Sicht sind Einschätzungen daher mit einem Vorbehalt zu versehen, da die wenig transparenten politisch motivierten Grundannahmen die medizinethisch gebotene Fokussierung erschweren. Das gilt umso mehr für die mit der dual-use-Problematik verknüpfte Roboterprothetik: Die Dichotomie zivilen bzw. militärischen Zugriffs wird mit der Autonomiefrage um eine zusätzliche Ebene erweitert. Über die Medizinethik hinaus wirft sie unter Umständen die Frage nach der Notwendigkeit einer spezifischen Roboterethik auf.
33 | N. Schörnig: Die Verlockung des automatisierten Krieges, S. 195. 34 | Vgl. Surgical robots.
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N ot wendigkeit E iner R obotere thik ? Die Entwicklung der Roboterprothesen als Abfolge eines ›Umwidmungsprozesses‹ vom Verlust ›über‹ die Kompensation ›zu‹ einer – möglichen – ›Erweiterung‹ des (Anwendungs-)Spektrums hat einen Teil ihrer innovativen Anregungen ursprünglich aus rein fiktionalen Überlegungen geschöpft. Als medizinisches Hilfsmittel stehen sie am Übergang zu einem eigentlichen Enhancementkomplex: In der Gegenwart ›angekommen‹, stellen sich die damit verbundenen ethischen Fragen in ihrer Dringlichkeit bereits heute – in der Diktion des sprachlichen Umfeldes – ›hyperrealistisch‹. Doch besteht zugleich tatsächlich Bedarf an einer ›Roboterethik‹ als einer spezifischen Bereichsethik? Grundlegender Teil des Diskurses über Robotik – obgleich fiktional – sind die von Isaac Asimov 1942 aufgestellten laws of robotics.35 Darin wird u.a. als ethischer Grundsatz festgehalten, dass Roboter Menschen nicht verletzen dürften – weder aktiv noch durch Unterlassung. Die implizite Voraussetzung bestünde allerdings in ihrer Befähigung zum moralischen Urteil. Die Erfüllung dieser Bedingung ist im Feld der Robotik in absehbarer Zeit nicht gegeben. Trotz fehlender Kompetenz zur ethischen Überlegung könnte aber die wachsende Nähe von Robotern ›zu‹ und die Interaktion ›mit‹ Menschen die notwendige Relevanz im Hinblick auf eine Roboterethik entwickeln.36 Bestimmender Faktor ist jedoch die Antizipation durch den Menschen, der durch die Vermenschlichung seine Erwartungen, aber auch Vulnerabilitäten an und in der Robotik spiegelt und offenlegt. In der Rückkopplung richtet sich ein – in weiten Teilen noch näher auszuführender – ethischer Verhaltenskodex nicht an die Robotik, sondern an ihre – menschlichen – Entwickler. Die Roboterethik wäre demnach eine Bereichsethik für das Feld der Robotik, in der menschliche Projektionen auf den Menschen selbst zurückgeworfen werden. Daran gemessen wäre z.B. der sogenannte ›Drohnenkrieg‹ als hochproblematisch einzustufen, da er den Betroffenen keine unmittelbare Möglichkeit zur Aufgabe ihres wie auch immer definierten Kombattantenstatus einräumt. In dieser Alternativlosigkeit liegt eine Inhumanität begründet, die aus ethischer Sicht de facto nicht gerechtfertigt werden kann. Das Verhältnis zwischen Mensch und Roboter bzw. Robotik ist durch die eingeschriebene menschliche 35 | A. Winfield: Robotics, Position 1245. 36 | Vgl. ebd.: Position 1268.
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Dimension der Programmierung ein im Grunde ›mittelbares‹ Verhältnis zwischen Menschen, obgleich sich der ein symmetrisches, reziprokes Verhältnis konstituierende zwischenmenschliche Personenstatus einer beidseits originären Identität damit nicht übertragen lässt. Die hierdurch mögliche Wahrnehmung der Beziehung zwischen Mensch und Robotik als asymmetrisch wäre dann eher einem menschlich reduzierten Blickwinkel geschuldet. Ob aber, wie u.a. von Ray Kurzweil postuliert, die bloße exponentielle Steigerung der Robotikrechnerleistung in Zukunft in einen affektiven Take-off und eine Auflösung der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine mündet, bleibt abzuwarten.37 Gegebenenfalls wäre dann tatsächlich der Weg von der Robotik in ein kaum mehr limitierbares Enhancementfeld beschritten worden. Für die Medizin wäre auf dem Weg in diese Entwicklung u.a. im Bereich der Prothetik eine Schrittmacherfunktion zu konstatieren. Widerspräche sie damit ihren eigenen ethischen Grundsätzen? Da die Medizin wie kaum eine andere Wissenschaft ein Abbild politisch-ethischer Grundsätze einer Gesellschaft widerspiegelt, ist keine pauschale Antwort möglich: Vielmehr sind ihre medizinethischen Grundsätze vor dem Hintergrund des ärztlichen Gebots der Humanität immer wieder neu auszuhandeln.
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Quantified-Self-Technologien als Indikatoren für die Cyborgisierung des Menschen Marie Lena Heidingsfelder
E inleitung Die Möglichkeit, durch die Erfassung personenbezogener Daten zu einem höheren Grad der Selbstkenntnis zu gelangen, kann im Zeitalter von Personal-Health-Records, Sensor-Armbändern, Biostamps und einer Vielzahl anderer Gadgets auf hohem technischen Niveau realisiert werden. Mittels Sensoren, Chips, Ubiquitous Computing und Big-Data-Analysen können große Datenmengen automatisch erfasst, gesammelt, kategorisiert und analysiert werden. Die Welt und die eigene Lebensführung werden berechenbar und die dazu nötigen Rechenmaschinen werden – dem Moore‘schen Gesetz folgend – exponentiell leistungsfähiger. Vor dem Hintergrund einer mehr und mehr individualistischen und diesseitsbezogenen Gesellschaft entstand im Kreuzpunkt der neuen technischen Möglichkeiten und dem alten Interesse des Menschen an sich selbst im Jahr 2007 die Quantified-Self-Community. Unter dem Motto »Self knowledge through numbers« versuchen ihre Mitglieder, mehr oder weniger viele Aspekte ihres Lebens mehr oder weniger akribisch in Daten zu erfassen – meist nicht nur mit dem Ziel der Erkenntnis, sondern auch mit dem Wunsch, Korrelationen zu erkennen und Optimierungspotenzial auszuschöpfen. Seit ihrer Gründung wächst die Community ständig, sowohl in Amerika als auch in Europa und Asien. Im Geiste des carpe diem versuchen die Self-Tracker, ihr Leben und ihre Leistungen über diverse technische Tools zu erfassen, um so eine höhere Selbstkenntnis zu
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erlangen. In diesem datenbasierten Verständnis seiner Selbst wird die existenzielle Frage »Wer bin ich?« für Quantified-Self-Anhänger zur komplizierten, aber berechenbaren Formel: ›Ich‹ ist das Produkt von quantifizierbaren Faktoren, die nicht nur messbar, sondern (teilweise) auch kontrollierbar sind. Über die mögliche Veränderung bekannter Variablen wird das »Ich« zu einer Möglichkeit unter anderen, es wird kontingent. Je weiter die technologische Entwicklung fortschreitet, desto geringer wird dabei die Distanz zwischen Mensch und Technik; die Technik rückt dem Menschen zu Leibe, sie verzichtet zunehmend auf ein externes Interface oder klobige Hardware und legt sich direkt auf die Retina, geht unter die Haut und lässt sich durch Blutbahnen treiben – der »Gadget-Lover«1 verschmilzt mit dem Objekt seiner Begierde. Im Zuge dieser ›Cyborgisierung‹ entstehen utopische Hoffnungen, wie sie beispielsweise Donna Haraway oder Ray Kurzweil wecken: Dem Menschen wird in Aussicht gestellt, sich selbst zu überwinden, sich zum hybriden Übermenschen zu entwickeln und so die »prometheische Scham«2 der eigenen Minderwertigkeit gegenüber den Maschinen zu überwinden. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen untersucht der Beitrag, inwieweit Quantified-Self-Technologien als Indikatoren für die Cyborgisierung des Menschen gesehen werden können und betrachtet dabei sowohl den utopischen als auch den dystopischen Gehalt der Technologien und Praktiken rund um Quantified-Self: Zum einen folgt er dem Diskurs der Self-Tracker, der von positiven Werten wie Optimierung, Selbstbestimmung, Freiheit und Selbstverwirklichung geprägt ist, und betrachtet Vermessung als hedonistische Selbstsorge-Praxis auf dem Weg zu einem längeren, besseren und erfüllteren Leben. Zum anderen zeigt sie, inwieweit die zunehmend maschinelle Betrachtung des Menschen als negativer Effekt von Macht interpretiert werden kann: Anhand des Konzepts der Regierungstechniken (nach Foucault) wird aufgezeigt, dass sich die Kontrolle und die Optimierung des Selbst auch perfekt in die neoliberale Logik und die »Teleologie der Selbstoptimierung«3 fügen. Hinter dem Bild des individualistischen »Unternehmer[s] seiner Selbst«4 scheint in dieser Perspektive immer deutlicher das Bild eines Sklaven ohne Herrn durch. 1 | M. McLuhan: Understanding Media, S. 48-52. 2 | G. Anders: Die Antiquitiertheit des Menschen, S. 32. 3 | A.Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 518. 4 | U. Bröckling: Das unternehmerische Selbst.
Quantified-Self-Technologien
D ie V ermessung des M enschen Historischer Abriss Trotz der identitätsstiftenden Macht von Gründungs- oder Schöpfungsmythen und der Überzeugung, dem Wirken metaphysischer Mächte unterworfen zu sein, ist auch die rein materielle Vermessung des Menschen ein Interesse, das bereits in frühen Hochkulturen mit großem Aufwand betrieben wurde. Dabei bietet die Vermessung des Menschen auch den Ausgangspunkt für die tatsächliche und begriffliche Eroberung der Welt: Tatsächlich, da die gewonnenen und genormten Maßeinheiten zum Bau von Gebäuden, Wagen, Schiffen und (Kriegs-)Geräten genutzt wurden; und begrifflich, indem die Welt den menschlichen Gliedmaßen unterworfen wurde: Die Umwelt wurde in Haupteslängen, Armeslängen, Ellen, Handbreiten, Fingerbreiten, Daumesdicken, Kindskopfgrößen und Mundfüllungen eingeteilt, Entfernungen in Fuß und Schritt gemessen und abstrakte Größen in das Dezimalsystem der zehn Finger eingeordnet – der Mensch wurde zum Maß der Dinge. Dabei suggerieren die Größeneinheiten einen Idealtypus, der als Norm fungiert. Getrieben von medizinischen, philosophischen, psychologischen, ästhetischen oder künstlerischen Interessen spannt sich die Geschichte der Anthropometrie vom Altertum bis in die Moderne: Sei es im Kanon der ägyptischen und antiken Kunst, in der Proportionslehre der Inder, der chinesischen Medizin, der Volksanthropometrie, der forensischen Anthropometrie oder der Industrieanthropologie, das Fundament der aktuellen Quantified-Self-Bewegung ist historisch tief und kulturell breit verankert.5
Quantified Self Während historische Vermessungstechniken den Menschen als Objekt der Forschung betrachten, zeichnet sich in aktuellen Praktiken ein neuer Trend ab: Die klare Subjekt-Objekt-Unterscheidung von Forscher und Forschungsobjekt wird zu Gunsten einer Doppelrolle aufgegeben6 Auch die 5 | Vgl. S. Braunfels: Der vermessene Mensch. 6 | Vergleichbare Selbstexperimente finden sich in in vielfachen Epochen und Disziplinen der Wissenschaftsgeschichte; ein bemerkenswerter Aspekt der Quan-
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Parameter werden zunehmend nicht mehr von einem forschenden Außen diktiert, sondern individuell festgelegt. Die Vermessung des eigenen Körpers und Alltags erhebt die Nabelschau zum Lifestyle. Als Grundlage für diesen Wandel können auf wissenschaftlicher Ebene zwei Motoren ausgemacht werden: Zum einen Erkenntnisse und Erfindungen der modernen Medizin beziehungsweise der Sportwissenschaft und zum anderen die Erfindung des Web 2.0 und die Möglichkeit von Big-Data-Analysen, die das Speichern, Kategorisieren und Verwalten von enormen Datensätzen ermöglichen. Beide Entwicklungen kulminieren in dem, was die Wissenschaftlerin und Futuristin Melanie Swan als Anbruch einer »Era of Big Health Data« bezeichnet 7. Was die Selbstvermessung als Grundlage des eigenen Gesundheitsmanagements angeht, existieren bereits viele Technologien, die für einen Wandel hin zum aktiven Patienten notwendig sind: Webseiten und Mobile Phone Health Applications ermöglichen beispielsweise das Dokumentieren und Vermessen von frühkindlichem Schlaf- und Essverhalten (trixietracker.com); von Gesundheit, Ernährungsverhalten und Fitness (zumelife. com); von Medikamenten, Nebenwirkungen und Krankheitssymptomen (patientslikeme.com); von Menstruationszyklen (mymonthlycycles.com) oder von der Quantität und Qualität des Sexuallebens (bedposted.com). Ein zentraler Aspekt von Quantified-Self ist die automatische Erfassung von biologischen Werten und Funktionen mittels Personal Health Records: Schon heute existieren Armband-Sensoren, die beispielsweise den Pulsschlag, den Kalorienverbrauch, die zurückgelegten Distanzen und im klinischen Gebrauch auch die Blutwerte und die Wahrscheinlichkeit für epileptische Anfälle messen können8; es gibt aufklebbare Sensor Patches, um die Blutwerte, Vitalzeichen und den Herzrhythmus zu messen, und sogar Ultraschall-Peripherals für Smartphones und »Consumer EEGs«, die das Aufzeichnen von Gehirnströmen ermöglichen.9 Vor diesem Hintergrund wurde im Jahr 2007 die Quantified-Self-Community gegründet. Unter dem Motto »self knowledge through numbers« bildete sich eine schnell wachsende Gemeinschaft, die sich zunächst auf die tified-Self-Bewegung ist jedoch die große Zahl von Menschen, die sich ohne wissenschaftlichen Hintergrund selbst beforschen. 7 | Vgl. M. Swan: Health 2050, S. 106. 8 | Vgl. M Swan: Sensor Mania, S. 221. 9 | Vgl. ebd., S. 223-224.
Quantified-Self-Technologien
USA beschränkte, heute aber international agiert. Nachdem die Anhänger ihre Daten und Erfahrungen zunächst hauptsächlich in ihren jeweiligen lokalen Netzwerken veröffentlichten, um sich dort auszutauschen, finden seit 2011 auch öffentliche und internationale Konferenzen statt. Neben dem explosionsartigen Anstieg von technologischen Möglichkeiten und den gleichzeitig sinkenden sozialen Zugangsvoraussetzungen profitiert die Popularität von Quantified-Self auch von einem gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit persönlichen Daten hin zu einer immer größeren freiwilligen Transparenz. Vor diesem Hintergrund kann die wachsende Gemeinde von Self- Trackern auch als konsequente Entwicklung im zunehmenden gesellschaftlichen Trend zur Selbstdarstellung gesehen werden. Denn neben der propagierten »self knowledge through numbers« ist in den Quantified-Self-Gruppen auch die »self exhibition through numbers« von Bedeutung: Der Austausch mit anderen Trackern findet zum einen im Rahmen der regelmäßigen Treffen lokaler Gruppen statt und wird zum anderen durch das Veröffentlichen eigener Erfahrungen in speziellen Foren im Internet ermöglicht. Der Gedanke der »self knowledge through numbers« und das Vermessen der eigenen Aktivitäten, der konsumierten Güter oder der Produktivität erinnert dabei an das ›Heilmessen‹ in der mittelalterlichen Volksanthropometrie, in der das Messen selbst schon Teil der Heilung – beziehungsweise der Optimierung – war.10 Im Blick auf das, was bisher unbeachtet blieb, entsteht ein Bewusstsein und damit die Möglichkeit der Veränderung. Der Schritt von der reinen Dokumentation zur Optimierung ist dabei klein; zum einen, weil sich das beständige Streben des Menschen in seiner Entwicklungsgeschichte als entscheidendes Erfolgsmerkmal der Evolution bewährt hat, und zum anderen, weil Begriffe und Konzepte von Individuation, Optimierung und Selbstentfaltung aktueller denn je zuvor sind. Da viele Self-Tracker für ihre Messungen hochentwickelte Technologien einsetzen (beziehungsweise an den Körper ansetzen) und bekennende Gadget-Lovers sind, erreicht sie der Trend, Technik direkt am oder im Körper zu installieren, früher als andere Teile der Gesellschaft. Die zunehmende Verschmelzung mit technischen Elementen – das heißt
10 | Vgl. C. Pieske: Volksanthropometrie – Messen und Magie, S. 93-106.
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die Entwicklung zum Cyborg – wird als Möglichkeit des Enhancements wahrgenommen und weiter entwickelt. In einer ebenso leidenschaftlichenPerspektive kann der Einbau technischer Messinstrumente auch im martialischen Sinne als Aufrüstung gesehen werden: Das Implementieren von Sensoren und Chips, deren Sensitivität weit über das hinausgehen, was die menschlichen Sinne vermitteln können, kann als Entwicklungsschritt hin zu einer transhumanen Ära der biologisch-technologischen Hybride oder auch letztendlich in ein posthumanes Zeitalter gesehen werden. In dieser Hinsicht zeigt sich die Nähe von Quantified-Self zur Singularity-Bewegung.11
S elbstsorge und S elbst-B eherrschung Selbstsorge Betrachtet man das Spektrum der aktuell existierenden Quantified-Self-Tools und -Technologien und auch das Motto der »self knowledge through numbers«, so finden sich zwei deutliche Parallelen zum altgriechischen Verständnis der Diätetik als »Selbstsorge«12: Erstens geht es um die Zentrierung der Aufmerksamkeit auf sich selbst und zweitens um das Streben nach einer umfassenden Optimierung: Ernährungsverhalten, Bewegungsverhalten, Schlafverhalten, Sozialverhalten, Medienkonsum, Arbeitseffektivität, Anspannung, Stoffwechselfunktionen, Alkoholkonsum, Empathien, selbst Glück soll gemessen, ausgewertet und durch die Anpassung korrelierender Variablen kontrolliert und optimiert werden können. Die Praktiken der Sorge um sich und die »Kultur seiner selber« beobachtet Michel Foucault besonders im ersten und zweiten Jahrhundert der hellenistischen und römischen Welt; und zwar als eine zunehmende Tendenz zur (sexuellen) Strenge. Sich um sich selbst zu sorgen, seinen Körper zu pflegen, seine Träume zu beobachten, seine Geschlechtsbeziehungen auf die Ehe zu beschränken und diese verantwortungsbewusst
11 | Vgl. R. Kurzweil: The Singularity is Near. 12 | Vgl. M. Foucault: Die Sorge um sich. Ähnlich bei S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 467.
Quantified-Self-Technologien
zu führen13, war dabei keine politische Vorschrift, sondern Handlungsprinzip einer Elite, deren Tugend sich in der Beherrschung der Lüste beweist.14 So bildeten sich zu Beginn unserer Zeitrechnung frühe Selbstvermessungstechniken aus, die sowohl auf das Überwachen als auch auf das Kontrollieren des Selbst und seiner Lüste abzielen. Auf der Basis eines großen Korpus von medizinischen Kenntnissen und Regeln, der als diätetische Literatur auch von Gesunden zu Rate gezogen wurde, sollte ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst und seiner Umgebung entwickelt werden.15 Es wäre aber ein Irrtum, diese Praktiken – wie Quantified-Self-Techniken – als Prozesse der ›Individualisierung‹, das heißt der Heraufsetzung von Werten wie Einzigartigkeit und Unabhängigkeit innerhalb der Gesellschaft, zu beschreiben16: Moderne Vermessungstechniken müssen im Kontext einer radikal veränderten Vorstellung von Identität verstanden werden17, wonach Erfolg keine Gnade der Götter, sondern eine Ableitung der eigenverantwortlichen Anstrengungen ist: Die moderne Sorge um sich selbst wird damit zum unabschließbaren Optimierungsprozess, dessen Ziel individuell definiert wird.
Selbst-Beherrschung Während der Diskurs der Self-Tracker von positiven Werten wie Optimierung, Autonomie, Selbstbestimmung, Freiheit und Selbstverwirklichung geprägt ist, kann sich bei der Betrachtung der emsigen Selbstvermessung ein kritisches ›aber‹ aufdrängen, das vor dem Hintergrund Michel Foucaults Machtanalytik konkretisiert werden kann: Aber ist nicht auch, unbewusst und bewusst, individuell und sozial, Macht im Spiel? Wer spielt mit wem und nach welchen Regeln? Sofern die Datenaufzeichnung nicht extern erzwungen und kontrolliert wird, liegt der Umgang mit modernen Self-Tracking-Technologien und den aufgezeichneten Daten in den Händen der Tracker selbst. Zwar hat die japanische Regierung 2007 ein Pilotprojekt durchgeführt, in dem 13 | Vgl. M. Foucault: Die Sorge um sich.. Bd. 3, S. 214, 217. 14 | Vgl. ebd., S. 218. 15 | Vgl. ebd., S. 134 16 | Vgl. ebd., S.59. 17 | Vgl. C. Taylor: Quellen des Selbst.
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Eltern mittels RFID-Chips und GPS über den Aufenthaltsort ihrer schulpflichtigen Kinder informiert wurden18, bisher ist die staatliche Kontrolle von Körperfunktionen (nicht straffälliger Individuen) aber eine Dystopie. Wenn es in der Betrachtung von Quantified-Self also um Herrschaftsformen geht, dann sind nicht explizite juristische Zwänge gemeint, sondern das, was Michel Foucault in seiner Analyse der Macht als Regierungstechnologien bezeichnet: Mehr oder weniger systematisierte Formen der Machtausübung, die eine Zwischenposition zwischen den ubiquitären und notwendigen Machtbeziehungen und den institutionalisierten Formen der Machtausübung in Herrschaftszuständen einnehmen.19 Diese Zwischenposition am Übergang von fließenden zu starren, beziehungsweise von interindividuellen zu institutionalisierten Formen der Machtausübung erklärt auch Foucaults Umkehrung der Analyseperspektive, wonach der Staat nicht die Ursache von Unterdrückung ist, sondern der Effekt von Regierungspraktiken, die dafür sorgen, dass die Machtbeziehungen so weit stabilisiert und systematisiert werden, bis sie zu Herrschaftsformen werden.20 Die Prinzipien des individuellen Verhaltens sind eng mit den Formen der politischen Regierung verbunden oder kurz: Die institutionalisierten Herrschaftszustände bauen auf die Selbst-Beherrschung der Individuen.21 Zu diesen Selbst-Beherrschungspraktiken des individuellen Verhaltens gehören besonders die Selbsttechniken oder Selbsttechnologien: »techniques which permit individuals to effect, by their own means, a certain number of operations on their own bodies, on their own souls, on their own thoughts, on their own conduct, and this in a manner so as to transform themselves, modify themselves, and to attain a certain state of perfection, of happiness, of purity, of supernatural power, and so on. Let’s call this kind of techniques a techniques or technology of the self «. 22
18 | Vgl. D. Ley: Ubiquitous Computing. 19 | T. Lemke: Geschichte und Erfahrung, S. 338-339. 20 | Vgl. ebd., S. 339. 21 | Zum Begriff der Affektkontrolle auch N. Elias: Über den Prozess der Zivilisation. 22 | M. Foucault: About the Beginning of Hermeneutics of the Self, S. 203.
Quantified-Self-Technologien
Im Glauben, sich selbst zu optimieren, um (zwar nicht mehr das ewige Leben, aber zumindest) einen glücklicheren, reineren oder wie auch immer vollkommeneren Zustand zu erreichen, beherrscht sich das moderne Subjekt mit Hilfe von Selbsttechnologien: Es modifiziert seine Gedanken, seinen Körper, sein Verhalten und seinen Geist, ohne hinter diesen scheinbar egoistischen Praktiken den modernen Staat zu sehen, der genau diese Beherrschung voraussetzt. Nach diesen analytischen Zwischenschritten von der Macht über den Staat zum Subjekt kann der Kontaktpunkt zwischen Selbstführung und Herrschaftstechniken als Regierungstechnik definiert werden: »if one wants to analyze the genealogy of the subject in Western civilization […] he has to take into account the interaction between those two types of techniques – techniques of domination and techniques of the self. He has to take into account the points where the technologies of domination of individuals over one another have recourse to processes by which the individual acts upon himself. And conversely, he has to take into account the points where the techniques of the self are integrated into structures of coercion or domination. The contact point, where the individuals are driven by others is tied to the way they conduct themselves, is what we can call, I think, government«. 23
Vor diesem theoretischen Hintergrund können Quantified-Self-Technologien (als Selbsttechnologien) in den Kontext von Macht und Regierung eingeordnet werden. Dabei gilt es, die oben erwähnte Doppelperspektive zu beachten: Einerseits muss untersucht werden, an welchen Punkten die Herrschaftstechniken Prozesse nutzen, in denen das Individuum auf sich einwirkt. und andererseits muss untersucht werden, wie Selbsttechnologien in Herrschaftsstrukturen integriert werden. Die Formen der Regierung sind in diesem Kontext immer ein konfliktreicher Balanceakt zwischen Techniken, die Zwang sicherstellen, und Prozessen, durch die das Selbst durch sich selbst konstruiert und modifiziert wird.24
23 | Vgl. ebd., S. 203. 24 | Vgl. ebd., S. 204.
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I ndik atoren für die cybborgisierung Wie hängt also der Trend zur Selbstvermessung mit der Cyborgisierung zusammen? Dazu zunächst ein übergeordneter Zusammenhang: Die exakte Vermessung ermöglicht es, biologische Strukturen durch Technik zu kompensieren: Wer die körperlichen Maße und Vitalfunktionen kennt und wer weiß, wo die Anforderungen des Alltags liegen, kann Möglichkeiten für technische Anschlüsse finden und Prozesse technisch optimieren. So schlägt der amerikanische Futurologe und Transhumanist Ray Kurzweil vor, das Hirn genau zu vermessen, um »die Lage, die Verbindungen und den Inhalt der neuronalen Komponenten zu erkennen«.25 Bei erfolgreichem Scanning bestehe dann die Möglichkeit, den Inhalt als Datensatz auf einen anderen Träger zu transferieren Dieses konkrete Forschungsziel wird derzeit im Human Brain Project der EU verfolgt. Für den Zusammenhang von Vermessung und Cyborgisierung lassen sich darüber hinaus sowohl auf materieller als auch auf immaterieller bzw. ideeller Ebene Indikatoren aufzeigen.
Materiell In der Betrachtung der Quantified-Self-Technologien kann die zunehmende Tendenz konstatiert werden, technische Messobjekte an den Körper anzubringen und den direkten Hautkontakt zu suchen, wie sich beispielsweise an Fitness-Armbändern, Consumer EEGs, Sensorpatches und Ultraschall-Peripherals zeigt. Als Fortsetzung dieses Trends gibt es zunehmend Technologien, die Technik in den menschlichen Körper integrieren und damit sprichwörtlich ›unter die Haut‹ gehen. Aktuell handelt es sich dabei meist um medizinische Produkte, doch die Cyborg-Experimente des Kybernetik-Professor Kevin Warwick – der die erste Verbindung zwischen einem gesunden menschlichen Nervensystem und einem Informationssystem schuf – oder die Bio-Hacking-Experimente der DIY-Cyborgs nehmen mögliche zukünftige Entwicklungen vorweg. Auf rein materieller Ebene sind QS-Technologien also bereits sehr nah am menschlichen Körper beziehungsweise bereits in ihm integriert.
25 | Vgl. R. Kurzweil: The Singularity is Near.
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In der Terminologie von Dierk Spreen26 kann in Hinblick auf die Cyborgisierung des Menschen damit sowohl von lowtech als auch von hightech bodies gesprochen werden.
Immateriell Auf Basis der bisherigen Beobachtungen und Analysen soll hier die These vertreten werden, dass die materielle Nähe von Quantified-Selfund Cyborg-Technologien sich auch immateriell zeigt, indem Quantified-Self-Technologien über den engen Bezug zum Selbst nicht nur dazu verleiten, sich im steigenden Maß mit Technik zu umgeben oder sie in den Körper zu integrieren, sondern auch dazu, sich selbst auf Basis dieser Messergebnisse und Korrelationen zu definieren. Auf diese Weise können Quantified-Self-Technologien eine »maschinelle« Perspektive auf das Selbst fördern und damit ebenfalls als Indikator für eine zunehmende Cyborgisierung gewertet werden. Die modernen Kulturpraktiken der Selbstvermessung – und die meist enge Verbindung mit der Selbstoptimierung – wirken sich auf die Identität von Subjekten aus, wie an der Denkfigur des »Unternehmerische[n] Selbst« verdeutlicht werden soll. In dieser Figur »verdichten sich […] eine Vielzahl gegenwärtiger Selbst- und Sozialtechnologien, deren gemeinsamen Fluchtpunkt die Ausrichtung der gesamten Lebensführung am Verhaltensmodell der Entrepreneurship bildet […] Ein unternehmerisches Selbst ist man nicht, man soll es werden.« 27
Die Ausrichtung des Lebens am Verhaltensmodell des Entrepreneurs zielt auf Optimierung sowie Gewinnmaximierung und beinhaltet dabei Selbstdisziplin sowie Mäßigung ebenso wie Risikobereitschaft – es gilt, das eigene Kapital möglichst gut zu kennen, um es ausschöpfen zu können. Verankert in einer Vielzahl von Selbst- und Sozialtechnologien richtet sich der Appell, zum Unternehmer seiner Selbst zu werden, sowohl an den Einzelnen wie auch an die gesamte Gesellschaft und auch keineswegs nur an eine elitäre Gruppe karriereorientierter Führungskräfte, sondern an alle Menschen: Den einen verspricht er Erfolg, bei den anderen 26 | Vgl. D. Spreen: Cyborgs und andere Technokörper, S. 28. 27 | U. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S.47.
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schürt er die Angst vor dem sozialen Abstieg.Auch wenn der Diskurs der Self-Tracker sich vermeintlich davon abgrenzt und positive hedonistische Werte wie Autonomie, Entwicklung und Optimierung predigt, zeigt Bröckling, dass gerade hinter diesem Unternehmertum der neoliberale Imperativ steckt: Wir sind gezwungen, frei zu sein und uns selbst zu bestimmen – aber nach Maßgabe des Marktes. Quantified-Self-Technologien können diesen Prozess verstärken, indem sie bisher unbeachtete und unbeobachtete Prozesse in Daten erfassen und somit sichtbar machen. Die Bereiche dessen, was optimiert werden kann – und nach dem neoliberalen Imperativ auch optimiert werden soll – können so durch Self-Tracking multipliziert werden. Gleichzeitig können Selbstvermessungstechniken Erfolge quantifizierbar machen und damit sowohl Bestätigung als auch Ansporn sein: Wer weiß, wie hoch seine Leistung in einem bestimmten Bereich ist, kann Pläne entwickeln, Zwischenziele festlegen und sein Ziel als genau definierten Wert verfolgen. Als entscheidender Aspekt kann auch die Möglichkeit, Korrelationen zu erkennen, gewertet werden. Mit Hilfe von Quantified-Self-Technologien können Zusammenhänge zwischen körperlichen Parametern, Erfolgen im Privatleben und Leistungen im Berufsleben aufgezeigt werden. Quantified-Self-Technologien stellten das Selbst gewissermaßen auf den Prüfstand, und zwar in einer mechanistischen Perspektive von festen Kausalzusammenhängen, die es zu berücksichtigen und zu kontrollieren gilt.
Z ahlen , bit te! Dem Wunsch, sich über Zahlen zu verorten oder Zahlen als Mittel der Selbsterkenntnis zu nutzen, scheint die Gefahr der Oberflächlichkeit innezuwohnen. Auch Quantified-Self-Technologien stehen unter diesem Verdacht. Trotz der wachsenden Anhängerschaft scheint gerade das Ziel der philosophisch formulierten Selbstkenntnis kaum über statistische Analysen herauszureichen – aus der Perspektive eines holistischen Menschenbildes fügen sich die unterschiedlichen Längen und Ausprägungen der erstellten Balkendiagramme zu einem langen bunten Holzweg, der zwar um den Nabel kreist, das Selbst aber nie erreicht. Dennoch bieten Zahlen zumindest einen Ansatzpunkt – zumal im digitalen Zeitalter mehr und mehr Aspekte des menschlichen Lebens in zähl- und (be?)rechenbare Werte verwandelt werden können. Sicher ist der Mensch mehr
Quantified-Self-Technologien
als die Summe seines GPS-Profils, seines Schlafrhythmus, seines Medienkonsums, seines Aktivitätsprofils, seines IQ, seines EQ, seiner Blutwerte, seines Beziehungsnetzes, seiner Hirnströme, seiner Produktivität, seines Ernährungstagebuchs und seiner genetischen Disposition – aber wie viel mehr? So oberflächlich Zahlen wirken, so weitgehend sind die Bereiche des Selbst, die mittels moderner Self-Tracking-Methoden vermessen werden können. Dennoch bleibt die Frage, was zählt. Zwischen Optimierungswunsch und Optimierungszwang, zwischen Selbst-Entfaltung und Selbst-Einschränkung und zwischen der technischen Versklavung und der Erhebung zum Gott der Artefakte bieten Quantified-Self-Technologien analytische Ansatzpunkte und Projektionsflächen für eine Vielzahl von Utopien und Dystopien. Es bleibt die Frage: Was zählt für wen – beziehungsweise: wer zählt was?
L iter atur Anders, Günther: Die Antiquitiertheit des Menschen. München: Beck Verlag 1983. Braunfels, Sigrid (Hg.): Der vermessene Mensch, München: Heinz Moos Verlag 1973. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Frankfurt a.M: Suhrkamp 2007. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Basel: Haus zum Falken 1939. Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit. Band 3. Frankfurt a.M: Suhrkamp 1986. Foucault, Michel: »About the Beginning of Hermeneutics of the Self«, in: Political Theory 1993, Vol. 21, S. 198-227. Freud, Siegmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Fragen der Gesellschaft 1930, S.421 ff. Freud, Siegmund: Ursprünge der Religion, Frankfurt: Fischer 1930. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a.M: Campus Verlag 1995. Kurzweil, Ray: The Singularity is Near. When Humans Transcend Biology. New York: Viking Press 2005.
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Leib und Lebenswelt im Zeitalter informatischer Vernetzung Klaus Wiegerling
Die folgende Erörterung stellt eine Erweiterung von Überlegungen an, die 2012 in dem Aufsatz Leib und Lebenswelt – Zum Wandel ihres Verhältnisses in intelligenten Umgebungen1 angestellt wurden. Zur Erleichterung der Lektüre werden zentrale Gedanken dieses Papieres nochmals aufgegriffen. Technische Transformationsprozesse erfahren wir gegenwärtig v.a. in zwei Sphären. Es ist zum einen die beschleunigte medientechnologische Durchdringung unserer Lebenswelt. An prominenter Stelle sind informatische Ideen wie Ambient Intelligence zu nennen, die unsere Handlungsumgebung intelligent machen sollen, indem Gegenstände der Mesosphäre unsere Informanten und Kommunikationspartner werden. Es soll eine informatische ›Belebung‹ der unbelebten Natur stattfinden. Überall und jederzeit werden handlungsrelevante Informationen aus der Umgebung gezogen. Dabei muss ein Handlungskontexte verstehendes System nicht ausdrücklich um Unterstützung gebeten werden, da es unsere Wünsche erkennen und effizient erfüllen soll. Ubiquitäre Systeme agieren auch ohne ausdrücklichen Befehl. Zweitens erleben wir eine Transformation unseres Körpers durch intelligente Implantate und Prothesen sowie durch biotechnologische Eingriffe, die unseren Organismus so verändern, dass es zu einer Verbesserung seiner Dispositionen und Vermögen kommen kann. Beide Bereiche sind eng miteinander verknüpft. Die Idee des Cyborgs, also eines Wesens, das mit Hilfe informatischer Elemente in seiner organischen Verfassung, seiner Merk- und Wirkfähigkeit verbessert wird, und die Idee eines Biofaktes2, 1 | Vgl. K. Wiegerling: Leib und Lebenswelt. 2 | Vgl. N. Karafyllis: Biofakte.
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in der uns eine verbesserte organische Ausstattung von Geburt an gegeben wird, konvergieren. Die Verbesserung des organischen Umfelds des Implantats etwa würde Auswirkungen auf dessen Funktionalität und den organisch-informatischen Gesamtverbund haben. Eine systemische Vernetzung existiert aber auch mit der intelligenten Umwelt. Die Haut kann nicht mehr als Außengrenze des eigenen Körpers gedacht werden. Vitaldaten werden extrakorporal eingesehen und es wird auf diese Daten kontrollierend und steuernd reagiert, wobei Kontroll- und Steuerungsprozesse automatisiert erfolgen. Denkbar sind extrakorporal initiierte Rhythmisierungen des Organismus entsprechend beruflicher Rollenanforderungen. Um die Aufmerksamkeit bei Piloten zu optimieren, könnte eine Veränderung des Biorhythmus hilfreich sein. Der sich in seiner körperlichen Disposition transformierende Mensch wird die Frage nach der Natalität seiner Existenz neu bedenken müssen. Es ist zu fragen, ob sich die Rede von der Natur als eines von selbst wachsenden und sich erhaltenden Bestandes noch durchhalten lässt. Der Gegensatz von Natur und Kultur wird weiter aufweichen. Immer mehr unverfügbare Naturressourcen werden verfügbar werden. Der Begriff der Natur ist auf physikochemische bzw. biochemische Grundbestände reduziert, die für eine synthetische Biologie das Ausgangsmaterial künstlicher Hervorbringungen sind. Natur wird zum hyletischen Rest, der zwar nicht hintergeh-, aber minimierbar ist. Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass Naturfunktionen in informatische Modelle übertragen und in anderer Hardware realisiert werden. Diese Modelle sind Artikulate einer unendlich ausdifferenzierbaren Wirklichkeit, denen Desartikuliertes korrespondiert; und erst aufgrund solcher Artikulationen konstituiert sich auch ein Gegenstand der Erkenntnis. Der menschliche Körper wird in technologisch hoch entwickelten Weltregionen in erheblichem Maße hervorbringbar und gestaltbar sein. Wenn der Begriff der Natur nur noch für etwas steht, das sich der menschlichen Verfügbarkeit entzieht, dann gibt es gute Gründe ihn, wie Christoph Hubig vorgeschlagen hat, als Reflexionsbegriff anstatt als objektreferierenden Begriff zu fassen. Die Konvergenz der beiden Sphären einer unser Welt- und Selbstverständnis transformierenden Technologie hat Hubig beschrieben. Er geht davon aus, dass wir in ein Zeitalter transklassischer Technik eintreten, in dem die innere und äußere Natur technisiert werden, unsere Handlungsumgebung intelligent wird und unser Körper eine ›intelligente‹ Aufrüstung erfährt. Handlungsumge-
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bung und eigener Körper erlangen damit eine eigenständige technische Problemlösungskompetenz: »Negative Utopien von einer sich selbst reproduzierenden Technik, in der Entwicklungslinien der Informations-, Bio- und Nanotechnologien zusammenfließen, warnen vor einer […] Verdrängung des Menschen als Subjekt der Technik in einem neuen ‚posthumanen“ Zeitalter als weitere Entwicklungsstufe der Evolution der Systeme. Eine sorgfältigere Betrachtung dieser Entwicklung kann verdeutlichen, dass sich […] eine Veränderung der Mensch-Technik-Beziehungen anbahnt, diese aber nicht in einer Veränderung eines wie immer gearteten ‚Wesens‘ der Technik begründet ist, sondern in einer Veränderung der Schnittstellen zwischen menschlichen Akte uren und technischen Systemen. […] Verändern sich […] die Schnittstellen qualitativ […], werden sie unklar oder [...] als […] nicht identifizierbar erachtet, so gehen mit ihnen die Wahrnehmung von Spuren und die Möglichkeit der Rekonstruktion medialer Voraussetzungen verloren, mithin die Fähigkeit, sich zu diesen medialen Voraussetzungen in ein Verhältnis zu setzen. Der Verlust der Spuren […] ist ein […] Effekt, […] der sich als die Wurzel mancher negativen Utopien erweisen lässt. Umgekehrt wird aber auch ersichtlich, dass […] ein Nichthinterlassen von Spuren durchaus als Signum eines gelingenden Umgangs mit Technik […] erachtet wurde, als wesentliches Moment der Entlastungsfunktion von Technik, zu der gehört, dass sie die Beschäftigung mit sich überflüssig erscheinen lässt.« 3
Das Schnittstellenproblem erweist sich als zentral für die transklassische Technik. Das alte Paradigma von einer idealen Technik, die unaufdringlich wie eine gut sitzende Brille ist, ist zum Problem geworden. Was sich nicht bemerkbar macht, entzieht sich aber der Kontrolle und Steuerung. Weiter führt Hubig in Bezug auf die Möglichkeit der technischen Erzeugung bzw. Gestaltung des menschlichen Körpers aus: »Eine echte Fusion [von Natur und Technik, KW.] liegt vor, wenn Wachstums- und Reproduktionsprozesse technisch provoziert oder stimuliert werden, wobei im Ergebnis der technische oder natürliche Anteil nicht mehr zu sondern ist. Ferner sind Fusionen gegeben, wenn biotische Entitäten aufgrund von Extraktion und Transplantation in neuer, technisch gestalteter Umgebung ihre weitere Entwicklung vollziehen, und schließlich findet die Fusion ihre radikalste Gestalt, wenn über entsprechende Manipulationen Organismen, Organe oder Organteile neu 3 | Chr. Hubig: Die Kunst des Möglichen I, S. 183f.
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konstituiert oder zu alternativen Entwicklungsprozessen hin transformiert oder modifiziert werden. In ihrer Entwicklung führen die Biofakte nicht mehr prägnante Schnittstellen mit sich, über die ihre weitere Entwicklung beeinflussbar wäre. Der Umgang mit ihnen beschränkt sich auf die Gestaltung der Bedingungen ihres Wirkens, nicht mehr auf das Wirken selbst.« 4
Damit hätte die transklassische Technik den Menschen als Handlungssubjekt überflügelt. Die besondere Qualität dieser Technik artikuliert sich aber auch in einer neuartigen Vernetzung des Leibes mit der Welt. Im Begriff der Lebenswelt artikuliert sich die Einsicht, dass der Mensch der Welt nicht nur gegenüber steht, sondern quasi mit ›Leib und Seele‹ mit ihr verstrickt ist. Die hier thematisierte Verstrickung ist aber eine in erster Linie technische. Es geht nicht um die historische, psychosoziale und biologische Verstrickung des Menschen, sondern um informationstechnologische Verknüpfungen seines Körpers mit der Umwelt. Diese haben nicht nur Auswirkungen auf die Funktionalität des Organismus, sondern auch auf unseren Leib und damit unser Selbst- und Weltverständnis. In der transklassischen Technik artikuliert sich eine radikale Vernetzungsidee. Das Individuelle und Einzigartige, das sich bislang einer allgemeinen Zugänglichkeit verschließt, wird nun mit allem anderen vernetzt. Schon della Porta wies im 16. Jh. darauf hin, dass der Zusammenhang der Welt auf Ähnlichkeitsrelationen beruht.5 Über sie können wir sozusagen in das Innerste eines fremden Wesens eindringen und es verstehen. Er artikuliert damit nicht nur die Idee einer totalen Vernetzung von belebten und unbelebten Entitäten, sondern zugleich die einer Auflösung individueller Autonomie, da alles für alle zugänglich ist und damit auch von anderen manipulier- oder gar steuerbar. Das Verhältnis von Leib und Lebenswelt lässt sich nun in fünf Punkten fassen, die anschließend eine Explikation und Begründung erfahren sollen: • Angesichts bestehender materieller Ressourcen und technischer Möglichkeiten wird es in Teilen der Welt zu einem neuen Verständnis des menschlichen Körpers und damit zu einem neuen Leib-, Welt- und Selbstverständnis kommen. Körperfunktionen können extrakorporal 4 | Ebd., S. 186. 5 | Vgl. G.B. delle Porta: Magia naturalis.
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kontrolliert und gesteuert werden. Es wird zu neuartigen Anpassungen unserer körperlichen Dispositionen an Umwelt- bzw. Lebensbedingungen kommen. Sogar eine räumliche Verteilung körperlicher Funktionen und Ressourcen ist denkbar, womit auch die Idee der organischen Einheit unserer körperlichen Existenz infrage steht. Dieser Entwicklungsprozess entfaltet sich schleichend. Der aufgerüstete Körper wird mit einer intelligent gewordenen Welt vernetzt sein, die ebenso an Widerständigkeit verliert wie er selbst, etwa wenn Schmerzen bzw. Belastungen durch regulierende Systeme im Körperinneren nicht mehr spürbar sind. Es werden sich in Zukunft wohl nicht zwei unverbundene Systeme gegenüber stehen, sondern der menschliche Körper wird Teil eines intelligenten Gesamtsystems sein. Lebenswelt als unthematische Welt wird sich auch intrakorporal als technischer Verbund manifestieren. Lebenswelt wie Leib werden technische Vermittlungsprodukte sein, womit die Idee der Natalität als Möglichkeit eines radikalen Neuanfangs untergraben und sich die normierende Kraft der Lebenswelt in unserer leiblichen Disposition niederschlagen wird. Durch die technische Aufrüstung des Körpers und der damit verbundenen Verknüpfung des Körperinnern mit der Außenwelt wird der Mensch neue Handlungsoptionen erlangen. Allerdings wird die menschliche Autonomie dadurch auch Einschränkungen erfahren. Die Transformation des menschlichen Körpers wird eine institutionelle Rahmung erfahren, die Präferenzen der körperlichen Aufrüstung vorschreibt bzw. fördert. Die institutionelle Rahmung artikuliert sich in einem normativen Gesundheitsdiskurs, der durch das Gesundheitswesen und durch biopolitische Maßnahmen abgesichert wird. Das informationstechnologisch disponierte Verhältnis von Leib und Lebenswelt wird sich in der Weise einer Gleichschaltung durch technische Normierungen artikulieren.
Schauen wir auf die Leitdifferenz von Leib und Körper. Während sich der Körper in der Dritten-Person-Perspektive als Gegenstand einer naturalistischen Betrachtung fokussieren lässt, ist der Leib zum einen dadurch gekennzeichnet, dass er intuitiv erschlossen werden kann, d.h., er wird als der eigene gespürt. Zum anderen ist er aber auch kulturell bzw. historisch disponiert, enthält in seiner subjektiven Erfahrung also allgemeine Bestände. Der ältere Begriff des Leibes ist umfassender als der des
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Körpers, der eine naturalistische Reduktion darstellt. Mit dem Leib wird Individuelles, mit dem Körper Überindividuelles verknüpft, was sich in Komposita wie ›Leibgericht‹ einerseits oder ›Körperschaft‹ andererseits artikuliert. Der Leib ist eine Limesgestalt, ein naturalisiertes Kulturstück bzw. kultiviertes Naturstück, also weder natural, noch kulturell zu fassen. Als historisch-kulturelle Entität ist er ein Vermittlungsprodukt und immer wieder aufs Neue auszulegen. Wenn wir von einem neuen Typus des Menschen sprechen, der eine Verbesserung seiner körperlichen Vermögen durch eine bio- oder informationstechnologische Aufrüstung erfährt, dann ist es angemessen von Sekundärer Leiblichkeit zu sprechen, denn es wird neue Formen der Selbst- und Welterfahrung geben, wenn Schmerzen und Belastungen nicht mehr spürbar, wenn sinnliche Erfahrungen und Leistungsvermögen ohne Training erweiterbar sind. Sekundäre Leiblichkeit verweist auf die technische, nicht historisch bedingte Transformation des Leibverständnisses. Körperliche Vermögen, innere und äußere Organe können nicht nur ersetzt oder kompensiert, sondern verbessert und damit neue Möglichkeiten der Wahrnehmung, der Steuerung körperlicher Vorgänge und der Erweiterung unseres Wirkens geboten werden. Das von Husserl entwickelte Konzept der Lebenswelt wurde vielfach transformiert, um der Konsistenz willen wissenssoziologisch verengt oder um einer erweiterten Verwendung willen vage und bildungssprachlich gefasst. Husserls Konzeption impliziert Unschärfen, die ihre Ursache darin haben, dass er sowohl eine empirische Deskription als auch eine apriorische Fassung der Lebenswelt als Welt des Erlebens anstrebt, was auf Einflüsse von Avenarius einerseits und Dilthey andererseits zurückzuführen ist. Die Auflösung dieser Spannung sahen die meisten Fortentwickler und Transformatoren des Konzepts in dessen soziologischer Reduzierung. Es stellt sich aber die Frage, ob ein konsistenteres Lebensweltkonzept nicht das verfehlt, was es auszeichnet, nämlich seine Zwitterstellung.6 Husserl beabsichtigte über eine phänomenologische Fundierungsabsicht hinaus mit seinem Konzept einen Maßstab zu entwickeln, mit dessen Hilfe er den Befund einer Krise der Wissenschaft infolge des Verlustes ihrer Lebensbedeutsamkeit exponieren konnte. Entscheidend blieb für ihn der Aspekt der Invarianz lebensweltlicher Strukturen. Primat hatte dabei nicht die Deskription der konkreten Ausgestaltung der 6 | Vgl. Chr. Bermes: ›Welt‹ als Thema der Philosophie.
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Lebenswelt, sondern die Aufweisung lebensweltlicher Strukturen. Diese artikulieren sich in den Charakteristika: Unthematischsein, Unmittelbarkeit, Vertrautheit, Vorgegebenheit, Subjektivität, Anschaulichkeit, Relationalität, Sprachlichkeit und Geschichtlichkeit. Was Husserl Lebenswelt nennt, ist das Fundament aller wissenschaftlichen Weltbegriffe. Diese entstehen durch eine methodisch gewonnene Abstraktion der Lebenswelt. Sie zeigt sich als ein Sinngebilde, das der in die Lebenswelt Verstrickte selbst nicht kennt. Jede Thematisierung der Lebenswelt ist eine Privation ihres geschichtlich-konkreten vorgängigen Seins. Nimmt die Thematisierung auch Ausgang vom lebensweltlich Seienden, so sind die Ergebnisse der Thematisierung selbst keine lebensweltlich-geschichtlichen mehr. Wir müssen also zwischen der Lebenswelt als konkret gegebener und der Lebenswelt als strukturelles Sinngebilde, das in einer Lebensweltwissenschaft in einem ausdrücklichen Reflexionsakt thematisiert wird, unterscheiden. Lebensweltliches Horizontsein bedeutet Verweisung auf inhaltliche Möglichkeiten, Potentialitäten in Husserls Jargon, nie auf leere formale Möglichkeiten. Deswegen ist das Boden-Sein der Lebenswelt nicht mit dem des Universalhorizontes der Welt zu verwechseln. Die thematisierte Lebenswelt ist eine Welt leerer Möglichkeiten, denn sie bringt Strukturen zu Bewusstsein, nicht aber das Vorgegebene in seiner Konkretheit. Zuletzt wird das Konzept im Sinne eines Reflexionsbegriffs gebraucht, mit dessen Hilfe Fundament und Grenzen wissenschaftlichen Handelns bestimmt werden sollen. Bisher gestaltete sich das Verhältnis von Leib und Lebenswelt in der Weise einer Passung. Der Leib war sozusagen mit den kulturellen, klimatischen und im engeren Sinne sozialen Bedingungen synchronisiert. Als kultiviertes Naturstück bzw. naturalisiertes Kulturstück ist er in die vertraute Lebenswelt eingebettet. Er war aber nicht in unmittelbarer Weise mit der Außenwelt verknüpft, sieht man von medizinischen Sondermaßnahmen ab. Die Welt in ihrer kulturellen Konkretion artikuliert sich in ihm, insofern sie in einem Funktionskreis von Sensomotorik, Gehirnleistung und Umwelt quasi einverleibt wird.7 Dies äußert sich in leiblichen Rhythmen, in Bewegungsabläufen und einem impliziten Wissen. Leib und Lebenswelt sind keine streng voneinander unterscheidbaren Kategorien, aber sie gehen auch nicht ineinander auf. Der Leib ist nur in engem Rahmen der menschlichen Verfügbarkeit unterworfen und damit kein 7 | Vgl. Th. Fuchs: Leib und Lebenswelt.
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Ausdruck einer nachklassischen Technik. Zwar lässt er sich durch Training gestalten, zwar gibt es kulturell bedingte Anpassungen, aber er war bisher der menschlichen Verfügbarkeit entzogen. Als Willensausdruck war er mehr als eine Komponente in einem systemischen Verbund intraund extrakorporaler Momente. Was charakterisiert nun das, was wir Sekundäre Leiblichkeit nennen? Schauen wir zunächst auf die Begriffe des Cyborgs und des Biofakts. Der Begriff des Biofakts wurde erstmals von dem Zoologen Klein 8 gebraucht und von Karafyllis9 in die technikphilosophische Diskussion eingeführt. Biofakte sind künstliche, vom Menschen geschaffene Objekte auf organisch-biologischer Grundlage. Wirklich werden sie durch genetische Manipulationen. Was gewachsen ist, kann man nicht ohne weiteres in Einzelteile zerlegen, ohne es zu zerstören. Prothesen kann man auch wieder entfernen, die Entfernung von Gewachsenem dagegen kann eine Verstümmelung sein. Ist das Biofakt realisiert, ist es – wie alle Lebewesen – natürlichen Wachstums- bzw. Veränderungsprozessen ausgesetzt. Mit dem Begriff des Cyborgs wird ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und kybernetischen bzw. informationstechnologischen und maschinellen Elementen bezeichnet. Der Organismus wird dabei mit nichtorganischem Material ergänzt. Der aus der Astronautik stammende Begriff wurde von dem Biologen Clynes und dem Mediziner Kline10 eingeführt und bezeichnet dort ein noch zu schaffendes Wesen, das den Umweltbedingungen des Weltraums angepasst ist. Mit Hilfe biochemischer und elektronischer Modifikationen sollen Menschen als selbstregulierende Mensch-Maschine-Systeme im Weltraum überlebensfähig gemacht werden. Technologie geht beim Cyborg unter die Haut. Mit Hilfe kybernetischer Implantate sollen organische Funktionen verbessert und neue Merkorgane – etwa solche, die Strahlenbelastungen bemerken – hergestellt werden. Organische und informatische Funktionen gehen hier eine unauflösbare Verbindung ein, und es ist nicht immer klar, ob Störungen mit dem Skalpell, mit Medikamenten, mit dem Schraubenzieher oder vom Computer aus zu beheben sind. Wir müssen davon ausgehen, dass der künftige Mensch verstärkt biofaktische Grundlagen haben und eine Aufrüstung durch Implantate und 8 | Vgl. B. Klein: Biofakt und Artefakt. 9 | Vgl. N. Karafyllis: Biofakte. 10 | Vgl. M. Clynes/ N. Kline: Cyborgs in Space.
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Prothesen zu einer Art Cyborg erfahren wird. Er wird Objekt von Eingriffen in seine organische Substanz sein und zunächst insofern verbessert werden, als spezielle Eigenschaften und widerstandsfähigere Organe zum Wachsen gebracht werden. Im Laufe des Lebens ist mit Eingriffen zu rechnen, die den natürlichen Verschleiß und die Alterung von Organen nicht nur verzögern, sondern diese in einen verbesserten Zustand versetzen. Dies kann durch den Einsatz von Implantaten geschehen, die Organe ersetzen oder regulieren. Informationstechnologische Prozesse werden wahrscheinlich auch mit organischem Material realisiert werden können. Das leistungsfähigere Wesen der Zukunft soll die Elastizität und Plastizität organischer, aber auch die Widerstandsfähigkeit und Haltbarkeit nichtorganischer Materialien besitzen. Intelligente Implantate und Prothesen sollen ›nahtlos‹ mit dem Organismus verschmelzen und als Teil des eigenen Organismus empfunden wer-den. Die Schnittstelle von organischem Umfeld und Implantat bzw. von Or-ganismus und Prothese soll zum Verschwinden gebracht werden. Der künstlich erzeugte soll mit dem vorgegebenen – vielleicht pränatal schon manipulierten – Körper vermittelt sein und als der eigene empfunden werden. Neue, erweiterte körperliche Möglichkeiten sollen ohne nennenswerte Eingewöhnungsphase als die eigenen angenommen werden. Sekundäre Leiblichkeit soll sich also von der ›alten‹ natürlichen Leiberfahrung nicht unterscheiden. So wie es schon immer soziale bzw. kulturelle Prägungen unserer Leiblichkeit gab, so wird es auch Prägungen durch technische Aufrüstungen geben. Diese Prägungen haben aber wenig mit dem zu tun, was wir bisher darunter verstanden. Vielmehr geht es hier um technische Justierungen bzw. Abstimmungen, die durchaus auch ohne das Wissen des Individuums vorgenommen werden können. Neben der Möglichkeit durch intelligente Implantate verbesserte körperliche Vermögen, ein schmerzfreieres Leben und eine neue Lebensqualität zu erlangen, entstehen auch neue Abhängigkeiten. Leibliche Ressourcen können fremdgesteuert werden, die permanente äußere Überwachung unserer Körperfunktionen kann unerlässlich sein. In intelligenten Welten gibt es wohl noch nicht einmal intrakorporal eine Privatsphäre. Hier wird deutlich, dass die Idee einer Verbesserung körperlicher Fähigkeiten nicht unabhängig von institutionellen und kulturellen Rahmungen denkbar ist. Es wird sich zeigen, welche körperlichen Präferenzen in der Gesellschaft artikuliert werden. Die Geschichte der Schönheitschi-
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rurgie belegt deren Wandelbarkeit. So könnten Präferenzen gewünscht sein, die die Leistungsfähigkeit verbessern, aber auch solche, die die Genussfähigkeit erhöhen. Im Falle der Leistungsfähigkeit korrelieren die Präferenzen mit Rollenerwartungen. Der Bereich des Sports zeigt aber, dass bestimmte Präferenzen mit der Desartikulation anderer Fähigkeiten einhergehen. Der Sprinter benötigt, um seine Schnellkraft beim Start zu erhöhen, genau da Muskeln, wo sie beim Langläufer stören. Welches Vermögen also verbessert wird, ist Sache einer Artikulation, die sich aus spezifischen kulturellen bzw. sozialen Quellen speist und aufgabenabhängig ist. Gewisse Verbesserungen sind gesellschaftlich erwünscht, für sie gibt es entsprechende medizinische Ressourcen, für andere nicht. Unmöglich ist eine generelle Verbesserung. Jede Verbesserung hat ein ›woraufhin‹. Eine körperliche Optimierung für das Leben in der Wüste setzt andere Präferenzen als für ein Leben am Polarkreis. Selbst der Gesundheitsdiskurs ist nicht verallgemeinerbar. Was Gesundheit heißt, ist eine Bewertungsfrage, bezogen auf gesellschaftliche Anforderungen und Erwartungen an das Leben. Ist gesund, wer über eine hohe Genussfähigkeit verfügt, oder wer imstande ist Entbehrungen auf sich zu nehmen? Gesundheit impliziert körperliche Potentiale, nicht nur die Abwesenheit von Schmerzen. Selbst die Frage nach der Lebenserwartung hat nur bedingt etwas mit Gesundheit zu schaffen. In unserer Gesellschaft mehren sich die Fälle, in denen sich Menschen dank hervorragender medizinischer und hygienischer Bedingungen bis ins hohe Alter kränkeln. Angesichts der informatischen Verknüpfung von Körper und Umwelt stehen wir vor neuen Herausforderungen für unser Leibverständnis. Der Organismus als Idee eines selbstreferentiellen Naturstücks erfährt eine technische Erweiterung, die sich zugleich in einer räumlichen Erweiterung artikuliert – womit der Körper in gewisser Weise auch eine Veröffentlichung erfährt. Er kehrt in digitaler Transformation sozusagen das Innerste nach außen. Er wird im äußersten Fall nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Teil eines umfassenden informatischen Gesamtsystems sein. Deutlich wird dies nicht zuletzt bei der Anwendung von BigData- Techniken im Gesundheitswesen. Es geht dabei keineswegs nur um die Analyse und Zuordnung von Vitaldaten, die in Datenbanken abgelegt sind, sondern um eine Gesamtanalyse und Bewertung der Lebensweise, die quasi auf einer Totalschau des Lebens aufgrund innerer und äußerer
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Beobachtungen beruht.11 Die damit verfolgten Zwecke sind oft ökonomischer Natur, nicht zuletzt ist eine Art körperliche ›Taktung‹ für Berufsanforderungen denkbar. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei betont, dass eine digitale Transformation des Körpers nicht mit der organischen Wirklichkeit identisch ist. Jede Digitalisierung ist notwendigerweise eine Reduktion auf bestimmte funktionale Bedingungen und Bewertungen, aber sie ist damit auch expliziter Ausdruck eines wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf unsere naturalen Bedingungen auf der Basis eines informatischen Verständnisses organischer Prozesse. Reduktionen sind aber nicht nur Ausdruck eines wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf die Welt, sondern genereller Ausdruck unserer Welterschließung. Weltwahrnehmung ist immer die Artikulation bestimmter Weltstücke, nie der Welt in ihrer Totalität. Der Unterschied zwischen alltäglicher und wissenschaftlicher Welterschließung liegt in der Explizitheit und Begründetheit der letzteren. Auch der mit intelligenten Implantaten und Prothesen aufgerüstete Organismus wird noch durch Selbstreferentialität gekennzeichnet sein. Umweltdaten werden apparativ erfasst und verarbeitet werden, um organische Abläufe diesen Daten anzupassen. Die Umwelt wird damit quasi in die eigene organische Funktionalität integriert. Der Organismus wird wie ein technisches Gebilde modelliert, erweitert, gekoppelt und gewartet werden. Schnittstellenprobleme wird es aber auch im eigenen Körper geben, wenn es zu Funktionsstörungen des Implantats kommt oder die Interaktion mit der organischen Umgebung bzw. dem Gesamtorganismus nicht mehr funktioniert. Implantate können ihre Lage verändern, können von ›innen‹ und ›außen‹ Störungen erfahren; von ›innen‹ in ihrem informatischen Bestand durch Computerviren, von ›außen‹ durch unabsehbare Reaktionen der organischen Umwelt. So besteht die Gefahr, dass der Schmerz als nicht willkürliches Frühwarnsystem ausgeblendet bleibt, etwa um die sportliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Der Eingriff in den Organismus erfolgt über das Implantat automatisiert oder über extrakorporale Kontrolleure. Die Abhängigkeit meiner organischen Disposition von Dritten wird wachsen.
11 | Vgl. den Beitrag von M. Heidingsfelder über Quantified-Self-Technologien in diesem Band.
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Abnehmen wird die leibliche Autonomie, die sich z.B. in Selbstheilungskräften artikuliert. Zunächst wird das leibliche Spüren Einschränkungen erfahren. Die technische Aufrüstung des Körpers dient mitunter dazu, es als Störfaktor auszuschalten, es sei denn, es wäre ein lustvolles Spüren, das das subjektive Wohlbefinden verbessert. Jedes sonstige Spüren, vom Seitenstechen bis zum Gliederschmerz könnte die Leistungsfähigkeit einschränken. Dabei ist das Spüren auch von kulturellen Normierungen abhängig. Wir spüren nicht nur unwillkürlich, sondern auch durch kulturell bedingte Fokussierungen. Nicht nur unsere Weltwahrnehmung, auch die Wahrnehmung des eigenen Leibes ist von kulturellen Vorgaben abhängig. Im Falle der Sekundären Leiblichkeit findet eine technische Vermittlung des leiblichen Spürens statt. Jede technische Vermittlung ist zwar auch die einer kulturellen Disposition, es findet hier aber zugleich eine Entkoppelung von dieser Disposition statt, da die Auslegung des Gespürten keine historisch-verstehende mehr ist. Es findet – um es mit Hegel zu sagen – keine Verleiblichung von Geistigem statt, sondern nur eine Verkörperung technischer Momente in einem organischen Umfeld. Sekundäre Leiblichkeit ist eine Grenzgestalt der Leiblichkeit, die sich an der äußersten Grenze zur kulturellen Disposition artikuliert. Dysfunktionalität wird äußerlich angezeigt werden. Das vage Spüren des Leibes wird durch das schärfere, auf den Bildschirm der Kontrollapparatur gerichtete Auge ersetzt.12 Was ein informationstechnologisch aufgerüstetes Wesen als seinen Leib erfährt, ist z.T. Ergebnis einer technischen Vermittlung. Selbsterfahrung kann nicht nur durch Krankheiten oder Verletzungen gestört oder eingeschränkt sein, sondern auch durch technische Probleme. Die historisch-kulturelle Vermittlung wird eine technische Verengung erfahren. Technik wird somit zu einer selektiven Kraft zweiten Grades. Weltwahrnehmung wird nicht nur durch kulturelle Präferenzen vermittelt, sondern auch durch technische Standardisierungen und Präferenzen. Die Idee verteilter intelligenter Systeme schließt die informatische Durchdringung unseres Körpers ein. Unsere Lebenswelt wird damit eine Art logistische Erweiterung erfahren. Es wird zu Rhythmisierungen von Handlungsabläufen kommen, wohl mit einem Primat ökonomischer Handlungsabläufe. Diese Anpassung wird in vielen Arbeitsfeldern 12 | Vgl. G. Böhme: Invasive Technisierung, S. 224ff.
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nicht verweigert werden können, da die Erfüllung der Aufgaben sonst nicht mehr zu gewährleisten ist. Technisch-ökonomische Normierungen werden Auswirkungen auf organische Normierungen haben. Es werden Übertragungen von technischen Modellen auf unsere leibliche Existenz stattfinden. Die Medizin wird sich zwar nicht vollständig in ein Body-Engineering verwandeln, aber dessen Anteil wird anwachsen. Die fortschreitende technische Normierung des menschlichen Körpers ist Ausdruck einer kulturellen Präferenz. Mit der Vermehrung des technischen Eingriffswissens werden sich wohl eine größere Leistungsfähigkeit und ein verlängertes Leben einstellen und es wird zu einer Annäherung von körperlicher und technisch-ökonomischer Normierung kommen. Das technisch Normierte wird das Vertraute sein, was nicht in diese Normierung passt, möglicherweise das Verdächtige. Die Grenzen zwischen der Wiederherstellung verlorener Vermögen und deren Verbesserung werden fließend sein. Wenn die Leistungsfähigkeit unserer sensomotorischen Vermögen erhöht wird, wird sich auch unsere Wahrnehmungsfähigkeit und Weltwahrnehmung ändern. Mediale Apparaturen haben bereits unsere Weltwahrnehmung verändert. Mit einer Aufrüstung unserer Sinne würden mediale Techniken ins Körperinnere dringen. Wir würden ohne Bedienungsapparatur zu veränderten Sinneserfahrungen gelangen; unser Sehsinn könnte schärfer, der auditive und olfaktorische Sinn präziser werden. Dies könnte aber für unsere psychische Verfassung fatale Folgen haben. Man stelle sich ein Gehör vor, das noch Frequenzen wahrnimmt, auf die bisher nur ein Hund reagiert. Der Wandel der leiblichen Disposition hat Konsequenzen für das Gesundheitsverständnis.13 Der Zusammenhang von Alterung und Krankheit wird eine weitgehende Entkoppelung erfahren. Vielleicht werden wir schmerzende Körperpartien abschalten und Körperfunktionen outsourcen können. Die permanente Überwachung von Vitalfunktionen und die Fixierung unserer Existenz auf Gesundheit und Vitalität werden Auswirkungen auf unsere Psyche haben. Die technologische Aufrüstung des Körpers wird zu einer verstärkten Anmessung des Gesundheitsverständnisses an technische bzw. ökonomische Kategorien wie Effizienz und Funktionalität führen. Gesundheitsempfinden und die Reflexion auf den Gesundheitsdiskurs sind von fundamentaler Bedeutung für das Selbstverständnis des 13 | Vgl. K. Wiegerling: Die Veränderung des Gesundheitsverständnisses.
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Individuums, das nie im allgemeinen Diskurs aufgeht. Es sucht seinen Ort neben dem Allgemeinen. Dies geschieht in der Weise der Artikulation einer Differenz zwischen eigener Befindlichkeit und normiertem Gesundheitsverständnis. Der institutionell gerahmte Gesundheitsdiskurs ist ein zentraler Ausdruck des Normalitätsdiskurses. Erfährt der eigene Körper eine Aufrüstung durch Implantate, dann ist die Möglichkeit einer Entindividualisierung gegeben, da technische Artefakte zwar individuell justiert, nicht aber hergestellt werden. Solange wir von Menschen reden, die organisch vermittelt sind und organischen Alterungsprozessen unterliegen, gehört die Differenzerfahrung und damit die Erfahrung der Individualität zum Selbstverständnis. Eine Ermächtigung des Menschen findet statt, wenn der eigene Leib in die Verfügbarkeit des Menschen gerät und zum Ausdruck menschlicher Freiheit wird. Entmündigung findet aber zugleich statt, wenn der aufgerüstete Körper einer Spezialkenntnisse erfordernden Fremdwartung bedarf und es zu Interaktionen mit der Umwelt kommt, die willentlich weder initiiert noch gesteuert sind. Ermächtigung findet statt, wenn körperliche Fähigkeiten ohne größeren Trainingsaufwand erweitert und verbessert werden können. Entmündigung findet aber ebenso statt, wenn die technologischen Bedingungen der Ermächtigung sich einer individuellen Steuerung entziehen. Artikulationen und Desartikulationen der Weltwahrnehmung werden wesentlich durch intrakorporale Technologien bestimmt sein, die ich bin und zugleich nicht bin. Lasse ich mich auf sie ein, lasse ich mich auch auf einen Entindividualisierungsprozess ein. Die Institutionen des Gesundheitswesens werden dafür sorgen, dass der technisch aufgerüstete Körper bestimmten Erwartungen entspricht. Eine Zurücknahme der technischen Disposition lässt sich schwer vorstellen. Wer wird freiwillig auf einmal erreichte körperliche Fähigkeiten verzichten? Gesundheit als Ausdruck einer Lebensform, die Momente der Hygiene, Ernährung, Leibesertüchtigung, Regeneration, sozialen Einbettung und des Ausgleichs zwischen unterschiedlichen Aktivitäten umfasst, wird eine technische Ergänzung erfahren, die es zu bändigen gilt, wenn wir Herr im eigenen Haus bleiben wollen. Ziehen wir ein Fazit: Wie können wir angesichts einer sich wandelnden Leiberfahrung das Verhältnis von Mensch und Lebenswelt fassen? Der Organismus wird sich auf veränderte Bedingungen einstellen müssen, die neue Weisen der Interaktion mit der Umwelt verlangen,
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z.B. wenn die Komplexität einer intelligent gewordenen Umwelt unsere Aufmerksamkeit übersteigt. Bereits heute scheinen die Kapazitäten der bewussten Interaktion mit der Umwelt an eine Grenze gelangt zu sein. Die Reduktion von Interaktionsmöglichkeiten bzw. die Erhöhung von automatisierten Interaktionsprozessen angesichts wachsender Komplexitäten erscheint unvermeidbar. Die bereits von Husserl gestellte Frage nach der Lebenswelt als intersubjektive Normalwelt ist unter dem Aspekt technischer Normierungen neu zu diskutieren.14 Dies gilt insgesamt für die Korrelation zwischen leiblicher und lebensweltlicher Normalität. In gewisser Weise wird eine Synchronisierung von inneren und äußeren Abläufen angestrebt. Alles wird komplett der Berechenbarkeit und Planbarkeit unterstellt werden. Technisch erschließbar ist nur ein der Dritten-Person-Perspektive zugänglicher skalierbarer Körper, nicht aber ein individualgeschichtlich und historisch disponierter Leib. Die technische Erschließung des Körpers und seine mediale Verknüpfung mit extrakorporalen Systemen werden neue Leiberfahrungen zeitigen. Die allmähliche Ankündigung von Krankheit, die Einstellung des Körpers auf die Möglichkeit einer Selbstheilung, wird nur noch ein Erfahrungstyp von Erkrankung sein. Es ist wahrscheinlich, dass wir von Systemen, die unsere Körperfunktionen überwachen, Hinweise auf Störungen bekommen. Gesundheit ist dann in erheblichem Maß eine Sache der Verschaltung intelligenter Implantate und Prothesen. Die mit der Transformation des Leibes zum objektiven Körper verbundene Entfremdung vom eigenen Leib könnte eine Forcierung erfahren. Die Funktionalität des Körpers wird in neuer Weise auf Umweltbedingungen und kulturelle Bedingungen eingestellt werden. Körperliche Widerstandserfahrungen im Sinne des Spürens körperlicher Belastungen werden zugunsten von Funktionalitätssteigerungen und der Ausschöpfung körperlicher Potentiale eingeschränkt. Durch ›Ausblendungstechniken‹ werden aber auch Schäden entstehen, schließlich reagiert der ganze Organismus auf Widerstände und nicht nur Körperteile. Und das, was nicht gespürt wird, stellt ja keineswegs seine Wirkung ein. Wir werden Steigerungen unserer körperlichen Leistungsfähigkeit erreichen, bei denen Training und Gewöhnung nicht mehr die zentrale Rolle spielen. Was
14 | Vgl. E. Husserl: Die Lebenswelt, S. 603ff.
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derzeit v.a. medikamentös bewirkt wird, wird teilweise auch auf technischem Weg bewirkt werden. Der Umgang mit körperlichen Schwächen wird ein anderer sein, wenn diese durch Steuerungen von außen behoben werden können. Gewiss ist auch mit der Definition neuer Krankheiten zu rechnen, die sich aus dem Verlust von apparativ hergestellten Vermögen ergeben. Krankheiten werden sich vermehrt als technische Probleme darstellen, für die technische Lösungen gefunden werden müssen. So sind auch technisch bedingte Todesarten denkbar, z.B. infolge der Infizierung intelligenter Implantate durch Viren. Die Frage nach der physiologischen Alterung wird ergänzt werden müssen durch die nach dem Materialverschleiß. Auch von neuartigen psychischen Deformationen muss ausgegangen werden, wenn das Körperinnere ›öffentlich‹ gemacht werden kann. Neue oder erweiterte Merkund Wirkorgane werden unseren Zugang zur Welt und unsere Stellung in der Welt verändern. Die Abhängigkeit von medientechnologischen Zurüstungen unseres Körpers wird bei der Einschätzung von Wirklichkeit wachsen. Die Verschaltung von Körper und Lebenswelt wird Interaktionen ermöglichen, die nicht von uns gesteuert sind. Der Gedanke, dass der Leib das zentrale Orientierungsorgan in der Welt ist, kann eine Schwächung erfahren. Wenn der Leib zu einem verteilten System wird, werden neuartige Synthetisierungsleistungen zu erbringen sein, um Identität zu stiften. Möglicherweise erfährt das Individuum eine Schwächung und der Mensch wandelt sich in ein Divisum. Die weitgehende Abwesenheit von Schmerzerfahrungen könnte deren identitätsbildende Funktion untergraben. Die Folge könnten Psychopathologien sein, die sich darin äußern, dass Widerstandserfahrungen vermehrt auf autoaggressive Weise bis hin zur Selbstverstümmelung hergestellt werden. Leibliche Selbstheilungskräfte werden ebenso eine geringere Rolle spielen wie tradierte Umgangsweisen mit dem Schmerz. Es ist davon auszugehen, dass länger anhaltende Störungen der Leistungsfähigkeit dem Betroffenen als Schuld zugerechnet werden. Die Selbstverständlichkeit des Fungierens der eigenen Leiblichkeit wird auch eine Frage der Systemverlässlichkeit sein. Zwar wird es auch beim körperlich aufgerüsteten Menschen die Selbstverständlichkeit des ›mit der Geburt‹ gegebenen Leibes geben, aber diese wird sich rascher auflösen, da permanente Nach- und Umrüstungen, Wartungen und Neujustierun-
Leib und Lebenswelt
gen neue Leiberfahrungen mit sich bringen. Die technische Wandelbarkeit der eigenen körperlichen Disposition wird zum Sozialisationsprozess gehören. Die Beobachtung des eigenen Körpers durch Überwachungsmaschinen kann zu Entfremdungen führen. Der Leib wird mehr in seinen Details als ganzheitlich wahrgenommen werden, und zwar immer dann, wenn Leistungsausfälle bzw. –abfälle zu beklagen sind. Der Verlust ganzheitlicher Leiberfahrung wird neue Umgangsweisen mit dem Leib zeitigen. Pathologisch kann dieser werden, wenn es zu extremen Detailbeobachtungen wie bei der Hypochondrie kommt. Steuerungen von Bewegungsabläufen werden nicht mehr nur über ein implizites Leibgedächtnis erfolgen, sondern auch über automatisierte Vorgänge, die von Computern gesteuert werden. Implizite Abläufe werden in einem technischen Sinne automatisierte Abläufe sein. Es wird zunehmend eine Einebnung des Gegensatzes von implizitem und explizitem Wissen geben, wenn die szientistische Nachkonstruktion von körperlichen Vorgängen in die Unmittelbarkeit von Körperfunktionen eingespeist wird. Es stellt sich die Frage, ob sich bei einem technisch aufgerüsteten Körper noch Erfahrungen machen lassen, die zu einer Verleiblichung von Wissen führen. Der Leib muss nicht rekonstruieren, was er ist, eben weil er ist, was er ist, weil zu seinem Sein auch implizites, verleiblichtes Erfahrungswissen gehört. Jede Nachkonstruktion setzt Artikulation und Desartikulation voraus, ist also nicht das gleiche wie das, was nachkonstruiert wird, und kann insofern auch immer nur eine Annäherung an ihn sein. Jürgen Habermas hat in seiner Schrift über die Zukunft der menschlichen Natur darauf hingewiesen, dass die Idee der Natalität nicht mehr wie heute Geltung beanspruchen kann.15 Wir werden uns nicht nur naturhistorisch als Glied einer Kette begreifen, sondern auch als Glied einer technischen Entwicklung. Die technische Disposition wird den moralischen Status des Menschen verändern. Ich bin nie vollständig Herr meiner selbst, nicht nur, weil ich kulturell geprägt, sondern auch, weil ich technisch gesteuert bin.
15 | Vgl. J. Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur.
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Medienkulturen
Ist der Cyborg in der Realität angekommen? Mobile Medien und Mensch-Maschinen als Elemente des Alltags Bianca Westermann Within a decade, what had seemed alien was close to becoming everyone’s way of life, as compact smartphones replaced the cyborg’s more elaborate accoutrements. This is the experience of living full-time on the Net, newly free in some ways, newly yoked in others. We are all cyborgs now. S. Turkle : A lone together , S. 152.
In der Bahn schnell einen Blick ins elektronische Postfach werfen, der langweiligen Schulstunde mit einem Spiel entfliehen oder beim Gang durch eine unbekannte Stadt in Sekundenschnelle alle Informationen zur nahegelegenen Sehenswürdigkeit finden: All das ermöglichen Smartphones und Tablets. Aus Sicht einer sich verändernden Körperlichkeit lassen sich diese mobilen Medientechnologien als aktualisierte Umsetzung einer Cyborgtechnologie sehen. Durch sie können Handlungspotentiale realisiert werden, die vor zwanzig Jahren noch ins Reich der Science-Fiction gehörten: (implantierte) Schnittstellen, die den Eintritt in virtuelle Welten ermöglichen. Es soll jedoch an dieser Stelle zunächst nicht um die Frage gehen, ob mobile Medien Cyborgtechnologien sind. Ein Wechsel des Blickwinkels verspricht an dieser Stelle einen größeren Erkenntnisgewinn. Denn ein an die heutigen kulturellen Kommunikationsbedingungen angepasstes Cyborg-Konzept rückt die aktuellen Wandlungen des Mediengebrauchs in den Vordergrund, die durch die Rückkopplungsprozesse und wechsel-
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seitige Verstärkung zwischen virtuellen, sozialen Netzwerken und neuen mobilen Medientechnologien geprägt sind: Welche neuen Erkenntnisse ermöglicht diese Perspektive auf die aktuellen Veränderungen der Mediennutzung? Diese Ausgangsfrage bildet die Basis für drei aufeinander auf bauende Analyseschwerpunkte: Denn durch diese (I.) Anwendung des Cyborg-Konzepts als Ausgangspunkt und Denkansatz einer Analyse aktueller Veränderungen in der konzeptuellen wie pragmatischen Nutzung mobiler Medien, treten (II.) die technischen und kulturellen Bedingungen in den Fokus, durch die ein Mensch aktuell als Cyborg bestimmbar wird: Welche hybriden Grenzverschiebungen zwischen Mensch und Technik erzeugen eine Cyborg-Erfahrung? Auffällig ist, dass mit dieser abermals aktualisierten Fragestellung nun nicht mehr der Gebrauch mobiler Medientechnologien im Zentrum steht, sondern es vielmehr in jüngster Zeit hochtechnologische Prothesen sind, durch die sich ihre TrägerInnen als Cyborg erkennen konnten. Damit wird (III.) die Frage aufgeworfen, welches Cyborg-Konzept sich für unsere heutige Kultur als von besonderem Interesse erweist: das eines durch in den Körper eingepflanzte Technik physiologisch optimierten Cyborgs oder das eines durch funktionelle Kopplungen mit seinen Techniken interaktiv-kommunikativ optimierten Cyborgs? Durch diese verknüpften Fragehorizonte werden einerseits neue Einsichten in die Faszinationspotentiale aktueller Medientechnologien möglich, so dass gefragt werden kann, ob ihre vielfältige Funktionalität allein die Begeisterung für mobile Medien und soziale Netzwerke zu erklären vermag. Andererseits wird die Aufmerksamkeit auf die zeitlichen und kontextuellen Wandlungsprozesse des Cyborg-Konzepts gelenkt. Dahinter steht die Annahme, dass eine diachrone Analyse sich ablösende Attraktivitätsphasen unterschiedlich geprägter Cyborg-Konzepte offenbaren würde, die sich als Spiegel bzw. spezifische Faszinationsschwerpunkte des jeweiligen Zeitraumes erweisen. Unabhängig von den jeweils aktuellen Ausformulierungen des Cyborg-Konzepts lässt sich der Cyborg als ein Hybridwesen beschreiben, das die konzeptuelle Unvereinbarkeit von Mensch und Technik überwindet. Ziel dieser Kopplung von biologischen und technischen Anteilen ist es, die Funktionspotenziale bzw. die Handlungsoptionen des Menschen zu überschreiten und zu erweitern – sei es körperlich oder sozio-kulturell. Daher ist der Cyborg eine Figur mit ambivalenter Identität: Soll die (kulturelle) Attraktivität dieses Hybridwesens erhalten bleiben, muss die Identi-
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tät des Cyborgs kontingent bleiben. Die Unentscheidbarkeit der Frage, ob der Cyborg Mensch oder Maschine ist bzw. worin seine Funktionspotentiale verwurzelt sind, begründet den Reiz des Cyborgs als kulturelle Figur. Zum differenzierenden Faktor unterschiedlicher Cyborg-Konzepte wird somit die Frage, in welcher Form die jeweilige Realisierung gegenüber einer materiellen, kulturellen oder sozialen Umwelt optimiert werden soll. Um diese Verortung genauer beschreiben zu können, möchte ich im Sinne einer Arbeitsdefinition zwischen Alltags- und Lebenswelt1 differenzieren. Eine solche Unterscheidung ermöglicht es, die sich verändernden Bedingungen genauer zu lokalisieren. Mit dem Begriff der Alltagswelt lässt sich dann die alltäglich verfügbare Handlungswelt von den unverfügbaren Grenzen der Lebenswelt abgrenzen. Alltagswelt beschreibt die Möglichkeitsräume, die uns durch unsere Handlungen zur Verfügung stehen. Demgegenüber erfasst der Begriff der Lebenswelt die Grenzen, die nicht für Aushandlungen zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Attraktivität von Kommunikationstechnologien als Ausdruck des cyborgischen Wunsches verstehen, die Grenzen der eigenen Lebenswelt wenn nicht zu überschreiten, so doch auszudehnen bzw. ihre Überschreitung zu simulieren.
S marte C yborgs ? Das hier zugrunde liegende Erkenntnisinteresse verweist auf einen der grundlegenden, definitorischen Streitpunkte des Cyborg-Konzepts: Wie kann bzw. muss die körperliche Einheit dieses Hybridwesens gefasst werden?2 Materiell-figurative Ansätze gehen von einer konkreten körperlichen Einheit von Technik und Biologie aus, die auch durch den 1 | Im Anschluss an Edmund Husserl haben insbesondere die Soziologen Alfred Schütz und Thomas Luckmann, aber auch der Philosoph Jürgen Habermas den Begriff der Lebenswelt aufgegriffen: Vgl.: A. Schütz/T. Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Band 1; A. Schütz/T. Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Band 2; J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1 sowie J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2. 2 | Vgl. zum Cyborgkörper auch Dierk Spreens Differenzierung zwischen phänomenologischen und konstruktivistischen Cyborgdiskursen: D. Spreen: Menschliche Cyborgs und reflexive Moderne, S. 335ff.
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dauerhaften Gebrauch und das stetige Bei-sich-führen mobiler Medientechnologien nicht erreicht werden kann. Dagegen schreibt eine weniger organistische Sichtweise bereits einer interaktiv-kommunikativen Vernetzung Cyborg-Eigenschaften zu: »For we shall be cyborgs not in the merely superficial sense of combining flesh and wires but in the more profound sense of being human-technology symbionts: thinking and reasoning systems whose minds and selves are spread across biological brain and nonbiological circuitry.« 3
Der kognitionswissenschaftliche Ansatz des britischen Philosophen Andy Clark steht stellvertretend für ein auf Werkzeug- bzw. Technikgebrauch gegründetes Cyborg-Konzept. Als Vertreter des Embodiment erkennt Clark ein grundsätzliches Bestreben des menschlichen Geistes, sich in den verschiedensten Artefakten und Technologien zu externalisieren.4 Jede dieser Technologien, zu denen Clark u.a. aktuelle Medientechnologien oder auch die Sprache zählt, verändert die Art und Weise zu denken, aber auch zu handeln und damit auch den Menschen und seine Einbettung in die jeweilige (technisierte) Umwelt. Auch das Handy erwähnt Clark explizit als Cyborgtechnologie: »[t]he cell phone is, indeed, a prime, if entry-level, cyborg technology.«5 Für ihn stellt der Vorgänger des Smartphones bereits kurz nach der Jahrtausendwende eine Art Übergangstechnologie dar, die die Grenze zwischen frühen Cyborgtechnologien (»pen, paper, diagrams, and digital media dominated«) und einer zweiten Welle (»marked by more personalized, online, dynamic biotechnological unions«) kennzeichnet.6 Dieser zu weit gefasste Cyborg-Begriff Clarks erlaubt jedoch keine differenzierte Beobachtung des Verhältnisses von Mensch und Technologie, weil er jegliche Werkzeuge und Technologien zu Merkmalen eines Cyborgs verallgemeinert. In Abgrenzung von Clark richtet sich daher hier das Erkenntnisinteresse auf die Frage, welche (Medien‑)Technologien zu welchem Grad ein kulturelles Potential zur Transformation bieten und gleichzeitig die Grenzen des Körpers hinterfragen und somit das Verhältnis von Körper und Technik für Aushandlungen zu öffnen vermögen. 3 | A. Clark: Natural-born Cyborgs, S. 3. 4 | Ebd., S. 5f. 5 | Ebd., S. 27. 6 | Ebd.
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In dieser Perspektive wird eine prägnante Entwicklung der Gegenwart deutlich: Gerade in jüngster Zeit sind avancierte Hochtechnologien immer näher an den Körper herangetreten und haben die Frage nach seiner Grenze abermals neu formuliert. Militärische und medizinische Exoskelette7 sind ein treffendes Beispiel für diese Entwicklung. Als »wearable robots«8 steigern sie die Funktionsmöglichkeiten des Körpers, indem sie eine unbewusste Symbiose mit diesem eingehen: Sensoren erkennen Bewegungsimpulse und ermöglichen so eine Unterstützung des Körpers, ohne dass bewusst Steuerungssignale gegeben werden müssten. Somit werden die Exoskelette während des Gebrauchs zu einem Teil des Körpers; nach dem Gebrauch können sie wie ein Werkzeug abgelegt werden. Daher muss an dieser Stelle von einem auf einer funktionalen Ausweitung der Körpergrenzen basierten Cyborg-Konzept ausgegangen werden, wenn die Figur des Cyborgs neue Einsichten in die sich aktuell wandelnde, habitualisierte Mediennutzung von Smartphone oder Tablet ermöglichen soll. Die Angewohnheit einiger Nutzer, ihre Smartphones selbst in den kurzen Momenten des Nichtgebrauchs nicht aus den Händen zu legen, mag als Hinweis darauf gelten, wie nah diese Medientechnologien uns bereits gekommen sind. Dennoch schafft ihre Nutzung nur eine temporäre, situative Einheit von technischen Artefakten und biologischen Organismen – hardware und wetware – keine tatsächliche, dauerhafte körperliche Verschmelzung. Damit wird der Fokus auf die Beständigkeit der funktionellen Erweiterung zwischen biologischem Körper und genutzter Medientechnologie gelenkt. Gleichzeitig erlaubt diese Fokussierung die Frage zu stellen, wie mobile Medien unsere Funktionspotenziale und Handlungsoptionen erweitern. Eine Besonderheit mobiler Medien ist es, dass sie ihre Spannung gerade aus der Gleichzeitigkeit von medialen und technischen Faszinationen gewinnen. Aus medientechnischer Sicht lassen sich Tablets und Smartphones9 als Verkleinerungen und Konzentration ›des‹ Computers 7 | Hierzu auch der Aufsatz von F. Braune: Roboter(proth)et(h)ik in diesem Sammelband. 8 | Lockheed Martin: HULC Exoskeleton auf youtube. 9 | S. W. Campell schlägt eine mögliche Differenzierung zwischen Smartphones und Tablets vor: »Portable media are carried from place to place, whereas mobile communication is possible during transition, freeing the user to connect with others while moving about within and across space«. (S. W. Campell: Mobile media and
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betrachten. Während jedoch der Computer nie leugnete, seine medialen Qualitäten ohnehin nur aus der Vernetzbarkeit und der Simulation von Einzelmedien – also sekundär – zu gewinnen,10 gelingt es den sogenannten mobilen Medien vordergründig als Medium ›an sich‹ in Erscheinung zu treten, während die technische Bestimmbarkeit als digitale Rechenmaschine ausgeblendet wird. Dieser Anschein wird auf die Spitze getrieben, wenn mobile Medien Office-Anwendungen – und damit letztlich den Desktop-Computer – simulieren. Dieses Phänomen begründet sich nicht nur in der inhärenten Mobilität, sondern ebenso im reduktiven Zusammenfall von Eingabe- und Ausgabemedium im Touchscreen, durch den die Materialität der Technik selbst eine eigenartige Ambivalenz von An- und Abwesenheit erfährt und eine beinah ›reine‹ Oberflächlichkeit generiert wird. Die Transparenz neuer Nutzungspraktiken, wie etwa die vermeintliche Intuitivität taktiler Gesten, verschleiert dabei die Technizität dieser Artefakte und entfremdet die Technik dem Nutzer. Mit Smartphones und Tablets scheint die grafische Benutzeroberfläche haptisch geworden zu sein. Die Mobilität mobiler Medien bedeutet auch, dass sie ihren Ort am Körper gefunden haben, denn der Reiz dieser Medien liegt nicht nur in dem wachsenden Bedürfnis, diese Artefakte ständig bei sich zu führen, sondern mehr noch darin, sie jederorts und -zeit parallel zu anderen Aktivitäten und Handlungen benutzen zu können. Die Wechselwirkungen von mobilen Medien und digital vernetzten sozialen Medien haben – als Emergenzeffekt – die Neuverhandlung spezifischer, seit jeher fragiler Grenzverläufe ausgelöst: Die partielle Überlappung ›realer‹ und virtueller Räume, ebenso wie die Austauschprozesse zwischen On- und Offline-Identitäten hinterfragen das Verhältnis zwischen ›realer‹ Offline- und virtueller Online-Präsenz auf verschiedenen Ebenen und verändern damit auch das Verständnis von Präsenz und Abwesenheit. Diese dynamisch gewordenen Grenzen verdeutlichen, dass mobile Medien keine vollkommen neuen Räume – in sozialem wie örtlichem Sinne – erschließen, sondern dass durch sie bereits bekannte communication, S. 10). Da diese Differenzierung jedoch auf der Inkorporation von Medientechnologien in den funktionalen Körper beruht, kann auch das Tablet mobile Kommunikation in Bewegung ermöglichen. Nicht das technische Artefakt, sondern die Nutzungsgewohnheiten entscheiden, ob es sich um mobile Kommunikation oder tragbare Medien handelt. 10 | Vgl. R. Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 56f.
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Räume umstrukturiert werden, das heißt, anders erfahrbar werden, und somit neue Handlungspotentiale erschlossen werden. Es sind also insbesondere die für neue Verhandlungen geöffneten Grenzen, die die funktionale Ausweitung des Körpers nicht nur ermöglichen, sondern mehr noch herausfordern und gestalten. Doch allein die Nutzung mobiler Medientechnologien lässt uns weder uns selbst noch andere als Cyborgs wahrnehmen und damit unsere Identität als Mensch hinterfragen. Auch wenn der Figur des Cyborgs und den mobilen Medien gemein ist, sich verändernde Grenzen als Störung – da nicht eindeutig – sichtbar werden zu lassen, sind es doch je spezifische Grenzen, die geöffnet und neu verhandelt werden. Eine funktionale Erweiterung des Körpers durch mobile Medien öffnet die Grenzen zwischen Abwesenheit und Präsenz, Distanz und Nähe, Öffentlichkeit und Privatsphäre sowie On- und Offline-Identität für erneute Aushandlungen. Dadurch entsteht jedoch gerade nicht, die dem Cyborg eigene grundsätzliche Spannung zwischen belebt und unbelebt bzw. Biologie und Technik: Obwohl wir unsere Identität kommunikativ durch mobile Medien und digital vernetzte, soziale Medien gestaltend beeinflussen können, wird unsere Identität als Mensch durch diese nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die Schlussfolgerung, dass es sich bei mobilen Medientechnologien daher nicht um Cyborgtechnologien handeln könne, greift jedoch zu kurz: Was, wenn gerade unser habitualisierter Umgang mit mobilen Medien die Wahrnehmung eines Cyborg-Effekts verschleiert? Denn die sich mit und aus den mobilen Medien und sozialen Netzwerken ergebenden neuen Praktiken wandeln unsere Vorstellungen des Mensch-Maschine-Interface: Vielleicht sind wir alle schon längst Cyborgs, die sich selbst gar nicht mehr als solche erfahren können?
R e ale C yborgs ? Dennoch gibt es aktuell Menschen, die sich als Cyborg erfahren. Enno Park ist einer von ihnen. Im Jahr 2011 wurden ihm im Abstand von sechs Monaten zwei Cochlea-Implantate eingesetzt. Seither betrachtet sich der Blogger und freie Journalist, der ehemals ein Wirtschaftsinformatik-Studium begonnen hatte, als Cyborg. Trotz der Notwendigkeit, mit dem Implantat erneut Hören lernen zu müssen – was Park ohne große Probleme
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recht schnell mit sehr guten Ergebnissen gelang11 – betrachtet er die Implantate als funktionale Erweiterung seines Körpers und somit als Cyborgtechnologie: »Wir CI-Träger sind fest mit einem Stück Technik verbunden, das unser Nervensystem elektronisch stimuliert, und welches das menschliche Gehör zwar nicht perfekt ersetzen kann, aber durchaus ansatzweise Sinne und Fähigkeiten gegenüber dem natürlichen Gehör erweitert. Seitdem ich 2011 selbst Cochlea-Implantate bekam, fasziniert mich der Gedanke. Es ist ein weiteres Beispiel, dass wir an der Schwelle eines Zeitalters stehen, in der vieles aus der Science Fiction zur Realität und zum Alltag wird.« 12
In Parks Argumentation ist das Cochlea-Implantat eine Cyborgtechnologie, weil es als solches bereits eine Erweiterung menschlicher Fähigkeiten sei. Park sieht in dem Implantat keine reine Substitution oder Wiederherstellung seines Gehörs, sondern die Möglichkeit, funktionale Differenzen zwischen dem biologischen und dem elektronischen Hören zu erkennen: »Tatsächlich ist das Cochlea-Implantat zunächst mal ›nur‹ ein künstliches Gehör. Allerdings erweitert es durchaus meine Fähigkeiten. So kann ich am Gerät verschiedene Programme auswählen, die den aufgenommenen Schall unterschiedlich verarbeiten. Mit dem einen Pogramm kann ich möglichst klar Musik hören, ein anderes senkt Umgebungsgeräusche weitgehend ab, sodass ich in lauter Umgebung meinem Gesprächspartner besser folgen kann. Wenn ich Musik höre, verbinde ich die Cochlea-Implante per Kabel und Klinkenstecker mit einem Kopfhörerausgang. [...] Durch die Koppellung mit dem Hörnerv habe ich also tatsächlich eine Art ›brain interface‹, wenn auch auf akustische Reize beschränkt und ›write only‹ – ein künstlicher Sinn.«13
Doch der Ist-Zustand seines elektronischen Gehörs genügt Park nicht, er will die technischen Möglichkeiten des Implantats voll ausschöpfen und somit die Funktionsgrenzen des menschlichen Körpers selbstbestimmt überschreiten, so dass er zukünftig auch »Infra- oder Ultraschall« hören 11 | Vgl. http://www.ennomane.de/2011/12/07/horen-nach-zahlen sowie http://www.ennomane.de/2013/12/25/ein-ohrenschmaus/ 12 | http://www.ennomane.de/2013/05/25/call-for-cyborgs/ 13 | http://www.ennomane.de/2013/05/02/bin-ich-ein-cyborg/
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könne: »Leider ist es ohne erhebliche Hürden nicht möglich, das CI zu hacken, um es selber zu programmieren. Immerhin riskiere ich dabei mein Gehör. Trotzdem muss ich das früher oder später probieren.«14 Park ist hier nicht interessant, weil man trefflich darüber streiten kann, ob man der subjektiven Selbstzuschreibung, die Park hier vornimmt, zustimmen möchte oder nicht. Insofern gelingt es Park als Vielleicht-Cyborg die identitätshinterfragenden Ambivalenzen des Cyborgs zu evozieren. Auffällig ist jedoch, dass sein Status als Cyborg in erster Linie als Form der Selbstzuschreibung auf seiner Selbstwahrnehmung beruht. In der Fremdwahrnehmung ist Park auf den ersten Blick gerade nicht als Cyborg erkennbar,15 sondern wird visuell eindeutig als ganz normaler Mensch kategorisiert. Damit er auch durch andere als Cyborg wahrgenommen werden kann, muss er sich als solcher zu erkennen geben. Park ist hier mit der Strategie, dies in Form einer identitätsstiftenden Selbsterzählung zu bewirken,16 nicht allein.17 Teil dieser öffentlichkeitswirksamen Narration ist nicht nur der Blog, in dem Park neben anderen Themen seit 2011 ausführlich über seine Implantate schreibt, sondern ebenso der Ende 2013 gegründete Verein Cyborg e.V., dessen Vorsitzender er ist. Diese narrative Einbettung ist nicht nur elementarer Bestandteil der Cyborg-Genese Parks, ohne sie wäre es ihm schlicht unmöglich, als Cyborg erkennbar zu sein. Ziel des Vereins Cyborg e.V. ist es nicht nur »Prothesen, Implantate und Devices hacken« und »[k]reative neue Anwendungen auf Basis bestehender Hardware [zu] finden«, der Verein hat sich auch auf die Fahnen geschrieben, »Cyborg-Rechte [zu] formulieren und für sie [einzutreten]«, insbesondere »[d]as Bild des Cyborg als ›willenlose Kampfmaschine‹ in der Öffentlichkeit [zu] korrigieren«.18 Diesem vermeintlich für eine brei-
14 | Ebd. 15 | Park verweist auf den Autoren, Blogger und ebenfalls Cochlea-Träger Alexander Görsdorf, „der sich wegen seiner Cochlea-Implante scherzhaft einen Cyborg nannte.“ (http://www.ennomane.de/2013/05/25/call-for-cyborgs) 16 |Hierzu auch der Aufsatz von R. Stock in diesem Sammelband. 17 | Ein Paradebeispiel ist hier der britische Kybernetik-Professor Kevin Warwick, dessen zweite temporäre Cyborg-Genese 2002 von seiner Autobiografie I, Cyborg begleitet worden ist (vgl. K. Warwick: I, Cyborg). 18 | http://cyborgs.cc/
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te Masse gültigen Bild vom Cyborg als »willenloser Kampfmaschine«19 stellt der Verein das einer spielerischen und nach Freiheitsgraden suchenden Figur gegenüber, die ihre Möglichkeiten im Umgang mit aktuellen Prothesen- und Medientechnologien auszuloten sucht. Diesem »Mission Statement« und auch Parks Selbstproklamation als Cyborg liegt ein völlig anderes Konzept des Cyborgs zu Grunde als der im ersten Teil dargestellten Idee des smarten Cyborgs. So ist ein gravierender Unterschied zwischen beiden Cyborg-Konzepten, dass Parks Konzept implizit von einem Eindringen von Technik in den Körper als Merkmal der Cyborg-Genese ausgeht. Denn auch, wenn Devices hier mitgedacht werden, sind es insbesondere Implantate, die das Interesse der Cyborg-Jünger geweckt haben.
A k tualität des C yborgs ? Die Frage, die sich an diesem Punkt nun stellt, ist weniger, welches Cyborg-Konzept denn nun das ›richtige‹ sei, viel interessanter scheint die Frage nach den Bedingungen kultureller Attraktivität beider Konzepte. Bei dieser Gegenüberstellung kann die Technik selbst zu einem möglichen Gradmesser werden: Welch transformatives Potential kann bzw. muss der in den biologischen wie funktionalen Körper eingedrungenen Technik zugeschrieben werden? Nicht zufällig stehen sich mit diesem Vergleich zwei Cyborg-Konzepte gegenüber, die sich jeweils als Derivate prägender Grundformen des Cyborgs denken lassen. Parks Cyborg lässt sich demnach als Urenkel des von Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline erdachten Eroberers des Weltraums sehen,20 während Donna J. Haraways Ansatz, die Figur des Cyborgs zur Analyse des aktuellen Verhältnisses zur vorherrschenden Technik starkzumachen, die Ausgangsbasis ihres berühmtem Cyborg-Manifests bildete.21 Die hier akute Gegenüberstellung ist also keinesfalls neu, sondern vor allem durch sich verändernde Technik aktualisiert. 19 | Vielleicht ist die populäre Verbreitung fiktionaler Cyborgs, die sich mit ihrer (körperlichen) Überlegenheit gegen den Menschen stellen, Ursache dieser Zuschreibung. Prominentes Beispiel hier sind u.a. die als Teil des Star Trek-Universums bekanntgewordenen Borg. 20 | Vgl. M. E. Clynes./N. S. Kline: Cyborgs and Space. 21 | Vgl. D. J. Haraway: Ein Manifest für Cyborgs.
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Parks Cyborg ist eine Selbstermächtigungsphantasie, in der avancierte Technik es erlaubt, den eigenen Körper nach seinen Wünschen zu formen. Die Technik ist in diesem Funktionsgefüge zwar Mittel zum Zweck, ihr transformatives Potential scheint jedoch keinerlei Gefahr für die Identität als Mensch darzustellen. Zwar ist es nicht ohne Gefahr für das gerade wiedererlangte Gehör, die eigenen Cochlea-Implantate zu hacken, doch wohnt dem Wunsch, sich die Technik im doppelten Sinne einzuverleiben, das Motiv inne, die implantierte Technik den eigenen Funktionsvorstellungen zu unterwerfen. Damit wird dem Implantat jegliches Potential abgesprochen, den Menschen über das gewünschte Maß hinaus beeinflussen oder gar steuern zu können. Ganz ähnlich hatten Clynes und Kline eine homöostatische Symbiose zwischen Mensch und Technik ersonnen, deren Regelung zwar somit gerade nicht mehr dem bewussten Willen unterworfen war, aber dennoch die damit implizierte Gefahr der Fremdsteuerung ignorierte und den Menschen gleichsam befreite. Das transformative Potential mobiler Medientechnologien scheint dagegen deutlich virulenter zu sein. Sie werfen nicht nur die Frage auf, ob wir an der Schwelle zu einer sich grundlegend verändernden Mediennutzung stehen, sondern fordern uns auch auf, uns mit den durch sie evozierten und vorangetriebenen Veränderungen unserer Alltags- und Lebenswelt auseinanderzusetzen. Es geht nicht mehr nur darum, ob Tastatur und Maus als primäre Eingabemedien abgelöst werden. Als Medien einer augmented reality haben sie das Potential, basale Momente unserer Gegenwart grundlegend zu verändern. Dass wir beginnen, uns mit den Schattenseiten einer ständigen Erreichbarkeit auseinanderzusetzen, mag hier als erstes Indiz dienen. Mobile Medien versprechen uns eine kognitive Hybridisierung22, die nicht mehr nur unsere Denkstrukturen und das Wissen bzw. die Zugänglichkeit zu diesem betrifft, sondern auch unser
22 | Vgl. A. Clark: Natural-born Cyborgs, S. 4. Ganz im Sinne seines verallgemeinernden Cyborg-Begriffs betrachtet Clark die beständige Externalisierung kognitiver Fähigkeiten weder als Faktor der Moderne noch als Weg in eine posthumane Zukunft, vielmehr findet er hierin die ureigenste Eigenschaft des Menschen, die die Grenze zum Tier markiert (vgl. ebd., S. 4 und 6). Insofern würde Clark den mobilen Medien sicherlich zubilligen eine neue Stufe der Cyborgisierung darzustellen, diesen jedoch keine Sonderrolle zugestehen.
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soziales Leben und unseren Körper. »We have moved from multitasking to multi-lifing«,23 bringt es Sherry Turkle auf den Punkt. Mobile Medien verändern somit nicht nur unsere Alltagswelt, sie versprechen uns auch die Verfügbarkeit der ansonsten nicht verfügbaren lebensweltlichen Grenzen. Auf der Ebene der Alltagswelt lassen sich mobile Medien nicht mehr nur mit McLuhan als Ausweitung der Sinne denken,24 darüber hinausgehend haben sie einen Bedarf erzeugt, das Bewusstsein mit attraktiven Inhalten zu beschäftigen, den sie gleichzeitig erfüllen. Diese medial vermittelte, beständige Stimulation changiert zwischen Warencharakter und einem als basal empfundenem Bedürfnis. Auf Ebene der Lebenswelt haben sie scheinbar stabile Grenzen ins Wanken gebracht, etwa durch die Verdopplung der Präsenz an einen realen und einen virtuellen Ort oder die medial vermittelte Suggestion permanenter Verbundenheit mit anderen. Dabei sind uns die mobilen Medientechnologien schon längst zu nah gekommen, als dass uns bewusst werden könnte, dass sie drohen, uns zu immanenten Cyborgs zu machen, die sich gerade nicht bewusst sind, Cyborgs zu sein. Denn mobile Medientechnologien als Cyborg-Technologien zu denken, heißt, sich ihres transformativen Potentials und Drängens bewusst zu werden. Auf einer Meta-Ebene wird nun erkennbar, dass die kulturelle Attraktivität des Cyborgs gerade im Potential zur Irritation begründet ist. Auf kultureller Ebene sind die Cyborgs interessant, deren Hybridität auf situative, aktuelle Problemlagen verweist. Vor diesem Hintergrund kann die Figur des Cyborgs sowohl der Zuschreibung bzw. Akkumulation kultureller Attraktivität dienen als auch dem gegenteiligen Zweck unterworfen sein: So wie die Referenz auf den Cyborg Technologien semantisch anreichert und dynamisiert, kann die Vermeidung dieser Referenz kulturelle Potentiale verschleiern. Damit steht zum einen zur Debatte, welchen Grad an Transformativität wir aktuellen Technologien zugestehen wollen: Muss die Angst vor dem transformativen Potential, die in den Körper eindringende Technik herauf beschwört, im Zeitalter von Herzschrittmachern, computergesteuerten Beinprothesen und Cochlea-Implantaten nicht längst als Dystopie enttarnt werden? Oder ist die Angst, durch potentiell in den Körper eindringende Technik übermannt zu werden, aktueller denn je? 23 | S. Turkle: Alone together, S. 160. 24 | Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 9 und S. 99.
Ist der Cyborg in der Realität angekommen?
Zum anderen steht damit zur Debatte, ob und wie wir die Frage, was der Mensch ist, diskutieren wollen. Denn auch wenn die technische Augmentation bisher zwar nicht grundsätzlich den Status als Mensch in Frage stellen konnte, so kann sie doch die Art und Weise, wie Mensch-sein gedacht wird, zur Verhandlung stellen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die mobilen Medien als aktuelle, avancierte Cyborgtechnologien denken, die uns zwingen, uns mit den Veränderungen unserer Lebenswelt auseinanderzusetzen.
L iter atur Campell, Scott W.: »Mobile media and communication: A new field, or just a new journal?«, in: Mobile Media & Communication 1, 1, 2013, S. 8-13. Clark, Andy : Natural-born Cyborgs. Minds, Technologies, and the Future of Human Intelligence, Oxford: Oxford University Press 2003. Clynes, Manfred E./Kline, Nathan S.: »Cyborgs and Space«, in: Chris Hables Gray/Heidi J. Figueroa-Sarriera /Steven Mentor (Hg.), The Cyborg Handbook, London: Routledge 1960/1995, S. 29-33, im Original erschienen: Manfred E. Clynes/Nathan S. Kline: »Cyborgs and Space«, in: Astronautics, 26/27, 1960, S. 74-75. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. Haraway, Donna J.: »Ein Manifest für Cyborgs, Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften», übersetzt von Fred Wolf, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt am Main: Campus 1995, S. 33-72. Leschke, Rainer: Einführung in die Medientheorie, München: Fink 2003, S. 56f. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. ‚Understanding Media‘, Düsseldorf u. a.: Econ 1964/1968. Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.
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Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Band 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. Spreen, Dierk: »Menschliche Cyborgs und reflexive Moderne . Vom Jupiter zum Mars zur Erde – bis ins Innere des Körpers«, in: Ulrich Bröckling/Axel T. Paul/Stefan Kaufmann (Hg.), Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München: Fink 2004, S. 317-346. Turkle, Sherry: Alone together. Why We Expect More from Technology and Less from Each Other, New York: Basic Books 2001. Warwick, Kevin: I, Cyborg, London: Random House 2002 .
O nlinequellen http://cyborgs.cc/?page_id=9 vom 31.10.2014 http://www.ennomane.de/2011/12/07/horen-nach-zahlen vom 31.10.2014. h ttp : / / w w w. e n no m a n e . de /20 13 /0 5 /0 2/b in -ich-ein -cyb or g / vom 31.10.2014. http://www.ennomane.de/2013/05/25/call-for-cyborgs/ vom 31.10.2014. http://www.ennomane.de/2013/12/25/ein-ohrenschmaus/ vom 31.10.2014. https://www.youtube.com/watch?v=kat8I5UM_Vs vom 31.10.2014.
Thanatographie 2.0 Technologien memorialer Praktiken Ramón Reichert
E inleitung Die Technologien der Vernetzung der Informations-und Kommunikationsmedien im Internet und ihre unterschiedlichen Praktiken der partizipatorischen Bedeutungsproduktion haben zur Entstehung einer neuen Vernetzungskultur ›memorialer Praktiken‹ geführt. Vor diesem Hintergrund kann die richtungsweisende Frage aufgeworfen werden, ob und auf welche Weise sich memoriale Praktiken der Sterbe- und Trauererfahrung im Rahmen der Ausweitung der neuen digitalen und interaktiven Medien verändert haben. »If I Die« ist der Name einer neuen Application Software, die es Facebook-Nutzern ermöglichen soll, nach ihrem Tod eine letzte Nachricht für die Freunde zu veröffentlichen. Stirbt der Nutzer und wird der Tod von sogenannten Trustees bestätigt, kann ein Abschiedsvideo und eine Textnachricht auf der Facebook-Timeline des Verstorbenen gepostet werden.1 Gemeinsam mit einem Team aus Investoren, Psychologen und Pädagogen hat die israelische Webentwicklungsfirma Willook mit diesem Programm einen neuen Standard für die digitale Trauerkultur im Social Net gesetzt. In ihrem gleichnamigen Promotionsvideo propagieren die Hersteller, den Tod als einmalige Chance zu sehen, um eine Wahrheit auszusprechen, die im Leben stets unausgesprochen blieb. Mit dieser Marketingstrategie versuchen sie, das Video mit einer Wahrheit aufzuladen, für die sich der Verstorbene nie mehr wird rechtfertigen müssen. So gesehen partizipiert 1 | Vgl. S. Church: Digital Gravescapes, S. 184.
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das von Willook entwickelte Imageprodukt in zweierlei Hinsicht an der kommunikativen Kultur der Sozialen Netzwerkseiten.2 Erstens ist das Videoformat »If I Die« an die Freunde adressiert, für die sich der Sterbende im Selbstentwurf in Szene setzt; und zweitens ist diese letzte Selbststilisierung in der Trauerbewältigung dem im Web 2.0 geltenden Medienhype um kulturelle Echtheitserfahrungen geschuldet. Folgende Thesenbildungen rahmen die vorliegende Untersuchung zur lebensweltlichen Figuration von Mensch und Technik in der digitalen Medienkommunikation: In der von Geständnis- und Bekenntnisproduktion dominierten Peergroup-Kommunikation der Sozialen Medien überschreiten Todesrepräsentationen nur dann die Wahrnehmungsschwelle, wenn sie im Rahmen der authentischen Darstellungsästhetik vermittelt werden.3 Wahrnehmbar wird er, wenn er als ›echt‹, ›unverstellt‹ und ›spontan‹ in Szene gesetzt wird. Auf Freundschaftsnetzwerken, Internetforen und Gedenkseiten ist eine neuartige kollektive Praxis der Trauerkultur entstanden, die dazu geführt hat, dass die im Social Net vorherrschende Aufwertung authentischer Selbstdarstellung das text- und bildbezogene Handeln bei der Thematisierung von Sterbeund Toderfahrungen überformt. Damit einhergehend verschiebt sich in den Kommunikationsräumen der Peer-to-Peer-Netzwerke auch die Repräsentationskultur des Todes. Der fortwährende mediale, gesellschaftliche und technische Wandel der (audio-)visuellen Kulturen der Gegenwart hat in den Kultur- und Medienwissenschaften und später in den Sozialwissenschaften zur Einsicht geführt, dass Bildern ein wesentlicher Beitrag zur Formierung von Gesellschaft und Subjektivität eingeräumt werden muss. Mit der fortschreitenden Technisierung und Mediatisierung der visuellen Kultur mittels Telekommunikation- und Vernetzungsmedien sind fließende Formen der Bildproduktion von persönlicher Information entstanden, die sich durch einen fließenden Übergang zwischen Medien, technischen Verfahren, sozialen Beziehungen, Diskursen und visuellen Stilen auszeichnen. Mit der technischen Mobilisierung der Bilder und der fortschreitenden Verallgemeinerung der Bildkompetenz haben sich neue Formen sozialer Netze und interaktive Medienöffentlichkeiten gebildet, die zur Entstehung einer breiten Autodidaktisierung der digitalen Bildkultur geführt haben. 2 | Vgl. A. Farkas: Who Has the Last Word, S. 3f. 3 | Vgl. A. Marwick/N. Ellison: There isn’t Wifi in Heaven!, S. 378-400.
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V irtuelle G r abmäler und D atenbankpflege Am 19. Jänner 2012 ging folgende Eilmeldung um die Welt: »Neun Tage nach ihrem schweren Trainingssturz ist Sarah Burke, die Ikone des Ski-Freestyle, in einer Klinik in Salt Lake City gestorben.« Kurz darauf gingen tausende Kondolenz-Nachrichten auf der Facebook-Seite des kanadischen Sportidols ein. Zahlreiche Menschen begrüßen es, dass verstorbene Bekannte nicht einfach aus der Netzwelt verschwinden. Darum arbeiten seit längerer Zeit die verschiedenen Community-Webseiten an Verfahren, die Benutzer nach ihrem Tod auf einer eigens für verstorbene Benutzer eingerichteten Internetseite zu verewigen. Facebook bietet mittlerweile an, Nutzerprofile in Gedächtnisseiten umwandeln zu lassen. Neben dem üblichen Kondolenzbuch enthält die Seite die Möglichkeit, Kommentare, Fotos und Videos zu hinterlassen. Dieses Beispiel mag verdeutlichen, dass sich die kulturelle Praxis von Trauer, Tod und Sterben mit dem Internet maßgeblich verändert hat. In ihrem 1999 in der Zeitschrift für Volkskunde veröffentlichten Aufsatz Virtuelle Friedhöfe arbeiten Gudrun Schwibbe und Ira Spieker heraus, dass »virtuelle Friedhöfe als Teil eines globalen kommunikativen Netzes die private und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Tod in eine neue Beziehung zueinander setzen und daher einen soziokulturellen Indikator gegenwärtiger Erinnerungs- und Trauerkultur darstellen«.4 Die digitale Kommunikation im Netz führt mit der Prozessdynamik der Sozialen Medien zu einer neuen Sichtbarmachung des Todes. Mit dieser Gegenwartsdiagnose kann die Frage verknüpft werden, wie sich die kulturellen Vorstellungen über den menschlichen Tod durch die Spezifik der Sozialen Medien verändert haben. Facebook etwa reagierte auf diesen neuen Trend und bietet heute einen Memorial-Service für verstorbene Online-Existenzen an. Sobald eine Todesmeldung von den Trustees beglaubigt wurde, bekommt der Tote eine Memorial-Page, auf der sich Freunde austauschen können. Mittels der Memorial-Seiten bei Facebook können die Trauerbewältigung und die Gedenkkultur auch zum Zielpunkt kommerzieller Bewirtschaftung werden. Mit dem Like-Button als Datensammler wird der Erweis der mitmenschlichen Anteilnahme, des Beileides oder des Mit-Trauerns zur Datenquelle für Facebook. Jedes Mal, wenn Nutzer kondolieren, wird 4 | G. Schwibbe/I. Spieker: Virtuelle Friedhöfe, S. 220.
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Facebook per Cookie und IP-Adresse darüber informiert. In ihrer (kostenlosen) Trauerarbeit leisten die Nutzer sozialer Netzwerke doppelte Arbeit bei der Produktion von Informationsgütern: Sie produzieren einerseits den Inhalt und generieren damit auch Marktforschungsdaten – über sich selbst und ihre Freunde. Im Kontext der hier skizzierten Forschungsthematik veränderter Lebenswelt des Trauerns im Feld der digitalen Medienkultur distanziert sich der vorliegende Aufsatz von der Annahme einer hypostasierten Selbstbezüglichkeit, darin Medien lediglich als Werkzeuge zur Darstellung eines lebensweltlich bereits gegebenen Subjekts betrachtet werden. Im Rahmen der Erforschung der Trauerkultur auf Online-Plattformen gestehen wir dem Medium eine konstituierende Bedeutung im Prozess der Subjektkonstitution zu und können daher nach einem sich medial im Aufnehmen, Speichern und Verbreiten konstituierenden Selbstbezug fragen. Eine Identitäts- und Subjektforschung, die den Einfluss des Mediums auf den Vorgang der Subjektivierung als eigenständige Forschungsfrage und als wissenschaftliches Arbeitsfeld ansieht, lenkt den Blick auf das, was in den medialen Analysen der Subjektivität mit den Analysebegriffen Dispositiv und mediale Reflexivität beschrieben wird. Sie fokussiert die Medialität des Mediums und untersucht die Ermöglichung von historischen »Erinnerungsorten«5 und sozialen Bildkulturen mittels medialer Anordnungen, Verfahren und Formate. Mit der Investition des E-Commerce-Business in den Bereich der Sozialen Netzwerkseiten wurde die Trauer- und Gedenkkultur zum Gegenstand zahlreicher Dienstleistungsangebote. Die ersten Internet-Friedhöfe entstanden Anfang der 1990er Jahre in den USA. Dort gibt es heute über 100.000 Friedhofsportale und einschlägige Gedenkseiten. In ihrer Trauerarbeit stellen die Nutzer unterschiedliche Dienstleistungen und Medienformate in Form von Filmen, Nachrichten, Magazinen und Musik-CDs zur Verfügung, die nicht mehr mit Geld bezahlt werden müssen: Entlang der Gratisökonomie des Netzes leistet die Nutzerbasis kostenlose Trauerarbeit und generiert kollektiven Trauerwert. Diese im Trauerbekenntnis enthaltene Strategie des Wertgenerierens vermehrt den Unternehmensund Börsenwert von Community-Seiten wie Facebook. So firmieren auch die Narrative des Sterbens und der Todeserfahrung als potenzielle Reklameflächen. Die Trauerarbeit wird zum Reklameträger, die Werbung 5 | Vgl. P. Nora: Erinnerungsorte Frankreichs.
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glaubwürdiger und auch statistisch auswertbar macht. Diese Ökonomisierung des Todes im Netz stiftete weniger eine befreiende Sichtbarmachung eines lange unterdrückten Todeskultes, sondern hat heute neue strukturelle Zwänge entstehen lassen, die um das Erinnern und das Erinnert-Werden des Todes kreisen. Diese strukturellen Zwänge haben sich in das Innere der Software-Tools verlagert. Sie bieten den Trauernden weniger einen guten Abschluss der Trauerverarbeitung an, sondern sind daran interessiert, die Trauer auf den Seiten möglichst lebendig und aktiv aufrecht zu erhalten. Eine aktive Trauer-Community ist entstanden, die sich regelmäßig im Dialog mit den Toten untereinander austauscht und dadurch den Webtraffic der Gedenkportale steigert. In diesem folgt die aktive Trauerbeteiligung der Logik eines Geschäftsmodells. Auf der anderen Seite etabliert die kommerzielle Förderung der kontinuierlichen Trauerarbeit eine neue kulturelle Praxis des kollektiven Gedenkens. Seit den 1990er Jahren haben sich Gedenkseiten, meistens in Form von Online-Friedhöfen, in stets steigender Zahl im Web durchsetzen können. Während das Thema der virtuellen Internetfriedhöfe in Deutschland überwiegend die Medien beschäftigt, boomen in den Vereinigten Staaten die virtuellen Schauplätze des Erinnerns und Gedenkens. Ein virtueller Friedhof bietet einen Ort des Erinnerns für die Toten, und für die Hinterbliebenen stellt er einen Raum für Trauer und Erinnerung zur Verfügung. In seiner Selbstbeschreibung stilisiert er sich als ein immaterieller Ort, der von Raum und Zeit losgelöst ist, ähnelt jedoch in seiner ikonografischen Darstellung oft den Epitaphien mittelalterlicher Bestattungsorte. Das text- und bildbezogene Handeln auf den Gedenkseiten etabliert aber eine vollkommen neue Medialisierung der Trauerkultur. Die Entstehung virtueller Friedhöfe ist als ein Teil der generellen Entwicklung im Internet anzusehen, wo Menschen das früher der privaten Sphäre Zugehörige jetzt in den Sozialen Medien des Web 2.0 veröffentlichen und dort auch verhandeln. Die digitalen Grabfelder repräsentieren heute umfassende Datenbanken von tausenden Einträgen, die teilweise bis mehrere tausend Nachrufe auf verstorbene Personen enthalten. In einem ›Gästebuch‹ können Fremde Gedanken und Eindrücke äußern. Die Online-Gräber können sie sich vermittels unterschiedlicher Suchfunktionen erschließen. Tote können von ihnen nach unterschiedlichen soziodemografischen Daten ausgewählt werden. So können in den Datenräumen der Online-Gedenkseiten auch unangemeldete User/innen zwischen mehreren tausend Einträgen navigieren. In Anlehnung an das Anzünden einer Kerze steht
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es ihnen frei, virtuelle Candles am Cyberfriedhof zu hinterlassen, durch ein Fotoalbum verstorbener Online-Existenzen zu browsen und sich in das öffentliche Kondolenzbuch einzutragen. Die Verfügbarkeit von persönlichen Daten und Informationen hat aber auch zur Plünderung toter Profilseiten geführt, die als Versatzstücke der Remix und Mashup-Culture einverleibt werden und dann etwa auf YouTube in Videocollagen auftauchen. Abhängig vom Anbieter des virtuellen Friedhofs können Memorials über die Verstorbenen, die z.B. aus einer umfassenden Biografie, aus Fotos, Abbildungen, Musik und einem Video bestehen können, erstellt werden. In der Regel fehlen eine Grabsteinschrift und eine Todesanzeige. An ihre Stelle rückt die im Social Net weit verbreitete Bildkultur, das Individuum mit Hilfe eines aussagekräftigen Porträtfotos darzustellen. In diesem Sinne kann ein Online-Memorial als eine mediale Reinszenierung des Lebens eines Verstorbenen aus der subjektiven Sicht der Hinterbliebenen angesehen werden. Indem die Hinterbliebenen bestimmen, welche Aspekte der Biografie ausgewählt und öffentlich zugänglich gemacht werden, fließen Momente der Selbstdarstellung in die virtuelle Thanatografie ein. In Anlehnung an den bürgerlichen Grabmalkult des 19. Jahrhunderts versuchen die virtuellen Gedenkstätten, den Tod zu überwinden, indem sie ihn in der Feier der diesseitigen Erfolge und der dauerhaften Erinnerung verewigen. Bei allem Wandel der digitalen Gedenkkultur im Web 2.0: Auffallend ist die gesellschaftliche Praxis, dem Tod etwas Dauerhaftes entgegenzusetzen. Dieses Dauerhafte wird in der Trauer-Community im Leben des Verstorbenen gesucht. In den von den Hinterbliebenen verfassten Lebensgeschichten erhält der Tote eine biografische Kontextualisierung, mit der ein nachträglicher Distinktionsgewinn erzielt werden kann. Für die Distinktionsarbeit am Tod stehen auf Gedenkseiten bestimmte Slot-Filler-Korrelationen zur Verfügung, die den Verstorbenen in einer Timeline nach Wohnort, Beruf, Hobby, Reisen etc. klassifizieren. Demzufolge bleiben die Unterschiede zwischen den Internet-Gedenkstätten und den traditionellen Orten von Tod und Trauer grundlegend. Auf den Friedhöfen und ihren Grabstätten ist der Tod nach wie vor ein materieller Sachbestand – und sei es als Leichnam in eingeäscherter Form. Bei den Internet-Gedenkstätten hingegen spielt der tote Körper keinerlei Rolle – es bleibt ohne Bedeutung, wo die eigentliche Bestattung geschah. Das Internet ist somit ein ›entkörperlichter‹ Ort von Trauer und
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Gedächtnis. Zugleich ist dieser virtuelle Gedächtnisort stets veränderbar. Im Gegensatz zu den steinernen Grabmälern der Friedhöfe kann er den wechselnden Stadien von Trauer, Verlustbewältigung und Erinnerung immer wieder neu angepasst werden. Der entscheidende Punkt ist, dass die digitale Trauerkultur sich am Mediengebrauch des Social Net orientiert: »Increasingly people turn to social media not only as a community of mourners who come together to share their grief, but also to create chronicles of hope for the deceased’s life-before-death through acts of sharing emotional narratives, prayers of faith, as well as relational visuals awaiting the passing away. These digital networking communities have displayed the power to hold onto the fleeting. Social media possess an inherent quality of conceptual permanence that make them transitional public conduits for talking about the possibility of miracles to halt imminent death, fluidly followed by discussions of the transience of life.« 6
Die in den Favoriten abgelegte Trauerseite ist jederzeit erreichbar und von allen Orten zugänglich. Diese einfache und rasche Verfügbarkeit eines Ortes, an dem man eines Toten gedenken kann, hat zur Veralltäglichung der Trauerarbeit geführt.7 Der Ort des Gedenkens ist nicht nur jederzeit zugänglich und erreichbar, er stellt auch keinen Rand und kein Außen mehr dar, das sich in einem bestimmten Distanzverhältnis zur privat-häuslichen Sphäre der Trauernden situieren würde. Die rasche Verfügbarkeit hat zur Etablierung von Trauertagebüchern, Online-Diaries der Trauer, geführt, in welchen Trauernde tägliche Emails mit den Toten unterhalten. Hier firmiert der Tote nur noch als ein temporär Abwesender und kann als Dialogpartner jederzeit technisch aufgerufen werden. Tote werden im Social Net adressierbar. Die verbraucherfreundlichen Tools der Social Media simulieren eine kommunikative Beziehung mit den Toten und verwandeln sie in Untote, indem sie als Aufmerksamkeitsträger der digitalen Alltagskommunikation fungibel gemacht werden und Visibilitätszwängen unterworfen werden, die mit Hilfe von Gamification-Tools gratifiziert werden können. Indem die Trauer- und Gedenkseiten auch Gedächtnisfunktionen übernehmen, verwandeln sie den Tod in ein praktisches delegierbares Problem. Neben der Datenbankpflege stellt 6 | I. Mukherjee/M.G. Williams: Death and Digi-memorials, S. 161. 7 | Vgl. G. Schwibbe/I. Spieker: Nur Vergessene sind wirklich tot.
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uns die Softwarearchitektur die Newcomer des Tages vor, erinnert uns an die Sterbetage, versorgt uns mit den aktuellen Tipps und Ratschlägen zu Dienstleistungen im Fachbereich der Trauerbewältigung. Seiten wie www.ewiges-leben.de simulieren, dass der Tote unsterblich ist und folglich nicht vergessen werden soll. Sie suggerieren die jederzeit mögliche Kommunikation mit den Toten per Mail-Kontakt. Vor diesem Hintergrund kann nun die durch die digitale Kommunikation ermöglichte Verschiebung der Trauerkultur gefasst werden. Denn das Geschäftsmodell der Online-Gedenkseiten ist ausschließlich an der Aufrechterhaltung der Erinnerungskultur interessiert. »Mit den Internetfriedhöfen stellt man sich dem endgültigen Punkt, dem Tod, nicht, es hat nichts von Vergänglichkeit und Verwesung, weil man durch Tagebücher oder Briefe immer wieder etwas zu den Traueranzeigen hinzufügen kann«, halten Gudrun Schwibbe und Ira Spieker fest.8 Aus der Sicht des E-Commerce-Business schädigt das Vergessen die Besucherfrequenz der Seite, und das Vergessen führt im schlechtesten Fall zur Aufgabe des Online-Grabes. Darum zielt die Bewirtschaftung der Trauerarbeit darauf ab, die Erinnerung an die Toten als ›unverzichtbaren‹ Teil des Lebens der Hinterbliebenen zu deklarieren. Zusammenfassend kann das Internet als ein maßgeblicher Kulturraum betrachtet werden, in welchem sich ein neuer Produktions- und Rezeptionskontext von Sterbe- und Todeserfahrung herausgebildet hat. Heute belebt eine dynamische und aktive Erinnerungskultur das Geschäft der Online-Trauer. Dagegen ist das Vergessen-Können eine Gefahr für die Portale.9 Deshalb etablieren die Repräsentanten der Trauerarbeit 2.0 eine Mnemotechnik der schlichten Unendlichkeit, denn sie zielen darauf ab, dass die Arbeit am Gedenken nie zu Ende kommen darf. In diesem Sinne produzieren sie den Menschen als Mängelwesen, der mit seiner Trauer nie fertig werden soll. Zur Aufrechterhaltung seiner aktiven Trauerarbeit werden gratis verfügbare Trauer-Tools zur Verfügung gestellt, die dafür sorgen sollen, dass Todeserfahrungen zur Shareware von kollektiv geteilter Alltagskommunikation im Social Net werden können. Am Fluchtpunkt dieser Entwicklung steht der Like Button, mit dem Facebook 8 | Ebd., S. 234f. 9 | Den Zusammenhang von digitalem Speichermedium, sozial geteilten Trauerpraktiken und memorialer Gedächtnisfunktion untersucht J. Lingel: The Digital Remains.
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die mitmenschliche Anteilnahme in eine One-Click-Kondolenz transferiert. In dieser Hinsicht sind es nicht nur die Einzelnen, die sich selbst zum Thema von Kommunikation und damit zum Gegenstand des Wissens machen, sondern einerseits technisch-infrastrukturelle und damit einhergehend andererseits sozial habitualisierte Formen der Kommunikation, die das Individuum in ein bestimmtes Verhältnis zu anderen und dadurch zu sich selbst setzen. Das Subjekt kann also erst dann zu einem Vorbild des Handelns und zu einem Gegenstand des Wissens werden, wenn in einer Gesellschaft entsprechende institutionelle Rahmenbedingungen vorhanden sind, die das Subjekt im Allgemeinen als ursächliches Agens der Selbstthematisierung adressieren. Die stilistischen Merkmale der visuellen Selbstdarstellung verweisen demnach weniger auf eine Individualität von Subjekten, sondern auf historische und sozial bedingte Subjektivierungsweisen medialisierter Sterbe- und Trauererfahrung. Die Erfahrbarkeit von Sterben und Tod vermischt sich immer auch mit der Angst der Verbliebenen vor der kommunikativen Leere. An dieser Schnittstelle nistet sich das Geschäftsmodell der Memorial Sites ein, die eine ewige Erinnerung an die Toten in Aussicht stellen und damit die Trauernden im Netz auffordern, ihre Trauerarbeit als offenes und unabgeschlossenes Projekt zu betrachten. Doch trotz Social Net gibt es bis heute keinen Kontakt mit dem Jenseits, mit den Toten. Es kommt keine Antwort zurück. Die Trauernden verfangen sich selbst in den Feedbackschleifen unaufhörlicher Trauerarbeit und fungieren letztlich als Datensammler für das Social Media Marketing.
M emoriale P r ak tiken in V ideoblogs Eine Woche vor seinem Tod nahm der 18-Jährige Ben Breedlove im Jahr 2011 ein Abschiedsvideo This is my story auf und erzählte darin von seiner lebensbedrohlichen Herzkrankheit. Dieser Videoblog und der kurz darauffolgende Tod des jungen Amerikaners lösten bei vielen Zuseher/ innen Betroffenheitsgefühle aus und sie reagierten mit memorialen Video-Reenactements, um ihre mitmenschliche Anteilnahme zu bekunden. Verstreut über die ganze Welt bekundeten die Youtuber ihr Mit-Trauern, obwohl sie den Verstorbenen nur aus dem Netz kannten. Die Youtuber nutzten ihr Online-Videoportal zur Beileidsbekundung und erzählten bei dieser Gelegenheit auch von ihren persönlichen Sterbe- und Trauererfah-
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rungen. Warum erfuhr gerade dieses Video eine derart große mediale Aufmerksamkeit und etablierte in der Netzkultur eine viral sich verbreitende Trauerbekundung? Die Popularisierung des Videos This is my story verdankt sich den Disseminationsstrategien des im Februar 2005 gegründeten Internet-Videoportals YouTube mit Firmensitz in San Bruno, Kalifornien, das innerhalb weniger Jahre zu einem der einflussreichsten Medienphänomene der Gegenwart aufgestiegen ist. Die hohe Popularität von YouTube verdankt sich dem Umstand, dass Nutzerinnen und Nutzer kostenlos und mehr oder weniger uneingeschränkt Film- und Fernsehaufzeichnungen, Musikclips und selbstgedrehte Videos ansehen, hochladen, bewerten und kommentieren können. In technischer Hinsicht stellt das Online-Videoportal bloß eine Webseite mit zugehöriger Serverinfrastruktur dar, das als Host (Datenbankanbieter) Videodateien im Format Flash-Video der Firma Adobe per Stream sendet und unterschiedliche Suchvorgänge im Videoarchiv mittels Schlagworten ermöglicht. Da auf YouTube grundsätzlich alle Nutzerinnen und Nutzer eigene Inhalte publizieren können, fördern seine medialen Bausteine die Ausweitung und Steigerung von Beteiligungschancen und stehen stellvertretend für die Internetkultur der sozialen Medien und einen radikalen Umbau von Öffentlichkeit und Beteiligung, die eine Infrastruktur für eine gemeinsam geteilte Aufmerksamkeit zur Verfügung stellt.10 In seinem Video berichtet Breedlove über sein Leben mit der Diagnose lebensbedrohlicher Herzfehler. Er erzählte seine Krankheitsgeschichte mit Hilfe von Notizen, die er auf einen Zettel geschrieben hat und schildert seine bisherigen Erfahrungen und künftigen Erwartungen vor dem Hintergrund eines jederzeit möglichen Todeseintritts. Fasst man die im Video kommunizierten Authentizitätssignale und die damit adressierten kulturellen Echtheitserfahrungen als dramaturgische Aufbereitungen der Selbstthematisierung auf, dann können damit einhergehend die dramaturgischen Auf bereitungsprozesse angesprochen werden. Authentische Sterbeinszenierungen, in unserem Fall Videonachrichten, erscheinen als audio/visuell faktisch, wenn sie es verstehen, spezifische Vermutungen und Erwartungen seitens der Rezipient/innen zu nähren. Um audio/visuell faktisch zu werden, rekurriert die authentische Selbstdarstellung auf formatspezifische Vermittlungsstile und eine dem Me10 | Vgl. J. Burgess/J. Green: YouTube, S. 13.
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dienkanal angepasste Bildästhetik: direkte Adressierung, Naheinstellungen in der Low-Tech-Ästhetik der Webcam, die in einem unbearbeiteten Single-Shot-Verfahren aufgenommen wurde. Allerdings muss in diesem Zusammenhang eingeräumt werden, dass im Rezeptionskontext die Dimensionen des Authentischen nicht als normativ gesetzt, sondern als sozial und kulturell variable Projektionsflächen wahrgenommen werden. Im Unterschied zum Fernsehen als einseitiger Medienkanal, der Feedback unterdrückt, sind YouTube-Videos in einen permanenten interaktiven Aushandlungsprozess eingebettet, der sich aus folgenden Indikatoren zusammensetzt: die interaktiven Bewertungen, der individuell zurechenbare Kommentar, der eine Debatte generieren kann, und schließlich der interaktiv hochwertige Video-Upload, der sich in unserem Fall mit einem Reenactement auf das Video auf persönliche Weise bezieht. Mit ihren Response-Videos drücken die Fans von Breedlove ihre Betroffenheit gegenüber jemandem aus, den sie selbst nicht persönlich kennen, von dessen Selbstdarstellung sie sich aber affizieren lassen. Nahe und halbnahe Kameraeinstellungen verstärken die Wahrheitseffekte einer direkten Adressierung und medialisieren Nähe- und Intimitätserfahrungen mit dem Protagonisten, der im Video als dialogisches Gegenüber auftritt. Auf dem Online-Videoportal YouTube hat sich ein eigenständiges Format der Kondolenzbezeugung herausgebildet: Die Video-Kondolenz versammelt multimodale Praktiken der digitalen Trauerkultur, welche die gesamte Bandbreite visueller, verbalsprachlicher, schriftlicher und nummerischer Repräsentationsformen umfasst. So gesehen entsteht eine glaubwürdige Sterbekommunikation im Raum zwischen Repräsentation und Rezeption und kann als eine rückbezügliche Kategorie gefasst werden, die immer auch im Auge des Betrachters entsteht.11 Fassen wir kurz zusammen: Sterbevideos auf YouTube referieren auf kontextabhängige Authentizitätsstrategien des medialen Produkts und seiner Formatierung vermittels der ordnenden Instanz der Webseite. Der Rezipient steht der Seite nicht isoliert gegenüber, sondern ist mit ihr eng verflochten und besitzt die Möglichkeit, seine auf das Video bezogene Bedeutungsproduktion interaktiv – im Rückkanal – einfließen zu lassen. Dementsprechend ist die Beziehung zwischen den Authentizitätssignalen und ihrer Aufnahme und Weiterentwicklung im Rezeptionsprozess von einer wechselseitigen Einflussnahme geprägt. 11 | Vgl. L. Hilderbrand: Youtube: Where Cultural Memory and Copyright Converge.
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Es gibt im Video von Ben Breedlove ein mediales Moment der Selbstthematisierung der Sterbe- und Todeserfahrung, die ich in wenigen abschließenden Sätzen verdichten möchte. Mit der Thematisierung von Trauer- und Sterbeerfahrungen auf YouTube verschieben sich die Grenzen zwischen dem privaten und öffentlichen Raum. Sie machen die häusliche Sphäre zu einem medialisierten Schauplatz des öffentlichen Räsonnements und kollektiver Bedeutungsproduktion. Trauer- und Sterbe-Videos zielen hier auf die Aufhebung des Unterschieds zwischen Produktion und Rezeption und erzeugen eine Sensibilisierung für eine Ästhetik, die mit den etablierten Wahrnehmungskonventionen von Kino und Fernsehen, die der Partizipation des Publikums nur einen niedrigen Stellenwert einräumen, bricht. Die Erweiterung der Subjektpositionen setzt aber bereits am filmischen Set ein und beschreibt eine spezifische Medienästhetik, die sich in die Selbstbeobachtungsanordnung einschreibt. Da innerhalb der YouTube-Community ›ungeschnittenes‹ Material als besonders lebensnah und glaubwürdig wahrgenommen wird, muss das Filmmotiv und die Ausstattung des Sets, an dem die Dreharbeiten durchgeführt werden, dementsprechend vorbereitet und geplant werden. Das spezifische mediale Setting der Aufnahmesituation stiftet das berührende Moment im Video. Wir sehen Ben sitzend vor seinem Computerbildschirm. Dieser überträgt das von der Webcam übertragene Selbstbild, das er synchron auf dem Computerbildschirm wahrnehmen kann. Er kann damit die Videoaufnahme überwachen und die Unschärfen der in die Kamera gehaltenen Schrifttafeln ausgleichen. Er sieht auf dem Bildschirm das, was er geschrieben hat, er hält es also nicht verkehrt in die Kamera, sondern liest aktuell das, was auf den kleinen Karteikärtchen geschrieben steht, was er selbst auf diese als seine Geschichte geschrieben hat. Und er reagiert emotional auf diese Geschichte, ihre dramatischen Wendungen, ihre Ermunterungen, ihren Selbstzuspruch. Und wir können als Beobachter dieser Aufzeichnung die Emotionen, die dieser spezifische Text auf ihn als Autor und Leser ausübt, mit verfolgen und beobachten. Genau dieser Inszenierungsstil ist es, der das Video mit Authentizitätssignalen sättigt und verstärkt. Das Berührende an diesem Video verdankt sich immer auch seiner medialen Ermöglichung und den spezifischen Rahmungen der medialen Aufzeichnung. Bei der Beobachtungsanordnung im Closed Circuit macht Ben die Erfahrung der Synchronität seiner Handlungen, die er mit dem digitalen Bild abgleicht – ähnlich wie im Spiegelbild, jedoch nicht wie ge-
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wohnt seitenverkehrt. Ben befindet sich also in einer medial erweiterten Realität. Diese mediale Erweiterung sorgt dafür, dass er sich nicht mehr innerhalb einer aktuellen Situation erlebt, die er als Gegenwart empfindet, sondern in einer zeitversetzten Wiedergabe, die eher Erinnerungsoder dokumentarischen Charakter aufweist. In diesem Zusammenhang wird das Videobild in der Funktion als Spiegel eingesetzt. Dies meint in unserem Zusammenhang eine gestisch und mimisch kommunizierte Selbstbezüglichkeit, die auf die Adressantinnen zurückwirkt. Die Selbstadressierung adressiert zwar offensichtlich ihre Adressanten, eröffnet aber darüber hinausgehend eine sekundäre Adressierung, die sich an ein imaginiertes Publikum richtet und Aneignungsräume offen hält. Die hier in diesem Beispiel thematisierte kontinuierliche Transformation der Ästhetik und Narrativität von Onlinevideos verweist auf eine Rezeptionskultur, die dem klassischen Modell von Autorschaft ablehnend gegenübersteht und demgegenüber versucht, Trauerpraktiken und -diskurse innerhalb der digitalen Vernetzungskultur zu evozieren. Die aggregatähnlich organisierten Erzählräume der digitalen Trauerräume verleihen dieser kollaborativen Haltung einen angemessenen Ausdruck. Damit verändern sich nicht nur die Rezeptionskontexte, sondern auch die Handlungsrollen im Produktionsprozess. An die Stelle der klar und eindeutig definierten Aufgabenbereiche und Kompetenzen lösen sich die klassischen arbeitsteiligen Erinnerungs- und Gedächtnisordnungen auf, und neue Ausverhandlungsprozesse treten auf. In Hamlet on the Holodeck, ihrem Buch über die Narrativität in elektronischen Medien, führt die US-amerikanische Medientheoretikerin Janet Murray den Begriff des »procedural authorship« ein, um den Aspekt veränderter Handelsrollen in Bezug auf interaktive Medien herauszustellen: »Procedural authorship means writing the rules by which the text appears as well as writing the texts themselves. It means writing the rules for the interactor’s involvement, that is, the conditions under which things will happen in response to the participant’s actions. […] The procedural author creates not just a set of scenes but a world of narrative possibilities«.12
In diesem Zusammenhang begreift Murray die interaktive Einflussnahme als choreografisches Rezeptionsmodell: 12 | J. Murray: Hamlet on the Holodeck, S. 152.
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»In electronic narrative the procedural author is like a choreographer who supplies the rhythms, the context, and the set of steps that will be performed. The interactor, whether as navigator, protagonist, explorer, or builder, makes use of this repertoire of possible steps and rhythms to improvise a particular dance among the many, many possible dances the author has enabled«.13
Trauervideos auf YouTube leisten damit eine doppelte Rahmung des Geschichtenerzählens. Erstens formulieren sie vermittels ihrer Interaktionen neue Konventionen des Erzählens, indem sie ihre Erfahrungen, Kommentare und Bewertungen in ihre digitale Umgebung einfließen lassen (vermittels Ranking-, Voting- und Responsetools). Zweitens etablieren sie eine stochastische Komponente, indem sie Möglichkeiten für programmierte Zufallsprozesse oder aber für Eingriffe durch User schaffen. Vor dem Hintergrund der Einbettung der Trauervideos in hypertextuelle und -fiktionale Verbreitungs- und Erschließungsstrukturen können User in ihren Lektüren immer wieder abduktive Entscheidungen treffen. Die Zentralität des filmischen Textes weicht einer offenen und nichtlinearen ›Heteromedialität‹, welche die Videobilder in flüchtige und instabile Bedeutungsnetze einschreibt.14 Der medienspezifische Stellenwert von Onlinevideos zur Verhandlung von Sterbe- und Trauererfahrungen vermittels prozeduraler Erzählkulturen, kollaborativer Beteiligungsformen und interpiktorialer und interdiskursiver Mashup-Praktiken zeigt sich folglich nicht nur alleine auf der Ebene der ›Repräsentation‹ (die eine filmwissenschaftliche Analyse nahe legen würde), sondern auch darin, wie in der Zirkulation der Videos durch Feedback, explizite Empfehlungen und Hyperlinks offene Bedeutungsproduktionen hervorgebracht werden, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, welchen Stellenwert ein spezifisches Video innerhalb der Rezeptionskontexte einnehmen kann. In diesem Sinne verändert sich sowohl der erzählerische Produktions- als auch der Rezeptionskontext der Videos andauernd und bleibt offen und unabgeschlossen. Diese im medialen Setting generierte, YouTube-spezifische Trauerkommunikation wurde seither von zahlreichen Videoamateuren weltweit reinszeniert. Es entstanden in der Nachfolge hunderte Videoantworten, die weit über Kondolenzvideos hinausgingen. Es entstanden vor der Ka13 | Ebd. 14 | H. Jenkins: Convergence Culture, S. 17.
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mera aufgeführte und aus der Kamerasituation hervorgehende Traueraffekte, die medial generiert wurden, als die Kamera eingeschaltet wurde und die Dramaturgie der chronologisch in die Kamera gehaltenen Kärtchen nachgestellt wurde. Erst durch die Anwesenheit der Kamera konnte eine Selbsterzählung der Trauer evoziert werden und es bildete sich kurzfristig eine ritualisierte therapeutische Situation heraus, die sich an der Schnittstelle medialisierter Nähe und kollektiv geteilter Trauer- und Sterbeerfahrungen ansiedelte.
L iter atur Burgess, Jean/Green, Joshua: YouTube: Online Video and Participatory Culture, Cambridge: Polity Press 2009. Church, Scott: »Digital Gravescapes: Digital Memorializing on Facebook«, in: The Information Society 29 (2013), S. 184-189. Farkas, Ashley: »Who Has the Last Word? Posthumous Social Networking and its Implications for Online Grieving«. Paper presented at the Association of Internet Researchers, Annual Internet Research Conference, Denver (CO), October 23-26, 2013, Online-Publikation: http://spir. aoir.org/index.php/spir/issue/current [accessed February 20, 2014]. Hilderbrand, Lucas: »Youtube: Where Cultural Memory and Copyright Converge«, in: Film Quarterly 61/1 (2007), S. 48-57. Jenkins, Henry: Convergence Culture: Where Old and New Media Collide. New York: New York University Press 2008. Lingel, Jessa: »The Digital Remains: Social Media and Practices of Online Grief«, in: The Information Society 29 (2013), S. 190-195. Marwick, Alice/Ellison, Nicole: »There isn’t Wifi in Heaven! Negotiating Visibility on Facebook Memorial Pages«, in: Journal of Broadcasting & Electronic Media 56 (2012), S. 378-400. Mukherjee, Ishani/Maggie Griffith Williams: »Death and Digi-memorials: Perimortem and Postmortem Memory Sharing through Transitional Social Networking«, in: www.thanatos-journal.com, S. 161-172. Murray, Janet H.: Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace, Cambridge: MIT Press 2000. Nora, Pierre: Erinnerungsorte Frankreichs. München: C. H. Beck 2005. Schwibbe, Gudrun/Spieker, Ira: »Virtuelle Friedhöfe«, in: Zeitschrift für Volkskunde 95/2 (1999), S. 220-245.
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Schwibbe, Gudrun/Spieker, Ira : »Nur Vergessene sind wirklich tot. Zur kulturellen Bedeutung virtueller Friedhöfe«, in: Norbert Fischer/ Markwart Herzog (Hg.), Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden, Stuttgart: Kohlhammer 1999, S. 229-242.
Veränderte Sprache – Sprachwandel?! Wirkt sich die internetbasierte Kommunikation auf die Sprache aus? Monika Hanauska
Technik und S pr ache Die Geschichte der Sprache ist immer auch eine Geschichte der technisch-medialen Möglichkeiten ihrer Fixierung und Reproduktion. Dies ist nicht erst seit der Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts der Fall, bereits frühere Entwicklungen wie die Herausbildung von Schriftsystemen, der Übergang von der Schriftrolle zum gebundenen Codex oder aber die Ablösung des kostspieligen Pergaments durch die neuen Techniken zur Herstellung von Papier haben sich nachhaltig auf die Einzelsprachen ausgewirkt. Doch gerade das innovative Potential des Buchdrucks läutete eine konstante Entwicklung hin zur Standardisierung und damit zur Normierung der Schriftsprache ein, weil die Rahmenbedingungen der neuen Technik dies erforderlich machten: Anders als in skriptoraler Textproduktion war zur Herstellung eines gedruckten Schriftstücks zunächst einmal die Herstellung eines Zeichensatzes, der Drucktypen, notwendig. Zur effizienteren (und auch kostengünstigeren) Handhabung dieses Zeichensatzes war das Repertoire an unterschiedlichen Lettern in der Regel begrenzt. Dies stellte einen entscheidenden Gegensatz zur handschriftlichen Fixierung eines Textes dar, bei der jede beliebige Form eines Graphems dargestellt werden konnte. Mit dieser Objektivierung und Reduktion des Zeichenrepertoires1 war ein wesentlicher 1 | Zunächst hatten die einzelnen Offizinen je eigene Zeicheninventare, was für eine Phase hochgradiger Graphemvarianz in den gedruckten Texten der Zeit sorg-
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Schritt hin zu einer Vereindeutigung der Phonem-Graphem-Beziehung gemacht 2 und damit auch zu einer sich allmählich durchsetzenden Standardisierung der deutschen Volkssprache.3 Sprachliche Veränderungen gehen von den Sprachnutzern aus, die ihre Sprache – ob nun in gesprochener oder schriftlicher Form – ihren Lebensbedingungen, ihrer Sprechund Schreibpraxis anpassen. Auch die Entwicklung der modernen Massenmedien hat deutliche Spuren in der Sprache hinterlassen, weil sich die Sprachteilnehmer den veränderten Kommunikationsbedingungen anpassten und durch sie vermittelte sprachliche Neuerungen adaptierten. Der Sprachwissenschaftler Hans Eggers konstatierte für das 20. Jahrhundert eine sich zunehmend verstärkende Tendenz zur Individualität in der schriftsprachlichen Gestaltung und damit eine Abkehr von bis dahin durch wirkmächtige Schriftsteller tradierte schriftsprachliche Normen. Einen wesentlichen Grund hierfür sah er im Einfluss der massenmedialen Vermittlung von Spracherzeugnissen. Durch die rasante Entwicklung und Verbreitung neuer medialer Kanäle wie Boulevardpresse, Radio und Fernsehen, die einem breiten Publikum zugänglich sind, finden sprachliche Neuerungen – wie etwa die Verwendung von Anglizismen oder fachspezifischer Begriffe – schneller Eingang in den allgemeinen mündlichen wie schriftlichen Sprachgebrauch.4 Eine klare Gemeinsamkeit ist bei den Sprachwandelprozessen der Frühen Neuzeit und des 19./20. Jahrhunderts erkennbar: Den Ausschlag zur schriftsprachigen Fixierung von Neuerungen gaben mehr oder weniger kleine Eliten: im 15./16. Jahrhundert die Buchdrucker, im 19. Jahrhundert wirkmächtige Schriftsteller und Gelehrte, im 20. Jahrhundert Journalisten. Sie beeinflussten durch ihre Vorbildwirkung nachhaltig zute, doch im Laufe des 16. Jahrhunderts differenzierte sich diese Varianz allmählich aus und führte zur Ausbildung eines weitgehend einheitlichen Grapheminventars. Vgl. S. Waldenberger/H.-P. Wegera: Deutsch diachron, S. 85f. 2 | Natürlich muss einschränkend erwähnt werden, dass es auch in der Gegenwartssprache noch keine hundertprozentige Phonem-Graphem-Korrespondenz gibt, wie Beispiele wie /va:l/, das als Wahl oder Wal verschriftet werden kann, belegen. Dennoch stellen die Standardisierungsbemühungen, die mit der Etablierung des Buchdrucks unternommen wurden, eine richtungsweisende Entwicklung auf dem Weg zur vereinheitlichten Standardsprache dar. 3 | Vgl. M. Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, S. 409. 4 | Vgl. H. Eggers: Deutsche Sprache im 20. Jahrhundert, S. 100ff.
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mindest die schriftsprachlichen Usancen der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft. Angebote der Medien an sprachlichen Neuerungen werden von den Rezipienten aufgenommen und weiterverwendet, sodass sich diese veränderten Strukturen im allgemeinen Sprachgebrauch verfestigen. Was in Eggers Ausführungen (noch) keine Berücksichtigung erfährt, sind die Veränderungen, die von den Sprachbenutzern selbst ausgehen, die sich jedoch, weil sie keinen Eingang in die massenmediale Diffusion finden, nur sehr langsam verbreiten. In den letzten Jahrzehnten haben die technischen Entwicklungen im Bereich der Massenmedien zu enormen Veränderungen auch in der Nutzung der Schriftsprache im Alltag geführt. Einen wesentlichen Anteil daran hatte die Freigabe des Internets für die zivile Nutzung in den frühen 1990er Jahren, die damit auch für Laiennutzer zugänglich wurde.5 Mit der Herausbildung des Web 2.0 seit Beginn des neuen Jahrtausends fand eine weitere einschneidende Veränderung dieses neuen Mediums statt: Von einem Massenmedium, dessen Inhalte vom Großteil der Nutzer vorwiegend passiv rezipiert wurde, entwickelte es sich zu einem Individualmedium, das jedem Nutzer auch die Möglichkeit zur aktiven Partizipation bietet.6 So stellen Kristina Bedijs und Karoline Henriette Heyder fest, »dass die Zugänglichkeit und Verwendbarkeit der Technologie auch für Personen mit geringen EDV-Kenntnissen eine revolutionäre Beteiligung an Produktion und Distribution von Inhalten in Online-Medien mit sich gebracht hat.« 7 Die Veränderungen in der Nutzung der Schriftsprache betreffen nicht zuletzt die Kommunikationssituation(en). Es ist eine Verschiebung hin zur Verwendung der Schriftsprache vor allem in privater Konversation zu festzustellen. Dies gilt insbesondere für die zunehmende Nutzung von Internetforen und Chatcommunities.8 Neben die face-to-face-Kommunikation tritt die screen-to-screen-Kommunikation, bei der die Kommunikationsteilnehmer nicht mehr zwangsläufig physisch präsent sein müssen, sondern räumlich voneinander getrennt sein können.9 Mit dieser massiven Verschiebung der Einsatzweisen von Schrift5 | Vgl. C. Marx/G. Weidacher: Internetlinguistik, S. 65. 6 | Vgl. K. Schmit: Neue Medien, neue Sprache, S. 21. 7 | Vgl. B. Bedijs/K.H. Heyder (Hg.): Sprache und Personen im Web 2.0., S. 9. 8 | Vgl. B. Van Eimeren/B. Frees (Hrsg.): 79 Prozent der Deutschen online – Zuwachs bei mobiler Internetnutzung und Bewegtbild, S. 386. 9 | Vgl. K. Schmitt: Neue Medien, S. 51.
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sprache geht die Frage nach ihren möglichen Veränderungen unter der mittlerweile rund 25-jährigen Einwirkung der verschiedensten Formen computerbasierter schriftlicher Kommunikation einher. Die Schriftsprache ist mit neuen Herausforderungen konfrontiert, da diese Zunahme und gleichzeitige Diversifizierung der Kommunikationssituationen auch Anpassungen erfordert: Die Schnelligkeit in der Chat-Kommunikation etwa verringert den Planungsaufwand schriftsprachiger Äußerungen, was unter Umständen mit einer Vereinfachung orthographischer Konventionen (etwa der Aufgabe der konsequenten Groß- und Kleinschreibung im Deutschen) einhergeht, die unzureichenden Möglichkeiten zur Kennzeichnung von Zwischentönen wie Ironie oder Sarkasmus in der schriftbasierten Sprache erfordert die Einführung neuer Zeichen, die diese Defizite ausgleichen können. Gleichzeitig entwickeln sich die technischen Möglichkeiten zur Verbesserung und Erleichterung der schriftbasierten Kommunikation immer weiter: Die Spracheingabe wird etwa durch halbautomatische Verfahren wie Autovervollständigung immer komfortabler. Dies wiederum hat Rückwirkungen auf die Sprachverwendung, da die Nutzer nicht mehr jedes einzelne Wort auch korrekt schreiben können müssen, um es in den Text zu integrieren. Es reicht, die ersten Buchstaben zu tippen, um eine Liste von möglichen Vervollständigungsvorschlägen zu bekommen. Die folgenden Überlegungen entspringen der Fragestellung, ob sich durch die neuen Kommunikationspraxen bereits Veränderungen in der Sprachverwendung des Deutschen abzeichnen und wie diese zu beurteilen sind. Sprachwandel ist stets auch eine Reaktion auf eine sich ändernde Lebenswelt. Wie die einleitenden Beispiele deutlich gemacht haben, ist die wechselseitige Beeinflussung von menschlichen Kommunikationsbedürfnissen und technischer Innovation ein wesentlicher Impuls hierfür. Ich werde daher zunächst in Abschnitt 2 ein wenig detaillierter auf die technischen Voraussetzungen und die mediale Umsetzung der internetbasierten, schriftgebundenen Kommunikation eingehen, ehe ich mich in Abschnitt 3 mit der Frage nach der Sprachverwendung in internetbasierter Kommunikation beschäftige. Veränderungen im Sprachgebrauch befördern immer auch kulturpessimistische Einschätzungen über die Entwicklung der Sprache. So auch in Bezug auf die ›Internetsprache‹, derer sich Jugendliche befleißigen. In Abschnitt 4 soll resümierend das angebliche Gefährdungspotential dieser Sprachveränderungen in den Blick
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genommen werden und in allgemeine Überlegungen zum Sprachwandel überführt werden.
Technische V or ausse t zungen und mediale U mse t zung 10 Mit der Popularisierung des Internets seit den 1990er Jahren wurden neue Kommunikationsformen11 entwickelt, die seither stetig verbessert und in ihrer Handhabung erleichtert wurden. Hierzu zählen unter anderem Chats, Foren oder Instant Messaging Services, aber auch Formen des collaborative writing, bei denen mehrere Autoren gemeinsam an der Erstellung eines Textes wirken. Während in den Anfangsjahren der Internetnutzung die Verwendung dieser Kommunikationsformen nur über einen PC oder Laptop möglich war, haben sich mit der Entwicklung internetfähiger mobiler Endgeräte wie Smartphones und Tablet-Computern sowie durch den Ausbau der mobilen Breitbandnetze und mobiler WLAN-Hotspots auch die Nutzungsmöglichkeiten dieser Kommunikationsformen vervielfältigt.12 Internetbasierte Kommunikation ist an die Verwendung von Medien gebunden. Unter Medium verstehe ich im Folgenden mit Christa Dürscheid einen technischen Apparat, mit dem sprachliche sowie nicht-sprachliche Zeichen hergestellt, modifiziert, ge10 | Es ist kaum möglich, alle technischen Aspekte, die mit der internetbasierten Kommunikation einhergehen und die sich auf das Sprachverhalten und die Schreibpraxen der Nutzer auswirken, aufzuführen. Aus diesem Grund beschränke ich mich auf einige wenige, die für die nachfolgenden Ausführungen von Belang sind, wohl wissend, dass sie keineswegs exhaustiv sind. 11 | Unter Kommunikationsformen verstehe ich in diesem Zusammenhang kommunikative Konstellationen wie die Kombination aus dem für die Kommunikation gewählten Zeichensystem, die Kommunikationsrichtung, die Anzahl der Kommunikationspartner sowie die räumliche und zeitliche Dimension der Kommunikation. Vgl. Ch. Dürscheid: Medien, S. 5ff. 12 | Nach den aktuellen Daten der ARD/ZDF-Onlinestudie gehen 59% der Nutzer über einen Stand-PC, 69% über einen Laptop, 28% über einen Tablet-PC und 60 % über ein Smartphone oder ein internetfähiges Handy ins Netz. Vor allem die Nutzung mobiler Endgeräte begünstigt einen steigenden Internetkonsum (vgl. B.van Eimeren/B.Frees: ARD/ZDF-Onlinestudie, S. 384f.)
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speichert, übertragen und verteilt werden können.13 Der passive wie auch der aktive Zugang zur internetbasierten Kommunikation ist nur möglich, wenn alle Kommunikationsteilnehmer über einen technischen Apparat verfügen. Es handelt sich hierbei also um Kommunikation vermittelst tertiärer Medien.14 Damit ist die Kommunikation von vornherein an bestimmte technische Rahmenbedingungen geknüpft, wie etwa die keyboard-to-screen-Vermittlung bei der Erstellung von Texten.15 Damit gehen, wie oben bereits angedeutet, neue Anforderungen an die Handhabbarkeit der Eingabe- und Verarbeitungsverfahren von Texten einher. Die Nutzung eines Smartphones mit verhältnismäßig kleinem Display und Touchscreen erfordert andere Instrumente als die Nutzung einer festen Tastatur, die unabhängig vom Bildschirm ist. Daher wurde gerade der Aspekt der erleichterten Texteingabe bei mobilen Endgeräten stark verbessert: So ist die Software des Schreibprogrammes in der Regel mit Modulen ausgestattet, die nach dem Eingeben der ersten Buchstaben bereits Vorschläge für die Vervollständigung des Wortes liefern. Spezielle Programme ermöglichen es überdies, beispielsweise durch Wischbewegungen über eine auf dem Display dargestellte Tastatur Wörter zu bilden, ohne jeden Buchstaben einzeln berühren zu müssen. Durch diese Methode wird der Eingabeprozess beschleunigt, gleichzeitig wird die Textproduktion maßgeblich von den Voraussetzungen der Software beeinflusst: Vor allem umgangssprachliche, dialektale, fachsprachliche oder aber ad hoc gebildete Lexeme werden nur bedingt erkannt und müssen daher erst dem elektronischen Wörterbuch hinzugefügt werden. Zusätzlich zu den Eingabeverfahren stellen Schreibprogramme häufig auch Textverarbeitungsinstrumente wie Rechtschreib- oder Grammatikprüfung zur Verfügung, die während der Textproduktion auf Abweichungen von den kodifizierten Regeln der Standardsprache aufmerksam machen. Auch dies kann die schriftliche Fixierung sprachlicher Äußerungen beeinflussen.
13 | Vgl. Ch. Dürscheid: Medien, Kommunikationsformen, kommunikative Gattungen, S. 5. 14 | Vgl. K. Marx/G. Weidacher: Internetlinguistik, S.54. 15 | Vgl. Ch. Dürscheid/K. Frick: Keyboard-to-Screen-Kommunikation gestern und heute: SMS und WhatsApp im Vergleich, S. 152f.
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Neben die technischen Aspekte der Texteingabe und -verarbeitung treten schließlich auch Aspekte der technischen Bedingungen der Kommunikation, die ebenfalls nachhaltige Auswirkungen auf die Art der Textproduktion haben können. Das Besondere an der internetbasierten Kommunikation ist gerade, dass sie neben den auch in Offline-Medien üblichen Formen der asynchronen Kommunikation solche der quasi-synchronen Kommunikation ermöglicht.16 Postings in einer Chat-Unterhaltung erreichen mit minimaler Zeitverzögerung die übrigen Kommunikationsteilnehmer, die Reaktionszeit verringert sich dadurch. Dies wirkt sich, wie weiter unten noch gezeigt wird, durchaus auf die Sprachproduktion aus, weil die Planungsund Evaluierungsphase des schriftlichen Kommunikats deutlich geringer ausfällt als bei Formen der asynchronen Kommunikation. Mithilfe der oben besprochenen sich stetig verbessernden Eingabe- und Textverarbeitungsverfahren können diese Herausforderungen neuer medialer Kommunikationsformen bewältigt werden. Formen der Interaktion bieten jedoch auch solche Schreibtechnologien, die auf das gemeinsame und gleichzeitige Erarbeiten von Texten ausgerichtet sind. Collaborative Writing kann entweder mithilfe spezieller Content-Managing-Systeme direkt über einen Web-Browser erfolgen oder aber über eine Software, die alle Textproduzenten auf ihrem Rechner installieren müssen. Je nach Art der Anwendung besteht zusätzlich zum eigentlichen kooperativen Texterstellungsprogramm auch die Möglichkeit, sich über die Inhalte oder Änderungen in der Textgestaltung auszutauschen.17 Was diese Art der Textproduktion für die linguistische Betrachtung besonders spannend macht, ist die Tatsache, dass die so entstehenden Texte niemals als vollkommen abgeschlossen zu betrachten sind, weil sie potentiell immer verändert werden können. Diesen Texten-in-Bewe16 | Von einer tatsächlich synchronen Kommunikation lässt sich – bislang – beim Einsatz schriftbasierter Textproduktion (noch) nicht sprechen, da der Text erst nach seiner vollständigen Eingabe abgeschickt und an den Kommunikationspartner übermittelt wird. Dies kann bei Kommunikation mit mehreren Teilnehmern zur Folge haben, dass sich mehrere Beiträge zeitlich überschneiden, weil die Abgabe und Übernahme der Sprecherrolle nicht explizit geregelt ist. Vgl. auch V. Thaler: Chat-Kommunikation im Spannungsfeld zwischen Oralität und Literalität, S.21f. 17 | Vgl. M. Beißwenger/A. Storrer: Kollaborative Hypertextproduktion mit Wiki-Technologie, S. 13.
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gung18 ist in der Regel eigen, dass sich ein Autor nicht (mehr) benennen lässt, dass also auch die Sprachverwendung in ihnen Resultat eines kollaborativen Feilens am Text ist.
S pr achverwendung in interne tbasierter K ommunik ation Über ›die‹ Sprachverwendung in ›der‹ internetbasierten Kommunikation zu sprechen, ist eigentlich ein aussichtloses Unterfangen: Weder gibt es eine einheitliche internetbasierte Kommunikation, sondern eine Vielzahl an unterschiedlichen Kommunikationsformen, noch lassen sich die vielfältigen Realisierungsformen von Sprache, die sich im Internet finden, ohne weiteres auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Während die linguistische Forschung in den ersten Jahren der zivilen Internetnutzung noch von der Existenz eines Netspeak als eigener Internetvarietät ausging,19 musste schon bald die Heterogenität der Sprachverwendung anerkannt werden.20 Dies macht es unmöglich, allgemeingültige Aussagen über Sprache, Sprachverwendung und Sprachentwicklung in der internetbasierten Kommunikation zu machen. Dennoch lassen sich Beobachtungen anhand ausgewählter Teile der im oder über das Internet verbreiteten Spracherzeugnisse anstellen, so sehr deren Gültigkeit auch beschränkt sein mag. Die folgenden Textausschnitte sollen die anschließenden Überlegungen zur Sprachbeschreibung internetbasierter Kommunikation illustrieren. Sie stammen zum einen aus dem in der deutschsprachigen Version der Online-Enzyklopädie Wikipedia veröffentlichten Artikel »Biotechnologie« sowie der zugehörigen Diskussion zu Einzelaspekten des Artikels und zum anderen aus einem Diskussionsforum zur Spielekonsole Playstation:
18 | Vgl. A. Storrer: Sprachverfall durch internetbasierte Kommunikation?, S. 189. 19 | Vgl. D. Crystal: Language and the internet, Cambridge 2001, S. 17. 20 | Vgl. K. Bedijs/K. H. Heyder: Sprache, S. 11; K. Marx/G. Weidacher: Internetlinguistik, S. 91.
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(1) (1) Die Biotechnologie (griechisch βίος bíos ‚ ‚Leben‘; auch als Synonym zu Biotechnik und kurz als Biotech) ist eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich mit der Nutzung von Enzymen, Zellen und ganzen Organismen in technischen Anwendungen beschäftigt. Ziel ist die Entwicklung neuer oder effizienterer Verfahren zur Herstellung von chemischen Verbindungen, die Entwicklung von Diagnosemethoden und anderes [1][2] […] Inhaltsverzeichnis [Verbergen] 1 Geschichte 1.1 Erste biotechnologische Anwendungen 1.2 Entwicklung der Mikrobiologie 1.3 Biotechnologie im 20. Jahrhundert 1.4 Moderne Biotechnologie seit den 1970er Jahren […] http://de.wikipedia.org/wiki/Biotechnologie (2) […] P 1: fände es wichitg in diesem artikel die biotechnologie als sehr alte und „natürliche“ form der erzeugung von produkten (vor allem lebensmittel) von der gentechnologie (molekulare und transgene methoden) zu unterscheiden. in diesem fall von moderner und konventioneller biotechnologie zu sprechen finde ich weniger gelungen P 2: Nun, die Gentechnologie lässt sich nicht mehr so leicht von der Biotechnologie trennen. Tatsächlich hat sich der Schwerpunkt in der Biotechnologie deutlich in Richtung rekombinante DNA-Technologien, Molekularbiologie etc. hin verlagert. Die Veredelung/Verarbeitung von Lebensmitteln wird heute eher unter den Begriffen „Lebensmitteltechnologie“ od. „Lebensmittelbiotechnologie“ zusammengefasst. […] http://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Biotechnologie (3) […] P 1: @all Mahlzeit, meine Herren xD Hier mal News....den PS-Controller, den wir seit Jahren kennen, wird wahrs. abgeschafft bzw. gibt es schon Gerüchte über ein neues Design für die PS4...die alten Controller sollen aber nach wie vor kompatibel sein (wers glaubt....). […] P 2: Wird bestimmt son wii u Teil. Spiele aber mit dem Gedanken mir keine Sony konsole mehr zu kaufen.
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P 3: Du willst dir doch keine Schrottbox kaufen^^ Einmal PS immer PS :D […] P 4: Die Wii war leider bis auf ein par Nintendo Titel der totale Reinfall. Ich hoffe das Nintendo als Konsolenhersteller pleite geht und dann Spiele für andere Konsolen entwickelt, so wie Sega das macht. Mario Kart und Zelda auf der Playstation wäre schon sehr geil. […] http://www.amazon.de/forum/playstation
Um die sehr heterogenen sprachlichen Äußerungen in der internetbasierten Kommunikation ansatzweise angemessen einordnen zu können, ist es notwendig verschiedene Faktoren hinsichtlich der Kommunikationsbedingungen zu berücksichtigen: Was ist überhaupt der Anlass zum Verfassen einer schriftlichen Äußerung? Steht der konversationelle Austausch im Vordergrund oder die Produktion eines Textes? An wen richten sich die Kommunikate? An einen eher kleinen Kreis von mehr oder weniger bekannten Interaktionspartnern oder an eine disperse Menge unbekannter Rezipienten? Welche Funktion hat die Äußerung? Soll mit ihr eine Frage gestellt werden, verbunden mit der Bitte um Auskunft? Soll sie die anderen Kommunikationsteilnehmer über etwas informieren? Welche sprachliche Varietät wählt der Schreiber in der sprachlichen Umsetzung seines Kommunikats? Verwendet er die Standardsprache oder nutzt er ganz bewusst dialektale, umgangssprachliche, milieusprachliche Varietäten oder ein informelleres Register? Nähert er sich also eher mündlichen Sprachformen an oder grenzt er sich ganz explizit von solchen ab? Für einen ersten Zugriff auf die Heterogenität der sprachlichen Äußerungen bietet es sich mit Angelika Storrer an, nach der Schreibhaltung – oder deutlicher, der Schreibintention zu differenzieren: So kann das Verfassen einer sprachlichen Äußerung der Intention entspringen, einen kohärenten und kohäsiven Text zu produzieren, der von anderen als Ganzes rezipiert werden soll. Bei einer solchen textorientierten Schreibhaltung sind Phasen der Planung, Evaluation und Korrektur des Geschriebenen konstitutive Merkmale.21 Beleg (1) ist hierfür ein gutes Beispiel, da bereits der kurze Ausschnitt deutlich macht, dass ihm verschiedene Re-
21 | Die Frage, wieweit einzelne Schreiber zur Differenzierung unterschiedlicher Varietäten und Register tatsächlich in der Lage sind, ist nur schwer zu beantwor-
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daktionsphasen zugrunde liegen: Der Artikel weist eine klare Gliederung, die in dem angegebenen Inhaltsverzeichnis dargestellt ist, auf, einzelne Begriffe sind durch Hyperlinks mit anderen Artikeln verlinkt, es existiert also ein Beziehungsgefüge zwischen diesem Text und anderen Texten innerhalb der Wikipedia. Die Normen der Standardsprache und die textsortenspezifischen Merkmale eines Lexikoneintrags wie Definition, Beispiel, Literaturbelege sind umgesetzt. Die einzelnen Stadien der Evaluation und Korrektur lassen sich gerade am Beispiel von Wikipedia-Artikeln gut über die Diskussions- und Versionsseiten ablesen, auf denen zum einen der Artikel von mehreren Nutzern besprochen wird, zum anderen aber auch der Verlauf der Artikelgenese nachvollzogen werden kann. Formen der Spontanschreibung wie auch Nicht-Standard-Varietäten oder Register unterhalb des elaborierten Codes sind bei solchen Schreibprodukten in geringerem Maße zu finden als in Texten, die aus einer interaktionsorientierten Schreibhaltung heraus entstehen und der Durchführung eines dialogischen Austauschs dienen.22 Deutlich sichtbar wird dies in Beispiel (3). Bereits das erste Posting zeigt klare Spuren von Rückkopplungseffekten des mündlichen Sprachgebrauchs auf die Schriftsprache. Im Satz »den PS-Controller, den wir seit Jahren kennen, wird wahrs. abgeschafft« tritt eine Änderung der Formulierungsstrategie auf, die durch die Kasusinkongruenz von »den Ps-Controller« und »wird abgeschafft« erkennbar wird. Auch enklitische Formen wie »son« (aus ›so ein‹) oder das Weglassen des Personalpronomens bei »spiele mit dem Gedanken […]« sind Hinweise auf die interaktionsgeleitete Textproduktion, bei der es darum geht, die Unterhaltung durch rasche Reaktion aufrechtzuerhalten. Gerade Kommunikate, die einer interaktionsorientierten Schreibhaltung entspringen, sind, wie Beispiel (3) belegt, häufig in einem Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit anzusiedeln. Dieses vielfach in der internetbasierten Kommunikation zu beobachtende Phänomen wird als »Oraliteralität«23 bezeichnet. Obwohl die Umsetzung von Sprache in einem schriftgebundenen, also graphischen Medium geschieht, nähert sich die Sprachverwendung Formen der konzeptionellen ten, weil Informationen zum Bildungshintergrund sowie zur Sprachsozialisierung der Internetnutzer in der Regel nicht vorliegen. 22 | Vgl. A. Storrer: Sprachverfall. 23 | K. Marx/G. Weidacher: Internetlinguistik, S. 107.
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Mündlichkeit an. Bereits in den 1980er Jahren hatten die Romanisten Peter Koch und Wulf Oesterreicher ein Modell entwickelt, das auf das Wechselverhältnis zwischen verschiedenen Varietäten der Sprache und ihrer medialen Umsetzung besser reagieren konnte. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war die Beobachtung, dass »bestimmte Formen gesprochener Äußerungen in ihrem Duktus nur geringe Unterschiede zu schriftlichen Äußerungen aufweisen und daß andererseits bestimmte geschriebene Texte deutliche Merkmale von Mündlichkeit tragen.«24 Aus diesem Grunde setzten sie den Aspekt der medialen Realisierung von Sprache in den absoluten Oppositionen ›graphisch‹ und ›phonisch‹ in Beziehung zu dem Aspekt der kommunikativen Strategie, die auf einem Kontinuum zwischen den Polen ›konzeptionell mündlich‹ und ›konzeptionell schriftlich‹ angesiedelt sein kann. Koch/Oesterreicher verbinden mit dem Pol der konzeptionellen Mündlichkeit eine Sprache der Nähe, mit dem Pol der konzeptionellen Schriftlichkeit eine Sprache der Distanz.25 Über zusätzliche Faktoren wie Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien kann daher von einem mehrdimensionalen Modell ausgegangen werden, das sich zwischen den Polen ›Sprache der Nähe‹ und ›Sprache der Distanz‹ aufspannt. Mit Blick auf die Herausbildung der neuen Medien und ihrer ganz spezifischen Kommunikationsbedingungen hat das Modell sowohl Kritik als auch Modifikationen erfahren, die eine adäquatere Adaption auf neue mediale Kommunikationsformen ermöglichen.26 So erweitern Mathilde Hennig und Vilmos Ágel das Modell um zusätzliche Ebenen und Parameter, wie Zeitgebundenheit bzw. Zeitfreiheit bei der Produktion und Rezeption sprachlicher Äußerungen, die Verfügbarkeit unterschiedlicher sprachlicher Codes (verbaler, non-verbaler Code) oder die Rollendynamik, die sich aus der möglichen Alternanz von Produzenten- und Rezipientenrolle ergibt. Auf diese Weise lassen sich die vielschichtigen Beziehungen zwischen Kom24 | P. Koch/W. Oesterreicher: Sprache der Nähe, S. 17. 25 | Merkmale der Nähesprache sind u.a. Dialogizität, Vertrautheit der Kommunikationspartner, face-to-face-Kommunikation, Spontaneität, Prozesshaftigkeit der Versprachlichung, geringere Planbarkeit der Äußerung, während sich die Sprache der Distanz durch Monologizität, Fremdheit der Kommunikationspartner, räumliche Distanz, Reflektiertheit und größere Planbarkeit auszeichnet. Vgl. P.Koch/W.Oesterreicher: Sprache der Nähe, S. 23. 26 | Vgl. M. Hennig/V. Ágel: Überlegungen,S. 179-216.
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munikationsbedingungen und der konkreten Versprachlichung von Äußerungen besser fassen.27 Auf diesem Kontinuum aus Nähe- und Distanzkommunikation ist auch der Einfluss der Ausrichtung auf die potentiellen Adressaten internetbasierter Kommunikation zu situieren: Wenngleich weite Teile der Kommunikation in bzw. über das Internet schrankenlos für alle Nutzer zugänglich sind 28, richten sich nicht alle Kommunikate auch an eine unbestimmte Menge an Rezipienten. Während Blogs oder Websites potentiell alle User adressieren, sind die Postings in Chatcommunities oder Webforen – trotz ihrer öffentlichen Sichtbarkeit – in der Regel an die Mitglieder der jeweiligen Community gerichtet. Mit der Ausrichtung auf die potentiellen Rezipienten gehen auch unterschiedliche Ansprüche an die jeweilige Sprachäußerung einher. Wie Beispiel (3) belegt, kann die Textproduktion in privater Kommunikation durchaus einen geringeren Grad an Formalität und Normenorientierung aufweisen, wohingegen ein an ein unbekanntes Publikum gerichteter Beitrag wie etwa ein Wikipedia-Artikel stärker den Normen der Standardsprache verpflichtet sein mag, um die Seriosität und Vertrauenswürdigkeit des Geschriebenen zu erhöhen. Dass eine pauschale Situierung von sprachlichen Äußerungen im Kontinuum zwischen Nähe und Distanz, konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht möglich ist, macht der Vergleich zwischen den Beispielen (2) und (3) deutlich. Obwohl beide einer interaktionsorientierten Schreibhaltung entspringen, weist Beispiel (2) weniger Merkmale der mündlichen Kommunikation auf als Beispiel (3). Auch innerhalb der einzelnen Beiträge lassen sich Unterschiede feststellen. Der Planungs- und Evaluationsaufwand in der Äußerung von P 1 in Beispiel (2) scheint geringer gewesen zu ein als der von P 2, was etwa durch den Tippfehler »wichitg« deutlich wird, der vor dem Abschicken nicht korrigiert wurde. Auch das Weglassen des Subjektpronomens bei »fände es wichitg« kann als Merkmal mündlichen Sprachgebrauchs betrachtet werden. Darüber hinaus jedoch sind auch zahlreiche Merkmale der Distanzsprache enthalten: Der Beitrag weist eine relativ hohe Informationsdichte auf, er ist sprachlich durchaus elaboriert und zeugt von einer Reflektiertheit über 27 | Vgl. M. Hennig/V. Ágel: Überlegungen, S. 184. 28 | Anders gelagert ist der Fall bei E-Mails und Messengerdienst-Mitteilungen, die an eine klar definierte Gruppe von Personen gerichtet und nicht öffentlich zugänglich sind.
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die zugrundeliegende Fragestellung, nämlich, ob es nicht sinnvoller wäre, zwischen Gentechnik und Biotechnologie dezidiert zu unterscheiden. Im Vergleich der Beispiele (2) und (3) wird erkennbar, dass eine interaktionsorientierte Schreibhaltung nicht zwangsläufig mit dominanten Merkmalen der Nähesprache bzw. der konzeptionellen Mündlichkeit einhergehen muss, sondern dies von weiteren Faktoren wie den Interaktionspartnern, dem Thema und/oder der Funktion des Diskurses abhängig sein kann. Welche sprachwissenschaftlichen Beobachtungen lassen sich nun, vor dem Hintergrund dieser methodologischen Vorbemerkungen, über Schreibpraxen, wie sie in Beleg (3) zu finden sind, machen? Zu finden sind hier, wie oben schon ausgeführt, zahlreiche Elemente einer nähe-sprachlichen Kommunikation, die jedoch medial graphisch umgesetzt werden muss. Damit verbunden sind Einschränkungen, die durch dem Medium entsprechende neue Versprachlichungsstrategien ausgeglichen werden müssen. So lassen sich beispielsweise nonverbale sowie emotive Aspekte einer face-to-face-Kommunikation nur durch die Verwendung speziell kodierter graphischer Zeichen ersetzen. Hierzu zählen die im Textausschnitt verwendeten Emoticons (xD, ^^, :D), mit denen ironisch oder spaßig gemeinte Ausdrucksweisen gekennzeichnet werden, aber auch Adressierungen (@all), mit denen ein Gesprächsteilnehmer deutlich machen kann, an wen sich seine Äußerung wendet. Zum anderen erfordert der Druck, entsprechend schnell auf ein Posting zu reagieren, um die Unterhaltung am Laufen zu halten, eine Beschleunigung der Tippgeschwindigkeit. Dies erklärt u.a. die auftretenden Abweichungen von der standardsprachlichen Norm wie die Nicht-Markierung von Kompositaschreibung (»wii u Teil«, »Sony konsole«, »Nintendo Titel«, »pleite geht«)29, Nicht-Kennzeichnung von Vokallänge (»par«) oder die Verwechslung von ›dass-das‹ (»ich hoffe das Nintendo […] pleite geht«). Diese Abweichungen vom orthographischen Standard werden jedoch häufig nicht thematisiert, sondern – da dies bei den meisten Forumsteilnehmern auftritt – stillschweigend akzeptiert, sofern sie die 29 | Sehr häufig tritt diese Getrenntschreibung von Determinativkomposita bei Kombinationen mit einem Produkt- oder Unternehmensnamen oder aber einem fremdsprachlichen Bestandteil auf, wie Krause in einer größeren Studie nachweisen konnte. Vgl. O. Krause: (Falsche) Getrenntschreibung von Substantiv-Komposita, S. 78.
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Lesbarkeit des Geschriebenen nicht beeinträchtigen. Peter Schlobinski und Thorsten Sievers nehmen an, dass sich in der internetbasierten Kommunikation ein Parallelsystem zum standardisierten Schriftsystem ausbildet, welches dieses zwar nicht ersetzt, aber in Konkurrenz zu ihm steht.30 Sie konnten in ihren Untersuchungen die Entstehungen funktionaler Schriftvarianten sowie Destandardisierungsphänomene in der schriftbasierten Kommunikation beobachten, die auf Rückkopplungseffekte mit der gesprochenen Sprache zurückzuführen sind. Wie jedoch die obigen Beispiele (1) und (2) belegen, sind diese Veränderungsprozesse keineswegs generell in der internetbasierten Kommunikation zu finden, sondern stark von den Faktoren Schreibhaltung, Adressatenbezug, Textfunktion und Äußerungskonzeption beeinflusst. Allgemein ist ein deutlicher Ausbau der Versprachlichungsstrategien im Bereich der interaktionsorientierten Textproduktion zu konstatieren, der nach bisherigen Erkenntnissen jedoch kaum den Bereich der textorientierten Textproduktion berührt.31 Möglicherweise hängt dies auch damit zusammen, dass sich in Kommunikationsformen (allen voran in kollaborativen), in denen das Produkt Text im Fokus steht, Instanzen der Selbstregulierung etabliert haben, die die Einhaltung von standardsprachlichen Normen stärker durchsetzen. Die sich auf diese Weise herausbildenden Versprachlichungsstrategien in der internetbasierten Kommunikation reagieren also auf eine Vielzahl unterschiedlicher, die Kommunikationssituation und die medialen Bedingungen begleitende Faktoren. Welche Auswirkungen dies für die schriftliche »Offline«-Kommunikation haben wird, lässt sich noch nicht abschätzen.
V om V erfall der deutschen K ulturspr ache ? Diese Frage jedoch ist häufig mit kulturpessimistischen Ängsten vor einem Verfall der deutschen Sprache verbunden. Das plakativ Normabweichende von Chat-, Foren-, oder anderen schriftlichen Beiträgen, die stärker einer konzeptionellen Mündlichkeit verhaftet sind, wird häufig als Beleg für fehlende Ausdrucks- und Rechtschreibkompetenzen der 30 | Vgl. P. Schlobinski/T. Sievers: Deutsche Weblogs, S. 17f. 31 | A. Storrer: Sprachverfall, S. 191.
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Schreibenden gesehen und postuliert, dass diese sich in anderen Kommunikationssituationen nicht den geltenden Normen und Konventionen anzupassen wüssten. Zudem wird befürchtet, dass bestimmte Versprachlichungsstrategien der internetbasierten Kommunikation auf andere Kommunikationsformen übergreifen könnten, etwa die Verwendung von Emoticons oder Akronymen wie lol oder rofl in Textsorten der konzeptionellen Schriftlichkeit. Obwohl bislang keine derartigen Tendenzen konstatiert werden konnten,32 halten sich diese Befürchtungen hartnäckig. Die Debatte um einen angeblichen Verfall der Sprache beruht damit auf Wahrnehmungsunterschieden und einer Skepsis gegenüber sprachwissenschaftlichen Befunden. Während etwa die Linguisten einen Ausbau des Vokabulars und eine Ausdifferenzierung der Einsatzmöglichkeiten der Sprache konstatieren, wird häufig ein vermeintlicher Verlust an Wörtern der deutschen Hochsprache ausgemacht. Der gefühlte Sprachverfall hat seinen Ausgangspunkt in einer Vorstellung von Sprache als einem homogenen, fest verbindlichen Normen und Regeln unterworfenen Konstrukt, das seine beste – und damit nachahmenswerte Ausprägung in der Sprache kanonisch gewordener Schriftsteller hat. Diese Form der Sprachbetrachtung lässt jedoch unberücksichtigt, dass Sprache ein vielschichtiges Gebilde aus verschiedenen Varietäten, Registern, Stilschichten ist, die in unterschiedlichen Kommunikationssituationen Anwendung finden. Zum anderen trägt sie nicht der Tatsache Rechnung, dass auch Kodifizierungs- und Standardisierungsprozesse auf Aushandlungen zwischen übergeordneten Normvorstellungen und Sprachusus, also dem tatsächlichen Sprachgebrauch, beruhen. Dass derartige Prozesse niemals als abgeschlossen betrachtet werden können, ist der Dynamik lebendiger Sprachen geschuldet, die durch gesellschaftliche, technische, politische, kulturelle Einwirkungen einem stetigen Wandel unterworfen sind. An diesem Wandel haben alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft in unterschiedlichem Maße Anteil. Durch den massenhaften Gebrauch der Schriftsprache im alltäglichen Kommunizieren, wie er heute zu konstatieren ist, werden über kurz oder lang auch Schreibformen, die heute noch als fehlerhaft betrachtet werden, in den Normenkanon aufgenommen werden. Dies ist jedoch kein Anzeichen von Sprachverfall, sondern eine Reaktion auf den Sprachusus. Ähnliches hat es in
32 | Vgl. ebd., S. 185.
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der Vergangenheit immer schon gegeben.33 Dennoch ist ein Bewusstsein für ein situations- und kommunikationsformgerechtes Sprachhandeln wichtig und notwendig. So muss einem Schreiber klar sein, in welcher Kommunikationssituation eine eher der konzeptionellen Mündlichkeit verpflichtete Äußerung möglich ist und wann dies aufgrund geltender Normen sanktioniert wird. Durch den Einfluss der neuen Medien und den großen Zuspruch, den die verschiedenen Formen internetbasierter Kommunikation erfahren, verändert sich die deutsche Sprache. Die medialen Bedingungen der Kommunikation wirken sich auf die Produktion von geschriebenen Texten aus, je nach Schreibhaltung und Kommunikationsform in unterschiedlichem Maße zwar, aber auf lange Sicht doch nachhaltig. Die Sprache wird den kommunikativen Bedürfnissen ihrer Sprecher sowie den technischen Voraussetzungen angepasst. Angelika Storrer weist in ihrem Aufsatz zur internetbasierten Kommunikation darauf hin, dass die zu beobachtenden sprachlichen Veränderungen im größeren Kontext von Ausbauprozessen der Versprachlichungsstrategien zu sehen sind, die darauf ausgerichtet sind, die Realisierung sprachlicher Äußerungen unter den medialen und kommunikativen Bedingungen zu optimieren. Derartige Ausbauprozesse lassen sich für alle Kultursprachen feststellen. Ihr zufolge wäre es »aus sprach- und varietätengeschichtlicher Sicht eher bedenklich, wenn sich das Deutsche in diesem Bereich nicht ausdifferenzieren würde.«34 Sprachkritische Ansätze haben mit Sicherheit ihre Berechtigung, schließlich ist es eine der Meriten der Kodifizierungsbemühungen in der deutschen Sprache, eine Schriftsprache herausgebildet zu haben, die sowohl der Erfassungs- als auch der Aufzeichnungsfunktion, die als grundlegende Aufgaben von Schreibung verstanden werden, gerecht wird.35 Texte, die einer geregelten Orthographie unterworfen und einem 33 | So wurde etwa in der Modifikation der Rechtschreibreform 2006 darauf reagiert, dass bestimmte Phraseologismen von den Schreibenden bereits als Einheiten und nicht mehr als Mehrwortwendungen wahrgenommen werden. Daher ist die Zusammenschreibung von schiefgehen (im Sinne von ›nicht funktionieren‹) nach dem amtlichen Regelwerk nun ebenso zulässig wie die Getrenntschreibung (schief gehen). 34 | A. Storrer: Sprachverfall, S. 176. 35 | D. Nerius (Hg.): Deutsche Orthographie, S. 28.
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logischen und kohärenten Auf bau verpflichtet sind, erleichtern es den Rezipienten, ihre Inhalte zu erfassen. Gleichzeitig wird den Schreibenden aber auch eine Richtschnur an die Hand gegeben, nach welchen Regeln und Mustern sie unterschiedliche Textsorten verfassen sollen. Die Herausforderung für die Zukunft ist es, angesichts der Vielfalt neuer Kommunikationsformen die Voraussetzungen für ein situationsund textsortenadäquates Sprachhandeln zu schaffen. Hier ist nicht zuletzt die didaktische Vermittlung im Rahmen des Schulunterrichts in der Pflicht, die Kindern und Jugendlichen die Fähigkeit zur Differenzierung verschiedener Text- und Gesprächssorten und Kommunikationssituationen vermitteln muss. Nicht der Sprachwandel ist das Problem, sondern der Umgang mit ihm.
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GoPro-Vision und involvierter Blick: Neue Bilder der Kriegsberichterstattung Florian Krautkrämer
Es gibt keinen Krieg ohne Selbstdarstellung, schreibt Paul Virilio am Anfang von Krieg und Kino.1 Für die Medien Fotografie und Film bedeutet das bei Virilio eine apparative und strukturelle Parallele von Film- und Kriegsindustrie. Mit jedem neuen Krieg und den Bildern, die er hervorbringt, wird zudem das realistische (Abbildungs-)Potential der aktuellen Medien neu verhandelt, wobei sich das Feld zwischen zwei extremen Polen aufspannt: dem der militärischen Nutzung, die an Übersichtlichkeit und Aufklärung zur Feindbekämpfung interessiert ist, und der zivilen Kriegsberichterstattung, die das Ausmaß von Leid und Zerstörung dokumentiert. Für die Zivilisten, die diese Dokumente wahrnehmen, entstehen dabei neue Herausforderungen, mit dem darauf abgebildeten Leid umzugehen. Von den Fotografien der Toten auf den Schlachtfeldern des Sezessions- bis hin zu TV-Bildern des Vietnamkrieges mussten sich ihre Rezipienten mit den oft grauenvollen Abbildungen auseinandersetzen.2 Aktuell wird die Debatte über das (aus technischer Sicht) Mögliche und (unter Rezipientenperspektive) Erträgliche anhand der Aufnahmen aus dem syrischen Bürgerkrieg geführt, von denen täglich neue auf verschiedenen Plattformen im Internet auftauchen. Zum ersten Mal wird dabei gleichzeitig ein Archiv aufgebaut, in dem sich die Entwicklung nicht nur dieses Konflikts, sondern auch der dabei entstehenden Bilder nachverfolgen lässt: von den verpixelten Aufnahmen aus Handykameras bis zum GoPro-Footage in fullHD, von in einer Einstellung gefilmten Demonstrationszügen zu Kompilationen zerfetzter Körper. Viele Videos zeigen 1 | P. Virilio: Krieg und Kino, S. 10. 2 | Vgl. dazu u.a. S. Sontag: Das Leiden anderer betrachten.
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extreme Gewalt und Brutalität, und sie sind nicht einfach anzusehen. Auch wenn die eigene Befindlichkeit angesichts des betrachteten Leids eigentlich zurückstehen sollte, ist das Unbehagen gegenüber diesen Bildern auch jenseits des expliziten Inhalts gerechtfertigt: Was ist darauf zu sehen, wer kämpft und stirbt warum? Selten geben die Videos eindeutig Aufschluss über diese Fragen. Auch diejenigen Aufnahmen aus dem Arabischen Frühling, die Demonstrationen und keine kriegerischen Kämpfe zeigen, hinterlassen Fragen: Wer nahm das wieso und für wen auf, zu welchem Zweck wurde es hochgeladen? Die Antwort darauf kann nicht mehr wie bei den klassischen Nachrichten oder dem Dokumentarfilm im Dispositiv selbst gefunden werden, die Aufnahmen stammen nicht von einem unabhängigen Reporter oder Angestellten eines Senders. Wir haben es nicht nur mit einem neuen Typus von Bildern zu tun, sondern mit neuen Bildern in einem neuen Distributionssystem, das uns nicht mehr durch das implizite Vertrauen auf geprüfte Quellen in Sicherheit wiegt, weil die einzelnen Quellen nun in einem Strom von Bildern aufgehen. Objektivität und Information stehen hier weniger im Vordergrund, da die neuen Arten der Aufnahme und Verbreitung (Handys, GoPros, YouTube, facebook) in viel stärkerem Maße als bisher die Subjektive und das technische Werkzeug, das zur Bildherstellung und -verbreitung gewählt wurde, betonen: In diesem Krieg werden die Medien der Selbstdarstellung genutzt.
D er involvierte (K amer a -)B lick Die Aufnahmen, die 2011 im Zusammenhang mit dem Arabischen Frühling vor allem in Tunesien und Ägypten entstanden, erfüllten verschiedene Zwecke. Nur ein kleiner Teil wurde im Internet auf Plattformen wie YouTube sichtbar, die Menschen filmten, um Erinnerungsstücke zur Anschlusskommunikation in späteren Meetings zu haben,3 aber auch, um dem Regime zu zeigen, dass es beobachtet wird und seine Reaktionen auf die Proteste weltweit sichtbar sind. Wie sich diese Aspekte auch ineinander verschieben, zeigt u.a. der Dokumentarfilm Al Midan (The Square) (Ägypten/USA 2013, Jehane Noujaim). Waren die Aufnahmen hier an-
3 | Vgl. F. Ebner/U. Bergermann/K. Peters: Kairo. Offene Stadt, S. 98.
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fangs noch ein Nebenprodukt, werden sie bald zum zentralen Mittel im Kampf gegen das Regime.4 Auf die spezielle Rolle der Kamera als Machtdispositiv bei diesen Demonstrationen hat Judith Butler in einem Aufsatz bereits 2011 hingewiesen.5 Neu war nicht die Form des Protests, der sich vor allem in großen regelmäßig stattfindenden Demonstrationen artikulierte, sondern seine Sichtbarkeit. Nicht einige wenige Kameras warfen einen privilegierten Blick auf die Menschen, sondern hunderte filmten sich selbst aus der Menge heraus. Das visuelle Resultat war dabei ebenso wichtig wie die Verbindung zum Körper des Filmenden, auf den die Aufnahmen durch Standpunkt, Qualität6 und Kameraführung hinwiesen. Butler betont, dass diese Körper verletzlich sind, und sie setzen sich einer noch größeren Gefahr aus, indem sie eine Kamera benutzen und deswegen zur Zielscheibe des Regimes werden. Diese Bilder sind nicht allein Dokument und Gebrauchsgegenstand (was nicht heißt, dass sie das im internationalen Verwertungsfluss der Nachrichten nicht auch werden können), sondern sie sind Teil des Kampfes um Sichtbarkeit, sie sind kein Nebenprodukt, sondern zutiefst politisch, da sie konkret an der Aufteilung von Sichtbarem und Unsichtbarem beteiligt sind, an der Öffnung und Veränderung symbolischer Ordnungen.7 Deswegen spielen die Medien hier eine so große Rolle, sie erweitern den eingenommenen Raum, so dass sich die Geschehnisse eines Landes auf einer Verkehrsinsel verdichten können. Potent wird diese Szene vor allem, weil die Medien nicht bloß darüber berichten, sondern selbst Teil des Geschehens, des Zwischenraums sind und damit das körperliche Erscheinen entscheidend unterstützen, gleichzeitig aber auch das Verhältnis von Körper und Medium in neue Zusammenhänge bringen: „the media is the scene or the space in its extended and replicable visual and audible dimensions“, schreibt Butler,8 weist aber gleichzeitig darauf hin, dass diese Ausdehnung des Raumes ins Virtuelle (und damit in angrenzende und westliche Länder) mit der zurückgelassenen, erhöhten Verletzlichkeit der kameratragenden Körper einhergeht. 4 | Vgl. hierzu F. Krautkrämer: Revolution uploaded, S. 116f. 5 | J. Butler: Bodies in Alliance and the Politics of the Street. 6 | Zur Qualität inoffizieller Nachrichtenbildern vgl. H. Steyerl: In Defense of the Poor Image, sowie J. Fiske: Videotech, S. 383-391. 7 | Vgl. zu diesem Begriff von Politik J. Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. 8 | J. Butler: Bodies in Alliance, Hervh. i. O.
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D ie performative K amer a In vielen Clips aus dem Arabischen Frühling oder dem Syrischen Bürgerkrieg gibt es einen Informationsüberschuss: Handelt es sich um eine zufällige Aufnahme eines wichtigen Ereignisses oder ist das Filmen des Alltäglichen intendiert? Inzwischen reagieren die Uploader darauf und trimmen die Clips auf die wenigen zentralen Sekunden, versehen sie mit einem aussagekräftigen Titel, der mit seinem Versprechen von expliziter Gewalt Clicks generieren soll, oder kombinieren verschiedene Aufnahmen zu Kompilationen mit zentralen Motiven. Viele der ursprünglichen Clips sind jedoch länger und ungeschnitten (raw, roh, so der für ein bestimmtes Publikum verheißungsvolle Hinweis im Titel) und zeigen Bilder, die in der Berichterstattung üblicherweise nicht zu sehen sind. Damit ist nicht die explizite Gewalt gemeint, sondern Fehler, Leerstellen, die sonst herausgeschnitten werden, um das Material zu verdichten. Es wird viel gelaufen in den Videos, gerannt, die Kamera wechselt von der einen in die andere Hand, fällt hin. So entstehen ungewöhnliche Winkel und Aufnahmen, die nicht mal mehr gegenständlich genannt werden können, Farbflächen und Kompressionsartefakte dominieren zeitweise.9 Außerdem sind die Filmenden keine Unbeteiligten, man hört sie hinter der Kamera reden, sie sprechen die Menschen vor dem Objektiv an, der Raum hinter der Kamera wird spürbar und thematisiert. In einigen wenigen Fällen findet eine besonders drastische Betonung des hors-cadre statt, des Raums, zu dem die Kamera gehört: wenn der Filmende beim Filmen erschossen wird. Rabih Mroué hat mit seiner Performance-Lecture The Pixelated Revolution darauf hingewiesen.10 Dass Butler die besondere Körperlichkeit von Kamera und Filmenden betont, liegt auch daran, dass die subjektive Einstellung und der sogenannte Point of View (POV) mit diesem Material besonders thematisiert werden. Beide sind immer wieder Gegenstand filmtheoretischer Überlegungen gewesen, weil sich in ihnen eine Besonderheit darstellt: Der Film (und damit auch der/die Zuschauende) gibt hier die objektive Betrachter-
9 | Birgit Hein hat aus diesem Material einen Film geschnitten: Abstrakter Film (D 2013), siehe dazu das Interview: F. Krautkrämer: Medienspezifik der Revolution. 10 | R. Mroué: The Pixelated Revolution, S. 25-35.
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position auf, um mit den Augen des Protagonisten zu schauen.11 Die meisten Arbeiten dazu orientieren sich dabei überwiegend am Spielfilm.12 Vieles an Überlegungen zu Position und Konzeption der Kamera lässt sich jedoch nur schlecht oder gar nicht vom Spiel- auf den Dokumentarfilm übertragen, weil die Trennung des filmischen Raums bei Letzterem viel weniger strikt geregelt ist. So ist es beim Dokumentarfilm keine Seltenheit, dass der hors-cadre mit ins Bild rückt, Regisseur und Kameramann adressiert werden oder man direkt in die Kamera spricht, Elemente, die beim fiktionalen Film einen Tabubruch darstellen würden und meist mit Ideologiekritik in Verbindung gebracht werden.13 So stellt Branigan fest, dass die Substitution von Technik durch den Blick vor allem eine Zuschauerleistung ist, da Charakter und Kamera niemals gleichzeitig den gleichen Standpunkt einnehmen können.14 Diese Feststellung gilt für den Dokumentarfilm deutlich seltener, wenn sich Regisseur/Kamerafrau selbst thematisieren und in Szene setzen. Es gilt aber noch viel weniger für die neuen, handlichen, kleinen, tragbaren Aufnahmegeräte in Handyoder Actioncam-Form, die im Grunde keinerlei räumlicher Erweiterung zum Körper des Filmenden mehr bedürfen, da sie nicht mehr auf einem Stativ befestigt werden müssen und man sie fast überall mit hinnehmen kann. Was zunächst wie eine Debatte über Gewicht und Zentimeter erscheint, hat auch viel damit zu tun, was für ein Bild wir uns von der Kamera machen. Ein Film, der im Zusammenhang mit der subjektiven Einstellung immer wieder diskutiert wird, ist Lady in the Lake (USA 1947, Robert Montgomery), der fast ausschließlich die Perspektive des Protagonisten einnimmt. Christine N. Brinckmann führt das Misslingen dieses Films darauf zurück, dass der Film ein Medium ist, das von außen erzählt, und eine Identifikation mit einem Charakter, den man aufgrund der Subjektive nicht sieht, nur schlecht erfolgen kann.15 In ihrer phäno11 | Die Konventionen der sogenannten Filmsprache funktionieren dabei so gut, dass selbst Gegenstände wie Autoreifen eine POV-Einstellung haben können, wie im Film Rubber (F/Angola 2010, Quentin Dupieux) zu sehen ist. 12 | Vgl. dazu E. Branigan: Point of view in the cinema. 13 | Zum hors-cadre im Dokumentarfilm siehe B. Hartmann: Anwesende Abwesenheit, S. 145-160. 14 | Vgl. E. Branigan: Point of View, S. 74. 15 | Vgl. Ch. N. Brinckmann: Ichfilm und Ichroman, S. 95f.
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menologischen Filmtheorie kommt Vivian Sobchack hingegen zu einem anderen Schluss: Das Problem ist nicht die misslingende Identifikation von Zuschauer und Protagonist, sondern dass die vom Film behauptete Identifikation von Film und Protagonist nicht funktioniere.16 Anders als bei einer gewöhnlichen Subjektiven, die durch die Narration motiviert und durch die vorhergehenden und folgenden Einstellungen in diese eingenäht wird, fällt bei Lady in the Lake über den zeitlichen Rahmen auf, dass das Blickfeld der Kamera eben nicht mit dem des Menschen zusammenfällt. Sobchack zufolge misslingt der Film, weil diese behauptete Übereinstimmung zweier Blickfelder von der Zuschauerin als falsch erkannt wird.17 Das Experiment, Filme mit übereinstimmendem diegetischem Blick und Kamerablickfeld zu drehen, wurde erst wieder aufgenommen, als man genau das oben beschriebene Problem umgehen konnte, indem man nicht einen menschlichen Blick durch die Kameraeinstellung evozieren wollte, sondern den Apparat selbst thematisierte. (Horror-)Filme wie The Blair Witch Project (USA 1999, Daniel Myrick, Eduardo Sanchez), Diary of the Dead (USA 2007, George A. Romero), Cloverfield (USA 2008, Matt Reeves), [REC] (E 2007, Jauem Balagueró, Paco Plaza) oder Chronicle (USA/GB 2012, Josh Trank) verwenden eine diegetische Kamera, die das Material aufzeichnet, das man als Zuschauer dann später als Film zu sehen bekommt.18 Mit dieser Verschiebung von der Imitation eines menschlichen zu einem apparativen Blick geht auch eine Veränderung von Point of View und Subjektive einher. Denn viele Bilder in diesen Filmen geben nicht den Blick des Betrachters wieder, sondern seinen ungefähren Standpunkt. Die Kameras (Camcorder, Handys) werden häufig nicht mehr ans Auge gedrückt, sondern mit ausgestrecktem Arm vom Körper weggehalten, was Matthias Thiele als »Handygrafieren« bezeichnet.19 Wenn die Protagonistin mit der Kamera in der Hand rennt und das Bild ruckelnde Farbflächen zeigt, wenn die Kamera fallengelassen wird und die Füße des Kameramanns zu sehen sind, oder wenn der Filmende von seinem Gegenüber erschossen wird, und die Kamera nach seinem Tod noch weiter 16 | Vgl. V. Sobchack: The address of the eye, S. 236. 17 | Ebd, S. 238f. 18 | Vgl. zu diesen Filmen M. Thiele: Portable Medien. 19 | M. Thiele: Cellulars on Celluloid, S. 300f.
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aufzeichnet, dann haben wir es im Grunde mit einer Einstellung zu tun, die zwischen bereits etablierten Konzeptionen liegt: In ihrem Aufsatz Die anthropomorphe Kamera beschreibt Brinckmann die zwei Möglichkeiten der Kamera als anthropomorph und technomorph. Führt ersteres zu einer Fühlbarkeit der Person hinter der Kamera, bezeichnet letzteres »eine Kamera, deren Bilder deutlich auf den Apparat verweisen und der menschlichen Wahrnehmung wenig oder gar nicht entsprechen«.20 Die rennende oder fallende handygrafierende Kamera gibt beides wieder. Ihre Bilder verweisen deutlich auf die Person, die die Kamera hält oder fallen lässt, gleichzeitig gibt sie Bilder wieder, die in vielen Fällen einer unmöglichen menschlichen Perspektive entsprechen, die zudem durch die technischen Spuren (die durch die ungewöhnlichen Bewegungen entstehenden Gehäusegeräusche und Bildfehler) besonders stark auf den Apparat verweisen. Die Unterscheidung von anthropomorph und technomorph hilft bei den neuen kleinen Kameras nicht mehr weiter. Alexander Galloway hat daher versucht, die neuen Perspektiven mit einer stärkeren Unterscheidung von POV und Subjektive zu thematisieren, indem er den POV als den Versuch bezeichnete, eine genaue menschliche Perspektive nachzuahmen, wohingegen die Subjektive die physiologischen und emotionalen Qualitäten des Blicks mit einbeziehe.21 Was hier als Subjektive bezeichnet wird, ist ein Blick, der durch Filter eingefärbt werden darf, der überbelichtet ist, um Gefühle zu visualisieren, der aber immer noch an das menschliche Auge gebunden ist. Steven Shaviro löst hingegen in einem ähnlich gelagerten Beitrag den Blick vom reinen Sehen und erweitert ihn auf den gesamten Körper. Zwar benutzt er auch den Ausdruck der subjektiven Kamera, schreibt ihr aber nicht mehr bloß die Übernahme des menschlichen Blickes zu, vielmehr steht sie für den gesamten Körper, der sich im Raum bewegt: »These sequences are tactile, or haptic, more than they are visual. The subjective camera doesn’t just look at a scene. It moves actively through space. It gets jostled, it stops and starts, it pans and tilts, it lurches forward and back. It follows the rhythms of the whole body, not just that of the eyes. This is a presubjective, affective and not cognitive, regime of vision.« 22 20 | Ch. N. Brinckmann: Die anthropomorphe Kamera, S. 277. 21 | A. R. Galloway: Origins of the First-Person Shooter, S. 41. 22 | S. Shaviro: Regimes of Vision, S. 62.
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Diese Subjektive, die Shaviro anhand des Films Strange Days (USA 1995, Kathryn Bigelow) beschreibt, die bezüglich der Bewegungsmöglichkeiten und nicht des realistischen Blickfeldes an den menschlichen Körper gebunden bleibt, möchte ich in dem Konzept von Brinckmann zwischen der anthropomorphen und technomorphen Kamera positionieren. Denn was bei Shaviro fehlt, für den vorliegenden Zusammenhang aber noch nötig ist, ist der explizite Verweis auf den Apparat. Die oben erwähnten Camcorder-Filme und das cell phone footage aus dem arabischen Frühling zeigen Aufnahmen, die die Personen hinter der Kamera durch Bewegung oder ihre Stimme miteinbeziehen, und gleichzeitig den Aufnahmeapparat deutlich betonen. Sie sind anthropomorph, weil Menschen die Kameras halten, und sie sind technomorph, weil sie Bilder zeigen, die gleichzeitig so nicht von Menschen gesehen werden können, und weil sich das Aufnahmegerät deutlich als Spur in das Bild mit einschreibt.23 Diese Art der Kamera möchte ich die performative Kamera nennen.24 Die performative Kamera bezeichnet die subjektive Einstellung der Kamera. Es handelt sich dabei nicht nur um die Wiedergabe ihres ›Blicks‹, sondern auch ihrer Positionierung im Bild selbst, in der Hand der Filmenden. Entscheidend ist dabei auch, dass der gesamte Film, oder zumindest ein großer Teil davon, aus dieser Perspektive gedreht wurde und die Aufnahmen nicht durch die angrenzenden Einstellungen narrativ vernäht werden, indem man bspw. durch eine objektive Einstellung von außen zeigt, wer das Gesehene eben gefilmt hat. Die Bilder der performativen Kamera sind nicht qualitativ minderwertig im Vergleich zu den sonst üblichen ›normalen‹ Einstellungen, sondern sie zeichnen andere Bilder auf. Es braucht bei der performativen Kamera nicht mehr den äußeren Verweis auf die Kamera, weil man als Zuschauerin inzwischen weiß, warum diese Bilder so aussehen. Dass überall, in Handys und kleinen Fotoapparaten, Videokameras vorhanden sind, weiß man ebenso, wie man auch die Bilder kennt, die damit entstehen, die verwackelt und verpixelt sind oder ungewöhnliche Perspektiven zeigen. Diese Vertrautheit mit den Bildern, die sowohl durch 23 | Zu Spur und Medium siehe S. Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat. 24 | Eine ausführliche Herleitung dieses Begriffs ist an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich. Ich beziehe mich bei diesem Begriff auf Stella Bruzzis Prägung des performativen Dokumentarfilms, womit sie neuere Dokumentarfilme bezeichnet, die selbstreflexiv sind, ihre Gemachtheit deutlich ausstellen und dabei auch Brüche nicht verbergen. Vgl. St. Bruzzi: New documentary, S. 185ff.
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Rezeption als auch Produktion entsteht, ist es, die die meisten Rezipienten dieser Filme und Clips dazu ermächtigt, Ton- und Bildartefakte sowie Perspektiven schnell und zuverlässig den jeweiligen Gegebenheiten zuzuordnen. Dadurch lässt sich das Konzept auch erweitern. Die performative Kamera ist nicht auf die handheld devices beschränkt, sondern die gleichzeitige Betonung von Kamera und Filmenden gilt auch für montierte Systeme wie die GoPro. Diese lässt sich durch ihre geringe Größe und Leichtigkeit (weniger als 200 Gramm) zum einen direkt am Körper (Brust, Helm) befestigen, aber mit speziellem Equipment und dank ihrer Robustheit auch an anderen beweglichen Gegenständen wie Surf brettern oder Panzern. Obwohl diese Einstellungen stark technikzentriert sind (sie sind nur durch einen neuartigen Kameraapparat möglich), handelt es sich nicht allein um eine technomorphe Kamera. Es ist nicht allein der Apparat, der hier betont wird, sondern ebenso der Mensch, der ihn aufgebaut hat. Werbung, YouTube und die eigene Aufnahmepraxis führen auch hier dazu, dass man die speziellen Aufnahmewinkel sowie die Spuren des Apparates schnell dem speziellen »GoPro-Stil«25 zuschreiben kann. Die GoPro ist kein teures Spezialgerät, sondern ein Gadget, ein Apparat, der durch die Benutzer-freundlichkeit auf eine breite Käuferschicht abzielt. Im Gegensatz zu den Phantom Rides des frühen Kinos26, bei denen die Kamera auf einem Zug montiert wurde, um die Fahrt zu filmen, besteht die GoPro-Vision aus einem komplexeren Geflecht von produsability27, das die leichte und ubiquitäre Verfügbarkeit sowohl der Technik als auch der Bilder und Anleitungen für diese Bilder mit einschließt, sowie ihre Verbreitung im Internet. In ihrer impliziten Betonung des Technischen ist die GoPro-Vision ähnlich der unmöglichen Einstellung, die Francesco Casetti in seiner Beziehung von Zuschauer und Film beschreibt. Casetti stellt vier verschiedene Arten von Zuschaueradressierungen vor: die objektive Einstellung, 25 | Der Name GoPro wird hier synonym verwendet für vergleichbare Aufnahmesysteme. Der Begriff »GoPro-Vission« bezieht sich stärker auf den Einfluss eines spezifischen Apparates auf das Bild, die performative Kamera wäre hier als Überbegriff zu verschiedenen Camera-Visions zu verstehen. 26 | Zu der Praxis, im frühen Kino die Kamera vorne auf einen Zug zu montieren, siehe u.a. Ch. Musser: The emergence of cinema, S. 228f. 27 | Zum Produser siehe A. Bruns: The Future Is User-Led.
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den Blick in die Kamera, die Subjektive und die unmögliche objektive Einstellung, mit der er bspw. eine Kranfahrt bezeichnet.28 Diese Einstellungen unterscheiden sich von den gewöhnlichen objektiven Einstellungen durch die plötzliche Betonung der Technik. Wird bei normalen Einstellungsfolgen wie beim Schuss-Gegenschuss-Verfahren die Kamera selbst unsichtbar und unfühlbar, betonen elaborierte Kran-, Kamera- und Steadicamfahrten die technischen Aspekte der Aufnahme, vor allem, wenn die Einstellungen nicht mehr an die Charaktere im Film rückgebunden sind, bspw. wenn die Kamera am Ende einer Szene hochfährt, um Protagonisten und Landschaft gemeinsam ins Bild zu setzen. Macht die objektive Einstellung die Zuschauerin zu einer Zeugin, zu einer Komplizin mit der Kamera, wird bei der unmöglichen objektiven Einstellung das Schauen deutlich betont: »I am the one who gazes and who makes you gaze.«29 Hängt bei Casetti diese Veränderung noch mit der Hervorhebung des technischen Apparates durch außergewöhnliche Operationen zusammen,30 ist der Effekt des ausgestellten Zeigens bei den hier beschriebenen neuen Kamerasystemen implizit, ohne dass spezielle Bewegungen ausgeführt werden müssten. Die objektive Einstellung des Spielfilms gibt es nicht bei der GoPro-Vision. Die Kamera wird in der Regel so aufgestellt oder angebracht, damit man besonders gut auf etwas hinweisen kann. Das gilt auch für die versteckte Kamera, da das Versteck in der Regel durch den Winkel oder Gegenstände, die in das Blickfeld hineinragen, besonders thematisiert wird.31 Die objektive Einstellung im klassischen Kino ist nicht eine versteckte, sondern eine ignorierte. Es ist die Betonung des Blicks, die deutliche Spur des Apparates im Bild sowie die gleichzeitige Hervorhebung von Technik und Mensch, die die Besonderheit der performativen Kamera ausmacht.
28 | Vgl. F. Casetti: Inside the Gaze, S. 50f. 29 | Ebd. 30 | »Any impression of extravagance and overbundance results less from the nature of the materials staged for the camera than from the task of the technical apparatus to present itself as the origin and finality of its own functioning« (ebd., S. 56). 31 | Zur versteckten Kamera siehe auch K. Adachi-Rabe: Abwesenheit im Film, S. 150.
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E in involvierter B lick 2 In der Filmtheorie wurde die Kamera meist als das Äußere des Films betrachtet, als ein »blinder Fleck«.32 Der involvierte Blick, den Butler in ihrem Aufsatz beschreibt, ist nicht nur einer, der die sonst übliche privilegierte, außenstehende Beobachterposition aufgibt, da seine Erzeuger Teil der Szene sind, sondern er kann auch als involviert beschrieben werden, weil die Kamera nun ebenfalls deutlich wahrnehmbarer Teil der Aufnahme ist. Substituierten die Theoretiker der Apparatusdebatte die Kamera durch den Blick des Zuschauers33 und wiesen auf die Erzeugung einer sichtbaren Welt durch die »Leugnung der Maschinerie«34 hin, so zeigt eine Analyse der performativen Kamera, dass hier eine andere Art von Apparat und seinem Verhältnis zu den erzeugten Bildwelten entsteht. Durch die spezifischen Bewegungen beim Rennen oder Fallen, das Adressieren der Filmenden durch Reden oder Schießen sowie durch die Kenntnis der Aufnahmesituation gibt es keinen hors-cadre mehr, keinen Raum hinter der Kamera (zu dem auch die Kamera selbst gehörte), der der gefilmten Szene äußerlich wäre.35 Die Sichtbarmachung des Apparates hat hier nichts mehr, wie noch in den 60er und 70er Jahren bspw. bei Godard, mit politischer Filmästhetik zu tun, sondern ist unvermeidbarer Effekt der neuen Kameras und ihrer Verwendungszusammenhänge.36 Gleichwohl gibt es ein neues Außen. Wenn Bild und Bilderzeugung aufgrund der hier genannten Punkte nicht mehr in ein Inneres und Äußeres geteilt werden sollten, dann ist das neue Außen in der nächsten Etappe zu suchen: vor dem Bildschirm. Für Filmologen und Apparatus32 | S. Lie: Die Außenseite des Films, S. 9. 33 | Vgl. Ch. Metz: Der imaginäre Signifikant, S. 77. Sowie: J.-L. Baudry:»Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus, S. 295. 34 | H. Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer, S. 59. Siehe dort auch zu einer ausführlichen Darstellung und Kritik der Apparatus- und Suturetheorie. 35 | Zum Verschwinden des hors-cadre siehe ausführlich F. Krautkrämer: Revolution Uploaded, S. 119ff. 36 | Das bedeutet nicht, dass jeder Film, jede Szene, die mit einem Handy oder einer GoPro gedreht wurde, automatisch auf den Apparat hinweist. Spielfilme, die komplett mit einer Handycam gedreht wurden, verweisen im Film selbst nicht zwingend auf den Apparat, nutzen aber diese Tatsache dann für die Werbung (vgl. dazu S. Atkinson: Beyond the Screen, S. 63.
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theoretiker war der Raum vor der Leinwand in der theoretischen Konzeption ein homogener Raum, der wahlweise Leinwand oder Zuschauer hieß.37 Mit dem Postkinematographischen hat sich inzwischen eine Pluralisierung unterschiedlichster Rezeptions- und Verwertungszusammenhänge ergeben, die sich nicht nur deutlich vom historischen Dispositiv unterscheiden, sondern auch untereinander. Die Aufnahmen können auf den Handys verbleiben oder in soziale Netzwerke hochgeladen werden, sie können Teil der offiziellen Nachrichten sein oder bei Versammlungen genutzt werden. Dieses Äußere des Films wird dadurch zu einem deutlich weniger stabilen Raum, als er das zwischen 1920 und 1980 noch war, der zudem deutlich mehr mit dem Film selbst zu tun hat. Da er häufig in einem weiteren Verwertungszusammenhang steht, könnte man ihn auch als neuen hors-cadre bezeichnen. Der hors-cadre der Apparatustheorie ist der Raum der Bilderzeugung, der vom im Bild sichtbaren Raum abgegrenzt wurde. Da der Raum der Rezipienten nun nicht mehr allein einer ist, der gegenüber dem Bild passiv bleibt, gibt es hier eine ähnlich gelagerte Beziehung zwischen Bildraum (zu dem nun der alte hors-cadre gehört) und dem neuen hors-cadre (der Raum der Rezipienten). Dieser hat nun selbst auch deutlich mehr mit der Bilderzeugung zu tun. Eine ganze Reihe von Filmen über den arabischen Frühling sowie die darauf folgenden Bürgerkriege beziehen ihr Material aus YouTube und sind zugleich auch Filme über dieses Material.38 Der involvierte Blick beschränkt sich dann nicht mehr allein auf diejenigen, die die Bilder in der Demonstration, im Kampf aufzeichnen, sondern auch auf diejenigen, die die Bilder an einem anderen Ort sehen. Die Teilhabe ist dabei natürlich eine andere, ist doch der Körper vor dem Bildschirm der Wiedergabe nicht mehr den Gefahren wie bei der Aufzeichnung ausgesetzt. Und auch ohne konkreten Weiterverarbeitungszusammenhang zeigt sich die Involviertheit beim Betrachten häufig ganz konkret. Die Clips aus dem Syrischen Bürgerkrieg, die sich auf YouTube finden, buhlen inzwischen um die Clicks mit Titeln, die echtes Blut und echte Tote versprechen, und der Zusammen37 | Vgl. zur filmophanischen Wirklichkeit E. Souriau: Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie, S. 150f. 38 | Neben den bereits aufgeführten Arbeiten von Rabih Mroué und Birgit Hein wäre hier vor allem noch der knapp achtzigminütige Essayfilm The Uprising von Peter Snowdon zu erwähnen (B/UK 2013), siehe zu diesem Film auch F. Krautkrämer: The Revolution will not be televised (but uploaded).
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stellung besonders drastischer Kompilationen. Dass YouTube dabei keine neutrale Plattform und das eigene Zuschauerverhalten keines außerhalb konkreter Verwertungskreisläufe ist, zeigen nicht nur die Vorschläge und Anzeigen, die neben den Clips auf der Seite auftauchen, sondern auch die Werbebanner direkt im Bild: In einem Video der russischsprachigen und pro-Assad-orientierten Abkhazian Network News Agency kann man aus der Perspektive einer auf einen Panzer montierten GoPro in das Gefecht gegen die syrischen Rebellen fahren, während in den am unteren Bildrand eingeblendeten Werbebannern glückliche junge Menschen zu sehen sind, die für die James-Cook-University in Singapur werben.39 Hier geht es nicht mehr nur um das moralische Problem der Übernahme einer Perspektive. Mit dem Sehen wird ganz konkret Geld für eben diese generiert, da das Abspielen des Clips mit der Werbung das Abkhazian Network finanziell unterstützt. Auch das ist ein involvierter Blick. Abbildung 1: HD Tanks with GoPro‘s™ Attack 2 Rebel Strongholds in Jobar Syria **subtitled**
YouTube-Video, hochgeladen von Tanks in Space am 19.4.2014
39 | Das Video wirbt zudem im Titel mit der speziellen Kameraperspektive: „Tanks with GoPro™“.
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Möglichkeitsräume
Personen verwalten oder Personen sein (müssen)? Normen der Privatheit (nicht nur) in der digitalen Kommunikation Tobias Matzner
1. »On the internet, nobody knows you’re a dog«. So lautet die Bildunterschrift einer der bekanntesten Karikaturen1 aus den frühen 1990er Jahren, als das Internet für private AnwenderInnen in der Breite verfügbar wurde. Diese Zeichnung, die einen Hund beim ›Websurfen‹ zeigt, wurde zum Symbol für die Vorstellung des Internets als absolut freiem Raum, in dem man sich unabhängig von der Person, die man im real life ist, vollkommen neu erfinden könne. Mit dieser Vorstellung verbanden sich Hoffnungen auf eine befreiende und emanzipatorische Kraft: All die Formen von Diskriminierung, z.B. bezüglich Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft, sexueller Orientierung oder sozialer Schicht solle man hinter sich lassen können, wenn man den Cyberspace oder die ›virtuelle Realität‹ betritt.2 Heute, gut zwei Jahrzehnte später, erscheint diese Hoffnung als reichlich naiv. Die Vorzeichen haben sich geradezu umgekehrt: Während das Internet ein Raum der Kommunikation sein sollte, die nahezu völlig von der Privatperson vor dem Rechner absehen könne, sehen viele im Internet heute die größte Bedrohung für die Privatheit. Mitunter wird das
1 | Karikatur von Peter Steiner im New Yorker vom 5. Juli 1993, vgl. Abbildung im entsprechenden Artikel der Wikipedia. 2 | Eine der bekanntesten Formulierungen dieser Hoffnung findet sich bei John Perry Barlow, vgl. J. P. Barlow: A declaration of independence of cyberspace.
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sogar so formuliert, dass in den online gespeicherten Daten mehr Wissen über die Person zu finden sei, als im ›wirklichen‹3 Leben dieser Person. Diese Einschätzung wurde sicher durch die Enthüllungen von Edward Snowden über die Tätigkeiten nahezu aller westlichen Geheimdienste im Netz maßgeblich verstärkt. Aber auch die Bemühungen der großen Internetkonzerne, alle Dienste auf ein Nutzungskonto zu vereinen – einschließlich der ganzen Mobilkommunikation – tragen dazu bei. Zumal diese Konten zunehmend mit Klarnamen und weiteren Informationen wie Bank- oder Kreditkartendaten verbunden sein müssen, um den vollen Umfang der angebotenen Dienste nutzen zu können. Aber auch schon zuvor hat die weitaus größte Zahl der NutzerInnen es vorgezogen, mit Informationen über sich selbst im Internet unterwegs zu sein und nicht mit frei erfundenen alter egos:4 Blogs, Tweets, Seiten in sozialen Netzwerken, Forumsbeiträge, Mailinglisten und vieles mehr geben Einblick in das Leben von Menschen. Dennoch sind das nicht einfach Abbilder oder Informationen über Personen und Geschehnisse im ›echten‹ Leben. Viele der Webauftritte – das dem Theaterkontext entlehnte Wort ›Auftritt‹ deutet das schon an – sind sorgsam komponiert und oft hat eine Person viele Erscheinungsbilder im Netz, die sich an unterschiedliche Gruppen richten: FreundInnen, KollegInnen, zu Zwecken der Werbung und Bewerbung, der Partnersuche oder des beruflichen Networking. Der im Web surfende Hund bleibt also insofern relevant, als man im Netz zwar selten frei erfundenen Personen begegnet, aber doch mehr oder weniger bewusst gestalteten. Damit – und das ist eine der wichtigsten Grundlagen für meine Überlegungen – unterscheidet sich Kommunikation online nicht wesentlich von der Interaktion offline. Denn auch letztere ist strukturiert von mehr oder weniger bewusst gestalteten Erscheinungen – Sprache, Kleidung, 3 | Weiter unten wird deutlich, dass eine Unterscheidung in echtes und virtuelles Leben nicht sinnvoll ist. 4 | Dies gilt zumindest für Nordamerika und Europa. Auf diese beiden Erdteile wird sich dieser Artikel auch beschränken – was für Aufsätze über ›das Internet‹ oft der Fall und meistens problematisch ist. Da Vorstellungen von Privatheit und persönlicher Identität aber extrem variieren, müssen diese in einem bestimmten Kontext behandelt werden – hier eben der europäische und nordamerikanische. Es bleibt aber wichtig zu betonen, dass damit das hier gesagte nicht für ›das Internet‹ allgemein gilt.
Personen ver walten oder Personen sein (müssen)?
Gestus usw. Natürlich gibt es Aspekte unserer Erscheinung für andere, die man nur schwer beeinflussen kann. Doch das gilt online wie offline. Allerdings sind die Aspekte, die sich beeinflussen lassen, und jene, die sich nicht so einfach beeinflussen lassen, in jedem Kommunikationskontext andere. Was genau hier beeinflussbar ist und wer was kontrolliert, sind somit wichtige Unterscheidungsmerkmale für verschiedene Kommunikationskontexte, die deutlich nuancierter und differenzierter sind, als die Trennung zwischen offline und online. So gibt es viele Fälle von Personen, die sich auf einer Plattform in Internet nicht wohlfühlen, weil sie ihre Aktivitäten in ein Raster pressen müssen, in dem sie sich nicht wiederfinden. Solche Kritik hat etwa dazu geführt, dass die Anzahl der Geschlechtsidentitäten auf Facebook von zwei auf über 50 erweitert wurde – im Namen der Möglichkeit, sein »true, authentic self« nun auch auf Facebook sein zu können.5 Das darf aber nicht dazu verleiten, einen einfachen Dualismus aufzumachen: Gestaltetes online, Gegebenes offline. Umgekehrt kann es sein, dass beispielsweise Selbsthilfegruppen online für manche Personen ein besonders angenehmes Forum sind, weil sie erlauben, stigmatisierende Aspekte ihres Lebens von anderen Kontexten zu trennen. Hier können sie also zu einem Teil ihres Lebens stehen, den sie im ›wirklichen‹ Leben verheimlichen und stattdessen eine andere Erscheinung gestalten (müssen). Auch in der Interaktion jenseits digitaler Medien gibt es also nicht einfach eine Person, sondern eine Vielzahl an Erscheinungsweisen für unterschiedliche Kontexte und Zielgruppen. Spätestens seit Autoren wie Goffman oder Giddens ist das natürlich eine Selbstverständlichkeit der Sozialtheorie.6 Im Kontext digitaler Kommunikation, wo das Digitale verkürzt als Abbild des Realen gesehen wird, wirkt dieses reale Leben aber trotz aller Einsicht, dass wir alle »Theater spielen«, plötzlich seltsam definiert und klar: als Urbild des digitalen Abbilds. Die Art und Weise wie wir das Leben ›offline‹ wahrnehmen, wird also auch von der digitalen Kommunikation mitbestimmt und der Art und Weise, wie hier Inhalte vermittelt werden. 5 | Facebook Diversity. Eintrag vom 13.2.2014. Auf die Problematik des hier auch von Facebook affirmierten »true authentic self« komme ich im Hauptteil dieses Textes zu sprechen. 6 | Vgl. E. Goffman: Wir alle spielen Theater, A. Giddens: Modernity and Self-Identity.
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Die problematische Sicht eines ›Urbilds‹ des Digitalen – wenn auch oft nur implizit – findet sich vor allem in Kontexten, wo es um die Privatsphäre geht. Hier wirken die digitalen Medien und Kommunikationstechniken eben so bedrohlich, weil sie ein nahezu perfektes ›Abbild‹ unseres Lebens einschließlich unserer Privatsphäre erlauben. Denn selbst wenn unser Leben aus dem Rollenspiel wie im Theater besteht, so gilt die Privatsphäre doch als der Raum, wo wir die Masken ablegen und diejenigen sein können, die wir ›wirklich‹ sind. Zu dieser Auffassung verleitet z.B. auch Goffmans Begriffspaar der »Vorder- und Hinterbühne«. Dieser Lesart entsprechend gibt es zu jeder »Vorderbühne«, auf der wir eine Rolle spielen, eine »Hinterbühne«, wo wir die Rolle ablegen und wir selbst sein können. Und es ist gerade diese authentische Person, die durch die Privatsphäre geschützt werden soll und nun durch Informations- und Kommunikationstechnologie bedroht ist. Oft wird dies diskutiert als Verschwimmen des Privaten und des Öffentlichen. Im Folgenden möchte ich dagegen zeigen, dass die Auffassung von Privatheit – und damit verbunden Persönlichkeit – als Bereich der authentischen Person, in dem man ›sich ausleben‹ kann und wo man die Masken für die öffentlichen Auftritte verwaltet und gestaltet, verkürzt ist. In einem zweiten Schritt gehe ich dann auf die Folgen dieser Analyse für die Privatheit im Kontext von Informations- und Kommunikationstechnologie ein. Die dabei diskutierten empirischen Studien dienen auch nochmals dazu, die hier entworfene Perspektive auf Privatheit zu konturieren. Sie verdeutlichen aber darüber hinaus, dass es nicht nur um eine deskriptiv adäquatere Perspektive geht, sondern auch normativ problematischen Verkürzungen begegnet werden kann. 2. Wenn das ›echte‹ Leben aus einer Vielzahl an Erscheinungsweisen7 für unterschiedliche Kontexte und Zielgruppen besteht, bedeutet das nicht nur, dass Menschen eine gewisse Gestaltungsmacht darüber haben, wer sie für andere sind. Wer wir sind, hängt dann vor allem auch davon ab, welche Gestaltungsmacht andere haben und welche Bedingungen wir ak7 | Da ich mich hier implizit auch kritisch mit Goffman auseinandersetze, verwende ich den Begriff der ›Erscheinungsweise‹, den ich aus Arendts Theorie gewinne, statt dem naheliegenderen Begriff der ›Rolle‹. Dies erlaubt dann eine von Goff mans Konzept abweichende Perspektive, welche insbesondere die Person ›hinter der Maske‹ ganz anders problematisiert.
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zeptieren müssen, um überhaupt erscheinen zu können. Zu dieser Frage schreibt Charles Taylor in seinem Buch The Ethics of Authenticity: »[O]ne of the things we can’t do, if we are to define ourselves significantly, is suppress or deny the horizons against which things take on significance for us.« 8
Das bedeutet, dass wir zur Gestaltung unserer Erscheinung auf »Bedeutungshorizonte« angewiesen sind. Nicht alle Eigenschaften dienen gleichermaßen dazu, eine Person zu beschreiben oder auszuzeichnen.9 Was signifikant ist und was nicht, hängt aber stark vom Kontext ab. Das können Fähigkeiten, Kleidung, Gestus oder Sprache sein – aber auch Unterscheidungsmerkmale wie Hautfarbe oder Geschlecht. Zu diesen Bedeutungshorizonten müssen wir uns verhalten, wenn wir unsere eigene Erscheinung bestimmen wollen. Das gilt auch dann, wenn wir bewusst versuchen, diese vorgegebenen Bedeutungen zu durchbrechen – auch Widerstand ist ein Verhältnis zum Bedeutungshorizont.10 In der digitalen Kommunikation sind diese Bedeutungshorizonte nun auch technisch bestimmt. Die Art und Weise, wie z.B. die persönlichen Seiten in sozialen Netzwerken gestaltet werden können, oder die Größe und Auflösung von Profilbildern haben Einfluss darauf, wie dort eine Persönlichkeit zum Vorschein kommt. Eine Besonderheit der digitalen Kommunikation besteht somit darin, dass es oft eine zentrale Stelle gibt (z.B. Firmen wie Google oder Facebook), welche über die Gestaltung dieser technischen Einflussfaktoren verfügen kann. Diese zentralisierte Form des Einflusses findet man in anderen Kommunikationskontexten seltener. Neben den Bedeutungshorizonten hängt unsere Erscheinung, also »wer« wir sind, grundlegend von anderen Personen ab, und wie diese unser Erscheinen wahrnehmen und darauf reagieren. Hannah Arendt macht diese Erkenntnis zu einer Grundlage ihrer Theorie in Vita activa: »Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt. Verglichen mit der Realität, die sich im Gehört- und Gesehenwerden 8 | Ch. Taylor: The Ethics of Authenticity, S. 37. 9 | Vgl. ebd, S. 36. 10 | Vgl. zu dieser Frage: T. Matzner: Vita variabilis, S. 177ff. sowie 200ff.
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konstitutiert, führen selbst die stärksten Kräfte unseres Innenlebens [...] ein ungewisses, schattenhaftes Dasein, es sei denn, sie werden verwandelt, gleichsam entprivatisiert und entindividualisiert, und so umgestaltet, daß sie eine für öffentliches Erscheinen geeignete Form finden.«11
Auch Arendt erkennt dem Privaten als Ort des Rückzugs vor dem »Gesehen- und Gehörtwerden« einen wichtigen Wert zu.12 Aber im Gegensatz zu Vorstellungen vom Privaten als dem Raum, in dem man sich ausleben kann, in dem man sein kann, wer man ›wirklich‹ ist, verortet sie die Wirklichkeit auf der Seite der öffentlichen Erscheinung. Es ist diese Person (oder eine davon), die hier erscheint, die für das Handeln von und mit anderen maßgeblich ist. Es ist diese Person, die für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen wird, mit der Vereinbarungen eingegangen werden und vieles mehr.13 Das bedeutet unter anderem, dass wir nicht einfach mit einem beliebig gestalteten Entwurf unserer selbst anderen gegenübertreten und dann sehen, ob dieser Gefallen oder Anerkennung findet. Mit unserem Auftreten sind wir sofort mit einer Vielzahl sozialer Erwartungen konfrontiert, zu denen wir uns verhalten müssen. Viele dieser Normen werden allerdings so verinnerlicht, dass das Verhalten zu ihnen nicht als reflektierte Handlung geschieht. Gerade in Fällen, wo Privatheitsnormen überschritten werden, sind es oft Gefühle wie Scham oder Angst, die das Handeln mitbestimmen, nicht nur unsere reflektierten Absichten. Hinzu kommt, dass Arendt berechtigte Zweifel an der Vorstellung des Privaten als Freiraum äußert. Sie sieht es als Charakteristikum der Moderne an, dass Menschen ihre Identität und Bestätigung vor allem aus vormals privaten Betätigungen ziehen.14 Zugang zu bestimmten sozialen Kreisen, zu entsprechenden PartnerInnen und die damit verbundenen Verhaltensweisen – auch Besitz (Statussymbole) und Kompetenzen gewinnen an Bedeutung, welche das Privatleben mit starken Ansprüchen und Konformitätszwängen durchziehen. Viele der persönlichen Erscheinungsformen im Internet richten sich auch an diese Kreise, obwohl sie mehr oder weniger öffentlich einsehbar sind.
11 | H. Arendt: Vita active, S. 63f. 12 | Ebd., S. 86f. 13 | T. Matzner: Vita variabilis, S. 75, 168. 14 | H. Arendt: Vita activa, S. 51f.
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Das Private bleibt aus dieser Arendtschen Perspektive zwar ein – mehr oder weniger entspannter – wichtiger Rückzugsort, aber ist nicht mehr die Quelle von Authentizität. Die Erscheinung, die von anderen wahrgenommen und eingefordert wird, ist die Wirklichkeit, in der wir leben (müssen). Denn andere sprechen uns an, kommunizieren mit uns und legen uns auf die Person fest, die ihnen erschienen ist.15 Die »Kräfte unseres Innenlebens« und anderes Privates und Intimes können für diese Erscheinung eine Rolle spielen. Aber das Zitat von Arendt macht deutlich, dass es sich hier nicht einfach um das Enthüllen von vormals Verborgenem geht, sondern um eine Umgestaltung in »eine für öffentliches Erscheinen geeignete Form«.16 Diese Umgestaltung, wie überhaupt die ganze Erscheinung einer Person, ist nun auf die mit Taylor eingeführten Bedeutungshorizonte angewiesen, und damit sehr allgemein auf soziale Umstände, die sich insbesondere auch in der Sprache manifestieren. Aber im Fall von medialer Kommunikation sind sie eben auch auf die vorgenannten technischen Voraussetzungen und Kompetenzen angewiesen – ein Aspekt, der bei Arendt nicht auftaucht. Die Rolle, die sie der »für öffentliches Erscheinen geeignete[n] Form« beimisst, lässt aber konzeptuell Raum dafür, dass diese Form auch technisch bedingt sein kann. 3. Diese Auffassung von Persönlichkeit passt besser zu einem zweiten Problem, das ebenfalls unter dem Begriff der Privatheit im Internet behandelt wird. Statt einen bestimmten, als privaten definierten Bereich oder die ›wirkliche‹ Person zu schützen, dienen Privatheitsnormen aus dieser Perspektive dazu, Kommunikationskontexte auseinanderzuhalten. Das Internet und insbesondere soziale Netzwerke sind dann problematisch, wenn sie vormals getrennte Kontexte zusammenfallen las-
15 | H. Arendt: Vita activa, S. 302, vgl. auch T. Matzner: Vita variabilis, S. 167ff. 16 | Und dann spielen eben die sozialen Normen wieder eine entscheidende Rolle, die auch bestimmen, was überhaupt als ›Innerliches‹ Anspruch darauf hat, unser Verhalten zu bestimmen. Hier wird insbesondere durch Überlegungen zur Verinnerlichung von Normen, z.B. in der Pädagogik oder Psychologie (die hier nicht weiter diskutiert werden können) fraglich, wie viel unseres Inneren, Intimen und in diesem Sinne Privaten letztendlich ›von außen‹ kommt.
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sen17: wenn die Eltern mitbekommen, mit wem ihre Kinder sich treffen, wenn die ArbeitskollegInnen Fotos von privaten Partys sehen, wenn die mediale Öffentlichkeit die Familienangelegenheiten von PolitikerInnen diskutiert, wenn Homosexuelle gegen ihren Willen geoutet werden etc. Das zu schützende Private ist dann nicht die ›wirkliche‹ Person, sondern entstammt einem Bereich des Lebens, der relativ zum aktuellen Kontext als unverfügbar oder schützenswert gilt. Oft ist das dann ein Teil des sogenannten ›Privatlebens‹, das sich zunehmend in einer Vermischung von Kontakten über Informations- und Kommunikationstechnologien und persönlichen Interaktionen abspielt. Es ist aber somit strukturell nicht unterschieden von anderen Kontexten: bestimmt durch materielle und technische Voraussetzungen und Bedeutungshorizonte, die den Individuen nicht verfügbar sind und abhängig von der Wahrnehmung der eigenen Erscheinung durch andere und die Forderungen, die diese anderen an unser Handeln stellen. Das trifft auch Arendts Beschreibung des Privatlebens, das von Normen, Zwängen und Konformitätsansprüchen strukturiert sein kann. Wenn nun im Namen der Privatheit die Trennung von solchen Kontexten gefordert wird, ist das oft verbunden mit dem Anspruch, dass die erscheinende Person selbst entscheiden können sollte, welche Informationen aus dem einen Kontext in den anderen gelangen. Damit wären wir wieder bei dem Bild eines Bereiches, in dem die Person frei von den jeweiligen Bedeutungshorizonten und dem Einfluss anderer entscheiden kann, in welchen dieser Kontexte sie sich wie begibt. Und damit wieder bei einem ›wirklich‹ privaten Bereich, in dem die Person ohne Maske ihre verschiedenen Masken für die kommenden Auftritte gestaltet und verwaltet. Nimmt man dagegen den Arendtschen Beitrag zu der hier entworfenen Sichtweise ernst, so fällt dieser Bereich weg. Das Private ist dann eine zu jeder Situation relativ andere Erscheinungsweise in einer anderen Situation, deren Erscheinen hier normativ geschützt ist. Dass etwas hier nicht auftauchen sollte, kann nun normativ genau darin begründet sein, dass es aus einem anderen Kontext kommt. So gilt z.B. am Arbeitsplatz die Beziehung als Privatangelegenheit. Diese Vorstellung von Privatheit 17 | In der sozialwissenschaftlichen und ethnographischen Forschung hat sich dafür der Begriff »context collapse« etabliert. Vgl. D. Boyd: How context collapse was coined: my recollection.
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als das Trennen von Kontexten ist aber nicht der einzige Grund dafür, dass etwas als privat gilt. Das ist auch durch die jeweiligen technischen und materiellen Gegebenheiten beeinflusst. Bestimmte Dinge lassen sich einfach von einem Kontext in einen anderen transportieren, andere nicht. In Bezug auf das Internet lässt sich das z.B. daran beobachten, dass die zuerst vor allen textbasierten sozialen Netzwerke durch die Verbreitung von Smartphones mit brauchbaren Kameras immer mehr Bilder enthielten und sogar Konkurrenz durch hauptsächlich bildbasierte Angebote wie Snapchat oder Pinterest bekommen haben. Darüber hinaus ist das, was als privat gilt und was nicht, maßgeblich durch das Handeln der anderen in einer bestimmten Situation bestimmt und durch die sozialen Normen, welche diese einfordern, wenn sie unsere Erscheinung wahrnehmen und darauf reagieren. Dabei kann es nun sein, dass diese Normen wiederum aus ganz unterschiedlichen Hintergründen und Entstehungsgeschichten stammen. Wenn hier von Kontexten die Rede ist, so sind diese also nicht als klar getrennte oder holistisch abgeschlossene Bereiche zu sehen. Genau deshalb ist das Bild, dass sich eine Person durch verschiedene Kontexte bewegt zu einfach.18 Privatheitsnormen sind ein Teil der Normen, die bestimmen, wer wie in einer gegebenen Situation erscheinen kann. Sie legen fest, welche anderen Erscheinungsweisen dieser Person für die aktuelle Situation eine Rolle spielen. Die Art und Weise, wie sich eine Person zu Privatheitsnormen verhält, bestimmt mit, wer diese Person ist – und nicht nur, was man über die Person erfährt. Damit sind Privatheitsnormen einer der Faktoren, die eine dauernde Aushandlung der Kontinuität oder eben Differenz der Person durch verschiedene Situationen strukturieren. Was ich oben als Trennung von Kontexten beschrieben habe, findet sich also hier wieder in der Frage, welche anderen Erscheinunsweisen einer Person als das Erscheinen derselben Person gelten – aber eben in einem anderen Kontext. Kurz gesagt: Eine Person bewegt sich also nicht durch Kontexte, sondern 18 | Das ist die Perspektive auf der Helen Nissenbaums bekannte Idee der Privatheit als »kontextueller Integrität« beruht (Vgl. H. Nissenbaum: Privacy in Context). Deshalb wird sie auch einer Situation, in der diese Trennung von Kontexten schon technisch immer schwieriger wird, nicht gerecht (Vgl. auch T. Matzner: Why Privacy Is Not Enough Privacy in the Context of ›Ubiquitous Computing‹ and ›Big Data‹.) Die Überlegungen hier ergänzen diese mehr auf die Technik fokussierte Kritik.
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wird in einer Situation zu der Person, die auch schon an anderer Stelle aufgetreten ist. Gerade bezüglich Privatheit sind solche Normen aber für bestimmte Bereiche des Lebens hinreichend institutionalisiert, dass die Rede von Kontexten sinnvoll ist – z.B. die Wohnung, der Arbeitsplatz, eine Demonstration. Diese werden hier nicht als Räume, sondern als Bündel von Normen gesehen. Solche Beispiele zeigen bereits, dass die Aushandlung der Erscheinung einer Person von einer Vielzahl weiterer Normen und sozialer Strukturen bestimmt ist, z.B. Arbeitsverhältnisse, Geschlechter, Alter etc., die mit Privatheitsnormen auf komplexe Weise zusammenhängen. 4. Ich möchte das bezüglich des Zusammenhangs von Geschlecht und Privatheit ausführen. In einer Reihe von Interviews und Fokusgruppen haben Bailey et al. die Facebookprofile kanadischer Teenager erforscht. Sie beobachten, dass dabei bezüglich Privatheitsnormen vorherrschende Geschlechtervorstellungen reproduziert werden. Mädchen zeigen sich öfter mit ihren ›boyfriends‹ und Freundinnen – auch auf Profilbildern, welche besonders die Identität auf Facebook bestimmen. Jungen, die in einer Beziehung sind, zeigen dagegen eher Bilder ihrer Freundin.19 Mädchen geben also mehr Details ihrer Beziehungen und Freundschaften Preis, die hier in Relation zum öffentlichen Facebookprofil als Privatleben gelten. Mädchen sehen das in den geführten Interviews nicht unkritisch, geben aber zu, dass solch ein Profil zu sozialem »Erfolg« und Beliebtheit beiträgt.20 Hier bestimmen also die in der Gesellschaft vorherrschenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern (Frauen sind Teil einer Beziehung, Männer haben eine Frau) auch die Privatheitsnormen für Teenager online. Dies zeigt sich auch daran, dass die vorausgesetzte Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit bei den Gesprächen mit den Teenagern nie zur Debatte steht. Die normativen Geschlechtervorstellungen, die hier im Umgang mit Privatheitsnormen für männliche und weibliche Teenager zum Ausdruck kommen, sind komplex und tief in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens verankert. Aber eingefordert werden sie in diesem Fall von den Bekannten und FreundInnen der Teenager. Und diesen gegenüber 19 | Vgl. J. Bailey/V. Steeves/J. Burkell/P. Regan: Negotiating with Gender Stereotypes on Social Networking Sites. 20 | Ebd., S. 107.
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können jene auch angesprochen, angegriffen und durchbrochen werden. Denn die weiblichen Interviewteilnehmerinnen in der Studie von Bailey et al. thematisieren sehr wohl ihr Unbehagen darüber, dass Jungen mit geringeren Ansprüchen konfrontiert sind, und ihre Versuche dem entgegen zu handeln.21 Dabei ist wichtig, dass eine Entscheidung, stärkere Privatheitsnormen einzufordern und z.B. in diesem Fall als Mädchen nichts über Freundinnen und Beziehungen zu verraten, mit der Emanzipation der Person einhergehen muss, die dann eben erscheint – eines Mädchens, das ansonsten Gefahr läuft als langweilig und unsozial zu gelten. Genauso gilt das für männliche Teenager, die sich vielleicht viel mehr durch ihre Freundschaften und Beziehungen repräsentiert fühlen, als »zulässig« ist. Hier zeigt sich im Kleinen das Phänomen, dass der Anspruch eine bestimmte Person sein zu können, nur erstritten werden kann, wenn diese Person anderen gegenüber auftritt – und nicht wenn diese sich in die Verborgenheit des Privaten zurückzieht. Auch wenn diese Person sich dadurch auszeichnet, dass bestimmte allgemein erwartete Aspekte ihres Lebens gerade nicht erscheinen (also als für diese Situation privat eingefordert werden), aber dafür eben andere.22 Diesbezüglich kann sich digitale Kommunikation von anderen Situationen unterscheiden: Auch wenn die Aushandlung, wer eine Person sein kann, in vielen Kontexten schwierig ist, sind diese oft bestimmt durch ein oder mehrere Gegenüber, von dem oder denen eine bestimmte Erscheinungsweise eingefordert wird – wogegen man sich aber auch ein Stück weit wehren kann, weil sie ansprechbar sind. Das Publikum eines Onlineauftritts dagegen ist oft sehr schwer einzuschätzen. Gerade weil immer mehr Daten langfristig gespeichert werden und mit anderen in Verbindung gebracht werden können, entzieht sich die eigene Erscheinung in der digitalen Kommunikation oft dem Feedback, das immerhin noch existiert, wenn man mehr oder weniger direkt mitbekommt, wie andere auf das eigene Auftreten reagieren. Oder besser gesagt kommt dieses Feedback aus so vielen Kontexten, dass es 21 | Ebd, S. 102. 22 | Dies ist die Grundprämisse von emanzipatorischen Bewegungen, welche entgegen hegemonialen Privatheitsvorstellungen in die Öffentlichkeit drängten, z.B. der Homosexuellen in den 1970er Jahren, von Act Up oder der feministischen Kritik des ›Privaten als Politisch‹. Vgl. dazu respektive M. Duberman: Stonewall; V. Fabj/M. J. Sobnosky: Responses From the Street; B. Rössler: Gender and Privacy.
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seine orientierende23 Kraft verliert. Jede Erscheinung ist auch immer ein Antworten auf die herrschenden Erwartungen (wie oben geschrieben auch dann, wenn man sich widersetzt). Diese Erwartungen und Normen sind aber dann sehr schwer absehbar, wenn unklar ist, wo die Daten auftauchen werden. Damit müssen Erscheinungen online mit einer Vielzahl von Privatheitsnormen kompatibel sein. Das ist zumindest die Erwartung, wenn man im Bild der Wahl und Kontrolle von Masken bleibt, weil damit die Zuständigkeit für die Privatheit nur beim Individuum bleibt, das erscheint. Dieses Problem wird unten in Abschnitt 5 ausgeführt. Vorher aber möchte ich noch einen weiteren wichtigen Aspekt der digitalen Kommunikation thematisieren: nämlich die Tatsache, dass die sozio-technischen Bedingungen sich nicht neutral zu den sozialen Normen und Bedeutungshorizonten verhalten. Das Beispiel von Bailey et al. hat gezeigt, dass die Interaktion in sozialen Netzwerken vor den allgemeinen sozialen Bedeutungshorizonten stattfindet. Das gilt nicht nur für die Normen der Privatheit, sondern beispielsweise auch für die Bedeutung von ›schön‹, ›attraktiv‹, ›erfolgreich‹. Insbesondere spielen hier auch die kommerzialisierten Idealvorstellungen von Körpern und Persönlichkeit aus der Unterhaltungs- und Medienindustrie eine wichtige Rolle. Oft sind es gerade verlinkte Bilder und Videos, welche zur Verbreitung dieser Vorstellung beitragen. Damit werden diese Inhalte allerdings nicht einfach in die digitale Kommunikation transportiert, was dann quasi ›von außen‹ die Erscheinung von Menschen in digitaler Interaktion strukturiert, sondern diese Vorstellungen werden damit auch perpetuiert und verändert.24 Es wäre nun falsch anzunehmen, dass Onlinedienste wie Facebook oder Google einfach einen neutralen Raum bieten, in dem dieses Wechselspiel aus Erscheinungsweisen, Erwartungshaltung und Medienbildern stattfindet. Primär ist das Ziel solcher Unternehmen, Werbung zu verkaufen. Sie werden deshalb die Kommunikation technisch und durch Eingriffe wie inhaltliche Moderation immer auch so gestalten, dass sich die Werbekunden bei ihnen wohl fühlen. Das heißt auch, dass die kommerzialisierten Erscheinungsweisen 23 | Orientierung ist hier keinesfalls positiv gemeint, sondern besteht oft gerade darin zu erfahren, von wem Diskriminierung ausgeht und gegen wen man sich somit wehren muss. 24 | Am Beispiel der Sexualisierung von Frauen diskutieren dies A. Evans; S. Riley und A. Shankar: Technologies of Sexiness.
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des Mainstream ihren Platz haben müssen. Natürlich sind Abweichungen bis zu einem gewissen Grad möglich und auch gewollt. Es wäre weder erwünscht noch die Absicht der Betreiberfirmen, beispielweise bestimmte ästhetische Ideale oder sexuelle Vorlieben einfach auszuschließen – und auch antikapitalistische Gruppen finden sich zu Hauf auf Facebook. Ziehen wir aber die hier angestellte Überlegung mit in Betracht, dass der Umgang mit Privatheit mitbestimmt, wer wir sind, dann wird auffällig, dass Facebook oder Google an vielen Stellen suggerieren, dass Menschen mit weniger Privatheitsbedenken freundlicher, erfolgreicher, besser vernetzt und ›cooler‹ sind. Und als Vorbilder für diese Offenheit dienen die jungen und schönen Menschen aus den Medien. Dass die kommerzialisierten Idealvorstellungen einschließlich der entsprechenden Stereotypen der Geschlechter sich auch in sozialen Netzwerken wiederfinden, entspricht also auch ihrer primären Ausrichtung als Werbeplattform. 5. Die soeben angesprochene Forderung, Privatheit aufzugeben oder zu reduzieren, stellt den Kontext für einen weiteren Grund dar, warum die hier entwickelte Perspektive auf Privatheit moralisch relevant ist. Als Illustration dieses Punktes beziehe ich mich auf eine Studie, welche Aushandlungsprozesse um eine sehr starke Privatheitsnorm thematisiert: das sogenannte sexting, also das Senden von Bildern des eigenen (oft nackten) Körpers an (potentielle) Beziehungs- und SexualpartnerInnen.25 Dabei wurden Interviews mit Teenagern über ihre Erfahrungen mit sexting geführt. Diese setzen die AutorInnen in Beziehung zu diversen Kampagnen gegen sexting: »The implicit message in this and other anti-sexting narratives is that inherent responsibility for sexting gone wrong therefore lies with the body in the image rather than, for instance, the agents of distribution.« 26
Diese Bewertung findet sich auch bei weiblichen und männlichen Teenagern, welche sexting ablehnen, aber auch bei Jungs, die solche Bilder nachfragen: wer sie macht, ist »selbst schuld«.27 Andererseits gilt es für 25 | J. Ringrose/L. Harvey/R. Gill/S. Livingstone: Teen girls, sexual double standards and ›sexting‹. 26 | Ebd., S. 307 27 | Ebd., S. 314f.
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Mädchen als Kompliment nach solchen Bildern gefragt zu werden. Und auch die Aufnahme von Kontakten und das »Kennenlernen« in der digitalen Kommunikation werden durch entsprechend sexualisierte Auftritte ermöglicht oder vereinfacht.28 Damit gibt es einerseits die Forderung nach einer gewissen Überschreitung von Privatheitsnormen durch weibliche Teenager um attraktiv und anerkannt zu sein. Kommen sie dieser andererseits nach, finden sie sich in einer Position der Kontrollierbarkeit und asymmetrischen Machtbeziehungen. Dies findet in der Studie ihren klarsten Ausdruck in der Formulierung, dass die Bilder von Mädchen für Jungen zur »Ware« werden auf einem Markt der Anerkennung.29 Die Privatheitsverletzung durch die Weitergabe der Bilder durch die männlichen Teenager wird legitimiert durch die vorausgegangene Überschreitung von Privatheitsnormen durch das Versenden des Bildes. Zugespitzt formuliert: Attraktivität ist nur um den Preis des Ausgeliefertseins an die Empfänger der Bilder zu haben. Gegen diese Machtstruktur können die weiblichen Teenager nur schwer angehen, weil sie ja »selbst schuld« sind. In diesem Fall wird dadurch die bekannte Struktur des victim blaming reproduziert, die auch andere Fälle von sexualisierter Gewalt bestimmt.30 Folglich kommen auch die A utorInnen der hier zitierten Studie zu dem Schluss, dass es gar nicht so sehr die neuen Möglichkeiten digitaler Technologie oder ihr unreflektierter Einsatz sind, die hier zum Problem werden: »Our findings suggest that what is most problematic for young people are the pernicious and persistent discourses of gender inequity and sexual double standards around teen girls’ and also adult women’s sexuality and bodies.« 31
Dies wird auch durch die zugrundeliegende Annahme ermöglicht, Privatheit sei nur eine Frage eines Individuums, das seine Masken verwaltet und damit in diesem Fall ein Problem der Frauen. Die in diesem Text entworfene Perspektive zeigt dagegen, dass die Erscheinung der Teenager – egal ob sie die Bilder schicken oder nicht – von sozialen Normen und den
28 | Ebd., S. 310ff. 29 | Ebd., S. 314. 30 | Ebd., S. 307. 31 | Ebd., S. 319. Hervorhebung im Original.
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anderen, denen sie erschienen, abhängt und damit von Machtstrukturen geprägt ist. 6. Zusammenfassend und etwas verallgemeinernd lässt sich die hier entwickelte Perspektive als Umkehrung der üblichen Vorstellung von Privatheit beschreiben: Die Normen der Privatheit schützen nicht eine Person, sondern tragen mit dazu bei, diese Person erst zu erschaffen. Dies geschieht allerdings vor einem breiteren sozialen Horizont an Bedeutungen und Normen. Das bedeutet, dass die damit entstehenden Machtbeziehungen reflektiert werden müssen, was hier am Fall von Geschlechterrollen diskutiert wurde. Damit wird deutlich, dass die Vorstellung des Privaten als ein Bereich der ungestörten Authentizität auch normativ problematisch ist, weil sie diese Machtbeziehungen ignoriert und damit einzelnen Personen tendenziell die alleinige Verantwortung für ihr Erscheinen zuschreibt und gleichzeitig andere aus der Verantwortung entlässt. Die Vorstellung des Privaten als Authentisches, das genau weil es schützenswert ist, auch geschützt werden sollte (und wenn nicht, dann eben auf eigene Verantwortung), trägt also dazu bei, dass Privatheitsnormen leicht asymmetrische Machtbeziehungen reproduzieren können. Denn die jeweils anderen dieser Machtbeziehung können unter einer auf Individuen fokussierten Vorstellung der Privatheit leicht aus dem Blick geraten. Diese Vorstellung aufzugeben, ist besonders im Kontext digitaler Kommunikation wichtig, weil hier die anderen und die sozialen sowie materiellen Bedingungen schwer zu überblicken sind. Entsprechend naheliegend ist es, die entstehenden Probleme als Frage der Techniknutzung durch Individuen zu fassen. Hier wurde gezeigt, dass diese Fragen ein wichtiges Strukturelement der Erscheinung von Personen sind, aber im Zusammenhang mit den anderen hier diskutierten Faktoren gesehen werden müssen. Ansonsten werden Diskriminierungs- und Machtverhältnisse nicht nur übersehen, sondern potentiell sogar verstärkt.
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Von Quallen-Katzen und Spinnen-Ziegen Narrative Vernunft und Neogefahren lebendiger Technik Bruno Gransche Eine bemerkenswerte Eigenschaft der narrativen Funktion besteht darin, daß sie die Kontingenz anerkennt und sogar … in Ehren hält, – und daß sich in ihr zugleich eine der Narrativität eigene Intelligibilität verkörpert. Paul R icœur1
V om H erstellen zum A nstellen Die Reihe der Veränderungsbefunde heutiger Mensch-Technik-Verhältnisse ist lang. Die Vielfalt der Techniken, beispielsweise der Leistungssteigerung (Human Enhancement), denen sich Menschen heute experimentell unterziehen – wie Neuropharmaka, Hirnstimulation, Implantate, etc. – wird von den einen als obligate Fortführung menschlicher Entwicklung mit technischen Mitteln praktiziert und im Duktus des »posthumanistischen Immerschon«2 propagiert. Andere sehen darin eine sträflich ikarische Überschreitung dessen, was sie als die Natur des Menschen annehmen. Während erstere also neue Body-Hacking-Methoden austüfteln, errichten letztere Quasi-Naturreservate wie handy- und internetfreie Zonen oder Wochenenden. Es lassen sich also viele Veränderungen feststellen. Aber was bedeuten sie für uns: Forstschritt oder Katastrophe? Anstelle einer Sammlung solcher ›Erstmals‹- und ›Immerschon‹-Beispiele 1 | P. Ricœur: Zufall und Vernunft in der Geschichte, S. 11. 2 | G. Winthrop-Young: »Mensch, Medien, Körper, Kehre: Zum posthumanistischen Immerschon«, S. 1–16.
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von Mensch-Technik-Veränderungsbefunden soll in diesem Beitrag eine Tendenz betrachtet werden, die als Konsequenz vieler verschiedener Veränderungen der Lebenswelt gelten kann und insofern eine übergreifende Perspektive offeriert: Das Handeln in heutigen Mensch-Technik-Verhältnissen verändert sich hin zu einem experimentellen Anstellen. Verantwortungsvolles und folgenbewusstes Entscheiden und Handeln ist auf adäquate Antizipationsund Vorstellungsvermögen angewiesen. Angesichts heutiger soziotechnischer Komplexität sind Handlungsorientierungen, die auf Antizipation bauen (klassischerweise durch Kalkulation und Stochastik), überfordert.
H eutige invertierte U topisten Von Günther Anders stammt ein Veränderungsbefund bezüglich damals neuer Mensch-Technik-Verhältnisse, der 1972 unter dem Titel Endzeit und Zeitenende erschienen ist. Bekannter ist das Werk unter dem Titel Die atomare Drohung 3 und die Atombombe ist es, die Anders eine Erstmals-Veränderung feststellen lässt: Mit dieser Bombe und der damit einhergehenden erstmaligen Fähigkeit der Menschen zur gänzlichen Selbstvernichtung sieht Anders nicht nur eine Hauptveränderung der Lebenswelt im 20. Jahrhundert. Vielmehr erlangt diese Zäsur ihre Relevanz und Folgenhaftigkeit für die Lebenswelt dadurch, dass das bisherige Mensch-Technik-Verhältnis erstmals kippt. Dieses Kippmoment beschreibt Anders als Wechsel vom »Utopisten« zum »invertierten Utopisten« und damit eine Inversion des Verhältnisses zwischen geistigem Vermögen (Vorstellen) und technischer Wirkmacht (Herstellen): »Wir sind invertierte Utopisten. Dies also das Grund-Dilemma unseres Zeitalters: Wir sind kleiner als wir selbst, nämlich unfähig, uns von dem von uns selbst Gemachten ein Bild zu machen. Insofern sind wir invertierte Utopisten: während Utopisten dasjenige, was sie sich vorstellen, nicht herstellen können, können wir dasjenige, was wir herstellen, nicht vorstellen.« 4
3 | G. Anders: Die atomare Drohung. 4 | Ebd., S. 96.
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Überlichtgeschwindigkeitsreisen mittels Warp-Antrieb sind deshalb utopisch, weil sie vorstellbar, aber nicht umsetzbar sind. Zwar könnten sie (wenn überhaupt) hypothetisch möglich sein, sind aber nicht real möglich, was im Sinne Anders’ eine Definition für utopisch abgibt.5 Die Wirkungsgesamtheit und Zerstörungskraft der Atombombe invertiert laut Anders dieses Verhältnis, sodass diese nun zwar real möglich seien – den Antrittsbeweis lieferte die Atombombe Little Boy 1945 in Hiroshima –, in ihrer enormen Wirkungsdimension aber unvorstellbar, also hypothetisch unmöglich. Es zeigt sich hier ein Scheinparadox, da modallogisch eigentlich ein Möglichkeitsgefälle von ›unmöglich‹ über ›hypothetisch-möglich‹ zu ›real-möglich‹ gilt, also alles, was real-möglich ist, auch hypothetisch-möglich sein muss. Die unvorstellbare, aber real-mögliche Macht der Atombombe ist deshalb nur scheinbar ein Paradox, da die Zuschreibung hypothetischer Unmöglichkeit eben ein Irrtum ist, der daher rührt, dass die Vorstellungskraft der invertierten Utopisten hinter ihrer eigenen Herstellungskraft zurückbleibt. Entsprechend hält sich die Realität auch keineswegs an menschliche Vorstellungsgrenzen und zeitigt Wirkungen, die jenseits des maximal Vorstellbaren – z. B. des größten anzunehmenden Unfalls GAU – liegen, wofür dann sprachlich ein Super-Superlativ benötigt wird: der Super-GAU. »Gestern die Atombombe, heute die informatische, und morgen die genetische Bombe?«6 So fragt Paul Virilio rhetorisch in Der eigentliche Unfall und verweist damit auf eine weitere technisch angestoßene Veränderung im Verhältnis von Vorstellen und Herstellen. Inzwischen ist die Atombombe weniger unvorstellbar, also die Kluft zwischen Vorstellen und Herstellen verringert worden. Dies jedoch nicht, weil die Bombe weniger mächtig wäre – im Gegenteil wurde mit der Wasserstoff bombe diese Macht noch gesteigert –, sondern weil das Vorstellungsvermögen aufgeholt hat, nicht zuletzt dank intensiver intellektueller und politischer Bearbeitung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Sprengkraft 5 | Anders fasst im angeführten Zitat Utopie als ›vorstellbar‹ und ›nicht herstellbar‹, also als etwas, das man denken kann – d. h. als hypothetisch möglich erachtet (ein rundes Dreieck kann man nicht einmal in diesem Sinne denken) –, das man aber nicht realisieren kann, weil es (noch) nicht real möglich ist. Somit ist die Formulierung ›hypothetisch möglich und real unmöglich‹ eine Paraphrase der Anders’schen Utopiedefinition ›vorstellbar und nicht herstellbar‹. 6 | P. Virilio: Der eigentliche Unfall, S. 50–51.
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einer Atom- oder Wasserstoff bombe lässt sich im Prinzip genau berechnen, die Uran- oder Deuteriummenge lässt sich abwiegen und dosieren wie einst das Schwarzpulver. Auch wenn Charles Perrow zwei Jahre vor dem Tschernobyl-GAU das Atomkraftwerk (AKW) als Muster komplexer, eng gekoppelter technischer Systeme fasste und diesen ›unvermeidliche Katastrophen‹ 7 zuschreibt, so ist die Komplexität eines AKW prinzipiell verstanden, die Funktion eines jeden Ventils und Schalters klar. Kurz: Die Vorstellungskraft hat das Atom im Kontext der Bombe und des AKW eingeholt – im Prinzip. Praktisch passieren dennoch in der Gesamtheit des Zusammenspiels von technischem System und menschlicher Intervention ›unvermeidbare‹ Unfälle. Perrow zeigt am Beispiel des Fukushima-GAUs, dass das Katastrophenpotenzial zuvor erkannt war, dass die Warnungen jedoch aus Kosten- und Reputationserwägungen ignoriert wurden.8 Das mögliche Risiko zu erfassen, war demnach nicht das Problem, was zur Frage führt, was im 21. Jahrhundert zu einer ähnlichen kognitiven Herausforderung oder sogar Überforderung führen könnte wie die Atomtechnologie im 20. Jahrhundert. Virilio schlägt die informatische und die genetische bzw. biotechnische Bombe vor. Aus beiden Bereichen lassen sich viele Phänomene untersuchen, die zur kognitiven Erfassung und Bewältigung herausfordern: seien es transgene Primaten9, Praktiken der Genprognostik bzw. prädiktiven Gendiagnostik 10, evolutionäre bzw. genetische Algorithmen11, autonom lernende Systeme oder kognitive Robotik12 . Diese Beispiele haben eine Tendenz gemeinsam, die sie prinzipiell von technischen Phänomenen des Typs Atomkraftwerk oder -bombe unterscheidet. Sie weisen offene Wirkungspotenziale auf und damit eine prinzipiell unüberbrückbare Kluft zwischen ihrer Wirkungs7 | Ch. Perrow: Normal Accidents. 8 | Vgl. Ch. Perrow: »Fukushima, risk, and probability. 9 | Vgl. Y. Niu/ B. Shen/Y. Cui et al.: Generation of gene-modified cynomolgus monkey via Cas9/RNA-mediated gene targeting in one-cell embryos. 10 | Vgl. DRZE: Prädiktive genetische Testverfahren; B. Gransche/D. Hommrich: Akzidenzkultur und Potenzialitätsregime. 11 | Vgl. A. Moraglio: Genetic programming.; R. Riolo/J.H. Moore/M. Kotanchek: Genetic programming theory and practice XI. 12 | Vgl. D. Vernon/C. v. Hofsten/L. Fadiga: A roadmap for cognitive development in humanoid robots; V. Nath/St. E. Levinson.: Autonomous robotics and deep learning.
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gesamtheit und möglicher kognitiver Antizipation durch die Menschen. In einer veränderten Lebenswelt antizipationsüberfordernder Phänomene müssen antizipationsbasierte Bewältigungspraktiken neu hinterfragt werden.
L ebendige Technik Die offene Wirkungsdimension heutiger Technik liegt wesentlich in ihrer Grenzüberschreitung zum Biologischen. Während ein Ergebnis technischen Herstellens ein abgeschlossenes künstlich Geschaffenes – ein Artefakt – ist, haben biologische Entitäten eigendynamische Potenziale des Wachstums, der Veränderung und Reproduktion. Während Artefakte ihren Möglichkeitsraum mit teils unvorstellbar mächtiger Wirkung ausschöpfen, transformieren sie diesen im Gegensatz zu biologischen Entitäten nicht. Eine noch so schreckliche Atombombe bleibt genau dies und mutiert nicht ohne menschliche Herstellungsleistung zu einer Deuteriumbombe. Viren wie Ebola, HIV, Schweine- oder Vogelgrippe hingegen waren ursprünglich nicht humaninfektiös und haben diese Restriktion ihres Möglichkeitsraumes zwar nicht frei von irgendwelchen Wechselwirkungen menschlichen Handelns, jedoch ohne menschliche Manipulation überschritten. Während Schweine- und Vogelgrippe ihren vorherigen Möglichkeitsraum noch im Namen tragen, zeugt der Wechsel vom ›simianen‹ (SIV) zum ›humanen Immundefizienz-Virus‹ (HIV) vom Vollzug dieser Überschreitung vom Tierischen zum Menschlichen. Biologische Eigendynamik bringt also nicht nur offene Wirkungsdimensionen, sondern auch offene Wirkungspotenziale mit sich. Ein Veränderungsbefund heutiger Technikentwicklung konstatiert eine Auflösung dieser Differenz zwischen Technischem und Biologischem. Dieser Befund heutiger Mensch-Technik-Grenzverschiebung13 wurde auch mit dem Neologismus Biofakt14 belegt. Biofakte sind hybride Entitäten, die einerseits künstlich-technisch (arte) gemacht ( factus) werden, andererseits über biologische Eigendynamiken wie Wachstum, 13 | Vgl. B. Gransche: »Mobilität als Metamorphose des Menschen. B. Beckert/B. Gransche/Ph. Warnke et al.: Mensch-Technik-Grenzverschiebung – Perspektiven für ein neues Forschungsfeld. 14 | Vgl. N. Karafyllis (Hg.): Biofakte.
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Mutation oder Reproduktion verfügen. Grün fluoreszierende transgene Katzen15 oder transgene Ziegen, deren Milch Spinnenseide (bio steel) enthält16, sind Beispiele für Biofakte. Auch wenn biologische Entitäten genetisch permeabel sind und Viren als ›Gentaxis‹ immer schon Genmanipulationen verursachten, so sind biofaktische Quallen-Katzen und Spinnen-Ziegen ›geschaffen-lebendige‹ Phänomene. Aber – und dies ist die übergreifende Wandlungstendenz, auf die hier fokussiert werden soll – Biofakte werden nicht länger ›hergestellt‹ wie Autos, Atombomben oder Smartphones; aufgrund ihres bios-Anteils, ihrer Lebendigkeit werden sie vielmehr ›angestellt‹. ›Anstellen‹ soll hier nicht als Angestellten-Arbeitsverhältnis verstanden werden, sondern als Initiieren oder Laufenlassen, als offen experimentelles Anrichten ohne genaue Verlaufs- und Wirkungsvorstellung, wie es anstellenden Kindern eigen ist. Dies unterscheidet den invertierten Utopisten des Atomzeitalters vom heutigen invertierten Utopisten des Genzeitalters: Es geht nicht länger nur um das Verhältnis von Herstellen und Vorstellen, von technischer Macht und kognitiver Angemessenheit. Die veränderte Lebenswelt verlangt nach einer Bewältigung des Verhältnisses von ›Anstellen‹ und Vorstellen. Wenn gezieltes oder technisches Handeln ein Wirkungsbewusstsein und eine gewisse Antizipation des Handlungsziels voraussetzt, so ist das Anstellen gerade ein antizipationsloses oder -armes Agieren.
R isiko und die N eogefahr des A nstellens Eine verbreitete und wissenschaftlich wie ökonomisch äußerst ausdifferenzierte Form der Vorstellung von Handlungsfolgen ist mit dem Begriff des Risikos und der Risikokalkulation zur Hand. Bei prinzipieller Kontingenz der modernen Welt bietet die Risikovorstellung Möglichkeiten, 15 | P. Wongsrikeao/D. Saenz/T. Rinkoski et al.: AIDS virus restriction factor transgenesis in the domestic cat.; Das green fluriscent protein (GFP) stammt von Quallen und wird zur Sichtbarmachung von Genaktivierungen eingesetzt. GFP-Tieren sieht man unter speziellem Licht am grünen Leuchten an, ob ein markiertes Gen aktiv ist, oder nicht. Die Entdeckung und Entwicklung des GFP erhielt 2008 den Chemie-Nobelpreis. 16 | A. Lazaris/St. Arcidiacono/Y. Huang et al.: Spider silk fibers spun from soluble recombinant silk produced in mammalian cells.
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prinzipiell anders mögliche Folgen Wahrscheinlichkeiten zuzuteilen und so selbst nicht determinierte Folgen im Modus des Risikos antizipieren zu können. Dabei wird das Risiko als Eintrittswahrscheinlichkeit mal Folgendimension (im negativen Fall: Schadenshöhe) formalisiert; dass dabei Aspekte wie Optimismus, Pessimismus, Furcht, Angst, subjektives Sicherheitsempfinden17, Stimmung, öffentliche Vertretbarkeit, Akzeptabilität etc. nicht berücksichtigt werden, zeigt, dass Menschen im Zuge der Risikovorstellung als rein kalkulatorisch-rational Handelnde missverstanden werden.18 Dass sie das nicht sind, zeigt sich z. B. daran, dass in Fukushima trotz Folgenkenntnis, korrekter Risikoeinschätzung und entsprechender Warnung vor 2011 nichts gegen das Tsunami-GAU-Risiko unternommen wurde.19 Jenseits dieser allzu menschlichen ›Verunreinigung‹ der Risikoformel gelangt diese auch theoretisch dort an ein Ende, wo die antizipierende Beurteilung der Folgen, ganz zu schweigen von der korrekten Einschätzung derer Eintrittswahrscheinlichkeit, scheitert. Dies ist im Modus des Anstellens per definitionem der Fall. Eine Handlung A kann nur gegenüber einer Handlung B ›entschieden‹ gewählt und riskiert werden, wenn A und B zuvor hinreichend ›unterschieden‹ werden können. Dies hat Niklas Luhmann zur Abgrenzung des Risikos von der Gefahr herangezogen. Risiko sei nach Luhmann ein möglicher Schaden in Abhängigkeit einer Entscheidung (die Unterscheidung voraussetzt), Gefahr hingegen ein möglicher Schaden ohne Bezug zu menschlichem Entscheiden.20 Dass ein Atomkraftwerk überhaupt gebaut wird, zumal 17 | Vgl. zum komplexen Begriff der Sicherheit immer noch aktuell F.-X. Kaufmann: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. 18 | Allein die Komponente ›Furcht‹ setzt sich wiederum aus vielen (subjektiv empfundenen) Einzelfaktoren zusammen, wie Unkontrollierbarkeit, Unbekanntheit, Plausibilität, Leiden, Maß und Art der Zerstörung, (Verteilungs-)Ungerechtig keit der Folgen etc. Vgl. A. Ripley: Survive. 19 | Auch die durchaus gängige Praxis, in Folge von Risikowarnungen und folgenden Sicherheitsregulierungen unpopuläre, kostspielige und unliebsame Präventionsmaßnahmen nicht durchzuführen, sondern den handlungsauslösenden Schwellenwert etwa zumutbarer Feinstaub- oder Strahlenbelastung kurzerhand anzuheben, zeugt nicht von rein rationaler Risikokalkulation. Vgl. für Beispiele C. Perrow: Fukushima and the inevitability of accidents. 20 | »Die Unterscheidung [von Risiko und Gefahr, BG] setzt voraus […], daß in Bezug auf künftige Schäden Unsicherheit besteht. Dann gibt es zwei Möglichkeiten.
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in Küstennähe in einem Erdbebengebiet, stellt demnach ein Risiko dar; dass in einem Gebiet Erdbeben und Tsunamis auftreten können, stellt eine Gefahr dar. Im Falle des Anstellens nun wird die Unterscheidung der angestellten Alternativen verunmöglicht, da eben eigendynamische Prozesse initiiert werden, die zudem ihren eigenen Möglichkeitsraum überwinden können. Wenn es schon kompliziert ist, die Folgenalternativen so zu unterscheiden, dass ein Entscheiden möglich wird, so ist die Komplexität alternativer Möglichkeitsräume weder unterscheidbar noch entscheidbar. Die möglichen Folgen anstellenden Agierens betreffen die Agenten demnach nicht im Modus des Risikos im Sinne Luhmanns. Da die angestellten Folgen aber im Gegensatz zu Gefahren nicht einfach »auf die Umwelt zugerechnet« werden können, taugt auch der Modus der Gefahr nicht mehr. Anstellensfolgen sind Folgen menschlichen Agierens, ohne dessen Initialisierung sie nicht existierten, sie sind jedoch keine Folgen bewussten Entscheidens. Es handelt sich gewissermaßen wieder um Gefahren, jedoch eines neuen Typs: um Neogefahren. Neogefahren werden zwar wie Gefahren nicht ›entschieden‹, gehen aber auf menschliche Aktionen zurück, sind also Handlungseffekte. Im Neogefahrenmodus ›stellt‹ der Mensch Gefahren an, die er nicht mehr ›herstellen‹, also entschieden riskieren kann. Was dem Menschen jenseits seiner Einflussnahme als möglicher Schaden begegnet, begegnet ihm als Gefahr; was er kalkuliert an möglichen Schäden in Kauf nimmt, begegnet ihm als Risiko; was er an möglichen Schäden selbst verursacht, aber nicht abwägen, wählen oder kontrollieren kann, begegnet ihm als Neogefahr. Diese Begrifflichkeit stellt eine Weiterführung von Luhmanns keineswegs allgemeingültigem Begriffspaar dar.21 Rückt man den Aspekt der Transformation des Möglichkeitsraumes bei Neogefahren in den Vordergrund, so zeigt sich eine gewisse Nähe dazu, was Wolfgang Krohn passend zur Vermischung von biologischer Eigendynamik und technischem Entweder wird der etwaige Schaden als Folge der Entscheidung gesehen, also auf die Entscheidung zugerechnet. Dann sprechen wir von Risiko, und zwar vom Risiko der Entscheidung. Oder der etwaige Schaden wird als extern veranlaßt gesehen, also auf die Umwelt zugerechnet. Dann sprechen wir von Gefahr.« N. Luhmann: Soziologie des Risikos, S. 30f. 21 | So verwendet Ulrich Beck sowohl für Risiko als auch Gefahr im Sinne Luhmanns den Begriff Risiko. U. Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, S. 35 und 256.
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Risikobegriff »evolutionäre Risiken«22 nannte: Evolutionäre Risiken ändern den Kontext, in dem sie auftreten, ändern die Bedingungen, die sie möglich machen, was eine Umformulierung der Neogefahreneigenschaft ist, den eigenen Möglichkeitsraum zu transformieren. Am Beispiel wird dies deutlich: Unter der Risikoperspektive ist ein AKW im Prinzip verstanden und sein Betrieb Gegenstand ökonomischer Erwägungen. Das sicherste AKW ist dasjenige, das nie gebaut wurde; es ist aber eben auch das unprofitabelste. Im Gegensatz zu einem Wasserkraftwerk, dessen Staudamm im Unfalle eine errechenbare Kraft entfaltet und ein messbares Gebiet potenziell beeinträchtigen kann, stellt radioaktive Strahlung jenseits der eigentlichen Sprengkraft des radioaktiven Materials auch eine ›biotechnische Grenzüberschreitung‹ dar: Strahlung wirkt als Mutagen, d. h. sie beeinflusst die biologische Eigendynamik der Mutation. Ein AKW-GAU ist also ein Risiko, insofern das technische System komplexitätsbedingt ›normale Katastrophen‹ bedingt, Umweltgefahren (wie Tsunamis) ausgesetzt ist und dennoch um eines Gewinns willen riskiert wird. Er ist aber auch eine Neogefahr, insofern mit ihm eigendynamische Prozesse in Gang gesetzt werden, die bei Bau und Betrieb des AKW nicht kalkuliert oder vorhergesehen wurden und nicht werden konnten, die aber ohne den GAU nicht oder anders stattgefunden hätten, also Folgen des AKW-Betriebs sind. In Deutschland hat der Unfall des Fukushima-Daiichi für die Mehrheitsmeinung der Nicht-Riskierbarkeit der AKW gesorgt. Die geographische Diskrepanz eingestanden23, haben AKW so die Bedingungen, die sie möglich machten, verändert.24 Die Risiko- oder die Neogefahrenperspektive führen zu verschiedenen Beurteilungen ein und desselben Verhaltens, einmal als bewusst entschiedenes Riskieren und einmal als experimentell versuchtes Anstellen.
22 | »Evolutionäre Risiken sind solche, die in einem gegebenen Kontext auftreten und zugleich diesen Kontext verändern. Sie beeinflussen die Bedingungen, die sie möglich machen. […] (Das Risiko, ohne Schirm aus dem Haus zu gehen, beeinflusst das Klima nicht; das Risiko, Wolken zum Abregnen zu bringen, womöglich schon.)« W. Krohn/G. Krücken: »Risiko als Konstruktion und Wirklichkeit, S. 21f. 23 | »In their [Japans, BG] disaster lies our salvation.« Ch. Perrow: Fukushima, risk, and probability. 24 | »Don‘t despair, though. Learning from disaster still goes on.« Ch. Perrow: Fukushima and the inevitability of accidents, S. 52.
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»Radioaktiver Niederschlag in Tschernobyl, genetisch veränderte Organismen, reproduktives Klonen von Tieren und dann von Menschen und so fort: die Wissenschaftler stehen heute im Zentrum der Kontroversen, die uns am Beginn des dritten Jahrtausends bewegen. Auch darum werden seit Neuestem Agenturen mit Spezialisierung auf Risikomanagement gegründet, um zu versuchen, das Unwahrscheinliche, das Undenkbare [das Unvorstellbare, BG] im Bereich wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse vorherzusehen, denn seit einigen Jahrzehnten schon stehen wir wehrlos vor den großen Risiken, die das biologische und soziale Gleichgewicht der Menschheit beeinträchtigen.« 25
Risiken nicht von Neogefahren zu unterscheiden stellt in der Lebenswelt des dritten Jahrtausends einen Irrtum dar, den man mit Virilio als »Unfall des Wissens« bezeichnen kann: »Bei diesem besonderen Aspekt des ›Unfalls des Wissens‹ geht es nicht mehr so sehr um die Zahl der Opfer als vielmehr darum, welcher Art von Gefahr man sich aussetzt. Im Gegensatz zum Verkehr auf Straßen, Schienen und in der Luft ist dieses Risiko [d. i. Neogefahr, BG] nicht mehr quantifizierbar und statistisch vorhersehbar, es ist unqualifizierbar und grundsätzlich unvorhersehbar geworden.« 26
Ein nicht quantifizierbares, nicht statistisch vorhersehbares Risiko ist aber kein Risiko im Sinne Luhmanns und auch nicht mehr im Sinne vieler etablierter Risikostrategien (Versicherung, Rückversicherung etc.). Die Verwechslung heutiger Neogefahren mit klassischen quantifizierbaren Risiken stellt einen ›epistemologischen Unfall‹ dar; in etwa so wie es einen ›Wissensunfall‹ darstellt, einen Pestkranken mit Aderlass heilen zu wollen. In einer veränderten Lebenswelt, in der ›prinzipiell unvorhersehbare‹ Phänomene zu neuen Verstehens- und Bewältigungsstrategien auffordern, kann der Versuch, Neogefahren mit klassischen Risikostrategien zu begegnen, katastrophale Folgen haben. Dabei darf das Schlaglicht, das hier zur Kontrastierung mit den Begriffen Risiko, Gefahr, Neogefahr und den Beispielen GAU, HIV etc. geworfen wurde, nicht zu einer einseitigen Beurteilung der Unsicherheit möglicher Folgen und der Fähigkeit führen, den jeweiligen Möglichkeitsraum nicht nur auszufüllen, sondern 25 | P. Virilio: Der eigentliche Unfall, S. 50–51. 26 | Ebd., S. 51.
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zu transformieren. Ein neuer Möglichkeitsraum, der nicht von der beschränkten Vorstellungsfähigkeit der Menschen limitiert ist, bietet nicht nur neue Unfälle und Schadenspotenziale, sondern genauso neue Lösungen und Nutzenpotenziale. So werden mit transgenen, grün fluoreszierenden Primaten nicht nur potenziell auf den Mensch übertragbare und potenziell schädliche Genveränderungen möglich, sondern auch Lösungen, die ohne diese Experimente unmöglich wären.27 Dem oben genannten Irrtum, Neogefahren mit klassischen Risikostrategien bewältigen zu wollen, darf so gesehen nicht der Irrtum hinzukommen, mit bisherigen Bewältigungsstrategien neue Lösungen für eine veränderte Lebenswelt zu verhindern. Durch die Vermischung von Technik und Biologischem, aber auch durch andere Tendenzen heutiger Komplexitätssteigerung, nehmen ›prinzipiell unvorhersehbare, nicht quantifizierbare‹ Phänomene zu, dass in einer solcherart veränderten, ›antizipationsprekären‹ Lebenswelt neue adäquate Umgangsweisen entwickelt werden und klassische Risikostrategien, wo nötig, ergänzt oder abgelöst müssen. Es kann eine Erweiterung der Wendung des invertierten Utopisten vorgeschlagen werden: ›Während invertierte Utopisten dasjenige, was sie herstellen, nicht vorstellen können, können heutige dasjenige, was sie anstellen, prinzipiell nicht vorstellen.‹ Dieser Umstand kann positiv und negativ gewendet werden; er bedeutet zunächst neutral, dass mehr möglich ist als gedacht und nicht alles denkbar ist, was heute möglich ist. Es bleibt daher, einen Modus zu finden, in dem man von offenen Möglichkeiten und Möglichkeitspotenzialen profitieren kann, ohne wegen neuer informatischer oder genetischer Super-GAUs den Nutzen nicht mehr zu erleben. Derzeit en vogue kandidiert dafür das Konzept der ›Resilienz‹28 und jüngst wurde das der ›Antifragilität‹29 in den Ring geworfen. Für die Entwicklung einer Neogefahrenresilienz wäre – darauf kann hier
27 | Schließlich wurden die erwähnten transgenen GFP-Katzen gerade dazu geschaffen, auf genetischer Ebene Erkenntnisse über das feline Immundefizit-Virus (FIV) zu erlangen, die dazu verhelfen könnten, das humane Immundefizit-Virus zu bekämpfen und AIDS zu heilen. Vgl. P. Wongsrikeao/D. Saenz/T. Rinkoski et al.: AIDS virus restriction factor transgenesis in the domestic cat. 28 | Vgl. für einen Überblick D. F. Lorenz.: The diversity of resilience. 29 | N. Taleb: Antifragilität.
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nur als Ausblick hingewiesen werden30 – am Sinnhorizont anzusetzen, an den unvorhergesehene Veränderungen und Erstmals-Phänomene angeknüpft werden müssen, um nicht traumatisch oder katastrophal zu wirken. Eine Form des Vorstellens, das prinzipiell Unvorhersehbarem über Schemata, Erwartungsanpassung, Kontextualisierung und Bezugsetzung in ein Bedeutungsganzes Sinn verleiht, ist die ›narrative Vernunft‹. Narrationen spielen – wie schon Paul Ricœur31 argumentierte – nicht nur in Form von Märchen, Mythen, Epen, Romane etc. eine bildend-unterhaltende Rolle in der Kultur, sondern bereits die Weltwahrnehmung ist narrativ präfiguriert, weist bereits Begriffsnetze, symbolische Formen, Gebrauchsregeln und Zeitstrukturen auf, die für den Bereich der Handlungen, der Praxis spezifisch sind. Schließlich sind Geschichten in Literatur u. a. nur die kunstvoll komponierte, konfigurierte Ausgestaltung dessen, was in der praktischen ›Welt bereits Gestalt hat‹32; dies nicht, weil sie von irgendeinem Schöpfer mit einer geheimnisvollen und zu entbergenden Welt-Handlung versehen worden wäre, sondern einfach deshalb, weil Welt etwas ist, das im Zusammentreffen von Realität und wahrnehmendem Subjekt entsteht und diese Subjekte, wir Menschen, einen narrativ geprägten Blick haben. Ein unvorhergesehener Vorfall ist im Narrativen keine Katastrophe, sondern ein Ereignis, und die spezielle Konfigurationsleistung der Narration überführt potenziell katastrophenträchtige Vorfälle in Ereignisse eines vorstellbaren und plausiblen Bedeutungsganzen. Sie überführt chaotische überfordernde Kontingenz in vernünftige Kontingenz und vermittelt so zwischen dem Sinnhorizont heutiger invertierter Utopisten und den Potenzialen angestellter Phänomene. Narration ist etwas, das primär Veränderungen darstellt und in dieser speziellen narrativ konfigurierten Darstellung eine kognitive Bewältigung dieser Veränderungen ermöglicht. Sie ist also ein ausgezeichneter Ort, um die sich ›verändernde‹ Lebenswelt auf einer Sinnebene zu begleiten. Wenn die Katastrophe 30 | Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Neogefahren und möglichen Wegen zu einer angemessenen Bewältigung, vgl. B. Gransche: Vorausschauendes Denken. 31 | P. Ricœur: Zeit und Erzählung, S. 90-104. 32 | »Trotz des von ihr gesetzten Bruches wäre jedoch die Literatur unrettbar unverständlich, wenn sie nicht etwas gestaltete, was in der menschlichen Handlung bereits Gestalt hat.« Ebd., S. 104.
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als Verbindung von Erwartungsbruch und scheiternder Sinnbewältigung definiert wird33 und vom Erwartungsbruch, der heute ohnehin unvermeidbar ist, profitiert werden soll, so bleibt nur, an der Sinnbewältigung von Erwartungsbrüchen zu arbeiten. Genau dies tut Narration, indem sie Brüche als ›verbindende Brüche‹34 im dreifachen Hegelschen Sinne ›aufhebt‹. Der heutige invertierte Utopist wäre angesichts seiner Antizipationsarmut in einer veränderten Lebenswelt voller antizipationsüberfordernder Phänomene gut beraten, seiner Schlagseite der kalkulatorischen Risikofixierung mit der Anerkennung und Wiedererstarkung seiner narrativen Vernunft zu begegnen. Die narrative Vernunft versucht erst gar nicht Dinge vorherzusehen, sondern ist Spezialistin darin, mit unvorhergesehenen, paradoxen Vorfällen sinnvoll umzugehen und zugleich im ihr eigenen Wechselspiel von Tradition und Innovation einen menschengerecht mäßigen, nicht katastrophal überfordernden Wandel zu verstehen. Das ist die Voraussetzung, einen ebensolchen Wandel zu gestalten.
L iter atur Anders, Günther: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen, 2. Aufl. (Beck‘sche schwarze Reihe, 238), München: Beck 1981. Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Beckert, Bernd/Gransche, Bruno/Warnke, Philine/Blümel Clemens: Mensch-Technik-Grenzverschiebung – Perspektiven für ein neues Forschungsfeld. Ergebnisse des Workshops am 27. Mai 2009 in Karlsruhe im Rahmen des BMBF-Foresight Prozesses, (ISI-Schriftenreihe Innovationspotenziale) Stuttgart: Fraunhofer Verlag 2011. DRZE: Prädiktive genetische Testverfahren. Naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte, (Ethik in den Biowissenschaften – Sachstandsberichte des DRZE, Bd. 2) Freiburg: Alber 2006.
33 | So z. B. bei M. Voss: Symbolische Formen.; D. Lorenz: The diversity of resilience. 34 | Vgl. P. Ricœur: Zufall und Vernunft in der Geschichte; Ders.: Zeit und Erzählung.
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Gransche, Bruno: »Mobilität als Metamorphose des Menschen: Der Cyborg als Prototyp des Unterwegsseins«, in: Felix Heidenreich/Lens Badura/ Cédric Duchêne-Lacroix (Hg.), Praxen der Unrast. Von der Reiselust zur modernen Mobilität. Se faire mobile. Du goût au voyage à la mobilité moderne, (Kultur und Technik, 22) Berlin: LIT 2011, S. 105–133. Gransche, Bruno: Vorausschauendes Denken. Philosophie und Zukunftsforschung jenseits von Statistik und Kalkül, 1. Aufl. (Edition panta rei), Bielefeld: Transcript 2015. Gransche, Bruno/Hommrich, Dirk: »Akzidenzkultur und Potenzialitätsregime. Konsumgenetik und Neuropädagogik als Symptome der Verzukünftigung«, in: Gerhard Banse/Annely Rothkegel (Hg.), Neue Medien: Interdependenzen von Technik und Kommunikation. Unter Mitarbeit von Björn Egbert und Julius Erdmann, (e-Culture, 19) Berlin: trafo Wissenschaftsverlag 2014, S. 183–204. Karafyllis, Nicole Christine (Hg.): Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn: Mentis 2003. Kaufmann, Franz-Xaver: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, 2. Aufl., Stuttgart: Enke 1973. Krohn, Wolfgang/Krücken, Georg: »Risiko als Konstruktion und Wirklichkeit. Eine Einführung in die sozial wissenschaftliche Risikoforschung«, in: Wolfgang Krohn/Georg Krücken (Hg.), Riskante Technologien. Reflexion und Regulation. Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 9–44. Lazaris, Anthoula/Arcidiacono, Steven/Huang, Yue et al.: »Spider silk fibers spun from soluble recombinant silk produced in mammalian cells«, in: Science 295, 5554 (2002), S. 472–476. Lorenz, Daniel: »The diversity of resilience. Contributions from a social science perspective«, in: Natural Hazards 67,1 (2010), S. 7-24. Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos, Berlin/New York: De Gruyter 1991. Moraglio, Alberto: Genetic programming. 15th European Conference, EuroGP 2012, Málaga, Spain, April 11-13, 2012. Proceedings, (LNCS sublibrary. SL 1, Theoretical computer science and general issues, 7244) Berlin/New York: Springer 2012.
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Das Wahr-Werden der technischen Welt Prolegomena zu einer Philosophie des iGestells Klaus Birnstiel [S]eit einigen Jahrzehnten beobachte ich, dass wir in einer Zeit leben, die der Morgenröte der paideia bei jenen Griechen vergleichbar ist, die zu schreiben und Beweise zu führen gelernt hatten, vergleichbar auch der Renaissance, die den Buchdruck entstehen, die Herrschaft des Buchs heraufziehen sah. Vergleichbar und doch unvergleichbar – denn in dem Augenblick, da jene Techniken sich im Umbruch befinden, wandeln sich auch die Körper, verändern Geburt und Tod sich ebenso wie das Leiden und die Heilung, die Berufe, der Raum, das Wohnen, das In-der-Welt-sein selbst. M ichel S erres1
In welcher Welt leben wir? Im Frühjahr 2014 hat eine Artikelserie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diese Frage zu beantworten versucht. Die ›digitale Revolution‹ sollte das Thema sein, und die Überschrift des Aufmachers lautete: »Das Denken muss nun auch den Daten folgen«. Darin hieß es weiter: »Beständig formt Technik unsere Epistemologien um, nicht nur die Strukturen des Wissens, sondern auch die Modalitäten seines Entstehens aus den Reaktionen des Bewusstseins auf die uns umgebende Welt. Einfacher und zugleich radikaler 1 | M. Serres: Erfindet euch neu, S. 21f.
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gesagt: Technische Innovationen verändern – oft gleichsam hinter unserem Rücken, manchmal sogar gegen unsere Absichten – das Denken und über das Denken die Grundlagen der menschlichen Existenz.« 2
Die Liste der Namen der Beiträger zu der Artikelserie war eindrucksvoll. Bemerkenswert an der feuilletonistischen Unternehmung scheinen aber weniger die konkret diskutierten Ideen und Forderungen, wie etwa der stete Ruf nach ›mehr Datenschutz‹. Erstaunlich ist viel eher der dringliche, ja existentielle Ton dieser Plädoyers – ich zitiere noch einmal aus der FAZ vom 11. März 2014: »Was das Denken unserer Gegenwart schuldet, sind erste entschlossene Schritte in eine noch gar nicht von Begriffen markierte Zone des Erlebens – mit dem Ziel, ein sich unter elektronischen Bedingungen über unser Bewusstsein herausbildendes neues Verhältnis zur Welt und zu uns selbst zu begreifen.«3 Die prophetischen Reden der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in welchen das ehedem analoge Publikum auf die Verheißungen, die Entfremdungen und die Verwerfungen einer ›digitalen Revolution‹ eingestimmt werden sollte, in der multimodal vernetzten technischen Gegenwart sind sie mittlerweile beinahe verstummt. Angesichts der unhintergehbaren Omnipräsenz netzbasierter elektronischer Anwendungen tritt die Technikphilosophie heute in einen Denkmoment ein, in welchem technische Innovationen nicht mehr als Versprechen einer zu gewinnenden Zukunft erscheinen, sondern als einfache gegenwärtige Gegebenheit. Aus der menschheitsgeschichtlichen Prophetie wird die geschichtsphilosophische Frage nach dem Werden des technischen Seins der Gegenwart und seiner inneren Zieldrift einerseits und die Frage nach der alltäglichen elektronischen Lebenskunst andererseits – einem digitalen Ethos also, welches unser Sein in der technischen Welt beschreiben, begleiten und bestimmen kann. Der Übergang zur neuen – in aller Vorsicht möchte ich formulieren: nach-industriellen, liquiden, ephemeren, netzbasierten (obwohl alle diese Begriffe an ihrer eigenen Metaphorizität leiden) – technischen Welt wird in dieser Hinsicht bereits vielfach konstatiert und kommentiert. In einem 2013 auch in deutscher Übersetzung erschienenen kleinen Essay setzt der französisch-amerikanische Philosoph Michel Serres den »[k]lei-
2 | H. U. Gumbrecht: Das Denken muss nun auch den Daten folgen, S. 14. 3 | Ebd.
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nen Däumlinge[n]«4 der jüngeren Generation, die ohne Mühe und wie selbstverständlich mit elektronischer Apparatur hantieren, ein ebenso erstauntes wie bewunderndes Denkmal: »Ohne daß wir dessen gewahr wurden, ist in einer kurzen Zeitspanne, in jener, die uns von den siebziger Jahren trennt, ein neuer Mensch geboren worden. Er oder sie hat nicht mehr den gleichen Körper und nicht mehr dieselbe Lebenserwartung, kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt nicht mehr dieselbe Welt wahr, lebt nicht mehr in derselben Natur, nicht mehr im selben Raum.« 5
»Körper«, »Lebenserwartung«, »Kommunikation«, »Welt«, »Natur«, »Raum«: nimmt man Serres’ Überlegungen ernst, dann läßt sich der Wandel leicht anschaulich machen, dekliniert man die Reihe der von ihm akzentuierten Begriffe einmal durch. Der »Körper« der Gegenwart ist ein Körper, der die allermeiste Zeit des Tages von irgendeiner Form flüssiger Technik umgeben ist, vom akustischen Weckersignal am frühen Morgen bis in den steten Fluss der E-Mails, Nachrichtenkanäle, Navigations-Apps und dergleichen mehr hinein, dessen beständiges Rauschen in einer Weise nicht nur Teil, sondern Bedingung unseres Alltags geworden ist, wie es vor kaum dreißig, vierzig Jahren nicht vorstellbar schien. »Lebenserwartung«: Schon die technisch-biotechnischen Errungenschaften des Industriezeitalters haben – zumindest in der westlichen Welt – zu einer glatten Verdopplung der Jahrzahl wahrscheinlicher menschlicher Lebensdauer geführt. Zwar hat sich dieser Prozess seither scheinbar abgeschwächt und verlangsamt, und scheint auch mit 90 oder 100 Jahren an eine Grenze zu gelangen, deren weitere Verschiebung fraglich ist. Erst die flüssige Technik der Gegenwart aber hat sich daran gemacht, die innere Ordnung dieser Lebensjahre – Kindheit, Jugend, mittleres und hohes Alter – zunehmend einzuebnen. Hör-, Seh- und andere Hilfen gleichen Altersdefizite aus, und die Reproduktionsmedizin macht die Frage der Zeugung von Nachwuchs zu einem Problem und einer Möglichkeit mehrerer Jahrzehnte statt weniger jugendlicher Jahre.6 »Welt«, »Natur« und »Raum«: Die 4 | M. Serres: Erfindet euch neu, S. 7. 5 | Ebd., S. 15. 6 | Fragen biotechnischer Mobilisierung und ihrer ethischen Dimension hat im deutschen Sprachraum mit der entsprechenden philosophischen Dringlichkeit einzig Peter Sloterdijk verhandelt, vgl. P. Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark.
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Veränderungen der Lebenswelt, die der über achtzigjährige Académicien Michel Serres in der Rückschau auf die eigene Strecke Lebenszeit so eindrücklich beschreibt, sind tatsächlich von so fundamentalem Charakter, dass sie sich kaum in einem Satz beschreiben lassen. Für Serres selbst ist es vor allem der Wandel der akademischen Kultur, also seines professionellen Habitats, der ihn beeindruckt – liegt doch über dem Kontinent Academia mit einem Mal nicht mehr der jahrhundertealte Staub der Buchkultur, sondern der diaphane Schleier elektronischer Allgegenwart. Doch umspannen die elektronischen Dispositive offenkundig weit größere Lebensräume als nur die verwaisenden Stätten akademischer Gelehrsamkeit: unsere Arten zu leben und zu denken, zu arbeiten und zu entspannen, uns zu informieren und miteinander zu kommunizieren, die Weisen und Wege der Freundschaft und der Liebe, des Genusses und der Anstrengung, der ratio und des Gefühls, sie alle scheinen nicht unberührt von dem beständigen Summen elektronischer Dinge und der fraglosen Zuhandenheit unsichtbarer Weiterungen unserer körperlichen und geistigen Aktionsräume. Die technischen Gestelle unserer Gegenwart sind keine Apparate mehr, derer wir uns nach je eigener Zwecksetzung bedienen. Sie dienen nicht der ›Lösung‹ bestimmter Probleme oder der Erledigung absehbarer ›Aufgaben‹. Vielmehr bestimmt ihre Anwesenheit in der Welt die Gegebenheit eben dieser Welt entscheidend mit und verändert ihre Ontologien ebenso wie ihre Epistemologien. Ein einfaches Beispiel mag das erhellen. So hilfreich mobile Kommunikation in unserem Alltag auch ist, so stellt das Mobiltelefon doch nicht die Lösung für die unvordenklich gestellte Aufgabe dar, unterwegs zu telefonieren oder Kurznachrichten zu versenden. Vielmehr gibt seine Existenz unter den Dingen dieser Welt uns allererst die Möglichkeit zur Hand, im Laufen über weite Distanzen zu sprechen oder aber telegrammhafte Botschaften zu übermitteln. Ohne die Existenz des Mobiltelefons ist diese Option im Möglichkeitsraum unseres Daseins schlicht nicht gegeben. Es ist aber nicht das bloße Artefakt, das die Möglichkeit gibt. Ohne den Druck unserer Daumen, die Vibrationen unserer Stimmen bleibt das Telefon reines Ding, unbelebter Gegenstand, harrend seiner Aktualisierung durch menschliches Zutun, das es überhaupt erst die Fülle seiner Möglichkeiten entfaltet. Ontologisch gesehen also ist das technische Ding erst dann wirklich Technik, wenn es dem realisierenden Zugriff menschlicher Hand übergeben ist (vorher bleibt es bloß Ding); epistemologisch gewendet wiederum lässt sich in der Allgegenwart flüssiger Technik
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kaum mehr davon sprechen, dass ein technischer Weltzugang von einer vor- oder nicht-technischen Begegnung mit der Welt, in der wir leben, zu scheiden wäre. Der flüchtige Blick auf das Smartphone, die en passant online gebuchte Fahrkarte, die schnelle Antwort auf die gar nicht laut gestellte Frage, ob es regnen wird oder nicht – all diese Orientierungen, anhand derer wir uns durch die gegenwärtige Lebenswelt bewegen, wie unsichtbare Meridiane ziehen sie sich durch das Dickicht unserer Städte, die Texturen unserer Lektüren, das Gewebe unserer Körper. Weder ist die Technik außerhalb von uns, noch sind wir vollständig in ihr. Ein Abschalten ist genausowenig möglich wie ein Einschalten überhaupt nötig. Technik ist in gewissem Sinne tatsächlich lebendig geworden, als dass ihre Funktionen nicht länger instrumentell, sondern vegetativ abgerufen werden und sich vollziehen. Mit dieser kurzen Anamnese habe ich weit vorgegriffen – und gehe nun wieder etwas zurück. Führt man sich den knapp skizzierten Wandel von der starren Technik des Industriezeitalters zur flüssigen Technik von heute vor Augen, dann überrascht, wie sehr eine Großzahl populär-philosophischer Stellungnahmen zur technischen Entwicklung noch immer einem Weltbild des Industriezeitalters anhängen, in welchem die Maschine als das ganz Andere des Menschen einer ebenso externen wie subjektzentrierten Evaluation unterzogen wird, ohne dass die verschränkte Ko-Präsenz technischer und menschlicher Evidenzen angemessen in den Blick kommt. Die Perspektive, technische Phänomene als Dinge in der Welt zu denken, die, indem sie mit menschlichen Seinsweisen verschränkt und untrennbar in diese verwunden sind, eigene erkenntnistheoretische Möglichkeiten und Wahrheitsformen bieten, erscheint demgegenüber weitaus aussichtsreicher. Ansätze für eine solchermaßen holistische Techniktheorie lassen sich verschiedentlich finden. Insbesondere Martin Heideggers technikphilosophische Überlegungen, aber auch Weiterentwicklungen von Heideggers Ansatz durch den Medien- und Techniktheoretiker Friedrich A. Kittler 7 und Philosophen wie Jean-Luc Nancy8, Michel Serres9 7 | Fragen nach der Wahrheit der Technik ziehen sich durch das gesamte Schaffen Kittlers; er selbst hat seine technik- und medienorientierten Studien als Versuch, »Heideggers Seinsgeschichte etwas realistischer zu erzählen« beschrieben: F. Kittler, F. M. Raddatz: Dionysos revisited, S. 11. 8 | Vgl. J.-L. Nancy: Singulär plural sein. 9 | Vgl. M. Serres: Erfindet euch neu.
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und Peter Sloterdijk 10 sowie die Arbeiten Bruno Latours11 bieten hierfür vielversprechende Anregungen. In einem nächsten Schritt soll versucht werden, Martin Heideggers Technikphilosophie des Gestells knapp zu resümieren, um von dieser ausgehend sodann einige Perspektiven für eine Philosophie des Gestells unserer Tage zu gewinnen – jenes multimodal vernetzten, omnipräsenten und doch unsichtbaren Gestells, das ich, in Anlehnung an die Produktmarketingsprache eines großen amerikanischen Computerkonzerns, das iGestell nennen möchte.
K r af t werk im R heinstrom , M ensch im G estell : H eideggers B eunruhigung »Die Frage nach der Technik«12 hat Martin Heidegger zeitlebens beschäftigt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg aber hat Heidegger sich ihr in mehreren Installationen produktiv zugewandt. Auch Heideggers lebensweltliches Interesse für Technisches ist bekannt. So soll sich das Schwarzwaldorakel auf seiner ersten Griechenlandreise zu Beginn der sechziger Jahre wesentlich mehr für die existentiellen Kräfte der Dieselaggregate im Schiffsbauch interessiert haben als für das mediterrane Schauspiel von Sonne, Wolken, Wind und Wetter.13 Für den von der technischen Gegenwart der fünfziger Jahre beeindruckten Martin Heidegger sind es vor allem großtechnische Anlagen wie »das Wasserkraftwerk im Rheinstrom«14 oder aber Verkehrsmittel gewesen, die ins Zentrum seiner philosophischen Aufmerksamkeit gerückt sind. In seinen 1953 erstmals vorgetragenen Überlegungen zur Frage nach der Technik scheint sich Heidegger dem verbreiteten kulturkritischen Rufen nach einer Eingrenzung, ja Ausgrenzung des Technischen aus dem Menschlichen anzuschließen und auf das Menschliche und die ihm eigene Wahrheit zu pochen. Doch hören wir Heideggers eigene Formulierung:
10 | Vgl. P. Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. 11 | Vgl. insbesondere B. Latour: Wir sind nie modern gewesen. 12 | M. Heidegger: Die Frage nach der Technik. 13 | So kolportiert von F. Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, S. 220. 14 | M. Heidegger: Die Frage nach der Technik, S. 8.
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»Wir fragen nach der Technik und möchten dadurch eine freie Beziehung zu ihr vorbereiten. Frei ist die Beziehung, wenn sie unser Dasein dem Wesen der Technik öffnet. Entsprechen wir diesem, dann vermögen wir es, das Technische in seiner Begrenzung zu erfahren.«15
»[F]reie Beziehung« und »Begrenzung«, »Dasein« und »Wesen«: schnell wird klar, dass es Heidegger um etwas Anderes zu tun ist als um eine bloße Klage der zunehmenden Technisierung seiner Gegenwart. Heidegger beschreibt in seiner Analyse Technik als eine bestimmte Weise des Versammelns von Kräften, Ansprüchen und Energien – ein Versammeln, welches vormals Verborgenes in die Unverborgenheit überführt und damit enthüllt. Unter Rückgriff auf den altgriechischen Wortgebrauch von ἀλήθεια bezeichnet Heidegger dieses Enthüllen als Entbergen – und damit als ein Wahrheitsgeschehen: wenn Verborgenes in die Unverborgenheit enthüllt wird, ereignet sich Wahrheit.16 Als Weise der Hervorbringung gehört Technik, τέχνη, in aristotelischer Perspektive nicht unbedingt zu den wissenschaftlichen Erkenntnismodi, sondern bewegt sich im Bereich der Künste, des Herstellens und der Hervorbringung, ist also Teil der ποιητική, der Poiesis menschlichen Handelns.17 Für Heidegger unterscheidet sich die moderne Technik von der älteren nun aber gerade dadurch, dass sie nicht mehr poietisch in dem eben genannten Sinne wirkt, sondern, wie es in seinem oftmals gewöhnungsbedürftigen Sprachgebrauch heißt, als »Herausforderung«. Moderne Technik fordert die Natur heraus, fordert der Landschaft beispielsweise ihre in den Kohleflözen gespeicherte Energie ab.18 Damit ist sie, so Heidegger, von den Techniken der Vormoderne grundverschieden: »Das bäuerliche Tun fordert den Ackerboden nicht heraus. Im Säen des Korns gibt es die Saat den Wachstumskräften anheim und hütet ihr Gedeihen. Inzwischen ist auch die Feldbestellung in den Sog eines andersgearteten Bestellens geraten, das die Natur stellt. Es stellt sie im Sinne der der Herausforderung. Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie.«19 15 | M. Heidegger: Die Frage nach der Technik, S. 7. 16 | Ebd., S. 13. 17 | Ebd., S. 14. 18 | Ebd., S. 15. 19 | M. Heidegger: Die Frage nach der Technik, S. 16.
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Mit ihren Weisen des Herausforderns ordnet die Technik den Menschen in eine Kette von Prozessen des Bestellens ein, der Verspannung in mechanische Dispositive, die Heidegger als »das Ge-stell«20 bezeichnet – eine Weise der Nutzung und Vernutzung, die nicht nur das Natürliche betrifft, sondern auch das Technische selbst. Das Wesen der Technik skizziert Heidegger als beständige Grenzberührung, als Freisetzung von Kräften mit ungewissem Ausgang, mit einem Wort als das der »Gefahr«21. Heidegger betont damit ein zwiefältiges, um nicht zu sagen dialektisches Wesen der Technik: einesteils ist ihr Wesen die beständige Gefahr, und stets führt sie den Menschen an ihren Rand. Andernteils aber ist es genau ihr herausforderndes Wesen, welches Wahrheit entbirgt. Mit Nachdruck macht Heidegger weiterhin darauf aufmerksam, dass das Gestell nicht identisch ist mit der bloßen Technik, sondern vielmehr eher die Weise meint, in der Technik den Menschen »herausfordert«: »Ge-stell heißt das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d. h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen. Ge-stell heißt die Weise des Entbergens, die im Wesen der modernen Technik waltet und selber nichts Technisches ist.« 22
So weit. Bemerkenswert an Heideggers Überlegungen aber scheint, wie wenig Heidegger trotz dieser begrifflichen Scheidung von technischem Artefakt und seiner Wirkungsweise, die er sodann im Begriff des Gestells wieder zusammennimmt, die ontologische Frage danach, in welcher Weise Technik in der Welt ist, überhaupt weiter bedenkt. Der Technik-Aufsatz legt sich hier nicht endgültig fest. Die Rede vom Gestell aber, die beständig mit Beispielen der Industriekultur illustriert wird, impliziert insgesamt eine klare ontologische Hierarchie: Hier Mensch, dort Technik. Dort Apparatur, hier Leben. Zwar versucht der Begriff des Gestells beides zusammen zu denken, doch bleibt er, entgegen seiner ihm ursprünglich von Heidegger zugeschriebenen Wortkraft, verfangen in den Aporien seiner mechanistischen Bildlichkeit. Eine im Bild angelegte analytische und ontologische Trennung von technischem Objekt und menschlichem 20 | Ebd., S. 20. Aus rein äußerlichen Gründen der Lesbarkeit verkürze ich im folgenden »Ge-stell« zu ›Gestell‹. 21 | Ebd., S. 27. 22 | Ebd., S. 21.
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Subjekt, gegen die Heidegger andenkt, scheint indes gut zu passen in die technisierte Industriekultur der fünfziger Jahre, in welcher die Maschine zugleich als das ganz Andere des Menschen wie auch als von diesem sicher zu bemeisternde Herausforderung figuriert. Dass Heidegger eine wesentlich bedeutsamere Verschränkung von Mensch und Technik als die eigentliche Beunruhigung seiner Zeit in den Blick zu bekommen versuchte, diese aber nicht auf ihre eigentlichen Begriffe zurückführen konnte, deutet sich an, wenn Heidegger noch einmal auf »das Wasserkraftwerk im Rheinstrom«23 zu sprechen kommt: »Das Wasserkraftwerk ist nicht in den Rheinstrom gebaut wie die alte Holzbrücke, die seit Jahrhunderten Ufer mit Ufer verbindet. Vielmehr ist der Strom in das Kraftwerk verbaut. Er ist, was er jetzt als Strom ist, nämlich Wasserdrucklieferant, aus dem Wesen des Kraftwerks.« 24
Wieder ist es die großtechnische Anlage, die Heidegger, ohne das Wort an der Stelle im Munde zu führen, mit dem Gestell selbst verwechselt. Verfolgt man die gedanklichen Spuren des Bildes jedoch ein wenig weiter und erweitert sein Tableau, ergeben sich daraus einige wichtige Konsequenzen für Begriff und Bild des Gestells, die Heidegger selbst nicht gezogen hat. Stellt man sich vor, dass nicht nur der »Rheinstrom« in die Technik »verbaut« ist (und nicht umgekehrt), sondern auch das Naturphänomen Mensch, dann erscheint es fragwürdig, das Gestell als etwas Vorstellendes und Vorgestelltes zu betrachten, dem der Mensch als Agens oder Patiens gegenübertritt. Viel eher scheint eine Perspektive angemessen, die Heidegger dreißig Jahre zuvor angelegt hatte, nämlich in den berühmten Paragraphen 12 und 26 seines Hauptwerks Sein und Zeit. Heidegger dekonstruiert darin die cartesische Dichotomie von Subjekt und Objekt, Mensch, Welt, Körper und Ding zugunsten einer Bestimmung menschlichen Daseins als In-der-Welt-sein: »Der zusammengesetzte Ausdruck ‚In-der-Welt-sein‘ zeigt schon in seiner Prägung an, daß mit ihm ein einheitliches Phänomen gemeint ist. Dieser primäre Befund muß im Ganzen gesehen werden. Die Unauflösbarkeit in zusammenstückbare Be-
23 | Ebd., S. 8. 24 | Ebd., S. 16.
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stände schließt nicht eine Mehrfältigkeit konstitutiver Strukturmomente dieser Verfassung aus.« 25
Die unauftrennbare Eingewobenheit des Menschen in die Welt diesseits cartesischer oder anderweitig konstruktivistischer Spaltungen ist Heideggers entscheidende Intuition. Vollständig aber kann menschliches Dasein nur begriffen werden, wenn es als Mit-sein mit den anderen Bewohnern der Lebenswelt aufgefasst wird. Heideggers Ontologie des In-der-Weltseins zielt letztlich nicht auf die irdische, sondern die menschliche Sphäre. Ist es doch Ziel der gesamten Unternehmung, nicht nur die Verwobenheit des Menschen mit seiner Umwelt (ein Begriff, der in Heideggers Perspektive wortwörtlich keinen Sinn macht) aufzuweisen, sondern die immer schon gegebene Verbindung menschlicher Subjektivitäten miteinander: »Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.«26 Auf den ersten Blick scheint es Heidegger nicht gegeben gewesen zu sein, in diese Sphäre des Mitseins andere, nicht-menschliche Wesen und Agenturen hineinzudenken. Doch spricht, gerade unter den veränderten Bedingungen der technischen Gegenwart, wenig dafür, diese Beschränkung aufrechtzuerhalten, und sie ist auch nicht a priori in Heideggers Theoriebau angelegt. Gerade weil Heideggers Ontologie aber auf jeden Rekurs auf die Bestimmung des Menschen als Subjekt verzichten kann, ist der Ausschluss nicht-menschlicher Wesenheiten aus der Mitwelt nicht zwingend, und tatsächlich führt Heidegger eine solche Exklusion auch an keiner Stelle durch. Dass sein philosophischer Entwurf der Mitwelt den Gestirnen und den Göttern, dem Erdboden und den Gewittern weitaus mehr Platz einräumt als den letztlich doch immer wieder geschmähten Gestellen und Gestellverhältnissen, ist demnach nicht als theoretische Konsequenz aus Heideggers Entwurf zu verstehen, sondern entspricht der nicht nur erdbraunen Färbung seines Denkens insgesamt.27 Verbindet man jedoch die 25 | M. Heidegger: Sein und Zeit, § 12: „Die Vorzeichnung des In-der-Welt-seins aus der Orientierung am In-Sein als solchem“ (S. 52-59), S. 53. 26 | M. Heidegger: Sein und Zeit, § 26: »Das Mitdasein der Anderen und das alltägliche Mitsein« (S. 117-125), S. 118. 27 | Vieles spricht dafür, Heideggers immer wieder anklingende Polemik gegen die Technik nicht nur als Widerspruch im eigenen Entwurf zu sehen, sondern als Fluchtpunkt einer antisemitischen Denklinie, die das Technische mit dem Rati-
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Ontologie des frühen Heidegger mit der Einsicht in die Epistemologie des Technischen, die der späte Heidegger vorlegt, und visiert überdies die einfachen Gegebenheiten gegenwärtiger Technik an, ergeben sich andere, nützlichere Perspektiven.28
i G estell oder flüssige Technik Versuchen wir, ausgehend von Heideggers eigener Auffassung des In-derWelt-seins, der Mitwelt und des Mitsein, den Gedanken des Gestells auf die technische und philosophische Höhe unserer Zeit zu bringen, und beginnen wir ein weiteres Mal als Phänomenologen des technischen Alltags. Aus Heideggers großtechnischem »Gestell«, welches die Menschen in die Gegenwart ihrer Technik stellt, ist nunmehr, im Laufe weniger Generationen, so läßt sich salopp formulieren, die Vielfalt des iGestells geworden: kleine, mobile und netzwerkaffine, sozusagen flüssige technische Anwendungen bestimmen, begrenzen und verändern gegenwärtiges Dasein. Es scheinen kaum mehr die Schaltschränke und Kraftwerke, die Groß-Gestelle des Industriezeitalters zu sein, die unser Dasein bestimmen, sondern, und das viel unmittelbarer und hautnaher, die kleinen, beweglichen, anpassungsfähigen Gadgets und Gimmicks unseres elektronischen Alltags – die mp3-Player und die Smartphones, die Netbooks und Tablets, die wir beständig in intimer Nähe zum eigenen Körper tragen und verwenden. Überdies scheint sich das ›Verwenden‹ dieser Technik selbst immer mehr von ihren materiellen Substraten abzuheben – ich meine das Phänomen der Apps und Mini-Anwendungen, die sich immer mehr von den eigentlichen Apparaten lösen. Ein einfaches Beispiel: der Dienst Google Maps. Was ist eigentlich – nehmen wir die Tiefsinns-Voonalen, Zerebralen und damit Jüdischen identifizieren zu müssen glaubt. Einmal mehr erweist sich der halsstarrige Antisemitismus Heideggers nicht nur als unzumutbare Belastung seiner Philosophie, sondern als ihr entscheidendes Hindernis. Die Inkonsequenz der Technikphilosophie Heideggers, die gleichsam reflexhaft ins Vorurteil zurückzufallen scheint, findet hierin ihren Ungrund. 28 | Begriff und Theorie des Gestells hat zuletzt der Medien- und Technikphilosoph Norbert Bolz zu reaktivieren versucht, vgl. N. Bolz: Das Gestell. Einige der dort vorgebrachten Überlegungen fließen stillschweigend in das hier Vorgebrachte ein.
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kabel unbefangen in den Mund – das Wesen von Google Maps? Auf dem großen Bildschirm meines Bürocomputers instituiert, lässt sich Google Maps mit einiger analogischer Mühe als ›Landkarte‹ fassen. Unterwegs durch K arlsruhe, diesmal in die Gestalt des Smartphones gefahren, ist Google Maps etwas Anderes: eine Instanz, die mir den Weg weist, oder schlicht die Frage beantwortet, an welcher nächsten Ecke es Kaffee gibt, wann der Bus kommt, wo sich drahtloses Internet finden lässt, und dergleichen mehr. Nicht als Ansammlung von Algorithmen oder Schaltkreisen, sondern als Weise des Orientierens, die uns bestimmt, ist der Dienst Google Maps Gestell: ein jederzeit verfügbares technisches Dispositiv, in dessen Verfügung wir selbst gestellt sind.29 Aus Heideggers fundamentalontologischer Perspektive lassen sich also Elemente einer Beschreibung unserer technischen Gegenwart gewinnen. Einer technikphilosophischen Position auf Höhe ihrer eigenen Zeit muss es dabei weniger darum gehen, die technischen Dispositive der Gegenwart zukunftsoptimistisch zu euphorisieren oder aber kulturkritisch zu verwerfen. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal Heideggers anspruchsvolle Überlegung zum Ausgangspunkt seiner Technikphilosophie, wonach Technikfragen – ganz ähnlich übrigens wie ästhetische Fragen – Wahrheitsfragen sind. Es kann dann nicht nur darum gehen, die sich je verändernden Bedingungen und Formen unseres technischen Daseins zu beschreiben und nach selbstgesetztem Maßstab kritisch zu evaluieren – also genau jene philosophisch impotente Geste zu wiederholen, welche das Gewerbe der sogenannten Technikfolgenabschätzung, der zahllosen medizin- und bioethischen Beiräte und Kontrollkommissionen beständig und in vollständiger gesellschaftspolitischer Folgenlosigkeit wiederholt.30 Für eine 29 | Dass elektronische Anwendungen uns ihre Dienste nicht ohne Kostenfolge zur Verfügung stellen, sondern dass die Urheber ihrer Verwertungsketten gleichsam als Gegenleistung von uns erwarten, ihnen verwertbares Datenmaterial (Bewegungsprofile, Konsum- und Arbeitsgewohnheiten und dergleichen) anzufüttern, ist eine oft als Gefahr beschworene Binsenweisheit. Tatsächlich liegt der (von den Hasardeuren und Profiteuren des digitalen Finanzmarktkapitalismus lediglich geschickt ausgenutzte) Zusammenhang tiefer: ohne Anschluss an menschliche Episteme sind die iGestelle unserer Tage blind und taub, tote Algorithmen, lebloses Silizium, zum Stillstand verdammt wie gefesselte Giganten. 30 | Die Dringlichkeit eines auch ethischen Zugriffs auf Probleme der Technik, welcher sich der reinen Machbarkeitslogik entzieht, ohne sich den Eigendynami-
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Technikphilosophie auf der Höhe der Zeit hingegen muss die Frage nach dem Wahr-werden der ihr eigenen Wahrheit unserer technischen Gegenwart in den Mittelpunkt rücken. Technische Dispositive verändern die menschliche Lebenswelt so fundamental, dass das hergebrachte Vokabular von der bloß prothetischen ›Erweiterung‹ menschlicher Selbstreferenz durch Technik, von der McLuhan in den sechziger Jahren in stummer Anlehnung an Ernst Kapp sprach, überholt erscheint.31 Vorläufig möchte ich vorschlagen, fünf Überlegungen als Prolegomena einer jeden künftigen Technikphilosophie zu erwägen. Diese Bruchstücke sind als solche ganz disparat, sie erheben weder den Anspruch auf tabellarische Vollständigkeit noch gar auf umfassende systematische Kohärenz. Es handelt sich um zwei ontologische, ein epistemologisches, ein ethisches und poietisches Element, und eines, das als quasi-metaphysisch zu bezeichnen ist.
(1) In der Welt sein, Ko-Präsenz Gegenwärtige, liquide in die Alltäglichkeit menschlicher Seinsweisen verstrebte Technik entbirgt lebensweltliche Wahrheit eigener Natur. Aus dem Gestell Heideggers, jener großtechnisch verspannten Aggregation aus Mensch, Kraftwerk, Fabrik und mechanisierter Mobilität, die ihre kräftigsten Sinnbilder in Atom und Bombe findet, ist das iGestell geworden, und das Wahrheitsgeschehen seiner beständigen Fortentwicklung entfaltet sich vor unserem blinzelnden Auge. Selbstverständlich, auch unser technischer Alltag kommt ohne die großindustriellen Infrastrukturen von Containerhafen und Autobahn, Fließband und Maschinerie nicht aus. Doch sind es nicht diese makroskopischen Gestelle, es sind die kleinen Techniken, die so tief in unser tägliches Dasein gedrungen sind, dass sie sich nicht nur nicht mehr aus diesem herauslösen lassen, sondern dass die moderne Mensch/Technik-Unterscheidung für sie hinfällig geworden ist.
ken technischer Dispositive gänzlich zu verweigern, betont auch H. Lenk: Macht und Machbarkeit der Technik, S. 44f. 31 | Vgl. M. McLuhan: Die magischen Kanäle sowie E. Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik.
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(2) Übersummativität Seit Ernst Kapps technikphilosophischem Grundlagenwerk Grundlinien einer Philosophie der Technik von 1877 hält sich die Vorstellung, technische Einrichtungen würden lediglich körperlich schon angelegte Funktionen externalisieren und optimierend erweitern.32 Welches Organ, welcher Sinn aber wird erweitert, wenn Menschen Stunden und Tage in den Welten virtueller Unterhaltungsräume verbringen? Sind diese Räume nicht etwas ganz Neues, eigene Kontinente, deren Entdeckung unsere Kosmologie fundamental verändert, so wie die Entdeckung Amerikas und anderer außereuropäischer Erdteile über kurz oder lang mit der Vorstellung aufräumte, die Verhältnisse der Alten Welt seien der Maßstab allen irdischen Daseins? Erweitert ein in die Nervenbündel der Hörschnecke eingebrachtes Cochlea-Implantat tatsächlich die beschränkten Hörfähigkeiten eines Menschen – oder führt es nicht zu einem jeweilig vollkommen neuen Welteindruck und Seinsgefühl, an das sich für Normalhörige allenfalls in metaphorisch-bildlicher Rede anzunähern ist?33 Dass sich technische Seinsweisen unseren Beschreibungsversuchen beständig entziehen, zeigt das gängige Muster, nach welchem Menschen sich das je technisch Neue anzueignen versuchen: Eisenbahn ist wie Postkutsche, nur schneller. Düsenjet ist wie Propellermaschine, nur viel schneller. Kino ist wie Fotografie, nun aber bewegt. Tonfilm ist Kino und Radio zusammen. Smartphone ist wie Telefon, nur eben smarter (oder weniger dumm). Die eigentlich windschiefe und zugleich so treffende Morphologie dieser Komposita zeigt deutlich, dass die Eigenschaften neuerer Mensch-Ding-Verbindungen in Gestalt des iGestells als übersummativ anzusehen sind, weder reduzierbar auf ein bloß Technisches noch gar auf ein rein Menschliches.
32 | Vgl. Anm. 31. 33 | Noch deutlicher: Ist die Maschine, welche für die Luft auf den muskelschwachen Stimmbändern des Verfassers sorgt, wirklich ein ›Be-Atmungsgerät‹, welches einfach eine ausfallende Organfunktion kompensiert, oder ist es nicht vielmehr so, dass ›Mensch‹ – Birnstiel – und Maschine zusammen ein Drittes geben, die Einheit einer systemischen Differenz von ›Mensch‹ und Maschine also zugleich garantieren und übersteigen?
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(3) Neubeschreibung Der Erfahrungsraum des iGestells scheint bisher nicht ansatzweise vermessen. Erste Aufgabe einer zeitgemäßen Technikphilosophie muss es deshalb sein, zu einer adäquaten Beschreibung der Gegenwart des iGestells zu gelangen. Im Modus der Neubeschreibung liegt bereits einer der Schlüssel zur intellektuellen Bemächtigung der sich beständig wandelnden elektronischen Phänomene.34 Hinzu tritt die nicht nur die saure Arbeit der Philosophin am Begriff:35 ebenso wie die eher flächig anzusetzenden Beschreibungsinventare muss sich die kristallisierende Begriffsbildung selbst der liquiden Geschmeidigkeit der Technosphäre anverwandeln und sie gleichsam von innen heraus auf die ihr wesentliche Erkenntnis führen.
(4) Ethos, Poiesis Hinzu tritt das ethisch-poietische Element technikphilosophischer Bemühung: Wenn technisches Dasein vor allem als technisches Handeln zu verstehen ist, dann verlohnt es nicht, das iGestell gleichsam in Stillstellung seiner selbst zu beschreiben. Erst die handelnde Aktualisierung durch menschliche Agenturen, aber auch aus dem technischen Dispositiv selbst heraus ist überhaupt intelligibel und damit der Beschreibung und dem denkerischen Zugriff zu übergeben. Immer wieder hat die Technikphilosophie das einfache Phänomen beklagt, dass jede neue Technik, sei sie ökologisch so riskant wie ethisch fragwürdig, früher oder später zum Einsatz gelangt. Technikethische Bemühungen laufen, oftmals mit den besten Absichten vorgebracht, stets auf den Versuch hinaus, die einmal freigesetzten Geister zurück in die Flasche zu bannen – und beklagen die Schlechtigkeit der Welt, wenn der Versuch stets aufs Neue scheitert. Damit soll nicht gesagt sein, dass technisches Handeln keinem Regulierungsbedarf unterliege. Doch verkennt die mantraartig vorgetragene 34 | Zur Neubeschreibung in menschlicher Rede stehender Phänomene als philosophische, näherhin ethische Praxis vgl. R. Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. 35 | Die »Arbeit des Begriffs« – Arbeit am Begriff und Arbeit durch den Begriff – betrachtet Hegel als entscheidenden Überstieg der Philosophie über die Kontingenz des Empirischen, vgl. G .W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 65.
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Verbotslogik schlicht das Wesen menschlicher Technik, welches nicht im bloßen Bestehen technischer Installationen liegt, sondern in ihrem Charakter, Teil menschlichen Handelns zu sein. Noch einmal, und erneut etwas anders gesagt: der Stein wird zum Werkzeug erst, wenn der Mensch ihn in die Hand nimmt, um Feuer zu machen, die Kokosnuss zu knacken oder aber seinem Nebenmenschen den Schädel einzuschlagen, und das Werkzeug ist Technik erst dann, wenn es all diese Möglichkeiten in sich vereint und beständig aktualisiert. Gerade deshalb ist es so fruchtlos, einen je bestimmten technischen Gebrauch zu sanktionieren beziehungsweise einfach auszuschließen. Das Wesen der Technik wird von diesen Verboten gar nicht berührt. Das Automobil als Ding ist nicht viel mehr als ein Haufen Blech und Kunststoff, ein Atomkraftwerk nichts weiter als eine Verdichtung von Beton und Spaltmaterial. Eine reproduktionsmedizinische Anlage ohne weiblichen Körper ist einfach nur ein Gewirr von Schläuchen und Apparaten, und das Smartphone ohne die kleinen Däumlinge nichts weiter als ein Haufen billiger Elektroschrott. Erst der Eintritt ins Lebendige der menschlichen Sphäre macht all diese Dinge zur Technik, zum Gestell im eigentlichen Sinne, und ist dieser Eintritt einmal vollzogen, sind alle die genannten Qualitäten des iGestells mit einem Schlag da. Sie geben sich nicht sukzessive, sondern ereignishaft – ganz ähnlich wie jenes andere lebendige Phänomen, für dessen plötzliches Eintreten in die Präsenz wir üblicherweise das Wort ›Geburt‹ anschreiben. Eben aufgrund dieser ereignishaften Totalpräsenz erscheint es so handlungstheoretisch sinnlos wie ethisch fragwürdig, einzelne Lebensvollzüge des Technischen a priori auszuschließen. Vielmehr sind lebenspraktische Regeln gefragt, die das lebendige technische Leben einhegen und anleiten – und sich weniger an der totalitären Logik von Ausschluß und Verbot orientieren als an der Frage nach dem guten, dem gelingenden Leben.
(5) Entbergung, Gefahr, Ins-Offene Martin Heideggers Technikphilosophie kommt der einzigartige Vorzug zu, das Technische nicht als Phänomen bloßer Empirie aufgefasst zu haben, sondern im Technischen selbst den Kern eines auf Wahrheit hin orientierten Geschehens zu sehen. In der Gefahr des Technischen sieht Heidegger zugleich seine Chance auf Enthüllung je neuer Wahrheiten. In der Allgegenwart des iGestells scheint diese Unterstellung schlüssiger
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denn je. Die Frage nach der Wahrheit, dem Wahr-werden der technischen Welt der Gegenwart und einer angemessenen Sprache ihrer Erkenntnis muss demgemäß im Fokus eines ins Offene schreitenden Nachdenkens über Technik liegen. Technikfragen als Wahrheitsfragen zu betrachten, heißt die Gegenwart des iGestells als philosophische Aufgabe anzunehmen. Entzieht sich das Nachdenken über die technische Gegenwart dieser Anforderung, riskiert es nicht nur absehbar seine eigene Obszoleszenz, sondern vergibt sich auch die Möglichkeit, selbst am Wahrheitsgeschehen unserer Zeit teilzuhaben.
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Lenk, Hans: Macht und Machbarkeit der Technik. Stuttgart: Reclam 1994 (=RUB ). McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Aus dem Englischen von Meinrad Amann, Dresden: Verlag der Kunst 1994 [EA 1964]. Nancy, Jean Luc: Singulär plural sein. Aus dem Französischen von Ulrich Müller-Schöll, Berlin: diaphanes 2004 (=TransPositionen, 16) [EA 1996]. Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991 (=stw, 981) [EA 1989]. Serres, Michel: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer, Berlin: Suhrkamp 2013 [EA 2012]. Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999.
Ästhetik technischer Praktiken im Science-Fiction-Film Natascha Adamowsky
Was bringt die Zukunft? Was erträumen wir uns von ihr, wovor fürchten wir uns? Während die erste Frage immer den Wechselfällen des menschlichen Schicksals ausgesetzt ist, haben die beiden letzteren einen mittlerweile etablierten Schauplatz gefunden, an dem sie im Modus der Science-Fiction konkrete Formen annehmen können. In Filmen wie Romanen dieses Genres trifft man daher weniger auf Vorhersagen dessen, was auf uns zukommen wird, als vielmehr auf aktuelle Erfahrungen mit dominierenden gesellschaftlichen Entwicklungen und auf Begehrensstrukturen, die unseren Umgang mit und unsere Erwartungen an aktuelle wie zukünftige Technik prägen. Vor diesem Hintergrund liegt die Aufmerksamkeit der folgenden Überlegungen auf der Gestaltung und Wahrnehmung von Mensch-Maschine-Konfigurationen im Science-Fiction-Film, insbesondere auf der Ästhetik ihrer handlungsleitenden technischen Praktiken. Sie beginnen mit dem überraschenden Befund, dass im fortgeschrittenen Internet-Zeitalter und einer durchgreifenden Digitalisierung aller Lebensbereiche die skizzierten Zukunftsvisionen nicht von visuellen Metaphern technischer Vernetzung, virtuellen Bildern und technischen Konzepten miniaturisierter smarter Allgegenwart bestimmt sind. Stattdessen stößt man auf archaische Vorstellungen gottgleicher Größe, auf den modernen Traum von schweren Maschinen und den mythischen Wunsch heroenhafter Kampfeskraft.1
1 | Ein Beispiel aus der jüngeren Filmgeschichte, der diese Tendenz eindrücklich vorführt, ist Pacific Rim von Guillermo del Toro (www.pacificrimmovie.com, Zugriff 3.11.2014).
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Nach dem Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 folgten die meisten amerikanischen Superhelden-Filme der Narration der Bush-Doktrin. Die einfache first-strike- oder pre-emptive-strike-Logik der Erzählung lieferte dabei meist den Rahmen für ein furioses special effects-Gewitter, in dem konventionelle Größen- und Kräfteverhältnisse gesprengt und die Zuschauer sinnlich-körperlich durcheinandergewirbelt werden.2 Ebenso auffällig ist die markante japanische Ästhetik, wie sie beispielhaft in der Figur des amphibischen Nuklearmonsters Godzilla (zuerst 1954) oder der Transformers-Maschinenwesen (1984) erstmals Gestalt angenommen hat. Diese Filme sind mit ihren rasenden Schnittfolgen aus Partialansichten und der beunruhigenden Unschärfe unausgesetzter Explosionen und Wolkenbrüche weitgehend aisthetische Abenteuer und cinematische Achterbahnfahrten, die die Zuschauer somatisch affizieren. In ihren gewaltigen Licht- und Klangwolken werden neue Pathosformeln und medienästhetische Überbietungsszenarien choreografiert. Im Kontrast zu diesem Spektakelkino des Außerordentlichen steht die spektakuläre Inszenierung von Technoimaginationen einer zukünftigen Lebenswelt. Erstaunlicherweise hat sich dabei auf dem Feld der visuellen Spekulationen seit den 1980er-Jahren wenig getan: Nach wie vor bestimmt die Ästhetik von Terminator, Blade Runner, Star Trek oder Total Recall unser Denken, wenn es um die Ausgestaltung zukünftiger Lebenswelten mit futuristischen Technologien und Anwendungsszenarien geht. Vor diesem Hintergrund ist es somit nicht überraschend, dass auch das filmische Genre des Remake eine erneute Konjunktur-Phase durchläuft. Remakes sind ein außerordentlich spannendes Sujet für die Frage nach Technikzukünften. Praktischerweise liefern sie einem das heuristische Mittel einer Vergleichsfolie in Form einer historischen Zeitreise gleich mit. Der Film, um den es im Folgenden geht, ist das Hollywood-Debüt des brasilianischen Regisseurs Jose Padilha, RoboCop (2014)3, ein Re-
2 | Jüngstes Beispiel für einen Präventivschlag-Plot ist Captain America: The Winter Soldier (USA 2014; R: Anthony & Joe Russo). Captain America entdeckt, dass die neueste Operation von S.H.I.E.L.D. im Aufbau eines Überwachungs- und Präventivschlagnetzwerkes besteht, das jeden töten soll, der nach algorithmisch ermittelter Prognose eine Gefahr für den Weltfrieden darstellen wird. 3 | RoboCop (USA 2012, R: Jose Padilha).
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make wie eine Hommage an den Cyborg-Klassiker des niederländischen Filmemachers Paul Verhoeven aus dem Jahr 1987. 4 Padilhas Remake beginnt mit einer Nachrichtensendung aus einem afghanischen Einsatzort. Die amerikanische Friedensmission ist gescheitert, stattdessen patrouilliert eine bedrohliche Roboterarmee durch die Straßen. Jeder Bewohner wird gescannt und als verdächtiges oder unverdächtiges Subjekt kategorisiert, um fortan als kooperativer Untertan das amerikanische Friedensdiktat zu erfüllen. Als eine Gruppe Selbstmordattentäter vor laufender Kamera die Patrouille angreift, schaltet der Sender von den Kampfhandlungen zurück ins Studio, wo eine Art Nachrichtenbzw. Talkshow-Moderator, Samuel L. Jackson in aufwendigem 80er-Jahre Retro-Styling, das Publikum anherrscht, es solle seinen dummen robophobischen Widerstand gegen automatisierte Polizeieinheiten endlich aufgeben. Der Rest der Welt lebe schließlich bereits in Frieden, da gehe es nicht an, dass Amerikas Straßen immer noch von kriminellen Elementen besetzt seien. Mit dieser schrillen Persiflage auf die Medienlandschaft schließt Padilha direkt an das Original Verhoevens an. Beide Filme kennzeichnen ausgeprägte Züge der Gesellschaftssatire, hinter der sich vor allem eine Auseinandersetzung mit den strukturellen Gewaltmechanismen moderner Gesellschaften, der allesbeherrschenden kapitalistischen Logik und der zunehmenden Demontage demokratischer Einrichtungen durch Militarismus, Privatisierung und Überwachung verbirgt. Zentraler Schauplatz der Konstituierung einer gesellschaftlichen Wirklichkeit ist in beiden Filmen das Fernsehen. Verhoeven unterbricht seine Filmhandlung immer wieder durch Kurznachrichten und Werbespots, in denen die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen der Vereinigten Staaten der 1980er Jahre in die Zukunft verlegt und dort in satirischer Weise auf die Spitze getrieben werden. In einer kurzen Meldung erfahren wir, dass das satellitengestützte Laser-System SDI – eine Persiflage auf das damals von der US-Regierung unter Ronald Reagan betriebene futuristische Raketenabwehr-Projekt Strategic Defense Initiative – leider aus Versehen losgegangen sei und drei ehemalige amerikanische Präsidenten in ihrem Pensionärs-Paradies Palm Springs pulverisiert hätte. Ein graumelierter Arzt preist wie ein Gebrauchtwagenhändler seine Kollektion künstlicher Organe an – »Sie wählen Ihr Herz!« – und die heile amerikanische Fami4 | RoboCop (USA 1987, R: Paul Verhoeven).
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lie wirbt daheim am runden Tisch für das spannende Gemeinschaftsspiel Nukem, das einen geselligen Atomkrieg simuliert. Verhoevens beißende Gesellschaftskritik hat bis heute nichts an ihrer Schärfe verloren, doch wirkt die gezeigte Warenästhetik mittlerweile deutlich überzeichnet. Padilha dagegen verzichtet weitgehend auf Projektionen einer sozialen Realität und überführt die implizite Logik der aktuellen US-amerikanischen Überwachungsoffensive in die smarte Jungspund-Ästhetik der twenty-something Internet-Monopolisten und Multimilliardäre. Mit der ästhetischen Fiktionalisierung wird aus dem gegenwärtigen Cyberangriff auf die bürgerlichen Grundrechte ein Amusement, das vielen zugleich im Halse stecken bleibt.5 Während Verhoevens Totalitarismus-Satire noch in einer digitalen Bronzezeit spielt, ist das technische Update Padilhas längst von der Realität des 21. Jahrhunderts eingeholt. Autonome Waffensysteme sind Teil der Realität, und so hält sich Padilha nicht mit der Erfindung von Kampfrobotern auf, sondern kommentiert ihren militärischen Einsatz, im konkreten, zu Beginn des Films gezeigten Beispiel den Einsatz von Kampfdrohnen in Krisengebieten. Padilhas Dystopie enthält somit nur noch Spurenelemente des Fantastischen, was die Frage nahelegt, ob das letzte Vierteljahrhundert womöglich so viele technische Umwälzungen gebracht hat, dass uns für utopische Entwürfe schlicht die Ideen ausgegangen sind. Entscheidender jedoch als die Vermutung einer vermeintlichen Kreativpause ist eine andere Überlegung: Wenn es stimmt, dass ein Grund für Remakes die andauernde Aktualität der Probleme und Fragen ist, um die das Original kreiste, und wenn es auch stimmt, dass unsere Zeit zwar turbokapitalistisch, postdemokratisch und überwachungstraumatisiert, jedoch gleichzeitig auf einem technologisch völlig anderen Niveau als die 80er-Jahre angesiedelt ist, warum sind dann die Antworten beider Filme die gleichen? Oder sind sie es nicht? Der RoboCop von Verhoeven ist ein Cyborg der gierigen 80er-Jahre, der reaktionären Reagan-Ära und der narzisstischen Yuppies. Unter einer Oberfläche aus burlesker Gewaltorgie und kühlem Medienzynismus bewegt sich ein zutiefst anthropologischer Film im Erzählmuster des amerikanischen Western, der von der Unveräußerbarkeit der menschlichen 5 | Vgl. den Internet-Auftritt des Films, der in der Präsentation der fiktiven Firma OmniCorp besteht: www.omnicorp.com
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Seele handelt. Die Seele ist es, die unserem Leben ein Schicksal schenkt – hier: A man has got to do what a man has got to do – und die das Menschsein an ein Individuum-Sein bindet. Während eines Einsatzes gerät der Polizist Alex Murphy in einen Hinterhalt und wird von Gangstern brutal erschossen. Als die Wiederbelebungsmaßnahmen im Krankenhaus scheitern, wird sein Körper der mächtigen Sicherheitsfirma OCP (Omni Consumer Products) übergeben, die Teile von Murphys Gehirn und Körper in einen Roboter einbaut. Sein Gedächtnis wird gelöscht, und er erhält als Maschinenmensch ein zweites Leben. Als unbesiegbarer RoboCop wird er schnell zum Helden der Stadt, doch im Laufe der Zeit kommen ihm immer mehr Erinnerungen an seine frühere menschliche Existenz, und er beginnt, nach seiner früheren Identität zu forschen. Am Ende des Films schließlich gelingt es RoboCop, sich wieder als Murphy wahrzunehmen, sein Geist hat also über die maschinelle Programmierung gesiegt und erlöst Murphy damit aus seiner fremdbestimmten Roboterexistenz. In der ersten RoboCop-Verfilmung wird die Hinrichtung von Murphy bis an die Grenze zum Splatterhaften gezeigt; eine Voraussetzung, so Verhoeven, für seine darauf folgende Auferstehung: »It’s an old theme – resurrection – someone comes back from the dead and is reborn.«6 Auf die motivische Analogie zwischen Murphy und Jesus ist sowohl von Verhoeven selbst als auch von vielen Kritikern hingewiesen worden.7 Die Erschießung Murphys ist als das Martyrium der Kreuzigung zu sehen, und so wie der römische Legionär Longinus dem gekreuzigten Jesus eine Lanze in den Leib stieß, wird auch Murphy im finalen Kampf von einem Metallrohr durchbohrt. Seine Partnerin Nancy betrauert ihn in der ikonischen Haltung der Mater Dolorosa, und nachdem RoboCop die Schmerzen der Selbsterkenntnis durchlaufen hat, kann er, wenn auch nur scheinbar, über das Wasser laufen. Verhoevens RoboCop überwindet die ultimative Grenze der menschlichen Existenz, den eigenen Tod.8 Motivgeschichtlich steht er damit in der Tradition der Monster, Wiedergänger und Kunstmenschen von Mary Shelleys Frankenstein bis hin zu Fritz Langs Menschmaschine Maria aus dem 6 | Verhoeven im Interview als Bonus-Material auf der DVD. 7 | M. Kregel: Jost Vacano, die Kamera als Auge des Zuschauers, S. 115. 8 | Vgl. W. Neuhaus: Das Posthumane in der Popkultur. Robocop als Prototyp des Cyborg-Kinos.
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Film Metropolis (1927). Es war tatsächlich die von Walter Schulze-Mittendorff für Fritz Lang geschaffene Maschinen-Maria, die zum Vorbild für das RoboCop-Design wurde, mit einem entscheidenden Unterschied allerdings, dem Gesicht. Wir sehen es den größten Teil des Films zwar nur halb, doch es repräsentiert im wörtlichen wie übertragenen Sinne, dass Murphy nicht sein Gesicht verloren hat. Trotz Verstümmelung und den Zumutungen einer Cyborg-Existenz kann er sein Gesicht wahren, und die Metapher spricht nicht nur von der Beherrschung oder der Bedrohung des Gesichts als Teil unserer gesellschaftlichen Existenz, sondern sie führt gleichsam ins Zentrum der Person und ihrer Unverwechselbarkeit. Als transhumanes Wesen lebt Murphy in seiner neuen technologischen Form als RoboCop weiter, was bei Verhoeven gleichzeitig den Abschied von seiner Familie und allen Beziehungen mit sich bringt. Gleichzeitig ist es jedoch gerade die Erinnerung an seine Familie, mit der Murphys Seele wieder erwacht und ihn durch die psychische Hölle vollständiger Entfremdung zu sich selbst führt. Die Schlüsselszene für diesen Moment der Selbsterkenntnis erfolgt gegen Ende des Films, wenn Murphy seinen Helm abnimmt und sein Gesicht in einem Spiegel betrachtend sanft betastet. In diesem Moment erfährt er sich als menschliches Individuum, als ein Wesen mit einem Schicksal, und zwar entgegen der abendländischen Tradition nicht durch den erwachenden Geist, sondern über das Spüren seines physiologischen Körpers, über das Leib-Sein im Plessner’schen Sinn. Er könne sich nicht mehr an seine Familie erinnern, sagt Murphy an einer Stelle, aber er könne sie spüren. Im Jahr 2014 verläuft Murphys Geschichte in vielen Punkten entscheidend anders. Weder stirbt der schwerverletzte Polizist, noch verliert er die Vorstellung davon, dass er menschlich ist. Er behält seine Familie und Freunde, seine Erinnerungen und letztlich auch sein Gefühlsleben. Verhoevens Idee, dass das eigenleibliche Spüren, dass der menschliche Körper letztlich der Garant einer menschlichen Existenz sei, kommt ebenso wenig vor wie etwa biblische Denkfiguren von Opfertod und Auferstehung. Vielmehr ist Padilhas RoboCop ein Kämpfer, der ganz im Hier und Jetzt verortet scheint, ein versehrter Hochleistungssportler, unterstützt vom Nonplusultra mikroprozessorgesteuerter Prothesenkunst. Statt eines zeitgemäßen biotechnoiden Mutantenmonsters, wie es Science-Fiction-Fans seit Sprawl, District 9 oder den X-Men erwarten, schicken die Bösewichte einen coolen Motorrad-Helden in einem Kampfanzug im Porsche-Design.
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Das ist, zugegebenermaßen, leicht übertrieben. Interessant ist jedoch, mit welch libidinöser Sorgfalt und ästhetischer Strahlkraft die RoboCop-Gestalt ausgestattet ist, und zwar in beiden Filmfassungen. Der RoboCop der 80er-Jahre war ein silberner Ritter-Android, dessen Rüstung während der Dreharbeiten stets auf Hochglanz poliert, geölt und speziell beleuchtet wurde, damit sie in jeder Sekunde optisch hervortrat.9 Das Design des Torsos von Rob Bottin erinnert an die antiken Muskelpanzer griechisch-römischer Feldherren, d.h. an geschmiedete Rüstungen für den Oberkörper, die dem Ideal eines nackten muskulösen Männerkörpers nachempfunden waren. RoboCops Körperformen verweisen damit auf die Ikonographie des heldenhaften Kriegers und wurden zu einem wichtigen Bestandteil der visuellen Kultur der Action-Heroes, die sich Mitte der 1980er- Jahre herauszubilden begann. Seine unerschütterliche Haltung und die entschlossenen Posen verbinden ihn mit der Körperästhetik der Superhelden, während seine leicht mechanische Performance paradoxerweise gerade das belebt, was durch den technischen Fortschritt, den er inkarniert, weitgehend überflüssig geworden ist, die menschlich-männliche Stärke und Arbeitskraft. So repräsentiert der 80er-Jahre RoboCop als Man of Steel in einer Zeit der Krise und Unsicherheit die Stärken einer stabilen, nationalen, mechanisch-industriellen Gesellschaft und gleichzeitig die Ambivalenzen jeder Technologie, die eben nicht, anders als sich das RoboCops OCP-Schöpfer vorgestellt haben, vollständig kontrollierbar ist. Im Kontrast dazu ist der RoboCop 2014 mit seinen deutlich geschmeidigeren Bewegungen und phallischen Fahrzeugen nachgerade cool und sexy. Sein Outfit entspricht weitgehend den Kampfanzügen, die man aus Polizei-, Agenten- und Kriegsfilmen gewöhnt ist, was ihn allein ästhetisch in einem globalen militärischen Kontext verortet. Der Krieg ist in jeder Sekunde des Filmes präsent, und es ist von Beginn an klar, dass er sowohl mit Waffen als auch mit digitaler Überwachungstechnologie geführt wird. RoboCops Thema zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der freie Wille, die Frage der Macht, der Kampf darum, wer wen kontrolliert. Murphys Leiden rührt weniger aus seiner körperlichen Versehrtheit und seiner Cyborg-Existenz her, sondern erwächst aus dem Versuch, seinen Willen zu korrumpieren, ihm seine Emotionalität sprich Identität zu rauben und sein Datenmanagement zu manipulieren – ein Problem, das wir alle haben, die wir in den Fängen von Google, Amazon und Face9 | Vgl. www.robocoparchive.com.
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book stecken. Die Stärken RoboCops liegen 2014 dementsprechend viel stärker im Bereich Datenanalyse und information processing als in präzisem Schusswaffengebrauch und stählernen Superkräften. Zwar ist der Held – selbstredend – auch physisch unglaublich schnell und gewandt, schießt mit seinem Motorrad über die Leinwand, durch die Scheiben, in die Feinde und metzelt alles nieder, aber der Sieg am Ende gelingt ihm vor allem deshalb, weil er die Datenbanken des Gegners wie seine eigene Programmierung hacken kann und somit seine Datensouveränität zurückgewinnt. In der Tat gelingt Padilha damit ein erstaunliches Update der vermeintlich verstaubten Cyborg-Figur, an deren mattschwarz schimmerndem Gehäuse letztlich alle Infiltrationsversuche der Konzerne und Regierungen scheitern. Padilha zeigt den Zustand der gegenwärtigen vernetzten Gesellschaft so, wie ihn offenbar zunehmend mehr Menschen empfinden, als Krieg der Geheimdienste und Internet-Monopolisten gegen die Bevölkerung. Aus der Abstraktheit bzw. Unsichtbarkeit der täglichen Massenüberwachung entsteht ein konkretes Tableau, in das sich jeder hineindenken kann. Zudem zeichnet Padilha vor dem Hintergrund der aktuellen Enthüllungen Edward Snowdens eine neue Variante der Verbindung von Mensch und Technik, in der die Technik menschliche Beschädigungen nicht nur ausgleicht, sondern ihr ganzes Potenzial in den Dienst einer moralisch integren Gesellschaftsordnung stellt. In den Feuilletons wird die RoboCop-Verfilmung deshalb gern als verkorkste Messias-Geschichte mit eindeutig kartesianischem Einschlag belächelt 10, wobei übersehen wird, dass RoboCop keine Erlöser-, sondern eine Ermächtigungs- und Schutzphantasie ist. Murphys Körperhülle nämlich integriert das Allerneueste in eine archaische Gestalt, den körperlich überlegenen Kämpfer, der den Seinen von Anbeginn der Kulturgeschichte das Überleben gesichert hat. Doch mit dieser Rüstung ist er nicht nur stark und schnell, sondern vor allem auch online und mobil. Er ist eine wandelnde augmented reality, sein eigenes Interface zwischen virtueller und analoger Welt, ein mobiles Medium. Mit dieser Form technischer Selbstmedialisierung ist der neue RoboCop mitten im digitalen Informationszeitalter angekommen.
10 | Vgl. A. Busche: Der Messias braucht ein Upgrade.
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L iter atur und O nlinequellen Busche, Andreas: »Der Messias braucht ein Upgrade«, ZeitOnline 2014, http://www.zeit.de/kultur/film/2014-02/robocop-film-jose-padilhas vom 03.11.2014. Kregel, Marko: Jost Vacano, die Kamera als Auge des Zuschauers. Marburg: Schüren 2005. Neuhaus, Wolfgang: Das Posthumane in der Popkultur. Robocop als Prototyp des Cyborg-Kinos, Telepolis 2006, http://www.heise.de/tp/arti kel/22/22409/1.html vom 13.05.2014. http://www.omnicorp.com vom 03.11.2014 http://www.pacificrimmovie.com vom 03.11.2014 http://www.robocoparchive.com/info/thesuit.htm vom 11.02.2015
F ilmogr aphie Blade Runner (USA 1982, R: Ridley Scott) Die totale Erinnerung – Total Recall (USA 1990, R: Paul Verhoeven) District 9 (USA 2009, R: Neill Blomkamp) Expendables (USA 2010, R: Sylvester Stallone) Man of Steel (USA 2013, R: Zack Snyder) Metropolis (D 1927, R: Fritz Lang) Pacific Rim (USA 2013, R: Guillermo del Toro) RoboCop (USA 1987, R: Paul Verhoeven) RoboCop (USA 2014, R: José Padilha) Star Trek (USA 1979, R: Robert Wise) Terminator (USA 1984, R: James Cameron) Total Recall (USA 2012, R: Len Wiseman) Transcendence (USA 2014, R: Wally Pfister) X-Men (USA 2000, R: Bryan Singer)
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Techniknarrative
Der gläserne Mensch in Dave Eggers’ The Circle Szilvia Gellai
E inführung Dave Eggers’ Werke fanden bislang besonders aufgrund jener ihrer ästhetischen Qualitäten und philosophischen Implikationen wissenschaftliche Beachtung, die einen Bruch mit der exzessiven Selbstreflexivität der postmodernen Schreibtradition und mit Ironie als existenzieller Attitüde darstellen:1 Als wichtigste Marker des besagten Wandels gelten etwa das von Lionel Trilling geprägte Konzept der Aufrichtigkeit (sincerity) und Authentizität (authenticity)2 sowie das dichterische Bekenntnis zur Wirklichkeit und zum gesellschaftlichen Engagement.3 Robert L. McLaughlin bemerkt diesbezüglich: »We can think of this aesthetic sea change […] as being inspired by a desire to reconnect language to the social sphere […], to reenergize literature’s social mission, its ability […] to have an impact on actual people and the actual social institutions in which they live their lives.« 4
1 | Statt des rhetorischen Tropus ist hier Ironie als Grundeinstellung gegenüber der erlebten Realität als Ganzes gemeint. Vgl. A. d. Dulk: Existentialist Engagement. 2 | Vgl. E. J. Korthals Altes: Sincerity, Reliability and Other Ironies. 3 | Vgl. A. d. Dulk: Existentialist Engagement. 4 | R. L. McLaughlin: Post-Postmodern Discontent, S. 55.
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Mit The Circle (2013), dessen aufklärerische Tendenz von Kritikern mal verschmäht, mal enthusiastisch begrüßt wurde,5 setzt Eggers diese neuere Tradition der amerikanischen Gegenwartsliteratur fort. Er fokussiert ein Phänomen, welches unsere soziale Wirklichkeit stark prägt und unter dem Stichwort ›Transparenz‹ gehandelt wird. Das Thema klingt bereits im Romantitel an, spielt er doch auf die als Closed Circuit (oder CCTV) von Überwachungskameras bekannte Beobachtungssituation an. »Eine solche Anordnung beschreibt«, so Heike Helfert, »eine geschlossene Abbildungssituation, bei der das Aufnahmemedium (die Kamera) direkt mit dem Abbildungsmedium (zum Beispiel einem Monitor) verbunden ist.«6 Obschon die Anfänge der Videoüberwachung urbaner öffentlicher Räume in den 1970er Jahren lagen, drang das Verfahren erst ab den Neunzigern durch die weltweite digitale Vernetzung ins allgemeine Bewusstsein.7 Von Medienkünstlern hingegen wurde es aufgrund seiner markanten Ästhetik nicht nur früh aufgegriffen, sondern auch prompt ins Selbstreflexive gewendet, d.h. der Betrachter in den Mittelpunkt der Darstellungssituation gerückt.8 Heute bildet der um den Betrachter zentrierte Closed Circuit eine fundamentale Anordnung von performativen Praktiken in den Sozialen Medien des Web 2.0.9 Aus der Überwachungskamera ist also sukzessive eine Art Spiegel, ein Ensemble der Selbstbeobachtung und Selbstdarstellung geworden.10 Angesichts dieser funktionalen Verschiebung bzw. Erweiterung im Mediendispositiv drängt sich die Frage nach dem Wesen auf, um das sich der ›Kreis‹ schließt. Dies ist auch der Punkt, an dem Eggers ansetzt. Inmitten von The Circle platziert er eine Figur, die man im deutschen Sprachraum ›den gläsernen Menschen‹ nennt. Ein äußerst treffender Ausdruck ohne eng-
5 | Stellvertretend sei hier nur auf die Kommentare von Ole Reißmann (SPIEGEL ONLINE), Rezension vom 29.10.2013) und Juli Zeh (Deutschlandradio Kultur, Kompressor, Beitrag vom 13.08.2014) verwiesen. 6 | H. Helfert: Raum Zeit Technikkonstruktionen, S. 170. 7 | Vgl. Ch-Y. Lin: Öffentliche Videoüberwachung in den USA, Großbritannien und Deutschland, S. 21-22. 8 | Ebd., vgl. daneben auch: S. Kacunko: Closed Circuit Videoinstallationen. 9 | Vgl. R. Reichert: Die Macht der Vielen, S. 84-86. 10 | Ebd., S. 85. Zu den Ensembles der Selbstbeobachtung vgl. auch M. Faßler: Netzwerke, S. 49-54.
Der gläserne Mensch
lische Entsprechung,11 der den Blick für den häufig verwischten Unterschied zwischen Transparenz und Gläsernheit schärft. Wohlgemerkt zielt vorliegende Schrift weniger darauf ab, Transparenz als ästhetisches, kommunikationstechnologisches, medizinisches, politisch-ökonomisches, datenschutzrechtliches oder anderweitig attribuiertes Phänomen zu kommentieren.12 Wenn ich hier den gläsernen Menschen anhand eines Romans als einen typischen Akteur der Gegenwart beschreibe, so geschieht dies unter einem Aspekt, den die physikalischen Eigenschaften von Glas als Material und Aggregatzustand nahe legen und der sich nicht in Durchsichtigkeit erschöpft. Es geht um den Aspekt der Ergodizität, der im nächsten Abschnitt näher erklärt wird. Auf diese Weise soll u.a. auch gezeigt werden, dass Gläsernheit viel mehr ist und viel mehr bewirkt als Transparenz bzw. Sichtbarkeit13 allein. Diese Rückbesinnung auf die sinnliche, materielle Basis der Dinge darf als lebensweltlicher Anker des Beitrags verstanden werden.
E xkurs zum physik alischen G l aszustand 14 Die von Eggers entworfene Romanwelt weist bereits durch ihre gläserne Architektur eine unheimliche Nähe zu unserer Lebenswelt auf. Trotz der Omnipräsenz des Werkstoffes in den Bürohäusern der Gegenwart scheint man aber kaum etwas anderes vom Glas wahrzunehmen, so paradox dies 11 | So wurde bereits der Gläserne Mensch des Dresdner Hygienemuseums von 1930 schlicht als Transparent Man bezeichnet. Die mangelnde Adäquatheit der Übersetzung blieb nicht unbemerkt: »The German description ›Gläserner Mensch‹ is far better suited to show the symbolic and the quite ambivalent characteristics than the conventional translation ›Transparent Man.‹« K. Vogel: The Transparent Man, S. 58. 12 | Weiterführend zur Transparenz im Allgemeinen: B. Mahr: Der gläserne Patient; S. A. Jansen/E. Schröter/N. Stehr (Hg): Transparenz; K. Bersch/G. Michener: Conceptualizing the Quality of Transparency. Zur Transparenz bei Eggers im Speziellen vgl.: K. Huizing: Der homo digitalis. 13 | Die häufige synonyme Verwendung dieser Begriffe ist zwar nicht unproblematisch, es kann ihr jedoch in diesem Rahmen nicht nachgegangen werden. 14 | Für das fachkundige Gegenlesen des Abschnitts und ergänzende Hinweise auf die aktuelle Forschung danke ich dem Physiker Jörg Schmalian.
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auch klingt, als dessen Transparenz. Wie könnte man auch von diesem wichtigsten Merkmal absehen? Und wozu? Doch es kommt in der Tat nicht nur darauf an, dass Glas durchsichtig wie Wasser, sondern dass es gleichzeitig auch fest wie Eis ist. In eben dieser simultanen Nähe zum Fluiden wie Gefrorenen – und keineswegs allein in Transparenz – besteht das Faszinosum schlechthin. Denn ›Glas‹ bezeichnet nicht nur einen Werkstoff, namentlich v.a. anorganische Silikatgläser, sondern – und zwar unabhängig von seiner Zusammensetzung – auch einen amorphen Stoffzustand, den es nun näher zu betrachten gilt. Der Zustand, in dem wir das Glas in aller Regel antreffen, entspricht dem einer unterkühlten Flüssigkeit.15 Während die Glasschmelze auf Raumtemperatur abkühlt, erstarrt sie zu einem Festkörper, ohne dass seine Stoffteilchen in dieser Zeit Kristalle bilden könnten. Das liegt an der Kinetik, also an der Bewegungsgeschwindigkeit einzelner Bausteine, die in der stetig kühler und zäher werdenden Glasschmelze immer geringer ausfällt. Folglich können sich die Bausteine nicht mehr umlagern, um Kristalle zu formen und dadurch den energetisch (thermodynamisch) stabilsten Zustand zu erreichen.16 Im Gegensatz zu den meisten festen Substanzen entstehen deshalb im Glas keine streng geordneten Kristallgitter, sondern es bleibt eine für Flüssigkeiten typische ungeordnete Struktur erhalten. Im Sinne der sog. Netzwerk-Hypothese handelt es sich dabei um ein unregelmäßiges Netzwerk.17 Der Glaszustand ist insofern instabil, als »er nur temporär – für praktische Anwendungen aber ausreichend lange – davon abgehalten wird, in den kristallinen Zustand überzugehen.«18 Lässt man den Blick über bestimmende Attribute des Stoffzustandes – wie ›ungeordnet‹, ›unregelmäßig‹ und ›instabil‹ – schweifen, zeichnet sich ein gewisser Nicht-Charakter des Glases ab, der sich darin offenbart, dass es sich gängigen Kategorien entzieht und sich adäquat nur ex negativo definieren lässt. So inkarnieren sich im Glas drei Negationen, welche selbst die heutige Festkörperphysik vor Herausforderungen stellen:
15 | Vgl. D. Renno/M. Hübscher: Glas; H. Scholze: Glas. 16 | H. A. Schaeffer: Was ist Glas?, S. 31-32. 17 | H. Scholze: Glas, S. 5. 18 | Ebd., S. 32.
Der gläserne Mensch
Neben der bereits beschriebenen nicht-kristallinen Struktur und dem thermodynamischen Nichtgleichgewicht des Glases geht es um dessen Nicht-Ergodizität.19 Ergodizität ist ein von Ludwig Boltzmann geprägter Begriff der statistischen Physik, der sich auf die »Gleichgewichtsverteilung eines Systems fester Energie«20 bezieht. Als ergodisch wird ein System bezeichnet, dessen Elementen »im Laufe der Zeit jeder mögliche Bewegungszustand des Systems«21 zugänglich ist. Würden wir z.B. über lange Zeit hinweg einen Vogel inmitten einer Schar beobachten, müssten seine Flugbahnen – damit die Vogelschar als System dem Kriterium der Ergodizität entspricht – durchschnittlich ebenso viele Raumpunkte am Himmel berühren können, wie es die gesamte Schar durchschnittlich zu einem Zeitpunkt vermag.22 Während die Teilchen der Glasschmelze dieses Kriterium noch erfüllen, ist es im festen Glas (trotz Flüssigkeitsstruktur) nicht mehr der Fall. Eine klare Grenze zwischen ergodischem und nicht-ergodischem Zustand lässt sich aber ebensowenig ziehen wie zwischen Schmelze und glasigem Festkörper. Der Übergang vollzieht sich derart fließend, dass lediglich ein Transformationsbereich, jedoch kein fixer Schmelzpunkt bzw. Festpunkt bestimmbar ist. »Ob sich das System dem Betrachter als Glas 19 | »The study of glass physics is made difficult owing to the three nons. Glass has a noncrystalline, liquidlike structure, lacking the intermediate and long-range periodicity found in crystalline solids. Furthermore, glass is a nonequilibrium material, continually relaxing toward the supercooled liquid state. […] Finally, the glassy state is inherently nonergodic, since the relaxation time of a glass is typically much longer than directly accessible experimental time scales.« R. C. Welch et. al.: Dynamics of Glass Relaxation at Room Temperature, S. 265901/1. 20 | H-O. Georgii: Stochastik, S. 162. 21 | Meyers Lexikon der Naturwissenschaften, S. 233. 22 | In der Fachliteratur wird die Definition der Ergodizität stets mit der Einführung zweier Begriffe, nämlich Zeitmittel (zeitliche Mittelwerte, die aus der Langzeitbeobachtung einer statistischen Komponente eines Systemelements gewonnen werden) und Scharmittel (Mittelwerte, die aus der Beobachtung einer statistischen Komponente hinreichend vieler Bestandteile des Systems zu einem bestimmten Zeitpunkt gewonnen werden) vorbereitet, um dann für (quasi)ergodische Systeme die annähernde Äquivalenz dieser Werte zu postulieren. Vgl. E. Schmutzer: Grundlagen der Theoretischen Physik, S. 1798.
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oder unterkühlte Flüssigkeit darstellt, hängt allein von der Beobachtungszeit ab«, stellt Andreas Meyer fest.23 Daher sei der Flüssig-Glas-Übergang auch kein thermodynamischer Phasenübergang im klassischen Sinn, sondern ein dynamischer Übergang, der aus dem Einfrieren von Bewegungen resultiere.24 Mit anderen Worten findet hier eine enorme Verlangsamung von Bewegungen statt, bis schließlich nur noch die Freiheitsgrade übrigbleiben, die wir von Festkörpern als Schwingungen kennen.25 Diese drastische Verringerung von Freiheitsgraden führt zum nicht-ergodischen Zustand des Glases.
L iter arische E rgodizität : V om L eser zur F igur Nun ist Ergodizität seit Espen J. Aarseths vielbeachtetem Beitrag zur Hypertextualitätsforschung26 auch für die Literaturwissenschaft ein Begriff. Und obwohl die disziplinäre Übertragung des Terminus dessen ursprünglich statistische Prägung verblassen ließ, blieb seine attraktive Komplexität – beschreibbar als der physikalische Zusammenhang zwischen Bewegungsbahnen, Freiheitsgraden und ihrer Realisierbarkeit – erhalten. So spricht Aarseth, indem er den Leser von Hypertexten sowie sein extranoematisches (d.h. außerintellektuelles) Tun betrachtet, von einer »Bewegung der Selektion«. Diese »physische Konstruktionstätigkeit« des Lesenden nennt er ergodisch und betont dabei die Ableitung des physi23 | A. Meyer: Flüssig-Glas-Übergänge, S. 1100. 24 | Ebd. 25 | Vgl. G. Strobel: Physik kondensierter Materie, S. 49. »Neben den erwähnten Schwingungen, wie sie auch im Festkörper auftreten, sind im Glas nicht alle Freiheitsgrade eingefroren«, fügt Schmalian hinzu. »Es gibt Regionen, die mehrere Atome beinhalten und die sich mit geringer Wahrscheinlichkeit regelmäßig kooperativ umlagern.« Diese sog. dynamische Heterogenität sei »eine neue Eigenschaft des Glaszustands, der nicht auf einer Negation anderer Aspekte beruht, sondern eine qualitativ neue Eigenschaft ausmacht.« (Mitteilung per Mail vom 10.04.15) Vgl. auch: J. D. Stevenson/J. Schmalian/P. G. Wolynes: The Shapes of Cooperatively Rearranging Regions; D. Nguyen et.al.: The Energy Landscape of Glassy Dynamics. 26 | Vgl. E. J. Aarseth: Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature.
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kalischen Terminus »von den griechischen Wörtern ergon und hodos für ›Arbeit‹ und ›Weg‹«.27 Beide Konstituenten sind im Verständnis des Skandinaviers wichtig. Denn zu arbeiten hat man nur mit Dingen, die einem Widerstand leisten, und in der Tat erfordert ergodische Literatur »eine nicht unerhebliche Anstrengung, die es dem Leser erst erlaubt, den Text zu durchqueren.«28 Dieser Prozess der Durchquerung, des Wegegehens, impliziert wiederum mehrere Faktoren: erstens Bewegung, und zwar »nicht in einem metaphorischen Sinn, sondern durch die topologische Struktur der textuellen Organisation«29; zweitens eine gewisse Entscheidungs- und Handlungsmacht beim Lektüreakt;30 und schließlich – als logische Konsequenz des Sichentscheidens – das »(Ver-)Fehlen von Möglichkeiten«:31 »[W]enn man aus einem Cybertext liest, wird man stets an unzugängliche Marschrouten, Wege, die man nicht genommen, und Stimmen, die man nicht gehört hat, erinnert. Jede Entscheidung macht einige Teile des Textes mehr und andere weniger zugänglich, und man wird vielleicht niemals genau um die Folgen einer eigenen Entscheidung wissen – denn das ist genau das, was man ausgelassen hat.« 32
Während also ergodische Literatur für den Leser das sinnliche Erleben einer Aporie – nämlich Ungewissheit und Unberechenbarkeit – zur Folge hat, beschert ihm non-ergodische Literatur das Komfortgefühl, den kompletten Werkinhalt (zumindest lesetechnisch) erfasst zu haben. Was uns im hiesigen Zusammenhang interessiert, sind allerdings weniger Leseparcours von Rezipienten. Diese Fokussierung wäre im Falle eines klassisch linearen, non-ergodischen Romans, wie The Circle einer ist, ohnehin wenig ergiebig. Deutlich mehr versprechen indes Fragen nach den Bewegungsmustern der Figuren. Wie entwickeln sich ihre Marschrouten im Laufe der Handlung? Wie sind Zugänglichkeiten und Unzugänglichkeiten online wie offline gelagert? Welche Freiheitsgrade, was für Möglichkeiten der Einflussnahme stehen den Figuren zur Verfügung? Sind 27 | E. J. Aarseth: Cybertext [dt.], S. 203-204. (Hervorhebung im Original) 28 | Ebd., S. 204. 29 | Ebd., S. 207. 30 | »›Mal sehen, was passiert, wenn ich das mache.‹« Ebd., S. 206. 31 | Ebd., S. 205. 32 | Ebd.
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sie berechenbar? Kurzum: Wie lässt sich der Aspekt der (Non-)Ergodizität für die Betrachtung der Charaktere einer ›gläsernen‹ fiktionalen Welt fruchtbar machen?
R omananalyse Eggers’ hell ausgeleuchtete Zukunftsdystopie33 wird durch eine Reflektorfigur erzählt, die durchweg auf die Protagonistin fokussiert. Das narrative Arrangement unterstützt auf diese Weise stark das Überwachungsszenario. Die Geschichte des in drei Bücher gegliederten Romans stellt sich in groben Zügen wie folgt dar. Die 24-jährige Mae Holland kann ihr Glück kaum fassen, als sie durch die Vermittlung ihrer Freundin, Annie, im »einflussreichsten Unternehmen der Welt« (DC, S. 7 [1]) eingestellt wird. Das IT-Unternehmen Circle, mit elftausend Mitarbeitern allein in der Firmenzentrale, verdankt seinen Nimbus dem Umstand, die Nutzung des Webs revolutioniert zu haben: Durch die Bündelung mehrerer separater Benutzerkonten in einem einzigen, der wahren Identität des Users entsprechenden TruYou-Account hatte die Firma einen Markterfolg gelandet und die Anonymität im Netz binnen weniger Jahre zum Verschwinden gebracht. Der menschenscheue Firmengründer und Programmierer Ty Gospodinov beschloss hierauf, den ehemaligen Wall-Street-Hai Tom Stenton und den Utopisten mit Entertainerqualitäten Eamon Bailey zu Teilhabern zu machen. Der anschließende Börsengang des Unternehmens sorgte für ausreichende Finanzen, um sämtliche Konkurrenten – Google, Twitter, Facebook & Co. – einverleiben zu können und dadurch eine weltweite Monopolstellung zu erlangen. Neuling Mae wird den leistungszentrierten Circle-Richtlinien entsprechend rasch zurechtmodelliert und im Namen des humanistisch verklärten Community-Gedankens auf Konkurrenz und Arbeitszeiten rund 33 | D. Eggers: The Circle. (dt. Der Circle). Zur besseren Lesbarkeit geben kürzere Zitate im Fließtext die deutsche Übersetzung – gekennzeichnet mit der Sigle DC – wieder. Längere Zitate entsprechen dem englischen Original, gekennzeichnet mit der Sigle TC. Der Sigle der englischen Ausgabe und der jeweiligen Seitenzahl folgt zwischen eckigen Klammern die Seitenzahl der deutschen Ausgabe und vice versa.
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um die Uhr getrimmt. Wettbewerb setzt natürlich immer Messbarkeit, genauer: Messungen voraus, und die Zahl der quantifizierten Faktoren ist bei Circle beträchtlich. Da die Protagonistin sich primär mit Kundenbetreuung befasst, stellen die Evaluationen der Kunden nach jeder einzelnen Anfrage den ersten basalen Messparameter für ihre Leistung dar. Zusätzlich werden im Unternehmen, das durch Social-Media-Anwendungen groß geworden ist, alle Mitarbeiter zum intensiven Austausch untereinander und zur regen Teilnahme am Gemeinschaftsleben angehalten. Dass dies keineswegs fakultativ ist, wird nicht nur durch den nahtlosen Übergang des Arbeitstages in allerlei Events auf dem Campus unterstrichen, sondern auch durch freundliche Einzelgespräche, in denen »subsozial« Veranlagte – alle, die sich nach getaner Arbeit lieber zurückziehen würden – zur Beteiligung angeregt werden. Dabei zielen die Kampfwörter ›Community‹ und ›Partizipation‹ weniger auf die Herstellung von Gemeinschaft ab, als auf die Etablierung von Rivalität und gegenseitiger Beobachtung. Wie jeder Mitarbeiter nach einem solchen Gespräch, beginnt auch Mae fleißig zu posten, zu teilen und zu kommentieren und wird mit einem zweiten Messparameter, dem Popularitätsindex PartiRank34, versehen, der das kollektive Echo ihrer Aktivitäten im Social Web ausdrückt. Im Laufe der Zeit werden beide quantifizierten Leistungs- und Observationsebenen potenziert, Berufs- und Privatleben weiter miteinander verschmolzen: Als die Protagonistin die nächste Stufe der Karriereleiter erreicht, verantwortet sie auch die Ergebnisse und Bewertungen ihres Subteams beim Kundendienst. Das PartiRank dient wiederum als Grundlage dafür, die Wirkung von Maes Partizipation auf das Kaufverhalten ihrer Follower zu ermitteln. Über diese (mittlerweile vier) Messfaktoren hinaus werden zwecks Leistungsoptimierung und Gesundheitsvorsorge auch die Körperfunktionen der Protagonistin permanent überwacht und ausgewertet.35 Mae findet von Beginn an großen Gefallen daran, die eigenen Werte und Ergebnisse quasi in Echtzeit auf Monitoren zu verfolgen, dies umso mehr, als jeder neue Screen auf dem Schreibtisch ihren steigenden ›Kurs‹ beim Circle markiert: Hatte sie in der ersten Arbeitswoche (selbstverständlich neben Laptop und Handy) bloß einen Bildschirm für 34 | Gebildet aus Partizipaitons-Ranking. (DC, S. 119 [101]). 35 | Vgl. M. L. Heidingsfelders Beitrag über Quantified-Self-Technologien in diesem Band.
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Kundenanfragen, kommt bald ein zweiter für bürointerne Nachrichten und Teamkontakte hinzu, dann ein dritter für Social-Media-Aktivitäten, ein vierter für die Überwachung des Subteams, ein fünfter für eventuelle Illustrationen jener Meinungsforschungsfragen, die sie nebenher beantworten muss, ein sechster und siebter für ihre Umsatzmultiplikationsfaktoren und so fort. Nach einigen Monaten ist die junge Frau von insgesamt neun Bildschirmen umstellt, trägt ein Headset zu Survey-Zwecken und ein sensorisches Armband mit Monitor am Handgelenk. Die immer ansehnlicheren Zahlen üben eine unwiderstehliche Sogwirkung auf Mae aus: »She posted 33 comments on a product-test site and [her PartiRank, SzG] rose to 2,009. She looked at her left wrist to see how her body was responding, and thrilled at the sight of her pulse-rate increasing. She was in command of all this and needed more.« (TC, S. 194 [223])
Hierauf folgt eine enumerative Selbstbespiegelungsorgie, eine stattliche Liste jener Zahlen also, in deren Mittelpunkt sie selbst steht. An der Karrierespitze, die Mae erklimmt, indem sie als erste Circle-Mitarbeiterin ›transparent‹ wird, kommt zum skizzierten technischen Arsenal eine SeaChange-Kamera an einer Halskette hinzu. Dieses Kronjuwel der Gadget-Kollektion zeichnet bis auf den Schlaf jede Minute im Leben der Protagonistin auf und macht es für Circle-User weltweit einsehbar. Um zu sehen, was die User sehen, wird Maes Equipment um ein weiteres Armband mit Bildschirm ergänzt – und somit die Closed-Circuit-Anordnung etabliert: »With a bracelet on each wrist, each snug and with a brushed-metal finish, she felt like Wonder Woman and knew something of her power – though the idea was too ridiculous to tell anyone about.« (TC, S. 314 [354f]) Mae Holland arriviert schließlich nicht nur zu einem der berühmtesten Circler, sondern zu dem Gesicht, zum »gütige[n], freundliche[n] Gesicht« (DC, S. 545 [486]) des Unternehmens nach Außen. Es lohnt sich ein Blick auf die Technologien, Verfahren und Produkte, die im Unternehmen zur Datenerfassung und -analyse entwickelt und den Mitarbeitern in regelmäßigen Showveranstaltungen präsentiert werden. Außer der hochauflösenden und umweltresistenten SeaChange-Mini-Kamera, die in öffentlichen wie privaten Räumen nahezu flächendeckend installiert und (neben Mae) von zahlreichen ›transparenten‹ Politikern
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getragen wird, geht es beispielsweise um ChildTrack, einen im Kleinkindesalter zwecks Standortbestimmung in den Knochen eingepflanzten Chip; oder um LuvLuv, eine hocheffiziente Software zum Interessen- und Backgroundcheck bei der Partnersuche; um PastPerfect, die durch die Kartierung der Vergangenheit digitale Ahnenforschung ermöglicht; um DemoVis, ein maßgeblich von Mae initiiertes direktdemokratisches Onlinewahlprogramm, mit dem eine hundertprozentige Wahlbeteiligung der Bevölkerung erreicht bzw. erzwungen werden könnte; und nicht zuletzt um SoulSearch zum Einfangen ›verlorener Schafe‹, die sich dem wachsenden Kreis der Sichtbarkeit bislang entzogen haben. Mithin wird im Roman das transparente ›Himmel und Hölle‹-Spiel mit unerbittlicher Konsequenz und Akribie entfaltet. Es wird deutlich, dass in ihrem Kern alle Maßnahmen, Erfindungen und Ideen auf die permanente Nachverfolgung und Voraussage von Userbewegungen, aller Online- und Offline-Routen, die man jemals eingeschlagen hat oder mit hoher Wahrscheinlichkeit einschlagen wird, hinauslaufen. Wie sich die fiktionale Lebenswelt allmählich dem Glaszustand anverwandelt, wie sie unmerklich gläsern im Sinne von non-ergodisch wird, ist an den Bewegungspfaden der Figuren, besonders aber an den sich radikal verringernden Freiheitsgraden der Protagonistin unmittelbar ersichtlich. Der statistische Aspekt, der im Begriff der Ergodizität ursprünglich maßgeblich war, kommt dabei verstärkt zum Tragen. Statistiken, Zahlen, Berechenbarkeit werden zum Inbegriff und zum Verhängnis der »Tatsachenmenschen«, die nach Edmund Husserls Kritik »bloße Tatsachenwissenschaften« generieren.36 Zu den bitteren Botschaften des Romans gehört, dass Mae Holland, restlos fasziniert von den leistungsfähigen Gadgets wie von der Hochglanzvision des Circle, eine absolute Durchschnittsfigur ist. D.h. sie ist repräsentativ für ihre Peergroup, die sorglos allen Sichtbarkeitszwängen nachgibt und die Abgründe ignoriert, die sich dabei auftun. In ihrer naiven Technikgläubigkeit, süchtig nach Erfolg und Gefallen, merkt sie kaum, dass sie wörtlich in Ketten gelegt wird und staunt über die Lähmung, die sie von Zeit zu Zeit überfällt: »And when she felt this paralysis, caught between entirely too many possibilities and unknowns, there was only one place she felt right.« (TC, S. 326 [368]) Freilich befindet sich dieser »rechte Platz« im fast geschlossenen Kreis ihrer neun Bildschirme. Welche Orte und Räume kämen auch sonst 36 | E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 4.
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in Frage? Längst hat Mae die als schäbig empfundene eigene Wohnung zugunsten eines schicken, unpersönlichen Wohnheimzimmers auf dem Campus aufgegeben. Auf dem kameraüberwachten Firmengelände ist Rückzug aber fast nur noch auf der Toilette, und selbst dort nur für wenige Minuten möglich. An die labyrinthischen Gänge tief unter dem Campus, wohin sie sich einst vom mysteriösen Liebhaber, Kalden, verführen ließ, ist nach ihrem Transparentwerden auch nicht mehr zu denken. Das elterliche Zuhause ist aus versicherungstechnischen Gründen ebenfalls mit Videokameras bestückt. Dass Mae im Laufe der Geschichte alle ihre privaten Räume verwirkt, wird schon im ersten Buch antizipiert: Von geradezu aufdringlicher Symbolik ist dort der Verlust jener Insel, die für die logikfreien und unberechenbaren individuellen Routen der Hauptfigur gestanden hatte und der Preis des Aufstiegs war. Den solitären Rückzugsort Blue Island hatte Mae bei einer ihrer spontanen Kajaktouren entdeckt und zu Fuß erkundet: »There was no path, a fact that gave her great pleasure – no one, or almost no one, had ever been where she was«. (TC, S. 270 [307]) Der einzige Schönheitsfehler der nächtlichen Inseltour war, dass die Protagonistin hierfür ein Boot ihres Kajakverleihs unbefugt an sich nahm und dabei von zwei SeaChange-Kameras gefilmt wurde. Nach ihrer Rückkehr von der Insel wird sie deshalb von der Polizei gestellt. Der peinliche Vorfall hat zwar keine rechtlichen Konsequenzen, wird jedoch im Circle zum Diebstahl aufgebauscht. Als eine Schlüsselepisode des Romans bereitet die Geschichte von Blue Island den Höhepunkt des ersten Buches vor: Maes Entschluss, ganz im Sinne der ihr eingeflüsterten ›klangvollen‹ Parolen – Secrets Are Lies, Sharing Is Caring, Privacy Is Theft (TC, S. 305 [346]) – gläsern zu werden. Dass sie dabei klaglos ihr Recht auf Privatheit, Individualität oder bildhaft gesprochen: auf eine Insel preisgibt, dürfte nicht nur auf das Drängen der Chefetage auf eine firmenintern-öffentliche Beichte und Transparenzerklärung zurückzuführen sein. Vielmehr hat die Entscheidung auch mit der uneingestandenen Signifikanz eines Menschen zu tun, mit dem sowohl die Kajakleidenschaft als auch der ominöse Ausflug insgesamt zusammenhängen: Mercer. Mit Mercer Medeiros, Maes Exfreund, wird dem karrierebewussten Kollektiv ein unprätentiöser Individualist entgegengesetzt: freigeistig, naturinteressiert, handwerklich begabt. Dabei entbehrt seine Tätigkeit, aus Hirschgeweihen Hängeleuchten herzustellen, nicht einer gewissen Skurrilität, die Mae auch als Anlass zum Spötteln nutzt. Neben der indirekten
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Lichtsymbolik wird die emphatische Charakterisierung von Mercer in seiner (gegen-)aufklärerischen Haltung ebenfalls deutlich. Je mehr sich das Handlungsspektrum der Protagonistin auf die digitale Sphäre reduziert,37 umso distanzierter steht er ihr und den Bestrebungen des Circle gegenüber. Je weniger die junge Frau der direkten Kommunikation fähig ist, umso schärfer seine Kritik, der sie praktisch nichts entgegenzusetzen vermag.38 Stattdessen verliert sie die Fassung darüber und wiederholt sich die Lächerlichkeit der Person und ihrer Argumente: »A man, fast approaching thirty, making antler chandeliers and lecturing her – who worked at the Circle! – about life paths. This was a joke. But Mae, […] who was moving quickly up through the ranks, was also brave, capable of taking a kayak in the night into the blackwater bay, to explore an island Mercer would only view through a telescope, sitting on his potato-sack ass, painting animal parts with silver paint.« (TC, S. 266 [303])
Eine Strategie zur Bewältigung derartiger Wutanfälle stellt das Paddeln dar – eine Beschäftigung, auf die sie gerade der Exfreund brachte. Nach dem ›diebischen‹ Vorfall wird dies aber vollständig von exzessiver Arbeit und vom Netzleben abgelöst. Dennoch kommt Mae gedanklich nicht ohne weiteres von ihrem Kontrahenten los; auch nicht als sie durch ihre Transparenz längst im Rampenlicht steht. Besessen davon, sich ihm zu beweisen, ihn zu bekehren, ihn ins System zu integrieren, nutzt sie beim öffentlichen Testlauf des SoulSearch-Programms spontan die Gelegenheit, um den inzwischen zivilisationsflüchtigen Mercer aufzuspüren. Unter Einsatz aller Circle-Technologien – so des gesamten sozialen Netzwerks und sämtlicher digitaler Fahndungstools – findet sie den Mann innerhalb weniger Minuten in den Wäldern Oregons, wo er unauffindbar zu sein hoffte, und jagt dem Flüchtenden mit Drohnen hinterher: »What she wanted him to say was, ›Okay, you got me. I surrender. You win.‹ / But he wasn’t smiling, and he wasn’t stopping. He wasn’t even looking at the drone anymore. It was as if he’d decided on a new path, and was locked into it.« (TC, S. 463 [520]) 37 | Mercer moniert diese Einengung mehrmals: »I bet you haven’t done anything offscreen in months. […] Do you go outside anymore?« (TC, S. 262 [298f]) 38 | Im Übrigen erinnert Mercers scharfe Kritik an der Übermacht des Kollektivs stark an Jaron Laniers Argumente gegen die Schwarmintelligenz. Vgl. Lanier 2010.
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Als dem Verfolgten offenbar wird, dass Pfade abseits der vollständig vernetzten Welt nicht mehr zur Verfügung stehen, lenkt er seinen Pick-up in den Abgrund am Wegesrand. Genauso wie die verlorene Insel der Protagonistin ist auch Mercers Wagen in der Tiefe der Schlucht ein Sinnbild für die Unzugänglichkeit, ja die Verunmöglichung individueller Routen. Doch selbst die Tatsache, dass die ›freundliche‹ Hetzjagd auf den Exfreund mit dessen Selbstmord endet, führt nicht zur Ernüchterung der Protagonistin. Vielmehr zeichnet sich an ihrer inneren Reaktion klar ab, dass die vormals (auch für sie selbst) irrwitzige Wonder-Woman-Fantasie inzwischen in Größen- und Kontrollwahn umgeschlagen ist. »›You doing okay today?‹ Bailey asked. […] / ›I am, thanks,‹ Mae said, measuring her words, imagining the way the president, no matter the situation, has to find a medium between raw emotion, and quiet dignity, practiced composure. She’d been thinking of herself as a president. She shared much with them – the responsibility to so many, the power to influence global events. And with her position came new, president-level crises. There was Mercer ’s passing. There was Annie’s collapse. She thought of the Kennedys.« (TC, S. 466 [523])
Dabei ist Maes Empfindung, über gehörige Macht zu verfügen, keineswegs unzutreffend. Dass sie den Punkt, globale Ereignisse beeinflussen zu können, erreicht hat, wird bei der augenblicklichen Realisierung ihrer DemoVis-Idee überdeutlich. Auch basiert die Macht der Protagonistin nicht allein auf der Masse an Circle-Usern, die sie im Rücken hat. Diese Macht wird ihr auch von den Firmenleitern, und zwar von allen dreien, zugestanden – freilich aus völlig unterschiedlichen Gründen: von Eamon Bailey, weil er von Maes Linientreue überzeugt ist; von Tom Stenton, weil sich aus ihren linientreuen Ideen enormes finanzielles wie politisches Kapital schlagen lässt; und nicht zuletzt auch von Ty Gospodinow, alias Kalden, der bis zuletzt glaubt, die verblendete Frau wachrütteln und die eigene Firma und den sich schließenden Kreis durch das Gesicht des Circle, ergo von innen heraus, sprengen zu können. Mae Holland stehen demnach zahlreiche Möglichkeiten der Einflussnahme offen. Allerdings ist der Zuwachs ihrer Macht bei der Firma umgekehrt proportional zu ihren physisch wahrnehmbaren Freiheitsgraden außerhalb davon, was die Protagonistin jedoch keineswegs als Isolation oder Verlust erlebt: »Increasingly, she found it difficult to be off-campus anyway. There were homeless people, and there were the attendant and as-
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saulting smells, and there were machines that didn’t work, and floors and seats that had not been cleaned, and there was, everywhere, the chaos of an orderless world.« (TC, S. 373 [421].) Und da ihre Handlungsmacht im Circle immer nur in die Richtung entfaltet wird, wo mit keinen Widerständen zu rechnen ist, scheinen Maes Entscheidungen vorprogrammiert, berechenbar zu sein. Mit anderen Worten werden in ihrer Figur Menschen von der Sorte modelliert, die mit Gudrun Ensslins Formulierung »nicht tun [können], was sie wollen, denn sie wollen nur das, was sie sollen.«39 Dass sich dieses ›Sollen‹ zuletzt in Kontrollwahn übersetzt, stellt deshalb weniger eine überraschende Wendung als das folgerichtig nächste Stadium einer psychischen Entwicklung dar. Der gläserne Mensch, wie er in The Circle portraitiert wird, ist nicht derjenige ohne Geheimnisse. Solange Gedanken nicht technologisch gelesen und in Besitz genommen werden können, wie Mae sich dies am Bett ihrer komatösen Freundin in der Schlussszene wünscht, bleibt immer etwas verborgen. Sondern der gläserne Mensch ist derjenige, der freiwillig zu jener Projektion erstarrt, die sich aus seinen Daten berechnen lässt; der, für den Wissbarkeit und Kontrolle als oberste Prioritäten sogar physische wie gedankliche Bewegungsfreiheit aufwiegen. Bemerkenswert ist die Konsequenz der Gläsernheit für den Charakter der Protagonistin. Wir wissen zuletzt nicht, wie Mae ist, nur wie sie nicht (bzw. nicht mehr) ist. Ihre Bemühung, sich im denkbar günstigsten Licht sehen zu lassen, führt zu einer systematischen Verstellung nach außen wie innen, die als solche jedoch nicht erlebt wird, nicht erlebt werden darf. Sie wird geleugnet, darf nicht ins Bewusstsein gelangen. In einem entscheidenden Gespräch stellt Bailey ihr die (freilich suggestive) Frage nach der Wahrhaftigkeit von Spiegelbildern: »›A mirror is truthful, correct?‹ / ›Of course. It’s a mirror. It’s reality.‹« (TC, S. 290 [329]) Maes prompte Zustimmung verrät einerseits Unreflektiertheit, verkennt die Heldin doch, dass uns ein Spiegel statt des Originals nur das spiegelverkehrte Bild desselben präsentiert; andererseits zeugt die Antwort auch von der Verabsolutierung und Überhöhung des Ortes, an dem das vermeintlich wahrhaftige Bild des Selbst entsteht: des ›Ort[es] des anderen‹.40 Indem die Protagonistin ihr Verhalten einem idealen Fremdbild von sich anpasst, geht sie in der millionenfachen Spiegelung in den Blicken ihrer 39 | St. Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex, S. 74. 40 | Vgl. A. Horatschek: Spiegelstadium, S. 615.
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Viewer auf und dadurch als Individuum verloren. Die gläserne Mae wird zu einem Nicht-Charakter.
A uskl ang Nicht zufällig wählt Dave Eggers das Aquarium und den darin kreisenden, alles verschlingenden Haifisch als Allegorie der gläsernen Welt des Circle. Zwei Merkmale der panoptischen Anlage, wie Michel Foucault sie beschrieb, werden im Bild auf die Spitze getrieben: die totale Sichtbarkeit zum einen und der Fallencharakter dieser Sichtbarkeit zum anderen.41 »[D]ie Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen« stellt auch in der Romanwelt »das automatische Funktionieren der Macht«42 sicher, bloß mit dem Unterschied, dass hier zu guter Letzt alle Webnutzer den Status eines Gefangenen haben. Auch bedarf es im Circle nicht mehr eines kreisförmigen architektonischen Apparates wie im Panoptikum. Wie Firmenname und -logo verdeutlichen – »ein Kreis um ein engmaschiges Gitter mit einem kleinen ›c‹ für ›Circle‹ in der Mitte« (DC, S. 8 [2]) –, wird der panoptische Zustand vornehmlich durch digitale Vernetzung erzeugt. Dennoch ist die Architektur von besonderer Relevanz, manifestiert sich doch das Prinzip der Macht im Glas als omnipräsentem Material auf dem Campus. Umso verstörter reagiert Mae Holland, als sie am ihrem ersten Tag an der »mit kalifornischem Licht durchflutet[en]« (DC, S. 9 [3]) Arbeitsstätte, umgeben von »Büros mit Glasfronten vom Boden bis zur Decke« (DC, S. 14 [6]), zu einer juteverkleideten, muffigen Bürobox geführt wird. Annies brutaler Streich mit der »Scheißjute« (DC, S. 19 [12]), wie die Protagonistin sie tränenerstickt nennt, rückt den Symbolgehalt beider Materialien ins Blickfeld: Das glatte, kühle Glas steht seit jeher für das ätherische Element des Lichts43, das es durchlässt, reflektiert oder absorbiert, und avanciert in der Moderne zum Baustoff, aus dem revolutionäre Utopien – und erst recht die Utopie in den Köpfen der Circler – von der gegenseitigen Durchdringung von Innen und Außen, Privatleben und Öffentlichkeit, Individuum und
41 | Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257. 42 | Ebd., S. 258. 43 | G. Heinz-Mohr: Lexikon der Symbole, S. 125
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Kollektiv gemacht sind.44 Im Gegensatz hierzu fungiert Jute als das grobstoffliche Inbild von Maes Vergangenheit, jener schäbigen Bürobox- und Kleinstadtexistenz, deren Begrenztheit sie um jeden Preis entfliehen wollte. Vor dieser Folie erscheint die Hartnäckigkeit der Heldin, mit der sie die radikale Verringerung ihrer ohnedies knapp bemessenen Freiheitsgrade im Circle ignoriert und an der Utopie festhält, zumindest ein Stück weit erklärlich. Vielleicht könnte der Versuch, Eggers’ Roman gegen den Strich zu lesen, genau an diesem Punkt, bei der Empathie für einen Nicht-Charakter beginnen. Zu einer solchen Lektüre dürfte vor allem der Umstand provozieren, dass das, was auf figuraler Ebene als hartes Hinarbeiten auf die totale Erstarrung in einer non-ergodischen Welt vorgeführt wird, auf der narrativen Ebene seine Entsprechung hat, nämlich im erzählerischen Hang zur permanenten Selbstauslegung, die die interpretativen Spielräume des Lesers massiv einschränkt. Man soll sich das Leben im Glashaus nicht anders als ein »Gefängnis des Selbst vorstellen«, das »den Gefangenen allemal […] ausspeien kann.«45 Allein entbehrt diese Vorstellung eben jener Dynamik, die von der Protagonistin (ebenfalls vergeblich) erwartet wird.
L iter atur Aust, Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex, München: Knaur 1989. Aarseth, Espen J.: Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore: John Hopkins Univ. Press 1997. Aarseth, Espen J.: »Cybertext. Perspektiven zur ergodischen Literatur: Das Buch und das Labyrinth« (1997), in: Karin Bruns/Ramón Reichert (Hg.), Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation, Bielefeld: transcript 2007, S. 203-211.
44 | So schreibt etwa Walter Benjamin: »Im Glashaus zu leben ist eine revolutionäre Tugend par excellence.« Ders.: Der Sürrealismus, S. 298. Vgl. hierzu G. Hartung: Werkanalysen und -kritiken, S. 27. Ich danke Dominik Schrey für diesen Hinweis. 45 | K. W. Forster: Pavillon – Papillon, S. 61.
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Der gläserne Mensch
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»Die Sehmaschine« Artificial Intelligence und die Ästhetik technischer Überwachung in der TV-Serie Person of Interest Kai Löser
P re - crime : science - fiction und social fact Die Anschläge des 11. Septembers haben eine Entwicklung im amerikanischen Rechtsdiskurs bestärkt, deren Anfänge bis zum kriminologischen Positivismus des späten 19. Jahrhunderts reichen: die Umstellung von der Verfolgung auf die Prävention konkreter Straftaten.1 Die Leiter des amerikanischen Department of Justice und des FBI haben bereits wenige Wochen nach den Anschlägen die Verhütung zukünftiger terroristischer Angriffe zur obersten Priorität erklärt und damit einen Wechsel in der zeitlichen Orientierung ihrer Institutionen unterstrichen, der bereits vor 2001 erkennbar war. Ziel sei es gerade in Zeiten terroristischer Bedrohung, vorausschauend zu agieren, statt im Nachhinein zu reagieren.2
1 | N. Davie lässt diese Geschichte mit Cesare Lombroso und seiner physiognomisch-phrenologischen Untersuchung des L’Uomo delinquente (1876) beginnen. Siehe N. Davie: Guilty before the fact. 2 | Siehe M. C. Niles: Preempting Justice, S. 295-297. Niles verfolgt die Aussagen staatlicher Akteure unmittelbar nach 9/11. Außenpolitisch trifft sich diese prä-ventive Orientierung mit G. W. Bushs Doktrin vom Pre-emptive Strike, wie er sie im Juni 2002 in West Point skizziert: »If we wait for threats to fully materialize, we will have waited too long. […] Homeland defense and missile defense are part of stronger security, and they’re essential priorities for America. Yet the war on terror will not be won on the defensive. We must take the battle to the enemy, disrupt
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Der Begriff für diese diskursive und institutionelle Ausrichtung ist der Science-Fiction-Erzählung Minority Report (1956) von Philip K. Dick entliehen, die 2002 von Steven Spielberg verfilmt wurde. Er lautet »Precrime«3 und wird in Politik, Rechtswissenschaft und Kriminologie meist mit Bindestrich geschrieben.4 Während Crime Prevention auf die Ursachen von Kriminalität zielt und auf eine Veränderung kriminalitätsfördernder Umweltbedingungen, zielt Pre-crime auf die Antizipation konkreter Gefahren; basiert also auf Verdachtsmomenten, die zu einem zukünftigen Szenario verknüpft werden. Mit Lucia Zedner lässt sich Pre-crime als rechtlicher Rahmen verstehen, in dem die klassische Strafjustiz von einer neuen Logik der Sicherheit überlagert wird: »calculation, risk and uncertainty, surveillance, precaution, prudentialism, moral hazard, prevention and, arching over all of these, there is the pursuit of security.«5 Seine legislative Ausformung findet Pre-crime in den Anti-Terror-Gesetzen seit 2001 (besonders dem Patriot Act), die den Behörden weitgehende Rechte zur Überwachung und Festsetzung Terrorverdächtiger einräumen und ihren Beitrag dazu leisten, die Unschuldsvermutung in einen Generalverdacht zu überführen. In Minority Report ist die Prädikation zukünftiger Morde mentalistisch-technisch plausibilisiert. Die Vorhersagen stammen von drei sogenannten »Precogs«, Mutanten mit hellseherischen Fähigkeiten, die bewegungsunfähig an Stühle geschnallt und mit Kabeln verbunden scheinbar zusammenhanglose Sprachfetzen hervorbringen. Diese werden von einer Maschine analysiert, verglichen und zu einer »prophecy« zusammengesetzt, die als Lochkarte ausgegeben wird – ein offenbar fehlerfreies System.6 Minority Report zeigt, wie Vorhersagen über die Zukunft polizeiliches Handeln informieren und verhandelt vor allem das Thema Schuld his plans, and confront the worst threats before they emerge« (Bush: Graduation Speech at West Point). 3 | Ph. K. Dick: Minority Report, S. 72. 4 | Wenn die kriminologische und rechtswissenschaftliche Literatur im Wort Pre-crime den Tatbestand vom zeitlichen Index durch einen Bindestrich trennt, so fokussiert sie die Problematik, wo auf dem Kontinuum zwischen »contemplation« und »completion« strafrechtliche Verantwortlichkeit anzusetzen ist (Chesney: Beyond Conspiracy, 245). 5 | L. Zedner: Pre-crime and post-criminology, S. 262. 6 | Ph. K. Dick: Minority Report, S. 73-74.
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und Strafe: Inwieweit sind Erwägung und Intention bereits straf bar beziehungsweise können sie – wie in Dicks Erzählung – selbst den Stellenwert eines Verbrechens annehmen? Verhandelt Minority-Report moralisch-rechtliche Fragen nach Determinismus und freiem Willen, widmen sich die aktuellen amerikanischen TV-Serien den politischen und psychosozialen Folgen der pre-crime Gesellschaft. Durch die Prinzipien von Sicherheit und Risikomanagement, Überwachung und Feindortung, Prävention und Gefahrenabwehr wird ein Überschuss an Bedrohungsszenarien in die unmittelbare Zukunft der Gesellschaft projiziert. Rubicon (2010), Homeland (seit 2011) und Person of Interest (seit 2011) zeigen, wie Alarm- und Ausnahmezustände auf die gesellschaftliche und individuelle Konstitution wirken und wie paranoische Erzählmuster den Operationslogiken der Terrorismusabwehr folgen.7 Dabei verhandelt die von CBS – »The Eye Network« – produzierte Serie Person of Interest speziell die technische Seite der pre-crime Gesellschaft. In Ermangelung hellseherischer Mutanten setzen die realen polizeilichen, geheimdienstlichen und militärischen Programme zur Gefahrenabwehr neben menschlichen Ermittlern vor allem auf technische Systeme.8 Big Data und algorithmische Datenanalyse sollen es ermöglichen, die digitale Spiegelung der Welt in ihrer Tiefenstruktur zu analysieren und unerwartete Muster und Korrelationen aufzuzeigen, die das menschliche Beobachtungs- und Analysevermögen übersteigen oder – 7 | Lars Koch spricht vom »paranoid style of American media« und unterscheidet drei Phasen in der jüngeren popkulturellen Auseinandersetzung mit terroristischen Bedrohungen: die Inszenierung von Terroristenjagden und fiktionalen Feindortungen (24, The Agency), eine allegorische Deutung, die moralische und politische Ambivalenzen des Anti-Terror-Kriegs darstellt (Deadwood, Battlestar Galactica), und die emotionale Profilierung von Individuen im Alarmzustand (Homeland, Rubicon, Person of Interest). Siehe L. Koch: Terror 3.0, S. 17-18. 8 | Die neuen Methoden zur Verwaltung und Analyse digitaler Daten knüpfen an die Technikgeschichte der Kybernetik an. Norbert Wiener arbeitet bereits in den 1940er Jahren mit computergenerierten Prognosen auf Basis stochastischer Modelle, um die Flugbahn von Bombern vorauszuberechnen. Rückblickend schreibt er über das Projekt: »I had become engaged in the study of a mechanico-electrical system which was designed to usurp a specifically human function – […] to predict the future« (N. Wiener: Cybernetics, 6). Vgl. P. Galison: Ontology.
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das Schlagwort ist Data Mining – untergraben. Das heißt allerdings auch, dass die Ergebnisse oft nicht mehr kausallogisch auszuweisen und erklärbar sind.9 So können die Behörden ideologische Orientierungen durch eine Kollokationsanalyse digitaler Texte erheben (linear discriminant analysis), die sozialen Verbindungen potentieller Straftäter in einem Kommunikationsnetzwerk darstellen (social network analysis) oder Ort und Zeitpunkt zukünftiger Verbrechen eingrenzen (predictive policing). Zur Analyse der Petabyte-Datenbanken verwendet der Staat dieselben Methoden wie Google, Facebook und Amazon um Nutzerprofile zu erstellen und Konsum- und Verhaltensmuster zu generieren. Evgeny Morozov, Kritiker des technischen Lösungseifers, formuliert prägnant die algorithmische Logik: »Ever stolen a bicycle? Then you might also be interested in robbing a grocery store.«10 Die Handlung von Person of Interest setzt hier an und gleicht einem panoptischen Überwachungstraum: Nach 9/11 hat der Milliardär Harold Finch in Kooperation mit den US-amerikanischen Geheimdiensten »The Machine« entwickelt, ein intelligentes Computersystem, das Zugriff auf den weltweiten elektronischen Datenverkehr besitzt: E-Mails, SMS, Telefonate, Kameraaufnahmen, Finanztransaktionen und andere Informationen, die in digitaler Form zirkulieren. Diese speichert und analysiert es selbständig, um mit Hilfe dieser Daten terroristische Bedrohungen frühzeitig zu erkennen und die Behörden zu warnen. Person of Interest verhandelt technische Überwachung aber nicht nur motivisch, sondern auch ästhetisch.
Ä sthe tik technischer Ü berwachung Paul Virilio weist bereits 1988 in seinem Essay Die Sehmaschine darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen belebten Wahrnehmungssubjekten und unbelebten Wahrnehmungsobjekten angesichts der Entwicklun9 | Zu den Zweifeln am tatsächlichen Nutzen derartiger Überwachungssysteme siehe J. McCulloch/S. Pickering: Pre-Crime And Counter Terrorism, S. 635; M. Andrejevic/K. Gates: Big Data Surveillance, S. 187-188. Zum Verhältnis von Kausalität und Korrelation und den damit verbundenen Heilserwartungen Anderson: End of Theory. Vgl. auch P. Virilio: Sehmaschine, S. 170. 10 | E. Morozov: To Save Everything, S. 184.
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gen in Bilderkennung und Artifical Intelligence nicht mehr greift. Es ist die Zeit, in der die ersten technischen Systeme für industrielle Produktion, Logistik und militärische Anwendungen lernen, ihre Umwelt visuell zu erfassen und mit Blick auf zukünftige Handlungsoptionen zu analysieren.11 Virilio markiert in seinem Essay einen grundlegenden Wandel von Überwachungstechnologie: Mit der Verbreitung von Kameras werde der öffentliche Raum zwar immer besser ausgeleuchtet, aber erst durch computergestützte Wahrnehmung erreiche Überwachung eine neue Qualität: »Wir kennen zwar die Übertragung der Aufnahmen durch die Videokameras in Bankfilialen und Supermärkten, wir ahnen die Anwesenheit von Wachpersonal,« doch kann jeder Mensch unmittelbar nachvollziehen, was und wie gesehen wird. Es handelt sich schließlich um menschliche Subjekte, die ihren »Blick auf Kontrollmonitore gerichtet haben«.12 Dies wandle sich grundsätzlich, sobald eine »Population technischer Objekte« entsteht, die »uns anstarren«.13 Virilio nennt sie »infographische Sehmaschinen«.14 Sobald visuelle Interpretation nicht mehr vom Menschen, sondern von einer Maschine geleistet wird, haben wir mit einer neuen Form mentaler Bilder zu rechnen, mit codierten Impulsen, »die wir uns noch nicht einmal vorstellen können«. Der menschliche Blick werde ersetzt durch eine uns inkommensurable »Perzeptionsautomatik«.15 Den intrinsischen Unterschied darin, wie Situationen und Ereignisse von Menschen und technischen Systemen erfasst werden, bezeichnet Tobias Matzner als model gap. In seiner Analyse ethischer Implikationen technischer Überwachung plädiert Matzner dafür, sich dieser Differenz stets bewusst zu sein und zu versuchen, die algorithmische Funktionsweise der Sehmaschinen nachzuvollziehen. Dies werde aber nicht nur durch privatwirtschaftliche und staatliche Geheimhaltung – die Google-Algorithmen unterliegen genauso wenig einer externen Kontrolle wie die der NSA – sowie die nötigen Spezialkenntnisse in Technik und Informatik erschwert.
11 | P. Virilio: Die Sehmaschine, S. 136. 12 | Alle Zitate P. Virilio: Ebd., S. 141. 13 | Ebd., S.142. 14 | Ebd., S.137. 15 | Beide Ebd., S. 165.
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Bei lernfähigen neuronalen Netzen und statistischen Systemen sei es darüber hinaus unmöglich, genau anzugeben, wie ein bestimmter Output generiert wurde beziehungsweise ihn vorherzubestimmen.16 Paul Virilio bezeichnet die technische Wahrnehmung als ein »Sehen ohne Blick«; es handle sich um ein Sehen, das von »Zahlencodes« erzeugte Bilder numerisch analysiert, und er fügt hinzu, dass man sich einen derartigen Blickpunkt genauso wenig vorstellen könne wie den »eines Westenknopfes oder eines Türknaufs«, wenn man nicht Lewis Carroll heiße.17 Um das technische Sehen trotzdem für den Zuschauer kommensurabel zu machen, nimmt die Serie Person of Interest ein Element aus der Science-Fiction auf. Das Computersystem von Harold Finch ist nicht nur ein kognitives System im Sinne der Informatik, sondern Subjekt mit Selbsterhaltungstrieb, eigenständiger Zielsetzung und Sozialverhalten. Als solches erhält es – in Analogie zum menschlichen Bewusstsein, das sich nicht auf den binären Code elektrischer Impulse reduzieren lässt – auch ein Sehen mit Blick, das sich nicht auf die Aggregation von Zahlen reduzieren lässt. Die von der Serie geleistete Überbrückung des »model gaps« vollzieht sich an der visuellen Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine: dem Bildschirm. Er zeigt dann die Welt aus Sicht der Maschine: »MPOV« (Machine Point of View), wie es im Drehbuch heißt. – Eine Fokalisierung, die bereits im Vorspann eine human-technische Perspektivübernahme impliziert, sich gleichwohl nach menschlichen Seh- und Interpretationsgewohnheiten richtet. Der Vorspann der Serie ist mit einem Farbfilter in blau-grau getaucht. Die Schnitte verbinden die Bilder verschiedener Überwachungskameras, die offenbar computergestützt in Echtzeit analysiert und durch Informationen über Personen, Gebäude oder Fahrzeuge angereichert werden. Wie der Vorspann, so folgt auch die Serie immer wieder dem Blick der Maschine. Viele Szenen beginnen mit einem Shot aus der Sicht einer krissligen Überwachungskamera und gleiten von da aus über in die Perspektive einer konventionellen Filmkamera. Auch im weiteren Verlauf der einzelnen Episoden werden immer wieder Bilder von Überwachungskameras
16 | Vgl. T. Matzner: The Model Gap. 17 | P. Virilio: Sehmaschine, S. 141-142.
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eingeblendet, in denen Symbole die Verarbeitungsprozesse der Maschine visualisieren.18 Abbildung 1: MPOV im Vorspann
Quelle: Person of Interest, 2011, Season 1, Intro, 0:02
Gelegentlich wird vom konkreten Überwachungsbild zu einer Makrobeobachtung von Mikrokommunikationen zurückgezoomt. Sichtbar wird ein Netz von Beziehungen zwischen einzelnen Informationen im Kosmos virtueller Daten, das sternenbildgleich Taten und Täterprofile erkennen lässt. Bei einer Demonstration der Operationsweise verbindet die Maschine über mehrere Ecken Tankquittungen, Kameraaufnahmen, Flugtickets und ein Attentat in Buenos Aires – »the thinnest thread […] and the machine could see it«.19 Die Rückblenden innerhalb der Serie gehören ebenfalls zur narrativen Funktion der Maschine. Es wird ein Zeitstrahl mit Jahreszahlen eingeblendet, um den herum das zur Verfügung stehende Datenmaterial arrangiert ist. Die Maschine springt an einen bestimmten Zeitpunkt, wählt eine Kamera und zoomt in die Szene. Die Bilder im Vorspann werden von der Stimme Harold Finchs begleitet und weisen Darstellung und Erzählung von der ersten Minute an als menschlich-maschinelles Gemeinschaftsprojekt aus. Die an den Zuschauer adressierte Eröffnung »You are being watched« könnte aus Scien18 | Die Serie entwickelt in den MPOV-Sequenzen eine Ästhetik digitaler Bildstörungen, in der Glitches Auskunft über die Umwelt, die Qualität des Mediums oder die Befindlichkeit der Maschine geben (z.B. Person of Interest, S2E21). 19 | Person of Interest, S1E11, 42:00.
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ce-Fiction-Klassikern wie H. G. Wells The War of the Worlds (1898) oder Arthur C. Clarkes Childhood‘s End (1953) stammen. Doch an die Stelle einer extraterrestrischen Intelligenz, die die Geschicke der Menschheit beobachtet, bewertet und nach dieser Bewertung handelt, tritt eine Maschine, die den Menschen ins Sichtfeld technischer Intelligenz rückt. Abbildung 2: Titelbild
Quelle: Person of Interest, 2011, Season 1, Intro, 0:50
Die wachsamen Augen der Maschine spähen die Bürger rund um die Uhr aus – »every hour of every day«, wie es im Vorspann weiter heißt. Um die Persönlichkeitsrechte der Bürger dennoch zu wahren und staatlichen Missbrauch zu verhindern, hat Finch das Betriebssystem der Maschine verschlüsselt. Die einzige Information, die die amerikanischen Behörden erhalten, ist die Social Security Number von potentiellen Terroristen. Die eigentliche Arbeit der Maschine bleibt in einer Black Box, die sich nur dem Zuschauer gelegentlich öffnet. Die Logik dahinter wird von Harolds Freund und Partner Nathan ausgeführt: »If no human sees what the machine sees, then technically, no one’s fourth amendment rights have been violated.«20 Der von George Bush ernannte Direktor des Information Awareness Office, John Poindexter, schlägt ebenfalls vor, die Dialektik von Überwachung und Freiheit im Blick einer Maschine aufzuheben. In seinen Plänen zur Implementation informationstechnologischer Überwachung sollten persönliche Informationen den Analysten verborgen bleiben und 20 | Person of Interest, S1E11, 19:00.
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erst in einem mehrstufigen Verfahren selektiv offenbart werden (selective revelation).21 Die für geheimdienstliche Aktivitäten kritische Ressource Vertrauen wäre von menschlichen Beobachtern in ein opakes Funktionieren neutraler Technik verlagert, was zwei der übergreifenden Plot-Elemente von Person of Interest konfiguriert. Einerseits versuchen staatliche Behörden und private Unternehmen die Verschlüsselung der Maschine zu knacken, um sie für ihre Zwecke zu verwenden. Andererseits steht die Neutralität beziehungsweise moralische Integrität der Maschine infrage: Verfolgt sie Eigeninteressen oder das Wohl der (amerikanischen) Bürger; beziehungsweise: Was könnte das Interesse von Technologie sein und wie definiert ein Computersystem das gesellschaftliche Gemeinwohl?22 Neben den »relevant numbers« potentieller Terroristen gibt die Maschine in jeder Episode auch eine oder mehrere der »irrelevant numbers« an Finch und sein Team. Es handelt sich um Sozialversicherungsnummern von Tätern oder Opfern eines zukünftigen Gewaltverbrechens, das nicht unmittelbar die staatliche Sicherheit bedroht. Die Anlage der Serie kehrt den klassischen Handlungsverlauf von Detektiv- und Kriminalgeschichten (whodunit) um: Die Suche nach dem Täter eines Gewaltverbrechens erübrigt sich (die Nummer eines Opfers variiert diese Struktur). Die Hauptcharaktere stehen vielmehr vor der Aufgabe, die kontextuellen Verknüpfungen der Maschine zu rekonstruieren und zu verstehen, wie der Output generiert wurde, damit die Bedrohung abgewendet werden kann. Insofern ist nicht nur die Ästhetik, sondern auch die Handlungsstruktur der Serie auf die Übersetzung technischer Funktionslogiken in ein unterhaltsam menschliches Format angelegt.
21 | R. Popp/J. Poindexter: Countering Terrorism, S. 24-26. Vgl. S. Harris: The Watchers, S. 144-154. Harris journalistische Enthüllungen über das Total Awareness Program haben anscheinend auch die Operationsweise der Maschine in Person of Interest inspiriert. Siehe Rothman: The TV Show That Predicted Edward Snowden. 22 | Neben der Subjektivierung eines einzelnen Computersystems, gibt es auch die Spielart, Technologie als Abstraktum zu subjektivieren. Diese spricht sich schon im Titel von Kevin Kellys nicht-fiktionalem Buch What Technology Wants (2010) aus. Das Cover des Buches offenbart das Motto: »Technology is a living force that can expand our individual potential – if we listen to what it wants«.
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Triviale M enschen und nicht- triviale M aschinen Die neueren Computersysteme zur Prognostizierung menschlichen Verhaltens verfolgen einen behavioristischen Ansatz, der rationales Verhalten wie Nutzenmaximierung als einen Sonderfall betrachtet und nach Instrumenten zur Modellierung menschlicher Irrationalität sucht. Psychographische Profile kombinieren Persönlichkeitsmerkmale, Lebensstil und Werteorientierung und können Aufschluss über Konsumverhalten, politische Entscheidungen oder Partnerwahl geben.23 Die transhumanistische Hackerin Root fasst das menschliche Wesen aus Sicht der Technik bündig zusammen und benennt gleichzeitig die Anthropologie, die den Plot der Serie grundiert: Menschen seien »violent and predictable«.24 Mithin sind aber auch die Hauptcharaktere der Serie derart vorhersagbar, dass es gar keine raffinierten technischen Instrumente braucht, um ihr zukünftiges Verhalten zu erraten. Der Pilotfilm hebt unvermittelt mit Menschen und ihren menschlichen Problemen an: Eine Frau in den Armen eines Mannes; offensichtlich eine Rückblende, in der deutlich wird, dass John Reese – die rechte Hand von Finch – seine geliebte Frau durch ein Gewaltverbrechen verloren hat. Man sieht ihn anschließend in der New Yorker Subway: Er trinkt Whiskey und verprügelt Halbstarke. Nach zwei Staffeln und einer langen Phase intimer Annäherung küssen sich Reese und die hilfsbereite Polizistin Carter. Das neue Liebesglück ist nur leider von kurzer Dauer, denn unmittelbar nach dem ersten Kuss wird Carter von korrupten Kollegen erschossen. Reese verlässt New York, betrinkt sich in einer Bar im mittleren Westen und: prügelt sich mit einem alten Kollegen.25 Die beiden Schicksalsschläge werden von Reese in
23 | Z. Tufekci: Engineering the Public. 24 | Person of Interest, S2E2, 31:00. Besonders aufschlussreich für die transhumanistische Perspektivierung der Maschine ist die zweite Episode der zweiten Staffel: Bad Code. Der Titel bezieht sich weniger auf Computercodes als auf den genetischen Code des Menschen. Root fungiert seit dem Ende der zweiten Staffel als Avatar der Maschine und wäre mit Jaron Lanier den »cybernetic totalists« zuzuordnen; Harold hingegen verschlüsselt die Nachrichten der Maschine mithilfe seines Bibliothekskatalogs und wäre der Tradition der »humanistic computer science« zuzurechnen (J. Lanier: Gadget, S. 17-18). 25 | Person of Interest, S3E9/11.
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derselben Weise beantwortetn. Derselbe Input produziert denselben Output – Kennzeichen einer trivialen Maschine. Abbildung 3 und 4: Triviale Maschine/ Nicht-triviale selbstreferentielle Maschine
Quelle: Foerster: Mit den Augen des Anderen, 357/362
Viele Episoden stellen die Handlungsmotivationen der (menschlichen) Hauptfiguren, ihre psychologischen Dispositionen und trivialen Probleme (Liebe, Vertrauen, Rache, Hass oder Freundschaft) in den Mittelpunkt. Jedoch gewinnt die Serie ihren Reiz durch die Interaktion zwischen trivialen Menschen und der nicht-trivialen Maschine, die – so Finch – derart schnell wächst und lernt, dass sich ihre Evolution nicht vorhersagen lässt.26 Die Episoden, die den übergreifenden Plot um die Maschine vorwärtstreiben, werfen politische und ethische Fragen auf; unter anderem, inwieweit Zahlen im Zeitalter von Big Data für sich sprechen und technische Systeme nur ihre Artikulationsform sind 27, ob die Auswüchse digitaler Überwachung eine technische oder politische Antwort verlangen oder wie Entscheidungen zugerechnet werden können, wenn menschliche und nicht-menschliche Akteure sie in wechselseitiger Abhängigkeit treffen. Und: Sie stellen die Frage, ob die pre-crime Gesellschaft nicht einen neuen Kandidaten für die unbesetzte Position zur überblicksgeleiteten und prognosebasierten Steuerung gesellschaftlicher Prozesse hervorgebracht hat.28 26 | »Having built something significantly smarter than myself, how could I possibly anticipate its evolution?« (Person of interest, S2E22, 15:00). 27 | »With enough data, the numbers speak for themselves« (Anderson: Theory). Siehe M. Andrejevic: Reality Show, S. 54-56. 28 | Vgl. Dietmar Daths Überlegungen zur kapitalistischen Ideologie der Planlosigkeit und zu sozialistischer Planung qua Technik: D. Dath: Maschinenwinter, S. 45-58.
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Viele Charaktere der Serie empfinden sich in einer Welt lebensimmanenter Sinnlosigkeit ohne letzte Instanz und definitive Antworten29; einer Welt, in der die eigene Biographie nicht sinnhaft erlebt wird und die Gesellschaft leidlich funktioniert, indem sie auf Überblick verzichtet. Für einige von ihnen – Root und das Schachgenie Claire, aber auch Reese und seine Kollegin Shaw – schafft die »informationelle Transzendenz«30 der Maschine einen Ausweg: Das Wissen darum, dass es eine Instanz gibt, die sowohl das Handeln jedes Einzelnen beobachtet als auch die Geschicke der Gesellschaft steuert, schenkt ihnen ein Gefühl von »structure, order, meaning«31 und »purpose«.32 Es wundert daher nicht, wenn die Maschine von einzelnen Charakteren vergöttlicht wird.33 Genau genommen gibt es seit dem Ende der dritten Staffel zwei Kandidaten für diese Position. Eine Geheimorganisation namens Decima hat eine zweite Sehmaschine ans Netz angeschlossen – »Samaritan«. Die beiden Maschinen haben sich gegenseitig als Bedrohung bestimmt, und der Anführer von Decima stellt einen Krieg der technologischen Götter in Aussicht. Die Maschine mit Finch und seinem Team gegenüber Samaritan und Decima.34 In diesem Kampf treten auch zwei verschiedene Auf-
29 | Person of Interest, S4E2, 34:00. 30 | B. Taureck: Überwachungsdemokratie, S. 46. Taurecks Essay skizziert eine »religiös verbrämte Überwachungsdemokratie« als mögliche Option für die Zukunft der USA. Die »übermenschlichen Informiertheit« der NSA könne dann auch als »Geborgenheit« erlebt werden (S. 45-98). 31 | Person of Interest, S4E2, 34:00. 32 | Person of Interest, S4E5, 20:00. 33 | Im Rêve de d‘Alembert (1769) spekuliert Diderot über einen stochastisch rechnenden innerweltlichen Gott. Ein solcher Gott sei wie eine Spinne in einem feingliedrigen Netz, über das sämtliche Informationen in der Welt an ein empfindungsfähiges Zentrum geleitet werden. Ein solcher Gott wüsste zu jedem Zeitpunkt, »was in der Welt geschieht« und aufgrund seines Gedächtnisses auch alles, was zu seinen Lebzeiten geschehen ist. Doch über die Zukunft könne er »nur Vermutungen anstellen, die der Wahrscheinlichkeit entsprächen und dem Irrtum unterworfen wären« (D. Diderot: Traum, S. 541). Vgl. in Abgrenzung die Prädikationsgewissheit des Laplaceschen Dämons. P. Laplace: Versuch, S. 3-4. Ferner I. Prigogine/I. Stengers: Order, S. 60. 34 | Person of Interest, S3E23.
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fassungen von künstlicher Intelligenz und ihrer Funktion in der menschlichen Lebenswelt gegeneinander an. Harolds Maschine folgt dem Prinzip »that humans must make their own choices«.35 Wenngleich die Maschine die freiheitlichen Handlungen des Menschen oft genug antizipiert, übernimmt sie keine souverän urteilende Funktion, sondern ist Teil eines hybriden Systems menschlicher, technischer und gelegentlich tierischer Akteure, in dem Wahrnehmungsmöglichkeiten, Handlungsräume und Entscheidungen in wechselseitiger Abhängigkeit entstehen.36 Demgegenüber unterwirft John Greer, der Direktor von Decima, sich und seine Organisation dem Befehl von Samaritan und setzt das Computersystem als neuen Souverän ein. Als er Samaritan aktiviert, erscheint die Frage auf dem Bildschirm: »What are your commands?«, worauf Greer erwidert: »The question is, what, my dear Samaritan, are your commands for us?«37 Das Ende der dritten Staffel, das dem Zuschauer an Stelle der gewohnten Bildmaske der Maschine die neue, anscheinend leistungsfähigere Bildmaske von Samaritan präsentiert, legt nahe, dass dieser Krieg nicht nur auf Handlungs- und Figurenebene ausgefochten wird, sondern auch auf die Ästhetik der Serie übergreift. Samaritan könnte in der neuen Staffel einen Teil der erzählerischen Funktion übernehmen, die bislang der Maschine oblag. Die ersten Folgen der vierten Staffel deuten an, wie ein derartiger Krieg aussehen könnte: ein Krieg, in dem die digitale Spiegelung von Bildern und Tönen die Taktik bestimmt und in dem es darauf ankommt, nicht gesehen zu werden, um zu gewinnen.38 35 | Person of Interest, S4E2, 26:00; vgl. S4E3, 38:00. 36 | Vgl. T. Matzner: Model Gap. 37 | Person of Interest, S3E23, 43:00. Wie man den Ausgang des Kampfes einschätzt, hängt davon ab, welchen Schluss man aus den Schachpartien zwischen Garry Kasparov und Deep Blue zieht. Zwar haben Deep Blue und seine Nachfolger (das Computerprogramm Watson spielt Jeopardy) demonstriert, dass sie Menschen auf bestimmten Gebieten überbieten und ersetzen können. Doch treten im Freestyle Chess inzwischen nicht nur Menschen gegen Maschinen, sondern auch Mensch-Maschine-Hybride gegeneinander an. Dabei hat sich gezeigt, dass auch der stärkste autonome Schachcomputer einem starken menschlichen Spieler, der einen relativ schwachen Computer einsetzt, unterlegen ist. Siehe G. Kasparov: Chess Master. Vgl. K. Kelly: AI. 38 | Vgl. P. Virilio: Sehmaschine, 156-159.
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»Die Sehmaschine«
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F ilmverzeichnis Person of Interest (USA 2011-, R: Jonathan Nolan u.a.).
Von autonomen Maschinen und der Kontrolle des Spiele(r)s: Mensch-TechnikVerhältnisse im Computerspiel Martin Hennig Es tut mir leid, Dave, aber das kann ich nicht tun. 2001: Odyssee im Weltraum (USA 1968, R: Stanley Kubrick)
E inleitung Gegenwärtig findet innerhalb der Computerspieleindustrie ein technologischer Innovationsschub statt. Die Markteinführung der Nintendo Wii im Jahr 2006 trug aufgrund des intuitiv erlernbaren Bewegungssteuerungskonzeptes der Spielekonsole maßgeblich zur breiten gesellschaftlichen Akzeptanz des Mediums bei. Ihr ökonomischer Erfolg beförderte die Entwicklung möglichst komfortabel bedienbarer, autarker Hard- und Softwarekomponenten, welche heute zunehmend auch in unsichtbare Interaktion mit den Nutzenden treten. So erkennt die (mittlerweile optionale) Kamera der 2013 in Deutschland erschienenen Spielekonsole Xbox One Körperbewegungen, Muskelbelastungen und Puls anwesender Personen. Die Hardware kann deshalb etwa dazu eingesetzt werden, Reaktionen auf individualisierte Werbung zu erfassen, was vom Entwickler Microsoft bei Marketingkonferenzen als zentrales Feature beworben wurde: Die Xbox One sei »im Prinzip wie ein Fernseher, der den Kunden anschaue«.1 Dagegen weitet die Konkurrenz von Sony sukzessiv die sozialen Funktionen der Systemsoftware aus, mit allen damit verbundenen Datenschutzproblemen: 1 | Eine Datenfundgrube fuer Marketingleute, http://www.4players.de.
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Die Angleichung der Menüoberfläche an die Ästhetik und Funktionalität sozialer Netzwerke ist eine zentrale Erweiterung der PlayStation 4 gegenüber den Vorgängermodellen. Gleichzeitig arbeiten mittlerweile mehrere namhafte Unternehmen (u. a. Sony und Facebook) an massenmarkttauglichen Virtual-Reality-Brillen, die zu einer vollständigen Verschmelzung von Realität und Virtualität führen sollen. Es häufen sich folglich die Bereiche, in denen die Grenzen zwischen dem Menschen als autonomem Subjekt, welches Technik zur Unterhaltung einsetzt, und dem Menschen als Objekt autonomer Unterhaltungselektronik verwischen.2 Zudem vollzieht sich auch in den konkreten Spielinhalten eine zunehmende Reflexion von Mensch-Technik-Verhältnissen. Während sich entsprechende Thematiken bis zur Mitte des letzten Jahrzehnts vor allem in erzähllastigen Nischengenres wie dem Adventure fanden,3 thematisieren heute zahlreiche Ableger unterschiedlichster Genres technische Körpermodifikationen, verhandeln die Folgen einer vollständig technisierten Umwelt oder basieren auf Überwachungsszenarien. Dieser Beitrag strebt an, derartige Phänomene in einen gemeinsamen Rahmen zu stellen und die angesprochenen technisch-apparativen Transformationen ins Verhältnis zu den Verhandlungen von Mensch-Technik-Verhältnissen ›innerhalb› der Spielewelten zu setzen. Dies wird im Rahmen einer schlaglichtartigen Analyse von Titeln aus den Jahren 2011-2014 geschehen, wobei Sinnaussagen zum Mensch-Technik-Verhältnis auf Ebene der Narration, der Spielmechanik sowie der visuellen Darstellung fokussiert werden.
U topische vs . dystopische Technik Im Rahmen der Simulation SimCity: Städte der Zukunft (Maxis/Electronic Arts, 2013) können Science-Fiction-Städte gebaut werden. In Wirtschaftssimulationen gilt es im Allgemeinen, die komplexen Abhängigkeiten der 2 | Auch Gamification-Maßnahmen im Bereich der freien Wirtschaft, in denen Arbeitsprozesse in einen spielerischen Rahmen gestellt werden, um die Produktivität des Personals zu erhöhen, können als Beleg für einen entsprechenden Wandel gelten. Vgl. N. Stampfl: Die verspielte Gesellschaft. 3 | Vgl. exemplarisch Blade Runner (Westwood Studios/Virgin Interactive, 1997) oder The Moment of Silence (House of Tales/dtp entertainment, 2004).
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Spielelemente (Häuser, Bewohner, Berufe, Rohstoffe usw.) in ein mentales Modell zu überführen und darauf basierende Entscheidungen zu treffen. Die vollständige Vernetzung aller Elemente innerhalb der Anwendung ist deshalb als Voraussetzung ihrer ›Spielbarkeit‹ zu verstehen. Somit verfährt auch die Simulation keineswegs realitätsabbildend, sondern entwirft ein eigenständiges Modell von Welt: »Da Texte medial konstruiert sind, bedeutet das, dass sie Wirklichkeit immer in einer bestimmten Weise abbilden und dadurch erst ›Wirklichkeit‹ konstituieren.«4 Ein Spieldesigner des ersten Teils SimCity (1989) subsumiert dies mit den Worten: »the joys of SimCity are not found so much in the inherent pleasures of city planning and governance, but rather in seeing how the game models the connections between its parts. […] Its central pleasure is that it only simulates SimCity.« 5
Das Bemerkenswerte ist nun allerdings, dass Städte der Zukunft diese systemische Tiefenstruktur bereits in der Einführungssequenz ästhetisch pointiert, da sie sich ausgehend vom Modell der digitalen Vernetzung erstmals in eine Oberflächenebene übersetzen lässt: Schnelle Kameraschwenks folgen Vernetzungsstrukturen innerhalb unterschiedlicher Stadtszenarien, womit die wechselseitige Abhängigkeit der Spielemente akzentuiert und Vernetzung als konstitutives Merkmal einer Zukunftsstadt ausgewiesen wird. Das Programm kaschiert damit seine systemischen Bedingtheiten, insofern es seine extradiegetische systemische Basisstruktur als obligatorisches Element der Diegese ausweist. Die konkrete semantische Füllung des Vernetzungsparadigmas changiert dabei zwischen den zwei Polen: ›forschungsbasierte grüne Technologie‹ und ›industrialisierte Warenwirtschaft‹. Innerhalb der ersten Zukunftsvariante können saubere Technologien, wie etwa ein Müllatomisierer, gebaut werden. Derartige Anlagen benötigen keine Arbeiter, machen allerdings die permanente Anbindung an ein drahtloses Netzwerk erforderlich. Die zweite Zukunftsvariante dagegen basiert auf der Produktion einer nicht näher spezifizierten Substanz namens Omega, die rauschmittelartige Qualitäten besitzt. Omega wird folglich heiß begehrt, wobei ein Ausbau der zugehörigen Fabriken die Herstellung autonomer Drohnen ermöglicht, die der Warenlieferung dienen und in Anbetracht 4 | H. Krah: »Kommunikation und Medien: Semiotische Grundlagen, S. 26. 5 | D. Thomas: SimCity. Simulating Nothing, S. 211.
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des mit Omega korrelierten Bevölkerungsrückzugs ins Private auch öffentliche Aufgaben wie Krankenversorgung und Verbrechensbekämpfung übernehmen. Weiterhin zieht die Produktion der Substanz eine starke Umweltverschmutzung nach sich: Während die erste Stadtvariante ein bläulich-neonartiges Aussehen erhält, geben die Omega-Fabrikanlagen den umliegenden Vierteln einen schmutzigen, rötlich-bräunlichen Anstrich. Obwohl also beide Zukunftsvarianten dem Vernetzungsparadigma folgen, gilt lediglich die zweite Variante als heteronome Struktur und wird mit dystopischen Merkmalen aufgeladen, denn nur in ihr wird Vernetzung mit der Fertigung ›autonomer‹ Maschinen in Zusammenhang gebracht. Deren Existenz wiederum korreliert mit einer Abwesenheit von Öffentlichkeit sowie einem Rückzug ins Private, wobei diese Prozesse mit der Verschmutzung und Zerstörung des Handlungsortes einhergehen. Die autonome Maschine verweist hier folglich zeichenhaft auf ihre entpolitisierten, hedonistischen, vollständig ins Private zurückgezogenen Besitzer – die autonome Maschine dient als dystopischer Antipode der entautonomisierten Stadtbewohner. Aufgrund der damit aufgerufenen Stellvertreterfunktion von Technik kann ein identischer Vernetzungsmechanismus innerhalb der ersten Städtevariante dann auch positiv semantisiert werden, da das drahtlose Netzwerk hier eine ganzheitliche Perspektive impliziert und für das Ideal einer ökologisch verantwortlich handelnden Bevölkerung steht. Im Falle ihrer materiellen Manifestation in Form autonomer Maschinen wird Technik somit negativ konnotiert. Dagegen wird ihr ubiquitäres, unsichtbares Äquivalent innerhalb der dargestellten Welt positiv überhöht. Passend hierzu wird die systemisch bedingte Vernetzungs- bzw. Tiefenstruktur des Programms maskiert, indem sie als mimetisch ausgewiesen wird. So ähnlich führt auch das Actionspiel Infamous: Second Son (Sucker Punch Productions/Sony Computer Entertainment, 2014) eine total überwachte Großstadt vor, in der amalgamierte Mensch-Technik-Verhältnisse als einzig wünschenswert gesetzt werden. Innerhalb des Handlungsortes kommt es zu genetischen Mutationen unter der Bevölkerung, welche die Regierung jedoch nicht duldet und der behördlichen Kontrolle überstellt. Die biologischen Superkräfte des Protagonisten Delsin befinden sich dabei sowohl in semantischer Opposition, als auch funktionaler Äquivalenz zu den technischen Überwachungsmethoden der Kontrollorganisation.
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Indem Delsin andere Personen berührt, erlangt er Kenntnis über die Lebensgeschichte anderer Personen und erfährt intimste Details ihres Privatlebens, seine Kraft fungiert als biologisches Überwachungsäquivalent. Und genau wie die omnipräsenten Überwachungsdrohnen ist auch er auf genaue Kenntnisse des urbanen Raums angewiesen. Diese Details werden für Delsin allerdings nur in einem sozialen Kontext zugänglich, indem nämlich der Bruder seine Kontakte zur örtlichen Polizei spielen lässt. Ein prägnanter Unterschied ist deshalb, dass Delsins Kräfte schnell nicht mehr von seiner Identität zu trennen sind, sie werden in einem sozialen Rahmen wirksam und fungieren als Erweiterung der ethischen Ausrichtung des Protagonisten. Die negativ konnotierte Überwachungstechnik (Drohnen, Überwachungszentralen) dagegen agiert vollständig autonom und benötigt keine menschliche Besatzung. Gleichzeitig werden die Paradigmen Freizeit und Unterhaltung im Stadtbild als dominant gesetzt, auf omnipräsenten Werbebildschirmen laufen Werbeanzeigen zu Handys und sozialen Netzwerken, die hier als Exempel einer sich erst über das Individuum konstituierenden Technosphäre dienen.
Technik vs . A utonomie Die Beispiele legen nahe, dass Technikdystopien innerhalb eines interaktiven Kontexts bevorzugt anhand individueller Autonomieverluste verhandelt werden. Die Interaktivität der Erzählung beeinflusst jedoch die narrative Bewertung des dargestellten technologischen Wandels. So entwirft die Handlung von Deus Ex 3: Human Revolution (Eidos Montreal/ Square Enix, 2011) ein Zukunftsmodell des Jahres 2027, in dem die Entwicklung mechanischer Körpermodifikationen die Menschheit in Befürworter und Gegner der Technologie spaltet. Obwohl die Spielwelt dabei stark dystopische Züge trägt, bemüht sich die Produktion um eine multiperspektivische Verhandlung technologischer Innovationen. Einerseits erfährt man von der technikbasierten Heilung schwerer Verletzungen und Krankheiten; Betroffene schwärmen von neuen beruflichen Möglichkeiten. Allerdings hat sich die Technik zum Luxusgut entwickelt und wirkt als Verstärker des sozialen Status. Eine abschließende Katastrophe macht zuletzt die erhöhte Manipulierbarkeit der Bevölkerung deutlich: Der Antagonist entsendet ein Signal, welches den freien Willen der Modifizierten auslöscht und zur Raserei führt. Der Spieler steht zuletzt vor
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einem philosophischen Dilemma: Aufgrund der bisher gemachten Erfahrungen ist ein eigener Standpunkteinzunehmen, indem die weitere Entwicklung der Menschheit in technologischer Hinsicht vorgezeichnet wird.6 Gleichzeitig führt der Handlungsverlauf den Wert freier Entscheidungen vor – jede Mission kann auf mehrere Arten gelöst werden, durch das Führen von Dialogen, auf Schleichwegen oder mittels roher Gewalt. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass die Entscheidungsmöglichkeiten gar nicht so weitreichend angelegt sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Viele Aktionen im Spiel führen zu denselben Reaktionen. Zum Beispiel kann die Hauptfigur die abschließende Katastrophe in keiner Spielvariante verhindern, die Freiheitsgrade der Spielenden betreffen allein die postapokalyptische Neuorientierung der Menschheit. Jedoch spielt Deus Ex 3 zeitlich vor den Geschehnissen des ersten Teils, in dem Körpermodifikationen bereits zum gesellschaftlichen Alltag gehören, wodurch die Entscheidungsmöglichkeit am Ende von Teil drei vollständig entkräftet wird. Damit oszilliert das Spiel laufend zwischen dem Appell an den freien Willen der Spielenden und einer Kaschierung der Grenzen, die aus spielstrukturellen Gründen notwendig sind: Uneingeschränkte Interaktivität kann es in narrativen Kontexten nicht geben, die Entscheidungsfreiheit der Nutzenden muss beschnitten werden, um einen kohärenten Spielablauf zu ermöglichen, da sich spielerische Freiheiten tendenziell im Widerspruch zu dem Erzählen einer kausal motivierten Geschichte befinden. Haben die Entscheidungen der Nutzenden dagegen gleich zu Beginn fundamentale Konsequenzen für den Handlungsverlauf, sind die Programmierer gezwungen, mindestens zwei völlig unterschiedliche Spielabläufe zu kreieren. Deshalb finden sich tatsächliche Verzweigungen häufig erst gegen Ende einer interaktiven Geschichte, vorher handelt es sich dann lediglich um Pseudo-Entscheidungsmöglichkeiten. Deren Konsequenzlosigkeit wird allerdings in der Regel auf Ebene der Narration kaschiert.7 6 | Beispielsweise kann eine weltweite Videobotschaft versendet werden, durch deren Verbreitung die Menschheit von den Gefahren der Körpermodifikationen überzeugt werden könnte. Andererseits wäre es ebenso möglich, eine gesellschaftliche Diskussion zu den Errungenschaften der Technologie mittels manipulierten Bildmaterials von vornherein zu unterbinden. 7 | Zu den Mechanismen der Kaschierung spielinterner Grenzen vgl. grundlegend St. Gorsolke: Interaktivität in narrativen Medien, S. 73-156.
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Auch hier findet sich ein solcher narrativer Mechanismus: Deus Ex 3 beinhaltet dutzende Anspielungen auf den griechischen Ikarus-Mythos.8 Absturz und Tod des Ikarus stellen eine Strafe der Götter für seine Hybris dar, so wie Ikarus scheitert die Menschheit in Deus Ex 3 als Ganzes. Damit wird unterstrichen, dass die konkrete Technologie auch hier lediglich für die epochenübergreifende Hybris der Menschheit steht. Die dargestellte Körpermodifikationstechnik wird eigentlich zwar als epochaler Schritt ausgewiesen, der Spielvorgang negiert diese Grenzüberschreitung jedoch sukzessiv, denn dem Denkmodell des Spieles folgend sind die großen Entwicklungsschritte der Menschheit prädestiniert und iterativ.9 Autonomieverluste im Umgang mit dem technischen Medium Computerspiel werden folglich auf Ebene des Dargestellten relativiert, denn dem narrativen Modell zufolge ist es letztlich irrelevant, wie sich die Spielenden in den exponierten Entscheidungssituationen verhalten. Damit wird allerdings auch das intradiegetische moralische Dilemma entschärft, denn verhandelt wird lediglich der individuelle Umgang mit den schlicht unvermeidbaren Geschehnissen – die Technikdystopie paralysiert sich gewissermaßen selbst.
Technologische (D e -)E volution Das Paradigma unvermeidbarer und damit ›natürlicher‹ technologischer Evolution kennt auch eine utopische Argumentationsvariante, die sich insbesondere in den kommerziell immens erfolgreichen Militärshootern der Call of Duty: Modern Warfare-Reihe findet. Diese inszeniert und feiert eine »vollständige technologisch geschaffene Transparenz«,10 die wiede-
8 | Zum Beispiel ist wiederholt das Gemälde The Lament for Icarus (1898) von Herbert James Draper zu sehen, Ikarusstatuen säumen die Spielwelt und der Antagonist bezeichnet sich selbst als Daidalos. 9 | So speist sich die visuelle Darstellung des Science-Fiction-Settings aus architektonischen und modischen Versatzstücken der Renaissance, wobei die wissenschaftliche Aufbruchsstimmung der beiden Zeitalter auf Ebene der Narration parallelisiert wird. 10 | M. Nagenborg: Überwachung und Sicherheit im Kontext von Video- und Computerspielen, S. 54.
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rum in der globalen Zuständigkeit und technologiebasierten Eingriffsmacht der amerikanischen Protagonisten zum Ausdruck kommt. Während der Spielablauf der Missionen auf dem Einsatz modernster Waffentechnologien in möglichst fotorealistisch gestalteten Umgebungen basiert, sind die Missionseinweisungen dabei allerdings in einem betont künstlichen, virtuellen Raum angesiedelt. Auf einem simulierten Globus werden Krisenherde und feindliche Aktivitäten farbig gekennzeichnet und mittels Voice-Over in einen logisch-kausalen Zusammenhang gebracht. Auf den Ursprung der Erkenntnisse aus technischen Überwachungsmaßnahmen wird wiederholt hingewiesen. Damit werden die zur Mission erforderlichen Informationen bewusst in einen technologischen Rahmen gestellt und validiert. Das zentrale Versprechen von Überwachungstechnik liegt folglich in der komplexitätsreduzierten Darstellung, Überwachungsbilder wirken evidenzfördernd.11 Begründet wird die Notwendigkeit der globalen Überwachung mit den undurchschaubaren Kriegstaktiken des Feindes, der gewöhnlich selbst vor terroristischen Angriffen nicht zurückscheut. Der regelmäßige Triumph der amerikanischen Streitkräfte dagegen kann unmittelbar auf die vom Spiel dokumentierte moralische Überlegenheit der Alliierten zurückgeführt werden, welche mit der durchgängig präsenten Utopie eines technikbasierten, ›sauberen‹ Krieges zusammenhängt. Im Showdown von Call of Duty: Ghosts (Infinity Ward, Raven Software, Neversoft/Activision, 2013) fungiert die Überwachungstechnik dementsprechend auch als allwissende Erzählinstanz, aus der sich sämtliche vorgenommenen Perspektivierungen herleiten: Aus der Satellitenansicht wird jeweils in die nächste Szene gezoomt. Nach der Bewältigung vielfältiger Herausforderungen erhalten schließlich die Spielenden selbst die Kontrolle über einen Satelliten, der es ihnen erlaubt, feindliche Einheiten per Markierung auf einer Satellitenkarte auszulöschen und zugleich die eigenen Spielfi11 | In diesem Rahmen inszeniert Call of Duty: Ghosts eine grundsätzliche Äquivalenz von Techniken der visuellen Überwachung und den Mechaniken eines Ego-Shooters. So wird die visuelle Identifikation einer Figur gewährleistet, indem sie analog zu den Abläufen von im Genre konventionalisierten Scharfschützenmissionen aus einer separaten Bildschirmansicht heraus anvisiert wird, ein Druck auf den Abzugsknopf bestätigt dann die Identifikation. Zur Ästhetik totaler Überwachung in zeitgenössischer Populärkultur vgl. auch den Artikel von Kai Löser in diesem Band.
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guren zu schonen. Der ›saubere‹ Krieg winkt hier als Gratifikation für den erfolgreichen Durchlauf der Kampagne. Gleichzeitig steigert sich von Serienteil zu Serienteil die ›Cyborgisierung‹ der Hauptcharaktere, welche zusehends durch technische Gadgets aufgerüstet werden. Im Beispiel lässt sich dabei eine Tendenz zur Naturalisierung von Technik feststellen, insofern als die technologiebasierte Weltwahrnehmung mit einer posthumanen Daseinsform korrespondiert. Ein Teammitglied der Ghosts bildet der Schäferhund Riley, welcher in einigen Missionen zu den steuerbaren Figuren gehört. Darauf auf bauend wird auf der visuellen Ebene bzw. im Rahmen der Bildperspektive während der Riley-Missionen eine Verschmelzung von Tier und Technik vorgeführt. Die Sicht ist in der Bewegung zu den Rändern hin verzerrt und gleicht einem Tunnelblick. Obwohl der Hund eigentlich ein weiteres Gesichtsfeld als der Mensch besitzt, wird damit ein gesteigerter Tiefenund Zielfokus als zentrale Charakteristik gegenüber der menschlichen Wahrnehmung herausgestellt. Gleichzeitig beinhaltet jedoch auch Rileys Perspektive Interface-Komponenten (Gegner werden farbig markiert usw.), denn navigiert wird Riley in der Fiktion mittels einer auf seinem Rückgrat befestigten technischen Apparatur. Die animalische Perspektive ist hier also pragmatisch-technisch gefärbt, dabei wird die funktionale Äquivalenz beider Perspektiven (Tunnelblick vs. technische Markierung) vorgeführt, die Apparatur kennzeichnet lediglich zusätzlich das sowieso schon vom Tier fokussierte. Riley kann folglich genau deshalb einen gleichwertigen Teil des Einsatzkommandos bilden, da seine animalische Weltwahrnehmung der erst technisch hergestellten seiner Kameraden äquivalent ist. Seine bildmittige Blickperspektive substituiert die im Genre übliche Zielfokussierung über ein Fadenkreuz – das Tier selbst ist hier die Waffe. Diese Diskrepanz zum menschlichen Blick stellt im Ego-Shooter-Kontext den positiven Zielpunkt einer humanen Entwicklung dar, die aufgrund der vorgeführten Gleichwertigkeit von Tier und Technik in greif barer Nähe erscheint. Eine Verheißung von Technologie in der spielinternen Fiktion liegt damit auch in der Möglichkeit, fundamentale (biologische) Grenzen zu überwinden, wobei in der Simulation gleichzeitig die Reversibilität der dargestellten Prozesse akzentuiert wird. Im Gegensatz zu den biologischen Experimenten eines Dr. Frankenstein ist die vorgeführte Verschmelzung jederzeit über den Ausschalter zu beenden.
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Ü bertr agung digitaler L ogiken Dass die Programmlogik des Computerspiels hier auch die narrative Verhandlung sozialer Kontexte tangiert, zeigt Beyond: Two Souls (Quantic Dream/Sony Computer Entertainment, 2013). Das dominierende Thema des Spiels ist Kontrolle. Protagonistin Jodie ist seit ihrer Geburt mit einem übersinnlichem Wesen namens Aiden verbunden, welches ihr auf Schritt und Tritt folgt und dafür verantwortlich ist, dass Jodie bereits im Alter von acht Jahren unter staatliche Obhut gestellt wird. Dementsprechend beginnt das erste Kapitel des Spieles in ihrem auf einer militärischen Einrichtung angesiedelten Wohnkomplex. Hinter einer zentral im Wohnzimmer platzierten Spiegelglasscheibe befindet sich eine Überwachungszentrale, in welche Kameraaufnahmen des Wohn- und Schlaf bereichs überspielt werden. Jodies häuslich eingerichteter Lebensbereich erhält damit panoptische Züge und fungiert als Überwachungsdystopie. Allerdings werden die vorgeführten Wohnräume nicht als vollständig dysfunktional ausgewiesen. Die folgenden Spielkapitel führen genau diese Ambivalenz in bemerkenswerter Drastik vor. Jedes Mal wenn es der Hauptfigur für kurze Zeit gelingt, ihrem Privatgefängnis zu entfliehen, wird sie unmittelbar sanktioniert. Auf einer Party wird sie zum Opfer von Spott und Intrigen (vgl. Kapitel 4); einen nächtlichen Barbesuch muss sie beinahe mit einer Vergewaltigung bezahlen (vgl. Kapitel 12). Das Raumgefängnis bietet folglich Schutz und ihr Zuhause trägt für Jodie trotz allem persönlichkeitsunterstützende Funktionen, denn die Architektur des Wohnbereichs wurde scheinbar um die Überwachungsapparaturen herum entwickelt und nicht umgekehrt. Diese folgt einem Zwiebelschalenmodell: Direkt vor der Spiegelglasscheibe befindet sich ein Tisch mit mehreren Stühlen. Hier findet die soziale Interaktion in Jodies Leben statt. Der Bereich ist gleichsam der Öffentlichste innerhalb der architektonischen Ordnung der Behausung, demgegenüber befindet sich das Badezimmer am entferntesten von der Scheibe weg gelegenen Punkt. Überwachung ist folglich als raumkonstituierendes Element innerhalb der Produktion zu verstehen, wie auch durch die Spielenden auszuübende Überwachungspraktiken in der Rolle des unsichtbaren Geistes Aiden einen maßgeblichen Bestandteil des Spielablaufs bilden. Und genau wie sich die dargestellte Welt durch die Omnipräsenz von Überwachung auszeichnet, verliert die Kontrolle durch Aiden im Verlauf der Geschichte
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ihre negative Konnotation, denn Jodie findet kurz vor dem Spielende heraus, dass Aiden eigentlich ihr bereits im Mutterleib verstorbener Bruder ist: »Wir konnten uns nicht verlassen. [….] [D]u warst ein Teil von mir«. Die Semantik der ursprünglich anonymen Kontrollinstanz verschiebt sich folglich ins Vertraute, wobei dieser Umschwung auch das zentrale Regulativ der folgenden Handlungsauflösung bildet.Nachdem Jodie im Showdown eine Invasion der Geisterwelt in die Realität verhindern konnte, befindet sie sich einen Moment zwischen den Welten, und kann sich hier entscheiden, ob sie bei bereits verstorbenen Charakteren im Jenseits bleiben möchte, oder zu wem sie zurück ins Leben tritt. Obgleich sich auf diese Weise 24 unterschiedliche Endsequenzen ergeben, unterscheiden sich diese allerdings lediglich auf einer Oberflächenebene voneinander, das Werte- und Normenmodell bleibt gleich. Sämtliche Möglichkeiten laufen darauf hinaus, dass Jodie in enge soziale bzw. familiäre Strukturen überführt wird. Wählt Jodie das Geisterreich, wacht sie zukünftig genau wie Aiden über ihre in der realen Welt zurückgebliebenen Mitstreiter. Entscheiden sich Jodie bzw. die Spielenden dagegen für eine Rückkehr in die Realität, wird zusätzlich zu den hier neu eingegangenen sozialen Beziehungen die Bindung zu Aiden reaktiviert, das erneute Auftauchen der Kontrollinstanz löst bei Jodie nun ein Freudestrahlen aus.12 Letztendlich sieht der Handlungsverlauf also in jedem Fall vor, jene vormals als einschränkend und dysfunktional dargestellte soziale Kontrolle durch Aiden in ein nun positiv konnotiertes, jedoch letztlich äquivalent-einschränkendes Beziehungsschema zu überführen. Die positive Selbstfindung Jodies impliziert die Akzeptanz von Kontrolle, genau wie sich die Spielenden auf Ebene der Mensch-Maschine-Interaktion der Kontrolle durch das Programm zu beugen haben: Auch die mittels des multiplen Endes suggerierte unbegrenzte Wahl- und Interaktionsfreiheit bleibt letztlich eine Illusion. Der Kontrollkonflikt zwischen Programm und Spielenden wird hier also innerhalb der narrativen Ebene implizit thematisch und zur positiven Auflösung gebracht, indem die Kontrollmechanismen des Mediums auf eine soziale Ebene projiziert werden. 12 | Von diesem Schema ergibt sich lediglich eine Abweichung: Entscheidet sich Jodie für die Realität und ein zukünftiges Leben mit der Patchworkfamilie eines von ihr im Handlungsverlauf zur Welt gebrachten Kindes, taucht Aiden nicht wieder auf, denn seine Präsenz wird in diesem Fall durch die neu eingegangene (metaphorische) Mutter-Kind-Bindung substituiert.
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Zusätzlich wird eine technizistische Ästhetik etabliert. Die Darstellung des Jenseits erinnert an die Strukturierung sozialer Netzwerke: Auratische Lichtstränge verbinden die Verstorbenen miteinander, Jodie subsumiert ihr Erlebnis wie folgt: »Es gibt eine Welt hier. Ein ganzes Universum aus Wäldern und Seen und Bergen und Flüssen. […] Weder Himmel noch Hölle. Da ist kein Gott oder Teufel. Nur ein Ort, an dem wir weiterhin existieren nach unserem Tod. […] Ich kann überall und nirgends sein. Ich kann mich auflösen ins Nichts und plötzlich wieder ganz werden. Ich verbinde meine Seele mit anderen oder ich bin so allein, wie kein menschliches Wesen es je war.«
Da im Zitat die Grenze zwischen realer Welt und Jenseits bewusst nivelliert wird, scheint das zentrale Kennzeichen der jenseitigen Sphäre zu sein, dass hier dem digitalen Kontext entlehnte Wert- und Ordnungsvorstellungen (Sozialität als oberster Wert, Vernetzungsstrukturen usw.) ihrem weltlichen Kontext enthoben und damit transzendiert werden.
Technisch - appar ativ erzeugte S ozialr äume Abschließend soll auf Besonderheiten der technisch-apparativ erzeugten Sozialräume realer Spielender in Mehrspielerproduktionen eingegangen werden. Als Untersuchungsbeispiel dient hier Resident Evil 6 (Capcom, 2012), da das Spiel eine Hybridform zwischen offline- und online-Anwendung bildet: Trotz des Mehrspielerfokus der Produktion nimmt die erzählte Geschichte, mit über 4 Stunden Zwischensequenzen, einen beträchtlichen Raum darin ein. Jedoch zeigt sich auch hier eine Korrelation zwischen der technisch-apparativen Grundlage des Spielvorgangs und der narrativen Ebene. Die Produktion besteht aus drei Kampagnen13, welche die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven schildern, jedoch unabhängig voneinander ausgewählt und gespielt werden können. Jede verfügt über ein Protagonistenduo, weswegen die Handlung simultan von zwei Spielenden rezipiert werden kann. Als Spielwelt fungiert ein apokalyptisches Szena13 | Der Begriff bezeichnet eine festgelegte Missions- bzw. Ereignisabfolge im Gegensatz zum freien Spiel.
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rio, ganze Städte werden von zombieartigen Kreaturen überrannt. Auch sind die sozialen Beziehungen innerhalb der dargestellten Welt von Misstrauen und Verrat geprägt. Die drei zentralen Figurenpaarungen dagegen sind gerade durch die Unmöglichkeit von Verrat gekennzeichnet: Auf der Ebene der Spielstruktur bleiben die Spielenden und ihre Charaktere aufeinander angewiesen (zum Beispiel können Türen nur gemeinsam geöffnet werden), der eigentlich geteilte Bildschirm vereint sich innerhalb von Zwischensequenzen – unterschiedliche Wissensstände oder eine Abspaltung der Protagonisten sind nicht vorgesehen. Vielmehr basieren die Erzählungen in allen drei Kampagnen auf einer emotionalen Annäherung des Protagonistenduos. Im fünften und abschließenden Akt erfolgt dann stets ein zentraler Test der neuen Beziehungsqualität, etwa indem sich einer der Partner für den anderen opfert (vgl. »Chris-Kampagne«). Im Angesicht des Zusammenbruchs der dargestellten Welt vermittelt das Spiel Familienkompensationsstrukturen – so scheint es. Der Gesamtüberblick ergibt sich jedoch erst aus einer vierten Kampagne (»Ada-Kampagne«), welche nach dem erfolgreichen Durchlauf der ersten drei Paarungen freigeschaltet wird und die ursprünglich als einzige als Einzelspielererlebnis konzipiert wurde.14 Erst in dieser vierten Kampagne werden zentrale Fragen der fragmentierten Spielgeschichte beantwortet, nur aus ihrer Kenntnis ergibt sich eine kohärente Geschichte, welche die zum Teil unerklärlichen Ereignisse der übrigen Handlungsstränge in ein neues Licht rückt. Nur die Einzelperson wird damit als fähig ausgewiesen, hinter die Intrigenstruktur der dargestellten Welt zu schauen, es wird eine individualistische Weltperspektive vermittelt, die jedoch oberflächlich in Sozialsynonyme gehüllt ist. Nicht umsonst kommt es stets erst zum Ende der Kampagnen zur zentralen Paarbildung, die durch das Opfer des Partners zum Teil auch gleich wieder aufgelöst wird. Analog sind auch auf Ebene der realen Spielenden Wettbewerbsmechanismen integriert, denn nach jedem Kapitel werden ihre Leistungen (Trefferquoten etc.) grafisch gegenübergestellt. Dieser kompetitive Überbau und die subjektivierte Weltperspektive auf Ebene der Narration sind dabei als notwendige Mechanismen zur Erzeugung von Kongruenz angesichts der individuellen Ego-Räume der Spielenden zu verstehen: »Computerspiele 14 | Allerdings wurde diese Version des Spiels nach einiger Zeit modifiziert. Um Fanwünschen nachzukommen, stellte ein Update auch hier einen Begleiter zur Seite.
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handeln thematisch meist von topographischer Inbesitznahme (und visualisieren dadurch eingängig die Zunahme der Machtfülle), sie stellen den Spieler graphisch in den Mittelpunkt«.15 Die dispositive Struktur des Mediums bedingt folglich ein individualistisch strukturiertes Kollektiv.
F a zit Die Fetischisierung von Technik in Untersuchungsbeispielen aus den Jahren 2011-2014 fungiert vorrangig als Maskierungsmechanismus: In der Darstellung des Digitalen kaschieren sich digitale Bedingtheiten (vgl. Sim City). Zwar scheint die Häufung entsprechender Thematiken ebenfalls auf eine sich im Rahmen der Medienentwicklung steigernde selbstreflexive Tendenz zu verweisen, denn potenziell wird anhand der Verhandlung von Autonomie in Mensch-Technik-Verhältnissen über das Medium selbst nachgedacht.16 Allerdings formiert sich auf dieser Basis häufig lediglich ein Stellvertreterdiskurs. Indem Technik menschliche Wertvorstellungen repräsentiert, wird die Konsequenzlosigkeit sich verschiebender Mensch-Technik-Verhältnisse suggeriert (vgl. Sim City, Infamous: Second Son). Hierzu tragen auch naturalisierende, evolutionäre Argumentationsmuster bei (vgl. Deus Ex 3, Call of Duty: Ghosts). Eine Verhandlung von Autonomieverlusten findet teilweise zwar innerhalb der erzählten Geschichte statt, gleichzeitig jedoch ist das Computerspiel im Rahmen seiner technisch-apparativen Basisstruktur als Einübungsinstanz derartiger Transformationen angelegt (vgl. Deus Ex 3, Beyond: Two Souls). Dabei werden die systemisch notwendigen Kontrollmechanismen des Computerspiels durch kongruente Narrationsschemata kaschiert, wobei die damit aufgerufenen Topoi sowohl als Ausdruck vorgängiger kultureller Vorstellungen in Bezug auf technische Artefakte als auch als mediale Selbstrahmungen verstanden werden können. So wird bei Gesellschaftsdystopien in der Regel die Angst vor ›autonomen Maschinen und entautonomisierten Körpern geschürt‹, während Technolo-
15 | St. Gorsolke: Interaktivität in narrativen Medien, S. 281. 16 | Entsprechende Beispiele finden sich hauptsächlich im ökonomisch unabhängigeren Independent-Bereich, vgl. exemplarisch The Stanley Parable (Galactic Cafe, 2013).
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gie im utopischen Rahmen niemals ihren Werkzeug- oder Simulationscharakter verliert. Dass die vom Computerspiel erzeugten, technisch vermittelten Räume dagegen einer ganz eigenen, spezifisch digitalen Logik folgen, haben insbesondere die beiden letzten Beispiele vorgeführt. Im Computerspiel wird folglich eine Grenze zwischen Mensch und Technik gezogen, die in der Realität so schon längst nicht mehr existiert, was insbesondere für die Computerspielrezeption gilt. Die eingangs erörterten technischen Hard- und Softwareentwicklungen können dementsprechend weniger als Ursache, denn vielmehr als Ausdruck der spezifischen Medialität des Computerspieles gelten, welche dessen zunehmende Transformation in ein Überwachungs- und Kontrolldispositiv befördert.
L iter atur Gorsolke, Stefan: Interaktivität in narrativen Medien. Das Spiel von Selbstund Fremdreferenz. Marburg: Tectum 2009, S. 73-156. Krah, Hans: »Kommunikation und Medien: Semiotische Grundlagen«, in: Hans Krah/Michael Titzmann (Hg.), Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung, Passau: Stutz 2011, S. 11-30. Nagenborg, Michael: »Überwachung und Sicherheit im Kontext von Video- und Computerspielen«, in: Winfred Kaminski/Martin Lorber (Hg.), Clash of Realities 2010. Computerspiele: Medien und mehr…., München: kopaed 2010, S. 47-55. Stampfl, Nora: Die verspielte Gesellschaft. Gamification oder Leben im Zeitalter des Computerspiels, Hannover: Heise Zeitschriften Verlag 2012. Thomas, David: »SimCity. Simulating Nothing«, in: Friedrich von Borries/Steffen P. Walz/Matthias Böttger (Hg.), Space Time Play. Computer Games, Architecture, And Urbanism: The Next Level, Basel: Birkhäuser 2007, S. 210-211. h t t p:// w w w. 4p l a y e r s . d e/4p l a y e r s .p hp/s p i e l i n f o n e w s/ X b o x O ne/34518/2135799/Xbox_One-Eine_Datenfundgrube_fuer_Marke tingleute.html vom 07.10.2013.
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Beyond the Uncanny Valley Inszenierung des Unheimlichen als Wunsch- und Angstbilder in der Serie Echte Menschen – Real Humans Marie-Hélène Adam & Julia Knif ka
E inleitung Serien bilden einen Raum medialer Narration, in welchem sich utopische und dystopische Szenarien fiktional ausdifferenzieren. Durch High-Tech, Weltraum-Expeditionen oder Klone entstehen auch auf dem Fernsehbildschirm zunehmend Science-Fiction-Welten. Zum typischen Arsenal der Science-Fiction gehört die Figur des Roboters. Die Roboter infiltrieren üblicherweise menschliche Lebensräume, begeben sich auf Rachefeldzüge, töten auf ihrem Weg und schließen unwahrscheinliche Freundschaften. Die skandinavische Fernsehserie Real Humans (dt. Echte Menschen, schwed. Äkta männsikor) greift diese Topoi auf, variiert und bettet sie in veränderte Kontexte: Real Humans spielt nicht in einer fertig konzipierten Science-Fiction-Welt, die Erklärungen zur Plausibilisierung bedarf, sondern zeichnet das Bild einer nicht allzu fernen Zukunft, in der Roboter als primäre Dienstleister einen integralen Teil unserer sozialen und ökonomischen Strukturen bilden. In der Serie entsteht das Bild einer Gesellschaft, in der alle Roboter menschliche Gestalt haben und daher auch als Hubots, eine Amalgamierung von ›Hu(man) (Ro)bots‹, bezeichnet werden. Das progressive Schweden bietet eine Szenerie, in der sich das sozialkritische Potenzial der Serie überhaupt erst in einem realistischen Handlungsrahmen entfalten kann.1 Anhand verschiedener Topoi – 1 | Lea Gamula und Lothar Mikos erheben – nebst verschiedenen narrativen Strängen – die sozialkritischen Elemente der skandinavischen Serien zu deren
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Berufswelt (Frau/Mann), Familie, Sexualität in all ihren Ausprägungen (Pubertät, Fetisch, Hetero- und Homosexualität), Religiosität1 – werden Dichotomien aufgemacht. Den menschlichen ›Fehlern‹ wird, wie wir zeigen werden, stets ein ›robotisches Verhalten‹ gegenübergestellt: So können die Roboter als Spiegel des menschlichen Verhaltens dienen – in all seinen Facetten und Extremen, immer vor dem Hintergrund der Frage: Wodurch zeichnet sich Menschsein aus? Während das menschliche Figurenensemble sich in den sozialen und kulturellen Kontexten unserer zeitgenössischen Lebenswelt befindet, bilden die Hubots als androide Artefakte das die Science-Fiction charakterisierende »Novum« (Darko Suvin), welches die Alltagswelt in toto verändert.2 Als neue technische Objekte und technologische Funktionen überschreiten sie die Grenzen des derzeit Möglichen.3 Diese Grenzüberschreitung manifestiert sich in einer sich sukzessive offenbarenden Diskrepanz zwischen künstlichem Ingenieurskonstrukt und menschlichen Verhaltensweisen und konfiguriert so das Motiv des Unheimlichen. Mit der Inszenierung des Unheimlichen geht die Frage einher, inwieweit die Hubots als Wunsch- und Angstbilder fungieren und als solche in der Serie visuell gestaltet werden. Wir möchten zeigen, inwiefern die Hubots als Projektionen von externalisierten Anteilen der menschlichen Natur, d.h. als Reflexionsfiguren, zu sehen sind. Wir gehen davon aus, dass den Wunsch- und Angstbildern keine strikte Dichotomie zugrunde liegt, sondern dass sie sich in der Auseinandersetzung mit dem Anderen als Fremdes (Roboter per se) oder Vertrautes/ Verdrängtes figurieren. Der Topos des verdrängten Anderen ist kulturcharakteristischem Merkmal: »Die Genrevielfalt- und Mixe der skandinavischen Serien lassen Parallelen zum Quality-TV erkennen, besonders die Ausarbeitung einer spezifischen Erzählweise und Genrekombinationen ist nicht vergleichbar mit dem ›übrigen Fernsehen‹ und auch nicht unbedingt mit den amerikanischen High-Quality-Serien: Das Multilayer-Prinzip mit sozialethischer Komponente erscheint dennoch etwas Skandinavisches zu sein.« L. Gamula/L. Mikos: Nordic Noir, S. 98. 1 | »Auffallend ist bei allen erfolgreichen Serien, dass sie verschiedene Themen kombinieren, z.B. universelle menschliche Themen mit politisch-gesellschaftlichen Diskursen in Bezug setzen, also Privatheit und Öffentlichlichkeit gleichermaßen berücksichtigt werden.« L. Gamula/L. Mikos: Nordic Noir, S. 100. 2 | D. Suvin: Poetik der Science Fiction, S. 101. 3 | Ebd., S. 64.
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geschichtlich und diskursiv untrennbar mit dem Weiblichen verbunden, das Teil einer heteronormativen Matrix ist. Die Oszillation des Weiblichen zwischen dem Begehrten und dem Bedrohlichen entspricht der Doppelcodierung der Wunsch- und Angstbilder, die wir für die Hubots konstatieren. Wir gehen also davon aus, dass sich entsprechende Genderkonzepte und prävalente Geschlechterdiskurse in das Narrativ der Serie eingeschrieben haben und ihre Dekonstruktion einen großen Erkenntnisgewinn für die vorliegende Fragestellung verspricht. Nach der Untersuchung der Manifestation des Unheimlichen in der Serie soll deshalb gezeigt werden, wie die Hubots als Imagines des Unheimlichen zwischen Wunsch- und Angstbild konkret inszeniert werden und inwiefern die Bilder auch Genderkonnotationen aufweisen. Die Serie Real Humans dient folglich als narratives Medium, durch welches die Idee des Vertrauten im Fremden und des Fremden im Vertrauten vermittelt wird.
D as U nheimliche Die Serie rekurriert nicht nur auf narratologische und filmsprachliche Muster des Horrors, wie wir noch zeigen werden, sondern es stoßen in ihr zwei als klassisch geltende Topoi der Literatur- und Ideengeschichte aufeinander: der künstliche Mensch und das Unheimliche. Im Gegensatz zu den klassischen Narrationen um den künstlichen Menschen, der sich oftmals in einer fratzenartigen Schöpfung zeigt (man denke an Frankensteins Monster), sind die Hubots – ähnlich den Automatenmaschinen wie E. T. A. Hoffmanns Olimpia – gelungene Exemplare menschlicher Schöpfung. Es sind zwar alle Hubots dem Menschen ebenbildlich, doch ›menschlich‹ im Sinne des ganzen Bedeutungsspektrums der Attribuierung erscheint nur die kleine Gruppe der ›freien Hubots‹, die in einem dialektischen Spannungsfeld von Authentizität und Künstlichkeit als das Unheimliche per se inszeniert werden. Als Gegenbilder der freien Hubots fungieren die industriellen Exemplare, die im Hubotmarkt erhältlich sind: Trotz ihres menschlichen Erscheinungsbildes lösen die industriell gefertigten Hubots kein großes Unbehagen oder gar ein Gefühl des Unheimlichen aus. Aufgrund der Analogie zum menschlichen Körper und dem gleichzeitig als äußerst mechanisch wahrgenommenen Verhalten empfindet der Zuschauer sie allenfalls als fremdartig. Die industriellen Hubots dienen vielmehr als Reflexionsfiguren, anhand derer die
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rauenerregenden Facetten der menschlichen Natur verdeutlicht werden: g Bedürfnisse werden an ihnen befriedigt, Sex- und Gewaltphantasien werden nach Belieben an ihnen ausgelebt. Sie sind stumm, gefühllos, wehren sich nicht, lassen alles über sich ergehen. In dem Moment, in dem die Roboter zu Sklaven der menschlichen Triebe werden, wird der Mensch an sich unheimlich. Unheimlich, denn es treten Aspekte der menschlichen Natur hervor, die »im Verborgenen hätte[n] bleiben sollen«4, was Sigmund Freud in Anschluss an eine Bemerkung Schellings als Signum des Unheimlichen kennzeichnet. Das Unheimliche erlangte durch Freuds Aufsatz Das Unheimliche (1919) kulturtheoretische und psychoanalytische Relevanz. Den kritischen Anstoß für Freuds individualpsychologische Deutung gab die Studie Zur Psychologie des Unheimlichen (1906) von Ernst Jentsch, der sich in seiner eher phänomenologischen Analyse mit den Automaten des 18. Jahrhunderts befasst. Freud konstatiert, dass das Motiv des Unheimlichen oftmals »mit dem Angsterregendem überhaupt zusammenfällt«.5 Seziert man dieses Gefühl der Angst, offenbart sich für ihn das »Heimische«, welches auf Altbekanntes rekurriert, als Grundlage des unheimlichen Gefühls.6 Der Kern des Unheimlichen besteht darin, dass es ein »wiederkehrendes Verdrängtes« ist, welches somit weder neuartig noch bisher unbekannt ist, sondern vielmehr etwas »von alters her Vertrautes, das [...] nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist«.7 Freud psychologisiert das Unheimliche mit dem Bezug auf das Verdrängte und versteht es als Resultat einer Verfremdung des Altbekannten und Vertrauten, womit sich sein Ansatz in diametraler Richtung zu der Konzeption Jentschs entwickelt 8: Letzterer hingegen verweist auf die Dichotomie »alt-bekannt-ver4 | S. Freud: Das Unheimliche, S. 70. 5 | Ebd., S. 45. 6 | Manfred Dierks stellt heraus, »Freud behauptet für die psychische Herkunft des Unheimlichen zwei Ursachen: Es entsteht entweder als Wiederkehr von verdrängten infantilen Inhalten oder im Auftauchen überwundener ›animistischer‹ Denkformen.« M. Dierks: Das Unheimliche, S. 205. 7 | S. Freud: Das Unheimliche, S. 70. 8 | Uneinigkeit herrscht über den Einfluss des Aufsatzes von Jentsch auf Freuds Arbeit. Die Einschätzungen reichen von »nicht zu überschätzen« (B. Lindner: Freud liest den Sandmann, S. 18) bis zu »wegweisend« (G. Bär: Das Motiv des Doppelgängers, S. 39).
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traut« sowie »neu-fremd-feindselig«9, erfasst das Unheimliche aber gerade im Moment des Neuartigen und Fremden, wodurch Feindseligkeit hervorgerufen werden kann. In der Trias »neu-fremd-feindselig« zeigt sich eine prozessuale Bewegung, die für Jentsch maßgeblich durch einen »Mangel an Orientierung« in seiner Umwelt gekennzeichnet ist10 und damit einhergehend zu einer »intellektuellen Unsicherheit«11 führt. Diese »intellektuelle Unsicherheit« ist das charakteristische Moment des Unheimlichen: »[...] einer, dem etwas ›unheimlich‹ vorkommt, [ist] in der betreffenden Angelegenheit nicht recht ›zu Hause‹, nicht ›heimisch‹«.12 Das Unheimliche wird hier als »Unkenntnis des primitiven Menschen«13 konstruiert, die solange vorherrscht, bis die »Herrschaft des Intellects über das neue Ding«14 erreicht ist. Punktuell lässt sich dieser Erkenntnisprozess an Roger, einem der Protagonisten in Real Humans, aufzeigen. Eingangs verkörpert Roger eine Art ›industrielle‹, sozial-dystopische ›Urangst‹ davor, als Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt zu werden.15 Für Roger bleibt diese Angst jedoch kein Hirngespinst, sondern wird zur Realität. Als Konsequenz seiner Ohnmacht gegenüber den technologischen Entwicklungen widmet er sich dem Kampf gegen die Hubots. In der Polizistin Bea glaubt Roger nicht nur eine neue Liebe, sondern auch eine gleichgesinnte Gefährtin gefunden zu haben. Mit dem Wissen um Beas wahre Identität geht die Erkenntnis einher, sich in eine Hubot verliebt zu haben, die im wahrsten Sinne des Wortes grauenerregend ist. Das Grauen besteht vor allem darin, dass Bea ihr »mechanisches Dasein«16 überwunden hat und sich als Person ein Leben aufgebaut hat. Während hier zunächst die Ablehnung neuer Technologien als die Angst vor dem Neuen psychologisch motiviert ist und als ganz reale Bedrohung der eigenen Existenzweise wahrgenommen 9 | E. A. Jentsch: Zur Psychologie des Unheimlichen, S. 196. 10 | Ebd., ebenso: S. Freud: Das Unheimliche, S. 47. 11 | Ebd. Jentsch spricht von psychischer Unsicherheit. Vgl. E. A. Jentsch: Zur Psychologie des Unheimlichen, S. 196. 12 | E. A. Jentsch: Zur Psychologie des Unheimlichen, S. 195. 13 | Ebd., S. 196. 14 | Ebd. 15 | Das Unheimliche als Ausdruck einer Urangst ist ein locus classicus der Freud’schen psychoanalytischen Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen. 16 | H. R. Brittnacher: Der künstliche Mensch, S. 277, S. 291.
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wird, ist es vor allem die »Gleichzeitigkeit von Analogie und Differenz«17 der robotisch-maschinellen Körper und menschlichen Verhaltensweisen, die als Unheimliches inszeniert werden. Dass die freien Hubots möglicherweise mehr als bloße programmierte Automaten sind, zeigt sich an ihrem menschlichen, emergent erscheinenden Habitus: Die freien Hubots bilden ein weites Spektrum menschlicher Gefühlsqualitäten ab, haben eigene Persönlichkeiten sowie Wünsche, sind fähig, zu ihren eigenen Gunsten zu lügen. Hinter der Fassade ihrer Mission, ihresgleichen zur Freiheit zu führen, kämpfen sie mit ganz individuellen Problemen. Gordon findet zum Glauben und will Teil der Gemeinde sein. Flash entwickelt eine Krise ihrer sozialen Identität, deren Lösung sie in der Übernahme der Rolle Ehefrau/Mutter sieht. Vor der Folie der Frage nach dem individuellen Ort, den die Kinder von David Eischer, dem Schöpfer der freien Hubots, in der Welt einnehmen können, breitet sich eine immanente Gesellschaftskritik aus, die die soziale Praxis hinterfragt: etwa im Falle einer Kirchengemeinde, die eine homosexuelle Pfarrerin akzeptiert, aber keinen Hubot in ihrer Mitte duldet. Oder auch am Beispiel eines Kindes, das einer fürsorglichen Hubot entrissen werden soll, aber der Obhut seiner drogensüchtigen Mutter überlassen wird. Vor diesem Hintergrund ist der Serientitel Real Humans – Echte Menschen in seiner Ambivalenz zu verstehen: Zunächst einmal bezieht er sich auf die gleichnamige neofaschistische Terrorzelle, die sich gegen die ›Hubotisierung‹ wendet, gleichzeitig spielt es mit der Frage nach Authentizität und Künstlichkeit, immer vor dem Hintergrund, was einen ›echten Menschen‹ ausmacht. In diesem Kontext entsteht das Gefühl von Unheimlichkeit dadurch, dass selbst dem Zuschauer lange nicht deutlich wird, wer Mensch und wer Maschine ist. Es stellt sich immer wieder die Frage, ob die freien Hubots »Mimesis der Schöpfung« oder »Mimikry ans Leben«18 sind, ob sie perfekt assimilierte technische Systeme mit emer-
17 | B. Westermann: Anthropomorphe Maschinen, S. 103. Westermann hebt diese Ambivalenz als Signum des Uncanny Valley hervor. 18 | H. R. Brittnacher: Der künstliche Mensch, S. 276f: »[...] die Automaten – sie [...] präsentieren sich als technisches Abbild zweiten Grades: [...] Automaten sind nicht Mimesis der Schöpfung, sondern Mimikry ans Leben, sie haben nichts mit den Geheimnissen der Zeugung, des Wachstums oder des Werdens zu tun, sondern simulieren nur, was sie definitiv nicht sind.«
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gentem Verhalten sind oder ob es David Eischer gelungen ist, den »ghost in the maschine« (Gilbert Ryle) zu erschaffen. Dass ein Hubot derart entwickelt ist, Menschsein vortäuschen zu können, wie Bea, die unbemerkt sowohl die Polizeieinheit für Hubot-Kriminalität als auch die ›Echte Menschen‹-Zelle infiltriert, erweckt Angst vor der Unkontrollierbarkeit der eigenen Artefakte. Es zeigt sich auch in diesem Narrativ jenes »palimpsestisch Verborgene[n]«19, welches nach Thomas Koebner den Topos von Herrschaft und Knechtschaft charakterisiert. So wie der Goethe’sche Prometheus den Menschen erschuf, wird auch David Eischer zum »Stammvater des neuen Geschlechts«20, der seiner Schöpfung die Freiheit schenkt. Willens- und Handlungsfreiheit wird den freien Hubots nicht in Form von Feuer gegeben, sondern als tatsächlicher Programmiercode, mit dem sie ihresgleichen aus ihrer maschinellen Sklaverei befreien können. Eischer gibt ihnen aber mehr als den ›Code des Lebens‹, vielmehr gibt er ihnen die Möglichkeit zu existieren, die Möglichkeit zu ›sein‹: So betont er beinahe kierkegaardisch anmutend, die Programmierung müsse sukzessive erfolgen, »sonst wird die Angst zu groß«.21 Die freien Hubots, Eischers Kinder, werden durch die sich offenbarende Diskrepanz zwischen den allzu menschlichen Verhaltensweisen und der feinen Maschinerie des Körpers, die nur in der Störung erfasst werden kann, als Maschinen entlarvt. Denn die Störung erweckt das »existentielle Grauen«, durch eben die Erkenntnis, dass sie doch »nicht ganz Spiegelbilder unserer selbst sind«.22 Das Ladekabel als externalisierte Nabelschnur, die Schaltkreisstörungen durch Gewalteinwirkungen oder das Versagen des Betriebssystems durch die Infizierung mit Computerviren offenbaren die reine Funktionalität ihrer Körper. In dem Moment, in dem das Missverhältnis von Ähnlichkeit und Künstlichkeit erkannt wird, voll19 | Th. Koebner: Herr und Knecht. Über künstliche Menschen im Film, S. 120. 20 | H. R. Brittnacher: Der künstliche Mensch, S. 277, Brittnacher bezieht sich auf Frankenstein. 21 | Staffel 2, Episode 8: 36‘18‘‘-36‘24‘‘. Diese Aussage erinnert stark an Kierkegaard, der von der Weltangst als Angst vor der Freiheit, Angst vor der Handlungsfreiheit und der Verantwortung, die Welt durch das eigene Handeln strukturieren zu müssen, sprach, worin sich »Unsicherheit in Bezug auf das Sein in der Welt überhaupt« zeigt. W. Schulz: Das Problem der Angst, S. 21. 22 | Th. Koebner: Herr und Knecht, S. 119.
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zieht sich die Verkehrung in den Bereich des Unheimlichen.23 Dergestalt wird in Real Humans die Hypothese vom ›Unheimlichen Tal‹ von Masahiro Mori24 paradigmatisch inszeniert. Mori beschreibt in seinem 1970 erschienen Aufsatz Uncanny Valley (jap. Bukimi no tani)25, dass die durch äußere Ähnlichkeit bedingte Attraktivität, die der humanoide Roboter auf den Menschen ausübt, bis zu einem gewissen Grad proportional ansteigt je anthropomorpher die Maschine ist und sich dann ins Gegenteil verkehrt: »in climbing toward the goal of making robots appear like a human, our affinity for them increases until we come to a valley«.26 Das ›Unheimliche Tal‹ beschreibt den Moment, in dem das Gefühl von Vertrautheit durch die Entlarvung des offensichtlichen Anthropomorphismus in Befremdung und Unheimlichkeit umschlägt. Die Einheit von Leibkörper wird durch die Erkenntnis über den mechanisierten Körper aufgehoben. Der mechanische Körper wird – mit Plessner gesprochen – in seiner Gegenständlichkeit erfasst 27 und somit »dem Mantel der Erscheinung« ent-
23 | Mori verortet die Prothese in das »Unheimliche Tal« und begründet es damit, dass die prothetische Hand bis zu dem Augenblick als dem Menschen zugehörig empfunden wird, bis erkannt wird, dass es sich lediglich um ein Kunstglied handelt: »when this happens, we lose our sense of affinity, and the hand becomes uncanny« (M. Mori: Bukimi non tani, S. 34). Der Effekt verstärkt sich, wenn Bewegung als weitere Komponente hinzukommt. Der Zombie als wiederauferstandener Leichnam, den Mori ebenfalls ins ›Unheimliche Tal‹ platziert, rekurriert als klassisches Motiv des Horrorfilmgenres auf ebendiesen Effekt. 24 | Die These vom Unheimlichen Tal gilt als umstritten und wurde unter verschiedenen Aspekten untersucht, so zum Beispiel eruieren T.J. Burleigh et.al. ob der Uncanny Valley-Effekt bei animierten Charakteren entstehen kann, vgl. T.J. Burleigh et.al.: Does the uncanny valley exist? In K. Gray, D. M. Wegner: Feeling robots and human zombies: Mind perception and the uncanny valley zeigen die Autoren, dass die Wahrnehmung bzw. Zuschreibung eines menschenähnlichen Verstandes und Erfahrungen Unheimlichkeit hervorrufen. C. Misselhorn: Empathy with Inanimate Objects and the Uncanny Valley erklärt, den Zusammenhang zwischen der menschlichen Fähigkeit der Empathie und der Entstehung des Uncanny Valley-Effekts. Vgl. auch B. Westermann: Anthropomorphe Maschinen, S. 102-105. 25 | M. Mori: Bukimi non tani, S. 25-33. 26 | Ebd. 27 | H. Plessner: Die Stufen des Organischen, S. 45.
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kleidet.28 Was uns »üblicherweise« erscheint, ist nicht bloß der Körper als rein zu quantifizierendes Ding, sondern die Innerlichkeit als qualitative Eigenschaft tritt in Erscheinung (»zum Gegenstand gebrachten Sein«).29 Während der Körper als Ding durch Messungen und Berechnungen zugänglich, verstehbar ist, gibt es »meßfremde, qualitative Eigenschaften«30, die zur Körperlichkeit gehören: Der Mensch zeichnet sich nicht nur durch Körper-Haben aus, sondern durch Leib-Sein.31 Dieses LeibSein wird im intersubjektiven Bezug immer schon mitgedacht. In andern Worten: Sieht der Mensch einen Körper, der seinem gleicht, gesteht er ihm Lebendigkeit/Belebtheit zu, eben weil er selbst auch Innerlichkeit besitzt. Diese Bewusstseinsleistung ist eine »universale Projektion«32, d.h. der Mensch überträgt sein Leib-Sein auf alle Dinge, auch Artefakte, mit denen er konfrontiert ist. Das Unheimliche besteht im Bewusstsein, dass dieser Maschine unwillkürlich Leiblichkeit zugeschrieben wird, weil sie uns auf unerklärliche Weise zu ähnlich ist, wie auch Jentsch schreibt: »Ein anderer Factor der Entstehung des Unheimlichen ist die natürliche Neigung des Menschen in einer Art naiven Analogie von seiner eigenen Beseelung auf die Beseelung, oder vielleicht richtiger gesagt auf eine identische Beseelung der Dinge der Aussenwelt zu schliessen.« 33
Diese Projektion der Leiblichkeit wird in dem Augenblick zurückgenommen, in dem erkannt wird, dass die Maschine bewegungslos und somit leblos ist. Erzeugt wurde die Zuschreibung der Leiblichkeit vor allem aufgrund der Fähigkeit des robotischen Körpers sich zu bewegen, denn – und das ist allen Konzepten des Unheimlichen gemein – das unheimliche Moment besteht in der Bewegung des eigentlich Leblosen.
28 | Ebd., S. 44. 29 | Ebd., S. 42-45: Die Zurückführung der Erscheinung auf die Innerlichkeit, hier S. 43. 30 | Ebd., S. 43. 31 | Ebd., S. 45: Die res extensa steht immer in »Bezugssphäre« zur res cogitans. 32 | Dieser Begriff wurde von Luckmann (1980) geprägt. Bei Husserl wird diese Sinnübertragung, die sich aus der Erfahrung der eigenen Leiblichkeit ergibt, Appräsentation genannt. 33 | E. A. Jentsch: Zur Psychologie des Unheimlichen, S. 204.
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»Die anfänglich vollkommen leblos erscheinende Masse verräth durch ihre Bewegung plötzlich eine ihr innewohnende Energie. Diese kann psychischen oder mechanischen Ursprungs sein. Solang nur der Zweifel an der Beschaffenheit der wahrgenommenen Bewegung und damit die Unklarheit über ihre Ursache anhält, besteht bei dem Betroffenen ein Gefühl des Grauens.« 34
Das Vertraute im Fremden bzw. Fremde im Vertrauten, welches mit einer »intellektuellen Unsicherheit« der »Entstehungsursache«, sei es nun »psychischen oder mechanischen Ursprungs«, einhergeht, wird als Moment des Unheimlichen vor allem über den Leibkörperdiskurs ersichtlich. Denn: Sobald die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Beschaffenheit des Roboters/Hubots als eines – zwar elaborierten und anthropomorphen, aber nichtsdestotrotz seelenlosen – Automaten und dem erweiterten Anthropomorphismus – der durch die Übertragung der eigenen »psychophysischen Einheit« (Husserl) auf die Hubots entsteht – offenkundig wird, tritt das Gefühl der Unheimlichkeit, sogar des Grauens, hervor: »Erhöht wird die Gefühlsqualität und -intensität durch die Realitätsnähe des Automaten, denn je feiner der Mechanismus und je naturgetreuer die gestaltliche Nachbildung wird, um so stärker wird auch die besondere Wirkung zu Tage treten.« 35
Diese »besondere Wirkung« erhält in Real Humans noch eine weitere Dimension mit ganz anderen Auswirkungen: Die feine Maschinerie, die die Hubots wie Menschen wirken lässt, erweckt nicht nur das Gefühl des Grauens in den Menschen, sondern bringt in ihnen ein grauenerregendes Verhalten hervor. Immer wieder stellt sich die Frage: Wer ist menschlicher, der (vermeintliche) Mensch oder die (scheinbare) Maschine? Die Serie Real Humans verhandelt die Frage nach der Menschlichkeit oder Menschenähnlichkeit auf einem fiktionalen Interaktionsfeld von Hubots und ›echten‹ Menschen und entfaltet dabei Spannungsfelder, die einander kontrastierend gegenübergestellt werden: Mensch versus Maschine, Nähe versus Entfremdung, Vertrautheit versus Unheimlichkeit sowie Begehren versus Schrecken. Demgemäß korreliert die Ambivalenz zwischen dem Vertrauten und dem Fremden, die sich durch die scheinbar »identische 34 | Ebd., S. 197.f. 35 | Ebd., S. 203.
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Beseelung der Dinge der Aussenwelt«36 innerhalb der narrativen Serienwelt in den Hubots vergegenständlicht, mit der Verdrängung und Verfremdung des als Unheimlich empfundenen Anderen und hängt deshalb auch eng mit paradigmatischen Geschlechtervorstellungen zusammen. Der folgende Teil der Untersuchung fokussiert die kinematographische Repräsentation37 des Hubots als Wunsch- und Angstbild sowie seinen Status als Reflexionsfigur, die topologisch auf den Geschlechterdiskurs rekurriert.
D as geschlechtliche A ndere im B lick z wischen M ensch und M aschine Neben dem Alien fungieren auch die Cyborgs38 der Science-Fiction (oder die mit weniger organischen Anteilen ausgestatteten bzw. rein maschinellen Androiden39) als Allegorie des Anderen40 und weisen eine starke, kulturell bedingte weibliche Konnotation auf41, die zwischen Faszination und Schrecken oszilliert – und wie noch zu zeigen sein wird, sind auch die Hubots in Real Humans entsprechend apostrophiert. 36 | Ebd., S. 204. 37 | Wie das Medium Film bilden auch Fernsehserien eine Projektionsfläche für Geschlechtervorstellungen. So sieht Teresa de Lauretis das Kino »zweifelsohne als Technologie des Geschlechts«. (T. de Lauretis: Die Technologie des Geschlechts, S. 73.) Lothar Mikos schreibt Fernsehserien eine ähnliche Funktion wie den antiken Mythen zu, »[s]ie dienen als Projektionsfläche und machen dem Publikum eine Vielzahl von Übertragungsangeboten.« (L. Mikos: Fernsehen im Erleben der Zuschauer, S. 191.) 38 | Bei Donna Haraway wird ‚die Cyborg‘ in der deutschen Übersetzung des Textes sprachlich weiblich markiert und zur diskursiven Figur, der feministisches Potential zukommt: »Die Cyborg ist eine Art zerlegtes, neu zusammengesetztes, postmodernes kollektives und individuelles Selbst. Es ist das Selbst, das Feministinnen codieren müssen.« (D. Haraway: Die Neuerfindung der Natur, S. 51.) 39 | Zur Abgrenzung der Begriffe innerhalb der Tradition der Science-Fiction vgl. P. Schlobinski/O. Siebold: Wörterbuch der Science Fiction, S. 84-86. 40 | Mehr zu diesem Aspekt findet sich an späterer Stelle in diesem Aufsatz und bei N. Köllhofer: Bilder des Anderen, S. 36f. 41 | Vgl. auch: S. Beauvoir: Das andere Geschlecht.
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Laura Mulvey prägte mit ihrem Aufsatz Visuelle Lust und narratives Kino aus dem Jahr 1973 nachhaltig die feministische Filmtheorie und geht davon aus, dass der moderne Hollywoodfilm prinzipiell die patriarchalische Ordnung bestätige und »die ungebrochene, gesellschaftlich etablierte Interpretation des Geschlechterunterschieds reflektier[e]«.42 Nach Mulvey trägt der Film zur persistenten und stetigen Reproduktion des dualistischen Geschlechterprinzips bei: Während der Mann als aktiver Träger des Blicks sowie als handelndes Subjekt und Identifikationsfigur für den Rezipienten markiert ist, wird die Frau als passives Bild und zu betrachtendes Objekt typisiert. Sie ist Erträgerin männlich codierter Blicke, da sich die Achsen der Protagonisten-, Kamera- und der Zuschauerperspektive in einem Konglomerat an Blicken überlagern.43 Ihre sexuelle Andersartigkeit stilisiert die Frau zu einer unwägbaren Bedrohung, was zu männlichen Kompensationsstrategien führt, um das subversive, gefährliche weibliche Potential zu bannen und die normierte Matrix der Geschlechter zu sichern. Diese können in einer »Abwertung, Bestrafung und Rettung des schuldigen Objekts« oder einer Fetischisierung und damit einer stilisierenden Überhöhung des Weiblichen zum idealisierten Objekt erotischer Faszination bestehen.44 42 | L. Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino, S. 389. Mulvey bezieht sich auf zwei zentrale Konzepte der Psychoanalyse: die Skopophilie nach Freud (die voyeuristische Schaulust) und das Spiegelstadium nach Lacan (das frühkindliche Selbsterkennen bzw. -verkennen des eigenen Spiegelbilds). Vgl. Ebd. S. 393-396. 43 | Vgl. ebd., S. 397-399. 44 | Ebd., S. 400f. Mulveys Thesen sahen sich auch innerhalb einer sich ausdifferenzierenden feministischen Filmwissenschaft zunehmend berechtigter Kritik ausgesetzt, die sich vor allem auf das absolute Fehlen eines weiblichen Blicks bezieht und den Vorwurf artikuliert, Mulvey trage zur Hegemonie einer patriarchalen Geschlechterordnung bei, indem sie diese als a priori gegeben und fundamental voraussetze. Vgl. z.B. D. Rodowick: The Difficulty of Difference. Die Berufung auf Mulvey basiert hier nicht auf einer totalen Adaption ihrer Theorie, sondern bezieht sich auf durch Mulvey entscheidend geprägte zentrale Untersuchungskategorien wie die genderkonnotierte Einfärbung der Blicke und spezifischer Aspekte des kinematographischen Codes, die auch heute für die Analyse audiovisueller (und auch populärkultureller) Narrative relevant sind. Es sei exemplarisch auf Doane verwiesen, die eine Theorie des weiblichen Zuschauerblicks formuliert, vgl. M. A. Doane: Femmes Fatales.
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In Real Humans sind die Hubots als künstliche Menschen Trägerfiguren geschlechtlicher Codierungen, indem sie sich stetig neu in ihrer Ambiguität zwischen Menschlichkeit und technischer Gefühlskälte, Faszination und Schrecken, Fremdheit und Vertrautheit verorten. Im Feld der Geschlechterforschung ist die Differenzierung zwischen sex, dem biologischen Geschlecht, und gender als sozial und kulturell konstruierte Geschlechteridentität, die nicht angeboren, sondern nach allgemeinem Verständnis durch Prägung erworben wird, hinlänglich bekannt.45 Judith Butler radikalisierte in Das Unbehagen der Geschlechter, das als Grundlagenwerk dekonstruktivistischer Gendertheorie gilt, diese These und hinterfragte auch den vordiskursiven Status des biologischen Geschlechts: »[Die] Produktion des Geschlechts als vordiskursive Gegebenheit muß umgekehrt als Effekt jenes kulturellen Konstruktionsapparats verstanden werden, den der Begriff ›Geschlechtsidentität‹ (gender) bezeichnet.«46 Butlers Theorie47 soll hier in den spezifischen Kontext des technisch-künstlichen Menschen gestellt werden: Am Beispiel der Hubots erweist sich, dass sie hier von besonderem Interesse ist, um ein Fundament zu schaffen, auf dem konkrete Inszenierungsbeispiele zu untersuchen sind. Androiden-Körper sind technische Konstrukte und daher als post- oder transbiologisch anzusehen48, sie durchlaufen keinen Prozess der Ontogenese und haben keine organisch determinierte Anatomie. Als Artefakt ist ihre materielle Körperlichkeit beliebig technisch gestalt- und programmierbar geworden49 – und damit erfüllt sich in der technischen 45 | Vgl. dazu beispielsweise die Zusammenfassung der Genderdebatten und Forschungsgeschichte von I. Stephan: Gender, Geschlecht und Theorie, S. 58-96. 46 | J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 24. 47 | Im Fokus dieses Aufsatzes soll weder die Frage stehen, ob die vielfache Kritik die Butler eine irrationale und gar antifeministische Leugnung originärer weiblicher Körperlichkeit und Körpererfahrung vorwirft (vgl. I. Stephan: Gender, Geschlecht und Theorie, S. 65ff.), berechtigt ist, noch ob die Radikalität Butlers notwendig war, um rigide und stereotypisierende Muster innerhalb feministischen Denkens selbst zu dekonstruieren. 48 | Zur Frage nach dem Zusammenhang von künstlicher Intelligenz und Posthumanismus vgl. B. Irrgang: Posthumanes Menschsein. Künstliche Intelligenz, Cyberspace, Roboter, Cyborgs und Designer-Menschen – Anthropologie des künstlichen Menschen im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2005. 49 | Vgl. M.-H. Adam: Die Stadt der künstlichen Frauen, S. 20.
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Vision des künstlichen Menschen tatsächlich die von Butler deklarierte Entbindung der Kategorie des Körperlichen von seinem (ihm oft zugeschriebenen) vordiskursiven, verbindlichen Charakter. Butlers Theorie ist originär keine Science-Fiction-affine Theorie, gerade in der Figur des Androiden hypostasieren sich ihre Überlegungen aber in hohem Maße, was als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen und gewinnbringende Erkenntnisse genutzt werden kann. Für die Hubots in Real Humans trifft zu, was generell für Narrative des Science-Fiction-Genres gilt: Werden Androiden zu handlungstragenden Figuren, werden sie in der Regel auch im Sinne des binären Modells geschlechtlich markiert. Dieser Mechanismus kann über zwei Ebenen erfolgen, die zueinander in affirmativer oder kontrastierender Beziehung stehen können und sich auf verschiedenen Ebenen des kinematographischen Codes entfalten: einerseits über die mehr oder weniger eindeutige optische Zuordnung zu einem männlichen oder weiblichen Phänotyp, andererseits durch performative Charakterisierung50 durch geschlechtlich codiertes Verhalten oder Attribuierungen.
M ediale I nszenierung von W unsch - und A ngstbildern sowie der H ubot als R efle xionsfigur Die Hubots werden als Projektionsfiguren und kinematographische Kristallisationsfläche konstruiert, bei deren performativer und insbesondere visueller Inszenierung in zahlreichen intertextuellen Verweisen und Bezügen auf das Repertoire des kollektiven, kulturellen Gedächtnisses zurückgegriffen wird.51 Dies führt zu Assoziationen von Elementen des Narrativs mit (nicht zuletzt auch geschlechtlich) vorcodierten Mustern, Bildern und Sinnstrukturen sowie zu Effekten des Wiedererkennens, 50 | Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 206. 51 | Diese semantische Verknüpfung erfolgt unter Bezug auf das kulturelle und soziale Gedächtnis, das „auf Kontinuität und Wiedererkennbarkeit angelegt“ ist. (J. und A. Assmann: Das Gestern im Heute, S. 118) Besonders interessant ist die soziale Komponente nicht nur in Bezug auf die Generierung von Sinn-Konstellationen durch den Rezipienten, sondern auch, weil die Hubots selbst in ihrer Sozialität gezeigt werden und die zentralen Konflikte der Serie erst im Hinblick darauf entstehen, welche Rollen sie inner- oder außerhalb der Gemeinschaft einnehmen.
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der Kontextualisierung und einer entsprechenden ideologischen Aufladung des Hubots. Bei den humanoiden Robotern handelt es sich zwar um das »Novum« der Serie und damit um technische Artefakte, die aber der Sphäre der technisch-nüchternen Rationalität enthoben und durch visuelle Mittel wiederholt stark verfremdet werden. Die Serie rekurriert hier auf narratologische und filmsprachliche Muster des Horror-Genres, die konventionalisiert dazu eingesetzt werden, Angst und unheimliche Wirkung zu erzeugen. Bereits zu Beginn der Pilotfolge verbarrikadiert sich ein verängstigtes Ehepaar in seinem Haus, während draußen die Gruppe der autonomen, rebellischen Hubots umherstreift.52 Nicht nur bei der Ehefrau, sondern auch beim Zuschauer wird Schrecken erzeugt, als plötzlich ein Hubot durch das Fenster hereinblickt. Die Hubots rotten sich vor der Haustür zusammen und sind durch die im Inneren des Hauses positionierte Kamera durch die Glasscheibe nur als bedrohliche Schatten und verzerrte, verschwommene Silhouetten sichtbar, die vage anthropomorph und gerade deshalb umso unmenschlicher wirken. Diese typische Bildkomposition und Kameraeinstellung ist z.B. aus Zombie-Filmen bekannt und fungiert als indexikalische Ankündigung des Grauens, des gefährlichen Wesens, das (in diesem situativen Kontext) im Kollektiv auftritt und nicht Mensch ist. Ähnlich verhält es sich mit der Inszenierung des neuen Pflegeroboters von Lennart Sollberg, dem Vater von Inger Engman. Lennart wird dazu genötigt, aufgrund technischer Defekte seinen alten Hubot Odi, zu dem er eine tiefe emotionale Bindung hat, verschrotten zu lassen, und bekommt von seiner Familie einen neuen Hubot zur Seite gestellt – Vera, ein kostspieliges Modell, das speziell auf Pflegedienstleistungen programmiert ist, von Lennart jedoch mit großer Antipathie abgelehnt wird. Exemplarisch soll eine Szene angeführt werden, in der Vera sich nachts in das Zimmer begibt und neben das Bett des schlafenden Lennarts tritt.53 Dabei wird sie ebenfalls erst aus dem Inneren des Schlafzimmers, eines besonders geschützten Raumes, als verzerrter Schemen gezeigt und damit als unheilvoller Eindringling konnotiert. Sie steht zunächst unbewegt vor dem Bett, beugt sich dann über den Schlafenden und streckt schließlich den Finger aus, um mit einem integrierten Sensor seinen Blutdruck zu messen. Optisch wirkt Vera wie die stereotypische, patente Großmut52 | Staffel 1, Episode 1: 03‘25‘‘-04‘25‘‘. 53 | Staffel 1, Episode 1: 42‘38‘‘-43‘19‘‘.
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ter, wird filmisch aber trotzdem (oder gerade deshalb) zur Bedrohung stilisiert. Durch diese erneute Erzeugung von Grauen durch Verfremdung des Bekannten werden nicht nur Assoziationen zu Erzählkonventionen wie in Hitchcocks Psycho54 wach, sondern generell zu dem aus der Horrorund Schauertradition entstammenden Wesen, das nachts nicht schläft und dann zuschlägt, wenn der Mensch am verwundbarsten ist – man denke hier etwa an den Vampir-Mythos. Der dargestellte, aus der ambivalenten Überlagerung des Vertrauten und des Unbekannten resultierende Verfremdungseffekt ist generell bei einem hohen Anteil der filmischen Inszenierung der Hubots präsent und vollzieht sich auch durch eine Strategie der Überhöhung und eine Steigerung ins Übermenschliche. Sie wirken nicht nur durch bedrohliche Handlungen beunruhigend, sondern bereits durch ihre perfekte Körperlichkeit, ihre leicht reduzierte Mimik, die betonten Augen und ihren sehr eindringlichen Blick sowie ihr seidig glänzendes Haar. Sie scheinen damit nicht nur das Uncanny Valley zu bestätigen55, sondern erinnern in ihrer Inszenierung und dem daraus resultierenden Effekt ikonographisch beispielsweise an die Darstellung der Alien-Kinder in Das Dorf der Verdammten.56 Die Kinder entwickeln nach ihrer Geburt schnell beunruhigende geistige Fähigkeiten und zeigen befremdlich (un)soziales Verhalten, aber »Grund zur Besorgnis geben [auch] ihre seltsamen Augen und ihre für den Menschen untypisch strukturierten Haare und Fingernägel«57. Thomas Klein konstatiert, »[g]eschickt spiel[t] Rillas Film gerade mit der Divergenz zwischen dem vertrauten Bild vom harmlosen Zögling und den entgegengesetzt sich verhaltenden Monster-Kindern«.58 Ein ähnliches Unbehagen induzieren die Hubots mit ihrer beklemmend perfekten Ästhetik oder ihrem intensiv fokussierenden Blick. Das Maschinelle wird auf diese Weise durch die filmische Inszenierung auf verschiedenen
54 | Psycho (USA 1961, Regie: Alfred Hitchcock). 55 | Es sei allerdings betont, dass die Hubots von lebenden Schauspielern verkörpert werden. Zum Uncanny Valley und digital erzeugten Figuren im Film vgl. T. Geller: Overcoming the Uncanny Valley, S. 11. 56 | Das Dorf der Verdammten (Orig. The Village of the Damned, GB 1961, Regie: Wolf Rilla; Remake USA 1995, Regie: John Carpenter). 57 | T. Klein: Das Dorf der Verdammten, S. 143. 58 | Ebd., S. 146.
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Ebenen ins Monströse verschoben, in den Kontext des Unheimlichen, das sich auch nach Freuds Definition in der männlichen Angst vor dem einerseits vertrauten, andererseits fremden und verdrängten Weiblichen konstituiert: »Es kommt oft vor, daß neurotische Männer erklären, das weibliche Genitale sei ihnen etwas Unheimliches. Dieses Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes […]: Das ist mir bekannt, da war ich schon einmal, so darf die Deutung dafür das Genitale oder den Leib der Mutter einsetzen. Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ‚un‘ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.« 59
Bezeichnenderweise gilt in der feministischen Science-Fiction-Forschung neben dem Alien die Cyborg-Figur als Repräsentation des verdrängten und unterdrückten Anderen, d.h. des Weiblichen: »Als ein Archetypus des Fremden, Unbekannten, Geheimnisvollen steht das Alien der Science-Fiction-Erzählungen immer in einem Handlungsbezug zu menschlichen ProtagonistInnen und zur (sehr oft gegenwärtigen) menschlichen Gesellschaft. […] Das Andere, das sich in Alien und Cyborg manifestiert, hat demnach unmittelbar mit mir selbst und mit uns selbst zu tun, es repräsentiert das Gegenund Spiegelbild des individuellen und kollektiven Selbst.« 60
Der Mythos von der Schöpfung des artifiziellen Menschen gilt als gemeinsamer Topos aller Kulturen, »zumindest der patriarchalischen; denn ausschließlich Männern wird diese Urphantasie zugeordnet«.61 Insbesondere Maschinenfrauen repräsentieren laut Rudolf Drux »die Sehnsucht des 59 | S. Freud: Das Unheimliche, S. 75. Zu einer kurzen Analyse des unheimlichen Frauentypus, den Olimpia verkörpert sowie zum Thema der Kastrationsangst Nathaneals in Freuds Analyse der Erzählung E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann, vgl. Kremer: Freuds Aufsatz Das Unheimliche und die Widerstände des unverständlichen Textes. 60 | N. Köllhofer: Bilder des Anderen, S. 36f. »Stereotypisch findet sich das Andrere in der von Männern beherrschten Science Fiction zumeist repräsentiert im feindlichen Gegenüber des Protagonisten bzw. als das Böse schlechthin. Das Andere muss in territorialen Kämpfen verdrängt bzw. vernichtet werden.« Ebd. S. 39. 61 | R. Drux: Die Geschöpfe des Prometheus, S. 15.
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Mannes, die weibliche Sexualität zu beherrschen, was mit seiner Angst vor der andersartigen Natur der Frau zusammenhängt […].«62 Neben Sex-Hubots und einem Hubot-Bordell, bei denen dieses patriarchalisch geprägte Streben, weibliche Sexualität und den Körper der Frau verfügbar zu machen, besonders deutlich ins Bild gesetzt wird, fungiert vor allem der Hubot Mimi als Projektionsfigur des geschlechtlich codierten Blicks und der Sehnsucht nach einer verklärten, idealisierten Weiblichkeit. Mimi gehörte ursprünglich der Gruppe der freien Rebellen-Hubots an, wird aber direkt zu Beginn gestohlen, durch eine Umprogrammierung ihrer Identität beraubt und als Gratis-Beigabe zu Vera an die Familie Engmann veräußert, die sie zunehmend als Familienmitglied sehen. Wird ein Hubot nach seiner Programmierung zum ersten Mal eingeschaltet, scheint der vorher unbewegten Materie plötzlich Leben eingehaucht zu werden. Bei Mimi wird dies sogar zweimal gezeigt, zunächst in der ersten Episode, als nach ihrer Neukonfigurierung die Software von dem Familienvater Hans Engman gestartet wird.63 In der zweiten Episode erfolgt dann eine retrospektive Inszenierung ihres erstmaligen ›Erwachens‹, als der Erfinder der Hubots David Eischer sie aktiviert. Diese Rückblende wird aus der Sicht von David Eischers Sohn Leo gezeigt, der von Mimi sofort fasziniert ist und als Erwachsener mit ihr in einer Liebesbeziehung lebt – der Vorgang erscheint aus seiner männlichen Perspektive in gesteigertem Maße verklärt.64 In beiden Szenen liegt Mimi in einem weißen Behälter, der Deckel wird abgehoben und nach der Aktivierung schlägt sie ihre Augen auf. Sie wird erweckt, das erste Mal von ihrem (männlichen) Schöpfer, das zweite Mal von ihrem Besitzer. Im familiären Kreis der Engmans wird ihr zudem der neue Name ›Anita‹ gegeben, ein Akt der Benennung, der einer Taufe ähnlich auf die Fundierung ihrer Identität von außen und in seiner Doppeldeutigkeit darauf verweist, dass Mimi/Anita, selbst eine Doppelfigur, zwischen Maschine und Mensch oszilliert. Die Ikonographie der Szenerie erinnert an die bildliche Darstellung von Schneewittchen im gläsernen Sarg, Übereinstimmungen finden sich auch in der Farbsemantik Mimis: mit ihrer schneeweißen Haut, rot geschminkten Lippen und langen, schwarzen Haaren. Ein weiterer intertextueller Bezug auf das Repertoire filmischer Märcheninszenierung lässt 62 | R. Drux: Der Mythos vom künstlichen Menschen, S. 43. 63 | Staffel 1, Episode 1: 33‘00‘‘-34‘20‘‘. 64 | Staffel 1, Episode 2: 00‘00‘‘-02‘12‘‘.
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sich im Prozess des Erweckens selbst identifizieren, das als Reminiszenz an Dornröschen erscheint, die dank ihres Prinzen aus hundertjährigem Schlaf erwacht. Der magische Kuss des traditionellen Märchens wird hier zum zwar technischen, aber durch die spezifische Inszenierung doch geheimnisvollen Betätigen des Schalters, durch das Mimi zum Leben erwacht und das maschinellen Futurismus in archetypische Rollenkonstellationen kleidet und teilweise auflöst. In jungen Jahren beobachtet Leo durch eine Glasscheibe fasziniert, wie Mimi eingeschaltet wird, was über die Kamera gezeigt wird und damit in einer Potenzierung der Beobachtungsebenen resultiert. Dadurch wird sichtbar markiert, dass der männliche Blick von Anfang an auf Mimi ruht.65 Das Glas als leitmotivisch verwendetes, transparentes, aber zugleich räumlich trennendes Medium hat hier anders als bei Vera und den Hubots in der Anfangsszene keinen bedrohlichen, sondern einen verklärenden Effekt. Mimi wird als personifiziertes Wunschbild idealisierter Weiblichkeit inszeniert und beispielsweise durch ihre Vorliebe für bunte Haarbänder, die einen persönlichen Geschmack und damit eine selbstbestimmte, individuelle Identität suggerieren, feminisiert. Die blonde Flash, die anfangs ebenfalls Teil der Gruppe autonomer Hubots ist, repräsentiert nicht nur optisch den stereotypischen Männertraum. Vielmehr reproduziert und personifiziert sie auch die traditionelle, heteronormative Weiblichkeitsvorstellung, was umso bezeichnender ist, da die freien Hubots sich eigentlich vorwiegend durch einen freien Willen und eine individuelle Persönlichkeit auszeichnen. Flash blättert durch Einrichtungszeitschriften und legt in ihrem imaginär entworfenen Haus Wert auf eine Küche, in der sie für ihre Freunde kochen könnte, sie träumt von der Liebe zu einem menschlichen Mann, Hochzeit und gemeinsamen (Adoptiv-)Kindern. Darüber hinaus äußert sie sich kritisch und irritiert über die lesbische Orientierung der Pfarrerin, die den von der Polizei gesuchten freien Hubots Schutz und Obdach gewährt und deren Lebensweise nicht den von Flash internalisierten Geschlechternormen
65 | In derselben Folge zeigt Leo in der Gegenwart auf der Suche nach Mimi in einem Hubot-Bordell ihr Foto, um Hinweise auf ihren Aufenthaltsort zu erhalten – abermals wird Mimi als Bild inszeniert, das durch Sehnsucht besetzt ist. Die Sexroboter im Bordell selbst repräsentieren das Begehren und sexuelle Beherrschbarkeit. Vgl. Staffel 1, Episode 2: 16‘30‘‘-19‘05‘‘.
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entspricht.66 Sie will sich in die Gesellschaft und die traditionellen Geschlechterrollen integrieren, das zeigt auch ihre optische Entwicklung: Sie wird weiblicher und kann ihre Sehnsucht nach männlicher Bestätigung tatsächlich verwirklichen. So verbringt sie die Nacht mit einem Mann, er schlafend und sie neben ihm liegend, sich heimlich an der Steckdose aufladend. Bevor er erwacht, verschwindet das Ladekabel per automatischem Mechanismus in Flashs Körper und sie kaschiert mit Camouflage-Makeup die sichtbaren elektronischen Schnittstellen.67 Die Szene repräsentiert sowohl das männliche Begehren als auch die weibliche Sehnsucht, in der heterosexuellen Konstellation aufzugehen und aufgehoben zu sein. Gerade das phallisch konnotierte Stromkabel ist ein visueller Marker dafür, dass die Hubots trotz ihrer weiblichen oder männlichen Phänotypen nie ganz in der Geschlechterdichotomie aufgehen können, sondern im Sinne Haraways eine neue, nicht genau definierte Position einnehmen. Das Kaschieren ihrer wahren Identität einer anthropomorphen Maschine kann als Variation des Konzepts der Maskerade nach Joan Riviere und Mary Ann Doane gelesen werden, wonach Weiblichkeit selbst Maskerade ist, um eine gesellschaftlich nicht tolerierte Partizipation an der Sphäre des Männlichen zu kompensieren.68 Flash identifiziert sich mit dem Konzept der Weiblichkeit und nimmt es folglich als Rolle an, um es performativ auszuüben und Normabweichungen zu verschleiern. Als letztes Beispiel soll das von Bea angeführt werden. Anfangs als Ermittlerin der Polizeieinheit für Hubot-Kriminalität eingeführt, stellt sich heraus, dass sie selbst ein Hubot mit freiem Willen und eigener Persönlichkeit ist. Durch Auseinandersetzungen zwischen Hubots und dem schwedischen Geheimdienst kommt es zu Kampfhandlungen, die Bea am Ende der ersten Staffel beschädigt und ohne Stromversorgung zurücklassen. In der ersten Folge der zweiten Staffel wird Bea von einem Bauarbeiter gefunden, aufgeladen und wieder reaktiviert.69 Anschließend will er sie als gefügiges Sexobjekt für Oralverkehr benutzen. Bea lässt sich scheinbar darauf ein. Hinter der vorgeblichen Willfährigkeit des technischen, fremdbestimmten Artefakts steckt allerdings ein autonomer Geist, der sich zu wehren weiß: Bea tötet den Mann, vorher kastriert sie ihn 66 | Staffel 1, Episode 1: 48‘06‘‘-48‘30‘‘. 67 | Staffel 2, Episode 1: 16‘14‘‘-17‘30‘.‘ 68 | M. A. Doane: Femmes Fatales, S. 25f. 69 | Staffel 2, Episode 1: 13‘00‘‘-16‘12‘‘.
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jedoch zum Teil mit den Zähnen – und wird damit zur personifizierten freudschen Kastrationsdrohung. Die Hubot-Frau tritt hier als Imagination der Femme fatale auf, indem sie zwei zentrale Eigenschaften dieser geschlechtlich codierten Figuration verkörpert: Wie auf die Femme fatale trifft hier auf Bea »die Schönheit der Person und das Schreckliche der Tat« 70 zu sowie die sexuell aufgeladene »zwiespältige Disposition als Wunsch- und Angstbild« 71, die sowohl »Anpassung an das traditionelle Verhältnis der Geschlechter als auch Dissens zu ihm« 72 widerspiegelt. Indem ein klassischer Topos in den Kontext eines modernen Genres tritt, wird eine künstliche Femme fatale zur weiblichen Rache- und Ermächtigungsimagination und bleibt zugleich ambivalent in ihrer inhärenten Widersprüchlichkeit. Die Hubots fungieren in der Serie generell als Trägerfiguren für eine eingeschriebene Ambiguität, die sie durch Verfremdungs- und Stilisierungsstrategien traditionell und subversiv, vertraut und beängstigend zugleich erscheinen lässt.
F a zit Die Hubots oszillieren, wie in unserer Analyse exemplarisch gezeigt, als Projektionsfläche zwischen Wunsch- und Angstbildern, zwischen dem Vertrauten und dem Fremden. Dabei greifen sie in ihrer visuellen Inszenierung auf bekannte Muster und kollektive kulturelle Kontexte zurück. Es werden grundsätzliche Fragestellungen des Menschlichen verhandelt. In dieser Serie handelt es sich aber im engsten Wortsinne um ›Veränderte Lebenswelt‹: Wir bewegen uns nicht in einem futuristischen, weit extrapolierenden Science-Fiction-Szenario, das ganze technische Dekaden von unserem Leben entfernt scheint. Im Gegenteil: Wir sehen auf dem Fernsehbildschirm eine Spiegelung unserer Alltagswelt, bereichert um die Hubots. Wir erleben aber auch nicht den Moment, in dem die Erfindung der Hubots, das Erwachen des ersten ihrer Art, die Initiation der neuen anthropomorphen Technologie mit einem großen Knall inszeniert wird und die Welt in ihren Grundfesten erschüttert. Die Serie nutzt den
70 | T. Koebner: Die schöne Mörderin, S. 142. 71 | C. Hilmes: Die Femme fatale, S. XIV. 72 | Ebd., S. XV.
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narrativen Raum dazwischen, der in der Science-Fiction sonst so oft vernachlässigt wird: Die Hubots sind im Begriff im Zustand der Selbstverständlichkeit aufzugehen, ohne bereits völlig dort angelangt zu sein. In diesem Zwielicht zwischen Immersion und Integration einerseits und Abgrenzung und Skandalisierung andererseits entfaltet sich ein Narrativ um die Spielarten des Menschlichen, um technischen Fortschritt und Prozesse einer sozialen Dynamik, die dadurch in Gang gesetzt werden.
L iter atur Adam, Marie-Hélène: »Die Stadt der künstlichen Frauen. Repräsentationen von Geschlecht im Film Die Frauen von Stepford (1975)«, in: Powision, Vol. 15 (2014), S. 18-23. Assmann, Aleida/Assmann, Jan: »Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis«, in: Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 114-140. Bär, Gerald: Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm, Amsterdam: Rodopi Verlag 2005. Brittnacher, Hans Richard: »Der künstliche Mensch. Die Revision der Utopie«, in: Ders.: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994. Burleigh, Tyler J./Schoenherr, Jordan R./Lacroix, Guy L.: »Does the uncanny valley exist? An empirical test of the relationship between eeriness and the human likeness of digitally created faces«, in: Computers and Human Behavior 29(2013), S. 759-771. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Katharina Menke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1991. De Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht: eine Deutung der Frau, gek. u. bearb. Sonderausgabe von Marianne Langewiesche, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1963.
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»Wir Phantasten sind die einzigen Realisten« Interview mit Thomas Le Blanc über das Projekt Future Life – We read the Future Annegret Scheibe
In dem interdisziplinären Zukunftsprojekt Future Life berät Thomas Le Blanc seit einigen Jahren Unternehmen und Politik in Bezug auf neue Technologien und Produkte. Kapital und gleichzeitig Inspirationsquelle ist dabei die von ihm gegründete Phantastische Bibliothek Wetzlar. Sie bietet mit einem Buchbestand über 260.000 Titeln die europaweit größte Sammlung phantastischer Literatur. Zu den ersten Auftraggebern des Projekts gehörte das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, für das Le Blanc zwischen 2003 und 2005 eine Studie über die Verkehrssysteme der Zukunft machte.1 Das Innovationspotential des Science-Fiction-Genres ließ sich inzwischen auch in anderen Bereichen zeigen. So wurde für das Hessische Wirtschaftsministerium vor Kurzem eine Fülle von nanotechnologischen Szenarien zusammengetragen und für eine breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht.2 Gesellschaftliche Innovationen wurden und werden schon immer auch von Science-Fiction inspiriert. Herr Le Blanc, in Ihrem Vortrag zur Lebenswelten-Tagung3 haben Sie als Credo formuliert: »Wir Phantasten sind die einzigen Realisten.« Was heißt das in Bezug auf Ihr Future Life-Projekt? 1 | Vgl. Projektbeschreibung unter www.phantastik.eu/projekte/future-life. 2 | Vgl. Th. Le Blanc/S. Partheil/V. Knorpp: Nanotechnische Ideen in der Science-Fiction-Literatur. 3 | Vortrag vom 24.05.2014 am Karlsruher Institut für Technologie.
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Dieser Satz hat zwei Ebenen. Als wir die Phantastische Bibliothek aufgebaut haben, hielten das viele Leute für eine verrückte Sache, ja für Spinnerei, und gingen selbstverständlich davon aus, dass das niemanden interessieren würde. Wir aber haben gesagt, dass das eine neue, andere Art sei, unsere Welt zu sehen, und dass diese Ansicht von vielen geteilt werde. Wenn wir uns selbst Phantasten nennen, sehen wir das als positive Bezeichnung und nicht als Schimpfwort, wie es eigentlich gemeint ist. Um einen Betrieb mit zwölf Angestellten, das heißt ein Haus wie die Phantastische Bibliothek zu unterhalten, müssen wir sehr realistisch sein und auch die Mittel beschaffen, um zahlreiche Projekte verfolgen zu können. Die zweite Ebene: Wir kommen in unserer Welt nicht weiter, wenn wir alle nur Realisten sind. Es muss genügend Spinner im positiven Sinne geben, die sich Neues ausdenken. Die Phantasten sind oft die einzigen, die nicht nur Ideen haben, sondern auch den Mut, diese gegen Widerstände zu verteidigen. Gegen Einwände in der Art »Das haben wir noch nie gehabt«, »Das ist zu teuer« oder »Das wird niemanden interessieren« muss man angehen, um die Welt zu verändern. Sie beraten eine Reihe von Industriepartnern. Stoßen Sie bei den ›Realisten‹ auf die gleichen Einwände und Widerstände? Wenn wir interne Beratungen in Firmen durchführen, gehen diese sehr unterschiedlich damit um. Einige befürchten immer noch, durch die Verbindung mit Science-Fiction auch in die Ecke der ›Spinner‹ gestellt zu werden. Andere sagen: »Nein, genauso wollen wir sein. Wir wollen zeigen, dass wir neue Methoden aufgreifen.« Den offensiveren Umgang gibt es also auch. Aber generell geben Firmen ihre Berater nicht preis, sondern verweisen auf verschiedene Quellen der Inspiration. Das macht uns die Arbeit manchmal schwerer, weil wir gelegentlich gerne Referenzen angeben würden. Es ist aber auch nicht so, dass die neue Richtung, die eine Firma einschlägt, nur von uns abhängt. Wir sind eine Stimme unter vielen, und die Firmen entscheiden am Ende selbst darüber, was sie von den präsentierten Ideen verwenden und was nicht. Entwürfe von wissenschaftlichen und technischen Szenarien sind Ihnen aus der Science-Fiction-Literatur seit über fünfzig Jahren vertraut. Aus früheren Interviews gewinnt man den Eindruck, dass für Sie viele Neuerungen in der
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›realen Welt‹ aus dieser Perspektive ein ›alter Hut‹ sind. 4 Gibt es dennoch Innovationen, die Sie selbst überraschen und für die Ihnen kein Beispiel aus der Science-Fiction einfällt? Als vor zwei Jahren die Google-Brille aufkam, war ich zum einen überrascht, dass wir technologisch schon so weit sind, und zum anderen, dass eine Firma so voranprescht und etwas vorstellt, was gesellschaftlich sehr problematisch ist. Was mich auch fasziniert hat, ist der Mut der holländischen Firma Mars One, die sich zum Ziel gesetzt hat, Menschen bis zum Jahr 2025 auf dem Mars landen zu lassen, noch vor der ESA und der NASA. Die Astronauten kommen bei dieser Mission nicht mehr zurück. Das bedeutet natürlich einen Tabubruch, der aber nur damit zusammenhängt, dass wir denken, wenn jemand zum Mars fliegt und nicht mehr zurückkommt, ist er tot. Aber das stimmt ja gar nicht. Das Konzept von Mars One besteht in der ersten Besiedlung eines anderen Himmelskörpers. Dass wir in zehn Jahren schon so weit sein sollen, ist ein Gedankensprung, den wir erst einmal verarbeiten müssen. Für viele Gegner mit moralischen Bedenken kommt diese Marsreise einem Todesurteil für die Astronauten gleich. Ich frage mich aber, wieso man das Projekt nicht ernsthaft erwägen darf. Die Teilnehmer tun dies freiwillig und könnten noch fünfzig Jahre auf dem Mars leben. Wenn jemand vor zweihundert Jahren aus Deutschland nach Nordamerika ausgewandert ist, ist er ja auch nicht wieder zurückgekommen. Nicht weil es technisch nicht möglich gewesen wäre, sondern weil er sich die Passage zurück nicht leisten konnte. Vermutlich hat er bereits für die Hinfahrt sein halbes Leben lang gespart. Das heißt, er ist dort geblieben, vielleicht von Indianern umgebracht worden oder einfach verhungert. Die Probleme, die mit einer Marsbesiedlung auftauchen, sind also, wenn man einen Augenblick darüber nachdenkt, nicht so ungewöhnlich. Aber wir erschrecken erst einmal davor. So sehr ich von der Ideenfülle der Science-Fiction und deren Umsetzbarkeit auch überzeugt bin, so sehr bin ich bisweilen überrascht, in welcher Geschwindigkeit manche Entwicklungen vorwärts gehen.
4 | Vgl. dazu Th. Le Blanc/S. Brunn: Wir lesen die Zukunft; Th. Le Blanc/M. Hucko: Mobilität der Zukunft; S. Weber: Phantastische Bibliothek.
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Kommen wir zu Ihren Projektpartnern im Rahmen von Future Life. Mit einigen haben Sie Verschwiegenheit vereinbart. Dennoch: Was sind typische Fragestellungen, die an Sie herangetragen werden, aus denen dann gemeinsame Projekte werden können? Ein Beispiel, das von Anfang an auch öffentlich angelegt war, war ein Projekt für das Hessische Wirtschaftsministerium. Wir hatten den Auftrag, alles zusammenzustellen, was zum Thema Nanotechnologie in der Science-Fiction-Literatur zu finden ist. Auf Anregung von NANORA, einem Zusammenschluss von verschiedenen europäischen Initiativen zur Nanotechnologie, ist die entstandene Broschüre inzwischen auch ins Englische übersetzt worden. Diese Forschungsaufgabe wurde mit Steuergeldern bezahlt, deshalb darf auch jeder die Ergebnisse einsehen, und wir dürfen darüber reden. Die Publikation umfasst eine Menge von Ideen, verbunden mit der Frage, welche Dinge wir mit Hilfe von Nanotechnologie in der Wirklichkeit umsetzen könnten. Dabei haben wir verschiedene Bereiche aufgegriffen, von Medizin über Waffentechnik bis hin zu Alltagsbereichen mit ganz praktischen Gegenständen und Apparaten. Es gab in der Science-Fiction-Literatur durchaus auch witzige Funde, zum Beispiel einen klingelnden Keks. Eine fiktionale Firma hat sich überlegt, dass ein Keks nicht crunchen sollte, wenn er im Mund bricht, sondern klingeln. Etwas, das man eigentlich heute umsetzen könnte. Vielleicht wird die Idee irgendwann von einer Firma übernommen. Ein solch witziges Objekt würde sich mit Sicherheit gut verkaufen. Szenarien wie das des Smart Home mit Nanomaterialien sind zum Beispiel auch enthalten. Natürlich war das eine zeitlich begrenzte Studie. Mittlerweile könnten wir einen zweiten Band daraus machen, weil wir auch nach Fertigstellung des Projekts noch wesentlich mehr Ideen gefunden haben. Nanotechnologie gehört nicht unbedingt zu den klassischen Science-Fiction-Bereichen. Hat sich Ihre Arbeit im Rahmen von Future Life verändert, was die Fragestellungen angeht? Als wir mit Future Life angefangen haben, haben wir natürlich eher an Großprojekte aus Verkehrstechnik, Raumfahrt oder Robotik gedacht, eben an Bereiche, bei denen wir davon ausgingen, dass wir viel in der
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Science-Fiction-Literatur dazu finden würden. Als wir vom Hessischen Wirtschaftsministerium angefragt wurden, ob wir in dem ganz kleinen Bereich der Nanotechnologie eine Studie machen würden, habe ich erst einmal ein paar Tage Bedenkzeit erbeten, um mich von der thematischen Ergiebigkeit unserer Sammlung zu überzeugen. Sie ließ sich schnell bestätigen. Aber wir wollen nichts versprechen, was sich nicht halten lässt. Auch wenn Forschungsvorhaben am Ende nicht immer konkrete Resultate erbringen, haben wir in diesem Projekt sehr darauf geachtet, nicht zuletzt weil von vornherein aus der Recherche eine Publikation geplant war. Diese Form der Querschnittstechnologie war auch für uns sehr interessant. Darüber kommen wir wieder mit den unterschiedlichsten Firmen in Kontakt, nicht nur aus dem Chemiebereich – der mit der Nanotechnologie ja eng verwandt ist –, sondern auch aus der Medizintechnik oder Robotik. Im Zuge der Zusammenarbeit werden andere Firmen auf Sie aufmerksam. Wie muss man sich die Anfragen vorstellen, die Sie erreichen? Sind das Einzelanliegen oder größere Projektvorhaben? Das Projekt mit dem Ministerium fing damit an, dass wir uns auf einer Tagung für die Nano-Industrie vorgestellt und dort gezeigt haben, dass es in der Science-Fiction zur Nanotechnologie grundsätzlich Ideen gibt. Erst dann kam der Auftrag zustande. Wir bieten natürlich verschiedene Typen von Angeboten an. Nicht ungewöhnlich ist ein Inhouse-Vortrag vor der Forschungsabteilung einer Firma, bei der die Mitarbeiter aus der Marketingabteilung oder aus der Innovation hören wollen, in welche Richtung sich bestimmte Dinge entwickeln könnten. Im Rahmen einer öffentlichen Jahresabschlusstagung bei BASF habe ich einen Vortrag gehalten, bei dem ich einen Blick in die Zukunft geworfen habe. Das hat gewissermaßen die klassische Vorstandsrede nach dem Motto »Da wollen wir nächstes Jahr hin« erweitert, denn bei mir ging es darum, wie die nächsten zwanzig, dreißig Jahre für unsere Welt aussehen könnten. Manchmal präsentieren wir auch unsere konkreten Ergebnisse, wie kürzlich für ein EU-Projekt zur Arbeitswelt der Zukunft auf einer internationalen Tagung der Wirtschaftsförderung Bremen. Dabei kamen eine Reihe von Fragen auf: Arbeiten wir überhaupt noch? Oder sitzen wir nur noch herum? Oder machen kreative Arbeit, während Roboter die schweren Aufgaben erledi-
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gen? Wie sieht das aus, wenn wir älter werden? Und werden wir vielleicht 200 Jahre alt? Gehen wir dann statt mit 65 mit 130 in Rente? Innovationsabteilungen suchen in der Regel konkrete Ideen und Lösungsansätze für Fragen, etwa nach Mobilität oder der Arbeitswelt der Zukunft. Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit von der der Zukunftsforschung? Wir haben zum Beispiel für einen europäischen Haustechnik-Konzern eine Studie erarbeitet, in der es um das Smart Home geht. Im Moment konzentriert sich die Firma auf bestimmte technische Bereiche wie Heizung und Lüftung, sie will sich jedoch zum Allrounder, zum Komplettanbieter in Sachen Hausbau, Haustechnik und Hausbewirtschaftung entwickeln. Das ist ein Prozess, der über zehn bis zwanzig Jahre hinweg laufen wird. Aber es geht bereits jetzt darum, den Mitarbeitern zu vermitteln, wo es technisch hingehen soll. Es erfordert eine Vision dazu, wie sich die Welt des intelligenten Wohnens entwickeln könnte, entwickeln wird. Auf diesem Wege schafft man Begründungen für oder gegen bestimmte Schritte. Im Falle des Smart Home-Szenarios wollen wir wissen: Wo geht die Welt hin? Anhand der Literatur warten wir mit radikalen Lösungen auf, die weit über den heutigen Stand der Dinge hinausgehen. Denn Smart Home bedeutet nicht, wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt, alles von unserem Handy aus steuern zu können. Die Fensterläden herunterzulassen ist ohnehin eine Spielerei. Die Frage, die sich aus der Perspektive der Science-Fiction stellt, ist, ob es irgendwann eine künstliche Intelligenz gibt, die zum Beispiel vom Keller aus das gesamte Haus verwaltet. Wie gesagt, geht es dabei nicht bloß um die Fensterläden, sondern um eine Instanz, die für uns kocht, wäscht, bügelt und die Kleidung auch wieder in den Schrank legt. Man stelle sich vor: Künftig lassen Sie die benutzten Tassen einfach auf dem Tisch stehen und am nächsten Morgen stehen sie frisch gespült wieder da, sogar der Kaffee ist schon drin. Die Maschine kennt Sie, kommuniziert mit Ihnen, kann sich auf Sie einstellen. Hier stellt sich die Frage: Wollen wir das? Manche werden sagen: »Kochen will ich selbst. Das ist für mich eine soziale Handlung, das will ich mit Freunden gemeinsam machen.« Andere werden wiederum froh sein, wenn das Essen auf dem Tisch steht, wenn sie nach Hause kommen, wer auch immer es zubereitet hat. Das wird es vermutlich beides geben. Also muss dieses Smart Home auch beides anbieten, damit es von möglichst vielen Menschen akzeptiert wird. Mit diesen durchaus realistischen Szenarien
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geht aber ein kleinteiliges Denken nicht mehr zusammen – wie man etwa immer mehr Leitungen in die Wände unserer Häuser hineinbekommt. Möglicherweise haben wir keine Leitungen mehr, sondern bekommen die Energie für unsere Geräte per Induktion oder Strahlung. Ich gehe an dieser Stelle nicht auf die Technik, sondern auf deren Funktionsweise ein. Aber Firmen geht es doch um technologische Entwicklungen, um Geschäftsmodelle. Warum ist der Entwurf von Szenarien mit Hilfe von Science-Fiction so attraktiv? Natürlich sind die Firmen an technologischen Dingen interessiert, aber sie sind noch wesentlich mehr daran interessiert, wie wir Menschen leben und mit Technologie umgehen werden. Hinzu kommt: Eine neue, interessante Technologie mag noch so gut funktionieren, wenn Menschen sie nicht annehmen, bietet sie keine Basis für ein tragbares Geschäftsmodell. Nehmen wir z.B. diesen klingelnden Keks. Was bringt mir die Idee, wenn Kinder das Zeug eklig finden, oder wenn ein klingelnder Keks als pervers angesehen wird und keiner ihn kauft. Ich muss also Vorstellungen davon haben, wie die Menschen in zwanzig, dreißig Jahren ticken werden. Werden sie noch so sein wie wir heute? Haben sie durch weniger Arbeit mehr Freiräume und sind dann sozialer? Gehen Sie mehr raus oder verlässt keiner mehr seine Wohnung, und wir führen ein Gespräch wie dieses mittels Holographien? Es wäre ja möglich, einen holographischen Raum zu erzeugen und uns nur noch auf diesem Wege zu begegnen. Das würde Fahrtkosten sparen. Allerdings hätten wir uns nicht die Hände schütteln können. Möglicherweise gibt es dann eine symbolische Geste, die das Händeschütteln ersetzen wird... Die Frage ist, was besser und was schlechter ist. Sie würden sich dann, wenn ich eine Grippe hätte, anstecken und sich morgen darüber ärgern. Alles hat seine Vor- und Nachteile. Natürlich sind Firmen äußerst gespannt auf solche und ähnliche Zukunftstrends. Wenn wir uns z.B. künftig nicht mehr so viel fortbewegen, wird sich die Automobilindustrie Gedanken machen müssen, wie sie noch Autos verkaufen will. Wenn wir jedoch umgekehrt viel Freizeit haben und uns mehr bewegen werden, müssen wir mehr Straßen bauen. So banal das jetzt auch klingt, die Fra-
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ge nach dem Bedarf an Straßen ist viel interessanter, als etwa die nach Motortypen. Wenn Sie also in lebensweltlichen Visionen denken und Szenarien entwickeln wollen, wie gehen Sie unter dieser Prämisse bei einer konkreten Themen – oder Fragestellung methodisch vor? Nach welchen Kriterien wählen Sie Literatur aus Ihrem Fundus aus? Die Aussicht vorausgesetzt, dass wir genügend Material zum Thema finden, wird ein Angebot erstellt. Kalkuliert sind darin vor allem Personalmittel, um zum Beispiel ein halbes Jahr zu dem Thema zu forschen. Ob die Firma bereit ist, das auszugeben, ob sie vom Umfang her mehr oder weniger haben will, ist dann die nächste Frage. Das Vorgehen besteht zunächst darin, eine Reihe von Science-Fiction-Experten aus unserem Netzwerk in Deutschland nach Ideen zum aktuellen Thema zu befragen. Sie nennen mir einige Romane, die im Zusammenhang mit der jeweiligen Fragestellung ergiebig sein könnten, und die Tipps gebe ich dann an die Kollegen im Haus weiter. Wenn es nun unser Finanzrahmen, der ja stark variieren kann, zulässt, kann ich neben unseren eigenen Mitarbeitern noch jemanden für die anstehende Recherche einstellen. Die Leute, die ich jetzt brauche, müssen sowohl natur-, als auch geisteswissenschaftlich denken und arbeiten können: Die Geisteswissenschaftler sind zuständig für die Methodik des sinnentnehmenden Lesens, des Sezierens von und des Datenherausholens aus Texten, die Naturwissenschaftler übernehmen bereits die Wahrscheinlichkeitsbewertung einzelner technischer Novitäten. Sprich: Ob etwas absoluter Unsinn ist oder ob es sich lohnt, weiter darüber nachzudenken. Manchmal kommen in der Literatur Begriffe vor, die einem Geisteswissenschaftler nicht geläufig sind oder für die er lange recherchieren müsste. Ein Naturwissenschaftler dagegen weiß oft sofort, was gemeint ist und kann dadurch die Kompetenz des Autors beurteilen und die Seriosität des Textes einschätzen. Ich brauche also immer zwei Typen von Lesern. Und das Lesen selbst ist der schönste Beruf, den man sich vorstellen kann. Können Sie ein Beispiel dafür geben, was und wie nun genau gelesen wird, etwa für das bereits angesprochene Smart Home-Szenario? Wie stößt man auf Smart Home-Lösungen beim Lesen?
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Es ist ja nicht so, dass ein Roman direkt von einem Smart Home handelt. Er erzählt vielleicht von Kriminalfällen, wie sie häufig in einer Science-Fiction-Welt beschrieben werden. Wird zum Beispiel jemand umgebracht, erscheint bald darauf der Detektiv am Tatort. Wenn er dann in das Haus des Verbrechens hineingehen will, wird er zunächst vom Haus begrüßt und gefragt, wer er sei. Daraufhin hält er seine Marke hoch, das Haus scannt sie und identifiziert den Polizisten als zum Zutritt Berechtigten. Jetzt erst öffnet ihm das Haus die Tür und gibt ihm vielleicht noch weitere Informationen. Oder es lässt ihn nur bis zu einer bestimmten Grenze vordringen, weil es sich auch juristisch auskennt. Vielleicht hat das Haus sogar schon die Spuren gesichert. Oder aber es steckt mit dem Gauner unter einer Decke und hat die Spuren längst verwischt. Der Polizist kommt also rein und es sind keine Spuren mehr da. Aus diesen Details der Handlung lassen sich Rückschlüsse ziehen, wie ein Smart Home funktionieren kann. Kann es etwa Spuren verschwinden lassen, wird im Text vielleicht auch beschrieben, wie das geht, beispielsweise indem das Haus mit Nanotechnologie das Material chemisch so verändert, dass die Spuren anschließend einfach nicht mehr nachweisbar sind. Diese könnten aber in dem Programm des Hauses noch nachweisbar sein. Der Detektiv bräuchte in diesem Fall einen intelligenten Techniker, der sie wiederherstellt. Wenn ein Autor eine solche Geschichte schildert, lassen sich daraus Informationen über die Funktionen eines Smart Home gewinnen. Wie beschreiben Sie dieses Szenario für Ihren Auftraggeber? Was interessiert ihn? Wenn ich nachher dem Auftraggeber die Möglichkeiten eines Smart Home beschreibe, ist die konkrete Quelle für ihn nicht immer ersichtlich, sondern nur noch bei uns in der Datenbank verfügbar. Was die Einträge in der Datenbank angeht, verfahren wir so, wie es bei wissenschaftlichen Arbeiten üblich ist: Wir sammeln Zitate, entweder direkt oder in Form von Querverweisen. Das heißt, es wird geschaut, wo sich etwas Ähnliches in einem anderen, thematisch passenden Roman findet. Oder ob ein Roman genau das Gegenteil beschreibt, bei dem etwas funktioniert oder nicht funktioniert hat oder bei dem eine andere Technologie verwendet wird. Mit diesen Verknüpfungen hat man irgendwann genügend Material und kann sich anhand der vielen zusammengetragenen Einzelheiten ein Smart Home vorstellen. Wenn es so weit ist, gehe ich zum nächsten
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Schritt über und beschreibe das Szenario und füge Beispiele an den Stellen ein, wo es zu nüchtern ist. Nicht auf alle Fragen bietet die Literatur bereits eine Antwort. Gibt es hier oder da eine Leerstelle, ist oft eine nochmalige gezielte Suche notwendig. Und sofern sich die Autoren über etwas noch gar keine Gedanken gemacht haben, wird das als Lücke oder Problem innerhalb des Szenarios dargestellt. Beim Thema Carsharing beispielsweise gibt es ein typisches Problem. Es wird in der Science-Fiction-Literatur häufig beschrieben, was heute schon die Initiativen car2go und DriveNow anbieten. Die Idee dahinter: Die Wagen stehen am Straßenrand, man steigt ein, nutzt ihn bis zum Ziel und lässt ihn dort stehen. Dieses System funktioniert heute in einigen Großstädten recht gut. Das Ganze wird derzeit über das Handy abgerechnet, in der Zukunft gibt es vielleicht die automatische Abrechnung über den Chip, der in der Hüfte implantiert ist. Das könnte man sich nun als Grundsystem vorstellen: Wir haben alle keine eigenen Autos mehr, jeder verwendet ein beliebiges Fahrzeug, das er nach der Fahrt wieder abstellt und an den nächsten weitergibt. Auf diese Weise werden die Autos auch viel besser genutzt. Stellen Sie sich nun aber Folgendes vor: Sie sind eine Familie, haben zwei Kinder und wollen Einkaufen fahren. Mit diesen Autos funktioniert das nicht, weil es keine Kindersitze darin gibt. Ich kenne auch keinen Science-Fiction-Roman, in dem das Problem gelöst ist. Natürlich gibt es auch dafür Mittel und Wege, nur welche? Muss man dann doch wieder mehrere Typen von Autos bereitstellen? Oder müssen Familien tatsächlich ein eigenes Auto haben? Oder müssen sie dieses Auto extra bestellen? Diese praktischen Probleme würden in einer solchen Studie aufgelistet stehen. Wichtig dabei sind die Inkongruenzen, die uns auffallen. Science-Fiction-Autoren haben die Welt ja auch keineswegs perfekt erdacht. Jeder hat eine Idee und zusammen ergibt das ein Szenario. Es werden immer noch Dinge darin fehlen, dafür aber andere gefunden, über die man sich in der Realität noch keine Gedanken gemacht hat, für die die Science-Fiction aber schon Lösungsansätze bieten kann. Sie finden beides, sowohl Defizite als auch Vorsprünge. Wie suchen Sie nach den Themen in der Literatur, die Sie lesen? In einer Volltextsuche etwa würde man Schlagworte verwenden… Mit dem ersten Teil, der aus der Vorab-Recherche und den Anfragen innerhalb des Expertennetzwerkes besteht, verfügen wir zumindest über
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ein paar Ansätze, mit denen wir beginnen können. Aber letztlich gibt es keine andere Methode als wirkliches Lesen. Nur wir Menschen sind fähig, Keywords zu finden. Für zukünftige Szenarien kennen wir ja manche Begriffe noch gar nicht, also können wir auch keine Suchbegriffe irgendwo eingeben. Außerdem sind viele Titel gar nicht digital verfügbar, sondern nur auf Papier vorhanden. Wir lesen ja nicht nur die moderne Literatur, die es teilweise als E-Book gibt, sondern auch die von vor zehn, zwanzig Jahren. Auch darin sind gute Ideen enthalten, die noch nicht durchdacht oder umgesetzt worden sind. Die Titel werden dann gelesen und recherchiert. So kommen wir von einem Autor zum nächsten. Die Ergebnisse werden in einer Datenbank gespeichert, verschlagwortet und miteinander vernetzt. Wenn Sie keine klassischen Suchbegriffe verwenden können, wie verschlagworten Sie in Ihrer Dokumentation? Nach Autoren, nach Querverweisen, nach Themen? Nach Themen. Also ein Oberthema ist vielleicht Mobilität, darunter geht es weiter mit Motoren und dann mit Elektromotoren. Die Stufenmethode hängt vom jeweiligen Thema ab. Wie sehen Ihre Datenblätter aus, die Sie zu einem Thema anfertigen? Nehmen wir als Beispiel die erste Studie, die wir für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt erstellt haben. Sie besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil enthält das Szenario, das wir beschrieben haben, mit zahlreichen Ideen zu alternativen Lösungen und auch Fragen, die in der Science-Fiction nicht beantwortet werden. Der zweite Teil besteht aus den Datenblättern. Sie enthalten Kurzbeschreibungen, Zitate, Referenzen auf andere Textstellen und Werke, eine Grundstruktur, die zeigt, nach welchen Schlagworten wir das Thema aufgebaut haben, und auch ein Bearbeiterkürzel. Zeichnungen und Bilder sind selten dabei, in den meisten Fällen gibt es in der Science-Fiction keine Illustrationen. Während des Lesens produzieren wir allerdings auch »Abfallprodukte«, wir gewinnen also aus den Texten Informationen, die für den Auftrag nicht unmittelbar relevant sind. Die nehmen wir trotzdem mit in die Datenbank auf. Manchmal wissen wir auch schon, dass sie zu einem Thema passen, an dem wir arbeiten werden.
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Das heißt, Ihre Systematisierung läuft nicht nur über einen Auftrag, wie der Entwurf eines Smart Home-Szenarios für die Zukunft, sondern Sie machen auch Zufallsfunde. Wie begründen Sie zu Beginn Ihr Korpus, das Sie für eine Fragestellung auswählen? Den ersten Schritt, den Sie beschrieben haben, ist der Rückgriff auf Ihr Netzwerk. Ich muss effektiv sein mit meiner Arbeit. Es gibt viele Phantasten wie mich, die seit fünfzig Jahren Science-Fiction-Literatur lesen. Manche erinnern sich an Texte, die ich zwar auch gelesen, aber im Einzelnen nicht mehr präsent habe. Die Details fallen mir oft erst anhand von konkreten Hinweisen ein. Darauf bin ich schon angewiesen. Insbesondere, weil man einem Auftraggeber gegenüber nach drei Jahren Arbeit auch Ergebnisse vorweisen können muss. In den meisten Fällen haben Sie einen bestimmten Etat, die Zeit für ein Projekt ist also durch ökonomische Gesichtspunkte bestimmt. Wie viele Bücher lesen Sie für ein Projekt im Durchschnitt? Das sind mehrere hundert, die man jedoch nicht immer vollständig durcharbeitet. Es wird Romane geben, in denen man nur drei Seiten liest. Um zum Beispiel einen Text auszuschließen, muss man sich dennoch damit auseinandergesetzt haben. Auch sind themenrelevante Szenen in einem Roman oft sehr kurz. Wird etwa in einer Geschichte ein Flugauto benutzt, bewegt sich die Geschichte meist schnell weg vom Kontext des Verkehrssystems. Wenn man dann über das 100. Flugauto liest, nimmt man es auch nicht mehr unbedingt mit in die Beschreibung auf, weil es nichts Neues mehr bringt. Wichtig ist jedoch die Information, wie häufig ein Thema vorkommt. Denn das deutet auf ein Bedürfnis hin und damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwann erfüllt wird, hoch. Ihre Datenbank wächst kontinuierlich, auch durch die »Abfallprodukte«, wie Sie sie genannt haben. Mit dem Thema Mobilität haben Sie sich bereits beschäftigt. Wenn Sie von der Automobilindustrie eine Anfrage bekommen, schauen Sie nach Vorlagen in der Science-Fiction. Wie gut ist die Heuristik, nach ähnlichen Szenarien, in denen Verkehrssysteme gedacht werden, zu suchen? In der Realität entstehen Erfindungen ja häufig durch Zufall oder neue Technologien entstammen aus ganz fremden Bereichen.
»Wir Phantasten sind die einzigen Realisten«
Zufallsfunde ergeben sich in diesem Projekt häufig durch die Lektüre von Romanen, die thematisch zunächst einmal nicht unter den primären Quellen auftauchen. Würde beispielsweise der Auftrag lauten, sich nur mit terrestrischer Mobilität zu befassen, würden Weltallszenarien auf den ersten Blick ausscheiden. Fällt mir aber ein Roman in die Hände, der in einem Raumschiff spielt, wo die Wege so weit ausfallen, dass die Fortbewegung nur mithilfe von Gleitschlitten möglich ist, habe ich wieder etwas, das sich übertragen lässt. Oder man stößt auf eine bestimmte Kommunikationsstruktur, die sich als Verkehrsinfrastruktur verwenden ließe. Also muss ich sehr vernetzt denken! Es gibt aber auch noch andere Zufallsfunde. Ich lese auch privat viel und entdecke dabei oft Einzelheiten, die in dieses oder jenes Projekt hineinpassen. Inzwischen habe ich gemerkt, dass Science-Fiction auch in Themenbereichen von Relevanz sein kann, auf die ich kaum gekommen wäre. Es hat mich zum Beispiel überrascht, von der Nahrungsmittelindustrie angesprochen zu werden. Das zeigt, dass wir uns nicht nur über technologische Entwicklungen, sondern eben auch über die Zukunft der Ernährung Gedanken machen. Und für solche Themen bietet die Science-Fiction durchaus Beispiele. Was war die letzte Entdeckung, bei der Sie sich gedacht haben: Da gäbe es Bedarf? Jedes Mal wenn ich auf der Autobahn im Stau stehe, denke ich, wenn wir Roboter-Autos hätten, würden wir synchron und nicht versetzt fahren. NeunzigProzent aller Staus entstehen durch falsches Verhalten. Etwa wenn bei einem Autounfall in der Gegenrichtung alle Leute mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorbeifahren und schauen. Weder Stau noch ein Auffahrunfall würden mit einem Roboter-Auto passieren. 15.04.2015
L iter atur Le Blanc, Thomas/Brunn, Stefan: »Wir lesen die Zukunft«, in: Technology Review, 2/2013, S. 46-49. Le Blanc, Thomas/Hucko, Margret: »Mobilität der Zukunft: Brauchen Menschen in 30 Jahren noch Autos?«, in: Spiegel Online, http://
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Annegret Scheibe
www.spiegel.de/auto/aktuell/science-fiction-was-daimler-von-fliegen den-autos-lernen-will-a-969429.html vom 06.06.2014. Le Blanc, Thomas/Partheil, Svenja/Knorpp, Verena: Nanotechnische Ideen in der Science-Fiction-Literatur (= Technologielinie Hessen-Nanotech des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung, Band 24), Wiesbaden: Hessen Trade & Invest GmbH 2014, http://www.hessen-nanotech.de/mm/mm001/HTAI_ Nano_SF_Web.pdf. Weber, Silke: »Phantastische Bibliothek: Fantastische Beratung«, in: Die Zeit 14/2014, S. 81. http://www.zeit.de/2014/14/unternehmensbera tung-mit-science-fiction vom 12.04.2014.
Autorinnen und Autoren
Adam, Marie-Hélène (M.A.), geb. 1984, ist Medien-, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Derzeit lehrt und forscht sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Karlsruher Insitut für Technologie (KIT) und arbeitet an ihrer Dissertation. Schwerpunkte sind u.a. Medientheorie und -analyse, Mensch-Technik-Verhältnisse in der Science-Fiction, Gender in Fernsehserien sowie Identät und Erinnerung im Film. Adamowsky, Natascha ist Professorin für Medienkulturwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Brsg. Zuvor war sie Professorin für Kulturwissenschaftliche Ästhetik am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin und habilitierte sich dort 2009 im Fach Kulturwissenschaft mit einer Arbeit zum Thema: »Das Wunder in der Moderne. Zur ästhetischen Kultur moderner Selbstüberschreitung in Wissenschaft, Technik und den Künsten«. Bergmann, Elisabeth (Dr. phil.), Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Architektur seit dem 19. Jahrhundert, politische Relevanz von Architektur und ihr Bezug zu anderen Disziplinen. Seit 2010 Dozentin und Assistentin am Istituto di storia e teoria dell´arte e architettura (ISA) der Accademia di architettura, Mendrisio (Schweiz, Tessin). Von 2002 bis 2009 Dozentin und Assistentin am Institut für Kunst- und Baugeschichte der Universität Karlsruhe. Studium der Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Baugeschichte an der Universität Karlsruhe und der Kunst- und Baugeschichte sowie Restaurierung an der Università degli Studi di Firenze. 2006 Doktorat an der Universität Karlsruhe. Birnstiel, Klaus (Dr. phil.), geb. 1983 in München; derzeit Wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar der Universität Basel/Schweiz;
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2002-2008 Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Promotion 2012 daselbst; visiting researcher, Stanford University, 2010-2011; Arbeitsfelder: Literaturtheorie und Gegenwartsliteratur, Literatur und Theorie der Frühromantik, Geschichtsphilosophie. Publikationen: »Literatur und Theorie seit der Postmoderne« (Stuttgart 2012, Hg., zus. mit Erik Schilling) und »Wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«. »Eine kurze Geschichte des Poststrukturalismus« (i.V. München 2015). Beiträge für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Der Freitag, jungle world und Merkur – deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Braune, Florian, 1994-2000 Studium an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Brsg.: Wissenschaftliche Politik, Sinologie sowie Neuere u. Neueste Geschichte; 2002-2007: Wissenschaftlicher Angestellter der Abteilung für Ethik und Geschichte der Medizin der Georg-August-Universität Göttingen (DFG-Projekt): »Das Konzept der Informierten Zustimmung (Informed Consent) und seine Konkretisierung in der internationalen Bioethik«; 2006-2012: Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte des Seminars für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg i. Brsg – Schwerpunkte: Politische Theorie und Ethik; 2009-2014: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm; seit 2015: Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Uniklinik Köln (BMBF-Projekt): »Pränatale, prädiktive und präsymptomatische Diagnostik von neurodegenerativen Erkrankungen – ethische Aspekte«. Die Forschungsinteressen liegen im Bereich der Militärmedizin, Robotik(proth)et(h)ik, Versorgungsforschung, Kulturübergreifenden Bioethik, (Grüne) Genet(h)ik, und der Politischen Ethik. Gellai, Szilvia (M.A.) hat Kunst in Mainz und Germanistik in Budapest und Berlin studiert. Seit 2012 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) tätig und unterrichtet im Bereich der Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft. In ihrer literaturwissenschaftlichen Dissertation befasst sie sich mit dem »Vergleich von technischen Netzwerken und Netzwerktechniken in der zeitgenössischen Literatur«. Ihre bisherigen Veröffent-
Autorinnen und Autoren
lichungen hatten Romane von Terézia Mora, Angelika Meier, Andreas Okopenko und Daniel Glattauer zum Thema. Gransche, Bruno (Dr. phil.) forscht am Fraunhofer-Institut für Systemund Innovationsforschung ISI und lehrt am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Seine Forschungsschwerpunkte sind Zeit-/Technikphilosophie, Foresight, Zukunftsdenken sowie neuartige Mensch-Technik-Verhältnisse. Hanauska, Monika (Dr. phil) studierte von 2001 bis 2006 Germanistik, Französistik und Journalistik an der Universität Leipzig. Von 2007 bis 2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Nachwuchsforschergruppe »Historische Formelhafte Sprache und Traditionen des Formulierens (HiFoS)« an der Universität Trier. Im Rahmen dieses Projekts promovierte sie auch mit einer Arbeit zu Sprichwörtern und Routineformeln in der deutschsprachigen Stadtgeschichtsschreibung Kölns im Spätmittelalter. Seit 2012 ist sie akademische Mitarbeiterin in der Germanistik am Karlsruher Institut für Technologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind historische Sprachwissenschaft und Sprachwandel sowie Sprache und Wissenskommunikation. Heidingsfelder, Marie Lena, geb. 1987, Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin. Studium in Weimar, Lyon und Berlin, gegenwärtig wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Fraunhofer-Gesellschaft und Promotionsstudentin an der Universität der Künste Berlin. Hennig, Martin (M.A.), Studium der Neueren Deutschen Literatur- und Medienwissenschaft, Psychologie und Pädagogik in Kiel. Seit 2010 Dozent im Fachbereich Literatur- und Medienwissenschaft, seit 2012 Promotion am DFG-Graduiertenkolleg »Privatheit. Formen, Funktionen, Transformationen« der Universität Passau zu Privatheitskonzeptionen des zeitgenössischen Offline- und Online-Computerspiels. Arbeitsschwerpunkt: Text- und Kultursemiotik. Arbeitsbereiche: Privatheitsforschung, Game Studies, Erzähltheorie, Mentalitätsgeschichte, Medien, Gender & Privatheit. Publikationen u. a. zum diachronen Wandel von Heldenmodellen im Superheldenfilm, Überwachung im Film, interkulturellen Remakes, transmedialen Spieleserien, Gender im Computerspiel, regionalen Erzählen.
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Hofmann, Viola hat vor ihrer akademischen Lauf bahn eine Ausbildung im Handwerk zur Herrenschneiderin absolviert. Sie ist Dozentin am Seminar für Kulturanthropologie des Textilen an der TU Dortmund, Lehrbereich Technologie, Produktion und Textilwirtschaft. Davor Mitarbeit im Forschungsprojekt »Uniform in Bewegung. Zum Prozess der Uniformität von Körper und Kleidung«. Weitere Schwerpunkte: Kleidung und Politik (Promotion), Mode und Ökologie, Technologie-Materialität-Mode. Knifka, Julia (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Dort hat sie Europäische Kultur und Ideengeschichte mit dem Schwerpunkt Neure deutsche Literaturwissenschaft und Angewandte Kulturarbeit und -wissenschaft studiert. Seit 2013 Promotion in Philosophie über Mensch-Roboter-Interaktion. Studien- und Forschungsaufentalte an der Yale University (USA) und Universität Tokio (Japan). Krautkrämer, Florian (Dr. phil) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Medienwissenschaften der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. 2011 wurde er mit einer Arbeit zu »Schrift im Film« promoviert, die 2013 im LIT-Verlag erschienen ist. Forschungsschwerpunkte sind Portable Medien, Kamerasysteme, Diskurse und Ästhetik des digitalen Films, Parataxe der Medien und Experimentalfilm. Zuletzt erschien von ihm »Revolution Uploaded. Un/Sichtbares im Handy-Dokumentarfilm«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 11 (2014). Le Blanc, Thomas ist Studienrat i.R., Verlagslektor, Autor, Publizist und Journalist mit Schwerpunkt Phantastische Literatur, Gründer und Vorstand der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, außerdem Verlagsberater sowie Vorstandsmitglied im Regionalforum Lahn-Dill-Wetzlar und der Wetzlarer Goethe-Gesellschaft. Seit einigen Jahren Leiter des Projekts »Future Life« und Beratung von Unternehmen und Politik zu neuen Technologien und Produkten. Löser, Kai (M.A.), 2002-2010: Studium der Soziologie, Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft in Freiburg, Charlottesville und Strasbourg. Seit 2010: Doktorand an der Universität Bielefeld mit einer Arbeit zu »Staat, Gesellschaft und Selbstregulation. Politische Kybernetik in der deutschsprachigen Literatur seit 1945«. Lehre und
Autorinnen und Autoren
Forschung zu Technikdiskursen, digitalen Medien und europäischer Identität. Matzner, Tobias (Dr. phil.) hat Informatik und Philosophie in Karlsruhe, Rom und Berlin studiert und in Karlsruhe in Philosophie promoviert. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik inden Wissenschaften an der Universtität Tübingen arbeitet er an derSchnittstelle zwischen Technikphilosophie, politischer Philosophie undGender/Queer-Studies. Seine drei wichtigsten Forschungsfelder sind Subjektivität und Privatheit, Algorithmen und Automatisierung als Herausforderung für die politische Theorie und die Renaissance materialistischer kritischer Theorien. Pathmaperuma, Daniel, geb. 1978, begann 1999 ein Studium der Informatik an der Universität Braunschweig. Nach dem Vordiplom wechselte er 2001 zum Karlsruher Institut für Technologie, wo er sein Studium 2008 mit dem Diplom abschloss. Neben seinem Studium arbeitete er als selbständiger IT-Dienstleister. Von 2008 an war Daniel Pathmaperuma als Entwicklungsingenieur bei der Orbster GmbH in Karlsruhe beschäftigt, bevor er im Juli 2009 als wissenschaftlicher Mitarbeiter zum Institut für Angewandte Informatik und Formale Beschreibungsverfahren (AIFB) des KIT wechselte. Er leitete dort die Projekte MeRegio, MeRegioMobil und iZEUS. Thematische Schwerpunkte sind dabei das Smart Grid und darin vor allem das Smart Home. Reichert, Ramón (Dr. phil. habil.), 2009-13 Professor für Digitale Medienkultur am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Seit 2014 ist er Leiter der postgradualen Masterstudiengänge »Data Studies« und »Cross Media« an der Donau-Uni Krems. Er ist Mitherausgeber der akademischen Zeitschrift »Digital Culture & Society« und Initiator des 2013 gegründeten internationalen Forschernetzwerks »Social Media Studies«. Er lehrt und forscht mit besonderer Schwerpunktsetzung des Medienwandels und der gesellschaftlichen Veränderungen in den Wissensfeldern »Digitale Medienkultur«, »Digital Humanities« und »Social Media Studies«. Publikationen (Auswahl): Im Kino der Humanwissenschaften: Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens, 2007; Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0, 2008; Das Wissen der Börse. Medien
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und Praktiken des Finanzmarktes, 2009; Die Macht der Vielen. Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung, 2013; Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, 2014. Scheibe, Annegret (M.A.), Studium der Psychologie, Literatur- und Medienwissenschaft in Heidelberg und Karlsruhe, Abschluss mit einer medienwissenschaftlichen Arbeit zur Kriminalreihe »Tatort«. Seit 2014 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Wissenschaftskommunikation des KIT, Promotionsvorhaben zum Thema »Wissenschaft in Serie«. Interessenfelder: Populärkultur, Serialität, Regionalität und Heimatfilm. Stock, Robert (M.A.) ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Medienwissenschaft an der Universität Konstanz und wird dort ab Juli 2015 die DFG-Forschergruppe »Mediale Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inanspruchnahme« koordinieren. Er promoviert am International Graduate Centre for the Study of Culture der Justus-Liebig-Universität Gießen und hat Europäische Ethnologie, Portugiesische Philologie und Osteuropastudien in Berlin und Lissabon studiert. Seine Forschungsinteressen liegen in den visual culture und disability studies, sowie den medialen Bedingungen von Behinderung und den Postkolonialen Studien. Zuletzt hat er u. a. veröffentlicht: »Retina Implantate. Neuroprothesen und das Versprechen auf Teilhabe«, in: AugenBlick. Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft 58 (2013) sowie »Translations of blind perception in the films Monika (2011) and Antoine (2008)«, in: InVisible Culture 19 (2013, zusammen mit Beate Ochsner). Westermann, Bianca (Dr. phil.) ist wiss. Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Dort hat sie Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Germanistische Linguistik sowie Filmund Fernsehwissenschaften studiert. Die Promotion im Fach Medienwissenschaft folgte 2010 (Anthropomorphe Maschinen. Grenzgänge zwischen Biologie und Technik seit dem 18. Jahrhundert, München, 2012). Ihre aktuellen Forschungsinteressen sind die mediale Verfasstheit von Prothesen, Robotern und Cyborgs, der Körper als Medium sowie die mediale Konstruktion postmoderner Identität im Web 2.0. Aktuelle Publikation: »Die Begegnung mit dem Roboter: Bina48 zwischen Speichermedium und Interaktionspartner«, in: Wolf-Andreas Liebert, Stefan Neuhaus,
Autorinnen und Autoren
Dietrich Paulus and Uta Schaffers (ed.): Künstliche Menschen. Transgressionen zwischen Körper, Kultur und Technik, Würzburg 2014, S. 53-68. Wiegerling, Klaus, Prof. Dr., forscht am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des KIT Karlsruhe. Lehrt an der TU Kaiserslautern und der TU Darmstadt. Letzte Buchveröffentlichungen: Leib und Körper (Co-Autor J. Küchenhoff ), Göttingen 2008; Philosophie intelligenter Welten, München 2011.
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Edition Kulturwissenschaft Michael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt (Hg.) Rausch – Trance – Ekstase Zur Kultur psychischer Ausnahmezustände Dezember 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3185-2
Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.) Selber machen Diskurse und Praktiken des »Do it yourself« Juli 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3350-4
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2016, 282 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Sybille Bauriedl (Hg.) Wörterbuch Klimadebatte 2015, 332 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3238-5
Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode 2015, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven 2015, 402 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren März 2017, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9
Stephanie Lavorano, Carolin Mehnert, Ariane Rau (Hg.) Grenzen der Überschreitung Kontroversen um Transkultur, Transgender und Transspecies September 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3444-0
Felix Hüttemann, Kevin Liggieri (Hg.) Die Grenze »Mensch« Diskurse des Transhumanismus August 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3193-7
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Juli 2016, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Richard Weihe (Hg.) Über den Clown Künstlerische und theoretische Perspektiven Mai 2016, 284 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3169-2
Stephanie Wodianka, Juliane Ebert (Hg.) Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens (unter Mitarbeit von Jakob Peter)
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.) Endlichkeit Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft Februar 2016, 360 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2945-3
Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs Januar 2016, 338 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2947-7
Jan-Henrik Witthaus, Patrick Eser (Hg.) Machthaber der Moderne Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit 2015, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3037-4
Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert 2015, 424 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4
Bernd Kracke, Marc Ries (Hg.|eds.) Expanded Senses Neue Sinnlichkeit und Sinnesarbeit in der Spätmoderne. New Conceptions of the Sensual, Sensorial and the Work of the Senses in Late Modernity 2015, 432 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3362-7
April 2016, 330 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3106-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitdiagnosen bei transcript Florian Sprenger, Christoph Engemann (Hg.)
Internet der Dinge Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt
2015, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 E, ISBN 978-3-8376-3046-6 E-Book/EPUB: 26,99 E, Das Internet der Dinge – die nächste Medienrevolution. Der Band versammelt klassische Texte und frische Analysen und gibt so erstmals einen Überblick zur medienwissenschaftlichen Debatte über die Digitalisierung unseres Alltags in deutscher Sprache. »Allein der Beitrag von Linus Neumann mit dem Titel ›Sensoren der Cloud‹ macht dieses Buch zu einem Must-have für alle, die verstehen wollen, was uns mit dem Siegeszug des ›Internet of Things‹ in der Zukunft erwarten kann und wird.« (Martina Bisdorf/Cindy Ullmann, BÖRSEN-SPIEGELdaily, 06.01.2016) »Muss man lesen, bevor man sich ein autonomes Auto kauft.« (Ultimo, 7/2016)
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